Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva: Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie [Reprint 2012 ed.] 3110188368, 9783110188363, 9783110916294

Schleiermachers frühe Religionstheorie von seiner Spinozarezeption her verständlich zu machen, ist die Absicht dieser Mo

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Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva: Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie [Reprint 2012 ed.]
 3110188368, 9783110188363, 9783110916294

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Christof Ellsiepen Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W Härle

Band 135

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Walter de Gruyter · Berlin · New York

Christof Ellsiepen

Anschauung des Universums und Scientia Intuitiva Die spinozistischen Grundlagen von Schleiermachers früher Religionstheorie

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_G Walter de Gruyter · Berlin · N e w York

Die Herausgabe wurde unterstützt von der Spinoza Gesellschaft e.V.

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 0563-4288 ISBN-13: 978-3-11 -018836-3 ISBN-10: 3-11-018836-8 Bibliografische

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Der Deutseben

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Copyright 2006 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Alikroverfilmungen und die Hinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort Tiefes Verstehen von Individualität ist religiös. Friedrich Schleiermachers Reden ,Über die Religion' stellen die Individualitätshermeneutik in den Fokus der Religion als eigenständiger geistiger und kultureller Einstellung des Menschen. Jede Seite der frühen Programmschrift atmet aber zugleich das Bewußtsein, Individualität nur „im Universum" und umgekehrt „Anschauung des Universums" nur „im Einzelnen" haben zu können. Die fruchtbare Verschränkung von Individualität und Totalität in der Besinnung auf die Tiefendimension des Lebens hat Schleiermacher, so die These dieser Arbeit, in der Begegnung mit der Immanenzphilosophie Spinozas entwickelt. Systematisch zeigt sich dessen „scientia intuitiva" als religionstheoretisches Äquivalent der „Anschauimg des Universums". Die Untersuchung geht vor dem Hintergrund der Philosophie Spinozas dem komplexen Gang von Schleiermachers Spinozarezeption nach und zeigt die spinozistischen Grundlagen seiner frühen Religionstheorie auf. Die vorliegende Arbeit wurde im Juli 2004 von der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen und für die Veröffentlichving geringfügig überarbeitet. Im Laufe dieses langjährigen Projektes habe ich vielfältige Anregung und Unterstützung erfahren, für die ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. Zuallererst gilt mein Dank meinem Betreuer Prof. Dr. Ulrich Barth (Halle) für die Intensität, Gründlichkeit und perspektivenreiche Erschließungskraft seiner theologischen und religionsphilosophischen Arbeit, die mir nicht zuletzt einen kompetenten Zugang zu Schleiermacher ermöglicht hat. Die kritisch-konstruktive Begleitung, wie sie Ulrich Barth seinen Doktoranden zukommen läßt, hat das Projekt von der Idee bis zur Abgabe entscheidend gefördert. Prof. Dr. Klaus Tanner hat dankenswerterweise das Zweitgutachten übernommen. Wenn ein Theologe über Spinoza schreibt, dann ergibt sich das Gespräch mit der Philosophie von selbst. Ich möchte für alle Hinweise, kritischen Anfragen und Anregungen für das Verständnis dieses zu Unrecht manchmal vergessenen Klassikers der Philosophiegeschichte danken, besonders PD Dr. Robert Schnepf (Halle), Prof. Dr. Wolfgang Bartuschat (Hamburg), der zudem das Drittgutachten übernommen hat, sowie Prof. Dr. Her-

VI

Vorwort

man de Dijn (Leuven) für ein langes Gespräch am Rande einer SpinozaTagung. PD Dr. Jörg Lauster (Mainz), Dr. Roderich Barth (Halle) und Claas Poppinga (Göttingen) unternahmen dankenswerterweise die Mühen des Korrekturlesens und gaben mir darüberhinaus noch wertvolle Hinweise. PD Dr. Claus-Dieter Osthövener (Wuppertal) hat mir wichtige Anregungen gegeben und unentbehrliche technische Hilfe bei der Manuskripterstellung geleistet. Vielen Dank! Ich danke der Studienstiftung des deutschen Volkes, die mir ein Promotionsstipendium gewährt hat, sowie der Georg-Strecker-Stiftung, der Spinoza-Gesellschaft, der VELKD und der Evangelischen Landeskirche in Baden, die mit großzügigen Zuschüssen die Drucklegung ermöglicht haben. Prof. Dr. Wilfried Härle (Heidelberg) und Prof. Dr. Oswald Bayer (Tübingen) danke ich für die Aufnahme in die Reihe und Dr. Albrecht Döhnert vom Verlag Walter de Gruyter für die gute und umsichtige Betreuung. Mein Dank gilt außerdem Prof. Dr. Notger Slenczka (Mainz), der mir als wissenschaftlichem Mitarbeiter den Freiraum gewährte, die Dissertation angemessen fertigzustellen. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern Ingrid und Hans-Dieter Ellsiepen für ihre stetige Begleitung und Unterstützung durch die Jahre hindurch und meiner Frau Ursula Stricker-Ellsiepen für ihren Rückhalt, ihre Geduld auch in schwierigen Zeiten und all das, was das Zusammenleben schön lind frei sein läßt. Gewidmet ist das Buch meinem Großvater Rudolf Ellsiepen und meinem Sohn Paul Joscha Ellsiepen, deren Haltung und Leben mir religiöse Ermutigung war und ist. Leipzig, am 1. Juli 2006

Christof Ellsiepen

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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I. Der Hintergrund. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

9

1. Ontologische Grundlagen A. Die Theorie immanenter göttlicher Kausalität 1. Der Begriff immanenter Kausalität 2. Einführung des Begriffs der Endlichkeit 3. Das Verhältnis von göttlicher und endlicher Essenz . . . 4. Strukturmomente immanenter Kausalität 5. Die Grundlegung immanenter Kausalität im Substanzbegriff 6. Vollkommenheit als Identität in der Differenz 7. Die Frage nach den invididuellen Essenzen B. Die Theorie kausaler Strukturisomorphie 1. Strukturisomorphie von Modi verschiedener Attribute . . 2. Strukturisomorphie von Ideen und deren Ideata

14 14 15 18 22 25 29 37 44 48 49 55

2. Der Kontext der spinozanischen Erkenntnistheorie 61 A. Descartes' Begriff des Intuitus in den ,Regulae' 62 B. Spinozas Begriff der Adäquatheit 68 C. Die beiden Erkenntnisarten neben der Scientia Intuitiva . . 74 1. Imaginatio als inadäquates Vorstellen 74 2. Die Möglichkeit adäquater Erkenntnis 78 3. Ratio 80 3. Das Konzept intuitiver Erkenntnis A. Die erkenntnistheoretische Möglichkeit B. Der bewußtseinstheoretische Status 1. Die Relevanz ontologischer Theoreme 2. Struktur und bewußtseinstheoretischer Status 3. Das arithmetische Beispiel aus Eth. II, prop. 40, schol. 2

89 91 99 100 102 . 109

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Inhaltsverzeichnis

C. Aspekte des wirklichen Vollzugs 1. Näherbestimmung des Gegenstands 2. Das Problem des Fortschreitens 3. Amor Dei Intellectualis als affektive Seite intuitiven Erkennens 4. Fazit: Scientia Intuitiva, Metaphysik und Subjektivität

111 112 118 121 . . . . 134

II. Die Aneignung. Schleiermachers Spinozarezeption 1793/94 1. Schleiermachers Spinozarezeption via Jacobi A. Forschungslage B. Die Spinozakritik Jacobis und die Problemstellung von Schleiermachers Spinozarezeption 2. Die Entwicklung einer spinozistischen Individuationstheorie in Auseinandersetzung mit Leibniz und Kant A. Spinozistische Kritik an der Leibnizschen Monadenlehre . B. Das Verständnis von Individuation am Paradigma des Attributs Extensio C. Die Weiterentwicklung der Individuationstheorie am Attribut Cogitatio D. Die Konstruktion einer spinozistisch-idealistischen Individuationstheorie 1. Die spinozistische Fortschreibung kantischer Philosophie 2. Die Konstruktion individuationstheoretischer Strukturparallelen zwischen Kant und Spinoza E. Die doppelte Auflösung des Individuationsproblems . . . .

140 142 142 150 157 . 160 166 179 201 201 211 222

3. Die Genese eines religionsphilosophischen Anschauungsbegriffs aus der Auflösung des Individuationsproblems 228 A. Die Grundlegung von Schleiermachers Anschauungsbegriff im Anschluß an Kant 232 1. Anschauung als epistemisches Korrelat eines Idealismus der Erscheinung 232 2. Die kritische Restriktion menschlicher Anschauung . . . 235 3. Eine kritizistische Konsequenz für den Begriff des Noumenalen 238 B. Der Anschauungsbegriff eines ,spinozistischen Idealismus der Erscheinimg' 245 C. Religionsphilosophische Implikationen des Individuationsproblems für den Anschauungsbegriff 255 1. „Anschauen des Mannigfaltigen in dem Unendlichen" . . 257

Inhaltsverzeichnis

IX

2. „Das Unendliche im Inbegriff des Endlichen anschauen" . 262 3. Anschauung des Unendlichen aus der Perspektive endlichen Bewußtseins 267

III. Die Umsetzung. Anschauung des Universums als Leitbegriff von Schleiermachers , Reden über die Religion' 1. Die zeitgenössische Debattenlage A. Der Gegenstandsbezug der Anschauung B. Erkenntniskritische Restriktion der Anschauimg C. Die absolutheitstheoretische Dimension der Anschauimg D. Anschauung und Darstellung E. Zusammenfassung

272 276 278 282 . 289 296 307

2. Das spinozistische Fundament des Religionsbegriffs 311 A. Konkretionssphären des Universums 314 1. Individualität und Einheit in der äußeren Natur 315 2. Bildung des Individuums in der Menschheit 327 B. Die spinozistische Grundstruktur des Universumsbegriffs . 350 1. Die spinozistische Fassung des Darstellungsbegriffs . . . 351 2. Darstellung des Universums als Totalität 356 3. Darstellung des Universums als Individualität 365 C. Religion als Anschauung des Universums 369 1. Darstellung des Universums und menschlicher Geist. . . 3 6 9 2. Sinnliche und religiöse Anschauung 373 3. Religiöse Anschauung als Tiefenhermeneutik von Individualität 376 3. Spinozistische Motive in der Theorie religiöser Bildung . . . . 381 A. Religiöse Bildung 384 B. Intersubjektive Aspekte religiöser Bildung 388 C. Bildung geschichtlicher Individualität in der Religion . . . 392 1. Die Bestimmung religiöser Individualität 393 2. Die relationale Struktur religiöser Sozialität 400 3. Die metaphysische Struktur religiöser Individuation . . . 402 4. Geschichte und Ewigkeitsaspekt der Religion 405 4. Zusammenfassung

408

Schluß

416

Siglen, Literaturverzeichnis und Register

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Facies totius Universi, quae quamvis infinitis modis variet, manet tarnen semper eadem. B. de Spinoza, Ep. 64 Nun laßt uns höher steigen, dahin wo alles streitende sich wieder Oereinigt, wo das Universum sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt und so erst seinen Namen verdient; sollte nicht der, der es so anschaut als Eins und Alles auch ohne die Idee eines Gottes mehr Religion haben als der gebildetste Polytheist? Sollte nicht Spinoza eben so weit über einem frommen Römer stehen, als Lukrez über einem Gözendiener? F. Schleiermacher, Reden 128

Einleitung Von einem „musikästhetischen Paradigmenwechsel" spricht Carl Dahlhaus mit Bezug auf das neue Musikverständnis in der deutschen Romantik, die die Instrumentalmusik als die „eigentliche" Musik von aller moralischen und sprachlichen Funktionalisierung abtrennte und ihre Eigenständigkeit als „begriffs-, objekt- und zwecklos" in der Idee der „absoluten Musik" aussprach.1 Die epochale Stellung von Schleiermachers ,Reden' in der Geschichte der Theologie2 spiegelt einen analogen religionstheoretischen Paradigmenwechsel, indem Schleiermacher die Selbständigkeit der Religion gegen aufklärerisches Nutzenkalkül einerseits und philosophisch-theologische Erkenntnisansprüche andererseits erweisen will. Das Diktum von der Religion als einer „eignen Provinz im Gemüthe" impliziert so zugleich die Loslösung aus der älteren und schon von Kant zurückgewiesenen Umklammerung der Religion von der Metaphysik und der jüngeren von Kant selbst und der gesamten philosophischen und theologischen Elite der Zeit vertretenen Funktionalisierung der Religion für die Zwecke der Moral. Schleiermacher nimmt hier deutlich Stellung und will die Funktionalismen beenden zugunsten einer davon abgelösten, gleichsam ,absoluten' Religion, indem er den „schneidenden Gegensaz" der Religion „gegen Moral und Metaphysik" (Reden 50) 3 herausstellt. 1 C. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (1978), S. 12f. 2 W. Dilthey (Leben Schleiermachers [1870/1991], S. 432) bezeichnet den Schleiermacher der,Reden' als „eine religiöse Natur großen Stils [... ] erfüllt von allen Ergebnissen der neuen Bildung". Für ihn liegt Schleiermachers großes Verdienst darin, sich der Aufgabe gestellt zu haben, „diese Bildung mit der Religion zu versöhnen". Falk Wagner läßt mit Schleiermacher eine „neue Epoche in der Geschichte des Verständnisses von Religion und Theologie" beginnen (Theologie im Banne des religiös-frommen Bewußtseins [1985], S. 923). Ulrich Barth sieht Schleiermachers ,Reden' als „religionstheoretisches Modernisierungsprogramm" (Schleiermachers ,Reden' als religionstheoretisches Modernisierungsprogramm [1996/2004]), welches den von Kant eingeleiteten „prinzipientheoretischen Paradigmenwechsel" in der „Ablösung des Gottesgedankens als des generierenden Prinzips der Theologie durch den Begriff der Religion" (Religion oder Gott? [1993], S. 33) konsequent wie kreativ weiterverfolgt hat. Vgl. auch H. J. Adriaanse: Schleiermachers ,Reden' als Paradigma der Religionsphilosophie (2000). 3 Ich zitiere den Text der,Reden' nach der Kritischen Gesamtausgabe (Bd. 1/2, Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984, S. 185—326), gebe aber die Seitenzahlen der Originalausgabe von 1799 an.

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Einleitung

Der Gedanke ist uns heute als Ausdifferenzierung von kulturellen Sphären bewußt. Religion, theoretische Wissenschaft und ethische Handlungsreflexion verweisen auf verschiedene menschliche Vollzüge und werden infolgedessen von verschiedenen Institutionen wahrgenommen. Insbesondere erweist sich der Unterschied von Erfahrung und wissenschaftlicher Reflexion als ratio distinguendi. Religion steht als Lebensvollzug der methodischen Reflexion, als Praxis den sich mit ihr befassenden Wissenschaften gegenüber.4 Dennoch sind die Grenzen nicht so trennscharf wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Die anhaltende Debatte um einen Beitrag der Religionen und insbesondere des Christentums zur Reproduktion von Werten des Zusammenlebens in der Gesellschaft spiegelt die Schwierigkeit, Religion und Ethik in ein eindeutiges Verhältnis zu setzen. Und das einstweilige Festhalten der evangelischen Kirchen an einem akademisch gebildeten Pfarrerstand mag ein Anzeichen dafür sein, daß gelebte Religion und theologischer Gedanke ein komplexeres Verhältnis bilden, als es die einfache Formel von Praxis und Theorie nahelegt. Sieht man näher hin, ist bemerklich, daß auch schon Schleiermacher jene Entgegensetzung nicht als kategorisches Schisma verstanden hat. Die drei humanen Geistesfunktionen sind nicht völlig getrennt voneinander, sie thematisieren denselben „Gegenstand, [... ] nemlich das Universum und das Verhältniß des Menschen zu ihm" (Reden 41). Und sie ergänzen einander in bestimmten Hinsichten. Indessen gibt es noch eine tieferliegende Verbindung und zwar, was das Verhältnis von Religion und Metaphysik betrifft. Diese Verbindung liegt geradezu im Kern der Religionstheorie. Dem „schneidenden Gegensaz" steht eine implizite Aufnahme von metaphysischen Gedanken entgegen, welche die Trennschärfe jenes Gegensatzes in einem anderen Licht erscheinen läßt. Schleiermacher grenzt sich zweifelsohne ab - von jener traditionellen Metaphysik, deren Zentrum ein rationaler Gottesbegriff war. Mit Kant vollzieht er die kritische Destruktion der metaphysischen Theologie.5 Mit dem „seienden [... ] Gott hat [die Religion] nicht zu schaffen" (Reden 130). Ja, selbst gewisse Formen eines kritischen Metaphysikbegriffs stellt Schleiermacher als der Religion fremd hin (Reden 51). Und dennoch nimmt er für den Vollzug von Religion, indem er sie als ein „Anschauen des Universums" versteht, metaphysische Gedanken in Anspruch. Dies ist die Anfangsvermutung. Nicht Metaphysik überhaupt, sondern lediglich eine bestimmte Gestalt von Metaphysik scheint Schleiermacher in den Gegensatz zur Religion zu stellen. 4 Vgl. etwa D. Lange: Glaubenslehre I (2001), S. 27f. 5 Vgl. U. Barth: Religion oder Gott? Die religionstheoretische Bedeutung von Kants Destruktion der spekulativen Theologie (1993).

Einleitung

3

Diese Abhandlung versucht, die für die Religion in Anspruch genommenen metaphysischen Gedanken namhaft zu machen und so dem in mancherlei Hinsicht trotz über hundertdreißigjähriger Forschungsgeschichte immer noch rätselhaft gebliebenen Hauptbegriff der frühen Religionsschrift zur Explikation zu verhelfen. Die These ist, daß der Drehund Angelpunkt von Schleiermachers frühem Religionsbegriff, das „Anschauen des Universums", seine Grundlagen in Schleiermachers früher kritizistischer Spinozarezeption hat. Der Religionsbegriff erwächst geradezu aus jener spinozistischen6 Metaphysik des frühen Schleiermacher. Er findet in werkgeschichtlicher Perspektive in der Theoriekonstellation der frühen 1790er Jahre seinen genetischen Ausgangsort und seine Explikationsbasis - freilich ohne in dieser Konstellation bereits in allen Punkten vorweggenommen zu sein. Forschungsgeschichtlich7 nehme ich damit eine bereits von Dilthey in seinem großen Schleiermacher-Werk geäußerte Diagnose über den Schleiermacher der ,Reden' und ,Monologen' auf, das „Schema der neuen Lebens- und Weltansicht [sei] gewissermaßen von Spinoza aus aufgestellt", Spinoza sei „in die Weltansicht Schleiermachers verschmolzen". 8 Die systematische Absicht meiner Untersuchung, das „Anschauen des Universums" als den Leitbegriff der ,Reden' erster Auflage nach seinen metaphysischen Strukturvoraussetzungen zu explizieren, findet so ihre Durchführung zunächst in einer rezeptionsgeschichtlichen Analyse. Die Linie Spinoza-Schleiermacher ist nach Dilthey über mehr als hundert Jahre nur gelegentlich und dann hauptsächlich in Bezug auf den späten Schleiermacher verfolgt worden. 9 Während Paul Tillich Schleiermachers Spinozismus, vermutlich vor dem Hintergrund seiner Schellingstudien, mehr erahnt als herausarbeitet, spielt Emanuel Hirsch den Einfluß von Spinoza auf Schleiermacher herunter, ein ideengeschichtlich gepreßtes und rezeptionsgeschichtlich unsauberes Urteil. 10 Nach dem 6 Ich differenziere die Begriffe „spinozanisch" und „spinozistisch", um mit ersterem auf Gedanken des historischen Baruch oder Benedictas de Spinoza (1632-1677), mit letzterem auf alle an diesen anknüpfenden oder transformierend aufnehmenden Theoreme Bezug zu nehmen. 7 Überblicke über die Forschung zu den ,Reden' insgesamt bieten G. Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers (1984), S. 82ff; U. Barth: Schleiermacher-Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts (2001), S. 418-422. 8 W. Dilthey: Leben Schleiermachers (1870/1991), S. 320f/336f. 9 Vgl. Schmidt, Paul Wilhelm: Spinoza und Schleiermacher. Die Geschichte ihrer Systeme und ihr gegenseitiges Verhältniss. Ein dogmengeschichtlicher Versuch (1868); Camerer, Theodor: Spinoza und Schleiermacher. Die kritische Lösung des von Spinoza hinterlassenen Problems (1903) [zur Dialektik Schleiermachers]; Gelles, Siegfried : Die pantheistischen Gedanken in Leibniz ,Theodizee' und Schleiermachers,Reden über die Religion' (1908). 10 P. Tillich: Religion des konkreten Geistes. Friedrich Schleiermacher (1968); E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV (1964), S. 495. 503. Hirsch übersieht

4

Einleitung

Niedergang der deutschen Spinozaforschung in den 1930er Jahren wurde es auch still um das Verhältnis Schleiermachers zu dem großen niederländischen Philosophen. Erst in den 1960er und 70er Jahren kam die philosophische Spinozaforschung, angeregt durch das grundlegende Werk des französischen Rationalismus-Kenners Martial Gueroult11 wieder zu Kräften. 12 Gleichzeitig, aber doch aus ganz anderen Motiven, 13 nahm auch das Interesse an Schleiermacher wieder zu. Die vollständige Edition von Schleiermachers Jugendmanuskripten zu Spinoza in der Kritischen Gesamtausgabe (1984)14 führte dann auf theologischer Seite zu monographischen Beiträgen zum Verhältnis Spinoza-Schleiermacher. Der Herausgeber Günter Meckenstock machte eine Bestandsaufnahme des von ihm edierten Materials, und Julia Lamm legte eine Interpretation der „theological appropriation" Spinozas im Gesamtwerk Schleiermachers vor. 1 5 Beide Beiträge spiegeln, trotz mancher guter Beobachtung, in unterschiedlichem Maße den methodischen Mangel wieder, die drei ideengeschichtlichen Ebenen - die Gedankenwelt des historischen Spinoza, die Vermittlung derselben durch Friedrich Heinrich Jacobi in seinen Briefen ,Über die Lehre des Spinoza' von 1785/89 und die kritische und zugleich konstruktive Rezeption durch Schleiermacher - nicht streng genug auseinanderzuhalten. Ihnen entgeht so die eigentliche Charakteristik von Schleiermachers kritischer Aneignung von Spinoza anhand seiner Lektüre und kritischen Kommentierung von Jacobis ,Spinozabriefen' im Winter 1793/94. Zur Rekonstruktion des innovativen Gehalts der sehr komplexen Argumentation in diesen Manuskripten Schleiermachers ist eine Orientierung über die Grundstrukturen spinozanischer Ontologie und Erkenntnistheorie methodisch unerläßlich. Erst von hieraus ist die Transformation zu ersehen, die Jacobi dieser Philosophie durch seine, den Pantheismusstreit mit Mendelssohn auslösende Darstellung gegeben hat. Und schließlich kann erst so auch die Sicht Schleiermachers von beiden vorangehenden Ebenen abgehoben werden. Inhaltlich wird hier der kritisch-idealistische Impuls seiner ersten philosophischen Prägung zum völlig die Rezeption Spinozas anhand der Jacobilektüre von 1793/94. 11 M. Gueroult: Spinoza I. Dieu (1968); Spinoza Π. L'äme (1974). 12 Vgl. die den damaligen Forschungsstand erhebende Sammelrezension von Wolfgang Bartuschat: Neuere Spinozaliteratur (1977). 13 Vgl. die Eröffnungsrede zum Schleiermacher Kongreß 1999 von U. Barth: Begrüßung und Einführung in den Kongreß (2000). 14 Es handelt sich um die Manuskripte ,Spinozismus. Spinoza betreffend aus Jakobi.', KGA1/1, S. 513-558 [= Sp] und,Kurze Darstellung des spinozistischen Systems', KGA 1/1, S. 559-582 [= KDSp], 15 Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789-1794 (1988). J. Lamm: The Living God: Schleiermacher's Theological Appropriation of Spinoza (1996).

Einleitung

5

Motiv einer - mit Tillich zu sprechen - „großen Synthese" von Spinoza und Kant. 16 Mit dieser Absicht, Schleiermachers Spinozaverständnis rezeptionsgeschichtlich zu würdigen, 17 verbindet sich in der vorliegenden Arbeit die werkgeschichtliche These, daß der religiöse Anschauungsbegriff der ,Reden' seiner Struktur nach in den Erörterungen jener Manuskripte seinen Entdeckungszusammenhang hat. Das sich durchhaltende Thema ist die Frage nach dem Zusammenhang von Individualität und Universalität, und zwar aus der Perspektive des endlichen menschlichen Bewußtseins. In den Manuskripten wird es als Frage nach dem principium individuationis metaphysisch und erkenntistheoretisch aus Spinoza, Leibniz, Kant geradezu herausmodelliert. In den ,Reden' zeigt sich das Problem von Individualität und Universum als Kern des Religionsbegriffes. Das „Universum" wird in der Religion „im einzelnen angeschaut". Die darin implizierte Relation von Einzelnem und Universum, fordert geradezu einen Vergleich heraus mit dem historischen Spinoza als dem Urbild jener All-Einheits-Philosophie des späten 18. Jahrhunderts. Die systematische Parallele ist dabei zwischen Schleiermachers religiösem Anschauungsbegriff und Spinozas dritter Erkenntnisart, der scientia intuitiva zu suchen, die nicht nur den Begriffsausdruck des Anschauens gemein haben. Auch in der scientia intuitiva geht es um das Verhältnis des Unendlichen zum 16 P. Tillich: Religion des konkreten Geistes. Friedrich Schleiermacher (1968), S. 9. 11. W. Dilthey: Leben Schleiermachers (1870/1991), S. 298/315 spricht von einer „Kombination von Kant und Spinoza". 17 Ganz der rezeptionsgeschichtlichen Würdigung ist auch P. Groves großangelegte Studie zum Religionsbegriff Schleiermachers in dessen Gesamtwerk verschrieben (Deutungen des Subjekts [2004]). Insbesondere die mannigfaltig gebrochenen Einflüsse auf Schleiermacher in der Phase bis etwa 1800 nehmen breiten Raum ein. Grove versucht, nach der Henrichschen Methode der Konstellationsforschung (vgl. D. Henrich: Konstellationen [1991]) die Debattenlage gerade auch durch die Einbeziehung von Nebengestalten der Philosophiegeschichte (etwa Rehbergs, Schulzes oder Reinholds) wiederzugeben. In diesem Zusammenhang ist auch die Dissertationsschrift von Ellert Herms zu nennen, der die Bedeutung Johann August Eberhards für Schleiermacher herausarbeitete (Herkunft und Entfaltung [1974], S. 37-118). Was die Beurteilung der Spinozarezeption betrifft, so arbeitet Herms noch mit dem unvollständigen Text der Jugendmanuskripte aus dem Quellenanhang ,Denkmale' von Dilthey und hat von daher eine philologisch bedenkliche und vor allem unvollständige Ausgangsbasis seiner Interpretation. Inhaltlich sieht er Schleiermacher sehr stark von Jacobi geprägt. Die kritisch-idealistische Reserve Schleiermachers gegenüber Jacobi scheint mir bei Herms zu wenig betont. Grove arbeitet dagegen nicht nur auf verläßlicher Textgrundlage, sondern auch mit einem sicheren Zugriff auf die verschiedenen Ebenen der Rezeption von Spinoza via Jacobi auf dem Boden einer dem kantischen Kritizismus verschriebenen erkenntnistheoretischen Grundeinstellung (S. 115-156, bes. 133). Seine Analyse der Spinozamanuskripte enthält wichtige Beobachtungen. In der systematischen Bewertung des Verhältnisses Schleiermachers zu Spinoza (S. 138) stützt sich Grove allerdings ganz auf K. Cramers Beitrag: „Anschauung des Universums". Schleiermacher und Spinoza (2000).

6

Einleitung

Singulären.18 Wenngleich Schleiermacher zur Zeit der Abfassung seiner Manuskripte noch keine eigene Spinozaausgabe zur Verfügung hatte und infolgedessen, anders als etwa Schölling, die für jene höchste Erkenntnisart einschlägigen Schlußpartien der ,Ethica' nicht kannte, weil sie Jacobi nicht mitgeteilt hatte, so bringt die Dynamik von Schleiermachers konstruktiver Aneignung 19 eine Eigenbewegung in Gang, die auf der Höhe der ,Reden' seine ,Welt-Anschauung' vergleichbar werden läßt mit Spinozas ausgearbeitetem System und dessen erkenntnistheoretischem Gipfelpunkt in der scientia intuitiva.20 Dies läßt es geboten erscheinen, die Darstellung Spinozas nicht auf die ontologischen und erkenntnistheoretischen Grundstrukturen zu beschränken, sondern die Linien weiter auszuziehen zu Spinozas hochkomplexem (und in der Forschung hochumstrittenen) Konzept der „anschauenden Erkenntnis". 21 So können die in Spinoza selbst liegenden Optionen vor Augen geführt werden, welche Schleiermacher sich weitgehend aus dessen Prämissen erschließt und in einen kritischen Idealismus integriert. Mit der Entscheidung, für die Interpretation des religiösen Anschauungsbegriffs der ,Reden' die Spinozarezeption in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, gehe ich zugleich auf Distanz zu solchen Interpretationen, die in den ,Reden' auf die eine oder andere Weise den Beleg für eine Unmittelbarkeit im Verhältnis von menschlichem Subjekt 18 Die Anregung zu diesem Vergleich, wie überhaupt zur Untersuchung des spinozistischen Hintergrunds von Schleiermachers religiösem Anschauungsbegriff verdanke ich Ulrich Barth. Vgl. ders.: Schleiermachers ,Reden' als religionstheoretisches Modernisierungsprogramm (1998/2004), S. 462/278: „Die beide Richtungen übergreifende Struktur des religiösen Verhältnisses schließlich faßt Schleiermacher unter den Begriff der religiösen Anschauung, des direkten Äquivalents zu Spinozas dritter Erkenntnisart, der adäquaten Intuition." 19 Ganz treffend W. Dilthey: Leben Schleiermachers (1870/1991), S. 333/351: „Schleiermacher [... ] war allen Arbeiten vergangener Denker von Anfang mit jenem schöpferischen Scharfsinn gegenübergetreten, der überall Mitarbeiter an Problemen erblickt, die uns bewegen, wie sie jene bewegt haben, überall von den Irrtümern die gewonnenen Einsichten sondert." 20 Vgl. dazu K. Cramer: „Anschauung des Universums". Schleiermacher und Spinoza (2000). Ich teile Cramers Skepsis nicht, daß Schleiermacher und Spinoza in diesem Punkt gänzlich andere Wege gehen. Die Auseinandersetzung mit Cramer wird in der vorliegenden Arbeit sowohl im Spinozaverständnis als auch in der Rekonstruktion Schleiermachers zu suchen sein. Ob Goethe, auf den sich Cramer beruft, Spinozas dritte Erkenntnisart besser verstanden habe als Schleiermacher, scheint mir zumindest fraglich, jedenfalls wenn bei Goethe auf dessen pflanzenkundliche Arbeitsmethode verwiesen wird. Vgl. dazu E. Förster: Bedeutting der §§ 76,77 der Kritik der Urteilskraft (2002), S. 188f. Zum Verhältnis Spinoza-Goethe vgl. auch M. Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza (1969); A. Jungmann: Goethes Naturphilosophie zwischen Spinoza und Nietzsche (1989); G. Jellinek: Die Beziehungen Goethes zu Spinoza (1996); sowie den Überblick bei H. Timm: Gott und die Freiheit (1974), S. 275-338. 21 Unter diesem deutschen Begriff wird cognitio intuitiva seit Christian Wolff in der philosophischen Schulsprache geläufig.

Einleitung

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und göttlichem Gegenüber in der religiösen Erfahrung sehen, sei es, daß der religiöse Grundcharakter in einer „Uraffektion", 22 in einer „Totalitätswahrnehmung", einem „Totalitätsgefühl" 23 oder einer „religiösen Totalitätserfahrung" 24 gesehen oder in eine „Totalempfindung" 25 verlegt wird. Der Hintergrund von Schleiermachers Spinozarezeption macht eine solche Interpretation in meheren Hinsichten bedenklich. Schleiermachers Verhältnisbestimmung von Unendlichem und Endlich-Einzelnem im Gefolge seiner Spinozarezeption nimmt den spinozanischen Immanenzgedanken auf. Dieser verbietet es, das Unendliche als außerhalb seiner Ausdrucksgestalten im Endlichen zu suchen. Das Unendliche hat für Schleiermacher nicht mehr jenen Charakter einer eigenständigen Entität, die den transzendenten Theismus kennzeichnet. Derselbe Gedanke erschließt sich für Schleiermacher auch vonseiten seines kritischen Idealismus im Anschluß an Kant. Das Unendliche als Absolutum angesehen, verweigert sich jeglicher Vergegenständlichung. Die genannten Interpretationen scheinen aber allesamt eine Auffassung des Unendlichen als eines irgendwie sich dem religiösen Subjekt erschließenden transzendenten Gegenstandes zu unterstellen. 26 Schleiermacher erblickt die Grundkonstellation der Religion in der Spannung zwischen der Ungegenständlichkeit des Absoluten und einer lebendigen und konkreten Beziehimg auf dasselbe. Dies mag sein geheimer Beweggrund gewesen sein, die großen philosophischen Systeme wie ein Besessener zu studieren. 27 Er wollte aus ihnen Antwort auf diese Frage, wie Unendliches und Endliches in dieser Weise zusammenzudenken seien. Denn zusammengedacht müssen sie werden, soll die Religion nicht eine das menschliche Bewußtsein außer Kraft setzende, die menschliche Freiheit aufhebende, sie gleichsam intermittierende Fremdsetzung dar22 C. Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit (1994), S. 126. 23 G. Wenz: Sinn und Geschmack fürs Unendliche (1999), S. 50. 42. 24 M. Eckert: Das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem in Friedrich Schleiermachers Reden über die Religion (1983), S. 37. 40. 25 F. Lönker: Religiöses Erleben (1998), S. 60. Lönkers scharfsinnige Studie hat ihre Schwäche darin, daß sie den Religionsbegriff Schleiermachers aus der Perspektive der philosophischen Grundoptionen Hölderlins zu rekonstruieren versucht. Das gilt an zentraler Stelle für die für Schleiermachers Theorie als grundlegend apostrophierte „in sich unterschiedene Einheit", die Endliches und Unendliches „in eins" setzt (S. 57f. 62), sowie für die damit verbundene „Totalempfindung" als deren wahrnehmungstheoretisches Korrelat. 26 Lönker [s. Anm. 25] rekurriert für die Nicht-Gegenständlichkeit lediglich auf das Gefühlsmoment der Religion. Aber in der „ursprünglichen Verbindung von Anschauung und Gefühl" werde das Universum „gegenwärtig" (S. 58f), „offenbar" (S. 64), der Mensch habe auf diese Weise eine „Erfahrung des Unendlichen" (S. 65). 27 Vgl. W. Dilthey: Leben Schleiermachers (1870/1991), S. 297/313: „Schleiermachers geniale Leistungen für Verständnis und Kritik vergangener Systeme nehmen unbestritten in seiner Zeit die erste Stelle ein."

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stellen.28 Daß die Religion keine die menschliche Natur übersteigende und in diesem Sinne übernatürliche Erfahrung sei, scheint mir bereits aus dem Ansatz der ,Reden' deutlich. Religion ist humane Anlage, die sich entwickelt. Sie ist ein Phänomen menschlichen Geisteslebens. Nur unter dieser Voraussetzung ist es überhaupt sinnvoll, sie anderen Geistesfunktion gegenüberstellen und mit ihnen vergleichen zu wollen. Die fundamentale Prämisse hinter dem „schneidenden" und wie ich vermute bei Schleiermacher selbst nicht ganz so trennscharfen Gegensatz von Religion und Metaphysik ist das Credo einer im Humanum verwurzelten Religion. Diese Grundintuition eines menschlichen Sinns für das Unendliche, so könnte man von den,Reden' her die Jugendphase rekapitulieren, läßt ihn nach Lösungen suchen, die rätselhafte im religiösen Bewußtsein statthabende Einheit von eigener Endlichkeit und Bezug auf ein Unendliches denkerisch zu durchdringen. Das Entscheidende ist ihm dann an Spinozas Immanenzgedanke aufgegangen. Die vorliegende Arbeit verfolgt diese Bewegung Schleiermachers von ihrem gedanklichen Ursprungsort, der Philsophie Baruch de Spinozas, über deren Aneignung durch Schleiermacher bis hin zur Umsetzung der gewonnenen Einsichten in den ,Reden über die Religion'. Es ergibt sich also eine Dreigliederung. Im ersten Teil gebe ich eine Darstellung von Spinozas höchster Erkenntnisart nach ihren ontologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen und ihrer internen Struktur. Hauptquelle ist hier Spinozas ,Ethica ordine geometrico demonstrate' von 1677. Der zweite Teil nimmt dann Schleiermachers kritische Umbildung Spinozas am Text Jacobis und in der Auseinandersetzung mit Leibniz und Kant in den Blick, wie sie aus den Spinozamanuskripten von 1793/94 erhoben werden kann. Zielpunkt ist die Herausarbeitung der Bedeutung des Spinozismus für die Religionstheorie der ,Reden über die Religion' in ihrer ursprünglichen Gestalt der ersten Auflage von 1799.

28 Kurt Nowaks gründliche und umsichtige Studie zur Stellung Schleiermachers im Kreis seiner frühromantischen Weggefährten ist im Blick auf die religionstheoretische Erschließung merkwürdig zwiespältig. Nowak erkennt Schleiermachers Religion zu, daß sie „aus dem Geist der Freiheit lebte", paraphrasiert aber die Grundstruktur des religiösen „Aktes" als ein „Übermächtigtwerden von einer unverfügbaren Wirklichkeit" (Schleiermacher und die Frühromantik [1986], S. 167f. 185f. 189). Die hegelianisierende Interpretation Joachim Ringlebens (Die Reden über die Religion [1985]) geht in eine ähnliche Richtung, insofern die Religion nach Schleiermacher zwar als ein spontaner Akt zu beschreiben sei, aber diese Spontaneität des religiösen Subjektes nur einen momenthaften subjektiven Reflex einer Bewegimg des Ganzen ausmache. Vgl. auch Ringlebens, den Hegelbezug explizit machenden späteren Beitrag: Schleiermacher und der frühe Hegel (2000).

I. Der Hintergrund. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis Unter den Auslegern der spinozanischen Erkenntnistheorie ist die Frage nach der Art und Weise des Vollzugs der scientia intuitiva eine derjenigen, in der die Meinungen und Interpretationen am weitesten auseinanderliegen. Was kann als das Intuitive an dieser von Spinoza als dritte und höchste der Erkenntnisarten bezeichneten epistemischen Funktion des menschlichen Geistes ausgemacht werden? In welchem Verhältnis steht dieses Intuitive der dritten Erkenntnisart insbesondere zur Rationalität der zweiten? Blickt man auf den bisherigen Gang der Forschung zu diesem Problem, so lassen sich zwei einander ausschließende, gegenläufige Positionen feststellen. Der Punkt, an dem die Meinungen auseinander gehen, ist dabei die Frage der Unmittelbarkeit dieser Erkenntnis, der eine Reflexivität bzw. Diskursivität gegenübergestellt wird. So verstehen einige Interpreten die scientia intuitiva als eine rein unmittelbare Wesensschau, die keinerlei diskursive Elemente aufweise und als „mystische" (Hubbeling) bzw. „kontemplative Erfahrung" (De Dijn) oder als „unmittelbare Einsicht" (Rod) des menschlichen Geistes scharf von der rationalen Erfassung der Welt abzuheben sei.1 Hierher gehört auch die Position von Francis Amann, die in ihrer jüngst erschienenen Studie zur Erkenntnistheorie Spinozas dessen dritte Erkenntnisart als ein „Fühlen der eigenen Ewigkeit" umschreibt, dem im Gegensatz zu den beiden anderen Erkenntnisweisen Unmittelbarkeit zukomme. 2 Dem steht eine In1 Vgl. H. G. Hubbeling: The third way of knowledge (intuition) in Spinoza (1986); H. de Dijn: Metaphysics as Ethics (1991); W. Rod: Spinozas Idee der scientia intuitiva und die spinozanische Wissenschaftskonzeption (1977). Hubbeling spricht von einer Art von mystischer Erkenntnis, in der man sich persönlich, direkt und aus sich selbst im Licht der Ewigkeit sehe (S. 225. 228). De Dijn betont die Differenz der zweiten zur dritten Erkenntnisart, indem zwar mit jener die allgemeine Erkenntnis erreicht werden könne, daß alle Dinge in Gott sind, aber erst die intuitive Erkenntnis eine „contemplative experience" sei, in der der einzelne sein eigenes, besonderes Wesen als in Gott seiend erfährt (S. 128f.). Rod versteht die dritte Erkenntnisart nach ihrer Abschlußfunktion für ein rationales System: sie sei als „unmittelbare Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit als ganzer" (S. 505) notwendige Voraussetzung einer Wissenschaftskonzeption, die nur unmittelbar Einsichtiges oder daraus Abgeleitetes zulasse. 2 F. Amann: Ganzes und Teil. Wahrheit und Erkennen bei Spinoza (2000). Zur intuitiven Erkenntnis bes. S. 282-297; das Zitat findet sich auf S. 285.

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terpretation gegenüber, die die dritte Erkenntnisart als Ursachenwissen verstanden wissen will und ihr deshalb den Charakter der Diskursivität zuweist, welchen sie mit dem rationalen Erkennen gemein habe (K. Cramer, Bartuschat).3 Martial Gueroult hat in dieser Frage eine mittlere Position einzunehmen gesucht. Er erklärt die dritte Art des Erkennens als eine „vision immediate", 4 die jedoch als Resultat einer Vermittlung durch Beweisschritte aufzufassen sei: „Weil es der genetische Prozeß ist, der durch die Erkenntnis der Essenz die unmittelbare Erkenntnis dessen, was die Essenz impliziert, möglich macht, macht er das Herzstück der intuitiven Erkenntnis aus, und ist es also, durch den diese vor allem definiert ist. Tatsächlich folgt die unmittelbare Erkenntnis dessen, was die Essenz einer Sache impliziert, ipso facto, sobald die Erkenntnis dieser Essenz erworben ist." 5 Der intuitive Charakter, so führt Gueroult weiter aus, komme jeder adäquaten Erkenntnis zu, so daß ein Unterschied zwischen zweiter und dritter Erkenntnisart nicht in dieser Hinsicht, sondern lediglich durch die Differenz der Gegenstandsbereiche zu konstatieren sei.6 Daß aber die Frage nach dem Erkenntnismodus nicht von der nach dem entsprechenden Gegenstandsbereich abgelöst werden kann, das hat Wolfgang Schmidt gezeigt.7 Er ist bestrebt, Intuitivität und Diskursivität nicht als sich gegenseitig ausschließende Charakterisierungen zu interpretieren, sondern nach den sachlichen Gründen zu fragen, warum Spinozas dritte Erkenntnisart für beide Seiten dieser Alternative Argumente an die Hand gibt und sich so einer eindeutigen Einordnung versperrt. Um in dieser Frage weiter zu kommen, scheint es geraten, zunächst einmal den Textbefund zu sichten. In der Tat verbindet Spinoza auf der einen Seite Termini des Folgerns mit der dritten Erkenntnisart, denen auf der anderen Seite der Begriff intuitiven Wissens selbst und solche Formulierungen gegenüber stehen, welche auf einen nicht-diskursiven Vollzug hindeuten. Wenden wir uns zunächst den erstgenannten Belegen zu. An erster Stelle ist hier die Definition der scientia intuitiva in Eth. II, prop. 40, schol. 2 zu nennen. Hier heißt es: „Und diese Gattung des Erkennens schreitet (procedit) von der adäquaten Idee dessen, was die Essenz gewisser Attribute Gottes ausmacht, weiter bis zu der adäquaten Erkenntnis 3 Vgl. K. Cramer: „Anschauung des Universums". Schleiermacher und Spinoza (2000), S. 140, im Verweis auf W. Bartuschat: Baruch de Spinoza (1996), S. 102. Vgl. auch W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 354, Anm. 124. 4 M. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 468. 5 Ebd., S. 449: „Puisque ce procös genetique est ce qui rend possible, par la connaissance de l'essence, la connaissance immediate de ce que cette essence implique, il constitue bien le coeur de la connaissance intuitive, et c'est done par lui que celle-ci doit avant tout se definir. En effet, une fois acquise la connaissance de l'essence de la chose, la connaissance immediate de ce que cette essence implique suit ipso facto." 6 Ebd., S. 469f. 7 W. Schmidt: Intuition und Deduktion (1975).

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der Essenz von Dingen." (Hhg. C.E.).8 Außerdem beschreibt Spinoza in der Anmerkung zu Lehrsatz 47 des zweiten Teils den Vollzug der dritten Erkenntnisart als ein „Ableiten" („deducere") adäquater Erkenntnisse aus der Erkenntnis der Essenz Gottes9 oder an anderer Stelle als ein Erkennen dessen, was aus der „gegebenen Erkenntnis Gottes folgen (consequi) kann". 10 Die Erkenntnis Gottes wird auch das „principium et fundamentum" der dritten Erkenntnisart genannt (Eth. V, prop. 36, schol.; V, prop. 20, schol.). Schließlich bezeichnet Spinoza die dritte Erkenntnisart sogar als ein „Schlußfolgern" („concludere") aus der Essenz eines Einzeldinges.11 Dem steht die für diese Erkenntnisart bemühte Metaphorik des Sehens gegenüber, wie sie zunächst im Begriff derselben als scientia oder cognitio intuitiva vorkommt 12 und sodann auch in dem arithmetischen Beispiel der vierten Proportionalen13 Verwendung findet. Dieses Beispiel findet sich zur Veranschaulichung der Erkenntnisarten sowohl in einem 8 „Atque hoc cognoscendi genus proced.it ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum." Vgl. die Parallelsteile in Eth. V, prop. 25, dem. Ich zitiere Spinozas Ethik, wenn nicht anders vermerkt, nach der zweisprachigen Ausgabe von W. Bartuschat, Hamburg 1999. 9 „Hinc videmus, Dei iniinitam essentiam, ejusque aeternitatem omnibus esse notam. Cum autem omnia in Deo sint, et per Deum concipiantur, sequitur, nos ex cognitione hac plurima posse deducere, quae adaequate cognoscamus, atque adeo tertium illud cognitionis genus formare" (Hhg. C.E.). Von dieser Stelle ist die Formulierung in Eth. V, prop. 10, dem. abhängig. Dort heißt es, der Geist habe, solange er nicht mit entgegengesetzten Affekten zu kämpfen habe, die Macht, klare und deutliche Ideen zu bilden und die einen aus den anderen abzuleiten („ciaras et distinctas ideas formandi, et alias ex aliis deducendi"). Spinoza verweist hier auf Eth. II, prop. 40, schol. 2 und Eth. Π, prop. 47, schol. Nach der ersten Stelle könnte das deducere sowohl auf die Definition der ratio (im dortigen Verweis auf Eth. Π, prop. 40, explizit gemacht in Eth. V, prop. 12, dem.), als auch auf die der scientia intuitiva, nämlich auf das „procedere" bezogen werden. Das Kriterium der Klarheit und Deutlichkeit trifft ja auch nicht allein auf die dritte, sondern auch auf die zweite Erkenntnisart zu. Die zweite Stelle verweist dagegen eindeutig auf die dritte Erkermtnisart. 10 Eth. V, prop. 31, dem.: „Mens, quatenus aeterna est, ad ilia omnia cognoscendum est apta, quae ex data hac Dei cognitione consequi possunt (per Prop.40.p.2) hoc est, ad res tertio cognitionis genere cognoscendum" Hhg. C.E. 11 Eth. V, prop. 36, schol.: „illa tarnen demonstratio [... ] non ita tarnen Mentem nostram afficit, quam quando id ipsum [sc. Mentem a Deo pendere] ex ipsa essentia rei cujuscunque singularis, quam a Deo pendere dicitur, concluditur." (Hhg. C.E.) Vgl. Eth. IV, prop. 36, schol.: „ut hominis summum bonum omnibus sit commune, nimirum, quia ex ipsa humana essentia, quatenus ratione definitur, deducitur." (Hhg. C.E.). Das höchste Gut (summum bonum) ist aber nach dem vorangehenden Beweis dieses Lehrsatzes die Erkenntnis Gottes, welche hier als aus der Essenz des Menschen gefolgert angesehen wird. 12 Der Begriff scientia intuitiva in Eth. Π, prop. 40, schol. 2; cognitio intuitiva in Eth. IV, app., caput 4; Eth. V, prop. 36, schol. 13 Es sind drei Zahlen gegeben. Gesucht ist die vierte, die sich zur dritten verhält wie die zweite zur ersten.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

der frühen Traktate als auch in der Ethica.14 Der einschlägige vierte Fall lautet hier: „Bei ganz einfachen Zahlen ist freilich nichts davon erforderlich. Sind ζ. B. die Zahlen 1,2 und 3 gegeben, gibt es niemanden, der nicht sieht, daß 6 die vierte Proportionszahl ist, und das sehen wir viel klarer, weil wir gerade diese Zahl, die vierte, allein aus dem Verhältnis der ersten Zahl zur zweiten Zahl, das wir mit einem Blick (uno intuito) sehen, erschließen." 15 Dies scheint für die dritte Erkenntnisart eine unmittelbare Einsicht (uno intuito) nahezulegen. 16 Außer den genannten Textstellen ist in der Zusammenfassung, die Spinoza in Eth. V, prop. 36, schol. über die Entwicklung der scientia intuitiva gibt, ein Beleg für deren Charakter als einer „unmittelbaren Schau" gesehen worden. 17 Die Frage der bewußtseinstheoretischen Einordnung von Spinozas dritter Erkenntnisart läßt sich angesichts eines solchen in sich widersprüchlichen Befundes nicht auf der Textoberfläche beantworten. Spinoza ist hier nicht eindeutig und diese Ambivalenz bedarf einer Erklärung. Spinoza ist zusehr Systematiker und seine Begriffsausdrücke sind auf eine Weise durchgängig terminologisch, daß die Überlegung ausgeschlossen werden kann, er habe sich in den unterschiedlichen Abschnitten der Ethik eben auf verschiedene Weise ausgedrückt und dabei auch widersprüchliche Formulieningen gebraucht. Vielmehr ist zu vermuten, daß diese Ambivalenz eine sachliche Pointe hat. Die Frage nach der spezifischen Art des Vollzugs einer Erkenntnisfunktion scheint nur vor dem Hintergrund einer Rekonstruktion eben dieser Erkenntnisfunktion überhaupt beantwortbar. Die Eigenart der scientia intuitiva ist dabei im Kontext der spinozanischen Erkenntnistheorie zu sehen und also von den beiden anderen von Spinoza eingeführten Erkenntnisarten abzugrenzen. Solche Abgrenzung muß in zwei Hinsichten erfolgen. Einerseits zieht Spinoza eine Differenz zwischen der als imaginatio bezeichneten ersten Erkenntnisart und den beiden anderen durch das zentrale wahrheitstheoretische Kriterium der „Adäquatheit". Die scientia intuitiva hat mit der zweiten, ratio genannten Erkenntnisart dieses Merkmal der Adäquatheit gemeinsam und steht damit in dieser 14 Vgl. TIE § 23, Ba 22f/Geb l l f ; Eth. Π, prop. 40, schol. 2. 15 Eth. Π, prop. 40, schol. 2: „At in numeris simplicissimis nihil horum opus est. Ex.gr. datis numeris 1. 2. 3. nemo non videt, quartum numerum proportionalitatem esse 6. atque hoc multo clarius, quia ex ipsa ratione, quam primum ad secundum habere uno intuito videmus, ipsum quartum concludimus." 16 Siehe dazu unten S. 109ff. 17 Vgl. M. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 448: Gueroult leitet dieses Verständnis der dritten Erkenntnisart als „vue immediate" offenbar aus der Wendung „wird uns von hierher klar (perspicuum nobis fit)" ab. Vgl. Eth. V, prop. 36, schol.: „Deinde quia nostrae Mentis essentia in sola cognitione consistit, cujus principium, et fundamentum Deus est: (per Prop.l5.p.l. et Schol.Prop.47.p.2.) hinc perspicuum nobis fit, quomodo et qua ratione Mens nostra secundum essentiam, et existentiam ex natura divina sequatur, et continuo a Deo pendeat". Hhg. C.E.

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Hinsicht auf einer Ebene mit ihr. Freilich ist aber auch eine Grenzziehung zwischen den beiden adäquaten Erkenntnisweisen auszumachen und diese besteht, so meine Interpretation, zum einen in ihrem unterschiedlichen Gegenstandsbereich, zum anderen im unterschiedlichen Funktionsmodus der intuitiven und der rationalen Erkenntnis. Beides, Gegenstandsbereich und Funktionsmodus hängen aufs engste miteinander zusammen. Dies scheint mir aus der Gesamtanlage der spinozanischen Attributenlehre zu folgen, in der Spinoza reelle und ideelle Strukturen nicht nur nah zusammenrückt, sondern geradezu als isomorph auffaßt. Diese Einsicht ist insbesondere für die Rekonstruktion des Funktionsmodus der intuitiven Erkenntnis von Bedeutung, da in ihr ein ontologisch beschreibbares Verhältnis begriffen wird, nämlich das von göttlichem Attribut und Einzelding: „Diese Gattung des Erkennens schreitet von der adäquaten Idee dessen, was die Essenz gewisser Attribute Gottes ausmacht, weiter bis zu der adäquaten Erkenntnis der Essenz von Dingen" }s Wenn gilt, daß Verhältnisse im Ideellen und im Reellen sich aufgrund einer Strukturisomorphie gegenseitig explizieren, so müßte die Struktur der intuitiven Erkenntnis, welche durch ein Verhältnis von Ideen konstituiert wird, explizierbar sein durch das entsprechende Verhältnis, in dem die Gegenstände dieser Ideen zueinander stehen. Dieser Gedanke liegt der nachfolgenden Darstellung zugrunde. Die in der dritten Erkenntnisart im Verhältnis begriffenen Ideen haben nun auf der einen Seite ein göttliches Attribut auf der anderen Seite die Essenz eines Dinges zum Gegenstand und so ist das infrage stehende ontologische Verhältnis die essentielle Relation von göttlichem Attribut und Einzelding. Auf die Darstellung dieser ontologischen Relation hat Spinoza einige Mühe in der Ethica verwendet, ja es ist geradezu ein Leitgesichtspunkt seiner ganzen ontologischen und metaphysischen Überlegungen, denn das genannte Verhältnis ist in nichts Geringerem als in seinem zentralen Lehrstück der immanenten Kausalität Gottes angesprochen. Für die Absicht, die Funktionsweise der intuitiven Erkenntnis zu verstehen, ist es also vonnöten, Spinozas Konzept der immanenten göttlichen Kausalität in seiner Grundstruktur zu analysieren. Die Fülle der Interpretationsprobleme, die sich mit Spinozas Theorie immanenter göttlicher Kausalität verbindet, hat mich bewogen, in der nachfolgenden Darstellung dieser Thematik einen eigenen Abschnitt zu widmen (1 A). Daran anschließend soll das für mein interpretatives Vorgehen grundlegende spinozanische Theorem der Strukturisomorphie zwischen reellen und ideellen Strukturen erläutert werden (1 B). Nach diesen ontologischen Grundlagen (Kapitel 1) beginnen im zweiten Kapitel die eigentlichen erkenntnistheoretischen Erörterungen zunächst mit 18 Eth. Π, prop. 40, schol. 2. Hhg. C.E. S. o. S. 11, Arm. 8.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

der Darstellung des wahrheitstheoretischen Kriteriums der Adäquatheit vor dem Hintergrund des cartesischen Intuitionsbegriffs (2 Α-B) und der darauf aufbauenden Unterscheidung der ersten von den beiden anderen Erkenntnisarten (2 C). Die dabei vorgenommene Erörterung des Gegenstandsbereichs der ratio führt schon hin zum dritten Kapitel, in dem die Theorie intuitiver Erkenntnis zunächst hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Möglichkeit dargestellt wird (3 A). Dabei gilt die Bestimmung ihres Gegenstandsbereichs der Abgrenzung von der zweiten Erkenntnisart und die ihres wahrheitstheoretischen Status der Differenzierung gegenüber der ersten. Der Ertrag der bisherigen Überlegungen und die These hinsichtlich des Funktionsmodus der intuitiven Erkenntnis aufgrund ihrer Struktur wird in Abschnitt (3 B) entfaltet. In einem letzten Abschnitt (3 C) sollen Probleme behandelt werden, die sich mit der Explikation der Vollzugspraxis intuitiver Erkenntnis verbinden, darunter die Frage nach dem Zusammenhang der dritten Erkenntnisart mit dem gerade auch wirkungsgeschichtlich bedeutungsvollen Begriff des amor Dei intellectualis.

1. Ontologische Grundlagen A. Die Theorie immanenter göttlicher Kausalität Ausgehend von der in der Einleitung dieses Teils geäußerten Absicht, die Struktur der intuitiven Erkenntnis anhand des Verhältnisses der Gegenstände der in ihr in Zusammenhang gebrachten Ideen zu explizieren, muß bei der Erörterung der Theorie immanenter Kausalität gerade dieses Verhältnis von göttlichem Attribut und Essenz der Einzeldinge im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Das Problem einer solchen Verhältnisbestimmung stellt sich in Spinozas Philosophie als Vermittlung zweier gegenläufiger Denkansätze. Auf der einen Seite ist Spinoza kausaler Monist und sieht entsprechend alle Dinge als Wirkung Gottes an (Eth. I, prop. 18). Auf der anderen Seite muß alles, was durch Gottes ewige und unendliche Kausalität hervorgebracht wird, notwendigerweise selbst unendlich sein (Eth. I, prop. 21). Diese Konstellation führt zu einem Problem bei der Erklärung endlicher Einzeldinge. Denn diese kann einerseits nicht unmittelbar aus dem Begriff göttlicher Produktivität19 abgeleitet werden, andererseits müßten auch und gerade endliche Dinge zu den von Gott verursachten Dingen gehören. Da Spinoza nun weder die Absicht hat, die Wirklichkeit endlicher Dinge zu leugnen, noch darüber hinwegtäuschen will, daß Endliches in seiner Endlichkeit aus Gott schlechterdings nicht 19 Zum Begriff der Produktivität vgl. W. Bartuschat: Subjekt und Metaphysik (2001), S. 19.

1. Ontologische Grundlagen

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ableitbar ist,20 gilt seine Denkbemühung in der zweiten Hälfte des ersten Teils der Ethik der Frage, in welcher Weise ein kausaler Zusammenhang endlicher Einzeldinge mit Gott zu explizieren ist. Wir wollen uns diesem komplizierten Gedankengang in drei Schritten nähern. In einem ersten Schritt soll anhand von Spinozas grundlegender Unterscheidung von Existenz und Essenz Spinozas Verständnis von Endlichkeit herausgearbeitet werden (A 2). Hierbei sehe ich bewußt von den Implikationen der Theorie immanenter göttlicher Kausalität für den Begriff des Endlichen ab, die in dem darauf folgenden Unterabschnitt (A 3) anhand des Verhältnisses von göttlicher und endlicher Essenz diskutiert werden sollen. Schließlich ist in einem dritten Schritt zu entfalten, inwiefern durch das Theorem immanenter Kausalität Gottes der Gottesbegriff selbst eine eigentümliche Fassung erhält (A 4-5). Zunächst sind aber noch einige Bemerktingen zum Terminus der causa immanens und seiner spezifischen Fassung bei Spinoza voranzuschicken (A 1).

1. Der Begriff immanenter Kausalität Um Spinozas Verwendung des Begriffs immanenter Kausalität zu verstehen, ist der Sprachgebrauch der Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts heranzuziehen. Wie Gueroult gezeigt hat, entwickelt Spinoza seine Auffassung göttlicher Kausalität anhand der damals üblichen begrifflichen Differenzierung des Ursachenbegriffs.21 Das Prädikatenpaar „immanens - transiens" bildet dabei eine von acht Bestimmungshinsichten 20 Vgl. Ep. 83 an Tschirnhaus vom 15. 7. 1676 (Op. IV, S. 334: „Auf Ihre Frage [vgl. Ep. 82, Op. IV, S. 333], ob aus dem bloßen Begriff der Ausdehnung [d. h. aus dem Begriff eines das Wesen Gottes konstituierenden Attributs] die Verschiedenheit [varietas] der Dinge a priori bewiesen werden könne, glaube ich schon klar genug geantwortet zu haben, indem ich nachwies, daß dies nicht möglich sei [...]". Vgl. zum Problem der Ableitung von Endlichem aus Unendlichem schon Th. Camerer: Die Lehre Spinozas (1877), S. 51: „Es ist nicht zu begreifen, wie die Natur Gottes, welche doch als ewig und unendlich und keinerlei Negation in sich schließend definiert wird, auch auf endliche Weise modifiziert, wie Gott selbst in einem beschränkten Zustand, der als die theilweisige Negation der Existenz einer Natur bezeichnet wird, da sein kann." Vgl. auch W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 43-49. 21 M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 244-257. Zu nennen sind hier vor allem die Leidener Professoren Franco Bürgersdijck und dessen Schüler Adrian Heereboord. Letzterer hatte Bürgersdijcks grundlegendes Werk ,Institutionum Logicarum Synopsis' von 1645 fünf Jahre später erneut herausgegeben und mit Anmerkungen und Beispielen versehen. In einem weiteren Werk ,Meletemata Philosophica' von 1654 kommentiert er Bürgersdijcks Kausalschema ausgiebig. Spinoza hat wohl über Heereboord, den er in seinen ,Cogitata Metaphysica', einem Anhang zur 1663 veröffentlichten geometrischen Darstellung der Prinzipien Descartes, ausdrücklich nennt (CM 11,12, Übers. Bartuschat 2005, S. 188; Opera I, S. 279), die kausaltheoretischen Differenzierungen Bürgersdijcks rezipiert. Vgl. M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 245, Anm. 7.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

einer „causa efficiens", d. h. einer Wirkursache. Der Ausdruck „immanente Ursache" bezeichnet nun eine solche Wirkursache, die ihre Wirkung „in sich selbst" hervorbringt.22 Dem steht die „causa transiens" als diejenige Ursache gegenüber, die ihre Wirkung außerhalb ihrer selbst hervorbringt.23 Vor diesem Hintergrund ist nun Spinozas Bestimmung göttlicher Kausalität in Lehrsatz 18 des ersten Teils der Ethik zu sehen: „Gott ist die immanente, nicht aber die übergehende (transiens) Ursache aller Dinge." 24 Der Satz nimmt die kausaltheoretische Differenzierung zwischen „causa immanens" und „causa transiens" in Anspruch und bezieht sie auf die Kausalität Gottes. Genauer gesagt dient Spinoza die Unterscheidung, die in der Tradition auf innerweltliche Kausalrelationen angewandt wurde, zur Verhältnisbestimmung zwischen Gott und den Dingen. Diese neue Verwendung des Begriffs beruht auf systematischen Entscheidungen, die für Spinozas Philosophie schlechterdings grundlegend sind. Was bedeutet es einerseits für den Begriff endlicher Dinge und andererseits für den Gottesbegriff, wenn das Verhältnis von Gott und den Dingen als immanente Kausalität begriffen wird? Der Rekonstruktion von Spinozas Antwort auf diese doppelte Frage sollen die folgenden Abschnitte nachgehen. Zuvor ist aber noch auf das terminologische Problem hinzuweisen, das sich durch die neue Verwendung des Begriffs „causa immanens" ergibt. Nach der schulphilosophischen Definition der causa immanens, wie sie sich ζ. B. bei Heereboord findet, kann diese Bestimmung auf jede Wirkursache Anwendung finden, deren Effekt „in ihr selbst ist". 25 Spinoza versteht den Begriff der immanenten Ursache demgegenüber in einem exklusiveren Sinn und reserviert ihn zur Charakterisierung der göttlichen Kausalität. Im Blick darauf ist Spinozas Assimilation zweier bei Heereboord noch unterschiedener Ursachenbegriffe in der ,Kurzen Abhandlung' zu sehen: Spinoza sieht die causa emanens und die causa activa als Korrelate an. 26 Der Ausdruck „causa emanativa" bezeichnet nach Heere22 Vgl. Adrian Heereboord: Hermeneia Logica seu Explicatio Synopseos Logicae Burgersdicianae, Leiden 1650, Teil I, Kap. 17, S. 98: „Causa immanens est quae producit effectum in se ipsa". Zitiert nach M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 246, Anm. 10. 23 Ebd.: „Causa transiens est quae producit effectum extra se". Daß Spinoza diese Definitionen vor Augen hat, erhellt aus dem Beweis zu Lehrsatz 18: „Deus rerum, quae in ipso sunt, est causa" bzw. „extra Deum nulla potest dari substantia". (Hhg. C.E.). 24 „Deus est omnium rerum causa immanens, non vero transiens." 25 Heereboord nennt als Beispiel den Verstand, der Ursache der von ihm und in ihm gebildeten Begriffe ist. „Causa immanens est quae producit effectum in se ipsa, sic dicitur intellectus causa suorum conceptuum." Zitat nach M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 246, Anm. 10. 26 KV 1,3, ed. Bartuschat 1991, S. 39: „Wir sagen also, er [Gott] sei eine ausfließende [causa emanens] oder hervorbringende Ursache seiner Werke; und im Hinblick darauf, daß das Wirken geschieht, eine tätige [causa activa], was wir, da es Korrelate sind, in eins setzen." Vgl. dazu M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 248.

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boord eine Ursache, deren Wirkung unmittelbar, d. h. ohne Vermittlung einer Tätigkeit, aus ihr hervorgeht. So ist ζ. B. das Feuer emanative Ursache der inneren Wärme des Feuers, die in ihm bleibt, und allgemein gesprochen das Wesen eines Dinges emanative Ursache seiner Eigenschaften. 27 Als „causa activa" wird hingegen diejenige Ursache bezeichnet, die ihre Wirkung vermittels einer Tätigkeit hervorbringt. Die Wirkung einer causa activa tritt nicht notwendig ein, wenn die Ursache gegeben ist, denn die vermittelnde Tätigkeit kann in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt werden. Beispielsweise ist das Feuer die aktive Ursache der Wärme eines von ihm erwärmten Gegenstands, denn diese ist nur vermittels der Tätigkeit des Erwärmens bewirkt. 28 Nach diesen Bestimmungen ist nun zwar jede causa emanativa zugleich eine causa immanens, nicht aber umgekehrt.29 Denn eine causa immanens kann gleichzeitig causa activa sein, wenn sie ihre Wirkungen in sich hervorbringt, aber vermittels einer Tätigkeit. Diese Vermittlung durch die Tätigkeit ist für eine causa emanativa ausgeschlossen. D. h. es ist auch eine causa immanens denkbar, die keine causa emanativa ist. Auf den Verstand, der in sich Ideen hervorbringt, könnte gerade dieser Fall zutreffen, dann nämlich, wenn man ihn als ein Vermögen vorstellt, welches durch eine Tätigkeit Vorstellungen in sich hervorbringt. In diesem Fall wäre der Verstand als eine causa immanens et activa anzusehen, insofern die Tätigkeit der intellectio als dritter Term zwischen Ursache und Wirkung tritt.30 Wenn Spinoza nun causa emanens und causa activa korreliert, ergibt sich für den Begriff der immanenten Ursache eine eingeschränkte Bedeutung. Denn mit ihm kann nun nur eine solche Ursache beschrieben werden, deren Wirkung einerseits unmittelbar und notwendig aus ihr folgt (causa emanens) und andererseits eine Tätigkeit einschließt (causa activa), mithin eine Tätigkeit, die notwendig erfolgt, wenn die Ursache gesetzt ist. Eine solche Art der Kausalität ist nach Spinoza nur von der göttlichen Kausalität auszusagen, weshalb er den Begriff nicht zur Kennzeichnimg des Kausalverhältnisses zwischen endlichen Dingen untereinander verwendet.31 27 Heereboord, Hermeneia Logica, I, c. 17, Quaest. V: „Causa vocatur vulgo emanativa a qua res, immediate, ac sine ulla actione media, emanat. Sic ignis est causa caloris sui interni, qui in se manet, omnisque forma est causa emanativa suarum proprietatum." Zit. nach M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 246, Anm. 8. 28 Heereboord, ebd., Quaest. VI: „Causa activa est quae effectum producit agendo. Sic ignis est causa caloris externi quem in alio producit, in eo qui calefit." Zit. nach M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 246, Anm. 8. 29 Vgl. M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 246, Anm. 10, S. 298. Strenggenommen gilt dies nur für die causa emanativa interna, von der hier aber allein die Rede ist. Vgl. M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 297, Anm. 99. 30 Vgl. KV 1,2, Dial. 2, S. 34. 31 Die einzigen Belege von „causa immanens" sind: Eth. I, prop. 18; Ep. 73 vom Nov. /Dez. 1675, Opera IV, S. 307 und KV 1,2, Dialog 2, ed. Bartuschat 1991, S. 34.35; KV 1,3, S. 39;

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Was aber die Schulmetaphysiker ebenso durch den Begriff der causa immanens ausdrücken konnten, nämlich den Fall, daß ein Ding zugleich causa immanens und causa activa, nicht aber causa emanativa ist, d. h. mittels Tätigkeit Wirkungen in sich hervorbringt, kann Spinoza, weil er immanente Kausalität als emanativ-aktiv versteht, nicht mehr als immanente Ursache beschreiben. Der genannte Fall ist aber mutatis mutandis auch in seiner Theorie von Kausalität denkbar. Der Sachverhalt ist dann etwa so zu formulieren: Hat ein von Gott immanent Verursachtes Α seinerseits eine durch Tätigkeit vermittelte Wirkung B, welche Wirkung abgesehen davon, daß sie durch den emanativen Anteil der immanenten Kausalität von Gott verursacht ist - nur von der von Α ausgehenden Tätigkeit kausal abhängt, so steht B, obwohl Gott immanente Ursache sowohl von Α als auch von Β ist, in einem besonderen Verhältnis zu A. Spinoza wählt hierfür den Begriff der „adäquaten Ursache". 32 Adäquate Ursächlichkeit ist also eine solche Teilbestimmung der immanenten göttlichen Kausalität, in welcher das aktive Moment derselben im Hinblick auf eine bestimmte Wirkung vollständig enthalten ist. Als Teilbestimmung immanenter göttlicher Kausalität ist diese Aktivität aber keineswegs vom emanativen Moment getrennt, so daß auch für eine adäquate Ursache gilt, daß sie ihre Wirkung notwendigerweise hervorbringt.

2. Einführung des Begriffs der Endlichkeit Im Blick auf die Explikation von Endlichem macht Spinoza die wichtige Unterscheidung zwischen Essenz und Existenz von Dingen (Eth. I, prop. 24). Für Unendliches - also sowohl für Gott selbst als auch für unendliche Modifikationen - ist diese Unterscheidung unerheblich, denn hier gilt die Existenz als ein notwendiges Implikat der Essenz. 33 Im Fall von Endlichem treten dagegen Essenz und Existenz auseinander, oder genauer gesagt: das Auseinandertreten von Essenz und Existenz kennzeichnet Endliches als Endliches.34 Wie ist dies nun zu verstehen? Die Essenz KV Π, 26, S. 118. An allen diesen Stellen verwendet Spinoza den Begriff zur Kennzeichnung der göttlichen Kausalität. Eine Ausnahme findet sich in der Kurzen Abhandlung (KV 1,2, Dialog 2, S. 34), in der Spinoza, Heereboord folgend, den Verstand als Ursache seiner Begriffe als Beispiel einer immanenten Ursache angibt. Hiermit erklärt er aber lediglich den Begriff im Gegensatz zu dem der causa transiens und noch nicht dessen zugespitzte Bedeutung in seinem eigenen philosophischen System. 32 Eth. ΠΙ, def. 1. Was den menschlichen Verstand (intellectus) betrifft, wird er von Spinoza in Bezug auf solche Begriffe als causa adaequata verstanden, als deren einzige endliche Ursache er anzusehen ist. Dies ist für die Theorie der intuitiven Erkenntnis von Bedeutung. S. u. S. 112. 33 Dieses Theorem versteht sich durchaus nicht von selbst. Es soll im Unterabschnitt 4 thematisiert werden. 34 Eth. I, prop. 24: „Rerum a Deo productarum essentia non involvit existentia."

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eines Dinges ist nach Spinozas Definition dasjenige, durch welches, sofern es gegeben ist, das Ding notwendig gesetzt ist und umgekehrt dasjenige, das als gesetzt angesehen werden muß, wenn das Ding gesetzt ist.35 Von dieser Definition her ist klar, daß anderes als die Essenz eines Dinges hinzutreten muß, um das Setzen und d. h. die Existenz dieses Dinges zu verhindern. Kommt keine Einschränkung hinzu, so ist bei gesetzter Essenz die Existenz des Dinges notwendig. Jeder Essenz ist somit eine positive Kraft im Sinne des Setzens (ponere) von Existenz eigen. 36 Nun soll Endliches gerade dadurch gekennzeichnet sein, daß dieser Zusammenhang von Essenz und mit ihr gesetzter Existenz eines Dinges durchbrochen ist. D. h. die Macht der Essenz, das Ding zur Existenz zu bringen, wird auf irgendeine Weise gehemmt oder ganz aufgehoben. Die dazu notwendige Gegenmacht kann aber nur von einer anderen Essenz kommen, deren Kraft der ersten Essenz entgegensteht. Deshalb kann es niemals nur ein endliches Ding geben, sondern endliche Dinge gibt es nur in einem Zusammenhang, in dem sie aufeinander bezogen sind. Daß sie die ihnen eigene Kraft zur Existenz nur in diesem Zusammenhang zur Entfaltung bringen können, macht sie zu endlichen Dingen. In diesem Sinn ist auch die Definition der „res finita" zu verstehen: „Dasjenige Ding heißt in seiner Gattung endlich, das von einem anderen derselben Natur begrenzt werden kann." 37 Endliche Dinge sind Dinge, die miteinander im Zusammenhang stehen und denen die Möglichkeit eigen ist, sich gegenseitig zu begrenzen, d. h. sich in der Kraft zur Existenz gegenseitig zu hemmen. 38 Für die Existenz eines einzelnen39 endlichen Dinges lassen sich somit zwei grundlegend verschiedene Faktoren ausmachen: Zum einen ist die Essenz als das sie Setzende die conditio sine qua non 40 der Existenz eines Einzeldings. Zum anderen steht die Verwirklichung dieser Existenzmacht 35 Eth. Π, def. 2: „Ad essentiam alicujus rei id pertinere dico, quo dato res ponitur, et quo sublato res necessario tollitur; vel id, sine quo res, et vice versa quod sine re nec esse, nec concipi potest." 36 Vgl. zur Positivität Eth. ΠΙ, prop. 4, dem.; zum Begriff der Kraft vgl. Eth. I, prop. 11, schol.: „Kraft zu existieren" („vis ut existat"). Vgl. auch Eth. Π, prop. 45, schol. 37 Eth. I, def. 2: „Ea res dicitur in suo genere finita, quae alia ejusdem naturae terminari potest." Die Formulierung „in seiner Gattung" bezieht sich hier, wie die nachfolgenden Beispiele belegen, auf die Attribute: Nur innerhalb eines Attributs können endliche Dinge sich gegenseitig begrenzen. Nicht etwa begrenzen Körper Gedanken oder umgekehrt. Auch der nachfolgende Ausdruck „derselben Natur" ist hier m. E. als attributive Zugehörigkeit zu lesen, nicht etwa in Bezug auf die interne Regelhaftigkeit von Bewegungsverhältnissen als die Natur von Körpern (S. u. S. 74). Denn Körper unterschiedlicher „Natur" in dem letztgenannten Sinne können sich sehr wohl begrenzen. 38 Vgl. M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 288. 39 Eth. Π, def. 7: „Per res singulares intelligo res, quae finitae sunt, et determinatam habent existentiam." 40 Eth. Π, def. 2: „Ad essentiam alicujus rei id pertinere dico, [... ] sine quo res, [... ] nec esse, nec concipi potest."

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unter der Bedingung anderer Einzeldinge. Stehen diese ihr so entgegen, daß sie ganz aufgehoben wird, kommt es entweder erst gar nicht zur Existenz des Einzeldinges oder seine bestehende Existenz wird aufgehoben. Ist dagegen die Essenz nur gehemmt, d. h. nur zum Teil aufgehoben, so kommt es zur Existenz, die aber in ihrer Bestimmtheit durch anderweitige, der Essenz fremde Kräfte bedingt ist. Man kann also sagen, daß zwar jedes Einzelne durch das Positive seiner Essenz konstituiert wird, aber sowohl in quantitativ-zeitlicher Hinsicht begrenzt werden kann als auch in der Art und Weise der Bestimmtheit bedingt ist durch anderes Endliches. Was die quantitativ-zeitliche Bedingtheit durch anderes angeht, so spricht Spinoza hier von der Dauer (duratio) eines Einzeldings, die er als „unbestimmte [indefinita] Fortsetzung des Existierens" auffaßt.41 Ein dauerndes Ding ist also ein solches, dessen Existenz nicht von seiner Essenz allein abhängt und welche deshalb im Blick auf die Essenz als unbestimmt angesehen werden muß. 42 Im Zusammenhang mit anderen Einzeldingen betrachtet ist die Existenz jedes Einzelnen aber keineswegs unbestimmt, sondern jedes Einzelne wird durch die Einwirkung anderer Einzeldinge, die die Entfaltung seiner Existenz einschränken, in seiner Existenz auf eine gewisse Art bestimmt (determinatus).43 Zwei Konsequenzen sind auf diesem Stand der Erörterung bereits zu ziehen: 1) Wird der Begriff der Essenz in einer solchen Weise für die Erklärung endlicher Einzeldinge herangezogen, so muß er im Grunde genommen neu gefaßt werden. Denn es kann so nicht mehr die Rede davon sein, daß mit dem Gegebensein der Essenz die Existenz des Dinges gesetzt ist. Vielmehr ist die Existenz eines endlichen Dinges abhängig von einem Zusammenhang, in dem sich die jeder Essenz innewohnende Dynamik nur in Relation zu der anderer Essenzen entfalten kann. Spinoza führt deshalb den Begriff des Strebens (conatus) zur Qualifizierung einer Essenz ein, die sich im Zusammenhang eines umfassenden Kausalprozesses von Endlichem zu aktualisieren, d. h. ihre Existenz zu erhalten sucht (Eth. III, prop. 6-7). Die als Streben gekennzeichnete Essenz ist die tatsächliche, endlich bestimmte Essenz eines Einzeldinges, die „essentia actualis" (Eth. III, prop. 7). 2) Auch der modalitätstheoretische Status der Existenz eines Einzeldinges ist nach den o.g. zwei Momenten zu differenzieren und dabei ergibt sich eine Differenzierung im Begriff der Notwendigkeit. Betrachtet man die Existenz des Einzeldinges zunächst nur unter dem Aspekt der Bedingtheit durch dessen Essenz, so könnte man sagen, die Existenz 41 Eth. Π, def. 5: „Duratio est indefinita existendi continuatio." 42 Vgl. die Erläuterung zu Eth. Π, def. 5: „Ich sage ,unbestimmt , / weil sie [sc. die Fortsetzung des Existierens] durch die eigene Natur des existierenden Dinges keineswegs bestimmt werden kann". 43 Vgl. Eth. I, prop. 28; Eth. Π, prop. 45, schol.

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sei, sofern die Essenz gegeben sei, notwendig. Nimmt man dagegen die für alles Endliche geltende Bedingtheit des Einzelnen durch anderes Einzelnes mit in den Blick, so erscheint die Notwendigkeit des EndlichEinzelnen außerdem im Gesamtzusammenhang alles Endlichen. Diesem Gesamtzusammenhang kommt als Ganzes aber nur insofern Notwendigkeit zu, als allen seinen Aufbaumomenten Notwendigkeit zukommt. So ist zwar die Existenz eines endlichen Dinges nur im Zusammenhang alles Endlichen und unter dessen Bedingung denkbar (Eth. I, prop. 28), aber dieser Zusammenhang kann die Existenz eines Einzeldinges nicht etwa erzwingen. 44 In Bezug auf ein Einzelding erscheint so der ihm äußere Zusammenhang alles Endlichen als notwendiger Bestimmungsrahmen, die ihm eigene, positive Kraft seiner Essenz aber als conditio sine qua non, d. h. als notwendige Bedingung seiner Existenz.45

44 Vgl. W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 49-57, bes. S. 56. Er weist darauf hin, daß weder die mit der Essenz verbundene Notwendigkeit der Dinge, noch die Tatsache, von Äußerem bedingt zu sein, auf eine Determination der einzelnen zeitlichen Ereignisse im Sinne eines Gezwungenseins schließen lasse. Der Vorwurf des Fatalismus, der insbesondere von Jacobi im Pantheismusstreit erhoben wurde 0WA 1/1, S. 123), geht daher an der spinozanischen Philosophie vorbei, da er die Notwendigkeit, die sich auf die Essenzen bezieht und darin gerade ein aktives Moment einschließt, als Gezwungensein in zeitlicher Bestimmtheit mißversteht. 45 Wenn hier zwei Aspekte von Notwendigkeit unterschieden werden, denen die Existenz des Endlichen unterliegt, so scheint mir dies Spinozas Konzeption angemessener als eine solche Terminologie, die die Notwendigkeit der Essenz einer Kontingenz äußerer Faktoren gegenüberstellt. Spinoza selbst sieht Kontingenz lediglich als ein Problem der Perspektive. Etwas als kontingent anzusehen entspringt einem Mangel an Erkenntnis: Kontingent ist solches, dessen Existenz uns ungewiß bleibt, weil die Ursachen uns verborgen sind. Vgl. Eth. I, prop. 33, schol. 1: „Ein Ding [...], über dessen Existenz wir aber, weil die Ordnung von Ursachen uns verborgen ist, nichts mit Gewißheit behaupten können, ein solches Ding kann uns niemals als notwendig oder als unmöglich vorkommen; und so nennen wir es zufällig [contingentem] oder möglich [possibilem]." Hans-Peter Schütt führt in seinem Beitrag: Spinozas Konzeption der Modalitäten (1985) eine logische Analyse der einschlägigen Definitionen von Notwendigkeit und Unmöglichkeit durch. Diese Analyse ergibt, daß in Spinozas Konzeption Kontingenz - hier verstanden als kontrafaktische Möglichkeit - gerade für den Zusammenhang endlicher Ursachen ausgeschlossen, jedoch für die Ursächlichkeit der Essenzen nicht ausgeschlossen wird (S. 181). Sogenannte essentielle Kontingenz („E-Kontingenz") bezeichnet nach Schütt den Fall, daß etwas von seiner Essenz her weder notwendig existiert noch seine Existenz von daher unmöglich ist, etwas also weder causa sui noch etwa ein viereckiger Kreis ist. Dies trifft für alles Endliche zu. Dessen Existenz ist ja gerade nicht Implikat seiner Essenz und auch nicht von der Essenz her unmöglich. Im Hinblick auf dessen äußere Ursachen ist die Existenz des Endlichen jedoch nicht kontingent. Denn für „Ε-Kontingentes" besteht eine vollständige Disjunktion zwischen durch äußere Ursachen Notwendigem und Unmöglichem, so daß kein Fall denkbar ist, der als kontingent weder notwendig noch unmöglich wäre (S. 177. 183).

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3. Das Verhältnis von göttlicher und endlicher Essenz In der bisherigen Darstellung des Verhältnisses von Essenz und Existenz im Zusammenhang endlicher Dinge sind die Essenzen der Dinge für sich betrachtet worden: Diese waren als das jedem Ding Wesentliche bestimmt worden, das für das Zustandekommen seiner Existenz, abgesehen von beschränkenden äußeren Faktoren, als positives Vermögen verantwortlich ist. Insofern ließe sich die Essenz eines Dinges als Ursache seiner Existenz beschreiben. Und obwohl ein bestimmter Zustand eines existierenden endlichen Dinges auch noch durch anderes Einzelnes bedingt und dieses also ebenso als Ursache aufzufassen ist, hatten wir festgestellt, daß äußere Faktoren ein bestimmtes Ding hervorzubringen nicht in der Lage sind, sondern nur Ursachen für Limitationen der dem Einzelnen innewohnenden eigenen Macht darstellen, kraft derer jegliches Existierende in dieser seiner Existenz ist. Daraus läßt sich nun folgern, daß die Essenzen der Dinge als im Verhältnis zueinander selbständig aufzufassen sind: Es ist kein innerweltlicher Konnex, der ein Endliches aus dem anderen hervorgehen läßt, sondern die einzelnen Essenzen müssen in ihrer produktiven Kraft als unabhängig voneinander angesehen werden. 46 Wäre dem nicht so, müßte der Anfang und Ursprung aller Produktivität in einem Endlichen zu suchen sein. Daß dies Letztere Spinozas Meinung nicht ist, liegt auf der Hand. Die Frage nach der Ursache ist für Spinoza daher mit dem Aufweis des positiven Vermögens von Essenzen noch keineswegs befriedigend beantwortet. Sie kann nur in einer Theorie entfaltet werden, die das Ganze im Blick hat und Kausalität als solche erklärt. Spinoza versucht mit dem Konzept immanenter göttlicher Kausaltität eine solche Gesamterklärung. Nun ist die Frage, auf welche Weise die Essenzen von Einzeldingen im Rahmen dieses Konzepts aufzufassen sind. Spinozas einschlägige Formulierung des Verhältnisses von göttlicher Kausalität und Einzeldingen lautet: „Gott ist nicht nur die bewirkende Ursache [causa efficiens] der Existenz von Dingen, sondern auch die ihrer Essenz." 47 Das Beweisziel des Lehrsatzes ist es, die göttliche Ursächlichkeit in Bezug auf die Essenzen herauszustellen,48 und damit beide, Essenz und Existenz von Dingen, als Wirkung Gottes zu benennen. Ausgehend von einer Interpretation der Verursachung der Essenzen wird zu explizieren sein, inwiefern diese mit der der Existenzen zusammenhängt. 46 Wolfgang Bartuschat sieht in der Selbständigkeit des Individuellen, die sich in dessen „innerer positiver Bestimmung" zeigt, das Leitmotiv von Spinozas Philosophie (Spinozas Theorie des Menschen [1992], S. 134). 47 Eth. I, prop. 25: „Deus non tantum est causa efficiens rerum existentiae, sed etiam essentiae." 48 Dies wird aus dem Beweis zu Lehrsatz 25 deutlich, der sich nur auf die Essenzen bezieht. Daß Gott Ursache der Existenzen ist, war schon im Vorhergehenden gefolgert worden (Eth. I, prop. 24, corol.).

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Was heißt es nun für die Essenzen von Dingen, wenn Gott als ihre Ursache gefaßt ist? Die Essenz eines Einzeldings war als das ihm eigene Setzungsvermögen bestimmt worden. Wird Gott nun als Ursache von Essenzen gesehen, so bedeutet das zum einen, daß die Essenzen der Dinge nicht völlig unabhängige Vermögen, sondern selbst wiederum abhängig sind. Zum anderen wird die wechselseitig irreduzible Vielheit der Essenzen auf die Einheit göttlicher Produktivität zurückgeführt. Dies beides könnte zunächst auch auf eine transeunte Auffassung göttlicher Kausalität bezogen werden. Gott müßte dann als äußere Ursache einer Totalität von Essenzen vorgestellt werden, die als gegeneinander selbständig zu denken wären. Ist Gott aber als äußere Ursache der Essenzen der Dinge aufgefaßt, müßte von diesen Essenzen eine gewisse kausale Selbständigkeit gegenüber Gott behauptet werden und Gott wäre dann lediglich als eine Ursache der Bestimmtheit von Essenzen zu denken, nicht aber als ihre konstituierende Ursache. Gottes Wirken wäre demnach auf die Art und Weise des Zusammenhangs von Essenzen beschränkt, nämlich als Grund essentieller Bestimmtheit, würde aber nicht als diesen Zusammenhang überhaupt konstituierend angesehen werden können.49 Hier liegt nun eine entscheidende systematische Pointe von Spinozas Begriff immanenter Kausalität, daß er Gottes Ursächlichkeit nicht auf den bestimmungslogischen Aspekt reduziert, sondern diesen mit dem konstitutionstheoretischen verschränkt. Was nun den letzteren betrifft läßt sich hier bereits folgendes festhalten: Gottes Kausalität, nach Spinoza als immanente verstanden, ist nicht eine solche, die ihre Wirkung außerhalb ihrer selbst setzt und damit dem Bewirkten als einem anderen gegenüberstünde, sondern Gott,bleibt', indem er wirkt ,in sich' (immanens): Gott bleibt demnach als Ursache präsent in dem, was er bewirkt. 50 Dies ist so zu verstehen, daß die Wirkungen göttlicher Kausalität kraft der bleibenden Präsenz der göttlichen Kausalität in ihnen selbst wiederum als Ursachen aufzufassen sind: jede Wirkung einer so gefaßten göttlichen Kausalität ist selbst wiederum causa (Eth. I, prop. 36). Für die Explikation der Verursachung der Essenzen ist dies von Bedeutung. Ist Gott als immanente Ursache der Essenzen angesprochen, so heißt dies nichts anderes, als daß die Essenzen als Produktionsvermögen von einem Prinzip abhängig sind, das zugleich sie selbst als 49 Auch an der traditionellen Auffassung einer creatio ex nihilo läßt sich dieses Problem zeigen. Soll dem Nichts nicht schon der ontologische Status des Seienden zugesprochen werden, was ein Widerspruch in sich wäre, so dürfte der Akt der Schöpfung sich nicht auf die Ordnung und Bestimmung des Seienden beschränken, sondern wäre als constituens von Seiendem überhaupt zu denken. Dann kann aber die göttliche Kausalität gerade nicht als äußere aufgefaßt werden, die ein schon vorhandenes Seiendes voraussetzen würde, an dem sie als Ursache ihre Wirkung entfalten könnte. 50 Der Begriff des „Inseins" zur Kennzeichnung der kausalen Immanenz Gottes wird unten Unterabschnitt 4 problematisiert werden. S.u. S. 25.

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Vermögen konstituiert und Grund ihrer Produktivität ist. D. h. sowohl die Setzung der Essenzen selbst als auch ihre Funktion, Existenz endlicher Dinge zu setzen, gründet in dem einen Prinzip der göttlichen Kausalität. Was Spinoza in diesem Sinne unter immanenter Ursächlichkeit Gottes versteht, könnte man das Prinzip von Produktivität überhaupt nennen. Dieses Prinzip ist Ursache jeglicher Ursächlichkeit und als solches am Ort aller seiner Wirkungen wiederum Bewirkendes. Für die Betrachtung endlicher Einzeldinge bedeutet dies nicht nur, daß ihre Essenzen und das Indie-Existenz-Kommen als Wirkung göttlicher Kausalität angesehen werden müssen, sondern auch, daß die den Dingen in ihrer Existenz eigene Produktivität in dieser Weise in Gott als der Ursache der Ursächlichkeit ihren Grund haben muß. 51 Der Zusammenhang endlicher Einzeldinge mit der göttlichen Kausalität stellt sich so wie folgt dar: Gott ist immanente Ursache der Essenz von Dingen. D. h. die den Dingen eigene Produktivität hat ihr Prinzip in der Einheit der Kausalität Gottes. Weil diese Kausalität Gottes am Ort ihrer Wirkungen erneut Wirkungen zeitigt, kann sie als Ursache von Ursächlichkeit oder anders gesagt als Prinzip von Produktivität überhaupt bezeichnet werden. Daß die Dinge in die Existenz treten und in ihr verharren, verdanken sie der positiven Kraft ihrer Essenzen, die auf das Prinzip von Produktivität überhaupt referieren und damit zugleich als Wirkving göttlicher Kausalität interpretierbar sind. Die Bestimmtheit der Existenz von Einzeldingen in ihrer quantitativ-zeitlichen wie qualitativen Dimension ist dagegen abhängig von ihrer Relation zu anderen existierenden endlichen Dingen in deren Bestimmtheit, welcher Zusammenhang zwar auch aus der Kausalität Gottes folgen muß, aber in seiner Konkretion dem Einzelding äußerlich bleibt.52 Das faktisch existierende Einzelding hat so eine doppelte kausale Bestimmtheit. Prinzipiell zwar ein Resultat göttlicher Kausalität und darin notwendig und ewig 53 ist es doch in dem, was es zum Endlichen macht, nämlich in seiner Dauer und in der Art und Weise seiner endlichen Bestimmungen, in einen Zusammenhang endlicher Ursachen gestellt. Die51 Eth. I, prop. 24, corol.: „Hieraus folgt, daß Gott nicht nur die Ursache dafür ist, daß die Dinge zu existieren anfangen [ut res incipient existere], sondern auch dafür, daß sie im Existieren verharren [ut in existendo perseverent]." Spinoza nimmt, wie R. Schnepf gezeigt hat, mit dieser Aussage ein Position ein in der scholastischen Diskussion um den sog. „concursus divinis", also die Art der Mitwirkung Gottes bzw. der endlichen Dinge bei der Konstitution und Bestimmung von Kausalität. Vgl. R. Schnepf: Der ordo geometricus und die Transformation der kausalen Ordnung in Spinozas Ethik (2003), bes. S. 43-47; dazu Ch. Ellsiepen: Immanenz und Freiheit (2005). 52 Und damit in dem spinozanischen Sinne eines epistemischen Mangels als kontingent für dieses Einzelne bezeichnet werden könnte, nicht jedoch im Sinne einer kontrafaktischen Möglichkeit. Zum Problem der Kontingenz s. o. S. 21, Anm. 45. 53 Aeternitas nennt Spinoza den Aspekt von Existenz, nach welchem diese Existenz notwendig aus Gott - als der res aeterna - folgt. Vgl. Eth. I, def. 8.

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ser erscheint als dem einzelnen Ding äußerlich. Zwar sind dabei die endlichen Ursachen selbst in ihrer Ursächlichkeit eine notwendige und direkte Wirkung der immanenten Kausalität Gottes, nicht jedoch in ihrer Endlichkeit, die ihre konkrete Bestimmtheit erst im Gesamtzusammenhang alles Endlichen erhält. Durch die Einführung der Differenz von Essenz und Existenz der Dinge und ihrer Verknüpfung mit dem Konzept immanenter Kausalität hat Spinoza den schwierigen Gedanken darzustellen versucht, daß einerseits - qua essentia - alles Endliche seinen Ursprung im Unendlichen hat, ohne daß andererseits die Existenz der einzelnen Dinge in ihrer Bestimmtheit aus Gott ableitbar wäre, womit die Unendlichkeit Gottes letztlich verendlicht würde. Spinoza muß, indem er an der Unendlichkeit Gottes festhält und zugleich die Unableitbarkeit endlicher Existenz betont, von der Faktizität des Endlichen ausgehen. 54 Es ist aber Spinozas tiefste Überzeugung, daß dieses faktische Endliche nicht ohne ein Unendliches „sein oder begriffen werden kann" (Eth. I, prop. 15). Denn das den Einzeldingen Wesentliche, ihre Essenz, ist als Produktivität überhaupt nur im Kontext einer Theorie Gottes verständlich zu machen, deren „Zentralstück" 55 die Lehre von der immanenten Kausalität darstellt. Der Begriff immanenter Kausalität ist demnach strenggenommen nicht im eigentlichen Sinne als Bestimmung des Verhältnissses zwischen Gott und den Dingen zu explizieren, sondern bringt ein der Gotteslehre internes Problem auf den Begriff. Im Folgenden soll es deshalb um die internen Aufbaumomente der spinozanischen Gotteslehre gehen, die den Gedanken von Gott als immanenter Ursache der Essenz der Dinge plausibel machen. Erst durch eine solche Betrachtung wird der Kern des Konzeptes immanenter Kausalität deutlich, den zu verstehen für die Explikation der dritten Erkenntnisart von entscheidender Bedeutung ist, welche gerade dieses dem Gottesbegriff interne Verhältnis endlicher und unendlicher Essenz zum Gegenstand hat.

4. Strukturmomente immanenter Kausalität Die Lehre von der immanenten Kausalität Gottes formuliert ein Kausalverhältnis, das sich wie jedes Verhältnis von Seiten seiner Relate je unter54 Die Grundeinsicht in diesen Sachverhalt verdankt die Forschung Wolfgang Bartuschat, der damit der älteren Forschungsmeinung widerspricht, in Spinozas System sei alles aus dem Begriff Gottes ableitbar (So beispielsweise Th. Camerer in seiner Monographie: Die Lehre Spinozas [1877] und auch noch M. Gueroult: Spinoza Ι/Π [1968/1974]). Mit der Durchführung dieses Gedankens in seinem Buch,Spinozas Theorie des Menschen' von 1992 hat Bartuschat der Interpretation von Spinozas Philosophie eine methodische Öffnung ermöglicht. 55 W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 20.

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schiedlich formulieren läßt. Es ist nun gerade das Charakteristische für Spinozas Theorie der Immanenz, daß diese beiden Aspekte nicht einfach nebeneinander stehen und man das Kausalverhältnis einerseits von Seiten der Dinge betrachten, andererseits von Seiten Gottes betrachten könnte. Vielmehr tut sich hier ein grundsätzliches Interpretationsproblem spinozanischer Philosophie auf, das für die Gesamteinschätzung von großer Bedeutung ist. Es ist die allgemeine Frage, ob und inwiefern es Spinoza gelungen ist, eine Theorie zu entwerfen, in der Göttliches und Endliches so aufeinander bezogen sind, daß weder die Einheit des Göttlichen preisgegeben wird, noch die Vielheit des Endlichen in einem Göttlichen völlig aufgeht, womit jenes seinen Charakter als Endliches verlieren würde. Zugespitzt taucht dieses Problem nun am Orte der Theorie immanenter Kausalität in der Frage auf, wie Einheit und Vielheit in der Relation der Essenzen der Dinge zur göttlichen Essenz aufeinander zu beziehen sind, wenn dieses Verhältnis einerseits als eines der Inhärenz, andererseits zugleich als ein Kausalverhältnis verstanden wird. Man hat versucht, die Verschränkung beider Aspekte in Spinozas Immanenzbegriff durch die Bildung analoger Formeln auszudrücken, nämlich daß nicht nur die Dinge in Gott seien, sondern auch Gott in den Dingen sei. 56 Es ist in der Forschung jedoch umstritten, ob es Spinozas Theorie angemessen sei, hier von einem Sein Gottes in den Dingen zu sprechen. Mir scheint die Sachfrage, die hinter diesem Formeldisput steht, wichtig für die Explikation dessen zu sein, was Spinoza unter immanenter Kausalität und indirekt damit auch Vinter scientia intuitiva versteht. Deshalb soll dieser Debatte hier in der nötigen Kürze nachgegangen werden. Während die Formel: „Die Dinge sind in Gott" eine genuin spinozanische Bildimg darstellt (Eth. I, prop. 15), handelt es sich bei der umstrittenen Formel: „Gott ist in den Dingen" um einen Interpretationsausdruck, der keinen ausdrücklichen Beleg in den Schriften Spinozas hat 57 und deshalb der Frage ausgesetzt ist, ob er Spinozas Konzept immanenter Kausalität aufzuhellen in der Lage ist. Dies kann aber nur in Abgrenzung zur Bedeutung des In-Seins der Dinge in Gott im Rahmen der Theorie immanenter Kausalität geklärt werden. Das in Lehrsatz 15 des ersten Teils der Ethica ausgesprochene Theorem der Inhärenz aller Dinge in Gott findet seine Explikation durch das der immanenten Kausalität Gottes in Lehrsatz 18: Was in Gott ist, hat sein Sein überhaupt, insofern es Wirkung göttlicher Kausalität ist, und ist in 56 Vgl. M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 222. 243. 252. 295. 299; W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 20. 49-51. 57 Vgl. K. Cramer: „Anschauung des Universums". Schleiermacher und Spinoza (2000), S. 134, Arun. 26.

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ihm, insofern diese Kausalität in keiner Weise auf ein „Außerhalb Gottes" referieren kann. Das In-Sein der Dinge in Gott ist vor dem Hintergrund des Immanenztheorems also als kausale Inhärenz zu verstehen. 58 Nun könnte die Formel „Gott ist in den Dingen" das Verständnis nahelegen, Gott sei auf dieselbe Weise in den Dingen wie diese in ihm. 59 Wenn daher das Verhältnis kausaler Inhärenz der Dinge in Gott, das eine Abhängigkeit derselben von Gott impliziert, schlicht umgekehrt werden sollte, wäre also eine kausale Inhärenz Gottes in den Dingen zu setzen. Dies führt aber zu der unsinnigen Aussage, Gott sei in gleicher Weise von den Dingen abhängig wie diese von ihm, 60 es sei denn, es würde eine Identität zwischen Gott und den Dingen behauptet. Daß aber Spinoza die Einsinnigkeit der Kausalbeziehung61 im Sinne der Differenz zwischen Ursache und Wirkung - und folglich auch zwischen Gott und den Dingen - nicht aufheben will, betont er eigens in einem Scholium unmittelbar vor dem Immanenztheorem: „Denn was verursacht ist, unterscheidet sich von seiner Ursache genau in dem, was es von seiner Ursache hat." 62 So kann es also nicht im Sinne Spinozas sein, immanente Kausalität als gänzliche Aufhebung dieser Differenz und damit als nur uneigentlich so zu nennende Kausalität aufzufassen. Auf diesen Sachverhalt hat Konrad Cramer mehrmals nachdrücklich hingewiesen.63 Allerdings haben diejenigen Interpreten, die die Formel „Gott ist in den Dingen" zur Interpretation des Konzeptes immanenter Kausalität verwandt haben, keineswegs den Unterschied von Ursache und Wirkung zu verwischen versucht. So verweist Gueroult darauf, daß Gott als immanente Ursache der Dinge „schlechthin verschieden ist von seinen Wirkungen [... ] Die Immanenz Gottes in den Dingen ist also nicht ohne eine gewisse Transzendenz". 64 Diese „gewisse Transzendenz" Gottes bleibe bestehen auch wenn Gottes Kausalität nicht als transeunte verstanden werde und somit in der Kausalrelation weder 1. eine reale Differenz zwischen Tätigem und Leidendem, noch 2. eine äußerliche Verbindung der Relate, noch 3. eine Unähnlichkeit („dissemblance") der Relate angenommen werde. Lediglich die letzte Bestimmung sei für die immanente Ursäch58 59 60 61 62

Vgl. W. Bartuschat: Subjekt und Metaphysik (2001), S. 23. Diesen Vorwurf erhebt K. Cramer: „Anschauung des Universums" (2000), S. 137.140f. Ebd., S. 134f. Vgl. K. Cramer: Gedanken über Spinozas Lehre von der All-Einheit (1985), S. 178. Eth. I, prop. 17, schol.: „Nam causatum differt a sua causa praecise in eo, quod a causa habet." 63 Vgl. K. Cramer: Gedanken über Spinozas Lehre von der All-Einheit (1985), S.176-178; „Anschauung des Universums". Schleiermacher und Spinoza (2000), S. 133-135. 137. 140f. 64 M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 300: „Ainsi, tant au point de vue de sa causalite qu'au point de vue de son essence, Dieu apparait comme absolument distinct de ses effets ou de ses modes. [... ] L'immanence de Dieu aux choses ne va done pas sans une certaine transcendence." Vgl. dazu auch ebd., S. 265-268. 286ff.

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lichkeit in einer abgeschwächten Form zutreffend und mache die „gewisse Transzendenz" der Ursache gegenüber der Wirkung aus. Denn die Wirkung sei nach Spinoza nichts als die Ursache selbst, allerdings in einer bestimmten Modifikation: Die Wirkung unterscheidet sich demnach zwar von der Ursache, aber diese „Differenz ist abgeschwächt durch die Tatsache, daß sie [die Wirkving] nichts als diese Ursache selbst ist, quatenus".65 Wolfgang Bartuschat argumentiert im Kontext der Explikation endlicher Dinge durch die göttliche Kausalität auf ähnliche Weise: „Gott ist nicht zunächst für sich und dann noch im Hinblick auf einzelnes, sondern er ist für sich, sofern er im einzelnen ist, allerdings so, daß er in diesem nicht aufgeht. Das ist nur möglich, wenn das einzelne zugleich durch etwas bestimmt ist, das nicht aus der absoluten Natur Gottes folgt. In ihm [dem einzelnen] kann die Natur Gottes deshalb nur sein, wenn sie als eine bestimmte betrachtet wird, die zugleich eine absolute ist" 66 Aus dieser kurz vorgestellten Diskussion ist für die eigene Rekonstruktion zu schließen, daß man bei dem Ausdruck „Gott ist in den Dingen" genau hinsehen muß, was damit gemeint ist, soll er Spinozas Verhältnisbestimmung zwischen Absolutem und Endlichen auf den Begriff bringen. Einerseits impliziert die Behauptung einer Präsenz Gottes in den Dingen keineswegs die Folgerung einer völligen Identität zwischen Gott und den Dingen. Andererseits mag die genannte Formel gerade dieses Mißverständnis evozieren, zumal Gueroult mit ihr den Begriff des Pantheismus verbindet, der ebenfalls die Konnotation der Identität von Gott und den Dingen mit sich führt. Jedoch scheint diese Interpretationsrichtung, wenn auch ihre Begrifflichkeit mißliche Konnotationen mit sich bringt, einen Sachverhalt festhalten zu wollen, den man nur schwerlich ignorieren kann, ohne die spinozanische Theorie immanenter Kausalität grundlegender Elemente zu berauben. Nach Gueroult ist dem Begriff des Pantheismus („Gott ist in den Dingen") der des Panentheismus („Die Dinge sind in Gott") an die Seite zu stellen, so daß nur beide zusammengenommen erst das Konzept immanenter Kausalität beschreiben.67 Gueroult hat hier gesehen, daß der 65 M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 300: „l'effet, [...], s'il en [de la cause] difföre, cette difference est attenue du fait qu'il n'est que cette cause meme, quatenus". 66 W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 51. Hhg. C.E. 67 M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 299: „Aber, weil die immanente Kausalität darin besteht, daß sie ihre Wirkungen innerhalb ihrer selbst produziert, schließt die Immanenz Gottes in den Dingen, die durch seine immanente Kausalität impliziert ist, ipso facto die Immanenz der Dinge in ihm ein. Folglich stellt sich schließlich heraus, daß die zuerst unterschiedenen Begriffe von Immanenz in der einen Perspektive der immanenenten Kausalität eins sind [les deux notions de l'immanence se trouvent finalement n'en faire qu'une]. Panentheismus und Pantheismus sind eins [ne font qu'un]." Vgl. auch ebd., S. 243. 252. 295.

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Begriff eines immanenten Kausalverhältnisses nur dann verstanden ist, wenn durch ihn zugleich Identität der Relate (dafür steht Gueroults Begriff des Pantheismus) und Differenz der Relate (dafür steht Gueroults Begriff des Panentheismus) ausgesagt wird. Diesen Gedanken einer Identität und zugleich Differenz von Gott und den Dingen auf den Begriff zu bringen scheint mir die eigentliche systematische Pointe des spinozanischen Begriffs immanenter göttlicher Kausalität. Dieser Gedanke ist grundgelegt in einem Gottesbegriff, der so konzipiert ist, daß er die beiden Momente von Identität und Differenz miteinander verschränkt: Mithin ist es der spinozanische Gottesbegriff selbst, der nach seinen internen Aufbaumomenten zu untersuchen ist, wenn expliziert werden soll, inwiefern einerseits Identität und andererseits Differenz das Verhältnis zwischen Gott und den Dingen ausmachen soll.

5. Die Grundlegung immanenter Kausalität im Substanzbegriff In der Anmerkung zu Lehrsatz 25 des ersten Teils schreibt Spinoza, daß man den vorstehenden Lehrsatz, der Gott als causa efficiens sowohl der Existenz als auch der Essenz der Dinge festgelegt hatte, leichter als mit dem gegebenen apagogischen Beweis, durch Verweis auf Lehrsatz 16 beweisen könne und bringt dann ein für das im letzten Abschnitt behandelte Problem bezeichnendes Diktum: „um es kurz zu sagen: in der Bedeutung, in der Gott Ursache seiner selbst [causa sui] genannt wird, muß er auch Ursache aller Dinge [causa omnium rerum] genannt werden" 68 Eine Koinzidenz von causa sui und causa omnium rerum scheint nun gerade das Problem auf den Begriff zu bringen, das sich in der Darstellung der Theorie immanenter Kausaliät ergeben hatte: Es galt, zugleich Identität und Differenz im Kausalverhältnis zwischen Wesen Gottes und Wesen der Dinge zu denken. Es war herausgearbeitet worden, daß Spinozas Bestimmung dieses Verhältnisses fundiert sein müsse in einer dem Gottesbegriff internen Differenzierung der göttlichen Kausalität. Die beiden Seiten göttlicher Kausalität können jetzt nach dem Scholium zu Lehrsatz 25 als causa sui und causa omnium rerum benannt werden. Allerdings läßt die Formulierung gerade die entscheidende Frage einer Verhältnisbestimmung beider Seiten der göttlichen Kausalität offen. Es käme ja gerade darauf an zu verstehen, in welcher Hinsicht causa sui und causa omnium rerum als Charakteristika göttlicher Kausalität anzusprechen sind. Welches ist die „Bedeutung" („eo sensu [... ] quo [... ] etiam"), demzufolge Gott 68 Eth. I, prop. 25, schol.: „et, ut verbo dicam, eo sensu, quo Deus dicitur causa sui, etiam omnium rerum causa dicendus est".

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sowohl als causa sui als auch als causa omnium rerum betrachtet werden kann? Es gilt, die beiden Hinsichten in ihrer Unterschiedenheit und in ihrer Bezogenheit zu verstehen. Dies ist die leitende Hinsicht für die folgenden Überlegungen. Bevor jedoch der Versuch unternommen werden kann, in Spinozas philosophischem System einen Begriff aufzusuchen, der eine Explikation beider Arten von göttlicher Kausalität zu geben verspricht, soll zunächst erörtert werden, wo innerhalb des spinozanischen Gefüges metaphysischer Begriffe überhaupt causa sui bzw. causa rerum zu verorten sind. Der Zusammenhang des Diktums im Scholium von Lehrsatz 25 legt dabei als solchen Ort zunächst den Gottesbegriff nahe. Denn Spinoza verweist in diesem Scholium auf Lehrsatz 16 des ersten Teils der Ethik, als dessen thesenhafte Zusammenfassung er das Wort von der Bedeutungsgleichheit von Gott als causa sui und Gott als causa omnium rerum verstanden wissen will. Dieser Satz 69 hat den Zusammenhang der Einheit der göttlichen Natur mit einer unendlichen Vielheit zum Gegenstand: „Aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur muß unendlich vieles [infinita] auf unendlich viele Weisen [infinitis modis] folgen (d.h. alles, was unter einen unendlichen Verstand fallen kann)." 70 Hier werden zwei verschiedene Sachverhalte in Bezug auf die Vielheit mit dem Ausdruck „unendlich" versehen. Zum einen soll „unendlich vieles" aus Gottes Natur folgen, zum anderen soll dieses unendlich viele „auf unendlich viele Weisen" aus Gott folgen. Diese beiden Ausdrücke, die hier verbunden sind, haben unterschiedliche Grundlagen in der Gotteslehre. Der erste hat, wie noch zu zeigen sein wird, seine Begründung darin, daß Gottes Wesen von „Attributen" konstituiert wird, worin seine Substantialität besteht, der zweite in dem den Gottesbegriff näherhin qualifizierenden Merkmal einer Wesenskonstitution durch eine unendliche Vielheit von Attributen. Es ist nun die Frage, welcher der beiden genannte Aspekte für das Problem der Verhältnisbestimmung von causa sui und causa rerum bzw. von göttlicher und dinglicher Essenz einschlägig ist. Hierfür ist eine Unterscheidung aufschlußreich, auf die Konrad Cramer hingewiesen hat. Er hat gezeigt, wie in Spinozas Argumentation im ersten Teil der Ethik der Beweis der Existenz Gottes von dem Beweis der Einzigkeit Gottes zu dif69 Ehrenfried Walther Tschirnhaus, der philosophisch neben Leibniz wohl einzig ebenbürtige Briefpartner Spinozas, sah Lehrsatz 16 seinerzeit als den „nahezu wichtigsten Lehrsatz des ersten Buches" an (Ep. 82 vom 23. 6.1676, Opera IV, S. 334). Vgl. M. Walther: Einleitung (zur dt. Ausgabe von Spinozas Briefwechsel, 1986), S. XL. 70 Eth. I, prop. 16: „Ex necessitate divinae naturae infinita infinitis modis (hoc est omnia, quae sub intellectum infinitum cadere possunt) sequi debent." Zur Interpretation dieses Lehrsatzes vgl. v.a. M. D. Wilson: Infinite Understanding, Scientia intuitiva, and Ethics I. 16 (1983/1992) und R. Schnepf: Der ordo geometricus und die Transformation der kausalen Ordnung in Spinozas Ethik (2003), S. 3 9 ^ 2 .

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ferenzieren ist.71 Während Gottes Einzigkeit aus der Bestimmung Gottes als einer Substanz mit unendlichen Attributen gefolgert wird, besteht der Kern des Beweises der Existenz Gottes bereits in dem Beweis der notwendigen Existenz von Substanzen überhaupt. 72 Wenn nun Spinoza in der causa sui-Figur notwendige Existenz ausdrückt und der Existenzbeweis auf Substanzen zugeschnitten ist, so ergibt die Unterscheidung des Existenzbeweises von dem der Einzigkeit für unsere Fragestellung die Konsequenz, daß das Verhältnis von causa sui und causa omnium rerum bereits aus der Charakterisierung des Substanzbegriffes zu folgern sein müßte und nicht eine Bestimmung darstellt, die nur für eine Substanz gelten würde, die auch einzige Substanz ist.73 So zeigt sich: Nicht der voraussetzungsreichere Gottesbegriff, sondern der Begriff der Substanz ist es, in dessen Kontext sich bereits das in Frage stehende Verhältnis von Selbstverursachung und Allverursachung beschreiben lassen muß. 74 Wenn aber der Substanzbegriff den systematischen Kontext für die Frage der Bestimmung von causa sui und causa rerum als Charakteristika göttlicher Kausalität darstellt, dann müßte in Spinozas System womöglich eine Argumentation aufgesucht werden können, aus der sich nicht nur die Koextensionalität von Substanz und causa sui ergibt, sondern zugleich auch diejenige von Substanz und causa omnium rerum. Darin müßte plausibel werden: Was immer Substanz ist, ist zugleich notwendig existent (causa sui) und Ursache einer unendlichen Vielheit (causa rerum). Wenn die Behauptung eines Zugleich von causa sui und causa rerum in der Philosophie Spinozas einen argumentativen Aufweis haben sollte, dann müßte also aus diesem Argument zugleich sowohl die notwendige Existenz einer Substanz als auch deren Status als Ursache einer Unendlichkeit von Dingen zu verstehen sein. 71 Vgl. K. Cramer: Über die Voraussetzungen von Spinozas Beweis für die Einzigkeit der Substanz (1977); Christian Wolff über den Zusammenhang der Definitionen von Attribut, Modus und Substanz (1981), S. 85. 98f; Gedanken über Spinozas Lehre von der All-Einheit (1985). Die Unterscheidung der Beweise von der Existenz Gottes und der Einzigkeit Gottes findet sich schon in der scholastischen Gotteslehre - klassisch die Unterscheidung bei Duns Scotus. 72 Vgl. K. Cramer: Gedanken über Spinozas Lehre von der All-Einheit (1985), S. 167. 73 Nachdem bewiesen ist, daß Gott die einzige Substanz ist (Eth. I, prop. 14), mag es gelten, daß folglich Gott auch einzige causa sui ist, aber dies folgt eben noch nicht aus dem Begriff Gottes als einer Substanz überhaupt, sondern erst aus seinem Begriff als einer Substanz mit unendlichen Attributen (Eth. I, def. 6). 74 Die weitergehende Bestimmung des Gottesbegriffs gegenüber dem Substanzbegriff ist die Wesenskonstitution als Substanz durch unendlich viele Attribute. Aus dieser Bestimmung wird dann die Einzigkeit als Substanz gefolgert. Dieser Aspekt des Gottesbegriffs kommt dann zum Tragen, wenn das Verhältnis zwischen verschiedenen Attributen oder zwischen Modi verschiedener Attribute thematisch wird. Für die Rekonstruktion der dritten Erkentnnisart ist dies im Blick auf die Möglichkeit einer Parallelisierung von ideellen und reellen Strukturen von Bedeutung. S. u. S. lOOff.

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Nun gilt es in Hinsicht darauf den Kontext des Substanzbegriffes näher einzugrenzen. Einen ersten Hinweis kann die Definition der causa sui abgeben. Derzufolge liegt eine causa sui genau bei derjenigen Entität vor, „deren Essenz Existenz einschließt, anders formuliert, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann." 75 Wenn also eine Verbindungslinie von causa sui und Substanz gefunden werden soll, so ist sie in der Frage der Essenz zu suchen. Es müßte ein Merkmal des Wesens von Substanz sein, aus dem die geforderte Koextensionalität von Substanzbegriff und Begriff der causa sui zu schließen wäre. Die Frage ist also, was nach Spinoza über das Wesen (essentia) einer Substanz auszusagen ist, das die Behauptung rechtfertigen würde, es schließe notwendige Existenz ein. Aus dieser Bestimmung des Wesens müßte sich dann zugleich auch die Begründung einer Vielheit plausibel machen lassen. Was aber das Wesen einer Substanz ausmacht, ist nach Spinoza „Attribut" (Eth. I, def. 4). Man ist also in diesem Zusammenhang auf Spinozas eigentümliche Lehre von „Attributen" verwiesen. Hier ist zunächst eine Bemerkung zur Interpretation des Verhältnisses von Substanz und Attribut voranzuschicken. Thomas Carson Mark hat in seinem Beitrag über Spinozas Attributsbegriff76 zwei Auffassungen benannt, die in verschiedener Varianten zu den hauptsächlichen Mißverständnissen dessen zählen, was Spinoza unter Attribut versteht.77 Die erste ist die Auffassung von Attributen als Eigenschaften (proprietates) einer Substanz, die ein aristotelisierendes Verständnis nahelegt, Attribute würden der Substanz inhärieren. Davon kann bei Spinoza aber keine Rede sein.78 Die zweite Auffassung sieht Attribute in der Funktion, Repräsentationen von Substanz zu sein und macht folglich eine „semantische Lücke" zwischen der Substanz und ihren Attributen auf. Diese Auffassung bezieht sich auf die Formulierung Spinozas, Attribute drückten das Wesen der Substanz aus, 79 und interpretiert sie als eine Repräsentationsrelation. Dieses „Ausdrücken" („exprimere"), so stellt Mark heraus, muß aber vielmehr als ein „Aufweisen" oder „Präsentsein" der Substanz verstanden werden, 80 denn ein Attribut hat gegenüber der Essenz der Sub75 Eth. I, def. 1: „Per causam sui intelligo id, cujus essentia involvit existentia, sive id, cujus natura non potest concipi nisi existens." 76 T. C. Mark: The Spinozistic Attributes (1992). 77 Vgl. zur Diskussion um die Attributenlehre auch M. Gueroult: Spinoza I (1968), Appendice 3, S. 428-461. 78 Nirgends heißt es bei Spinoza, Attribute seien in Gott oder in der Substanz. 79 Vgl. Eth. I, prop. 19, dem.: „Deinde per Dei attributa intelligendum est id, quod (per Defin. 4.) Divinae substantiae essentiam exprimit". 80 ebd., S. 231: „Attributes do not represent substance, or depict or describe it: an attribute exhibits the essence of substance." (Hhg. im Original), S. 234: „attributes are essentially presentations of substance". Den Begriff des „Ausdrucks" (expression) stellt Gilles Deleuze in den Mittelpunkt seiner Spinozainterpretation. Er sieht in diesem eine Synthesefigur (complicatio), welche

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stanz Konstitutionsfunktion und „ist" folglich selbst „ein Fall von unabhängigem Seienden." 81 Mark hat hier deutlich die Schwierigkeit benannt, das Verhältnis von Attribut und Substanz begrifflich zu erfassen, ohne in die traditionellen Konnotationen zu verfallen. Bei allem Augenmerk auf die Art und Weise des als „Ausdrücken" bezeichneten Sachverhalts, wird aber nicht weiter erörtert, was genau ein Attribut ausdrückt oder ist, wenn es gemäß der Attributsdefinition (Eth. I, def. 4) als „das Wesen der Substanz konstituierend " aufzufassen ist.82 Von der Beantwortung dieser letzteren Frage hängt es aber ab, inwieweit der oben problematisierte Zusammenhang von Substanzbegriff, Begriff der causa sui und der causa rerum aufgehellt werden kann. Es soll hier der Versuch unternommen werden, ein Verständnis dieses Zusammenhangs über die Klärung des Begriffs der Vollkommenheit (perfectio) zu entwickeln. Im Briefwechsel mit Johann Hudde aus dem Jahr 166683 zugleich die Explikation dessen umfaßt, was ausgedrückt wird, und die Implikation desselben in dem, was ausdrückt. So kann er in dieser Fassung des Begriffs Ausdruck sein Verständnis von Spinozas Metaphysik reformulieren: „Nun ist die Natur bei Spinoza eine, die alles einbegreift, alles enthält, während sie zugleich in jedem Ding impliziert ist und durch jedes expliziert wird" (G. Deleuze: Spinoza et le probläme de l'expression (1968)/Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie (1993), S. 13/20). Mir scheint es geraten, zwar einerseits den Begriff des Ausdrückens von den von Mark genannten Mißverständnissen fernzuhalten, andererseits aber auch nicht wie Deleuze in diesem Begriff, der von Spinoza an keiner Stelle definiert wird, schon die grundlegenden metaphysischen Relationen versammelt zu sehen. Möglicherweise hatte Spinoza einen ähnlich unaufgeladenen Begriff des exprimere vor Augen wie Leibniz: „Eine Sache drückt (nach meinem Sprachgebrauch) eine andere aus, wenn zwischen dem, was man von der einen, und dem, was man von der anderen aussagen kann, eine feste und regelmäßige Beziehung besteht. In diesem Sinne drückt eine perspektivische Projektion das in ihr projizierte geometrische Gebilde aus." (Leibniz in einem Brief an Arnauld vom 9. 10. 1687, Werke ed. Gerhardt, Bd. 2, S. l l l f f , zitiert nach Leibniz, Gottfried Wilhelm: Hauptwerke, hrsg. von Gerhard Krüger, Leipzig 1933, S. 101. Vgl. auch Leibniz: Monadologie § 56. 59. 62. 65. 81 T. C. Mark: The Spinozistic Attributes (1992), S. 231: „Each attribute manifests or is an instance of independent being." 82 Ohne das weiter zu begründen, nennt Mark als Bestimmungen von Substanz: „unabhängig" (S. 231), „unendlich", „selbstgenügsam" (S. 230). 83 Ep. 34-36., Opera IV, S. 179-187. Zehn Jahre später (zwischen dem 18. und 21. November 1676) hat Leibniz Spinoza in Den Haag besucht. Das Thema ihrer Unterredung war, wie uns aus Notizen von Leibniz bekannt ist (G. W. Leibniz: Akdamieausgabe, Bd. VI,3: Philosophische Schriften 1672-1676, Berlin 1980, Nr. 79-87, S. 571-588), der Beweis der notwendigen Existenz Gottes. In diesem Zusammenhang notiert sich Leibniz eine Definition Gottes, die der causa sui-Definition aus der Ethik Spinozas entspricht: „Deus est ens ex cuius possibilitate (seu essentia) sequitur ipsius existentia." (ebd., S. 582) Aufschlußreich scheint mir darüberhinaus, daß der Existenzbeweis über den Begriff der perfectio geführt wird. Deus ist als ens perfectissimum nach Leibniz deshalb notwendig existent, weil er alle perfectiones enthält, worunter die Existenz mitbefaßt sein muß (ebd., S. 576, Z. 3; S. 577, Z. 23; S. 579, Z. 7). Mit dieser Argumentation steht Leibniz in der Tradition des ontologischen Gottesbeweises von Anselm bis Descartes. Spinoza

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bringt Spinoza diesen Begriff sowohl mit der notwendigen Existenz einer Entität in Zusammenhang als auch - indirekt - mit der Funktion eines Attributs. Demnach ist es die Funktion eines Attributs, „Vollkommenheit auszudrücken" („perfectionem exprimere"). 84 Diese Charakterisierung der Konstitutionsfunktion eines Attributs, Vollkommenheit auszudrücken, scheint einerseits der Hintergrund für Spinozas Annahme zu sein, jeder Substanz komme notwendig Existenz zu, und damit für eine Koextensionalität der Begriffe Substanz und causa sui. Andererseits gibt es auch Verbindungslinien vom Begriff der Vollkommenheit zu dem gewichtigen Satz, die göttliche Natur als Substanz habe unendliche Folgen (Eth. I, prop. 16). Mit dem Begriff der Vollkommenheit scheint sich damit eine Möglichkeit zu ergeben, beide Aspekte aufeinander zu beziehen und so ein Verständnis zu gewinnen, inwiefern Spinoza Gott in „derselben Bedeutung" causa sui wie causa omnium rerum nennen konnte (Eth. I, prop. 25, schol.). 1. Was zunächst den Zusammenhang von Substanzbegriff und Begriff der causa sui betrifft, so scheint der Gedanke der Vollkommenheit des Wesens einer Substanz hier die Verbindung zu stiften. Im angeführten Brief an Johann Hudde stellt Spinoza Merkmale auf, die einer Enscheint diesen, ihm von Leibniz bei dessen Besuch vorgelegten Beweis gut geheißen zu haben: „Ostendi hanc ratiocinationem D. Spinosae cum Hagae Comitis essem qui solidam esse putavit" (ebd., S. 579, Z. 10, Hhg. C. E.). Aber seine eigene Argumentation verläuft doch etwas anders. Nicht weil Existenz unter die Attribute oder perfectiones zu zählen ist und Gott diese auch enthalten muß, ist er existent, sondern bereits jeder perfectio kommt es zu, zu existieren - wie viel mehr also Gott als einer Entität, in welcher alle perfectiones vereinigt sind! „Porro, quoniam non nisi ex perfectione provenire potest ut aliquod Ens sua sufficientia, & vi existat, sequitur, si supponamus Ens, quod non omnes exprimit perfectiones, sua natura existere, etiam nos debere supponere illud quoque Ens existere, quod omnes comprehendit in se perfectiones. Si enim minori potentia praeditum sua sufficientia, quanto magis aliud majori potentia praeditum existit." (Spinoza an Hudde, 10. April 1666: Ep. 35, Opera IV, S. 182). Nicht erst der komplexere Gottesbegriff, sondern bereits der Substanzbegriff als das, was eine perfectio ausdrückt, liefert den Existenzbeweis. Das Verhältnis von Leibniz und Spinoza in diesem Punkt wäre indes eine eigene Untersuchung wert. Vgl. dazu auch den Briefwechsel Spinozas mit Leibnizens Mittelsmann Schuller (Ep. 58. 63. 64.70.72), sowie dessen Briefwechsel mit Leibniz (Leibniz: Akad. Ausgabe, Bd. Π,Ι, Nr. 135-137.160; S. 303-305.382). Zum Verhältnis Leibniz-Spinoza generell vgl. die älteren Arbeiten von C. I. Gerhardt: Leibniz und Spinoza (1889); L. Stein: Leibniz und Spinoza (1890); sowie in neuerer Zeit: W. Bartuschat: Spinoza in der Philosophie von Leibniz (1981); ders.: Leibniz als Kritiker Spinozas (2002) und die Beiträge in Studia Spinozana 6 (1990): Spinoza and Leibniz, bes. D. Garrett: Truth, method and correspondance in Spinoza and Leibniz, ebd., S. 13-43. 84 Ep. 35, Opera IV, S. 182: „Id omne, quod necessariam includit existentiam, nullam in se habere posse imperfectionem; sed meram debere exprimere perfectionem." In der Erklärung dieses Satzes im folgenden Brief 36, Opera IV, S. 184, verweist Spinoza exemplarisch auf Extensio und Cogitatio. Deshalb scheint mir die Interpretation gerechtfertigt, daß Spinoza hier die Funktion, Vollkommenheit auszudrücken, Attributen zuspricht.

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tität zukommen müssen, der notwendige Existenz zukommen soll: Es sind dies die vier Merkmale der Ewigkeit, Einfachheit, Unendlichkeit und Unteilbarkeit.85 Denn, so die Argumentation, es kann weder in zeitlicher Hinsicht (Ewigkeit), noch in Bezug auf seine Zusammensetzung (Einfachheit), noch in Bezug auf mögliche Grenzen (Unendlichkeit) oder Teilmomente (Unteilbarkeit) von einer solchen Entität gesagt werden, sie existiere nicht. Damit sei klar zu sehen, und das ist der Anknüpfungspunkt zum Vollkommenheitsbegriff, daß der Begriff einer solchen notwendig existierende Entität jede Unvollkommenheit ausschließt.86 Vielmehr drücke diejenige Entität, die notwendige Existenz in sich schließt, reine Vollkommenheit aus. 87 Spinoza konstatiert hier die Korrelation von Vollkommenheit und notwendiger Existenz. Nicht nur ist ein notwendig Existierendes notwendigerweise vollkommen, sondern es gilt auch umgekehrt: „Nur aus der Vollkommenheit kann es kommen, daß eine Entität aus eigenem Genügen, aus eigener Kraft (sua sufficientia et vi) existiert". 88 Wenn es nun eine grundlegende Bestimmung des Attributsbegriffes ist, daß dem von einem Attribut konstituierten Wesen einer Entität Vollkommenheit zukommt, so muß nach der Korrelation von Vollkommenheit und notwendiger Existenz von dieser Entität also auch gesagt werden können, sie existiere notwendig. Die von einem Attribut konstituierte Entität ist aber eine Substanz. Von dieser muß folglich nicht nur essentielle Vollkommenheit, sondern auch notwendige Existenz ausgesagt werden. Eine Essenz, der qua Essenz zugleich Existenz zukommt, ist in Spinozas Terminologie aber eine causa sui (Eth. I, def. 1). So kann mit dieser Argumentation über den Begriff der Vollkommenheit deutlich werden, warum Spinoza eine Entität, der er Substantialität beilegt, auch als notwendig existierend oder als eine causa sui ansieht.89 2. Wenden wir uns nun dem Folgetheorem von Eth. I, prop. 16 zu. Diesem liegt die Auffassung zugrunde, daß sich aus dem gegebenen Wesen einer Sache alle ihre Eigenschaften ableiten lassen.90 Hier zeigt sich Spinozas Auffassung des Wesensbegriffs, mit der er ganz in cartesianischer Tradition steht. Im Gegensatz zu einem bloß nominalen Wesens85 Ep. 35, Opera IV, S. 181f. 86 Ebd., S. 182: „Hinc videre est, quod, si ejusmodi Enti aliquam velimus adscribere imperfectionem, statim in contradictionem incidamus." 87 Ebd.: „V°. Id omne, quod necessariam includit existentiam, nullam in se habere posse imperfectionem; sed meram debere exprimere perfectionem.". 88 Ebd.: „Porro, quoniam non nisi ex perfectione provenire potest, ut aliquod Ens sua sufficientia, & vi existat, sequitur" Vgl. Eth. I, prop. 11, schol.: „Perfectio igitur rei existentiam non tollit, sed contra ponit; imperfectio autem contra eandem tollit". 89 Dieses Ergebnis erreicht Spinoza in der Ethik über eine andere Beweisführung in Eth. I, prop. 7. 90 Vgl. TIE § 96f, Ba 86. 88/Geb 35f.

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begriff hat danach jede Sache ein reales Wesen und diese Sachhaltigkeit (realitas) ist der Steigerung fähig.91 Der so quantifizierbare wesentliche Gehalt einer Sache entspricht nun genau der Menge der Eigenschaften, die aus dem Wesen gefolgert werden können (sequi) und so kann man sagen: Sachgehalt und Konsequenzenmenge des Wesens einer Sache sind proportional.92 Wenn es nun heißt, ein Attribut drücke Vollkommenheit aus, so bedeutet das nichts anderes, als daß das durch das Attribut konstituierte Wesen einer Sache einen unendlichen Sachgehalt aufweist.93 Nach der Proportionalität von Sachgehalt und Konsequenzenmenge als Menge der Wesenseigenschaften, muß eine solche Sache also eine unendlich große Konsequenzenmenge bzw. unendlich viele Eigenschaften aufweisen, die aus ihrem Wesen gefolgert werden können. Die durch ein Attribut konstituierte Sache ist nun definitionsgemäß nichts anderes als eine Substanz (Eth. I, def. 4) und so ist es also die Bestimmung Gottes als einer Substanz, die im Lehrsatz 16 die Behauptung zuläßt, aus der göttlichen Natur folge unendlich Vieles (infinita).94 Nun ist diese Aussage aber noch nicht identisch mit derjenigen, die Gott als Ursache der Dinge behauptet. Zwischen Wesen und Ursache bzw. zwischen Konsequenz und Wirkung ist eine Differenz, die darin be91 Vgl. M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 143-151, bes. § IV, S. 145-147. Spinoza und Descartes stimmen in der Auffassung der Abstufung von Realität überein. Gueroult sieht Spinozas Besonderheit in dieser „regle de la progression" (S. 147) gegenüber Descartes lediglich in der ihr zugewiesenen systematischen Funktion zur Konstitution des Gottesbegriffs. 92 Eth. I, prop. 16, dem.: „proprietates [...], quae revera ex eadem (hoc est ipsa rei essentia) necessario sequuntur, et eo plures, [... ] quo plus realitas rei [... ] essentia involvit." Zum cartesischen Hintergrund des „sequi" vgl. R. Schnepf: Der ordo geometricus und die Transformation der kausalen Ordnung in Spinozas Ethik (2003). 93 Die vollständige Identifikation von Realität und Vollkommenheit, die Spinoza erst im zweiten Buch vornimmt (Eth. Π, def. 6) ruht bereits auf dem Gedanken, daß außer der Realität des ens perfectissimum (d. h. Gottes), von dem gezeigt wurde, daß es einzig ist, keine Realität zu denken möglich ist. Hier jedoch, wo von Gott nur erst als Substanz überhaupt, d.h. als ens perfectum die Rede ist, ist es noch sinnvoll, von einem unendlichen Sachgehalt, nämlich gegenüber dem nur endlichen Sachgehalt traditioneller Einzeldinge, zu sprechen. Wird Gott dann aber als einzige Substanz oder ens perfectissimum aufgefaßt, ist diesem wiederum ein größerer Sachgehalt gegenüber jetzt nur noch hypothetisch sinnvollen entia perfecta zuzusprechen (s.u. Abschnitt auf S. 48). Der Gottesbegriff wird mithin in realitätstheoretischer Hinsicht zwar in Analogie zur traditionellen Auffassung, daß verschiedenen Dingen unterschiedliche Grade an Realität zukommen, aufgestellt, durch diesen Begriff kommt es aber zu dem Ergebnis, daß die Bedeutung von realitas mit der von perfectio zusammenfällt. 94 Dies ist im Beweis von Lehrsatz 16 nicht sogleich ersichtlich, denn im Verweis auf die Definition von Deus (Eth. I, def. 6) wird der zweite Aspekt des Folgetheorems, daß nämlich aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur dieses unendlich Viele (infinita) auf uendliche Weisen (infinitis modis) folgt, mitbegründet. In der genannten Definition steht für diesen letzteren Aspekt die Bestimmung Gottes als einer absolut unendlichen Entität (ens absolute infinitum) gegenüber einer nur in ihrer Gattung unendlichen (ens in suo genere infinitum). Vgl. die Erläuterung zu Eth. I, def. 6.

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steht, daß in der Rede von Ursache und Wirkung die Existenz der Relate mitbehauptet wird. Aus einer Definition des Wesens einer Sache läßt sich also eo ipso noch nicht auf deren Existenz schließen. Die Funktion des causa sui-Gedankens besteht an dieser Stelle genau darin, diese gedankliche Verbindung herzustellen. Im Ergebnis der ersten Erörterung zum Vollkommenheitsbegriff hatte sich herausgestellt, daß Spinoza jeder Substanz, weil deren Essenz, als durch ein Attribut konstituiert, Vollkommenheit ausdrückt, notwendige Existenz zuerkennt.95 Jede Substanz ist demnach auch eine causa sui. Wenn nun das Wesen einer Substanz ihre notwendige Existenz impliziert, so wird man auch von allen aus dem Wesen notwendig folgenden Eigenschaften derselben Substanz sagen müssen, sie existierten notwendig. Wenn also die Koextensionalität der Begriffe Substanz und causa sui vorausgesetzt werden kann, so läßt sich nicht mehr nur von einer unendlichen Konsequenzenmenge des Wesens einer Substanz sprechen, sondern diese stellt sich als eine unendliche Vielheit von notwendig existierenden Wirkungen heraus. In gleicher Weise ist dann auch der unendliche Realitätsgehalt des Wesens einer Substanz mit ihrer unendlichen Ursächlichkeit als existierende Substanz zu identifizieren. Das gibt eine Erklärung, inwiefern Spinoza Folgerelation und Kausalrelation im Hinblick auf Substanzen identifiziert. Dieser Schritt vollzieht sich in der Ethik im Übergang von Eth. I, prop. 16, in dem von Folgen (sequi) die Rede ist, zum ersten Corollarium dieses Lehrsatzes. Hier wird Gott als wirkende Ursache bezeichnet.96 Damit ist der Übergang nachvollzogen von dem Gedanken der Vollkommenheit des Wesens einer Substanz über die Korrelation von Substanz und causa sui zur unendlichen Ursächlichkeit jeder Substanz in Bezug auf reale Wirkungen. Jede Substanz ist demnach in Bezug auf diejenigen Dinge, welche als ihre Wesensfolgen angesehen werden können, auch causa rerum.

6. Vollkommenheit als Identität in der Differenz Fassen wir die beiden Seiten, die in dieser Frage in Verbindung mit dem Begriff der Vollkommenheit gebracht wurden, noch einmal zusammen und fragen nach den strukturellen Merkmalen der jeweils zugrunde gelegten Auffassung von Kausalität. Zuerst ist der Zusammenhang von Vollkommenheit und notwendiger Existenz einer Substanz zu betrach95 Diese Rekonstruktion entspricht der in Eth. I, prop. 23, dem. herangezogenen Aussage, Attribute drückten Unendlichkeit und Notwendigkeit der Existenz aus: „per aliquod Dei attributum, quatenus idem [sc. attributum] concipitur infinitatem, et necessitatem existentiae [... ] exprimere" 96 Eth. I, prop. 16, corol.: „I. Hinc sequitur, Deum onmium rerum, quae sub intellectum infinitum cadere possunt, esse causam efficientem."

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ten, der im Begriff der causa sui seinen Ausdruck fand (1). Zweitens ist der Zusammenhang von Vollkommenheit und Substanz als causa rerum zu rekapitulieren (2). Von hieraus ergibt sich dann (3) ein Blick auf zwei einschlägige Bestimmungen am Schluß des ersten Teils der Ethik, die uns in der Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Essenz der Dinge und göttlicher Essenz, wie sie die dritte Erkenntnisart zugrunde legt, weiterbringt. 1. Für den Zusammenhang von Vollkommenheits- und causa sui-Gedanken sind nun die oben bereits angeführten Merkmale des Notwendig-Existenten, die Spinoza in Brief 35 aufstellt, in Beziehung zum causa-sui-Gedanken zu bringen. Die hier vertretene These ist, daß die Definition der causa sui in der Ethik genau jene Charakteristika des notwendig Existenten intendiert. Denn das definiens der Definition der causa sui: „id, cujus essentia involvit existentia" macht deutlich, daß die Existenz des so Charakterisierten mit dem Gegebensein von dessen Essenz notwendig auch gegeben sein muß. Die Merkmale des NotwendigExistenten aus dem Brief 35 müßten so auch etwas über den im Begriff der causa sui intendierten Kausalitätsbegriff aussagen können. Die Charakterisierungen derjenigen Entität, welcher notwendige Existenz zuzusprechen sein soll, stellen allesamt Bestimmungen dar, die aus der Aufhebung von Negationshinsichten resultieren. Das notwendig Existierende konnte erstens nicht als von begrenzter Dauer gedacht werden und ist deshalb als ewig/aeternum gekennzeichnet.97 Es konnte zweitens kein Zusammengesetztes sein, weil seine Teile dann früher als das Ganze gedacht werden müßten, und ist deshalb als einfach/simplex charakterisiert.98 Es konnten ihm drittens auch keine Grenzen zugeschrieben werden, weil es sonst jenseits dieser Grenzen als nicht existent gedacht werden könnte; deshalb ist es als unendlich/infinitum bezeichnet worden. 99 Viertens war es nicht als teilbar vorzustellen, weil Teile verschiedener Natur seine Zerstörung als ein Ganzes möglich machen würden, Teile gleicher Natur sich als je notwendig existent gegenseitig begrenzen würden. Deshalb ist es als unteilbar/indivisibile bestimmt worden. 100 97 Vgl. Ep. 35, Opera IV, S. 181: „in antecessum breviter ostendam, quas proprietates Ens, necessariam includens existentiam, habere debet, nimirum 1°. Id esse aeternum: si enim determinata duratio ei attribueretur, Ens istud, extra determinatam durationem, ut non existens, vel ut necessariam non involvens existentiam, conciperetur, quod definitioni suae repugnat." 98 Vgl. ebd.: „Π°. Id simplex, non vero ex partibus compositum esse. Partes namque componentes natura, & cognitione priores sint oportet, quam id, quod compositum est: quod in eo, quod sua natura aeternum est, locum non habet." 99 Vgl. ebd.: „EU0. Id non determinatum; sed solum infinitum posse concipi. Quippe si istius Entis natura determinata esset, & etiam determinata conciperetur, ilia natura extra eos terminos, ut non existens conciperetur, quod cum definitione sua quoque pugnat." 100 Vgl. ebd.: „IV 0 . Id indivisibile esse. Si enim esset divisibile, in partes vel ejusdem, vel diversae naturae dividi posset; si hoc [sc. vel ejusdem naturae], destrui, & ita non exi-

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Alle vier Charakterisierungen kommen nun darin überein, daß sie zunächst Limitationshinsichten beschreiben, unter denen eine notwendige Existenz nicht vorstellbar erscheint.101 Diese Limitationshinsichten werden dann jeweils dahingehend überschritten, daß die gesetzte Limitation als für notwendig Existierendes nicht zutreffend erklärt wird. Nun ist diese Beobachtung für die Interpretation des Begriffs der causa sui heranzuzuziehen. Wenn Spinoza in diesem Begriff die mit dem Wesen einer Sache notwendig gesetzte Existenz aussagen will und notwendige Existenz durch die Transzendierung von Limitationshinsichten von Existenz charakterisiert sieht, so hat er mit dem Begriff der causa sui offenbar einen Begriff vor Augen, in welchem Limitation von Existenz in kausaltheoretischer Hinsicht als aufgehoben gedacht werden soll. Im Begriff der Ursache ergibt sich eine Möglichkeit von Limitation aber nur in Hinsicht auf den Bezug derselben zu ihrer Wirkung. Denn indem eine Wirkung als Wirkung in ihrer Existenz stets von ihrer Ursache abhängt, ist schon allein durch die bloße Relation von causa und effectus, ganz abgesehen von näheren Bestimmungen, eine Schranke der Existenz gesetzt. Wenn aber im Begriff der causa sui notwendige Existenz und damit die Aufhebung jeglicher Begrenztheit von Existenz ausgesagt sein soll, so ergibt sich für den darin zugrunde gelegten Begriff von Kausalität folgendes Resultat: Im Begriff der causa sui ist eine solche Kausalistere posset, quod definitioni adversum est. Et si illud [sc. vel diversae naturae] pars quaelibet necessariam per se existentiam includeret, & hoc pacto unum sine alio existere, & per consequens concipi; & propterea illa Natura, ut finita, comprehendi posset, quod, per antecedens, definitioni adversatur." 101 Begründungslogisch hängen das zweite vom ersten und das vierte Merkmal vom dritten ab. Sodann läßt sich das erste als Unterfall des dritten verstehen: Der Ausschluß von Zusammensetzung - das zweite Merkmal - wird damit begründet, daß die Teile der Natur und der Erkenntnis nach früher („natura & cognitione priores") sein müßten als das Ganze, das widerspricht aber dem ersten Merkmal der Ewigkeit oder des Ausschlusses begrenzter Dauer. Das vierte Merkmal der Unteilbarkeit wird dadurch begründet, daß eine Teilung in Teile derselben Natur, die alle notwendig existieren müßten, eine gegenseitige Begrenzung dieser Teile einschließen würde. Dies widerspricht dem dritten Merkmal der Unbegrenztheit. In der Definition von Deus in Eth. I, def. 6 führt Spinoza folglich für die Attribute Gottes auch nur an, sie drückten jedes eine „ewige und unendliche Essenz aus" und nennt damit das erste und dritte Merkmal des im Brief an Hudde entwickelten Viererschemas. Schließlich kann noch eine weitere Beobachtung angeführt werden. Das erste Merkmal des Ausschlusses begrenzter Dauer erweist sich als ein Unterfall des dritten, das Begrenztheit allgemein ausschließt. Damit ist das begründungslogisch wichtigste Merkmal das des non determinatum oder infinitum. Spinoza bringt dies im folgenden Brief 36, in dem er seine Darstellung Hudde gegenüber noch einmal erläutert, dadurch zum Ausdruck, daß er das Merkmal der Unbegrenztheit (indeterminatum) auch als alleinige Explikation von Vollkommenheit (perfectum) anführt: „Dico [... ] si ponamus aliquid, quod in suo genere solummodo indeterminatum, & perfectum est, sua sufficientia existere, quod etiam existentia entis absolute indeterminati, ac perfecti concedenda erit" (Ep. 36, Opera IV, S. 185, Z. 11-13). Dieselbe Zusammenstellung von indeterminatum und perfectum auch im Folgenden, ebd. Z. 19f. 28. 30f. 35f.

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tat konzipiert, in welcher der relationale Bezug von Ursache und Wirkung als aufgehoben gedacht wird. Causa sui ist also im strengen Sinne ein Grenzbegriff. Es ist ein Grenzbegriff von Kausalität, in dem die im Begriff der Kausalität selbst gesetzte Limitationshinsicht der Relationalität überschritten werden soll. Der Begriff der causa sui ist damit der Ambivalenz ausgesetzt, mit dem Begriff der causa ein Theorem zu verwenden, welches ohne den Sachverhalt von Relationalität kaum zu denken ist. Kausalität impliziert immer schon eine Relationalität, nämlich die von Ursache und Wirkung. Gerade diese wird aber im Grenzbegriff der causa sui als aufgehoben gesetzt. Die causa sui könnte man vom Begriffsausdruck her als eine kausale Selbstbeziehung verstehen, in der causa und effectus Relate der Relation einer Entität auf sich selbst wären. Dies ist aber ein Mißverständnis der spinozanischen Intention, wenn damit eine Selbsterzeugungsstruktur gemeint ist, die eine interne Relationalität voraussetzt. 102 Denn eine solche Interpretation geht an der eigentlichen Pointe des Begriffs causa sui als eines Grenzbegriffs von Kausalität überhaupt vorbei. Versteht man causa sui als Grenzbegriff ist damit jegliche Erklärung der Existenz der als causa sui bezeichneten Entität durch eine Ursache-Wirkungs-Relation ausgeschlossen. Mit dem Grenzbegriff der causa sui intendiert Spinoza, wesensnotwendige Existenz ohne die Limitationshinsicht der Relation auszusagen. 103 2. Mit dem Begriff der Vollkommenheit verbindet Spinoza zweitens die traditionelle Auffassung von Realität als Sachgehalt der Essenz einer Entität. Dieser Sachgehalt bringt insofern eine quantitative Hinsicht hinzu, als er sich in Eigenschaften ausdrückt, die aus der Essenz folgen. Nun wird diese Auffassung mit dem Begriff eines Ens, dem Vollkommenheit zukommt, in Verbindung gebracht, nämlich derart, daß dasjenige, das eine perfectio ausdrückt, auch unendlichen Sachgehalt ausdrücken muß und also als ein solches angesehen wird, aus dessen Wesen unendliche Eigenschaften folgen. Ist dieses Wesen aber dasselbe, dem nach der ersten Überlegung notwendige Existenz zukommt, so handelt es sich bei diesen Eigenschaften nicht nur um notwendige Folgen der Essenz, sondern um notwendig existierende Folgen der Essenz, mithin um Wirkungen. Durch diese zweite Überlegung, durch die Gott qua Vollkommenheit als cau102 Das hat auch Schelling in seiner Schrift ,Vom Ich als Princip der Philosophie' von 1795 gesehen, wenn er im absoluten Ich keinen Gegensatz von Subjekt und Objekt zuläßt. Seine Ich-Theorie ist hier dem causa sui-Gedanken durchaus nachempfunden. Siehe dazu unten Teil III.l.C, S. 289ff. 103 In der ersten Bedingung der Definition eines Ungeschaffenen Dinges in der Definitionslehre des ,Tractatus de Intellectus Emendatione' scheint Spinoza diesen Gedanken bereits vor Augen zu haben: „Definitionis vero rei increatae haec sunt requisita. 1. Ut omnem causam secludat, hoc est, objectum nullo alio praeter suum esse egeat ad sui explicationem." (TIE § 97, Ba 86/Geb 35).

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sa einer unendlichen Menge von Wirkungen angesehen werden muß, 104 wird mit der quantitativen Hinsicht der Vielheit zugleich Relation in den Terminus der Kausalität gesetzt und damit eine Differenz von Ursache und Wirkung. Spinoza entfaltet also seinen Substanzbegriff und damit auch seinen Gottesbegriff in kausaltheoretischer Hinsicht auf eine doppelte Weise. In der Substanz als einer mit Vollkommenheit ausgezeichneten Entität sind zwei Hinsichten von Kausalität vereinigt, deren Momente die Eigentümlichkeit der Theorie immanenter göttlicher Kausalität ausmachen. Im causa sui-Gedanken ist die absolute Relationslosigkeit und damit Identität105 in kausaler Terminologie ausgedrückt. Kommt einer Essenz qua Vollkommenheit außerdem zu, causa rerum zu sein, so ist hier Relation und damit Differenz ausgesagt. Daß sich Identität und Differenz als die beiden Momente von Kausalität nicht aufeinander reduzieren lassen, hat sich durch die Analyse des Substanzbegriffs als des für diese Frage grundlegenden Begriffs der spinozanischen Gotteslehre gezeigt. 3. Die Verschränkung der beiden Momente bestimmt nun aber auch Spinozas Auffassung von Kausalität in allen ihren Ausgestaltungsformen. Das soll abschließend an zwei Theoremen gezeigt werden, die von der Gotteslehre her wieder auf die eingangs gestellte Frage des Verhältnisses von göttlicher und endlicher Kausalität zurückführen. Hier ist auf die in ihrer systematischen Funktion für das Ganze der Ethica und insbesondere für die Erkenntnistheorie grundlegenden Bestimmung des Besonderen (res particularis) im Corrolarium zu Lehrsatz 25 einzugehen, die ihre weitergehende Explikation, nämlich in Hinsicht auf die Kausalität des Besonderen, in Eth. I, prop. 36 erhält. Was zunächst die Bestimmung der res particularis betrifft, so folgt jenes Corrolarium unmittelbar auf das oben besprochene Diktum in Eth. I, prop. 25, schol., das die Bedeutungsgleichheit, von Gott als causa sui oder als causa omnium rerum zu sprechen, zum Inhalt hatte. Das Corollarium ist von Spinoza als dessen weitere Erklärung intendiert: „Besondere Dinge sind nichts als Affektionen der Attribute Gottes, anders formuliert Modi, von denen Gottes Attribute auf bestimmte und geregelte Weise ausgedrückt werden". 106 Die Auffassung des Besonderen als Wirkung göttli104 Vgl. Eth. I, prop. 17, corol. 1: „Hinc sequitur 1°. nullam dari causam, quae Deum extrinsece, vel intrinsece, praeter ipsius naturae perfectionem, incitet ad agendum". Die niederländische Übersetzung setzt hinzu: „sondern, daß er nur kraft seiner eigenen Vollkommenheit eine wirkende Ursache ist" (Übers, ed. Blumenstock, S. 560). 105 Der hier intendierte Begriff von Identität sprengt im Grunde auch dessen übliche Fassung als Relationsbegriff. Identität wäre danach eine Identität von zu Unterscheidendem. Hier dagegen wird dieser Begriff in einem grenzbegriffliche Sinne als absolute Identität verwendet, die keine Unterscheidung zuläßt. 106 Eth. I, prop. 25, corol.: „Res particulares nihil sunt, nisi Dei attributorum affectiones, sive modi, quibus Dei attributa certo, et determinato modo exprimuntur." Dieses Cor-

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eher Kausalität ist hier so expliziert, daß das Moment der Identität der göttlichen Substanz als causa sui, nämlich durch die Formulierung, das Besondere sei nichts als Ausdruck der Attribute Gottes (d. h. seines Wesens), bezogen wird auf das Moment der Differenz, indem es heißt, die besonderen Dinge seien bestimmter Ausdruck der göttlichen Attribute. Was dies aber in kausalitätstheoretischer Hinsicht für die Theorie besonderer Dinge heißt, stellt Spinoza im letzten Lehrsatz des ersten Teils zugleich resümierend und auf das Folgende vorverweisend fest: „Nichts existiert, aus dessen Natur nicht irgendeine Wirkung erfolgt." 107 In diesem eher schlicht erscheinenden Satz bündelt sich Spinozas Verständnis von Kausalität im Blick auf besondere Dinge. Denn was von Gott in absoluter Weise gesagt wird - daß er existiert und aus seiner Natur unendliche Wirkungen folgen - , wird hier im Blick auf besondere Dinge formuliert: Was auch immer existiert, aus dessen Natur folgt irgendeine Wirkung. Es steht hier, und der Beweis macht dies ausdrücklich, die Theorie besonderer Dinge im Hintergrund, wie sie im Corollarium zu Lehrsatz 25 aufgestellt worden war. Was für Gott schlechthin gilt, gilt für besondere Dinge in einer „gewissen und bestimmten Weise" („certo et determinate modo"), denn besondere Dinge drücken Gottes Essenz nicht schlechthin, sondern in einer gewissen und bestimmten Weise aus. Es kann zwar nichts weiter über die Weise der Bestimmtheit besonderer Dinge hinsichtlich ihrer Existenz oder der Art ihrer Wirkungen gesagt werden, aber sofern besondere Dinge als Ausdruck göttlicher Essenz überhaupt angesehen werden, müssen dieselben Strukturmerkmale, die die göttliche Kausalität kennzeichnen, auch ihnen zukommen. Ist nun, wie Lehrsatz 36 voraussetzt, die Existenz eines besonderen Dinges gesetzt, so muß dieses Ding selbst causa sein - sofern es nämlich Ausdruck überhaupt der göttlichen Essenz ist, welche als causa sui zugleich causa rerum ist. Dieselbe Korrelation von Existenz und Effektivität, welche im Substanzbegriff als Korrelation von causa sui und causa rerum etabliert worden war, gilt nun auch analog für jedes Besondere, sofern es Ausdruck der Substanz ist. Jedem Besonderen kommt also Ursächlichkeit oder Effektivität überhaupt zu, sofern es existiert, wie auch immer diese Ursächlichkeit und deren Wirkung im einzelnen bestimmt ist. Daß aber die Existenz eines besonderen Dinges gesetzt ist, ist selbst wiederum als Wirkung göttlicher Kausalität zu verstehen 108 und zwar ebenso in der Korrelation göttlicher Kausalität als causa sui, ohne die Existenz rolarium ist eine systematische Spitzenthese, auf die Spinoza an zentralen Stellen in den folgenden Teilen der Ethik zurückgreift. Vgl. die Verweise in der Theorie des conatus perseverandi (Eth. ΠΙ, prop. 6), und, wie noch darzustellen sein wird, in der Theorie des amor Dei intellectualis (Eth. V, prop. 36). 107 Eth. I, prop. 36: „Nihil existit, ex cujus natura aliquis effectus non sequatur." 108 Nach Eth. I, prop. 24, schol.

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überhaupt undenkbar wäre, und als causa rerum, die allererst eine Kausalrelation von Ursache und Wirkung zu denken erlaubt. So sind in der kausalitätstheoretischen Beschreibung besonderer Dinge zwei Hinsichten zu unterscheiden. Einerseits ist jedes Besondere aufgefaßt als Bestimmtheitsmodus göttlicher Kausalität überhaupt, weshalb ihm selbst, sofern es existiert, eine bestimmte Ursächlichkeit zukommt. Andererseits ist auch die Existenz des Besonderen schon als Wirkung göttlicher Kausalität aufzufassen. Beide Hinsichten sind so miteinander verschränkt, daß dasjenige, was das Besondere als Wirkung von Gott als Ursache hat und worin die Differenz von Wirkung und Ursache liegt, 109 gerade die als Bestimmtheitsmodus göttlicher Kausalität aufgefaßte, dem besonderen Ding eigene Ursächlichkeit ist. Die oben 110 angedeutete Interpretation der immanenten Kausalität Gottes als Ursache von Ursächlichkeit erhält so eine vertiefte Begründung. In jener Verschränkung entfällt nun bemerkenswerterweise die Hinsicht auf die Existenz des Besonderen. Die Argumentation verlief folgendermaßen: Sofern Besonderes existiert, kommt ihm als eines bestimmten Ausdrucks des Wesens von Substanz eigene Ursächlichkeit zu. Seine Existenz ist aber als Wirkung göttlicher Kausalität anzusehen. Daher ist die dem Ding eigene Ursächlichkeit einerseits als Bestimmtheitsmodus göttlicher Ursächlichkeit überhaupt, andererseits als deren Wirkung zu betrachten. Es ist diese komplexe Struktur, die Spinoza unter dem Begriff immanenter Kausalität vor Augen hat und auf die hin alle kausalitätstheoretischen Überlegungen des ersten Teils der Ethica hinzielen. Hier sind die Momente der Identität und Differenz auf komplexeste Art verwoben. Die kausale Eigenständigkeit des Besonderen ist als Wirkung göttlicher Kausalität zwar von dieser verschieden, wird aber, wenn sie als Bestimmtheitsmodus göttlicher Kausalität überhaupt aufgefaßt wird, als mit dieser in letzter Hinsicht identisch gesetzt. Letztlich kann man für Spinozas Konzept immanenter Kausalität also formulieren, er setze mit der Verschränkung von causa sui und causa rerum in der göttlichen Kausalität, eine Strukur der Identität in der Nicht-Identität. Diese läßt sich dann auch am Orte des Besonderen, des einzelnen endlichen Dinges namhaft machen: Die Identität göttlicher Kausalität manifestiert sich in der Nicht-Identität der je eigentümlich bestimmten Kausalität des einzelnen endlichen Dinges.

109 Vgl. Eth. I, prop. 17, schol.: „Denn was verursacht ist, unterscheidet sich von seiner Ursache genau in dem, was es von der Ursache hat." „Nam causatum differt a sua causa praecise in eo, quod a causa habet." 110 S. 24.

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7. Die Frage nach den invididuellen Essenzen Abschließend sei mit einer Problemanzeige noch einmal zurückgeführt auf die Ausgangsbeobachtung, daß Spinozas Konzept immanenter göttlicher Kausalität im Grunde den Versuch einer kombinierten Verhältnisbestimmung von Essenz und Existenz am Orte des Gottesbegriffs und zugleich am Orte der Theorie endlicher Dinge darstellt. Darin verbirgt sich ein systemlogisches Problem, dessen Beantwortung für die Einschätzung des Gegenstands intuitiver Erkenntnis nicht unerheblich ist. Ich will hier kurz das Problem anzeigen und drei Lösungsvorschläge diskutieren. Wir hatten gesehen, daß Spinoza als Charakteristikum endlicher Dinge angibt, bei diesen sei die Essenz nicht notwendig mit Existenz verbunden (Eth. I, prop. 24). Gesetzt nun, alle Essenz folge notwendig aus der göttlichen Essenz, so ergibt sich die Folgerung, daß alles Existierende auch als aus der göttlichen Essenz folgend angesehen werden muß. Auf diese Folgerung waren wir zuletzt anhand des Corollarium zu Eth. I, prop. 25 und des 36. Lehrsatzes eingegangen. Die beiden Voraussetzungen, daß einerseits alle Essenz notwendig sei, andererseits aber bei endlichen Dingen mit der Essenz nicht notwendig Existenz verbunden sei, läßt eine Frage aufkommen, was in Spinozas System denn über den Fall nicht-existierender Dinge zu sagen sein könnte. Für diese Dinge - der Ausdruck „Dinge" hier freilich nicht im Sinne wirklicher Existenz genommen - müßte doch gelten, daß sie zwar eine Essenz haben, aber durch den Kausalzusammenhang, durch welchen alles in die Existenz Tretende bedingt ist, daran gehindert werden, tatsächlich in die Existenz zu treten. Die eben gebrauchte Formulierung suggeriert, daß es nicht nur für jedes existierende, sondern auch für jedes nicht existierende Ding eine eigene Essenz gebe, welche gleichsam nur auf eine günstige Konstellation im Kausalzusammenhang warte, um wirklich zu werden. Aber läßt sich ein solches Modell nach allem über die immanente Kausalität Gesagten noch als spinozanisch denken? Andererseits ließe sich die Essenz von nicht-existierenden Dingen auch im Sinne einer Gattungsnatur verstehen. Während Mensch 1 und Mensch 2 existieren, ist Mensch 3 nicht im Dasein, obwohl alle drei dieselbe, nämlich als Gattungsnatur aufgefaßte Essenz haben. Für Mensch 3 war in der Kausalordung (bisher) kein Platz. Aber wie wären solche Gattungsessenzen überhaupt in einem System erklärbar, das außer den unendlichen Modi als Totalitäten strukturierter Essentialität keine näheren Differenzierungen an die Hand gibt? Im Grunde haben wir also drei verschiedene Modelle, um die anhand des Problems der Essentialität nicht-existierender Dinge auftretende Frage nach dem quantitativen Status von Essenz zu beantworten: Essenzenindividualität, Gattungsessenz oder Totalität der Essenz.

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Die traditionelle Auffassung ist die der spezifischen oder Gattungsessenz. Spinoza scheint dieser Auffassung durchaus anzuhängen, wobei sie nicht bewiesen wird, sondern an den einschlägigen Stellen als Voraussetzung eingeführt wird. Im Brief an Johannes Hudde vom 7. Januar 1666 entfaltet Spinoza eine Definitionslehre und schickt die Voraussetzung voran, daß „keine Definition eine Menge oder eine bestimmte Zahl von Individuen einschließt oder ausdrückt, da sie ja nichts andres in sich schließt oder ausdrückt als die Natur des Dinges, wie sie an sich ist (natura rei, prout ea in se est)" 111 . Der Passus wird als Scholium 2 nach Eth. I, prop. 8 in die ,Ethik' übernommen. 112 Denselben Sachverhalt führt Spinoza in Bezug auf die menschliche Natur als Erfahrungssatz ein: „Die Essenz des Menschen schließt nicht notwendige Existenz ein; d. h., nach der Ordnung der Natur kann es gleichermaßen geschehen, daß dieser oder jener Mensch existiert, wie daß er nicht exisitiert" (Eth. II, ax. 1). Die Formulierung des Axioms läßt allerdings die Frage aufkommen, was denn Vinter jenem Menschen zu verstehen sei, der nicht existiert. Im Sinne einer gattungsmäßigen Essentialität ist ein nicht-existierendes Exemplar der Gattung nicht nur nicht existent, sondern auch nicht als eigenes Wesen essentialiter vorstellbar. Gattungsessenz manifestiert sich strenggenommen nur in existierenden Entitäten dieser Gattung. Anders würde es aussehen, wenn individuelle Essenzen angenommen würden. Dann wäre durchaus vorstellbar, daß der Essenz nach ein Individuum ausgebildet sei, aber wiederum durch den Kausalnexus des ordo naturae in die Existenz zu kommen gehindert sei. Dieses Modell scheint Spinozas Überlegung in dem schwierigen achten Lehrsatz des zweiten Teils zugrunde zu liegen. Ohne hier weiter auf die komplizierte Analogiebildung von res-Sphäre und idea-Sphäre einzugehen, 113 will ich die Aufmerksamkeit nur auf die darin gemachte Aussage von „Einzeldingen oder von Modi, die nicht existieren" lenken. Weil diese als Modi in Gottes Attributen einbegriffen („comprehenditur") sind, können von ihnen Ideen gebildet werden, auch wenn sie nicht existieren. Dazu zwei Parallelstellen: „Deshalb können wir auch von nicht existierenden Modifikationen wahre Ideen haben, da ja, auch wenn sie außerhalb des Verstandes nicht wirklich existieren, ihre Essenz so in einem anderen einbegriffen ist, daß sie durch dieses begriffen werden können" (Eth. I, prop. 8, schol. 2).114 „Jedes natürliche Ding kann adäquat begrif111 Ep. 34, Opera IV, S. 179. 112 Die Anmerkung bezieht sich freilich eigentlich auf den Inhalt des siebten, nicht des achten Lehrsatzes. 113 Vgl. dazu A. Donagan: Spinoza (1988), S. 194-197. 114 „modificationum non existentium veras ideas possumus habere; quandoquidem, quamvis non existant actu extra intellectum, earum tarnen esssentia ita in alio comprehenditur, ut per idem concipi possint."

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fen werden, mag es existieren oder nicht. [... ] Denn ihre begrifflich zu bestimmende Essenz ist dieselbe, nachdem die Dinge zu existieren begonnen haben, wie bevor sie existierten." (TP II,2).115 In allen drei Formulierungen bleibt allerdings offen, ob hier wirklich individuelle Essenzen begriffen werden, oder ob jene Ideen, die von nichtexistierenden Dingen gebildet werden können, sich bloß auf ein Moment an den Essenzen jener nicht-existierenden Individuen beziehen, nämlich das Moment, daß diese Essenzen, wie alle Essenzen überhaupt, aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgen (Eth. I, prop. 16). Die These individueller Essenzen bleibt in Spinozas System also nicht nur unausgewiesen, sondern auch unausgesprochen. Es ist die Frage, von Wolfgang Bartuschat aufgeworfen, inwieweit diese unausgesprochene These tatsächlich für Spinozas Philosophie grundlegenden Charakter hat. 116 Mir scheint die Beobachtung wichtig, daß die Frage nach den Essenzen nicht-existierender Dinge gar nicht gestellt werden kann ohne eine zeitliche Rücksicht zu nehmen. In der oben genannten Formulierung aus dem ,Tractatus politicus' wird dies besonders deutlich. Die Essenz der endlichen Dinge bleibt dieselbe vor deren Existenz, während derselben und, so müßte man ergänzen, auch nach deren Existenz. Wenn aber die zeitliche Rücksicht - duratio - für die Essenzen gerade keine Rolle spielen soll, so kann im Grunde die Differenz der endlichen Dinge untereinander, die sich gerade aus der Bestimmtheit ergibt, welche die Dinge durch den ordo naturae in ihrem In-die-Existenz-Treten, durch ihr Mitwirken an dieser kausalen Naturordnung in ihrer Existenz erhalten und schließlich durch ihr Aus-der-Existenz-Treten gleichsam negativ an den ordo zurückgeben, so kann diese Differenz der endlichen Dinge nicht für deren Essenzen geltend gemacht werden. 117 115 „Res quaecunque naturalis potest adaequate concipi, sive existat sive non existat [... ] Nam earum [sc. rerum naturalium] essentia idealis eadem est, postquam existere inceperunt, quam antequam existerent." 116 Vgl. W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 44: „Die fundamentale These, daß es singulare Essenzen gibt, bleibt verdeckt, weil sie im strengen Deduktionsgang der Analyse der Natur Gottes nicht erweisbar ist." Vgl. zum Thema noch D. Garrett: Spinozas Theory of Metaphysical Individuation (1994). 117 Die Interpretation von Genevieve Lloyd, wonach die idea Dei eine „total articulation in thought of all that there at any time is" sei und nicht etwa „a totality of omnitemporal ideas" (Part of Nature [1994], S. 137) bestätigt diese Feststellung. Die Totalität dessen, was zu jeder möglichen Zeit insgesamt ist, betrifft die Dinge in ihrer zeitlichen Existenz. Omnitemporale Ideen wären aber gerade einzeln gedachte ewige Essenzen. Die Schwierigkeit, die sich in Lloyds Interpretation dennoch ergiebt, liegt darin, daß sie diese Totalität existierender Dinge als Beschreibung des unendlichen Modus des Denkens bestimmt. Es ist aber gerade fraglich, ob im unendlichen Modus nach Spinoza tatsächlich eine Totalität von endlichen Modi gesetzt ist, oder nur deren identische Proprietäten. Schleiermacher wird in seinen individuationstheoretischen Überlegungen der,Reden' die zeitlich-historische Dimension als Manifestationshorizont jener Totalität verstehen. Dazu unten S. 405ff.

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Die Frage nach der Individualität der Essenz nicht-existierender Dinge ist gerade deshalb die Nagelprobe dafür, weil Spinoza für die Essenz existierender Dinge allerdings einen Begriff geprägt hat, der Essentialität und Individualität verschränkt. Der „conatus" jeder res particularis actu existens ist genau jenes Streben, im eigenen Sein zu verharren, es zu kontinuieren in der Zeit. Der conatus bezieht sich also durchaus auf ein Einzelnes in dessen Bestimmtheit. Aber das heißt nicht, daß es auch individuelle Essenzen geben muß, die keine conatus wären, also solche, die nicht als Essenz existierender Dinge bereits eine zeitliche Rücksicht implizierten. Das spinozanische System verweigert strenggenommen den Ausgriff auf die Parallelisierung von endlicher und ewiger Sphäre in Hinsicht auf deren individuelle Bestimmtheit. Mögen die Dinge ihrer Existenz nach relativ voneinander gesondert sein, dann mag man zwar die sie konstituierende Essenz als eigene annehmen, sofern sie auf diese besondere Existenz bezogen ist - dies unternimmt Spinoza in der Theorie des conatus. Aber damit ist noch keine Besonderung des Essentiellen unabhängig vom Bezug auf Existenz ausgesagt. 118 Die Frage nach dem quantitativen Status der Essenz nicht-existierender Modi ist wohl deshalb so schwierig zu beantworten, weil sie im Grunde die zeitliche Rücksicht, die in der Rede von nicht-existierend impliziert ist - etwas existiert entweder noch nicht oder nicht mehr - , und die damit verbundene Bestimmtheitsdimension endlicher Dinge unzulässigerweise in die Sphäre des Essentiellen zurückzutragen trachtet. Was Spinoza interessiert ist aber keine Spekulation über eine nichtexistierende ewige Welt, sondern eine rationale Welterklärung, die das Ewige im Zeitlichen aufsucht. An der Existenz einzelner endlicher Dinge versucht er gleichbleibende und also ewige Strukturen als deren Essentielles aufzuzeigen. Dies setzt eine Theorie von Essentialität voraus, die deren Einheits- wie Totalitätssinn verschränkt, ohne deshalb aber eine individuelle bestimmte Gliederung des Essentiellen vornehmen zu können. Einheits- und Totalitätssinn sind in der Verschränkung von causa sui und causa rerum am Ort der Essenzen existierender endlicher Modi als Identität in der Differenz gesetzt. Das heißt aber nicht, daß die Differenz endlicher Dinge, die sich aus deren Teilnahme am unendlichen kausalen Bestimmungszusammenhang ergibt, zurückzuspiegeln sei in eine gleichsam endliche Bestimmtheit des Unendlichen. Die göttliche Substanz hat nach der Theorie immanenter Kausalität als Ursache aller Ursachen wohl eine grenzbegrifflich gefaßte Konstitutionsfunktion für alle endliche Bestimmtheit. Darin liegt ihre Einheitsdimension, die zugleich ihre absolute 118 Die Definition von Essenz trägt dem mit der Kautele Rechnung, daß Essenz nicht nur notwendige Bedingung für die Möglichkeit des Seins und Begriffenwerdens der res ist, sondern auch umgkehrt „sine re" die Essenz „nec esse nec concipi potest". S. o. S. 18.

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Identität am Ort des Differenten begreiflich macht. Im Begriff des unendlichen Modus bringt Spinoza zugleich die Totalitätsdimension göttlicher Substanz als des Inbegriffs von Essenz zum Ausdruck. Causa rerum ist Gott kraft der ihm zukommenden Vollkommenheit als causa omnium rerum. Die einzelne Bestimmtheit endlicher Dinge ist daraus aber gerade nicht ableitbar. Die sich in der Totalität ausdrückende immanente Kausalität Gottes als des Prinzips von Kausalität überhaupt bildet nicht die Deduktionsbasis, wohl aber den Verständnishorizont, um einzeln bestimmte endliche Wirksamkeit von Dingen nach ihrem Prinzip und d.h. in ihrer Essenz begreiflich zu machen.

B. Die Theorie kausaler Strukturisomorphie Gegenüber der Theorie immanenter Kausalität liegt die Theorie des sogenannten „Parallelismus" der göttlichen Attribute auf einer anderen Ebene. Während jene die strukturellen Probleme endlicher Kausalbestimmtheit in der Relation von Substanz und Modi zu beschreiben versucht, unternimmt es diese, das Verhältnis von Körper und Geist in einer Strukturtheorie gleichursprünglicher göttlicher Qualitäten zu explizieren. Für meine Interpretation der scientia intuitiva stellt dieser Komplex, wie bereits in der Einleitung dieses Teils angedeutet, eine der entscheidenden Grundlagen dar. Denn die Theorie immanenter Kausalität kann nur unter der Voraussetzung des „Parallelismus" der Attribute zur Explikation des in der dritten Erkenntnisart vollzogenen Bewußtseins ideeller Relationen herangezogen werden. Hierbei geht es freilich nicht bloß um das Verhältnis von Körpern als res unter dem Attribut Extensio und Ideen als res unter dem Attribut Cogitatio, sondern vielmehr scheint mir das grundlegendere Problem eine Bestimmung des Verhältnisses von Ideen und deren Ideata, seien dies nun Körper oder wiederum Ideen. Die Theorie immanenter Kausalität ist, wie überhaupt die Ontologie des ersten Teils der,Ethik' ja nicht auf Körper oder Ideen bzw. auf das jeweils zugrundeliegende Attribut Extensio oder Cogitatio festgelegt, sondern gilt für beide Attribute gleichermaßen. Dies begründet Spinoza in einer Theorie der Gleichursprünglichkeit aller göttlichen Attribute in ihrer Funktion der Wesenskonstitution der göttlichen Substanz. In einem ersten Schritt werden wir uns also diese Theorie anzusehen haben. Hier wird es im Wesentlichen um die Implikationen der bereits oben dargestellten Gotteslehre für das Verhältnis von Attributen zueinander gehen, wie Spinoza es vor allem in den Lehrsätzen 9 und 10 des ersten Teils der Ethik darstellt. Die für unsere Frage wichtigste Folgerung aus dieser Ver-

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hältnisbestimmung ist Spinozas Annahme einer Strukturisomorphie 119 bezüglich der Kausalordnung der Modi unter den jeweiligen Attributen. Allerdings ist dies erst die Voraussetzung für die erkenntnistheoretisch virulente Frage, wie sich Ideen zu ihren Ideata verhalten. Hier - und diese Frage behandelt Spinoza vor allem am Anfang des zweiten Teils der Ethik - kommen mithin Ideen in ihrer repräsentierenden Funktion in Betracht. Ideen sind einerseits zwar res: modi des Attributs Cogitatio. Andererseits sind sie zugleich Ideen von etwas, beziehen sich also auf andere res als auf ihre Ideata. Und diese anderen res können nun Dinge desselben Attributs, also wiederum Ideen oder auch anderer Attribute, so beispielsweise Körper sein. Ja, Spinoza geht so weit, zur Grundlegung der Korrespondenz von Idee und Ideatum eine Theorie des göttlichen Verstandes (intellectus infinitus) zu entwickeln, der als Totalität ideierender Ideen zugleich auf die Totalität aller res, unter allen Attributen betrachtet, als auf seine Ideata bezogen ist. Der korrespondenztheoretische Aspekt von Wahrheit - auf weitere Aspekte des Wahrheitsbegriffs wird im nächsten Kapitel einzugehen sein - findet hierin seine Fundierung. Für die Rekonstruktion der Struktur der dritten Erkenntnisart ist dabei entscheidend, daß Spinoza nicht nur eine Korrespondenz von Ideen und Ideata im allgemeinen behauptet, sondern die Strukturisomorphie in der Kausalordnung der Modi als Basis nimmt, nun auch eine kausale Strukturisomorphie für Ideen und Ideata zu formulieren. Erst hiermit sind wir bei der Pointe des berühmten siebten Lehrsatzes des zweiten Teils angelangt: „Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum." Es geht hierbei nicht um das Verhältnis von Ideen als res zu res anderer Attribute, sondern um das Verhältnis von Ideen in ihrer Ideationsfunktion zu res überhaupt als zu deren Ideata. Meine Rekonstruktion der dritten Erkenntnisart basiert systemlogisch genau auf diesem Lehrstück, weil ich eine strukturelle Entsprechung von Ideata und Ideen in Anspruch nehme, um von der ontologischen Relation der Ideata auf die Art der Relation der in der dritten Erkenntnisart in Beziehung gesetzten Ideen zu schließen.

1. Strukturisomorphie von Modi verschiedener Attribute Das,Rätsel' der spinozanischen Attributenlehre liegt in der Art und Weise, wie die eine und einzige Substanz durch unendlich viele Attribute auf gleichursprüngliche Weise in ihrem Wesen konstituiert gedacht werden kann. Setzt man dies nämlich voraus, so kann ohne weiteres einleuchten, daß Spinoza jene Kausalordnimg (ordo et connexio), die er als für die Modi eines Attributes gültig ansieht, zugleich auch für die modi aller 119 Vgl. A. Engstier: Spinozas Begriff des Affekts (2002), S. 119.

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Attribute gültig ansehen muß. Oder anders gesagt, daß es überhaupt nur eine einzige solche Kausalordnung gibt, die mal unter diesem, mal unter jenem Attribut betrachtet werden kann. Jenes Rätsel ist aber mehr ein solches für die Interpreten, als daß Spinoza es selbst für eine solches angesehen hätte. Im Gegenteil läßt sich seine Argumentation gerade als Versuch verstehen, den von Descartes an dieser Stelle behaupteten blinden Fleck menschlicher Erkenntnis als durchaus klar und deutlich erkennbar zu erweisen. Die kontroverse Frage betrifft die Begreifbarkeit der Einheit von Körper und Geist und wird von Spinoza in der Verhältnisbestimmung von Attribut- und Substanzbegriff more geometrico ausgefochten. Während Descartes die begreifbare Dualität von Extensio und Cogitatio nur in eine unbegreifliche Einheit setzt, die Gott in seiner Allmacht, um uns nicht zu täuschen, ins Werk zu setzen angenommen wird, unternimmt es Spinoza, statt einen extramundanen Einheitsgaranten heranzuziehen, einen Gottesbegriff zu etablieren, aus dem diese Einheit ihrem inneren Wesen nach begreiflich wird und unterläuft damit zugleich die cartesische Dualität. Das Problem, das die unterschiedliche Beurteilung evoziert, wird verständlich, wenn wir zunächst die Verhältnisbestimmung von Attribut und Substanz in Bezug auf den Vollkommenheitsbegriff rekapitulieren, wie wir ihn im vorigen Kapitel entwickelt haben. Als Attribut wird demnach das angesehen, was Vollkommenheit ausdrückt. Eine Entität, dem also ein Attribut zukommt, ist als ein ens perfectum anzusehen. Einem ens perfectum wiederum ist kraft seines Attributs, das keine Limitation zuläßt, eine notwendige Existenz zuzusprechen. Und ein ens perfectum, das durch ein Attribut konstituiert wird und das also als notwendig existent anzusehen ist, heißt substantia. Der Substanzbegriff - wohlgemerkt hier noch nicht in dem spezifisch spinozanischen Sinne als göttliche Substanz verstanden - fungiert also als Deskription derjenigen Entität, die qua Attribut notwendig existiert. Die Attribute, die auf solche Weise als Substanz konstituierend angesehen werden, sind aus menschlicher Perspektive Ausdehnung (Extensio) und Denken (Cogitatio). Darin sind sich Spinoza und Descartes einig. Beide Attribute drücken nämlich Vollkommenheit darin aus, daß sie in ihrer Art (in suo genere) unendlich sind. Das impliziert, daß eine unendliche Ausdehnimg und ein unendliches Denken gedacht werden kann, ohne jeweils das andere Attribut bzw. überhaupt irgendeind ein anderes zu Hilfe nehmen zu müssen. Mithin wird die von Spinoza für Substanzen geforderte Bedingung, daß sie nur aus sich sind und begriffen werden (Eth. I, def. 3) von den Attributen erfüllt und so ist auch die Definition verständlich, in der es heißt, daß Attribute das Wesen einer Substanz ausmachen (essentiam constituens; Eth. I, def. 4). Ein Attribut macht die Essenz der Substanz dadurch aus, daß es als diese Essenz eine

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unendliche Realität ausdrückt, die nur durch das Attribut selbst begriffen werden kann. Nun kommt es aber zu der Frage - und hier setzt Spinozas Argumentation in den ersten Lehrsätzen der Ethik eigentlich erst an wie diese jeweils von einem Attribut konstituierten Substanzen im Verhältnis zueinander stehen. Der mos geometricus setzt, wenn hier von mehreren Substanzen die Rede ist, durchaus ein Vorverständnis voraus, das nun in den Beweisführungen der Lehrsätze präzisiert und korrigiert werden soll. 120 Die Argumentationslinie der ersten zehn Lehrsätze verläuft, wie Gueroult ausführlich gezeigt hat, 121 von der Annahme von Substanzen mit je einem Attribut hin zu der Möglichkeit einer Substanz, die von einer Unendlichkeit von Attributen konstituiert wird und bekanntlich in der Definition von Deus in Anspruch genommen wird (Eth. I, def. 6). Das Anliegen Spinozas ist dabei, auf der einen Seite die Diversität der Attribute und deren Inkommensurabilität zu wahren (Eth. I, prop. 2 und 3), auf der anderen Seite aber deren Einheit als ein und dieselbe Substanz konstituierend zu behaupten. Es geht ihm also keineswegs darum, die von Descartes behauptete Dualität von res extensa und res cogitans dahingehend zu unterlaufen, daß er die Inkommsurabilität der zugrundegelegten Attribute Extensio und Cogitatio leugnen würde, sondern nur darum, zu zeigen, daß es sich hierbei nicht notwendig um zwei Substanzen handeln muß, sondern ein Modell denkbar ist, in welchem mehrere Attribute einund dieselbe Substanz konstituieren. Das spinozanische Modell ist die Idee eines ens perfectissimum, das nicht nur unendliche Realität in suo genere als durch ein Attribut konstituiert ausdrückt, sondern eine höchste Steigerung von Realität (perfectissimum!) dadurch erfährt, daß jene voneinander unabhängigigen Realitäten oder Vollkommenheiten, die durch die Attribute benannt sind, sein Wesen alle konstituieren. Der Begriff gradueller Sachhaltigkeit oder Realität ist hier gleichermaßen vorausgesetzt (Eth. I, prop. 9) wie die Einsicht, daß nur die voneinander unabhängige Qualifizierung von Realität, wie sie im Attributsbegriff gefaßt ist, eine Steigerung von Realität zur höchsten perfectio als dem Inbegriff aller Realität zu leisten vermag. Freilich ist hier die Rede von unendlichen Attributen, die das Wesen Gottes als des ens perfectissimum konstituieren, nicht in einem numerischen Sinne zu verstehen. Die Zahl findet nur auf Exemplare einer Gattung ihre Anwendung, das einzige, was Attribute aber gemeinsam haben, 120 Zu diesem Verständnis des mos geoemtricus vgl. M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 167172; R. Schnepf: Der ordo geometricus und die Transformation der kausalen Ordnung in Spinozas Ethik (2003). Schnepf exemplifiziert die argumentative Verfahrensweise anhand der Zuordnung von göttlicher und endlicher Kausalität in Eth. I, prop. 24-28 vor dem Hintergrund scholastischer Modelle des concursus divinus. 121 M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 105-176.

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ist ihre Inkommensurabilität und Suisuffizienz und dies ist eben nur uneigentlich ein genus proximum zu nennen. Für die Attribute gilt somit das Gleiche wie für die Einzigkeit der Substanz, die Spinoza in den auf den Existenzbeweis (Eth. I, prop. 11) folgenden Lehrsätzen zu beweisen unternimmt (Eth. I, prop. 12-14). Von Gott läßt sich nämlich noch weniger ein genus proximum angeben und folglich ist die Einheit und Einzigkeit Gottes (unum et unicum) auch nicht im numerischen Sinne eines abzählbaren Exemplars einer Gattung zu verstehen 122 - ein Punkt, der für Schleiermacher wichtig werden wird. 123 Vielmehr ist hier ein metaphysisches Konzept von Einheit intendiert, nach welchem diese Einheit, sofern sie die Totalität aller Realität in sich befaßt, keine Externalität zu denken übrig läßt und deshalb den Gedanken an eine Substanz außerhalb oder neben dieser einen Substanz ausschließt. Das zentrale Argument Spinozas gegen eine Multiplizität von Substanzen, die als für sich existierend nichts miteinander zu tun haben könnten, ist also die Möglichkeit, ein ens perfectissimum zu denken, dessen Wesen durch unendliche Attribute konstituiert wird und also kraft dieser Attribute die Totalität von Realität auszudrücken in der Lage ist. Dessen notwendige Existenz darzutun, ist ein weiterer Beweisgang, der oben schon expliziert wurde. 124 Es geht für unseren Zusammenhang nur um die mit dem Gottesbegriff erreichten Implikationen für die strukturelle Beziehung von Substanz und Attributen. Zweierlei scheint mir hier wert festzuhalten. Zum einen übergeht Spinoza mit seinem Gottesbegriff als einer substantia absolute infinita, deren Essenz durch unendliche Attribute konstituiert wird (Eth. I, def. 6), keineswegs die Gleichursprünglichkeit und Unabhängigkeit der Attribute in deren Verhältnis zueinander, setzt sie aber ebensowenig als selbständige Substanzen. Treffend heißt es im Scholium zu Eth. I, prop. 10 mit einer anticartesischen Spitze: „Hieraus ist offensichtlich, daß, wenn auch zwei Attribute als real unterschieden (realiter distincta) begriffen werden, also das eine ohne Hilfe des anderen (unum sine ope alterius), wir daraus gleichwohl nicht schließen können, daß sie zwei Entitäten oder zwei verschiedene Substanzen ausmachen (diversas substantias constituere). Das hat nämlich die Natur einer Substanz an sich, daß jedes ihrer Attribute durch sich selbst begriffen wird, da ja alle Attribute, die sie hat, von jeher in ihr zugleich gewesen sind (simul in ipsa semper fuerunt) und ein Attribut nicht von einem anderen hat hervorgebracht werden können (nec unum ab alio produci potuit); jedes einzelne (unumquodque) drückt vielmehr die Realität oder das Sein von Substanz aus." 122 Vgl. CM I, 6, Opera I, S. 246; M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 156f. 123 S.u. Teiln,S.169ff. 124 S. o. S. 25ff.

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Zum anderen wird die reale Diversität der Attribute in einer substantialen Einheit verbunden. Jedes Attribut drückt in suo genere unendliche Realität aus und dies macht ihre Diversität aus. Das Attribut Denken drückt eben nur eine unendliche Realität des Denkens aus, nicht aber eine unendliche Realität der Ausdehnung und umgekehrt. Aber jedes Attribut - und das wird aus dem letzten Satz des gerade herangezogenen Zitats deutlich - ist in seiner Ausdrucksfunktion nichts anderes als eine Funktion der Einheit der Substanz. Die Implikationen dieses zuletzt genannten Punktes sind weitreichend. Nimmt man nämlich zur Attributenlehre die im vorigen Kapitel dargestellte Theorie immanenter Kausalität hinzu, so ergibt sich in deren Verschränkung eine wichtige Konsequenz für die Art der kausalen Verknüpfung der Modi verschiedener Attribute. Jedes Attribut drückt auf seine Weise eine unendliche Realitiät aus. So wird die Formulierung „infinitis modis" des Sequi-Theorems aus Eth. I, prop. 16 verständlich. Sie bezieht sich auf die Attribute. Aus der Natur Gottes folgt (sequi) demnach unendlich Vieles (infinita) auf unendlich viele Weisen (infinitis modis) und d. h. die unendliche Realität des aus der göttlichen Substanz Folgenden wird von jedem Attribut derselben auf eigene Weise ausgedrückt. Diese unendliche Realität manifestiert sich, sofern Gott als Substanz zugleich causa sui und causa rerum ist, als eine Totalität von Modi dieses Attributs. Und diese Modi eines Attributs sind ihrerseits kausal miteinander verknüpft. Denn darin, so hatten wir gesehen, haben die Modi ihre Abkünftigkeit von der Substanz als Ursache, daß sich in ihnen göttliche Kausalität als eigene Ursächlichkeit oder Effektivität niederschlägt und so einen unendlichen Nexus von Ursache und Wirkung etabliert. Betrachtet man nun in dieser Hinsicht verschiedene Attribute, so finden deren Modi - also die Modi sowohl des einen Attributs als auch eines anderen - darin ihren einheitlichen Bezug auf die göttliche Substanz, daß sie als Manifestationsgestalten göttlicher Kausalität selbst Eigenwirkung entfalten. Die Modi eines Attributs drücken die Essenz der Substanz also zwar in anderer Weise aus als die eines anderen Attributs und sind in dieser Weise nicht aufeinander reduzierbar. Aber sie kommen dennoch darin überein, Kausalität Gottes in der Totalität (im unendlichen Modus) wie in der einzelnen Bestimmtheit (im endlichen Modus) zu sein. Modi des Denkens sind von anderer Realität als Modi der Ausdehnung, aber beide kommen darin überein, die göttliche Kausalität sei es in Gedanken, sei es in Körpern zu manifestieren. Wenn aber jeder endliche Modus eines Attributs seine Bestimmtheit nur dadurch erhält, daß er eine gewisse Position im Ursachen- und Wirkungsgefüge der Totalität der Modi desselben Attributs einnimmt (Eth. I, prop. 25, coroll; Eth. II, prop. 6), und die Übereinstimmung zwischen Modi verschiedener Attribute gerade in der immanenten göttlichen Kausa-

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lität besteht, die sich in ihnen manifestiert, so ist daraus zu folgern, daß nicht nur hier wie dort Kausalstrukturen vorliegen, sondern die Modi verschiedener Attribute gerade darin Modi derselben Substanz sind, daß sie dieselbe Position im Kausalgefüge, wenn auch eines anderen Attributs, einnehmen. Spinoza sieht also den Einheitspunkt von Körper und Geist, den Descartes im Dunkel göttlicher Allmacht vermutete, in der sich durch die Cogitatio wie die Extensio als Attributen göttlicher Substanz gleichermaßen äußernden kausalen Verknüpftheit oder „Verkettung" (concatenatio). So sind die Dinge (res) als Gedanken wie als Körper nach derselben kausalen Ordnung verkettet. Das ist gemeint, wenn Spinoza sagt: „Mögen wir somit die Natur unter dem Attribut Ausdehnung oder unter dem Attribut Denken oder unter irgendeinem anderen [Attribut] begreifen, immer werden wir ein und dieselbe Ordnung, anders formuliert ein und dieselbe Verknüpfung von Ursachen finden, d. h. daß es dieselben Dinge sind, die [in Gott] unter diesen Aspekten folgen" (Eth. II, prop. 7, schol.).125 Man kann an dieser Stelle also von einer Strukturisomorphie in Bezug auf die kausale Ordnung der Modi verschiedener Attribute sprechen. Diese Theorie ist noch ganz unabhängig von den besonderen Attributen Cogitatio oder Extensio, sondern gründet in der allgemeinen Struktur der mit den Begriffen Substanz und Attribut beschriebenen substantialkausalen Einheit in attributiv-realer Diversität. Der von Spinoza nie selbst gebrauchte, aber schon früh für seine Attributenlehre verwandte Begriff des „Parallelismus" 126 nimmt also im Grunde nur den Aspekt der Diversität der Attribute auf. Nach Spinoza kann es keine getrennten Reihen etwa körperlicher und geistiger Kausalität geben, wie das Bild der Parallelen suggeriert. Vielmehr müßten die Parallelen, um im Bild zu bleiben, ineinander fallen: es ist ein- und dieselbe Kausalität, die die verschiedenen Attribute je auf ihre Weise ausdrücken. Freilich wäre dann auch die Grenze des Bildes erreicht, wenn ineinanderfallende Parallelen noch ein Moment der Diversität aufweisen sollen. Diese gewisse Einseitigkeit des Ausdrucks „Parallelismus" ist also immer im Auge zu behalten.

125 „sive naturam sub attributo Extensionis, sive sub attributo Cogitationis, sive sub alio quocunque concipiamus, unum, eundemque ordinem, sive unam, eandemque causarum connexionem, hoc est, easdem res invicem sequi reperiemus." 126 Jacobi setzt den Begriff in seinen ,Briefen über die Lehre Spinozas' von 1785 schon als bekannt voraus. Vgl. JWA 1/1, S. 27. Zu Schleiermachers Deutung von Jacobis Begriff des spinozanischen Parallelismus s. u. S. 179ff.

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2. Strukturisomorphie von Ideen und deren Ideata Das für Spinozas Erkenntnistheorie interessantere Problem, wozu die im vorigen Abschnitt dargestellte Verschränkimg von Einheit und Diversität im Gottesbegriff mittels der Attributenlehre die ontologische Grandlage abgibt, ist die Möglichkeit einer Aussage über das Verhältnis von Idee und Ideatum. Die dahinter stehende fundamentale These ist, daß einzig das Denken eine Beziehung zu anderen Attributen aufbauen kann und zwar nicht seiner Konstitution als Attribut Gottes nach, sondern in der nur das Denken auszeichnenden Funktion repräsentieren zu können. Ideen sind Ideen von etwas. Diesen basalen Sachverhalt verbindet Spinoza mit seiner Attributenlehre und gelangt so zu der für seine Wahrheits- und Erkenntnistheorie fundamentalen Behauptung einer Strukturisomorpie von Ideen und Ideata. Die allgemeine Aussage einer Strukturisomorphie der Modi verschiedener Attribute ist im Grunde ja irrelevant, solange sie für diese Modi selbst keinerlei Bedeutung hat. Ein Körper bleibt in derselben Position in der Kausalordnung mit anderen Körpern, auch wenn von ihm zu sagen ist, daß es eine ihm in dieser Position entsprechende Idee gebe - oder einen Modus eines anderen Attributs, auch wenn wir dieses nicht wahrnehmen können (Eth. II, ax. 5). Für das Denken hingegen ist es vital, zu wissen, wie der Gegenstand zu beurteilen ist, auf den es sich denkend bezieht. Deshalb ist ein Verhältnis der Attribute bzw. ihrer Modi zueinander im Grunde nur aus der Perspektive des Denkens und für eine Theorie des Denkens, nicht etwa für eine Körperphysik, relevant. Denn dieses Verhältnis betrifft die traditionelle korrespondenztheoretische Fassving des Wahrheitsbegriffs als Übereinstimmung von Idee und Gegenstand. Wie im nächsten Kapitel darzulegen sein wird, ist diese ontologische Basis des Wahrheitsbegriffs auch aus der Theorie der Adäquatheit, die kohärenztheoretisch argumentiert, nicht wegzudenken. Im Blick auf die Theorie der scientia intuitiva wird die Strukturisomorphie der Attribute also nicht nur in dem angedeuteten methodischen Sinne relevant, die Verhältnisse der Ideen anhand derer ihrer Ideata zu rekonstruieren. Vielmehr ist auch die scientia intuitiva als eine Form adäquater Erkenntnis auf die Grundlegung des Wahrheitsbegriffs durch die hier zu entfaltende Verhältnisbestimmimg von Idee und Ideatum angewiesen. Die Hauptthese lanciert Spinoza im berühmten siebten Lehrsatz des zweiten Teils: „Ordo et connexio idearum idem est, ac ordo et connexio rerum." Die Pointe gegenüber der im vorigen Abschnitt entfalteten, für alle Attribute gültigen Strukturisomorphie der kausalen Verkettung ihrer Modi liegt in der unscheinbaren Gegenüberstellung von „idearum" und „rerum". Es ist hier nicht etwa die Rede von Körpern, die in derselben Ordnung und Verknüpfung wie Ideen stehen, sondern Ideen wer-

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den ganz allgemein „res" gegenübergestellt. Dies rechtfertigt die Vermutung, daß es hier um einen Aspekt von Ideen geht, der in dem Sachverhalt, daß sie Modi des Attributs Cogitatio sind, nicht aufgeht. Und dieser Aspekt ist ihre Ideations- oder Repräsentationsfunktion. Ideen beziehen sich auf einen von ihnen verschiedenen Gegenstand. In dieser Lesart heißt der Lehrsatz: die Ordnung und Verknüpfung von Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung ihrer Gegenstände. Dies zu zeigen, ist weitaus anspruchsvoller und sprengt im Grunde das Beweisverfahren. Spinoza greift denn auch zur Begründung keineswegs auf die oben dargestellten Argumente aus der Attributenlehre zurück, sondern führt ein einziges Axiom an, aus dem dies evident sei: „Patet ex axiom. 4. p. 1". Bevor wir uns diesem Axiom zuwenden, sei hier der Argumentationsgang der ersten Lehrsätze des zweiten Teils skizziert, um deutlich zu machen, wie Spinoza sich darin bereits auf das Problem Idee-Ideatum hinwendet. Nachdem in den ersten beiden Propositionen Cogitatio und Extensio als Attribute Gottes aufgewiesen 127 werden, befassen sich die Lehrsätze 3 und 4 mit dem unmittelbaren unendlichen Modus der Cogitatio: dem intellectus infinitus. Von der Setzung des Attributs her wird also der Totalitätsbegriff von Denken plausibel gemacht. Wichtig ist, daß mit Lehrsatz 3 bereits die Ideationsfunktion des Denkens ins Blickfeld rückt. Die „Idea Dei" wird hier als „Idee sowohl seiner [sc. Gottes] Essenz wie all dessen, was aus seiner Essenz notwendigerweise folgt" beschrieben und damit wird bereits das Charakteristikum von cogitare in Anspruch genommen, nämlich denkend auf einen Gegenstand bezogen zu sein. Idea Dei ist mithin als genitivus objectivus zu lesen.128 Der fünfte Lehrsatz führt nun eine für die Beurteilung von Ideen grundlegende Differenz ein: Ideen können einerseits nach ihrem „esse formale" oder „formaliter" betrachtet werden oder andererseits - der Gegenbegriff fällt erst in Eth. II, prop. 7, corol.129 „objective". Hierauf ist kurz einzugehen. 127 Grundlage beider Beweise sind unausgesprochen die Axiome 2, 4 und 5 des zweiten Teils. Nur wenn die Erfahrung des Denkens bzw. die Empfindung körperlicher Affektionen vorausgesetzt ist, kann von „cogitationes" (Eth. II, prop. 1, dem.) bzw. analog im nichtausgeführten Beweis des zweiten Lehrsatzes von „corpora" die Rede sein. Zum Status beider Lehrsätze vgl. W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 72ff. 128 Freilich ist die Lesart als genitivus subjectivus nicht ausgeschlossen: Gott, sofern seine Essenz vom unendlichen Modus des Attributs Cogitatio ausgedrückt wird, ist Agens dieses Denkens. Diese Überlegung scheint mir hier aber nicht im Vordergrund zu stehen, sondern wird erst in Eth. Π, prop. 11, corol. explizit gemacht und für die Theorie des amor Dei intellectualis in Eth. V, prop. 35f fruchtbar gemacht. Vgl. zu letzterem unten S. 121ff. 129 Freilich gibt Spinoza im Beweis von Lehrsatz 5 bereits den Gegensatz an, wenn er hervorhebt, die Idea Dei sei im dritten Lehrsatz als notwendig nicht daraus bewiesen worden, daß Gott „suae ideae objectum" sei, sondern daraus, daß er eine res cogitans, also (nach Eth. Π, prop. 1) in seiner Essenz vom Attribut Cogitatio konstituiert, sei.

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Bereits im frühen ,Tractatus de Intellectus Emendatione' hat Spinoza diese Unterscheidving in Anspruch genommen mit dem Verweis, daß Idee und Ideatum verschieden seien. 130 Die Idee lasse sich deshalb nach zwei Aspekten betrachten. Die Terminologie131 unterscheidet sich in etwas irritierender Weise vom modernen Verständnis von „Objektivität". Die „essentia objectiva" der Idee ist demnach das an der Idee, was ihren Bezug auf ihr Objectum oder Ideatum ausmacht, worin dieses Ideatum also repräsentiert wird. Demgegenüber sieht man, wenn man von der „essentia formalis" einer Idee spricht, von ihrem ideierten Gegenstand ab und betrachtet sie nur danach, denkende Aktivität zu sein. Keineswegs ist also etwa die objektive Essenz mit einer „Idee an sich" gleichzusetzen, sondern vielmehr wird diese „an sich seiende Essenz" 132 der Idee als ihr Formales angegeben. Das Ziel dieser Unterscheidung im TIE ist es, die Möglichkeit der Intellegibilität von Ideen aufzuzeigen. Sofern man sie nämlich als essentiae formales betrachtet, können sie ihrerseits Objectum von anderen Ideen und also deren essentiae objectivae werden. Hieraus folgt die Möglichkeit der sogenannten „cognitio reflexiva" oder „idea ideae", 133 als einer Idee, welche das esse formale einer Idee zum Gegenstand hat. Die Unterscheidung des esse formale von deren Repräsentationsgehalt dient im fünften Lehrsatz dazu, die Ideen in ihrem esse formale als nur aus dem Attribut Cogitatio erklärbar und somit als von den andern Attributen unabhängig zu erklären. Umgekehrt verwahrt Spinoza sich im folgenden Lehrsatz 6 gegen eine Erklärung von Modi anderer Attribute durch das Attribut Cogitatio etwa im Sinne einer ideellen Präformation der Kreaturen im göttlichen Verstand, womit die Modi anderer Attribute von der Struktur der Cogitatio abhängig würden (Eth. II, prop. 6, corol.). Cogitatio ist gegenüber den anderen Attributen weder vor- noch nachgeordnet. Die Modi eines Attributs sind zwar untereinander kausal dependent, aber es herrscht keine kausale Relation zwischen Attributen. Das gilt, wie für alle Attribute, so auch im Besonderen für das Attribut Cogitatio. Im Corollarium verläßt Spinoza allerdings die Hinsicht auf die rein in der Attributenlehre begründeten Strukturisomorphie. Denn er spricht hier bereits von „res ideatae", welche aus ihren Attributen auf dieselbe Weise folgten wie die Ideen aus dem Attribut Cogitatio. Streng genom130 TIE § 33, Ba 28/Geb 14. 131 Vgl. zum Folgenden B. Rousset: Spinoza. Traite de la reforme de l'entendement (1992), S. 225. 132 So die Übersetzung von Bartuschat für „essentia formalis", TIE § 33, Ba 28/Geb 14. 133 TIE § 38, Ba 32/Geb 15f. Die Möglichkeit der cognitio reflexiva wird ihrerseits dann für die Adäquatheitstheorie vorausgesetzt. Siehe dazu unten S. 71ff.

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men müßte hier von „res formales" die Rede sein.134 Spinoza leitet mit dieser Ungenauigkeit im Ausdruck jedoch bereits das neue Thema vor, das er im folgenden siebten Lehrsatz einführen und in dessen Folgesatz explizit machen wird: das Verhältnis von Ideen zu ihren Ideata oder anders formuliert das von formalem und objektivem Aspekt von Ideen. Daß die Ideata als bloße „res" auch in Eth. II, prop. 7 in Hinsicht auf das zugehörige Attribut unfestgelegt bleiben ist wichtig, weil so immer die Möglichkeit auch einer Ideation von Ideen in der Theorie mitgeführt wird. Wie begründet Spinoza aber nun jene Selbigkeit des „ordo et connexio" von Ideen und Ideata? Er verweist lediglich auf Eth. I, ax. 4. Dieses Axiom taucht an Schlüsselstellen der Ethik auf: in der Theorie der Essenz endlicher Dinge (Eth. I, prop. 25),135 der Theorie inadäquater Erkenntnis (Eth. II, prop. 16)136 und der Möglichkeit der dritten Erkenntnisart (Eth. II, prop. 45)137 sowie schließlich zur Demonstration der Möglichkeit adäquater Selbsterkenntnis (Eth. V, prop. 22)138 und dient, jeweils dem Kontext angepaßt, der Funktion, die auch in Eth. II, prop. 7 zu beweisen ist: nämlich einer gegenseitigen Austauschbarkeit und Explikation idealer und realer Fundierungsverhältnisse - „ideal" und „real" hier in dem Sinne von Idee und Ideatum genommen. Das Axiom lautet in dem hier in Eth. II, prop. 7 herangezogenen Teil schlicht: „Effectus cognitio a cognitione causae dependet". 139 Wie Margaret D. Wilson anhand der Verwendungskontexte des Axioms gezeigt hat, ist die epistemische Bestimmtheit des Ausdrucks „cognitio" in diesem Axiom noch denkbar weit und kann mit idea gleichgesetzt werden. Das Axiom ist von Spinoza nicht auf bestimmte Erkenntnisformen beschränkt, etwa auf adäquate Erkenntnisse, wie Gueroult vorschlägt und Macherey ihm beipflichtet. Deshalb kann Spinoza es auch für Eth. II, prop. 5-7 heranziehen, wo die Unterscheidung von adäquater und inadäquater Erkenntnis noch gar nicht im Blick ist. Vielmehr etabliert er damit eine epistemisch ganz allgemeine Regel, daß Dependenzverhältnisse der Ideata solche der Ideen implizieren. Ist das Verhältnis der Ideata eines von Ursache und Wirkung, so hängt die Idee der Wirkung von der 134 Vgl. W. Bartuschat: The Infinite Intellect and Human Knowledge (1994), S. 194. Allerdings ist die Unterscheidung von formalem und objektivem Aspekt für Modi, die nicht Ideen sind, irrelevant. So könnte auch einfach „res" stehen. 135 Siehe dazu oben S. 22ff. 136 Siehe dazu unten S. 74ff. 137 Siehe dazu unten S. 91ff. 138 Siehe dazu unten S. 112ff. 139 Auf die Fortsetzung „et eandem involvit" werde ich bei der Interpretation von Eth. II, prop. 16 eingehen. Sie wird dann im Zusammenhang von Eth. Π, prop. 45 erneut herangezogen. S. u. S. 75f. 91ff. Zur Interpretation des Axioms vgl. M. D. Wilson: Spinoza's Causal Axiom (Ethics I, Axiom 4) (1991); Μ. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 95-98; P. Macherey: Introduction I (1998), S. 58f; H. Zellner: Spinoza's Causal Likeness Principle (1986).

1. Ontologische Grundlagen

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Idee der Ursache ab oder anders gesagt: die Idee einer Wirkung hat ihren ideellen Grund in der Idee der Ursache, als deren Folge sie erscheint. Im vierten Axiom stellt sich Spinoza also auf den Boden des Prinzips: causa sive ratio. 140 Im Ideatum gelegene Kausalverhältnisse entsprechen Grund-Folge-Verhältnisse der zugehörigen Ideen. Der in Eth. II, prop. 7 angesprochene ordo et connexio wird durch das im Beweis angeführte vierte Axiom also als eine kausale Ordnung und Verknüpfung expliziert. Die kausale Struktur der res als Modi sämtlicher Attribute, sofern sie Ideata von Ideen sind, ist isomorph zur ebenso kausalen Struktur, in welcher diese Ideen selbst als cogitationes verkettet sind. Im Corollarium dieses Lehrsatzes wird diese nur durch einen axiomatischen Satz gestützte Aussage mit der Attributenlehre, dem Folgetheorem aus Eth. I, prop. 16 und der Theorie des intellectus infinitus verbunden. Und zwar folgert Spinoza die Umfangsgleichheit (aequalis)141 des Objektivierungsvermögens Gottes (Dei cogitandi potentia) und der realen Kausalität Gottes in den Modi seiner Attribute (actuali agendi potentia) und präzisiert diese bereits in Eth. I, prop. 30 behauptete Aussage durch den bemerkenswerten Satz: „Hoc est, quicquid ex infinita Dei natura sequitur formaliter, id omne ex Dei idea eodem ordine, eademque connexione sequitur in Deo objective" (Eth. II, prop. 7, corol.; Hhg. C.E.). Hiermit ist die exakteste Formulierung der Strukturisomorphie von Idee und Ideatum, wie sie in der Attributenlehre grundgelegt ist, erreicht. Die dem Corollarium zugrundeliegende Argumentation läßt sich in drei Schritten rekonstruieren. Erstens kommt nach dem durch die Attributenlehre explizierten Folgetheorem aus Eth. I, prop. 16 der Cogitatio wie jedem Attribut die Funktion zu, in unendlichen Modi die göttliche Substanz auszudrücken. Zweitens muß der unendliche Modus der Cogitatio, als die Totalität der Modi des Denkens unter sich befassend, vor dem Hintergrund des siebten Lehrsatzes objective wie formaliter dieselbe Kausalitätsstruktur aufweisen. D. h. die Ideata der in ihm befaßten Ideen folgen derselben kausalen Ordnung wie diese Ideen selbst. Waren diese Ideen selbst aber als Modi aufzufassen und darin in ihrem kausalen Status den Modi aller anderen Attribute gleichgestellt, so ist drittens zu schließen, daß die Kausalverkettung der Modi gleich welchen Attributs, wie sie aus der unendlichen Natur Gottes folgen, dieselbe sein muß, wie die Kausalverkettung der Ideata, welche im intellectus infinitus als jeweils „objektiver", d. h. auf den in ihnen repräsentierten Gegenstand bezogener Aspekt der in ihm befaßten Ideen firmieren. 140 Vgl. Eth. I, prop. 11, dem. 2; Eth. IV, praef.: "Ratio igitur, seu causa, cur Deus, seu Natura agit, et cur existit, una, eademque est." 141 Daß beides aus gutem Grund nicht einfach identifiziert wird, darauf weist W. Bartuschat (The Infinite Intellect and Human Knowledge [1994], S. 194) hin.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

Damit ist gezeigt, was gezeigt werden sollte: Die Ordnung der Dinge, gleich welchen Attributs, entspricht der Ordnung der Ideata. D. h. jede Idee hat ihrer objektiven oder ideativen Seite nach eine genaue kausale Entsprechung im Kausalnexus des Naturzusammenhangs. Das erkenntistheoretische Programm Spinozas ist vor diesem Hintergrund leicht abzuschätzen. Denn ohne quasi von einem dritten Standpunkt eine Ubereinstimmung von Ding und Idee feststellen zu müssen, reicht es hin, die Ideen und zwar ihrer formalen Seite nach, in ihrer Ordnung zu erkennen bzw. in diese Ordnung zu bringen, um damit zugleich deren Ideata in ihrer Ordnung und nach obiger Argumentation damit auch die Relationen der Dinge selbst zu erfassen. Die spinozanische Theorie der adäquaten Erkenntnis stellt genau jenes Programm dar, unter den spezifischen Bedingungen des menschlichen Geistes die Ordnung der Ideen zu bewerkstelligen und sich damit ihrer Wahrheit zu versichern. Wir gehen damit zum nächsten Kapitel über, in welchem die spinozanische Erkenntnistheorie in ihren Grundzügen als Rahmen der Theorie der scientia intuitiva dargestellt werden soll. Die bisherigen Überlegungen abschließend soll jedoch zuvor noch auf eine Implikation der Strukturisomorphie von Idee und Ideatum hingewiesen werden, die oben bereits angedeutet worden ist. Im TIE hatte Spinoza bei der Unterscheidung von objektiver und formaler Essenz einer Idee das Ziel vor Augen gehabt, Ideen als etwas ihrerseits Intelligibles darzustellen. Als essentia formalis können sie Gegenstand einer anderen Idee als essentia objectiva werden. Dasselbe Resultat ergibt sich aus der Argumentation des siebten Lehrsatzes der Ethik mit dessen Folgesatz. Sofern nämlich das, „was auch immer aus der unendlichen Natur Gottes folgt" (Eth. II, prop. 7, corol.), auch Modi des Denkens, sprich Ideen sein können, so ist nach diesem Corollarium zu schließen, daß diese Ideen, die wohlgemerkt auf der formalen Seite zu stehen kommen, in derselben Ordnung aus Gottes Natur folgen, wie die Ideata oder objektiven Seiten von Ideen, welche jene ersten Ideen zum Gegenstand haben, in der Ordnung im unendlichen Verstand zu stehen kommen. Die Strukturisomorphie von Idee und Ideatum ist also auch für den Fall anwendbar, daß das Ideatum wiederum eine Idee ist. Gueroult spricht hier von einem „parallelisme intracogitatif". 142 Dieser Spezialfall verbürgt die Übereinstimmung von Idee und Ideatum in der cognitio reflexiva, welche, wie wir sehen werden, die conditio sine qua non jeder adäquaten Erkenntnis darstellt.

142 M. Gueroult: Spinoza Π, S. 15-20. 68.

2. Der Kontext der spinozanischen Erkenntnistheorie

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2. Der Kontext der spinozanischen Erkenntnistheorie Die Eigenart der scientia intuitiva als der dritten Erkenntnisart im System Spinozas läßt sich nur in Abgrenzung zu den beiden anderen Erkenntnisarten herausarbeiten. Bevor wir uns aber dieser Aufgabe widmen, soll zunächst der Blick auf den Problemhorizont gelenkt werden, vor dem Spinoza seine erkenntnistheoretischen Überlegungen exponiert hat. Zur Verdeutlichung der Ausgangslage Spinozas scheint besonders sein Verhältnis zu Descartes entscheidend. 143 Dies gilt auch für den Bereich der Erkenntnistheorie: Spinoza entwickelt seine Theorie in der Auseinandersetzung mit und in Form einer kritischen Überbietung cartesianischer Einsichten. Spinoza knüpft hier insbesondere an Descartes' frühe Methodenschrift ,Regulae ad directionem ingenii' von 1628 an. Spinozas erst postum veröffentlichter, aber wohl schon um 1661 entstandener 144 ,Tractatus de Intellectus Emendatione' (TIE) ist ein Dokument kritischer Aneignung und Weiterbildung cartesianischer Einsichten. In dieser Schrift finden sich terminologische und formale Entsprechungen zu den ,Regulae', bis hin zur Aufnahme von Beispielen.145 Mir scheinen aber auch, über den TIE hinaus, Spinozas grundlegende erkenntnistheoretische Einsichten, wie sie in der ,Ethica' entfaltet sind, einer kritisch differenzierenden Sicht auf Descartes zu entstammen. In den ,Regulae' entwickelt Descartes Anweisungen, wie man verfahren müsse, um zu gewisser Erkenntnis zu gelangen. Die ,Regulae' als Ganzes stellen so eine Erkenntnismethodologie dar, wenn sie auch vorzüglich auf die Erörterung mathematischer Erkenntnis abzielen. 146 Des143 Was die Metaphysik im allgemeinen betrifft, so ist die Entwicklung eines eigenen metaphysischen Systemansatzes durch die Rekonstruktion und Weiterentwicklung von Descartes Metaphysik literarisch dokumentiert in Spinozas 1663 veröffentlichter Schrift: ,Renati Des Cartes Principiorum Philosophiae Pars I et Π, More geometrico Demonstratae', einer nach geometrischer Methode dargestellten Rekonstruktion der Prinzipien Descartes, der Spinoza die ,Cogitata Metaphysica' als Anhang beigefügt hat, in welchem er die wesentlichen metaphysischen Fragen in scholastischer Begrifflichkeit „kurz erläutert" und in dem er seinen eigenen Ansatz, wenn auch noch nicht durchgeklärt, schon erkennen läßt. Vgl. PPC, ed. Bartuschat 1987, XXXIV. 144 Vgl. W. Bartuschat: Einleitung, in: TIE, ed. Bartuschat 1993, W f . 145 Vgl. J. D. Sanchez Estop: Spinoza, lecteur des ,Regulae'. Notes sur le cartesianisme du jeune Spinoza (1987). 146 Vgl. Regulae 13-21; AT X, S. 430-469. Ich zitiere die Regulae nach der lat.-dt. Ausgabe in Rene Descartes: Philosophische Schriften in einem Band, Hamburg 1996 (= PhB 262a, Hamburg 1973) und gebe Regel- und Absatznummer sowie die Paginierung der maßgeblichen kritischen Ausgabe der Werke Descartes von C. Adam und P.Tannery: CEuvres de Descartes, 13 Bde, Paris 1897-1913 an, in welcher die Regulae in Band X erschienen sind. D. Mahnke (Der Aufbau des philosophischen Wissens nach Descartes [1967], S. 77) weist darauf hin, daß Descartes eine Universalwissenschaft vor Augen hat, für welche die Mathematik nur eine Art „Vorübung" sei. Vgl. App. ad Regulam 4, AT X, S. 379.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

cartes gibt im Rahmen dieser Methodologie an, welche kognitiven Verfahren er allein akzeptiert, wenn es um Gewißheit in der Erkenntnis gehen soll. Es sind dies die beiden Erkenntnisformen der Intuition und der Deduktion. Hier scheint mir der Anknüpfungspunkt Spinozas zu liegen, der die Grundüberlegungen Descartes' zu Intuitus und Deductio zugleich aufnimmt und kritisch differenziert. Spinoza nimmt das mit dem Begriff Intuitus verbundene Programm Descartes', Gewißheit erkenntnisimmanent zu begründen, in seiner Theorie der Adäquathext auf, führt es aber in einer völlig veränderten Weise durch. Dies zeigt sich auf doppelte Weise. Einerseits, so meine These, spielt der cartesische Begriff der Intuition sachlich bei Spinoza in beiden adäquaten Erkenntnisarten, d. h. der zweiten und dritten, eine Rolle. Dies wird sich im Zuge der Darstellung der Adäquatheitstheorie Spinozas und seiner Unterscheidung der Erkenntnisarten in diesem Kapitel (I 2) zeigen lassen. Andererseits reserviert Spinoza den Intuitusbegriff für die dritte Erkenntnisart. Welche systematischen Gründe ihn zu diesem Schritt veranlassen, soll im letzten Kapitel dieses Teils (I 3) zu erklären versucht werden. Zunächst einmal wenden wir uns aber dem Cartesianischen Begriff des Intuitus zu, wie er ihn in seinen ,Regulae' entfaltet hat. Vor diesem Hintergrund sind dann die Ausführungen zur spinozanischen Erkenntnistheorie zu sehen.

A. Descartes' Begriff des Intuitus in den ,Regulae' Etwa zehn Jahre bevor Descartes mit seinem berühmten ,Discours de la Methode' im Jahre 1637 anonym an die Öffentlichkeit tritt, hat er sich bereits intensiv mit der Methode wissenschaftlicher Erkenntnis beschäftigt und seine Überlegungen übersichtlich in den ,Regulae ad directionem ingenii', den Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, dargestellt. Ursprünglich hatte er ein dreiteiliges Werk geplant, in welchem je zwölf Regeln zuerst der Anleitung zur Bildung einfacher Propositionen, dann dem Umgang mit vollständig lösbaren und schließlich mit unvollständig lösbaren Problemen gewidmet sein sollten.147 Descartes hat das Werk aber nach der 21. Regel abgebrochen, so daß der zweite Teil unvollständig ist und der dritte Teil ganz fehlt. Die für unsere Fragestellung entscheidende Grundlegung der Methode ist in den ersten zwölf Regeln ausgeführt. 148 Descartes Zielsetzung ist es, unerschütterlich wahre Wissenschaft zu betreiben (Regulae 1), weshalb er den methodischen Kanon aufstellt, nur solches als Gegenstand der Forschung zuzulassen, über das man eine den „arithmetischen oder geometrischen Beweisen gleiche Gewißheit" haben 147 Regulae 12, 27; AT X, S. 428f. 148 Vgl. den grundlegenden Kommentar zu den,Regulae' von J.-L. Marion: Sur l'ontologie grise de Descartes. Science cartesienne et savoir aristotelicien dans les ,Regulae' (1993).

2. Der Kontext der spinozanischen Erkenntnistheorie

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kann (Regulae 2). Solche Gewißheit ist nicht durch die Berufung auf Tradition zu erlangen oder durch eigene Mutmaßung, sondern dadurch, daß wir etwas „klar und evidentermaßen einsehen (intueri) oder sicher ableiten (deducere); nur so nämlich kann Wissen erworben werden." (Regulae 3).149 Intuition und Deduktion stellen also für den Descartes der Regulae' 150 die einzigen zulässigen Erkenntnismodi dar,151 und zwar weil allein sie Gewißheit zu verschaffen in der Lage sind. Bei näherem Hinsehen erweist es sich allerdings, daß in Hinsicht auf die Gewißheit der Intuition Priorität zukommt und die Deduktion nur deshalb zu den zuverlässigen Erkenntnisoperationen gerechnet wird, weil sie mit nichts anderem als mit Intuitionen verfährt und von diesen her ihre Gewißheit erhält. Wenden wir uns daher zunächst der Intuition zu. Sie ist durch zwei wesentliche Charakteristika gekennzeichnet, deren erstes das berühmte Kriterium der Klarheit und Deutlichkeit ist („clare et distincte"). Zweitens gilt für die Intuition, daß das in ihr Erkannte „als Ganzes auf einmal (tota simul)" erkannt wird. 152 Nach dem zweiten Charakteristikum kommt ihr, da der Gegenstand der Erkenntnis in einem Akt vollständig erkannt wird, „gegenwärtige Evidenz" zu, eine Eigenschaft die sie, wie wir noch sehen werden, in den Gegensatz zur Deduktion stellt.153 Was versteht Descartes aber unter dem erstgenannten Doppelkriterium des „clare et distincte intelligere"? 154 Die ,Regulae' geben über diese Begriffe keine explizite Auskunft. Nach der Definition in den ,Principia Philosophiae' von 1644 ist eine Erkenntnis klar (perceptio clara), wenn sie dem aufmerksamen Geist präsent ist, deutlich (perceptio distincta), wenn sie als solche so von anderen Erkenntnissen differenziert ist, daß sie nur klare Aspekte umfaßt. 155 Diese beiden Kriterien sind nicht etwa auf Ur149 AT X, S. 366: „quid clare et evidenter possimus intueri vel certo deducere quaerendum est; non aliter enim scientia acquiritur."; vgl. Regulae 3, 5; AT X, S. 368; Regulae 12, 22; AT X, S. 425. 150 Der,Discours' spricht statt von „intuitus" von „evidence". Vgl. die Zusammenfassung der Vorschriften der Methode in vier Hauptregeln in Discours Π, 7; AT VI, S. 20: „Le premier etait de ne recevoir jamais aucune chose pour vraie, que je ne la connusse evidemment etre teile." 151 Vgl. Regulae 12,22; AT X, S. 425: „nempe nullas vias hominibus patere ad cognitionem certam veritatis praeter evidentem intuitum, et necessariam deductionem"; vgl. auch Regulae 3, 4; AT X, S. 368; Regulae 3, 8; AT X, S. 370. 152 Regulae 11, 2; AT X, S. 407: „ad mentis intuitum duo requirimus, nempe ut propositio clare et distincte, deinde etiam ut tota simul et non successive intelligatur" 153 Regulae 3, 8; AT X, S. 370: „quia ad hanc [sc. deductionem] non necessaria est praesens evidentia, qualis ad intuitum" 154 Im folgenden beziehe ich mich hauptsächlich auf die Studie von A. Gewirth: Clearness and Distinctness in Descartes (1991). Vgl. auch D. Mahnke: Der Aufbau des philosophischen Wissens nach Descartes (1967). 155 Princ. 1,45; AT VÜI, S. 22: „Ciaram voco illam [sc. perceptionem], quae menti attendenti praesens et aperta est: sicut ea clare a nobis videri dicimus, quae oculo intuenti praesentia, satis fortiter et aperte ilium movent. Distinctum autem illam, quae, cum clara sit,

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

teile, sondern auf Perzeptionen bezogen, d. h. auf Ideen in deren Repräsentationsfunktion.156 Klarheit und Deutlichkeit dienen also als Näherbestimmung dieser Repräsentationsfunktion und zwar in Hinsicht auf eine interne Differenzierung dieser Funktion. Es kommt darauf an, inwiefern das in einer Idee unabhängig von einem Perzeptionsvorgang Repräsentierte mit dem in einer auf diese Idee bezogenen Perzeption Aufgefaßten übereinstimmt.157 Die Aufmerksamkeit des Geistes (mens attendens) ist nicht nur die Voraussetzung klarer Perzeption, sondern auch ihre Bezugsgröße: es geht um eine Qualifizierung dessen, was in einer solchen „attentio" perzipiert wird, in Bezug auf den Inhalt einer Idee als bloße Repräsentation. Klarheit kennzeichnet diesen Bezug dann, wenn das vom Geist in seiner Aufmerksamkeit Perzipierte zugleich Gehalt überhaupt der Repräsentation der Idee ist. Deutlich ist die Perzeption dann, wenn sie nichts anderes enthält als den repräsentierten Gehalt, indem die Aufmerksamkeit sich, differenziert von anderen Ideen, genau auf diesen Gehalt richtet.158 Auffälligerweise behandelt Descartes diese Begriffe nun so, als fungierten sie nicht nur als eine qualitative Charakterisierung von Perzeptionen, sondern ebenso als eine quantitative, indem er die Möglichkeit einer Steigerung des Klaren und Deutlichen vorsieht. Eine Perzeption kann demnach klarer werden, wenn mehr Merkmale des Gehalts einer Repräsentation perzipiert werden, 159 und sie wird in dem Maße deutlicher als diese perzipierten Merkmale von einander differenziert werden. 160 Nun ist mit der Andeutung einer Möglichkeit der Steigerung der Begriffe klar und distinkt die Frage nach dem Gegenstandsbereich solcher Perzeption aufgeworfen. Denn es scheint der behaupteten Möglichkeit, für die Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit ein Mehr und Weniger anzugeben, eine Voraussetzung zugrunde zu liegen, derzufolge der Gehalt einer blo-

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ab omnibus aliis ita sejuncta est et praecisa, ut nihil plane aliud, quam darum est, in se contineat." PhB 28, S. 15: „Klar nenne ich die Erkenntnis, welche dem aufmerkenden Geiste gegenwärtig und offenkundig ist, wie man das klar gesehen nennt, was dem schauenden Auge gegenwärtig ist und dasselbe hinreichend kräftig und offenkundig erregt. Deutlich nenne ich aber die Erkenntnis, welche, bei Voraussetzung der Stufe der Klarheit, von allen übrigen so getrennt und unterschieden ist, daß sie gar keine andren als klare Merkmale in sich enthält." Vgl. Regulae 12, 16; AT X, S. 420; A. Gewirth: Clearness and Distinctness in Descartes (1991), S. 191f. Zu Descartes' Auffassung von Repräsentation vgl. D. Perler: Repräsentation bei Descartes (1996). Α. Gewirth (Clearness and Distinctness in Descartes [1991], S. 191) unterscheidet „direct and interpretive contents" einer Idee. Vgl. A. Gewirth: Clearness and Distinctness in Descartes (1991), S. 190f. Vgl. Princ. I, 11; PhB 28, S. 4: „umso klarer wir diese Substanz erkennen, um so mehr dergleichen Zustände treffen wir in dem Gegenstande oder in der Substanz an." Vgl. Princ. I, 63; PhB 28, S. 23: „Ein Begriff wird dadurch nicht deutlicher, daß man weniger in ihm befaßt, sondern dadurch, daß man das darin Befaßte von allem anderen genau unterscheidet."

2. Der Kontext der spinozanischen Erkenntnistheorie

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ßen Repräsentation in sich strukuriert ist, so daß ihm mehrere, voneinander unterscheidbare Merkmale zukommen, für welche dann die beiden Kriterien in Anschlag gebracht werden können. Dem hier formulierten Problem hat Descartes mit seiner Theorie Rechnung getragen, in der er den Gehalt repräsentierender Ideen als einen Zusammenhang einfachster Elemente (res/naturae simplicissimae) auffaßt. Descartes hatte hier nicht etwa kleinste Teilchen im Sinne einer Atomtheorie vor Augen, sondern die res simplicissimae sind wohl als logisch erste Begriffe einer Begründungsreihe, d. h. als „Prinzipien" zu verstehen. Nicht erst in den ,Principia Philosophiae' spielt der Prinzipienbegriff eine prominente Rolle. Während dort inhaltlich die Prinzipien der Philosophie, das cogito und das Deus est, entwickelt werden, geschieht die Verwendung des Begriffs in den ,Regulae' weitestgehend unter methodischem Blickwinkel,161 so daß der Gehalt der Prinzipien inhaltlich nur angedeutet wird, nämlich in der Theorie der res simplicissimae.162 Deren methodische Funktion, als Prinzip von Erkenntnissen zu dienen und dadurch erste Gewißheiten zu ermöglichen, hängt aufs engste mit ihrer Qualifizierung als „einfachste Naturen" zusammen. Sofern sich der aufmerksame Geist nämlich einfachsten Elementen zuwendet, hat er eo ipso eine klare Perzeption derselben, deren Klarheit in keiner Weise gesteigert werden kann, noch dessen bedarf: Das Einfache ist klar, weil es in einer Perzeption entweder vollständig oder gar nicht erfaßbar ist. Seine Deutlichkeit hängt indes davon ab, inwiefern es nur für sich betrachtet wird. Gelingt es also dem aufmerkenden Geist ein solches Einfachstes isoliert zu betrachten, dann stimmt der Gehalt seines Perzipierens genau mit dem Gehalt der Repräsentation der ins Auge gefaßten Idee überein und der Geist hat eine klare und deutliche Einsicht. Eine solche Einsicht in einen einfachsten Sachverhalt erfüllt damit die beiden o. g. Merkmale der Intuition, einerseits klar und deutlich zu sein, andererseits das Ganze auf einmal zu perzipieren und von daher gegenwärtig evident zu sein. Einsicht in einfachste Elemente ist daher die grundlegende Form der Intuition, wiewohl nicht deren einzige.163 Denn Descartes sieht auch die Beziehungen zwischen den einfachsten Elementen als Gegenstand der Intuition an.164 Sie können klar und deutlich in einem einzigen mentalen Akt erfaßt werden,165 wodurch dieser 161 Vgl. Regulae 3,8; AT X, S. 369; Regulae 7,1; AT X, S. 387; Regulae 9,3; AT X, S. 401. 162 Vgl. Regulae 12,13f; AT X, S. 419. Zu den verschiedenen Interpretationen des Gehalts der res simplicissimae vgl. A. Gewirth: Clearness and Distinctness in Descartes (1991), S. 195ff; D. Mahnke: Der Aufbau des philosophischen Wissens nach Descartes (1967), S. 51ff; D. Perler: Repräsentation bei Descartes (1996), S. 275ff. 163 Vgl. Regulae 12,22; AT X, S. 425. 164 Vgl. Regulae 5; AT X, S. 379. 165 Regulae 12, 21f; AT X, S. 425; Regulae 3, 7; AT X, S. 369; Regulae 11,1; AT X, S. 407.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

Verbindung der Charakter der Notwendigkeit zukommt. 166 Allerdings wird dies um so schwieriger, je komplexer das Beziehungsgefüge zwischen den einfachsten Elementen wird. Genau an dieser Stelle liegt dasjenige Moment, das die cartesische Intuition von der cartesischen Deduktion unterscheidet. Erlangen die Relationen der res simplicissimae einen solchen Komplexitätsgrad, daß sie nicht mehr in einem Akt durchschaut werden können, so muß eine Reihe aufeinander aufbauender Beziehungsintuitionen gebildet werden, angefangen von der Intuition der Beziehung von Einfachstem über Beziehungen zwischen solchen Beziehungen bis hin zu komplexen Strukturen, wobei jeder einzelne Schritt für sich einsichtig sein muß. Der Übergang zur Deduktion ist nun dort anzusetzen, wo auf Ergebnisse früherer Intuitionen der Reihe zurückgegriffen wird, ohne diese selbst gegenwärtig zu haben. Die Gewißheit ihrer Evidenz ist also keine gegenwärtige, sondern ist sozusagen vom Gedächtnis erborgt.167 Deduktion bezeichnet nun die kontinuierliche „Bewegung des Denkens" („motus cogitationis") 168 von einer Intuition zur nächstkomplexeren, wobei dabei nicht alle vorhergehenden Schritte der „Reihe" („series"), die logisch früher sind, präsent gemacht werden müssen.169 Dieses Durchgehen einzelner Schritte, womit auch entlegene Folgerungen einfachster Grundelemente abgeleitet werden können, ist ein im zeitlichen Nacheinander („successio") stattfindender Diskursus, das ganze Verfahren also in diesem Sinne diskursiv.170 Hierbei bleibt zu beachten, daß Descartes mit seinem Begriff der Deduktion keineswegs den (aristotelischen) Syllogismus vor Augen hat, diesen lehnt er sogar als oft täuschenden Sophismus ab oder mißt ihm lediglich pädagogischen oder rhetorischen Wert bei.171 Zur Erlangung neuer Einsichten taugen Syllogismen hingegen nicht, weshalb Descartes seine Methode mit dem Pathos verbindet, sich von allen „syllogistischen Fesseln" frei gemacht zu haben.172 Darin folgt ihm Spinoza ohne Abstriche.173 Nun bleibt es dennoch denkbar, daß eine solche deduktive Reihe, wenn nur die Fassungskraft des Geistes groß genug ist, mit Kenntnis aller Einzelschritte auch auf einmal präsent gemacht werden kann.174 Gelingt 166 Vgl. Regulae 12, 21; AT X, S. 425f: „Sed hunc errorem vitare in nostra potestate situm est, nempe, si nulla unquam inter se conjungamus, nisi unius cum altero conjunctionem omnino necessariam esse intueamur." 167 Vgl. Regulae 3, 8; AT X, S. 370. 168 Vgl. Regulae 3, 8; AT X, S. 369; Regulae 7; AT X, S. 387; Regulae 11, 3; AT X, S. 408. 169 Vgl. Regulae 3, 8; AT X, S. 369. Zum Begriff „series" vgl. Regulae 6; AT X, S. 381-387. 170 Regulae 3, 8; AT X, S. 370. Der Terminus „discursus" findet sich in Regulae 3, 7; AT X, S. 369. 171 Vgl. Regulae 10,4f; AT X, S. 405f; Regulae 2,3; AT X, S. 363f. 172 Regulae 7,5; AT X, S. 389: „omnis syllogismorum vinculis rejectis". 173 Vgl. R. Schnepf: Der ordo geometricus und die Transformation der kausalen Ordnung in Spinozas Ethik (2003). 174 Vgl. Regulae 11, 2; AT X, S. 408.

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dies, ist die Gewißheit nicht mehr vom Gedächtnis abhängig und so auch kein zeitliches Nacheinander mehr vonnöten, sondern die ganze Reihe wird gleichermaßen in einer einzigen Intuition auf einmal erfaßt. 175 So zeigt sich Descartes Intuitionsbegriff hinsichtlich ihres Gegenstandsbereichs als dreigestuft. Grundlegend ist die Einsicht in einfachste Sachverhalte, darauf baut die Intuition von Relationen derselben auf, und schließlich können auch zunächst durch Deduktion erfaßte komplexe Sachverhalte intuiert werden, wenn man sich die Reihe der Begründungsschritte so präsent macht, daß deren Gewißheit nicht mehr vom Gedächtnis abhängt. Den grundlegenden Unterschied von Intuition und Deduktion sieht Descartes in der zeitlichen Struktur der beiden Erkenntnisweisen. Während die Intuition gegenwärtige Einsicht des aufmerksamen Geistes ist und sich ihr alles so Erfaßte als Ganzes auf einmal darstellt, ist die Deduktion durch das zeitliche Nacheinander von aufeinander aufbauenden Begründungsschritten charakterisiert. Da in der Deduktion auf bereits gewisse Einsichten zuückgegriffen wird, um aus ihnen Neues abzuleiten, ohne aber diese zugrunde gelegten logisch früheren Propositionen im Moment der Ableitung als gewisse präsent zu haben, ist die Deduktion auf die Hilfe des Gedächtnisses angewiesen, das die Gewißheit einer zu einem früheren Zeitpunkt gemachten Intuition sozusagen aufbewahrt. Hinsichtlich der Gewißheit hängt also die Deduktion vermittels des Gedächtnisses vollständig von derjenigen der Intuition ab. Hätte unser Geist nicht so eine begrenzte Fassungskraft („capacitas ingenii"), 176 so bedürften wir der Deduktion nicht, könnten alles durch Intuitionen einsehen. Allerdings läßt sich diese Fassungskraft durch Übung vergrößern, wodurch auch deduktive Reihen als Ganze in einer Intuition überschaut werden können. 177 175 Descartes sieht diese Möglichkeit nur für eine Deduktion vor, die „einfach und durchsichtig" („simplex et perspicua") ist, nicht hingegen für eine „vielfache und verwickelte" („multiplex et involuta"), welche letztere er „enumeratio" nennt. Von daher formuliert er die Möglichkeit einer Intuition einer deduktiven Reihe mit Vorbehalt: „quamobrem mihi necesse est illas iterata cogitatione percurrere, donee a prima ad ultimam tarn celeriter transierim, ut fere nullas memoriae partes relinquendo rem totam simul videar intueri." (Hhg. C.E.) 176 Regulae 11; AT X, S. 407. 177 An dieser Stelle sei bereits auf ein Problem hingewiesen, das uns im Zusammenhang der Verhältnisbestimmung von Spinozas Erkenntnistheorie mit Schleiermacher beschäftigen wird. Es ist in der Forschung wiederholt behauptet worden, nicht so sehr Schleiermachers Religionsbegriff, sondern vielmehr Goethes Methode der Naturforschung sei eine genuine Fortschreibung der spinozanischen scientia intuitiva (vgl. K. Cramer: „Anschauung des Universums". Schleiermacher und Spinoza [2000], S. 136. 138f; E. Förster: Bedeutung der §§ 76,77 der Kritik der Urteilskraft [2002], S. 188f). Förster verweist vor allem auf Goethes dreistufige Methode , zunächst eine vollständige Reihe der Gestaltungen zu erfassen, sodann die Übergänge im Geiste nachzuvollziehen, um schließlich die ganze Reihe als Darstellung einer Idee zu erfassen (S. 184f. 188). Mir scheint diese Methode weniger mit Spinozas dritter Erkenntnisart zu tun zu

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Als Hintergrund von Spinozas erkenntnistheoretischer Grundlegung erscheint mir Descartes Begriff des Intuitus besonders in den drei folgenden Hinsichten bedeutungsvoll: Erstens entwickelt Descartes mit seinem Intuitionsbegriff eine erkenntnisimmanente Begründung von Wahrheitsgewißheit:178 Die gegenwärtige Evidenz des klar und deutlich Erkannten ist durch die Orientierung an Prinzipien als einfachsten Elementen des Erkennens verbürgt. Zweitens beruht die Gewißheit logischer Ableitung nach Descartes nicht auf einem formalen System von Syllogismen, sondern verdankt sich dem intuitiven Einsehen einer Relation von Prinzipien. Deducere erscheint hier hinsichtlich der Gewißheitsproblematik als eine primäre Funktion der Intuition.179 Drittens folgt Erkenntnis nicht einer Zusammenstellung von Themen, sondern ist ausgerichtet an einer logischen Kausalordnung, deren erste Elemente als Prinzipien zur Ableitung daraus notwendig folgender Einsichten dienen. 180

B. Spinozas Begriff der Adäquatheit 1. Adäquatheit als intra-cogitative Bestimmung der Wahrheit Die traditionelle Wahrheitstheorie hat es mit der adaequatio rei et intellectus zu tun. 181 Spinoza ist weit davon entfernt, diese Bedeutung von Wahrheit abzulehnen. Im Gegenteil, es ist ein integraler Bestandteil seiner Konzeption, daß die wahre Idee mit ihrem Ideatum übereinstimmt. Nur benennt er diesen Aspekt der Wahrheit nicht mit dem traditionellen Begriff der adaequatio, sondern mit dem der convenientia.182 Auf diese

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haben, als vielmehr eine Übertragung der hier dargestellten cartesischen Methodologie der ,Regulae' auf die Beschreibung von natürlichen Phänomenen. Vgl. dazu unten S. 109. Vgl. Cassirer, Ernst: Descartes Wahrheitsbegriff (1937/1996), S. XLV-XLVHI. Lediglich im Hinblick auf die Erkenntnispraxis eines endlichen Geistes differenziert Descartes zwischen Intuition und Deduktion, wenn er Letztere als eine Bewegung des Denkens beschreibt, welche in Hinsicht auf die Gewißheit ihrer Gegenstände nicht ohne die Zuhilfenahme des Gedächtnisses geschieht. Martial Gueroult hat diese Programmtik zum Titel seines 1953 veröffentlichten Descartes-Buches gemacht: Descartes selon l'ordre des raisons. Die an den,Elementen' Euklids orientierte Ordnung der Gründe („l'ordre des raisons") steht der Zusammenstellung nach Themen („l'ordre des matieres") im Sinne der mittelalterlichen Summe gegenüber. Vgl. zur Durchführung dieses Programms insbesondere in den ,Regulae' D. Mahnke: Der Aufbau des philosophischen Wissens nach Descartes (1967), S. 11-50. Vgl. Thomas von Aquin: De veritate, qu. 1, art. 1. Vgl. dazu G. Schulz: Veritas est adaequatio intellectus et rei. Untersuchungen zur Wahrheitslehre des Thomas von Aquin (1993); R. Barth: Absolute Wahrheit und endliches Wahrheitsbewußtsein (2004), S. 69108, bes. S. 69-71. Eth. I, ax. 6: „Idea vera debet cum suo ideato convenire." Vgl. Eth. Π, def. 4, expl. und Ep. 60 an Tschirnhaus von 1675, ed. Geb. IV, S. 270. Auch bei Thomas von Aquin begeg-

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Weise hat er den Begriff der Adäquatheit frei, um eine Differenzierung in der Wahrheitstheorie vorzunehmen, die von geradezu fundamentaler Bedeutung für das Verständnis seiner Erkenntnistheorie ist. Er unterscheidet eine äußerliche von einer innerlichen Bestimmung der Wahrheit: Die Übereinstimmung von Idee und Ideatum wird weiterhin mit dem Begriff veritas benannt und als äußerliche Bestimmung der Wahrheit gekennzeichnet.183 Äußerlich (extrinsecus) ist diese Bestimmung insofern, als mit der Übereinstimmimg von Idee und Ideatum hier eine Relation zwischen Modi verschiedener Attribute Gottes gemeint ist: nämlich zwischen einer Idee als Modus des Denkens und einer res als Modus irgendeines anderen Attributs.184 Davon hebt Spinoza unter dem Begriff adaequatio die innerliche Bestimmimg der Wahrheit ab, welche einer Idee unabhängig von der Betrachtung der Übereinstimmung mit ihrem Gegenstand zukommt. 185 Innerlich („intrinsecus") ist diese Bestimmung insofern, als hier nicht die Übereinstimmung von Ideen mit den Modi anderer Attribute Gottes als deren Ideata angesprochen ist, sondern die Bestimmung der Wahrheit einer Idee innerhalb desselben Attributs, nämlich des net übrigens der adäquationstheoretische Aspekt der Wahrheit gelegentlich unter dem Begriff convenientia. Vgl. De veritate, qu. 1, art. 1\ „in anima autem est vis cognitiva [... ] convenientiam ergo entis ad [... ] intellectum exprimit hoc nomen verum." 183 Eth. Π, def. 4, expl.: „Dico intrinsecas, ut illam secludam, quae extrinseca est, nempe convenientiam ideae cum suo ideato." Vgl. Eth. Π, prop. 43, schol.: „si idea vera, quatenus tantum dicitur cum suo ideato convenire [... ] (quandoquidem per solam denominationem extrinsecam distinguuntur)" 184 Die in Eth. I entfaltete Strukturtheorie Gottes kann als großangelegter Versuch gelesen werden, das cartesische Problem der metaphysischen Ungewißheit bezüglich der Übereinstimmung von Idee und Sache zu unterlaufen, das dieser bekanntlich durch die Annahme der Wahrhaftigkeit Gottes, der uns in unseren uns gewiß erscheinenden Einsichten nicht täuschen kann. Vgl. zur Differenzierung der Probleme metaphysischer und empirischer Ungewißheit: Rod, Wolfgang: Gewißheit und Wahrheit bei Descartes (1962). Aus Spinozas Bestimmung, daß Denken und Ausdehnung als Attribute Gottes Wesen konstituieren, läßt sich, wenn man die Einheit Gottes als in mehreren Attributen gleichermaßen sich ausdrückend bestimmt, die Isomorphie realer und idealer Strukturen folgern, so daß eine Übereinstimmung von res und idea verbürgt ist. S. o. S. 48ff. 185 Eth. Π, def. 4: „Per ideam adaequatam intelligo ideam, quae, quatenus in se sine relatione ad objectum considerate, omnes verae ideae proprietates sive denominationes intrinsecas habet." („Unter adäquater Idee verstehe ich eine Idee, die, insofern sie in sich selbst ohne Beziehung auf einen Gegenstand betrachtet wird, alle Eigenschaften oder inneren Merkmale einer wahren Idee hat"). Vgl. Ep. 60, Opera IV, S. 270: „Inter ideam veram & adaequatam nullam aliam differentiam agnosco, quam quod nomen veri respiciat tantummodo convenientiam ideae cum suo ideato; Nomen aedaequati autem naturam ideae in se ipsa; ita ut revera nulla detur differentia inter ideam veram, & adaequatam praeter relationem illam extrinsecam." („Zwischen einer wahren und einer adäquaten Idee kenne ich keinen anderen Unterschied, als daß die Bezeichnung des Wahren sich bloß auf die Übereinstimmung der Idee mit ihrem Ideatum bezieht; die Bezeichnung des Adäquaten aber auf die Natur der Idee in sich selbst; so daß neben jener äußerlichen Relation kein Unterschied zwischen wahrer und adäquater Idee gegeben ist.")

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Attributs Denken, verbleibt. Man könnte also Spinozas Differenzierung von Veritas und adaequatio als Abhebung eines mfer-attributiven von einem mfra-attributiven Wahrheitskriterium bezeichnen. 186 Wie ist aber nun nach Spinoza ein intra-attributives, genauer „intra-cogitatives", 187 also nur auf der Ebene von Ideen anzusiedelndes Wahrheitskriterium zu kennzeichnen? Es ist für diese Frage entscheidend, daß Spinoza dem Begriff der Adäquatheit zwei Merkmale zuordnet, die er als im Umkreis der cartesischen Philosophie bekannt voraussetzt. Es sind die der Klarheit und Deutlichkeit.188 Spinoza übernimmt hier die Begrifflichkeit, mit der Descartes die allein Gewißheit verbürgende Erkenntnisform des „Intuitus" gekennzeichnet hatte. 189 Da nun Spinoza selbst keine eigentliche Definition der beiden Begriffe vornimmt und auch nicht angenommen 186 Garrett zeigt auf, daß Spinoza (ebenso wie Leibniz) Wahrheit auch als innere Bestimmung von Ideen ansieht. Damit habe sich Spinoza gegenüber Descartes Wahrheitsregel, das klar und deutlich Erkannte sei wahr, abgegrenzt, indem er nicht wie Descartes ein Kriterium für Wahrheit benötige, sondern die Wahrheit als ein internes und einsehbares Merkmal von Ideen bestimme. Vgl. D. Garrett: Truth, Method and Correspondence in Spinoza and Leibniz (1990), S. 16f. Mir scheint Garretts Entgegensetzung von Spinoza und Descartes in diesem Punkt nicht völlig klar. Es sind hier zwei Probleme zu differenzieren: zum einen die Frage der Übereinstimmung von Idee und Gegenstand, zum anderen die besondere Problematik menschlicher Erkenntnis. In Bezug auf das erste Problem unterläuft Spinoza den cartesischen prinzipiellen Zweifel durch eine metaphysische Grundlegung, in der die Einheit der Substanz die Übereinstimmung von Idee und Ideatum (als Modi verschiedener Attribute dieser einen Substanz) verbürgt. Näherhin ist es die Theorie des unendlichen Verstandes, in der der prinzipielle Sachbezug von Ideen expliziert wird (Vgl. W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen [1992], S. 78). Was das besondere Problem menschlicher Erkenntnis betrifft, so kommt menschlichen Ideen nach Spinoza ebenso der genannte prinzipielle Sachbezug zu, aber der menschliche Geist kann Ideen auch so verknüpfen, daß vermeinter Gegenstandsbezug und tatsächlicher Gegenstandsbezug nicht identisch sind. Angesichts dieser spezifisch menschlichen Problematik beschreibt Spinoza interne Merkmale von Wahrheit und zwar mit den cartesischen Begriffen Klarheit und Deutlichkeit, anhand derer der menschliche Geist wahre Ideen auch als wahre Ideen erkennen kann. Die Differenzierung von externem und internem Wahrheitsbegriff (d. h. von Veritas und adaequatio) steht also bei Spinoza in einem erkenntnistheoretischen Kontext. Während Spinoza Descartes' Lösung des Übereinstimmungsproblems, diese sei durch die Wahrhaftigkeit Gottes gewährleistet, als unbefriedigend ablehnt und seine eigene Metaphysik dagegenstellt, knüpft er im Problem von Wahrheitserfcettnfm's an Descartes an, indem er dessen Begrifflichkeit der claritas und distinctio zu einer Theorie adäquater Erkenntnis als möglicher menschlicher Wahrheitserkenntnis heranzieht. Letzteres werde ich im Folgenden entfalten. 187 Martial Gueroult (Spinoza Π [1974], S. 68) gebraucht diesen Begriff zur Differenzierung des durch Eth. Π, prop. 7 behaupteten „Parallelismus". Der „intra-cogitative Parallelismus" verbürgt die Entsprechung von Ideen und Ideen dieser Ideen. Vgl. dazu oben S. 55ff. Mir scheint dieser Begriff - aus demselben sachlichen Grund - geeignet, die theoretische Ebene des Wahrheitskriteriums der Adäquatheit anzugeben. 188 Eth. Π, prop. 36: „Ideae inadaequatae, et confusae eadem necessitate consequuntur, ac adaecjiiatae, sive clarae, ac distinctae ideae." (Hhg. C.E.) Vgl. ebenso Eth. Π, prop. 38, corol.; Eth. ΙΠ, def. 1; Eth. V, prop. 28, dem. u.ö. 189 S. o. S. 62ff.

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werden kann, daß er die cartesische Bedeutung schlicht übernimmt, soll hier zunächst den Erläuterungen Spinozas nachgegangen werden, unter welchen Bedingungen die Merkmale der Klarheit u n d Deutlichkeit für Vorstellungen nicht gegeben sind. Als Gegenbegriffe zu klar u n d deutlich firmieren als Oberbegriff „verworren" im weiteren Sinne (idea confusa), näherhin „verstümmelt" (mutilata) und „verworren" im engeren Sinne (confusa). 190

2. Klarheit als Differenziertheit von anderen Ideen (Gegensatz: idea mutilata) U m den Begriff der Klarheit zu explizieren, wenden wir uns also zunächst dem zu, was Spinoza unter einer „verstümmelten" Vorstellung (idea mutilata) versteht. Es ist eine solche Vorstellung, die eine aus vielem zusammengesetzte Sache ganz zu erfassen meint, tatsächlich aber nur zum Teil erfaßt u n d dabei das tatsächlich Erfaßte nicht als solches weiß. 191 In Bezug auf das Ideatum ist eine solche Vorstellung also uneindeutig, denn sie scheint sich auf einen größer gefaßten Gegenstandsbereich zu beziehen, als sie tatsächlich repräsentiert. Daher wird diese Vorstellung „verstümmelt" genannt. Denn ihren vermeintlichen Gegenstand repräsentiert sie nur zum Teil (ex parte). Aber diese nur teilweise Repräsentation könnte auch in einer Wahrheitstheorie, die von der Übereinstimmug der Idee mit dem Gegenstand ausgeht, eine Rolle spielen. Für eine Wahrheitstheorie, die nicht auf den korrespondenztheoretischen Aspekt der Wahrheit eingeht und also auf der Ebene der Ideen verbleibt, ist gewichtiger, daß die Repräsentation des Gegenstands nicht als unvollständige gewußt wird: das Bekannte, d. h. das tatsächliche Ideatum der Idee, wird nicht vom Unbekannten, d. h. vom vermeinten Gegenstandsbereich unterschieden. Eine solche Unterscheidung kann aber nur durch die Überprüfung einer Vorstellung durch eine weitere Vorstellung, also durch eine Idee der Idee stattfinden. Spinoza nennt diese Art der Ideierung, in der sich eine Idee auf eine andere als auf 190 Das Prädikatenpaar mutilata et confusa erscheint in der Ethica durchgängig als Explikation von Inadäquatheit von Ideen bzw. als Gegensatz zu Klarheit und Deutlichkeit. Eth. Π, prop. 29, corol.; Eth. Π, prop. 35. Für Verworrenheit von Vorstellungen (ideae confusae) als Oberbegriff von „ideae mutilatae et confusae" im Gegensatz zu Adäquatheit vgl. Eth. Π, prop. 28. 191 TIE § 63, Ba 56/Geb 24: „omnis confusio inde procedat, quod mens rem integram, aut ex multis compositam, tantum ex parte noscat, et notum ab ignoto non distinguat; praeterea quod ad multa, quae continentur in unaquaque re, simul attendat sine ulla distinctione". Confusio ist hier als Oberbegriff verwendet, worunter die beiden durch das „praeterea" getrennten Merkmale fallen. Vgl. die dahingehende Interpretation bei B. Rousset: Traite de la Reforme de l'entendement (1992), S. 305.

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ihr Ideatum bezieht, eine cognitio reflexiva.192 Freilich bedürfte es eines Kriteriums, um bei einer solchen intra-cogitativen Überprüfung den tatsächlichen Gegenstandsbereich von dem vermeinten zu unterscheiden. Gesetzt ein solches Kriterium stünde zur Verfügung, so wäre es möglich, die „verstümmelte Idee" als solche zu erkennen. Das Kriterium kann aber nur eine Idee sein, die sich auf nichts anderes als auf ihr tatsächliches Ideatum bezieht und das - durch cognitio reflexiva - auf bewußte Weise. Genau als eine solche Idee ist die idea clara konzipiert und im Vergleich mit ihr kann erst die idea mutilata als idea mutilata erkannt werden. Dies ist der Sinn des berühmten Satzes, die Wahrheit sei das Kriterium ihrer selbst und des Falschen. 193 Hier bedeutet er: Die klare Idee ist das Kriterium ihrer selbst und der unklaren Idee. Wohl zu bemerken ist, daß die klare Idee nicht durch die Übereinstimmung mit ihrem Ideatum gekennzeichnet ist, sondern dadurch, daß sie mittels cognitio reflexiva in diesem Bezug auf das Ideatum gewußt wird. Darauf wird noch einzugehen sein.

3. Deutlichkeit als Differenziertheit in Teilbestimmungen (Gegensatz: idea confusa) Wenden wir uns jetzt aber dem Merkmal der Deutlichkeit bzw. zunächst dem Gegenbegriff, der Verworrenheit einer Vorstellung zu. Eine idea confusa ist eine solche Vorstellung, die das in einer Sache Enthaltene „auf einmal" und undifferenziert erfaßt. 194 Während die unklare Vorstellung nicht zwischen tatsächlich und vermeintlich Repräsentiertem differenziert, liegt bei der undeutlichen Vorstellung mangelnde Differenzierung in Bezug auf das tatsächlich Repräsentierte vor. Eine undeutliche Vorstellung repräsentiert mit anderen Worten ein Ganzes, ohne die Teile des 192 TIE § 38, Ba 3 2 / G e b 15f. Spinoza gebraucht also den Begriff der reflexiven Erkenntnis nicht in dem Sinne, daß sich eine Idee auf sich selbst richtet, sondern reflexiv ist hier wiederum von der Attributenlehre her zu verstehen: reflexiv ist diejenige Erkenntnis, die sich auf einen anderen Gedanken, d. h. wiederum auf einen Modus des Denkens, als auf ihr Ideatum zurückwendet und sich nicht etwa auf Modi anderer Attribute, bezieht. Man könnte statt von reflexiver Erkenntnis auch von intra-cogitativer Erkenntnis sprechen. 193 Eth. Π, prop. 43, schol.: „Sane sicut lux seipsam, et tenebras manifestat, sic Veritas norma sui et falsi est." („Wahrlich, wie das Licht sieht selbst und die Finsternis deutlich macht, so ist die Wahrheit die Norm ihrer selbst und des Falschen.") Vgl. TIE § 35, Ba 3 0 / G e b 15: „quod ad certitudinem veritatis nullo alio signo sit opus, quam veram habere ideam." („daß zur Gewißheit kein anderes Zeichen nötig sei, als eine wahre Idee zu haben".) Vgl. Ep. 76, Opera IV, S. 320: „verum index sui et falsum." („das Wahre ist Kennzeichen seiner selbst und des Falschen.") 194 TIE § 63, Ba 5 6 / G e b 24: „omnis confusio inde procedat, quod [ . . . ] ; praeterea quod ad multa, quae continentur in unaquaque re, simul attendat sine ulla distinetione".

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Ganzen differenziert aufzufassen. Ohne diese Differenzierung kann aber nicht darüber entschieden werden, ob die Teile des Ganzen für sich genommen tatsächlich repräsentiert werden. Wiederum steht also die Frage der Übereinstimmung von Idee und Ideatum als die originäre Frage nach der Wahrheit zur Debatte. Mag zwar die undeutliche Idee ihr Ideatum in allen seinen Teilen tatsächlich repräsentieren, so bleibt dies aber wegen der Undifferenziertheit in Bezug auf die Teile auch einer cognitio reflexiva verborgen. Erst eine deutliche Idee, die die Teile eines Ganzen differenziert erfaßt, kann durch eine Idee der Idee als deutliche Idee, d. h. als eine tatsächliche Repräsentation eines in sich ausdifferenzierten Ganzen, auch gewußt werden. Sie bietet zugleich die Möglichkeit, die undeutliche als undeutliche zu beurteilen. So gilt auch hier: In einer intra-cogitativen Prüfung der Wahrheit einer Idee ist die deutliche Idee das Kriterium ihrer selbst und des Undeutlichen.

4. Zusammenfassung Dreierlei ist für den Begriff der adäquaten Idee festzuhalten. Erstens ist sie bewußtseinstheoretisch von der wahren Idee insofern unterschieden als die Übereinstimmung von Idee und Ideatum, Kriterium der Wahrheit, nicht nur besteht, sondern gewußt wird. Letzteres geschieht in einer Ideierung der Idee selbst als in einer intra-cogitativen Reflexion. Zweitens ist es ein Merkmal einer adäquaten Idee, daß sie, sofern sie in ihrem Bezug auf ihr Ideatum gewußt wird, auch als verschieden von anderen Ideen, deren Ideata von ihr nicht repräsentiert werden, gewußt wird. Dies ist das Merkmal der Klarheit. Adäquate Ideen werden nach dem Merkmal der Klarheit also als von anderen Ideen differenzierte aufgefaßt. Drittens ist eine adäquate Idee durch das Merkmal ausgezeichnet, daß sie in all ihren Teilbestimmungen als mit ihrem Gegenstand übereinstimmend gewußt wird. Dies ist das Merkmal der Deutlichkeit. Adäquate Ideen werden nach dem Merkmal der Deutlichkeit also in ihrer inneren Struktur differenziert aufgefaßt. Der Begriff der Adäquatheit läßt sich zusammenfassend als Differenziertheit von Ideen sowohl in Hinsicht auf andere Ideen als auch in Hinsicht auf ihre innere Struktur kennzeichnen. Adäquatheit ist damit das Moment einer wahren Idee, welches die Merkmale der Wahrheit in einem intra-cogitativen oder menschlich gesprochen: in einem intra-mentalen Bezug zum Ausdruck bringt.

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C. Die beiden Erkenntnisarten neben der Scientia Intuitive 1. Imaginatio als inadäquates Vorstellen Spinozas Ausgangspunkt für die Analyse menschlicher Vorstellungen 195 ist die in sein System als Axiom eingeführte Erfahrungstatsache, daß wir unseren Körper als auf vielfache Weise affiziert empfinden. 196 Daraus wird entwickelt, daß der menschliche Geist (mens humana) die Repräsentation des wirklich existierenden menschlichen Körpers ist (Eth. II, prop. 13). Zunächst heißt das, daß die Vorstellungen, die im menschlichen Geist sind, sämtlich solche von „Affektionen des menschlichen Körpers" sind (Eth. II, prop. 12). Um Spinozas Einschätzung dieser Vorstellungen nachzuvollziehen, ist es nötig zu untersuchen, was er unter einer Affektion des Körpers versteht. Im Gang der Argumentation des zweiten Teils der Ethik schiebt Spinoza aus diesem sachlichen Grund nach Eth. II, prop. 13 eine am Bewegungsbegriff orientierte Skizze einer allgemeinen Körperlehre ein, die darauf zielt, die Struktur von Affektionen des menschlichen Körpers zu erläutern. 197 Über den menschlichen Körper („corpus humanum") stellt Spinoza folgendes fest: Der menschliche Körper ist ein aus sehr vielen Einzelkörpern (individua) zusammengesetzter Körper, wobei die Einzelkörper ihrerseits ein hohes Maß an Komplexität aufweisen und verschiedene „Naturen" haben. 198 Ein zusammengesetzter Körper hat seine „Natur" in der Regelhaftigkeit der Bewegungsverhältnisse der ihn konstituierenden Körper und unterscheidet sich dadurch von anderen. 199 Ein komplexerer, aus zusammengesetzten Körpern zusammengesetzter Körper wie es der menschliche Körper ist, hat seine Natur in der Regelhaftigkeit der Bewegungsverhältnisse der in sich komplexen Körper, die ihn konstituieren. Auf dieser Kennzeichnung des menschlichen Körpers als eines komplex strukturierten Körpers baut das Verständnis von Affektion auf: Komplexe Körper können auf verschiedene Weise affiziert werden, ohne ihre Natur zu verlieren. Grundstrukturen solcher Affektion sind Austausch von 195 Ich verwende den deutschen Ausdruck „Vorstellung" als Übersetzung von „idea" ganz allgemein, nicht etwa als terminus technicus für ein Produkt der imaginatio. 196 Eth. Π, ax. 4: „Nos corpus nostrum multis modis affici sentimus." 197 Im Scholium vor Eth. II, prop. 14 bemerkt Spinoza, daß er, um die Körperlehre eingehender (ex professo) zu behandeln, sie hätte weiter ausführen und beweisen müssen. Aber er ist hier nicht an der Physik als solcher interessiert, sondern nur, insofern sie für die Theorie menschlichen Erkennens von Belang ist. Spinoza schließt sich in seiner Skizze der Physik weitgehend an Descartes an. Vgl. dazu A. Donagan: Spinoza (1988), S. 97-102. 198 Eth. Π, prop. 13, post. 1: „Corpus humanum componitur ex plurimis (diversae naturae) individuis, quorum unumquodque valde compositum est." 199 Vgl. die Definition des „Individuums" Eth. Π, prop. 13, def. und Eth. Π, prop. 13, lemma 4-7, die die interne Regelhaftigkeit der Bewegungsverhältnisse als natura bezeichnen.

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Teilkörpern (Eth. II, prop. 13, lemma 4), Wachstum und Schrumpfung (lemma 5), Bewegung von Teilen (lemma 6) und Ortsveränderung des Gesamtkörpers (lemma 7).200 Die Natur des Körpers wird in all diesen Fällen beibehalten, weil die Regelhaftigkeit der internen Bewegungsverhältnisse nicht verändert wird. Grundlegend für die nachfolgende Argumentation ist nun der in einem Axiom festgehaltene Grundsatz, daß die Art und Weise der Affektion eines Körpers sowohl von seiner eigenen Natur - als dem Inbegriff interner Bewegungsverhältnisse - als auch von der Natur des affizierenden Körpers abhängt (sequuntur). 201 Auch die Art und Weise der Affektion des menschlichen Körpers als sein je bestimmter Zustand beruht daher auf der Natur des menschlichen Körpers und der Natur des affizierenden äußeren Körpers. Insofern sind beide Naturen als Ursachen des bestimmten Körperzustands anzusehen. Vor diesem Hintergrund kann Spinoza nun Weiteres über Vorstellungen, die die Affektionen des menschlichen Körpers zu ihrem Gegenstand haben, folgern. Dabei greift er auf Eth. I, ax. 4 zurück, ein Axiom, das für die erkenntnistheoretische Bestimmung und Unterscheidung der Erkenntnisarten von großem Gewicht ist, und hier deshalb einer ausführlicheren Erörterung bedarf. Eth. I, ax. 4 betrifft den Zusammenhang solcher Ideen, deren Ideata in der Relation von Ursache und Wirkung stehen und fungiert damit als Scharnier zwischen der Kausalstruktur im Gehalt von Vorstellungen und derjenigen dieser Vorstellungen selbst. Die ontologischen Implikationen dieses Axioms habe ich oben im Zusammenhang der ontologischen Grundlagen verhandelt. 202 Hier ist es nun auf seine epistemologischen Implikationen hin zu untersuchen. Das Axiom ist ganz allgemein formuliert: „Die Erkenntnis einer Wirkung hängt von der Erkenntnis der Ursache ab und involviert dieselbe". 203 Zweierlei ist damit festgeschrieben: Zum einen die Dependenz der Erkenntnis einer Wirkung von der Erkenntnis ihrer Ursache: Erkenntnis eines Sachverhalts ist danach nur möglich durch Erkenntnis seiner Ursachen. Zum anderen wird ein Einschlußaussage über die Erkenntnis einer Wirkung gemacht. Der Gegenstand des involvere unterliegt hierbei einem gewissen Doppelsinn, da das Bezugswort zu „eandem" sowohl „causae" als auch „cognitio causae" sein könnte. Einerseits könnte so die 200 Daß Spinoza diese körperlichen Veränderungen als Affektionen versteht, gibt er durch die zusammenfassende Bemerkung im Scholium vor Eth. Π, prop. 14 zu verstehen: „Daraus sehen wir also, wie ein zusammengesetztes Individuum auf vielfache Weise affiziert werden kann und nichtsdestoweniger seine Natur bewahrt." 201 Axiom 1 nach Eth. Π, prop. 13, lemma 3, corol.: „Omnes modi, quibus corpus aliquod ab alio afficitur corpore, ex natura corporis affecti et simul ex natura corporis afficientis sequuntur." 202 S. o. S. 58ff. 203 Eth. I, ax. 4: „Effectus cognitio a cognitione causae dependet et eandem involvit."

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Implikation der Erkenntnis der Ursache in der Erkenntnis der Wirkung gemeint sein, andererseits diejenige der Ursache selbst. 204 Spinoza intendiert wohl durch diese Uneindeutigkeit eine vermittelnde Position, denn beide Lesarten sind für sich genommen nicht annehmbar: Auf der einen Seite kann eine Erkenntnis der Ursache nicht vollständig in der Erkenntnis der Wirkung enthalten sein. 205 Dem würde die im ersten Teil des Axioms ausgedrückte Dependenz der Erkenntnis der Wirkung von der Erkenntnis ihrer Ursache widersprechen 2 0 6 Es gäbe dann im Grunde nur adäquate Erkenntnisse, weil in jeder Erkenntnis einer Wirkung deren Ursachen vollständig gewußt würden. Auf der anderen Seite würde, da das Axiom nicht auf solche cognitiones eingeschränkt ist, deren Ideata selbst Ideen sind, die These einer Implikation der Ursache des Ideatums in der Idee der Wirkving die kategoriale Trennung der Attribute in Frage stellen: eine Erkenntnis, mag sie auch einen Sachverhalt eines anderen Attributs zum Gegenstand haben, kann nichts anderes als einen Erkenntnissachverhalt enthalten (Eth. II, prop. 5). Wie ist aber nun das „involvere" zu interpretieren? Welche Art von Kenntnis ist in der Erkenntnis der Wirkung über die Ursache eingeschlossen? Mir scheint, daß Spinoza hier eine solche epistemische Funktion vor Augen hat, über deren Adäquatheitsstatus noch nichts ausgesagt werden soll. Man könnte sie als eine Referenzfunktion verstehen. Charakteristikum des involvere im Sinne des Axioms scheint mir der Sachverhalt, daß die Idee der Wirkung auf die Ursache referiert, ohne daß damit aber bereits eine notwendig adäquate Erkenntnis der Ursache gemeint wäre. 207 Das Involvieren der Ursache des Ideatums hieße somit für eine Idee, daß in dem Bezug auf das Ideatum der Verweis auf dessen Ursache enthalten ist. Ich schlage deshalb für Eth. I, ax. 4 folgende Reformulierung vor: „Die Erkenntnis der Wirkung hängt von der Erkenntnis der Ursache ab und schließt einen Verweis auf diese Ursache ein." 204 Vgl. M. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 418, Anm. 7. 205 M. D. Wilson weist im Zusammenhang der Analyse von Eth. Π, prop. 7, dem. auf die Beschränktheit der involvierten Erkenntnis hin. Vgl. M. D. Wilson: Spinozas causal axiom (Eth.I,ax.4) (1991), S. 148: „...,involvement' of cause in effect is somehow limited. For, if all ideas in the human mind involved the full chain of their causes without limit, then, it seems, there could only be adequate knowledge, or knowledge that contains the premises' as well as the conclusions' (EIIp28d)." 206 Hätte Spinoza eine gleichwertige Interdependenz der Erkenntnisse ausdrücken wollen, hätte er nicht unterschiedliche Verben gebraucht. 207 Gueroult weist darauf hin, daß Erkenntnis durch Ursachenerkenntnis wahre Erkenntnisse kennzeichne, wohingegen Unkenntnis der Ursachen Falschheit impliziere. Spinozas Axiom entspreche so der von Bacon und Hobbes gebrauchten Formel: „Vere scire est scire per causas" (M. Gueroult: Spinoza I [1968], S. 96). Dies ist sicherlich korrekt, aber das Axiom darf nicht auf diesen Aspekt reduziert werden. Gerade in Bezug auf den zweiten Teil des Axioms, das Involvieren, wird es von Spinoza auch auf inadäquate Erkenntnisse angewandt. Wilson (Spinozas causal axiom [1991], S. 147-154) zeigt dies anhand der Verwendung von Eth. I, ax. 4 in Eth. II, prop. 7 und Eth. Π, prop. 16.

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Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück. Wenn nach dem 4. Axiom des 1. Teils die Vorstellung einer Wirkung einen Verweis auf die Ursache in sich enthält, so wird die Vorstellung einer Affektion des menschlichen Körpers also Verweise sowohl auf die Natur des menschlichen Körpers als auch auf die des affizierenden Körpers enthalten (Eth. II, prop. 16). 208 Denn beide Naturen, die des eigenen, wie des affizierenden Körpers waren als Ursachen des Körperzustands bestimmt worden. Da vom Involvieren her noch gar keine Entscheidimg über den wahrheitstheoretischen Status des Verweises auf die beiden Naturen als Ursachen feststeht, muß ein Urteil über die Adäquatheit oder Inadäquatheit dieser Vorstellung in Bezug auf die Repräsentation des eigenen Körpers bzw. affizierender äußerer Körper allererst gefällt werden. Es ergibt sich durch Rückgriff auf die Adäquatheitskriterien des Klaren und Deutlichen. Die Vorstellung eines Körperzustands ist nicht klar, weil sie, statt als Idee des eigenen Körpers von der des affizierenden äußeren Körpers differenziert zu sein, auf die „Naturen" beider Körper zugleich verweist. Dazu kommt, daß, wäre diese Differenzierung auch gegeben, die Idee des eigenen Körpers nicht in sich differenziert, d. h. undeutlich ist: Die den eigenen Körper konstituierenden komplexen Teilkörper sind in der Idee des eigenen Körpers jeweils nur insofern repräsentiert, als sie bezogen sind auf das regelhafte Bewegungsverhältnis, das sie mit den anderen Teilkörpern innehaben. Die Ideen der Teilkörper sind also in der Idee des menschlichen Körpers nicht differenziert von einander (und dann aufeinander bezogen), sondern nur in undifferenzierter Bezogenheit aufeinander enthalten (Eth. II, prop. 24). Analoges gilt für einen den eigenen Körper affizierenden äußeren Körper. Die Idee desselben ist in der Vorstellung der Körperaffektion nur als die Idee des Teilmoments des affizierenden Körpers enthalten, welches die Affizierung verursacht hat. Diese Idee des Teilmoments wird aber nicht differenziert von der anderer Teilmomente des äußeren Körpers, sondern als ein Ganzes repräsentierend genommen (Eth. II, prop. 25). Auch die Idee des äußeren Körpers ist daher nicht in sich differenziert hinsichtlich ihrer die Teile des äußeren Körpers repräsentierenden Teilideen und ist daher undeutlich. Die Auffassungen des eigenen Körpers und der ihn affizierenden äußeren Körper in der Vorstellung einer Körperaffektion sind im menschlichen Geist also weder klar noch deutlich und daher inadäquat (Eth. II, prop. 28). Dieses Ergebnis hat auch eine Bedeutung hinsichtlich des Status der Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes. Es ist eine Konsequenz aus 208 Vgl. die anschauliche Darstellung des Sachverhalts anhand des Beispiels der Sinnestäuschung über die vermeintliche Größe der Sonne (TIE § 78; Ba 70-73/Geb 30) bei Y. Yovel: The second kind of knowledge and the removal of error (1994), S. 103ff.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

der Inadäquatheit der Erkenntnis des eigenen Körpers, daß auch die erneute Ideierung der Vorstellung der Körperaffektion keine adäquate Erkenntnis des menschlichen Geistes darstellt (Eth. II, prop. 23). Ist der menschliche Geist nämlich als die Repräsentation des menschlichen Körpers bestimmt, so müßte eine adäquate Erkenntnis, die den menschlichen Geist zum Gegenstand hat, eine Vorstellung der adäquaten Vorstellung des menschlichen Körpers sein. Da eine Vorstellung einer Körperaffektion aber nur eine inadäquate Vorstellung des menschlichen Körpers enthält, kann die Vorstellung dieser Vorstellung auch nur inadäquat sein (Eth. II, prop. 29). Insgesamt sind die hier von Spinoza gemachten Aussagen über die Inadäquathext allerdings nicht so zu verstehen, daß der menschliche Geist sich der Erkenntnis des eigenen Körpers, seiner selbst bzw. äußerer Körper mittels Vorstellungen von Körperaffektionen als inadäquater bewußt würde. Dazu bedürfte es nicht nur einer reflexiven Auffassung dieser Vorstelltingen, sondern vor allem einer adäquaten Erkenntnis des eigenen bzw. äußerer Körper, im Vergleich mit der sich die Indaquätheit der Vorstellungen erst als solche wissen läßt. Um die Möglichkeit adäquater Erkenntnis vor dem Hintergrund der Verfaßtheit des menschlichen Geistes, soll es daher im nächsten Abschnitt gehen.

2. Die Möglichkeit adäquater Erkenntnis Nachdem Spinoza in der im letzten Abschnitt dargestellten Weise breit entfaltet hat, daß die Vorstellung eines Körperzustands im menschlichen Geist weder eine adäquate Erkenntnis des eigenen Körpers, noch eine solche äußerer Körper, noch des menschlichen Geistes ist, geht er daran, vor diesem pointierten Begriff der Inadäquatheit die Möglichkeit adäquater Erkenntnis aufzuzeigen. Dabei wählt er mitnichten einen anderen Ausgangspunkt des menschlichen Erkennens, als könne der menschliche Geist gleichsam aus höherer Quelle über andere Vorstellungen als über die seiner Körperaffektionen verfügen. 209 Nein, der Ausgangspunkt bleibt derselbe, aber Spinoza reflektiert darüber, ob in diesen Vorstellungen von Körperaffektionen nicht Momente enthalten sind, die den Mangel an Differenziertheit inadäquater Erkenntnis nicht an sich haben; anders gesagt, ob der menschliche Geist adäquate Vorstellungen haben 209 Dieser Punkt ist in Erinnerung zu behalten. Schleiermacher wird sich in seinem Verständnis Spinozas gegen Jacobi darauf berufen. Statt wie dieser eine „zweite Seele" zu postulieren, die nun an der empirischen Gehaltlichkeit vorbei nicht-empirische Sachverhalte erkennt, sieht Schleiermacher es als für Spinoza grundlegend an, daß der Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis im empirischen Bewußtsein bestimmter Körperlichkeit liegt. S.u. Teil Π, S. 246ff.

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kann als solche Vorstellungen, die das Kriterium der äußeren und inneren Differenziertheit, d.h. der Klarheit und Deutlichkeit, erfüllen. Spinoza zeigt zwei allgemeine Bedingungen auf, unter denen adäquate Erkenntnis für den menschlichen Geist möglich ist. Die erste, objektlogische, betrifft die Bestimmung dessen, was „allen Dingen gemeinsam" ist. Die zweite, subjektlogische, betrifft die Möglichkeit der Bildung reflexiver Erkenntnis, in der der Status einer Vorstellung als solcher gewußt werden kann. Wenden wir uns zuerst der objektlogischen Bedingimg zu. Geht man von den Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit aus, so sind Gegenstände denkbar, deren Vorstellungen nicht anders als adäquat sein können. Ist es nämlich ein Mangel an Differenziertheit, der inadäquate Vorstellungen kennzeichnet, so kann die Vorstellung dessen nur adäquat sein, das, um aufgefaßt zu werden, keiner Differenzierung bedarf. Den Begriff eines solchen Gegenstands bildet Spinoza in Eth. II, prop. 37 und stellt im darauffolgenden Lehrsatz fest: „Merkmale, die allem gemeinsam sind und die gleichermaßen im Teil wie im Ganzen sind, können nur adäquat begriffen werden." 210 Die Bestimmung „allem gemeinsam" wird expliziert durch „gleichermaßen im Teil wie im Ganzen". 211 Der Lehrsatz wird verständlich, wenn man die zwei Elemente dieser Explikation auf die zwei Kriterien der Adäquatheit, d.h. auf Klarheit und Deutlichkeit bezieht. Denn ist etwas im Teil gleichermaßen wie im Ganzen, so ist es unmöglich, davon eine unklare Vorstellung zu bilden. Unklarheit hieße, daß die Vorstellung das Ideatum nur teilweise repräsentiert lind in der Vorstellung der bekannte nicht vom imbekannten Teil differenziert ist. Eine Teilrepräsentation eines Merkmals, das dem Teil gleichermaßen wie dem Ganzen zukommt, ist aber nicht denkbar, da auch die Vorstellung nur eines Teils das allen gemeinsame Merkmal repräsentiert. Folglich ist das, was allen Dingen gemeinsam ist, in jeder Vorstellung vollständig repräsentiert und es besteht in der Vorstellung keine Vermischung von bekannten und unbekannten Teilaspekten desselben. 210 Eth. Π, prop. 38: „lila, quae omnibus communia quaeque aeque in parte ac in toto sunt, non possunt concipi nisi adaequate." Bartuschat (1999, S. 173) übersetzt „illa, quae omnibus communia" mit „Merkmale, die allen Dingen gemeinsam sind". Dabei ist zu beachten, daß mit „Dingen" hier im Sinne des allgemeinen Begriffs von „res" noch keine Festlegung auf Körper gemeint ist. „Res" kann gleichermaßen auch Ideelles bezeichnen. Das omnia ist hier also im Sinne dieses allgemeinen Ding-Begriffs offen. Spinoza bezieht diesen Lehrsatz entsprechend sowohl auf Merkmale von Körpern (Eth. Π, prop. 38, dem.; Eth. Π, prop. 38, corol.; Eth. Π, prop. 39 et corol.) als auch auf Merkmale von Ideen (Eth. Π, prop. 46, dem.). Vgl. zu Letzterem unten S. 94. 211 Gueroult (Spinoza Π [1974], S. 327) verweist darauf, daß in dieser Bestimmung von gemeinsamen Merkmalen als gleichermaßen im Teil wie im Ganzen bereits die Abgrenzung zum traditionellen Begriff von Universalien liege. Vgl. zum spinozanischen Begriff der notiones communes unten S. 80.

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Das zweite Element der Explikation, nämlich daß das allen Dingen Gemeinsame gleichermaßen im Ganzen wie im Teil sei, schließt die undeutliche Auffassung desselben aus. Undeutlichkeit einer Vorstellung zeigt sich darin, daß diese in sich undifferenziert ist und so eine Sache nur als ein Ganzes repräsentiert, ohne deren Binnendifferenzierungen mit zu repräsentieren. Demgegenüber braucht die Vorstellung von etwas, das gleichermaßen im Ganzen wie im Teil ist, in sich nicht differenziert zu werden. Denn auch die in sich undifferenzierte Vorstellung nur eines Ganzen repräsentiert das Merkmal auf gleiche Weise wie es solche Vorstellungen tun, die Binnendifferenzierungen eines Ganzen repräsentieren. Vom Objekt der Vorstellung her gesehen sind nach den obigen Überlegungen die Voraussetzungen für Adäquatheit gegeben. Denn allein nach logischen Gesichtspunkten ist das, was gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist, sowohl in einer noch so partiellen Vorstellung einer Sache als auch in einer in sich völlig undifferenzierten Gesamtvorstellung auf angemessene Weise enthalten. Nun kann also vom Objekt der Vorstellung her Inadäquatheit ausgeschlossen werden. Dies ist aber noch nicht hinreichend. Zum Begriff der Adäquatheit gehört es nämlich auch, daß die in Rede stehende Vorstellung als von anderen Vorstellungen differenziert gewußt wird. D. h. erst mit dem Wissen der Vorstellung dessen, was gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist, als differenziert von anderen Vorstellungen - beispielsweise von solchen Vorstellungen, die die Essenz von Einzelnem repräsentieren (Eth. II, prop. 37) - , ist der Vollbegriff der Adäquatheit erreicht. Soll dem menschlichen Geist adäquate Erkenntnis möglich sein, müssen also zwei Bedingungen erfüllt sein: Zum einen muß es in dem dem menschlichen Geist zugänglichen Objektbereich etwas geben, das gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist, zum anderen muß der menschliche Geist in der Lage sein, Vorstellungen von Vorstellungen (idea ideae) zu bilden, um die Vorstellung dessen, was gleichermaßen im Teil wie im Ganzen ist, von anderen Vorstellungen differenziert aufzufassen.

3. Ratio Was im letzten Abschnitt als allgemeine Bedingungen für die Möglichkeit adäquater Erkenntnis durch den menschlichen Geist dargestellt wurde, ist nun auf die spezifische Verfassung des menschlichen Geistes, wie ihn Spinoza konzipiert hat, zu beziehen. Die Vorstellungen des menschlichen Geistes sind auf Körper und auf Ideen gerichtet (Eth. II, ax. 5). In seiner Deduktion der Vernunftbegriffe, die zwar allgemeinere Aussagen zulie-

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ße, beschränkt sich Spinoza jedoch darauf, Vorstellungen von Körpern ins Auge zu fassen. Dem folge ich in der nachfolgenden Darstellung. 212 In Hinsicht auf Körper als Objekte menschlicher Vorstellungen macht Spinoza eine Differenzierung, was die Möglichkeit adäquater Erkenntnis angeht. Die Kautele, gleichermaßen im Teil wie im Ganzen von Körpern zu sein, kann in allgemeiner Hinsicht Anwendung finden und bedeutet dann das, was allen Körpern gemeinsam ist und gleichermaßen in jedem ihrer Teile wie im Ganzen (Eth. II, prop. 38). In einer spezielleren Hinsicht kann sie aber auch das bezeichnen, was gleichermaßen im Teil wie im Ganzen des eigenen Körpers und derjenigen Körper ist, die den eigenen Körper affizieren (Eth. II, prop. 39). Der Gegenstandsbereich der ratio bezieht sich also erstens auf gemeinsame Eigenschaften von Körpern überhaupt, zweitens auf spezifische Gemeinsamkeiten bestimmter Körper. Drittens kommt dann nach Spinozas einschlägiger Definition noch ein Bereich zur ratio hinzu, den zu bestimmen nicht leicht ist: auch dasjenige, was aus Begriffen der ratio folgt, rechnet Spinoza zum Erkenntnisgebiet der ratio.

a. Unendliche Modi als Gegenstand der Ratio Zunächst sei auf Körper im Allgemeinen eingegangen. Ein allen Körpern Gemeinsames, das gleichermaßen im Teil jedes Körpers wie in seinem Ganzen ist, ist nach Spinozas Kurzvortrag der Physik im Anschluß an Eth. II, prop. 13 der Sachverhalt ihrer Bewegung bzw. komplementär dazu: ihrer Ruhe. 213 Dieses Merkmal aller Körper findet sich folglich in jeder Vorstellung repräsentiert, die der menschliche Geist von Körpern hat, also sowohl in der Vorstellung des eigenen Körpers als auch in Vorstellungen von äußeren Körpern. Obwohl nun diese Vorstellungen selbst, wie oben dargestellt, weder klar noch deutlich sind, ist das allen Körpern gemeinsame Merkmal der Bewegung und Ruhe in allen diesen Vorstellungen, seien sie noch so partielle oder in sich völlig undifferenzierte Repräsentationen von Körpern, gleichermaßen enthalten. Von der Objektseite her ist also die Bedingung für adäquate Erkenntnis erfüllt. 212 Auf die entsprechenden Konsequenzen für Vorstellungen von Vorstellungen verweise ich bei der Darstellung der notiones communes. 213 Eth. II, prop. 13, lemma 2: „Omnia corpora in quibusdam conveniunt." Der Beweis rekurriert einerseits darauf, daß jeder Körper seiner Definition nach den Begriff des Attributs der Ausdehnung in sich schließt (vgl. Eth. Π, def. 1). Dieser Aspekt spielt für den Beweis der Adäquatheit der Erkenntnis des Wesens Gottes eine konstitutive Rolle (s. u. S. 94ff.). Hier ist der zweite Rekurs ins Auge zu fassen: „In his omnia corpora conveniunt, [... ] quod jam tardius, jam celerius, et absolute moveri, jam quiescere possunt." Vgl. Eth. II, prop. 13, ax. 1 und 2.

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Nun ist die Frage, auf welche Weise der menschliche Geist das gemeinsame Merkmal auffassen kann. Es ist ein Vergleich zwischen Vorstellungen nötig, um ihre Übereinstimmungen erkennen zu können. Solch ein Vergleich kann nur zustande kommen, wenn die Vorstellungen selbst Gegenstand weiterer Vorstellungen werden, also nach dem bereits bekannten Verfahren der cognitio reflexiva. 214 Daß der menschliche Geist zur reflexiven Erkenntnis fähig ist und also die Idee der Idee bilden kann, ist eine Tatsache,215 die aus der von Spinoza im ersten und am Anfang des zweiten Teils der Ethik entfalteten Struktur der Attribute und der Sonderstellung des Attributs Denken verständlich gemacht werden kann. Wie von jedem Modus jedes Attributes gibt es auch von den Modi des Denkens, also den Ideen, sie repräsentierende Ideen. 216 In gleicher Weise wie der menschliche Geist mit dem Körper vereinigt ist, nämlich als bezogen auf ihn als auf sein Objekt (Eth. II, prop. 13 mit corol.), ist auch die Vorstellung einer Affektion des Körpers mit der Idee dieser Vorstellung vereinigt (Eth. II, prop. 22 im Verweis auf Eth. II, prop. 20, dem.). Mithin läßt sich sagen, daß der menschliche Geist, insofern er Vorstellungen von Affektionen seines Körpers hat, auch Vorstellungen dieser Vorstellungen hat. Damit ist die Möglichkeit der cognitio reflexiva für den menschlichen Geist gegeben. Eine griffige Formulierung dieses Sachverhalts bietet Spinoza in Eth. II, prop. 21, schol.: „Sobald nämlich jemand etwas weiß, weiß er ebendamit, daß er dies weiß, und zugleich weiß er, daß er weiß, daß er weiß, und so weiter ins Unendliche." 217 Da nun also Bewegving bzw. Ruhe ein allgemeines Merkmal von Körpern darstellen und die Fähigkeit der cognitio reflexiva für den menschlichen Geist im allgemeinen, d. h. für alle Menschen gilt,218 kann Spinoza folgern, daß alle Menschen den Begriff von Bewegung und Ruhe als 214 Spinoza bringt im TIE Vergleichsmöglichkeit und reflexive Erkenntnis als Methode zusammen. Vgl.TIE § 25; Ba 22-25/Geb 12; TIE § 37; Ba 32/Geb 15; TIE § 38; Ba 32-35/Geb 15f. In der Ethik nennt Spinoza die gedankliche Differenzierung mittels Vergleich ein „von innen Bestimmtsein" (interne determinatur) des Geistes (Eth. Π, prop. 29, schol.). 215 Spinoza stellt dies in Eth. Π, ax. 5 als Axiom auf: „Nullas res singulares praeter corpora et cogitandi modos sentimus nec percipimus." („Andere Einzeldinge als Körper und Modi des Denkens empfinden wir nicht und nehmen wir nicht wahr.") Der Aspekt der Idee der Idee wird in dem Axiom durch die Beziehung von percipere auf Modi des Denkens ausgedrückt. 216 M. Gueroult (Spinoza Π [1974], S. 68) spricht von einem durch Eth. I, ax. 4 begründeten „parallelisme intra-cogitatif". Vgl. zum Gesamtkomplex des „unendlichen Verstandes" (intellectus infinitus) W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 71-80; ders.: The Infinite Intellect and Human Knowledge (1994). 217 Vgl. TIE § 34; Ba 30/Geb 14: „Quod quisque potest experiri, dum videt se scire, quid sit Petrus, et etiam scire se scire, et rursus seit se scire, quod seit, etc." 218 M. D. Wilson (Objects, ideas, and ,minds' [1992], S. 389ff) weist auf das Problem hin, daß nach Spinozas Ansatz dies für alle „minds" zutreffen müßte, was eine sinnvolle Abgrenzung des menschlichen Geistes von anderen Geistern unmöglich mache.

2. Der Kontext der spinozanischen Erkenntnistheorie

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Begriff dessen, was allen Körpern gemeinsam ist, wenn sie ihn bilden, in gleicher Weise bilden, nämlich adäquat. Dieser ist also ein allen Menschen gemeinsamer Begriff (notio omnibus hominibus communis).219 Daß es außer Bewegung und Ruhe noch einen anderen allen Menschen gemeinsamen Begriff geben kann, ergibt sich aus der Überlegung, daß jede Vorstellung einer Vorstellung das allen Vorstellungen Gemeinsame, das gleichermaßen im Teil wie im Ganzen jeder Vorstellung ist, repräsentieren müßte. Dieses Gemeinsame könnte dann in einer erneuten Ideierung als solches gewußt werden. Ob es nach Spinoza ein solches Gemeinsames der Vorstellungen gibt und wie es zu beschreiben ist, ist ein gesondertes Problem und hier nicht zu entfalten.220 b. Spezifische Gemeinsamkeit als Gegenstand der Ratio Außer dieser allgemeinen Hinsicht, das zu betrachten, was allen Körpern gemeinsam ist, faßt Spinoza noch eine „spezifische Gemeinsamkeit"221 ins Auge, die Merkmalen zukommt, die einigen Körpern gemeinsam sind (Eth. II, prop. 39). Von Interesse sind hier der Logik der Sache nach die Gemeinsamkeiten des eigenen Körpers und affizierender Körper. Denn Spinoza geht, was den menschlichen Geist betrifft, von Vorstellungen aus, die auf den eigenen wie auf affizierende Körper zugleich verweisen. Mit der Vorstellung der Körperaffektion, so war festgestellt worden, ist weder eine adäquate Erkenntnis des eigenen Körpers noch des affizie219 Eth. Π, prop. 38, corol. Der Beweis rekurriert via Eth. Π, prop. 13, lemma 2 auf den Sachverhalt von Bewegung und Ruhe als das allen Körpern gemeinsame Merkmal. 220 W. Bartuschat (Spinozas Theorie des Menschen [1992], S. 37-43) bietet zum Problem der unendlichen Modi eine präzise Zusammenfassung: Wie Bewegung und Ruhe den unvermittelten unendlichen Modus des Attributs Ausdehnung ausmachen, so ist der unvermittelte unendliche Modus des Attributs Denken die „idea Dei" oder der „Unendliche Verstand" (Vgl. Ep. 64, Opera IV, S. 278; Eth. I, prop. 21, dem.; Eth. Π, prop. 3 und 4.). Die Frage ist, ob die spezifische Leistung des unendlichen Verstandes, nämlich die Fähigkeit der Objektivierung (so Bartuschat, ebd., S. 82), das Gemeinsame aller Vorstellungen ist, das zu erkennen hieße, eine notio communis in Bezug auf Vorstellungen zu bilden. M. D. Wilson (Spinoza's theory of knowledge [1996], S. 115, Anm. 34) scheint eher die kausale Verknüpfung von Vorstellungen als dieses Gemeinsame vor Augen zu haben, indem sie auf TIE § 85 verweist, wo Spinoza auf den Geist (anima) als auf „eine Art geistigen Automaten" (quasi aliquod automa spirituale) zu sprechen kommt, dessen Handlungen nach bestimmten Gesetzen erfolgen. Wilson differenziert hier m.E. zu wenig zwischen allen Dingen gemeinsamen Eigenschaften und einer ebenso allen Dingen gemeinsamen Einbindung in die Kausalitätsstruktur. Während gemeinsame Eigenschaften in den unendlichen Modi auf den Begriff gebracht werden, ist die Kausalitätsstruktur an den Begriff des Attributs gebunden. Auf die Frage, ob der Attributsbegriff auch als notio communis anzusehen ist, wird noch zurückzukommen sein. S. u. S. 91ff. 221 W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 115.

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renden Körpers gegeben. 222 Würde aber eine spezifische Gemeinsamkeit zwischen beiden Körpern bestehen, die die spinozanische Kautele, gleichermaßen im Teil wie im Ganzen zu sein, erfüllt, so könnte auch diese adäquat erkannt werden. Denn geht man davon aus, daß der menschliche Körper von demjenigen Merkmal affiziert wird, das er mit dem affizierenden Körper gemeinsam hat, so enthält die Idee der Affektion dieses Merkmal auf eine Weise in sich, die es unmöglich macht, das Merkmal inadäquat zu erkennen: Es ist einerseits vollständig repräsentiert in dieser Idee der Affektion und deshalb nicht anders als klar zu erkennen. Andererseits ist es nicht der weiteren internen Differenzierung bedürftig, da es gleichermaßen im Teil wie im Ganzen und deshalb nicht anders als deutlich zu erkennen ist. 223 Ist ein Geist außerdem zu der reflexiven Differenzierung fähig, in der Idee einer Affektion seines Körpers die Repräsentation desjenigen, was sein Körper mit dem affizierenden gemeinsam hat, von der Repräsentation dessen zu unterscheiden, was nicht übereinstimmend ist, so kann er den Begriff des übereinstimmenden Merkmals bilden. Er hat so eine adäquate Idee dessen, was dem eigenen wie dem affizierenden Körper zugleich gemeinsam und eigentümlich ist: „commune et proprium" (Eth. II, prop. 39). Denn es handelt sich bei dieser Gemeinsamkeit nicht um eine Übereinstimmung aller Körper, sondern nur um die des eigenen Körpers mit gewissen äußeren Körpern („quibusdam corporibus externis", ebd.). Spinoza spricht hier deshalb nicht von notiones communes, die allen Menschen gemeinsam sind, sondern von „adäquaten Ideen von Proprietäten". 224 An dieser Stelle tut sich die Möglichkeit der Differenz in der Anzahl von Begriffen gemeinsamer Eigenschaften auf. Die Anzahl solcher Begriffe gemeinsamer Proprietäten, die einem Geist zugänglich ist, hängt nämlich davon ab, in welchem Grad der von ihm repräsentierte Körper Gemeinsamkeiten mit ihn affizierenden Körpern hat (Eth. II, prop. 39, corol.). Und das Haben von Gemeinsamkeiten hängt wiederum mit dem Komplexitätsgrad des eigenen Körpers zusammen. Erinnern wir die oben angedeutete Körpertheorie Spinozas. 225 Einfachste Körper unterscheiden sich durch Bewegung und ihre Modalitäten wie Ruhe und Geschwindigkeit. Aus einfachen zusammengesetzte Körper („Individuen") unterscheiden sich durch eine Regelhaftigkeit der internen Bewegungsverhältnisse zwischen den einfachen Körpern. Komplexere Körper setzen sich aus zusammengesetzten Körpern geringerer Komplexität zusammen und 222 S. o. S. 74ff. 223 Vgl. Eth. Π, prop. 39, dem. 224 Eth. Π, prop. 39, dem. Vgl. die Definition der ratio in Eth. Π, prop. 40, schol. 2. Darauf werde ich am Schluß des Absatzes zu sprechen kommen. 225 S. o. 74ff.

2. Der Kontext der spinozanischen Erkenntnistheorie

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unterscheiden sich durch die Regelhaftigkeit der internen Bewegungsverhältnisse zwischen den sie konstituierenden „Individuen" und bilden so gleichsam ein Individuum höherer Ordnung. 226 War nun Bewegung und Ruhe als allgemeines Merkmal aller Körper benannt worden, das auf einfachste und folglich auch auf aus ihnen zusammengesetze Körper zutrifft, so wird mit dem „commune et proprium" die Übereinstimmung von komplexen Körpern bezeichnet. 227 Denn hier besteht die Gemeinsamkeit nicht darin, daß sich Körper überhaupt bewegen oder aber ruhen, sondern sie besteht in einem bestimmten internen Verhältnis der Bewegung von Teilkörpern zueinander. Dieses können mehrere komplexe Körper gemeinsam haben. Da die Übereinstimmung als mehreren Körpern gemeinsame Regelhaftigkeit der internen Bewegongsverhältnisse aufzufassen ist, läßt sich von diesem Gemeinsamen komplexer Körper außerdem sagen, es sei gleichermaßen im Teil wie im Ganzen eines komplexen Körpers. Davon ausgehend sind verschiedene Grade der Übereinstimmung komplexer Körper denkbar. Ein hochkomplexer Körper hat nicht nur Übereinstimmungen mit anderen hochkomplexen Körpern, die dasselbe interne Bewegungsverhältnis der sie konstituierenden komplexen Teilkörper aufweisen. Er hat auch Übereinstimmungen mit Körpern geringerer Komplexität, sofern ihn konstituierende Teilkörper dasselbe interne Bewegungsverhältnis wie diese haben. Es wird deutlich, daß die Begriffe von gemeinsamen Merkmalen, die der menschliche Geist ausgehend von Vorstellungen seiner Körperaffektionen adäquat bilden kann, neben den notiones communes auch solche umfassen, die eine spezifische Gemeinsamkeit bezeichnen. 228 Zu ihnen zählen zum einen Begriffe von Eigenschaften, die der affizierte menschliche Körper mit affizierenden menschlichen Körpern gemein hat, die also das Humanum ausmachen - absehend von spezifischen Differenzen zwi226 Vgl. Eth. Π, def. 7: „Wenn mehrere Individuen so zu einer einzigen Handlung sich zusammenfinden, daß sie alle zusammen die Ursache einer einzigen Wirkung sind, sehe ich sie in diesem Maße alle als ein einzig Einzelding an." 227 Vgl. M. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 338. 228 Bartuschat (Spinozas Theorie des Menschen [1992], S. 115) wendet ein, Spinoza weise nicht nach, inwiefern die Begriffe, die spezifische Gemeinsamkeit bezeichnen, aus den notiones communes folgen. Denn aus dem Begriff von Bewegung und Ruhe als dem unendlichen Modus der Ausdehnung folge keineswegs die Spezifizierung in Begriffe von Gattungen von Individualkörpern, deren interne Relationen durch bestimmte, die Gattungen auszeichnende Bewegungsgesetze gekennzeichnet sind. Hierzu ist anzumerken, daß Spinoza keineswegs behauptet, die eine Gattung von Körpern kennzeichnenden Begriffe ihrer Gemeinsamkeiten seien, wie Bartuschat im Verweis auf Eth. II, prop. 40 suggeriert (ebd., S. 115. 129), aus dem Begriff von Bewegung und Ruhe zu folgern. Vielmehr sind diese Begriffe nach Spinoza nicht anders zu bilden als die notiones communes selbst, nämlich als Differenzierung einer Idee einer Körperaffektion in Hinsicht auf das, was dem eigenen Körper und dem affizierenden Körper gemeinsam ist (Eth. Π, prop. 39, dem.).

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

sehen menschlichen Individuen. 229 Zum anderen können auch Begriffe der Eigenschaften von Körpern gebildet werden, die eine geringere Komplexität als der menschliche Körper aufweisen, sofern diese Eigenschaften übereinstimmen mit solchen von Teilkörpern des menschlichen Körpers. Hier ist etwa an bestimmte Eigenschaften von Tieren oder solche bestimmter, im Körper vorkommender anatomischer Elemente zu denken. 230 Voraussetzung für die Bildung solcher Begriffe bleibt aber, daß der menschliche Körper eine Affektion erfährt, in der das gemeinsame Merkmal enthalten ist. Ausgehend von der Idee dieser Affektion kann der menschliche Geist dann auf adäquate Weise den Begriff der gemeinsamen Eigenschaft bilden. Adäquate Begriffe gemeinsamer Eigenschaften zu bilden, kann man so als die übergreifende Funktion beschreiben, die der Vernunft (ratio) zukommt. Denn auch Bewegung und Ruhe als eine notio communis hat eine Eigenschaft der Körper zum Gegenstand, wenn sie auch allen Körpern gemein ist. Dies scheint mir die Pointe, warum Spinoza in der Definition der ratio sowohl „notiones communes" als auch „ideae adaequatae proprietatum rerum" auführt. 231 Die Beschränkung nur auf die notiones communes würde diejenigen Begriffe ausschließen, die spezifische Gemeinsamkeiten, d.h. gemeinsame Eigenschaften nur bestimmter Körper repräsentieren. Andererseits dient der zweite Terminus der Definition zur näheren Bestimmung des ersten, da der Begriff der notio communis zum einen traditionell geprägt ist und einer eigenen Präzisierung bedarf, 232 229 Die Tragweite dieser Aussage, daß es adäquate Begriffe von Menschen gemeinsamen Eigenschaften gibt, ist für Spinozas ethische Theorie nicht zu unterschätzen. Im vierten und fünften Teil der Ethik stützt sich Spinoza bei der Entwicklung der vernünftigen Ordnung der Affekte genau auf diesen Sachverhalt. Vgl. Eth. TV, prop. 35; Eth. IV, app., caput 7 und 9. Vgl. dazu M. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 339f; G. Deleuze: Spinoza et le probleme de l'expression (1968), S. 252-267, bes. S. 261ff; ders.: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie (1993), S. 243-256, bes. S. 251ff. 230 Vgl. M. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 341f. Der Begriff „anatomische Elemente" bei G. Deleuze: Spinoza et le probleme de l'expression (1968), S. 257; ders.: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie (1993), S. 247. 231 Eth. Π, prop. 40, schol. 2: „Aus allem, was oben gesagt worden ist, ist offensichtlich, daß wir [einerseits] viele Dinge wahrnehmen und [andererseits] Begriffe bilden, die allgemein sind: [... ] 3. endlich daraus, daß wir Gemeinbegriffe und adäquate Ideen der Eigenschaften von Dingen haben (siehe Folgesatz zu Lehrsatz 38, Lehrsatz 39 mit Folgesatz und Lehrsatz 40 dieses Teils); diese Weise der Betrachtung werde ich Vernunft oder Erkenntnis der zweiten Gattung nennen."(Übers. Bartuschat 1999, S. 182f)· Der lateinische Text lautet: „Ex omnibus supra dictis clare apparet, nos multa pereipere, et notiones universales formare [... ] ΠΓ\ Denique ex eo, quod notiones communes, rerumque proprietatum ideas adaequatas habemus; (vide Corol. Prop. 38. et 39. cum ejus Corol. et Prop. 40 hujus) atque hunc [res contemplandi modus] rationem, et secundi generis cognitionem vocabo." 232 Vgl. Eth. Π, prop. 40, schol. 1: „causam notionum, quae Communes vocantur" (Hhg. im Original). Vgl. zur Bedeutung des Terminus für die Stoa, Aristoteles und Descartes: Μ. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 358-362.

2. Der Kontext der spinozanischen Erkenntnistheorie

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zum anderen, da der Begriff der notio communis in der ,Ethica' selbst auf zwei unterschiedliche Sachverhalte angewandt werden kann: Er bringt erstens die allen Körpern gemeinsamen Eigenschaften auf den Begriff. Zweitens könnte auch der Begriff des Attributs „Ausdehnung" als notio communis bezeichnet werden, weil es das Gemeinsame aller Körper ist, den Begriff desselben Attributs in sich zu schließen. 233 Allerdings ist die Erkenntnis des Attributs nicht die Funktion der ratio, das stellt die Explikation des Begriffs notio communis im zweiten Scholium des 40. Lehrsatzes klar. Der Vernunft kommt es lediglich zu, Begriffe von Eigenschaften der Dinge (proprietates rerum) zu bilden. Näherhin kann sie aber nicht einmal alle Eigenschaften der Dinge erkennen, sondern nur die gemeinsamen Eigenschaften, denn sonst könnten Erkenntnisse der ratio nicht adäquat sein. Die Tatsache, daß die Vernunft also adäquate Ideen der Eigenschaften der Dinge hat, 234 heißt zugleich ihre Beschränkung auf solche Eigenschaften, die der menschliche Körper mit allen oder zumindest mit ihn affizierenden Körpern gemeinsam hat, 235 und zwar in der spinozanischen Fassung von Gemeinsamkeit, nämlich gleichermaßen im Teil wie im Ganzen zu sein.

c. Rationale Deduktion? Es blieb bisher ein Aspekt der Definition der ratio unberücksichtigt. Spinoza verweist in Eth. II, prop. 40, schol. 2 nicht nur auf den Folgesatz zu Lehrsatz 38 und Lehrsatz 39 mit Folgesatz, in denen die Begriffe gemeinsamer Eigenschaften von Körpern entwickelt werden, sondern auch auf Lehrsatz 40. Dieser stellt die Adäquatheit all derjenigen Ideen fest, die aus im Geist adäquaten Ideen folgen (sequuntur). Durch den Verweis auf Lehrsatz 40 will Spinoza also auch die aus den adäquaten Begriffen von Eigenschaften der Körper folgenden Ideen unter die ratio gezählt sehen. Dies stimmt mit der Bemerkung Spinozas im ersten Scholium von Eth. II, prop. 40, die notiones communes seien die Grundlagen unseres Schlußverfahrens (fundamenta nostri ratiocinii) und mit der erläuternden Wiederaufnahme der Definition der ratio in Eth. V, prop. 12, dem. überein, wo es heißt: „Dinge, die wir klar und deutlich einsehen, sind entweder 233 In dem die notiones communes einführenden Eth. Π, prop. 38, corol. wird im Beweis auf Lemma 2 (nach Eth. Π, prop. 13) verwiesen. Dort werden diese beiden Gemeinsamkeiten aller Körper aufgeführt: Zugehörigkeit zu demselben Attribut und Bewegung und Ruhe. 234 Eth. Π, prop. 40, schol. 2: Die Bestimmung der ratio ist es, „quod notiones communes, rerumque proprietatum ideas adaequatas habemus". 235 Vgl. die präzisere Fassung der Definition der ratio in Eth. V, prop. 12, dem: „Res, quas clare et distincte intelligimus, vel rerum communes proprietates sunt, vel". Auf den zweiten Aspekt (vel [... ] vel) komme ich sogleich zu sprechen.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

gemeinsame Eigenschaften von Dingen oder etwas, das sich aus ihnen ableiten läßt (siehe die Definition von Vernunft in Anmerkung 2 zu Lehrsatz 40 des zweiten Teils)".236 Es ist eine äußerst schwierige Aufgabe der Interpretation, zu benennen, was es für Ideen sind, die aus den adäquaten Begriffen gemeinsamer Eigenschaften von Körpern geschlossen werden können. Gueroult schlägt vor, dieses Schließen als die Applikation des allgemeinen Begriffs auf einen Einzelfall zu verstehen, d. h. beispielsweise den Begriff einer gemeinsamen Eigenschaft auf einen Einzelkörper anzuwenden, dem damit die im Begriff enthaltenen Merkmale zugeschrieben werden.237 Er orientiert sich dabei am Beispiel der gesuchten vierten Proportionalzahl in Eth. II, prop. 40, schol. 2. Von der gegebenen Regel der Proportionalität von Zahlen schließt die Vernunft auf die gesuchte Zahl. Nach Gueroult ist die Vernunft im weitesten Sinne, ein „nicht-genetisches Schließen, das einen besonderen Fall dadurch bestimmt, daß es auf ihn von außen her eine allgemeine Regel anwendet". 238 Die Besonderheit von Gueroults Interpretation der Erkenntnisarten ist es, daß seines Erachtens die ratio dieses Schlußverfahren sowohl auf die notiones communes als auf ihre Grundbegriffe als auch auf Begriffe anwenden kann, die in genetischem Verfahren von der dritten Art der Erkenntnis hervorgebracht werden.239 Diese auf die Gleichsetzung des mos geometricus mit der dritten Erkenntnisart hinauslaufende Interpretation scheint mir nicht haltbar. Scientia intuitiva ist, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll, keine Abschattung rationalen Schließens. Aber bereits gegen das Verständnis der ratio als einer Subsumtion in Bezug auf Besonderes läßt sich einiges einwenden: Spinoza gewinnt Begriffe gemeinsamer Eigenschaften von Körpern nicht anders als durch vergleichende Betrachtung von Vorstellungen der Körperzustände. Eine adäquate Idee einer Körpern gemeinsamen Eigenschaft kann also nie unabhängig vom besonderen Fall gebildet werden, auf den sie dann anzuwenden wäre. Gerade wenn man die Begriffe von spezifischer Gemeinsamkeit in Betracht zieht, kann nicht davon die Rede sein, daß ein bereits gültiger Begriff alsdann auf den speziellen affizierenden Körper angewandt würde, sondern es ist die genuine Aufgabe der ratio, die Gemeinsamkeiten des eigenen Körpers und des affizierenden Körpers aufzuspüren und in Begriffen festzuhalten. Es ist auch nicht zu sehen, inwiefern durch eine Anwendung auf einen besonderen 236 Hhg. C.E. „Res, quas clare et distincte intelligimus, vel rerum communes proprietates sunt, vel quae ex iis deducuntur (vide rationis defin. in schol. 2. prop. 40. p. 2)". 237 Μ. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 388-390. 238 Ebd., S. 390: „la connaissance du deuxieme genre, prise dans sa plus large extension, serait une inference non genetique determinant un cas particulier en lui appliquant du dehors une regle universelle." 239 Vgl. ebd., S. 453-455. 467ff.

3. Das Konzept intuitiver Erkenntnis

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Fall aus dem Begriff einer gemeinsamen Eigenschaft eine Idee abgeleitet würde, die von diesem Begriff verschieden und deshalb überhaupt erst abzuleiten wäre. Die Idee der gemeinsamen Eigenschaft ist gerade so konzipiert, daß sie Merkmale des eigenen und affizierender äußerer Körper repräsentiert. Also ist die Idee einer gemeinsamen Eigenschaft in jeder Idee einer Affektion des eigenen Körpers bereits enthalten, sofern dieser mit dem affizierenden Körper jene Proprietät gemeinsam hat. Daher ist eine Ableitung derselben weder nötig noch möglich. Von Gilles Deleuze ist zur Erklärung der Ideen, die aus adäquaten Ideen gemeinsamer Eigenschaften folgen, auf den Zusammenhang von Idee und Affekt hingewiesen worden. 240 Daß ein Bedingungsverhältnis zwischen Idee und Affekt besteht ist nicht zu bestreiten, 241 aber ob darin das Folgerungsverfahren der ratio besteht ist fraglich. Vielmehr wäre es m. E. naheliegender, an den ordo geometricus zu denken. Ohne diesen als ein einsinniges Deduktionsverfahren verstehen zu wollen und ihm damit die Beweislast eines lückenlosen Ableitens aufzubürden, 242 wäre die Aufgabe der ratio darin eine doppelte: Einerseits konzipiert sie Allgemeinbegriffe und Begriffe spezifischer Gemeinsamkeiten und bringt so die fundamenta ratiocinii hervor. Andererseits - und dieser Fall interessiert hier - stellt sie deren Implikationen so heraus, daß Begriffe miteinander verbunden werden können und ein systematisches Beweisverfahren möglich wird.

3. Das Konzept intuitiver Erkenntnis In diesem Kapitel gilt es, Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis in einer zusammenhängenden Darstellung zu rekonstruieren. Die leitende Idee dieses Rekonstruktionsversuchs ist es, die Struktur der dritten Erkenntnisart durch Explikation derjenigen metaphysischen Termini zu erhellen, die in Spinozas Definition der scientia intuitiva genannt sind. Es kommt mir dabei vor allem darauf an, das mit diesen Termini gesetzte ontologische Verhältnis im Blick auf die epistemische Struktur der dritten Erkenntnisart auszudeuten, um so Aussagen über den bewußtseinstheoretischen Status derselben gewinnen zu können. Ein solcher Interpretationsansatz bedarf von Spinozas Philosophie her einer eigenen Rechtfertigung. 240 G. Deleuze: Spinoza et le probleme de l'expression (1968), S. 197-213. 252-267, bes. S. 201. 262f; ders.: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie (1993), S. 191-205. 243-256, bes. S. 194. 252. 241 Dieses Problem werde ich bei der Bestimmung des affektiven Moments intuitiver Erkenntnis diskutieren. S. u. S. 121ff. 242 Vgl. R. Schnepf: Metaphysik (1996), S. 104-134; ders.: Der ordo geometricus (2003).

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

Er wirft nämlich die Frage auf, inwiefern es nach Spinoza legitim ist, ontologische Strukturen, die für die Explikation des Gegenstands von Erkenntnis wohl herangezogen werden können, auch für die Explikation der Struktur dieser Erkenntnis selbst heranzuziehen. Bevor daher diese epistemische Struktur näher beleuchtet werden kann, ist zu klären, wie sich in Spinozas philosophischem System ontologische und epistemische Sachverhalte zueinander verhalten. Hierfür scheint mir die Attributenlehre eine Antwort bereitzuhalten. Von daher ist an dieser Stelle auf die im ersten Kapitel dieses Teils dargestellte Theorie der Strukturisomorphie zwischen Attributen 243 zurückzugreifen und im Blick auf die hier verhandelte Problematik zu interpretieren (3 Β 1). Vor diesem Hintergrund kann dann die Explikation der epistemischen Struktur der scientia intuitiva unter Heranziehung der ebenfalls im ersten Kapitel dieses Teils entwickelten Theorie immanenter göttlicher Kausalität 244 erfolgen (3 Β 2). Abschließend will ich vor diesem Hintergrund Fragen nach der Vollzugsweise Näherbestimmung des Gegenstands, Möglichkeit des Fortschreitens, affektives Moment - der dritten Erkenntnisart zu beantworten versuchen (3C).

Zunächst ist aber noch ein weiteres Problem zu erörtern. Vom Kontext der spinozanischen Erkenntnistheorie ergibt sich die Frage, inwiefern die dritte Erkenntnisart als eine adäquate Erkenntnis dem menschlichen Geist möglich ist. Denn es ist einerseits zu zeigen, daß die im Konzept der der scientia intuitiva zugrundegelegten allgemeinen ontologischen und epistemischen Strukturen auch für den endlichen menschlichen Geist etwas sein können, d. h. in den Gegenstandsbereich seiner möglichen Erkenntnis fallen. Und andererseits ist zu zeigen, inwiefern eine Erkenntnis dieser Gegenstände adäquat sein kann. Nur wenn beide Bedingungen erfüllt sind, kann sinnvoll von der Möglichkeit intuitiver Erkenntnis für den menschlichen Geist gesprochen werden. Diese Frage schließt sich also direkt an die im letzten Abschnitt vorgetragenen Erörterungen zur humanen Möglichkeit zu adäquater Erkenntnis überhaupt 245 und zur Möglichkeit rationaler Erkenntnis an. 246 In einem ersten Schritt ist hier also nach der Möglichkeit des menschlichen Geistes zu derjenigen adäquaten Erkenntnis zu fragen, die Spinoza die dritte Erkenntnisart nennt (3A).

243 244 245 246

S. o. S. 48ff. S.o.S. 14ff. S. o. S. 78ff. S.o.S.80ff.

3. Das Konzept intuitiver Erkenntnis

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A. Die erkenntnistheoretische Möglichkeit intuitiver Erkenntnis Das Problem der erkenntnistheoretischen Möglichkeit der dritten Erkenntnisart stellt sich in Spinozas Philosophie in einer doppelten Weise. Zum einen ist die Frage, ob nach seiner Konzeption des menschlichen Geistes diejenigen Erkenntnisgegenstände, die er als die dritte Erkenntnisart ausmachend angibt, auch dem menschlichen Geist als Gegenstände zugänglich sein können. Zum anderen muß nach der Möglichkeit gefragt werden, ob diese Gegenstände, wenn sie denn als dem menschlichen Geist zugänglich erwiesen wurden, auch auf eine adäquate Weise erkennbar sein können. Letzteres schließt nach dem oben dargestellten Doppelkriterium für die Möglichkeit adäquater Erkenntnis sowohl eine objektlogische Bedingung für den zu erkennenden Gegenstand als auch eine subjektlogische Bedingung auf Seiten des erkennenden menschlichen Geistes ein. Spinoza behandelt diese Fragen in den Lehrsätzen 45 bis 47 des zweiten Teils der Ethik. Dem Gehalt dieser Lehrsätze soll in der folgenden Darstellung in drei Schritten nachgegangen werden. Zunächst wird an Lehrsatz 45 die Argumentation rekonstruiert, mit der Spinoza den Gegenstand intuitiver Erkenntnis in Verbindung bringt mit dem aktualen Gehalt derjenigen Idee, welche den menschlichen Geist ausmacht (1). Mit Lehrsatz 46 wird dann die Rechtfertigung diskutiert, wonach der Gegenstand intuitiver Erkenntnis nicht anders als adäquat zu erfassen ist (2). In einem dritten Schritt werden mit Lehrsatz 47 die Resultate der beiden vorangegangenen Lehrsätze für die Möglichkeit intuitiver Erkenntnis als einer Erkenntnis des menschlichen Geistes zusammengebracht (3).

1. Der Gegenstand der Intuition als humane Möglichkeit (Eth. II, prop. 45) Für den Erweis der Möglichkeit intuitiven Erkennens hat der 45. Lehrsatz eine tragende Funktion. Hier unternimmt es Spinoza darzulegen, inwiefern jede empirische Vorstellung trotz ihrer Inadäquatheit den Verweis auf ein göttliches Attribut mit sich führt und damit eines der Relate der in der scientia intuitiva erkannten Relation in die Verfügbarkeit des menschlichen Geistes stellt. Dieses Mit-sich-führen verankert Spinoza in seiner Theorie des „involvere". Über diese Theorie ist die Möglichkeit der dritten Erkenntnisart mit dem Konzept der immanenten Kausalität Gottes verkoppelt. 247 Die These in Eth. II, prop. 45 ist, jede Idee, dessen Ideatum ein Körper oder allgemein gesprochen ein einzelnes existierendes Ding 247 Vgl. W. Bartuschat: Leibniz als Kritiker Spinozas (2002), S. 102.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

ist, „involviere" notwendig die Essenz Gottes. 248 Wie begründet Spinoza nun diese weitreichende Aussage? Zunächst führt er eine ontologische Argumentation an, die das Verhältnis von Einzeldingen und göttlicher Essenz im Blick auf die Bestimmung des darin gefaßten Kausalverhältnisses thematisiert. Daß eben diese Einzeldinge auch als Ideata von Vorstellungen fungieren können, diesen Sachverhalt greift Spinoza dann im Rekurs auf Eth. I, ax. 4 auf. Dieses Axiom behandelt die Relation von Vorstellungen, deren Ideata in einem Kausalverhältnis stehen, und dient als Erklärungshintergrund für die Bedeutung des Ausdrucks „Involvieren" in Lehrsatz 45. Wie oben herausgearbeitet wurde, ist das im Axiom gemeinte Einschlußverhältnis als in der Idee einer Wirkung enthaltener Verweis auf die jene Wirkung hervorbringende Ursache zu verstehen. Dieser Verweis ist als epistemische Funktion hinsichtlich der Unterscheidung von Adäquatheit und Inadäquatheit noch unbestimmt. 249 Die ontologische Argumentation, die das Kausalverhältnis zwischen Einzeldingen und göttlicher Essenz betrifft, findet sich im Scholium des Lehrsatzes 45. Im Lehrsatz selbst ist nicht von der Essenz von Einzeldingen, sondern von deren aktualer Existenz die Rede (actu existentis). Im Scholium nimmt Spinoza daher eine Differenzierung des Begriffs „Existenz" vor, um ein Mißverständnis des Lehrsatzes abzuweisen. 250 Der Leser könnte nämlich „Existenz eines Einzeldings" als die durch Einwirkungen anderer Einzeldinge bedingte Art und Weise der Bestimmtheit des Einzeldings in seiner Dauer verstehen. Solches könnte sich von Eth. I, prop. 28 her nahelegen, wo die Existenz und Bestimmtheit eines Einzeldings in infinitem Regress als bedingt durch andere endliche Einzeldinge angesehen wird. Ausdrücklich sagt Spinoza, der quantitative Aspekt der Dauer und der Aspekt der Art und Weise der Bestimmtheit sei für das in Lehrsatz 45 behandelte Problem nicht relevant.251 Vielmehr, so stellt Spinoza in jenem Scholium weiter fest, gehe es um die „Natur der Existenz" von Eirtzeldingen, die ihnen zukommt, weil sie in Gott sind (Eth. I, prop. 15) und aus der Natur Gottes Unendliches auf unendliche Weisen 248 Eth. Π, prop. 45: „Unaquaeque cujuscunque corporis, vel rei singularis actu existentis, idea Dei aeternam et infinitam essentiam necessario involvit." 249 S. o. S. 75f. 250 Auf diese Differenzierung hat M. D. Wilson: Infinite Understanding, Scientia intuitiva, and Ethics I. 16 (1983/1992), S. 184f/400f hingewiesen. Vgl. auch W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 120-122. 251 Eth. Π, prop. 45, schol.: „Hic per existentiam non intelligo durationem, hoc est, existentiam, quatenus abstracte concipiuntur, et tanquam quaedam quantitatis species. [... ] Nam, etsi unaquaeque ab alia re singulari determinetur ad certo modo existendum". „Unter Existenz verstehe ich hier nicht Dauer, d. h. Existenz, insofern sie abstrakt und als eine gewisse Art von Größe begriffen wird. [... ] Denn wenn auch ein jedes von einem anderen Einzelding bestimmt wird, in einer bestimmten Weise zu existieren".

3. Das Konzept intuitiver Erkenntnis

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folgt (Eth. I, prop. 16). Mit der Differenzierung des Existenzbegriffes in Eth. II, prop. 45, schol. geht also eine Differenzierung einher, was als Ursache der verschiedenen Aspekte der Existenz angesehen werden muß. Spricht man von der Existenz als Dauer und Bestimmtheit, so ist auf den Kausalzusammenhang zu verweisen, in dem die Einzeldinge stehen und sich gegenseitig bedingen und bestimmen. Spinoza nennt diesen Zusammenhang den „ordo naturae" (Eth. I, prop. 33, dem.). 252 Spricht man dagegen von der Existenz überhaupt, so ist auf dasjenige Kausalverhältnis zwischen Gott als Ursache und Existenz der Einzeldinge als Wirkung zu verweisen, das mit dem Folgetheorem in Lehrsatz 16 grundgelegt ist. In dem angeführten Lehrsatz (Eth. I, prop. 33) wird aber deutlich, daß auch der Kausalzusammenhang des ordo naturae aus der Produktivität Gottes hervorgegangen ist, sofern nämlich die einzelnen Dinge aus ihr folgen. Es ist in der Anmerkung zu Eth. II, prop. 45 also strenggenommen eine Differenzierung nicht zwischen äußeren Ursachen und göttlicher Ursache, sondern zwischen zwei Aspekten göttlicher Verursachung thematisiert. 253 Auch hier zeigen sich demnach dieselben Strukturmerkmale göttlicher Kausalität, die oben bei der Erörterung des Begriffs immanenter Kausalität herausgearbeitet worden sind. 254 Die Verschränkung von causa sui und causa rerum im Begriff immanenter göttlicher Kausalität ist für die Existenz von Einzeldingen als Verschränkung von Existenz überhaupt und Bestimmtheit dieser Existenz expliziert. Für die Argumentation in Lehrsatz 45, das macht das Scholium klar, soll der Aspekt von Existenz überhaupt herangezogen werden und damit derjenige Aspekt göttlicher Kausalität, der deren Identität in allen einzelnen Wirkungen ausdrückt. Vor diesem Hintergrund wird nun die Involvenz- oder Verweistheorie des vierten Axioms in Anspruch genommen, um zu erweisen, daß in der Idee jedes existierenden singulären Dinges, nämlich als in der Erkenntnis einer Wirkimg, ein Verweis auf Gott als auf die Ursache der Existenz des Einzeldings enthalten ist.255 252 Im TIE gebraucht Spinoza für diese Sphäre gegenseitiger kausaler Interaktion den scholastischen Begriff des „commercium". Vgl. TIE § 41; Ba 34/Geb 16: „Commercium habere cum aliis rebus est produci ab aliis, aut alia producere." 253 Eth. Π, prop. 45, schol.: „Ich spreche, sage ich, von genau der Existenz von Einzeldingen, [die ihnen eigen ist,] insofern sie in Gott sind. Denn wenn auch ein jedes von einem anderen Einzelding bestimmt wird, in einer bestimmten Weise zu existieren, folgt doch die Kraft, mit der ein jedes im Existieren verharrt, aus der ewigen Notwendigkeit der Natur Gottes." 254 S. o. S. 29ff. 255 Hier scheint mir die Interpretation von Bartuschat (Spinozas Theorie des Menschen [1992], S. 122) die Pointe des Lehrsatzes nicht eigentlich zu erfassen. Den Einschluß des Wesens Gottes in jeder Idee sieht er darin begründet, daß der „Bezug der Idee auf den Körper" seine Ursache im Wesen Gottes habe. Die Grundlegung des Bezugs von Idee und Ideatum im Gottesbegriff scheint mir hier jedoch nicht zur Debatte zu stehen,

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

Der Beweis von Lehrsatz 45 bringt eine Präzisierung: Der enthaltene Verweis hat Gott nicht absolute zum Gegenstand, sondern insofern er unter demjenigen Attribut betrachtet wird, dessen Modus das ideierte Einzelding ist. 256 Lehrsatz 45 bedeutet also für den Fall, daß eine Idee einen Körper zum Gegenstand hat, daß sie einen Verweis auf Gott unter dem Attribut Ausdehnung enthält, für den Fall, daß eine Idee wiederum eine Idee, also einen Modus des Denkens, zum Gegenstand hat, daß sie einen Verweis auf Gott unter dem Attribut Denken enthält. Insofern nun jedes Attribut Gottes dessen Essenz ausmacht (constituere), ist mit dem Verweis auf das jeweilige Attribut auf Gottes „ewige und unendliche Essenz" verwiesen. So könnte man Lehrsatz 45 folgendermaßen reformulieren: „Jede Idee eines wirklich existierenden Körpers, generell eines wirklich existierenden Einzeldinges, verweist auf eine ewige und unendliche Essenz Gottes als auf die Ursache der bloßen Existenz ihres Ideatums."

2. Adäquatheit intuitiven Erkennens (Eth. II, prop. 46) Es ist festzuhalten, daß mit dem Ergebnis aus Lehrsatz 45 noch nichts über den wahrheitstheoretischen Status dieses Verweises ausgesagt ist. Erst mit Lehrsatz 46 beschäftigt sich Spinoza mit der Möglichkeit einer Erkenntnis dieser auf Gott verweisenden Dimension der Vorstellungen von existierenden Einzeldingen und erst in Lehrsatz 46 wird infolgedessen über die Adäquatheit einer solchen Erkenntnis etwas ausgesagt: „Die Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gottes, die jede Idee in sich schließt, ist adäquat und vollkommen." 257 Im Beweis zieht Spinoza das Ergebnis von Lehrsatz 45 heran und hält es an das objektlogische Kriterium für adäquate Erkenntnis. Ein Gegenstand adäquater Erkenntnis muß nach diesem Kriterium gleichermaßen im Teil wie im Ganzen sein (Eth. II, prop. 38). 258 Nach Lehrsatz 45 enthält jede Idee einer res actu existens einen Verweis auf die Essenz Gottes. Mag diese res nun als Teil oder als Ganzes angesehen werden, ihre Idee wird als die eines Teils oder als die eines Ganzen den Verweis auf die Essenz Gottes enthalten. Damit ist eine Menge gegeben, von der sich sagen sondern es geht um die Relation der Existenz eines Singulären zum Wesen Gottes. Diese Relation wird dann ihrerseits aus der Perspektive menschlicher Ideation betrachtet. 256 Vgl. Eth. Π, prop. 45, dem.:„At res singulares (per Prop. 15. p. 1.) non possunt sine Deo concipi; sed quia (per Prop. 6. hujus) Deum pro causa habent, quatenus sub attributo consideratur, cujus res ipsae modi sunt . . . " . Die Signifikanz des Attributsbegriffs in Eth. Π, prop. 45, dem. hebt Gueroult mit Recht besonders hervor (M. Gueroult: Spinoza Π [1974], S. 419). 257 Eth. Π, prop. 46: „Cognitio aeternae, et infinitae essentiae Dei, quam unaquaeque idea involvit, est adaequata, et perfecta." 258 Siehe dazu oben S. 78ff.

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läßt, ein bestimmtes Merkmal sei allen Elementen der Menge gemeinsam und gleichermaßen im Teil wie im Ganzen. Es ist dies die Menge derjenigen Ideen, deren Ideata existierende Einzeldinge sind. Das gemeinsame Merkmal dieser Ideen ist der Verweis auf die Essenz Gottes. Mithin ist die objektlogische Bedingung für die Adäquatheit der Erkenntnis dieses Verweises gegeben. 259 Ich verstehe hier Spinozas Ausdruck „das, was Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gottes verschafft" in Eth. II, prop. 46, dem. als Bezeichnung des Verweises auf die Essenz Gottes und wenn er von diesem sagt, er sei „allem gemeinsam (omnium commune) und gleichermaßen im Teil wie im Ganzen", dann trifft dieses auf Ideen von existierenden Einzeldingen zu. Das „allem gemeinsam" ist hier also als „allen Ideen von Einzeldingen gemeinsam" zu lesen. 260 Die Erkenntnis dieses Gemeinsamen der Ideen ist die Erkenntnis des Verweises auf die Essenz Gottes. Diese Erkenntnis ist selbst, da sie ein Moment an einer Idee zum Gegenstand hat, eine Idee der Idee. Da nun nach Lehrsatz 45 jede Idee existierender Einzeldinge, sei sie die eines Teils oder eines Ganzen, glei259 Die Erkenntnis dessen, was in der Idee eines Teils gleichermaßen wie in der Idee eines Ganzen ist, erfüllt sowohl die Anforderungen der Klarheit als auch der Deutlichkeit Klar ist sie, insofern der Gegenstand der Erkenntnis auch in einer Partialidee vollständig enthalten ist. Eine Differenzierung von erkannten und unbekannten Teilen des zu Erkennenden ist hier nicht nötig. Deutlich ist diese Erkenntnis, insofern die Idee eines Ganzen das zu Erkennende gleichermaßen repräsentiert. Eine Binnendifferenzierung von Teilmomenten desselben wird damit hinfällig. Vgl. dazu oben S. 78ff. 260 Eth. II, prop. 46, dem.: „Quare id, quod cognitionem aeternae et infinitae essentiae Dei dat, omnibus commune et aeque in parte ac in toto est". Bartuschat (1999, S. 195) übersetzt „omnibus commune" mit „allen Dingen gemeinsam", ebenso O. Baensch, PhB 92, o. ]., S. 87 und M. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 424. Diese Übersetzung ist zwar nicht falsch, scheint mir aber die Pointe des Beweises nicht zu treffen. Ginge es um das allen Dingen Gemeinsame, müßte Spinoza nicht den Umweg über das Involviertsein desselben in jeder Vorstellung gehen, und könnte, ganz analog zum Beweis der Adäquatheit von gemeinsamen Proprietäten der Dinge, schlicht konstatieren: Die Essenz Gottes ist etwas, das allen Dingen gemeinsam ist und gleichermaßen im Teil wie im Ganzen und also ist sie nach Eth. Π, prop. 38 nicht anders als adäquat zu erkennen. Stattdessen zieht Spinoza aber Lehrsatz 45 heran und handelt von der Essenz Gottes als involviert in Ideen existierender Einzeldinge, nach meiner Interpretation also vom Verweis auf die Essenz Gottes, der mit Ideen existierender Einzeldinge mitgegeben ist. Spinoza rekurriert in Lehrsatz 46 also auf das Gemeinsame der Ideen, diesen Verweis zu enthalten, nicht mehr primär auf das Gemeinsame der Einzeldinge, die Essenz Gottes zur Ursache ihrer Existenz überhaupt zu haben. Bartuschat gibt eine meiner Interpretation ähnliche Deutung in seinem großen Spinozawerk, vgl. W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 122. Abwegig ist die Übersetzung des omnium commune mit „allen [sc. Menschen] gemeinsam" („commun ä tous") bei Appuhn, zitiert bei Gueroult 1974, S. 424, Aran. 19. Denn in Lehrsatz 46 ist von Menschen bzw. von der Möglichkeit der Erkenntnis der Essenz Gottes durch den menschlichen Geist noch gar nicht die Rede. Davon handelt erst Lehrsatz 47, in dessen Scholium Spinoza dann die These vertritt, die Essenz Gottes sei allen bekannt (omnibus notam), was dort in der Tat auf alle Menschen zu beziehen ist.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

chermaßen den Verweis auf die Essenz Gottes enthält, kann dieser nicht anders als adäquat erkannt werden. D. h. es ist für die Erkenntnis des Verweises nicht von Belang, ob eine Idee ein Einzelding als Ganzes oder nur in einem Teilaspekt repräsentiert. Dies gilt also auch für menschliche Vorstellungen von Einzeldingen, die die vorgestellten Dinge nur partiell und undifferenziert repräsentieren. Diejenige Idee der Idee, welche den Verweis einer Idee existierender Einzeldinge auf die Essenz Gottes zum Gegenstand hat, ist somit notwendig eine adäquate Erkenntnis. Wenn nun über die Erkenntnis der auf die Essenz Gottes referierenden Dimension von Vorstellungen existierender Einzeldinge die Aussage getroffen werden kann, sie sei notwendig adäquat, so ist damit die wichtige Frage, ob und inwiefern dem menschlichen Geist eine solche Erkenntnis möglich sei, hinsichtlich beider Theoriekomplexe, der in Lehrsatz 45 in Anspruch genommenen Verweistheorie und der in Lehrsatz 46 angewandten Adäquatheitstheorie, vorbereitet. Wir können uns also schließlich Lehrsatz 47 zuwenden, in dem Spinoza die Möglichkeit adäquater Intuition durch den menschlichen Geist ausdrücklich macht.

3. Adäquate Intuition als humane Möglichkeit (Eth. II, prop. 47) In den Lehrsätzen 45 und 46 des zweiten Teils der Ethik sind die Bedingungen für adäquate Erkenntnis des Verweises von Vorstellungen auf die göttliche Essenz benannt worden: Erstens müssen solche Vorstellungen vorhanden sein, die existierende Einzeldinge zum Gegenstand haben. Denn diese Vorstellungen weisen die Referenzdimension auf (Eth. II, prop. 45). Zweitens bedarf es einer erneuten Ideierung dieser Vorstellungen (idea ideae), daß auf diese Weise die Referenzdimension überhaupt zum Gegenstand einer Erkenntnis werden kann. Dieser Erkenntnis ist aber, unabhängig davon, ob sie irgendein menschlicher Geist tatsächlich hat, der Status der Adäquatheit zuzuschreiben (Eth. II, prop. 46). Lehrsatz 47 behauptet nun nichts anderes, als daß diese beiden Bedingungen für den menschlichen Geist erfüllt sind. In der Formulierung seines Beweises, der menschliche Geist habe Ideen, aus denen er sich, seinen Körper und äußere Körper als wirklich existierend wahrnimmt, sind beide Bedingungen enthalten.261 261 Eth. Π, prop. 47, dem.: „Der menschliche Geist hat Ideen (nach Lehrsatz 22 dieses Teils), aus denen [ex quibus] er (nach Lehrsatz 23 dieses Teils) sich selbst und (nach Lehrsatz 19 dieses Teils) seinen eigenen Körper und (nach Folgesatz 1 zu Lehrsatz 16 und nach Lehrsatz 17 dieses Teils) äußere Körper als wirklich existierend wahrnimmt [ut actu existentia percipit]; mithin hat er (nach Lehrsatz 45 und 46 dieses Teils) eine adäquate Erkenntnis der ewigen und unendlichen Essenz Gotttes. W.z.b.w."

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Was zunächst die zweite Bedingung betrifft, so ist zu bemerken, daß eine Idee, aus der etwas als etwas aufgefaßt wird, eine Relation von Vorstellungen zum Gegenstand hat. Die Idee eines solchen Bezugs zwischen Vorstellungen ist aber selbst auf der Ebene der Idee der Idee anzusiedeln. Dies scheint die eigentümliche Pointe, warum Spinoza im Beweis von Lehrsatz 47 auf Eth. II, prop. 22 verweist, um zu belegen, daß der menschliche Geist solche Ideen hat, aus denen er sich etc. als existierend wahrnimmt. Denn Lehrsatz 22 zeigt seinerseits, daß der menschliche Geist außer Ideen von körperlichen Affektionen auch die Ideen dieser Ideen auffaßt. 262 Indem der menschliche Geist also Ideen von Ideen zu bilden in der Lage ist, ist es ihm möglich, auch die Verweisdimensionen von Vorstellungen zu erkennen. Nun ist die erste Bedingung ins Auge zu fassen. Es geht hier nicht um in Ideen enthaltene Verweise im Allgemeinen, sondern um den Verweis auf Gottes Essenz, wie er Vorstellungen existierender Einzeldinge eigen ist. Kann man vom menschlichen Geist sagen, er habe Vorstellungen existierender Einzeldinge? Spinoza verweist, was diesen Sachverhalt betrifft, auf die in Eth. II, prop. 16-29 entwickelte Theorie der inadäquaten Erkenntnis oder „imaginatio". Ihr entnimmt er, daß dem menschlichen Geist, sofern er eine Erkenntnis von Körpern bzw. von sich selbst hat und sei diese auch inadäquat, ein Bezug zu Einzeldingen überhaupt zugesprochen werden muß. So dienen die übrigen Belege im Beweis von Lehrsatz 47 dem Aufweis, daß der menschliche Geist Ideen von Einzeldingen hat: Dies ist der Fall, zum einen, insofern er Ideen von Affektionen seines Körpers hat, in welchen die Existenz des eigenen Körpers bzw. äußerer Körper gesetzt ist,263 zum anderen, insofern der menschliche Geist eine Vorstellung seiner selbst hat, in der seine eigene Existenz gesetzt ist.264 Aus der Theorie der Inadäquatheit von menschlichen Vorstellungen gewinnt Spinoza so den positiven Gehalt, daß menschlichen Vorstellungen, wenn sie die vergegenwärtigten Einzeldinge auch nur partiell und undifferenziert repräsentieren, jedenfalls das Merkmal zuzusprechen ist, daß in ihnen die Existenz der intendierten Dinge mitgesetzt ist. Mehr 262 Eth. Π, prop. 22: „Mens humana non tantum corporis affectiones, sed etiam harum affectionum ideas percipit." Solches Perzipieren von Ideen geschieht durch Ideen dieser Ideen. Im Beweis von Eth. II, prop. 22 heißt es darum ausdrücklich: „Affectionum idearum ideae". 263 Vgl. Eth.n, prop. 17, dem: „Solange der menschliche Körper so affiziert ist, wird der menschliche Geist [... ] diese Affektionen des Körpers betrachten, d. h. [... ], er wird die Idee eines wirklich existierenden Modus haben, eine Idee also, die die Natur des äußeren Körpers in sich schließt [involvit], d. h. eine Idee, die die Existenz oder Gegenwart der Natur des äußeren Körpers nicht ausschließt, sondern setzt [non secludit, sed ponit]". 264 Letzteres ist ihm bekanntlich möglich, weil er Vorstellungen von Körperaffektionen wiederum vorstellen kann (Eth. Π, prop. 23). S. o. B.3.a auf S. 74.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

braucht gar nicht gezeigt zu werden, um mit Verweis auf die Lehrsätze 45 und 46 nun konstatieren zu können, dem menschlichen Geist sei eine adäquate Erkenntnis der Essenz Gottes möglich. Denn nach Lehrsatz 45 bedeutet das Gesetztsein der Existenz von Einzeldingen in Vorstellungen zugleich einen Verweis auf die Essenz Gottes als auf die Ursache dieser Existenz und dieser Verweis kann nach Lehrsatz 46 als solcher in einer adäquaten Erkenntnis erkannt werden. Diese Erkenntnis ist dem menschlichen Geist, insofern er zur cognitio reflexiva fähig ist, möglich. Die Formulierung in Lehrsatz 47, wonach der menschliche Geist eine adäquate Erkenntnis der Essenz Gottes „habe", ist also als die Formulierung einer solchen Möglichkeit zu verstehen. Der Überschritt von der Möglichkeit der Erkenntnis der Essenz Gottes zu ihrer Wirklichkeit liegt allein im adäquaten Begreifen der Essenz Gottes. Daß dieses nicht allen Menschen gleichermaßen gelinge, darf eben nicht darüber hinwegtäuschen, daß es eine allgemeine Möglichkeit des menschlichen Geistes darstellt. Darauf scheint Spinoza Wert zu legen, wenn er im Scholium zu Lehrsatz 47 resümiert: „Hieraus sehen wir, daß die unendliche Essenz Gottes und seine Ewigkeit allen bekannt ist." 265 Spinoza behauptet hiermit keineswegs die tatsächliche Erkenntnis Gottes durch alle Menschen. 266 Die „Bekanntheit" mit dem Wesen Gottes resultiert allein aus der Struktur des menschlichen Geistes und sagt also nichts weiter aus als die Möglichkeit desselben zu einer adäquaten Erkenntnis des ihm prinzipiell zugänglichen weil in seinen aktualen Vorstellungen als Verweis enthaltenen - Wesens Gottes. 267 Was bedeutet nun die Möglichkeit der adäquaten Erkenntnis des Wesens Gottes für die Theorie der dritten Erkenntnisart? Spinoza notiert im Scholium zu Lehrsatz 47 eine höchst bemerkenswerte Folgerung, die den Zusammenhang der Möglichkeit zu adäquater Gotteserkenntnis mit der intuitiven Erkenntnis betrifft: „Und weil alles in Gott ist und durch Gott begriffen wird, folgt, daß wir aus dieser Erkenntnis [Gottes] sehr viele Dinge ableiten können, die wir adäquat erkennen, mithin jene dritte Erkenntnisattung bilden können, von der wir in Anmerkung 2 zu Lehrsatz 40 dieses Teils gesprochen haben". 268 Hier ist deutlich formuliert, 265 Eth. II, prop. 47, schol.: „Hinc videmus, Dei infinitam essentiam, ejusque aeternitatem omnibus esse notam." 266 Im weiteren Verlauf des Scholiums kommt Spinoza auf das Problem zu sprechen, warum nicht alle Menschen eine gleichermaßen klare Idee von Gott wie von den rationalen Gemeinbegriffen haben. 267 Vgl. auch Eth. IV, prop. 36, dem., wo Spinoza auf Eth. II, prop. 47, schol. verweist, wonach die Erkenntnis Gottes ein Gut sei, das „von allen Menschen, insofern sie von derselben Natur sind, in gleicher Weise besessen werden kann" (Hhg. C.E.). 268 Eth. Π, prop. 47, schol.: „Cum autem onmia in Deo sint et per Deum concipiantur, sequitur, nos ex cognitione hac plurima posse deducere, quae adaequate cognoscamus, atque adeo tertium illud cognitionis genus formare, de quo diximus in Scholio 2. Pro-

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daß mit der Möglichkeit adäquater Erkenntnis des Wesens Gottes, welche im Beweisgang der Lehrsätze 4 5 ^ 7 dargetan worden ist, unter der Bedingung von Eth. I, prop. 15 269 zugleich die Möglichkeit der dritten Erkenntnisart gegeben sein soll. Und zwar scheint diese Möglichkeit darin angezeigt, daß aus der gegebenen adäquaten Erkenntnis des Wesens Gottes, sofern alles aus Gott begriffen werden kann, viele weitere adäquate Erkenntnisse270 gebildet werden können, indem sie aus der adäquaten Erkenntnis des Wesens Gottes abgeleitet werden. Hiermit sind wir bei der Frage angelangt, in welchem Verhältnis Gotteserkenntnis und intutive Erkenntnis stehen. Gibt es eine Priorität der ersteren, aus der letztere dann gebildet werden kann, wie diese Formulierung im besprochenen Scholium nahelegt? Wie wir schon einleitend bemerkten, kann diese Frage nur eine Beantwortimg finden, wenn die Struktur der dritten Erkenntnisart vor dem Hintergrund der einschlägigen ontologischen Theorielagen rekonstruiert wird. Dieser Aufgabe soll der nächste Abschnitt nachgehen.

B. Der bewußtseinstheoretische Status intuitiver Erkenntnis Vor dem Versuch einer Rekonstruktion der Struktur der scientia intuitiva, die Aufschluß geben soll über deren bewußtseinstheoretischen Status, will ich kurz auf den Stellenwert des schon erwähnten arithmetischen Beispiels aus Eth. II, prop. 40, schol. 2 eingehen, weil dieses Beispiel eine der wichtigsten in diesem Zusammenhang herangezogenen Belegstellen darstellt. Alexandre Matheron hat in einer gründlichen Studie zu diesem Beispiel nicht nur einen Interpretationsvorschlag gegeben, der wesentliche Aspekte der scientia intuitiva zu erschließen vermag. 271 Er hat zunächst auch den erkenntnistheoretischen Stellenwert befragt, der einem arithmetischen Beispiel für die Erschließung der veranschaulichten Erkenntnisarten zugeschrieben werden kann. Diese Untersuchung scheint mir für den methodischen Status des Beispiels aufschlußreich. Nach Spinoza sind mathematische Elemente wie Zahlen und geometrische Figuren keine realen Dinge. 272 Während geometrische Figuren positionis 40. hujus Partis" 269 Der Bedingungssatz ist ein sinngemäßes Zitat von Eth. I, prop. 15, ohne daß allerdings ausdrücklich auf diesen Lehrsatz verwiesen würde. 270 Abgeleitet werden Ideen, die dem Kriterium der Adäquatheit genügen. Bartuschats Übersetzung „Dinge" ist also sinngemäß als „Dinge, die wir erkennen" zu lesen. Vgl. ed. Bartuschat 1999, S. 195. 271 Spinoza and Euclidean Arithmetic: The example of the fourth proportional (1986). 272 Vgl. Μ Gueroult: Spinoza I (1968), S. 155.

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immerhin Eigenschaften von Dingen bezeichnen können, 273 sind Zahlen bloß ein „Hilfsmittel der Einbildungskraft" zur Anordnung von Vorstellungen. 274 Die eigentliche Basis in re haben letztere nur, insofern sie Produkte der gemeinsamen Eigenschaft der Menschen sind, zählen zu können. 275 Wenn nun Zahlen als Hilfsmittel der Einbildungskraft allenfalls spezifische Eigenschaften des menschlichen Vorstellungsvermögens ausdrücken können, nicht jedoch die Essenz von Dingen, die dritte Erkenntnisart aber laut Definition gerade diese Essenzen zum Gegenstand hat, muß es als prinzipiell unmöglich angesehen werden, in einem arithmetischen Beispiel der Sache nach einen Fall intuitiver Erkenntnis vorzuführen. Dies sollte eine methodische Warnung davor sein, Charakteristika der dritten Erkenntnisart aus der Analyse dieses Beispiels entwickeln zu wollen. Die Tatsache, daß Spinoza zur Erklärung aller Erkenntnisarten dennoch auf ein arithmetisches Beispiel zurückgreift,276 spricht aber dafür, daß er den in Rede stehenden Zahlenverhältnissen des Beispiels sehr wohl ein gewisses Explikationsvermögen auch bezüglich der intuitiven Erkenntnis zumißt. Wenn die Arithmetik der Sache nach zwar keinen Fall der dritten Erkenntnisart vorführen kann, so kann sie doch als Erläuterung dieser Erkenntnisart durch Analogie fungieren. Das Beispiel kann dazu dienen, bestimmte Züge des in der Theorie intuitiver Erkenntnis entwickelten Gefüges von Gedanken anhand von strukturellen Parallelen in der Sprache der Arithmetik zu verdeutlichen. Auf die Bedeutung des Beispiels der gesuchten vierten Proportionalzahl in dieser Funktion kann daher erst eingegangen werden, nachdem eine Interpretation derselben unabhängig von diesem Beispiel vorgestellt worden ist. 277

1. Die Relevanz ontologischer Theoreme Die Struktur der scientia intuitiva ist nach ihrer Definition in Eth. II, prop. 40, schol. 2 durch den Zusammenhang der „adäquaten Idee der formalen Essenz gewisser Attribute Gottes" und der „adäquaten Erkenntnis der Essenz von Dingen" konstituiert.278 Will man aus dieser Struktur heraus etwas über ihren bewußtseinstheoretischen Status sagen, so 273 Vgl. A. Matheron: Spinoza and Euclidean Arithmetic (1986), S. 146. 274 Vgl. Ep. 12, Opera IV, S. 57. Spinoza erklärt hier, warum seiner Ansicht nach Maß (mensura), Zeit (tempus) und Zahl (numerus) nichts als „auxilia imaginationis" sind. Zur Interpretation des Briefes insgesamt vgl. M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 501-528. 275 Vgl. A. Matheron: Spinoza and Euclidean Arithmetic (1986), S. 146f. 276 Eth. II, prop. 40, schol. 2: „Haec omnia unius rei exemplo explicabo." 277 S.u.S. 109f. 278 „Atque hoc cognoscendi genus procedit ab adaequata idea essentiae formalis quorundam Dei attributorum ad adaequatam cognitionem essentiae rerum."

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ist man vor die Aufgabe gestellt, Aussagen über die Art und Weise des genannten Zusammenhangs zu machen. Die Grundüberlegung der nachfolgenden Ausführungen ist es, diesen Zusammenhang zwischen Ideen, der in der scientia intuitiva erfaßt wird, mit Hilfe der ontologischen Relation ihrer Ideata zu explizieren. Bevor diese Explikation aber im einzelnen vorgenommen werden kann, ist zuerst nach der Berechtigimg eines solchen Vorgehens zu fragen. Die Explikation ideeller Relationen durch entsprechende ontologische Relationen findet systemlogisch ihre Möglichkeit im Theorem der Isomorphie kausaler Strukturen verschiedener Attribute Gottes. Wie oben dargestellt, 279 erscheint dieses Theorem als Konsequenz einer Konzeption des Gottesbegriffs, in der Gott als eine in ihrem Wesen von tinendlichen Attributen konstituierte Substanz aufgefaßt wird. Denn sofern dieser Substanz unendliche, d. h. alle Attribute zukommen, stellt sie auch die einzige Realität dar. Ist es nun eine Implikation des Substanzbegriffes, daß aus ihr, sofern ihr Wesen von einem Attribut konstituiert wird, Unendliches folgt, so ergibt sich für eine Substanz mit unendlichen Attributen, daß aus jedem ihrer Attribute Unendliches folgt. Daß es aber ein und dieselbe einzige Substanz ist, deren ebenso einziges Wesen von verschiedenen Attributen konstituiert ist, bedeutet, daß die unendlichen Folgen der einen Substanz, d. h. die Modi, in allen Attributen in derselben kausalen Struktur erfolgen. Die kausale Verknüpfung von Ideen als Modi des Attributs Denken (Cogitatio) muß demnach strukturell dieselbe sein wie die kausale Verknüpfung von Modi jedes anderen Attributes. Nun zeichnen sich Ideen aber darüberhinaus durch die Besonderheit aus, etwas zum Gegenstand haben zu können, etwas objektivieren zu können. Es ist nun eine der wirklich entscheidenden Weichenstellungen in Spinozas Philosophie, daß er die Objektivierungsfunktion der Ideen mit deren ontologischem Status als Modi des Denkens zusammenführt. Der intentionale Bezug, der in der Objektivierungsfunktion zum Tragen kommt, wird ontologisch verstanden als ein inter-attributiver Bezug eines Modus des Denkens zu einem Modus eines anderen Attributs. 280 Da aber die Kausalverknüpfung der Modi des Denkens isomorph zu der der Modi anderer Attribute ist, bezieht sich eine Idee in ihrer Objektivierungsfunktion nicht auf irgendeinen beliebigen Modus anderer Attribute, sondern auf genau den, der in 279 Siehe Abschnitt A.2 auf S.48ff. 280 Hier soll einmal von der Möglichkeit des objektivierenden Bezugs von Ideen zu Modi des Denkens abgesehen werden. Dieser durch den Terminus der Idee der Idee ausgedrückte intra-attributive Bezug einer Idee kann sich aus denselben strukturellen Gründen auch nur objektivierend auf genau denjenigen Modus des Denkens richten, der im Kausalgefüge dieselbe Position einnimmt. Das kausalrelationale Gefüge der Ideen und das der Ideen der Ideen ist also ebenso isomorph. M. Gueroult (Spinoza Π [1974], S. 68) spricht hier von einem „parallelisme intra-cogitatif". S. o. S. 60ff und S. 78ff.

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der Kausalordnung des anderen Attributs dieselbe „Position" einnimmt wie in der Kausalordnung der Ideen. Das bedeutet, daß die Ideen in einem strukturgleichen kausalrelationalen Gefüge stehen wie ihre Ideata. Wenn daher etwas über das Verhältnis von Ideen zueinander ausgesagt ist, muß dies in gleicher Weise von dem Verhältnis ihrer Ideata zu sagen sein, und umgekehrt, wenn die Ideata in einem bestimmten Verhältnis stehen, müssen auch die sie objektivierenden Ideen in ebendemselben Verhältnis stehen. Dies bedeutet, daß es systemlogisch legitim ist, die Struktur der scientia intuitiva als Zusammenhang zwischen Ideen durch die Rekonstruktion des Zusammenhangs ihrer Ideata zu explizieren. 2. Struktur und bewußtseinstheoretischer Status Nach ihrer Definition bringt die intuitive Erkenntnis zwei Ideen in Zusammenhang: die Idee der „formalen Essenz gewisser Attribute Gottes" und die der „Essenz von Dingen". Im vorigen Abschnitt ist gezeigt worden, daß es, und zwar mit Berufung auf die Strukturisomorphie der Ordnung von Modi in verschiedenen Attributen, möglich ist, den Zusammenhang dieser Ideen zu explizieren, indem man den Zusammenhang ihrer Ideata untersucht. Denn das Verhältnis von Ideen muß im Sinne Spinozas genau dasselbe sein wie das ihrer Ideata. Deshalb ist hier nach dem Verhältnis der Ideata der in der intuitiven Erkenntnis in Zusammenhang gebrachten Ideen zu fragen. Wie steht also die „formale Essenz gewisser Attribute Gottes" in Beziehung zur „Essenz von Dingen"? Zur Formulierung des ersten Terminus sind drei Bemerkungen voranzuschicken. Der Ausdruck „formale Essenz" steht bei Spinoza im Gegensatz zur „objektiven Essenz". Während letztere etwas bezeichnet, insofern es Gegenstand einer Idee ist, bedeutet essentia formalis nichts anderes, als daß etwas „an sich", unabhängig davon, daß es Gegenstand einer Idee sein kann, betrachtet wird.281 Spinoza macht damit klar, daß es die intuitive Erkenntnis nicht mit der Idee des Attributsbegriffs zu tun hat, sondern mit der Idee des Attributs selbst. Eine zweite Bemerkung betrifft die Einschränkimg auf „gewisse" Attribute. Da wir es in der intuitiven Erkenntnis mit einer Erkenntnis des 281 So übersetzt Bartuschat essentia formalis im TIE durch „an sich seiende Essenz". Bennett (Study [1984], 154) übersetzt formaliter als „inherently" und objective als „representatively". Vgl. TIE § 35; Ba 31 u.ö. Dieser Sprachgebrauch Spinozas, den Jacobi von Spinoza überliefert (vgl. JWA 1/1, § 34, S. 108) bringt auch Schleiermacher in Verwirrung, der bereits den umgekehrten, modernen Sprachgebrauch teilt, wonach das Objektive das An-sich ist und nicht etwa das in einen Für-Bezug des Erkennens Gestellte. Vgl. KDSp 579.

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menschlichen Geistes zu tun haben, kommen hier nur die Attribute Denken lind Ausdehnung in Betracht, denn dem menschlichen Geist sind nur Modi dieser beiden Attribute zugänglich. 282 Für das in Frage stehende Verhältnis ist diese Einschränkung aber unerheblich, da es kraft der Strukturisomorphie zwischen den Attributen in jeglichem Attribut dasselbe sein muß. Eine dritte Bemerkung gilt der Tatsache, daß Spinoza hier Attribute Gottes als eine Bezugsgröße angibt. Attribute haben aber keine andere Funktion als die, die Essenz der göttlichen Substanz zu konstituieren.283 Wenn Spinoza hier also Attribute als ein Relat angibt, so ist als die eigentliche Bezugsgröße die Essenz Gottes gemeint, allerdings nicht schlechthin, sondern insofern sie von diesem oder jenem Attribut konstituiert wird. Wir können also die Frage folgendermaßen reformulieren: Wie stehen Essenzen von Dingen im Verhältnis zur Essenz Gottes? Dies ist aber genau die Frage der Theorie immanenter Kausalität.284 Rekapitulieren wir die Ergebnisse der oben angestellten Analyse dieser Theorie. Es war festgestellt worden, daß das Verhältnis von göttlicher Essenz und der Essenz von Dingen als eines immanenter Kausalität in einem Gottesbegriff grundgelegt ist, dessen wesentlicher Zug der Substantialität sich in zwei korrelierenden Ausdrücken von Kausalität fassen läßt. Der causa sui-Begriff zeigte sich als Grenzbegriff von Kausalität, in dem jegliche Relationalität aufgehoben ist. Diesem Grenzbegriff von Kausalität zufolge kommt der göttlichen Essenz qua Essenz auch Existenz zu. Anders verhält es sich mit dem Kausalitätsbegriff der causa rerum, für den die Ursache-Wirkungs-Relation konstitutiv ist. Diesem Begriff von Kausalität nach hat die göttliche Essenz eine unendliche Menge von Wirkungen. Mit dem Begriff der Substanz verbindet Spinoza nun beide Konzepte von Kausalität, d. h. für die göttliche Essenz gilt die Korrelation von causa sui und causa rerum. Damit ergibt sich eine für den Charakter göttlicher Kausalität grundlegende Verschränkung zweier Momente. Auf der einen Seite ist die göttliche Kausalität als causa sui schlechthin beziehungslos gesetzt und deshalb einfach, unteilbar und ewig. Auf der anderen Seite eignet ihr als causa rerum ein Bezug als Ursache auf von ihr hervorgebrachte Wirkungen. Drückt der erste Aspekt absolute Identität aus, so ist der zweite nicht ohne Differenz zu denken. Diese Verschränkung von Identitäts- und Differenzaspekt im Begriff göttlicher Kausalität kommt nun nicht nur für die nach dem Differenzaspekt von ihrer Wirkung unterschiedene Ursache, d. h. für Gott, in Betracht, sondern gilt gleichermaßen auch für die Wirkung: Auch am Orte 282 S.o.Abschnitte 1,S.91. 283 Eth. I, def. 4. S. o. S. 32. 284 S. ο. A 1, S. 14ff.

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der Wirkung bleibt also der Identitätsaspekt göttlicher Kausalität erhalten. „Identität" der Wirkung mit der Ursache ist dabei so zu verstehen, daß dieselben beiden Momente, welche die göttliche Kausalität kennzeichneten, also Existenz (causa sui) und Effektivität (causa rerum), in dieser Korrelation auch die Wirkung kennzeichnen. Für jede Wirkung göttlicher Kausalität läßt sich also sagen, daß ihr mit der Existenz auch eine ihr eigene Ursächlichkeit zukommt. Ihr kommt eine eigene Wirksamkeit zu, die zugleich als Wirksamkeit göttlicher Kausalität verstanden werden kann, aber nicht als absolute göttliche Kausalität, sondern als ihrerseits bedingte. Gerade im Charakteristikum einer eigenen Wirksamkeit ist sie nämlich als Wirkung von ihrer Ursache abhängig. Die Essenz von Dingen ist als Wirkung göttlicher Kausalität also auf der einen Seite dadurch, daß sie Wirkung ist, von der Essenz Gottes als ihrer Ursache kategorial unterschieden. Auf der anderen Seite ist sie dadurch, daß sie dieselben beiden Momente der göttlichen Kausalität in sich hat, nichts anderes als diese göttliche Kausalität, wenn auch, weil sie Wirkung ist, nur auf bestimmte Weise. D. h. in Spinozas Terminologie, die Essenz eines Dinges ist ein „Modus" göttlicher Kausalität. In dieser Formulierung sind beide Aspekte, der der Differenz und der der Identität zwischen göttlicher Essenz und Essenz der Dinge ausgesagt. Als Modus göttlicher Kausalität ist die Essenz eines Dinges selbst Ursache, dadurch daß sie Wirkung göttlicher Kausalität ist. Sie ist, indem sie wesentlich Ursächlichkeit ist, eins und dasselbe mit der göttlichen Essenz, aber auf der anderen Seite von ihr verschieden, weil sie in dieser ihrer Ursächlichkeit abhängig ist von der göttlichen Essenz. Was bedeutet es nun für die Struktur der intuitiven Erkenntnis, wenn die Ideata der in ihr in Zusammenhang gebrachten Ideen auf die geschilderte Weise in Relation stehen? Aus dem Theorem der Strukturisomorphie zwischen Attributen war gefolgert worden, daß das Gefüge kausaler Relationen zwischen Ideen und dasjenige ihrer Ideata strukturgleich sein müssen. Also muß die hier zusammengefaßte Struktur immanenter Kausalität, die für das Verhältnis von göttlicher Essenz und Essenz von Dingen gilt, auch für das Verhältnis der in der intuitiven Erkenntnis in Zusammenhang gebrachten Ideen gelten. Das Verhältnis der in der intuitiven Erkenntnis in Zusammenhang gebrachten Ideen muß demnach als ein solcher ideeller Zusammenhang verstanden werden, in dem auf der einen Seite eine Idee als die Ursache einer anderen Idee fungiert: Und zwar fungiert die Idee der Essenz Gottes als Ursache der Idee der Essenz eines Dinges. Oder logisch ausgedrückt: erstere Idee ist Grund, letztere ist Folge. Allerdings stellt diese GrundFolge-Relation nur einen Aspekt des Verhältnisses der in Rede stehenden Ideen dar. Auf der anderen Seite steht der oben genannte Identitätsaspekt des Konzeptes immanenter Kausalität, demzufolge es gerade die Selbig-

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keit von Ursächlichkeit ist, die am Ort der Ursache in einem absoluten oder unbedingten Sinn, am Ort ihrer Wirkung als bedingt genommen wird, indem die Wirkung gerade darin Wirkung ist, daß sie von ihrer Ursache die ihr (der Wirkung) eigene Ursächlichkeit erhält. Übertragen auf das Verhältnis der Ideen in der dritten Erkenntnisart bedeutet dieser zweite Aspekt, daß die Folge-Idee gerade darin Folge der Grund-Idee ist, daß sie selbst als Grund fungiert. Diese ihre Grundfunktion ist als Grundfunktion überhaupt dieselbe wie diejenige, der sie als Folge-Idee ihre Grundfunktion verdankt. In Hinsicht auf die Grundfunktion besteht also eine Identität von Grund-Idee und Folge-Idee. D.h. zwischen der Idee der Essenz Gottes und der Idee der Essenz eines Dinges besteht eine Identität gerade darin, daß aus beiden Ideen andere Ideen folgen, wobei dies andererseits für die Idee der Essenz Gottes in unbedingter Weise gilt und also unendliche Ideen aus ihr folgen, für die Idee der Essenz eines Dinges nur in bedingter Weise, weil sie gerade darin eine Folge der Idee der Essenz Gottes ist, daß aus ihr weitere Ideen folgen. Der Status der scientia intuitiva als eines kognitiven Vollzugs, in dem dieser Zusammenhang der Ideen aufgefaßt wird, ist nach der einen Seite hin ein Ableiten. Und zwar ein Ableiten der Idee der Essenz eines Dinges als der Folge-Idee aus der Idee der Essenz Gottes als ihrer Grund-Idee. Von daher erklären sich die oben aufgeführten Formulierungen, in denen Spinoza die scientia intuitiva als diskursiven Erkenntnisvollzug anzunehmen scheint: procedere, deducere, concludere. Nach der anderen Seite jedoch, in der die Identität der Grund- oder Fundierungsfunktion beider Ideen erfaßt wird, kann von einem Ableiten nicht die Rede sein. Denn hier vollzieht sich die Erkenntnis nicht als ein Vorwärtschreiten von einer Idee zur anderen, sondern als ein Erfassen eines einzigen identischen Sachverhalts, nämlich der Grundfunktion, ganz abgesehen davon, daß er sich in zwei voneinander unterscheidbaren Ideen findet. Dieses Erfassen der identischen Grundfunktion ist daher nicht-diskursiv. Denn es bedarf keines Fortschreitens von einer Idee zur anderen, weil in beiden die Grundfunktion als dieselbe in verschiedenen Modifikationen enthalten is. Sofern nur der Aspekt der identischen Grundfunktion betrachtet wird ist die Idee der Essenz Gottes auch mit der Idee der Essenz eines Dinges identisch und kann also in einem Blick erfaßt werden. Genau dieses nicht-diskursive Erfassen derselben Grundfunktion in der Idee der Essenz Gottes und der Idee der Essenz eines Dinges ist die Erklärung dafür, daß Spinoza der dritten Erkenntnisart das Prädikat „intuitiv" gibt. Hiermit haben wir ein wesentliches Ergebnis dieses Teils unserer Studie erreicht. Das Intuitive an der dritten Erkenntnisart hat sich als ein Aspekt ihres Vollzugsmodus herausgestellt, der den ontologischen Relationen des in dieser Erkenntnis repräsentierten Gehaltes genaue-

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stens entspricht. Das Identitätsmoment in der Struktur immanenter göttlicher Kausalität findet seinen epistemologischen Niederschlag im nichtdiskursiven Moment der dritten Erkenntnisart. Die Identität göttlicher Kausalität am Orte ihrer Wirkungen wird erkenntnislogisch in die Identität der Fundierungs- oder Grundfunktion transponiert, die der Idee des Wesens Gottes am Orte von Ideen existierender Einzeldinge zukommt. Freilich kann der Charakter des Vollzugs der dritten Erkenntnisart weder rein deduktiv noch rein intuitiv sein. Beides gehört notwendig zusammen und man kann so allenfalls von einem deduktiven und einem intuitiven Moment des Vollzugs der dritten Erkenntnisart sprechen. Denn die Einheit der Grundfunktion wird geschaut in differenten Ideen. Und die Differenz der Ideen in ihrer Grund-Folge-Relation, welche diskursiv durchlaufen werden kann, ist ein Resultat der einheitlichen Grundfunktion. Der bewußtseinstheoretische Status der intuitiven Erkenntnis besteht also in der Verschränkung eines deduktiven und eines intuitiven Momentes, die nicht aufeinander reduziert und nicht voneinander abgelöst werden können. Wollte man eine Charakterisierung finden, die beide Momente in sich faßt und so rekonstruktiv auf den Begriff bringt, was Spinoza durch seine doppelte Bestimmung des Vollzugs der dritten Erkenntnisart als „deduktiv" und „intuitiv" zum Ausdruck bringen wollte, so ließe sich diese Erkenntnisart als ein Bewußtseinsakt beschreiben, der eine apophantische Struktur aufweist. In der scientia intuitiva wird „etwas als etwas gesehen". Die Essenz eines Dinges wird gesehen als die Essenz Gottes in derjenigen Bestimmung, wodurch jene Essenz des Dinges aus dieser Essenz Gottes folgt. Zum einen ist in dieser Formulierung das deduktive Moment ausgedrückt, indem zwei voneinander unterschiedene Vorstellungen aufeinander bezogen werden und zwar als eine Grund-FolgeRelation. Zum anderen ist auch das intuitive Moment berücksichtigt: Durch das als wird für die aufeinander bezogenen Vorstellungen Identität in einer bestimmten Hinsicht ausgedrückt. Die angesprochene Hinsicht, in der hier eine Identität der Vorstellungen bewußt wird, wird von Spinoza durch die berühmte Partikel „quatenus" ausgedrückt. Die Idee der einzelnen Essenz ist identisch mit der Idee der Essenz Gottes, sofern die Essenz Gottes in jener Idee unter einem gewissen Attribut und als in gewisser und bestimmter Weise modifiziert betrachtet wird. 285 285 Vgl. Eth. I, prop. 25, corol.; Eth. Π, prop. 11, corol.; Eth. V, prop. 36, dem. Zur Bedeutung des quatenus für Spinoza vgl. M. Gueroult: Spinoza I (1968), S. 300. Schon J. v. Kuhn (Jacobi und die Philosophie seiner Zeit [1834]) sah im quatenus den Schlüssel („Zauberstab", S. 92) zu Spinozas Philosophie: „In diesem quatenus besteht auch das ganze Manöver der Spinozistischen Weltlehre, und nur durch es wird eine Vielheit in dem schlechthin Einen linterhalten, welche alsbald ins Nichtzuunterscheidende, absolut Unbestimmte, darum völlig Identische zurückfliesst, wenn man dem Spinoza seine Quatenuskrücke unter dem Arme wegstösst. Man kann sagen, das quatenus ist

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Das ontologische quatenus hat also nichts weniger als die für das spinozanische System grundlegende Relation von Substanz und Modi, wie sie im Theorem immanenter Kausalität ihre Explikation findet, auszudrücken. Seine epistemologische Entsprechung hat dieses „quatenus" in der ebenso berühmten Perspektivenformel, die neben dem Ausdruck „Deus sive Natura" wohl als die Zeiten überdauerndes Identifikationsmerkmal des Spinozismus gelten kann. Gemeint ist die Formel des „sub specie aeternitatis considerare". 286 Hierunter versteht Spinoza einen solchen Blickwinkel oder Gesichtspunkt, der Dinge in Bezug auf ihre Relation zur Ewigkeit betrachtet. Ewigkeit als Koinzidenz von Essenz und Existenz (Eth. I, def. 8) kommt strenggenommen zwar nur der göttlichen Substanz zu, aber das „sub specie aeternitatis considerare" spricht den Dingen auch nicht selbst Ewigkeit zu, sondern betrachtet sie nur im Hinblick auf ihre Relation zum Ewigen. Dies kann unter der zweiten wie unter der dritten Erkenntnisgattung geschehen. Denn die Adäquatheit einer Erkenntnis verbürgt zugleich, daß die so betrachteten Gegenstände in gewissen Hinsichten auf eine Weise gewußt werden, welche ihrem tatsächlichen Ort im Kausalgefüge entspricht, und also in diesen Punkten so gewußt werden, wie sie im unendlichen Verstand Gottes auf eine ewige Weise verknüpft sind. Ratio und scientia intuitiva kommen darin überein, die Dinge sub specie aeternitatis zu betrachten. D. h. aber zugleich, daß beide Erkenntnisarten die Dinge nicht in allen ihren Bestimmungen erkennen, sondern nur in jenen, welche sie als adäquat zu erfassen in der Lage sind. Der Aspekt der Ewigkeit vermag also keineswegs die empirische Kausalverknüpfung der Dinge in all ihren Relationen zu erbringen, sondern nimmt die empirische Bestimmtheit unter einem spezifischen Aspekt in den Blick. Die ratio kann, wie gesehen, gemeinsame Eigenschaften von Dingen in notiones communes erfassen und die scientia intuitiva nimmt an den Dingen deren kausale Verfaßtheit im Blick auf die göttliche Kausalitätskonstitution in den Blick. 287 das Spinozistische am Spinoza." (S. 101) Kuhn hat hier zwar die fundamentale Bedeutung dieser Differenzierungspartikel erfaßt, sieht das quatenus allerdings als einen schlechten Trick Spinozas an, mit dem er über das Problem der Verhältnisbestimmung von Vielheit und Einheit, das er letztlich nicht gelöst habe, hinwegtäuschen wolle (vgl. ebd., S. 90: „Quatenuskrücke"). 286 Die einschlägigen Belegstellen der Formel sind: Eth. Π, prop. 44, corol. 2; Eth. IV, prop. 62, dem.; Eth. V, prop. 22, schol.; prop. 23, schol.; prop. 29, dem. et schol.; prop. 30f; prop. 36. Vgl. dazu M. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 404-415. 609-615; F. Mignini: Sub specie aeternitatis (1994); Ch. Jaquet: Sub specie aeternitatis. Etude des concepts de temps, duree et eternite chez Spinoza (1997), bes. S. 109-123; P. Macherey: Introduction ä l'Ethique de Spinoza Π (1997), S. 344-346; ders.: Introduction V (1994), S. 144f; P. Di Vona: La conoscenza ,sub specie aeternitatis' nell' opera di Spinoza, Neapel 1995 [Rez. Studia Spinozana 14 (1998), ersch. 2004, S. 274f], 287 Eine terminologische Differenzierung der Ewigkeitsperspektiven der beiden Erkennt-

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Hier soll es tins nur auf die dritte Erkenntnisart und deren Spezifikum als eine Erkenntnis sub specie aeternitatis ankommen. Mir scheint die Formel in Bezug auf die scientia intuitiva eine reziproke Analogie zum „quatenus" auszudrücken. Während das „quatenus" die Modifikationshinsicht angibt, tinter der Gottes ewige Essenz in den Modi der verschiedenen Attribute sich ausdrückt und gleichsam die Funktion hat, die Differenz in der Identität anzugeben, nimmt das „sub specie aeternitatis considerare" der dritten Erkenntnisart die einzelnen Dinge unter dem Blickwinkel in Betracht, daß sich in ihnen göttliche Kausalität manifestiert. Es hat so gleichsam die Funktion, im Differenten endlicher Einzeldinge, die Identität göttlicher Kausalität zu bezeichnen. „Quatenus" und „sub specie aeternitatis" nehmen denselben Sachverhalt also unter zwei grundlegend verschiedenen Perspektiven in Augenschein. Die quatenus-Perspektive ist die der ontologischen Differenzierung: Die eine Substanz drückt sich in allen Dingen aus, aber in allen in einer modifizierten Weise. Jedes Ding ist in dieser Hinsicht gesehen Dews quatenus. Die sub-specie-aeternitatis-Perspektive hat gleichsam eine umgekehrte Blickrichtung. Sie geht vom einzelnen endlichen Ding aus und entdeckt daran ein Moment ewiger göttlicher Kausalität. Sie sieht die Wirkmächtigkeit der einzelnen Dinge als eine Manifestation der göttlichen Kausalität im Differenten. Das Differente ist im Hinblick auf die absolute Identität der göttlichen causa sui in einer doppelten Weise different. Einerseits, insofern es als Wirkung göttlicher Kausalität von dieser als Ursache verschieden ist, und andererseits, insofern die göttliche Kausalität am Ort des Einzelnen einen unendlichen, in sich differenzierten und sich immer weiter durch sich fortsetzende Wirksamkeit differenzierenden Zusammenhang endlicher und in diesem Zusammenhang individuell bestimmter Dinge stiftet. An diesen individuell bestimmten Entitäten, die in den Zusammenhang als Teile eingebunden sind, sieht die scientia intuitiva sub specie aeternitatis ein Moment, das sie als Wirksamkeit immanenter göttlicher Kausalität identifiziert. Dieses Moment ist die jedem Einzelding zukommende essentielle Wirkmächtigkeit oder Ursächlichkeit. Es wird unter einem Ewigkeitsaspekt gesehen als individuelle Modifikation - in dem genannten doppelten Differenzaspekt - der in allen Dingen identischen, aber nirgends an sich oder unmodifiziert wirksamen ewigen Kausalität Gottes. nisarten ist ausgehend von der Beobachtung, daß Spinoza in Eth. Π, prop. 44, corol. 2 von „sub quadam specie aeternitatis" und im fünften Teil nur noch von „sub specie aeternitatis" spricht, erwogen worden. Dabei ist zu beachten, daß in beiden Formeln nicht etwa eine andere Ewigkeit als die Ewigkeit Gottes gemeint wäre, sondern dieselbe Ewigkeit durch die ratio an den Proprietäten der Dinge festgemacht wird, durch die scientia intuitiva an deren Essenz. Vgl. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 613; Ch. Jaquet: Sub specie aeternitatis (1997), S. 119f.

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3. Das arithmetische Beispiel aus Eth. II, prop. 40, schol. 2 Vor diesem Hintergrund soll nun eine Interpretation des bereits erwähnten 288 arithmetischen Beispiels der gesuchten vierten Proportionalzahl unternommen werden. Das Erhellende des Beispiels in Bezug auf die dritte Erkenntnisart kann wie gesagt nur begriffen werden, wenn man es nicht als einen Fall derselben versteht, 289 sondern als ein Analogon auffaßt, in dem mit Hilfe von Zahlen und ihren Verhältnissen die Struktur der Gehalte und der Erkenntnisweise auch der dritten Erkenntnisgattung veranschaulicht werden soll. Der Sinn des Beispiels erschließt sich, wenn die Analoga aufgesucht werden zu den arithmetischen Elementen in der Formulierung, daß „wir aus genau dem Verhältnis der ersten Zahl [1] zur zweiten [2], das wir uno intuito sehen, die vierte [6] selbst erschließen" 2 9 0 Zunächst ist die Struktur des Beispiels zu analysieren. Matheron hat hier der Forschung den Weg gewiesen 2 9 1 Ich fasse zusammen: Das Verhältnis von 1 und 2 ist 1 /2. Dieses ist zugleich Prinzip der Relation von 1 und 2 und Prinzip der Relation von 3 und 6, nämlich einmal angewandt auf das kleinste gemeinsame Vielfache 1 das andere Mal auf das kleinste gemeinsame Vielfache 3. In Bezug auf die ersten beiden Zahlen ist 1 / 2 als Prinzip der Relation aber zugleich auch diese Relation selbst. Nur deshalb können wir uno intuito das Prinzip der Relation von 1 und 2 erfassen. 292 Dieses ist aber zugleich auch das Prinzip der Relation von 3 und 6. Um nun, wenn nur die 3 gegeben ist, die gesuchte Zahl zu erhalten, ist die 3 als kleinstes gemeinsames Vielfaches zu nehmen und auf das Prinzip 1 / 2 anzuwenden: 3 / 3 · 1 / 2 = 3/6. Die gesuchte Zahl ist also 6. Was kann nun dieses mathematische Beispiel zur Explikation der dritten Erkenntnisart beitragen? Es gilt diejenigen Elemente auszuma288 S. o. S. 99f. 289 Das scheint mir das grundsätzliche Mißverständnis E. Försters, der das Beispiel der konstanten Winkelsumme im Dreieck als Fall einer scientia intuitiva interpretiert und darüber hinausgehend behauptet, daß Spinoza, weil er nur mathematische Beispiele für diese Erkenntnisart beibringt, sie auch gar nicht für reale Dinge vorgesehen habe die Anwendung auf reale Dinge sei ein Verdienst, das erst Goethe zukomme. Vgl. ders.: Bedeutung der §§ 76,77 der Kritik der Urteilskraft (2002), S. 187f. Auch S. Carr (Spinoza's Distinction between Rational and Intuitive Knowledge [1978/1992], S. 250f/10f) sieht es als möglich an, daß mathematische Beispiele für Spinoza „as instances of intuitive as well as of rational knowledge" fungieren. 290 Eth. Π, prop. 40, schol. 2: „Ex. gr. datis numeris 1, 2, 3 nemo non videt quartum numerum proportionalem esse 6, atque hoc multo clarius, quia ex ipsa ratione, quam primum ad secundum habere uno intuito videmus, ipsum quartum concludimus." 291 Vgl. A. Matheron: Spinoza and Euclidean Arithmetic: The example of the fourth proportional (1986), bes. S. 148f. 292 Deshalb ist die Wahl der Zahlen im Beispiel von großer Wichtigkeit. Nur diese Formulierung mit den Zahlen 1 , 2 , 3 und 6, nicht schon diejenige in TIE § 23; Ba 22f/Geb l l f , die mit den Zahlen 2,4, 3 und 6 arbeitet, ist geeignet, die Analogie voll zu repräsentieren.

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chen, die die Analogie von Beispiel und gemeinter Sache begründen. Hier läßt sich Folgendes sagen: Wie die 1/2 im Beispiel zugleich die Relation von 1 und 2 und ihr Prinzip repräsentiert, so ist die göttliche Kausalität Prinzip ihrer selbst, Koinzidenz von Essenz und Existenz oder causa sui. Wie aber nun die 1/2 auch zugleich Prinzip der zweiten Relation ist, die von der ersten nur durch die Multiplikation mit einem gemeinsamen Vielfachen unterschieden ist, so ist die göttliche Kausalität nicht nur causa sui sondern zugleich causa rerum. Nämlich ist sie das Prinzip aller endlichen Kausalrelationen, die von der göttlichen Kausalität für sich betrachtet nur unterschieden sind durch ihnen eigene Bestimmungsmomente. Die endlichen Kausalrelationen stellen also Modifikationen göttlicher Kausalität dar. Dies ist die grundsätzliche Analogie. Darüber hinaus können noch zwei Einzelzüge in ein Entsprechungsverhältnis gebracht werden. Der eine Punkt ist, daß der zweite Term (3/6) keine irgendwie vereinzelte Entität ist, sondern eine Relation, die aus ihrem Prinzip von der ersten Relation her erfaßt wird. Das macht das Beispiel deutlich, indem es eine Gleichung von Relationen thematisiert: a / b = c / d . Der andere ergibt sich daraus, daß im Beispiel ein Relat der zweiten Relation gesucht und also zunächst unbekannt ist. Unbekannt heißt aber lediglich dem Erkennen bisher verschlossen. Die Proportion 3 / 6 besteht auch unabhängig davon, daß wir sie erkennen. In diesen Zügen kann das Beispiel auch Charakteristika der dritten Erkenntnisart erschließen. Was das erste betrifft, sind ihre Gegenstände, die essentiae rerum, keine einfachen Entitäten, sondern Relationen. Diese Relationen bestehen - und das ist das zweite - auch unabhängig davon, daß sie mit Hilfe der dritten Erkenntnisart in ihrer Ursache erkannt werden. Allerdings bringt diese Erkenntnisart etwas neu zu Bewußtsein, wenn sie die Relation, welche eine endliche Essenz ausmacht, von der göttlichen Kausalität als von ihrem Prinzip her versteht. Neu ist die Verknüpfung zweier Ideen, nämlich der Idee der göttlichen Kausalität mit der Idee der Kausalität eines Dinges. Diese Verknüpfung setzt die Ideen in ein Kausalverhältnis, indem die Idee der göttlichen Kausalität als Prinzip der Idee der Kausalität eines Dinges angesehen wird. Das bedeutet aber, daß diese Verknüpfungsfunktion des menschlichen Geistes selbst wiederum einen Fall von Kausalität eines Dinges darstellt, welche ebenso von der göttlichen Kausalität als von ihrem Prinzip her verstanden werden kann. Damit ist der menschliche Geist in diesem Akt kausaler Verknüpfung von Ideen und d. h. sofern er eine intuitive Erkenntnis vollzieht, selbst ein möglicher Gegenstand intuitiver Erkenntnis. Diese letzte Überlegung führt uns bereits auf die Frage nach der näheren Charakterisierung dessen, was in der dritten Erkenntnisart gewußt wird.

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C. Aspekte des wirklichen Vollzugs intuitiver Erkenntnis Drei Aspekte der Theorie der dritten Erkenntnisgattung sind bisher noch offen geblieben. Der erste Aspekt betrifft deren Gegenstandsbereich, der zweite ihren Prozeßcharakter und der dritte das affektive Moment. Alle drei Aspekte werden von Spinoza im fünften Teil der Ethik: De libertate Humana verhandelt. Was den ersten Aspekt betrifft, haben wir Spinozas Darlegung der Möglichkeit der scientia intuitiva sowie deren bewußtseinstheoretischen Status im Ausgang der Definition in Eth. II, prop. 40, schol. 2 rekonstruiert. Der dort niedergelegte Begriff hat aber in Hinsicht auf die Fassung des zweiten Terminus, also derjenigen cognitio, welche die scientia intuitiva in ihrem intuitiven Fortschreiten ausgehend von der Attributsidee erschließt, eine Unbestimmtheit im Ausdruck „rerum". Es heißt dort einfach nur, sie schreite „ad adaequatam cognitionem essentiae rerum" vor. Diese Unbestimmtheit ist m. E. bewußt so gesetzt. Denn die Rede von res läßt es noch ganz offen, um was es sich bei diesen res handelt. Betrachtet man den wirklichen Vollzug intuitiver Erkenntnis, so wäre allererst zu klären, was die mens humana denn auf diese Weise aufzufassen in der Lage ist und wie die cognitiones intuitivae dieser möglichen Gegenstände miteinander zusammenhängen. Offensichtlich scheint unter dem Oberbegriff scientia intuitiva eine bestimmte Form der Selbsterkenntnis, der Gotteserkenntnis und der Erkenntnis von „Dingen", die von der mens humana verschieden sind, versammelt zu sein. Im ersten Abschnitt werde ich mich diesem Komplex zuwenden und zu zeigen versuchen, daß Spinoza einerseits ein dezidiertes Programm der Selbsterkenntnis mit seinem Begriff der höchsten Erkenntnisgattung verbindet, der Begriff aber andererseits darin nicht aufgeht, sondern auf die Erfassung von dem menschlichen Geist äußerlichen Dingen - unter der Bedingung von Selbsterkenntnis - erweitert werden kann. In beiden Hinsichten verbindet sich darin mit der berühmten Formel des Begreifens „sub specie aeternitatis" das Verständnis der dritten Erkenntnisgattung als Gotteserkenntnis. Ausgehend von dieser Näherbestimmung des Gegenstandsbereichs ergibt sich als zweiter Aspekt des wirklichen Vollzugs der scientia intuitiva die Frage, inwiefern von einem Fortschritt in dieser Erkenntnisart gesprochen werden kann. Spinoza versucht einerseits aufzuzeigen, daß die scientia intuitiva selbst etwas Ewiges ist, andererseits gibt er aber auch Andeutungen, wonach das Begreifen von Dingen unter dieser Erkenntnisart selbst einem fortschreitenden Prozeß unterliegt. Was bedeuten die Steigerungsformeln (eo magis ... quo) für den Vollzug der dritten Erkenntnisgattung durch ein menschliches Subjekt? Ist die Steigerung qualitativ oder quantitativ zu verstehen und gibt es entsprechend

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nur eine Verbesserung in Bezug auf die Art und Weise des Erkennens oder ist auch eine Ausweitung des Gegenstandsgebietes damit gemeint? Ich werde, obwohl die Texte keine zwingende Interpretation zulassen, zu zeigen versuchen, daß Spinoza durchaus eine quantitative Steigerung vor Augen hat. Der dritte Aspekt betrifft, wie gesagt, das affektive Moment der scientia intuitiva. Dieses wird von Spinoza in der Theorie des „amor Dei intellectualis" in den letzten Lehrsätzen der Ethik behandelt. Es wird hier zunächst darum gehen, das Verhältnis von idea und affectus in Bezug auf die höchste Form der Erkenntnis zu untersuchen. Abschließend werde ich zu zeigen versuchen, daß die von Spinoza für den amor Dei intellectualis explizit gemachte Struktur von Gottesliebe, in der Gott sowohl als Objekt wie als Subjekt der Liebe firmiert, zugleich die Grundstruktur der scientia intuitiva spiegelt. 1. Näherbestimmung des Gegenstands In den letzten Sätzen seines Hauptwerkes, im Scholium zu Eth. V, prop. 42, bemerkt Spinoza, der Weise (sapiens) sei dadurch vom Unwissenden (ignarus) unterschieden, daß er „sich seiner selbst, Gottes und der Dinge nach einer gewissen ewigen Notwendigkeit bewußt" 293 ist. Vom Kontext her, der dem Weisen, sofern er nur als solcher betrachtet wird, einen wahren inneren Frieden (vera animi acquiescentia) zuspricht, ist hier auf das Resultat der scientia intuitiva verwiesen. Denn aus dieser entspringt jener Seelenfrieden (Eth. V, prop. 27). Dieses Resultat scheint also in einem Bewußtsein zu liegen, das den menschlichen Geist selbst, Gott und die Dinge in sich faßt. Will man diese drei Gegenstandshinsichten voneinander abgrenzen, beginnt es in der Interpretation der einschlägigen Lehrsätze (Eth. V, prop. 21-31) sehr schwierig zu werden. So zeichnet sich in der bisherigen Forschimg noch lange kein Konsens ab. 294 Zwei Probleme scheinen mir in dem Komplex voneinander abgrenzbar. Das erste betrifft die Art von Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes, wie sie durch die dritte Erkenntnisgattung vollzogen wird. Das 293 „sui et Dei et rerum aeterna quadam necessitate conscius". 294 Vgl. H. A. Wolfson: The Philosophy of Spinoza Π (1934), S. 289-325; Μ. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 460f. 616-618; A. Donagan: Spinoza (1988), S. 190-207; F. Alquie: Le rationalisme de Spinoza (1991), S. 310-331 ; W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 326-345; G. Lloyd: Part of Nature. Self-Knowledge in Spinoza's Ethics (1994), S. 105-147; P. F. Moreau: Spinoza. L'experience et l'eternite (1994), S. 533-549; M. D. Wilson: Spinoza's Theory of knowledge (1996), S. 126-132; F. Amann: Ganzes und Teil (2000), S. 282-292. Μ. D. Wilson zieht in ihrem Beitrag im ,Cambridge Companion to Spinoza' zur Frage nach der dritten Erkenntnisart ein eher resigniertes Fazit: „So in the end we are left with a riddle" (Spinoza's Theory of knowledge [1996], S. 132).

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zweite besteht in der Frage nach der intuitiven Erkenntnis von „Dingen", also von res, abgesehen von der diese Kognition vollziehenden mens humana. In beide Hinsichten spielt die Frage nach der Erkenntnis Gottes als die genuine Frage der scientia intuitiva hinein. Sie ist also nicht ablösbar von den beiden anderen. Die Argumentation ist sehr verschachtelt. Gehen wir vom Beweisziel aus Eth. V, prop. 31 aus. Es muß folgendermaßen formuliert werden: res tertio cognitionis genere cognoscere pendet a mente humana, tanquam a formali causa, quatenus mens ipsa aeterna est. Zu zeigen ist also, daß eine Erkenntnis von Dingen 295 nach der dritten Erkenntnisart nur unter der Bedingung der Macht des Geistes möglich ist, sofern der menschliche Geist selbst ewig ist. Von etwas als von einer formalen oder adäquaten Ursache abhängen heißt nämlich, aus der potentia agendi dieses ,etwas' vollständig erklärbar sein (Eth. III, def 1). Es ist aber hier jene potentia des menschlichen Geistes gemeint, die ihn als ewig ausweist. Eine solche potentia hatte Spinoza dem menschlichen Geist in Abgrenzung zur bloß auf die zeitliche Dauer bezogenen potentia zugesprochen (Eth. V, prop. 29). Denn - so der Beweis dieses Lehrsatzes - da der menschliche Geist auf nichts anderes als auf (seinen) Körper als wirklich existierenden bezogen ist, besteht seine, des menschlichen Geistes, Essenz einerseits darin, diesen Körper in seiner gegenwärtigen Existenz wahrzunehmen, andererseits, ihn in seiner Essenz sub specie aeternitatis 296 zu begreifen. Sofern nur diese zwei Vermögen (potentiae) 297 und nichts anderes die Essenz des menschlichen Geistes ausmachen, aus der ersten potentia, den Körper als zeitlich existierenden zu perzipieren, aber die Ewigkeit nicht erklärt werden kann, kommt nur diejenige potentia des menschlichen Geistes in Betracht, die darin besteht, die Essenz des menschlichen Körpers sub specie aeternitatis zu erkennen. Damit sind wir bei Eth. V, 295 So die präzisere Formulierung im Beweis. 296 Siehe dazu oben S. 106ff. 297 In dieser Lesart scheint mir die einzig schlüssige Interpretation des Beweises von Eth. V, prop. 29 zu liegen. Das Argument läuft folgendermaßen: Der menschliche Geist hat die potentia, Dinge in Beziehung auf Zeitlichkeit zu begreifen, sofern er die gegenwärtige Existenz seines Körpers begreift. Diese potentia gehört mithin zur Essenz des Geistes, weil Essenz nichts anderes als potentia bedeutet. Außerdem gehört aber auch (et etiam) zur Essenz des Geistes, die Essenz des Körpers sub specie aeternitatis zu begreifen. Außer diesen beiden potentiae (haec duo) gehört, weil sich der menschliche Geist nur auf den Körper actu existens bezieht (nach Eth. II, prop. 13), nichts zur Essenz des menschlichen Geistes. Weil es aber nun (sed quia) zur Natur der ratio, und also auch zur Essenz des menschlichen Geistes gehört, Dinge sub specie aeternitatis zu begreifen, muß diese Fähigkeit aus einer der beiden potentiae, sei es den Körper in seiner zeitlichen Existenz oder nach seiner Essenz zu begreifen, begreifbar sein. Da Ewigkeit aber aus der potentia, Dinge cum relatione ad tempus zu begreifen, nicht erklärt werden kann, muß die potentia, Dinge sub specie aeternitatis zu begreifen dem Geist insofern zukommen, als er die potentia hat, die Essenz des Körpers sub specie aeternitatis zu begreifen. Q.e.d.

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prop. 23 angelangt, der behauptet, gerade darin zeige sich der menschliche Geist als ewig, daß es zu seiner Essenz gehöre, eine Idee der Essenz des Körpers bilden zu können. Ewig deshalb, weil die Essenz des menschlichen Körpers nicht anders erkannt werden kann als aus der Notwendigkeit der Essenz Gottes, nämlich als aus dieser folgend. Die Erkenntnis der Essenz des Körpers erfüllt damit aber die Merkmale der Definition der scientia intuitiva! Es wir hier nämlich ein endlicher Modus, die Essenz des Körpers, als aus der Essenz Gottes folgend erkannt. Überblicken wir die Argumentation, die wir jetzt gerade vom Beweisziel zu den Prämissen rückwärts gegangen sind, so ergibt sich der merkwürdige Befund, daß die dritte Erkenntnisart von der dritten Erkenntnisart abhängt. Das Ganze ergibt nur einen Sinn, wenn man angeben kann, welche Art der intuitiven Erkenntnis von welcher davon abzugrenzenden abhängt. Bei der Formulierung des Beweisziels aus Eth. V, prop. 31 hatte ich bereits die genauere Formulierung aus dessen Beweis verwandt. Demnach wird von der Erkenntnis von Dingen nach der dritten Erkenntnisart eine Abhängigkeit ausgesagt. Und umgekehrt ist jene intuitive Erkenntnis, von welcher diese intuitive Erkenntnis von Dingen abhängt, ihrerseits eine näher eingegrenzte, nämlich diejenige intuitive Erkenntnis, die die Essenz des menschlichen Körpers zum Gegenstand hat. Spinozas These ist dabei, daß die Intuition von Dingen die Intuition des eigenen Körpers voraussetzt. Um dies zu verstehen und darüber hinaus zu zeigen, wie dies mit einer Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes zusammenhängt, gehen wir zunächst auf die letztgenannte Erkenntnis der Essenz des eigenen Körpers ein. Daß unser Geist den eigenen Körper in dessen Essenz erkennen kann, wird von Spinoza im Verweis auf seine allgemeine Bestimmung des Gegenstands des menschlichen Geistes erklärt. 298 Die mens humana repräsentiert den eigenen wirklich existierenden Körper und nichts anderes. Jedem existierenden Einzelding kommt aber nach Spinozas Essenzverständnis (Eth. II, def. 2) eine Essenz zu, die notwendig gesetzt sein muß, sofern das Ding existiert. Also muß der menschliche Geist, wenn er den M. Gueroult (Spinoza Π [1974], S. 617) schlägt vor, „haec duo" als die zwei Arten, den menschlichen Körper zu begreifen zu verstehen. Meine Interpretation geht in dieselbe Richtung, hebt allerdings auf den potentia-Charakter dieses Verstehens ab, wodurch deutlich wird, warum dieses Verstehen als zur Essenz des menschlichen Geistes gehörend beschrieben werden kann. Der Vorschlag von W. Bartuschat, haec duo als Idee und Körper zu lesen (in seiner Übersetzung der Ethik [1999] in Parenthese gesetzt) scheint mir irreführend. Denn wie sollte der Körper zur Essenz des Geistes gehören? Allenfalls könnte man hier die Unterscheidung von essentia formalis, das wäre die Idee, und essentia objectiva, das wäre der Körper, auf den menschlichen Geist als Idee anwenden. Aber ich sehe nicht, wie dies, obschon es nichts Falsches aussagt, den Beweisgang weiter erschließt. 298 Vgl. den Verweis auf Eth. II, prop. 13 in Eth. V, prop. 23, dem.

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existierenden Körper mental repräsentiert, auch dessen Essenz repräsentieren (Eth. V, prop. 23). Die Möglichkeit der Repräsentation bedeutet aber nun noch keineswegs die Wirklichkeit einer intuitiven Erkenntnis. Denn für diese gelten, nicht anders als für die ratio, die Bedingungen für adäquate Erkenntnisse. Es reicht nicht hin, daß der menschliche Geist die Idee des Körpers ist und darin in der eigenen Essenz notwendig enthalten ist, auch die Idee der Essenz des Körpers zu enthalten. Der menschliche Geist muß sich, soll er eine adäquate Erkenntnis haben, der in ihm enthaltenen Idee auch bewußt sein. D. h. er muß - nach Spinozas Theorie einer Idea ideae - diese oder jene Idee, die er hat, zum Gegenstand einer Idee machen und beide so voneinander differenziert wissen, damit seine Ideen als adäquate bezeichnet werden können. Oder anders formuliert: er muß sich selbst erkennen. Denn der menschliche Geist besteht aus nichts anderem als aus den Ideen, die er hat. Und zwar muß er sich, um adäquate Ideen zu haben, als einen solchen selbst erkennen, der diese und jene Idee differenziert voneinander in sich enthält. Für die in Frage stehende Erkenntnis der Essenz des Körpers hat diese Überlegung zur Folge, daß in demselben Akt, in welchem der menschliche Geist eine adäquate Idee der Essenz des Körpers bildet, er zugleich eine Erkenntnis seiner selbst hat, nämlich als jene Idee habend. Beides, und darauf kommt es nun an, sind nun seinerseits Erkenntnisse von der Struktur der intuitiven Erkenntnis. Denn die Essenz des Körpers mag als bloße Idee im menschlichen Geist vorhanden sein, als adäquate oder bewußte Idee kann sie eine Erkenntnis der Essenz des Körpers nur sein, sofern sie mit der Idee Gottes als der Ursache aller Essentialität verknüpft wird. Die adäquate Idee der Essenz des Körpers ist mithin eine adäquate Intuition als das Wissen der Identität von Gottesidee und Idee der Essenz des Körpers in der Differenz beider Ideen. Damit ist nun auf der anderen Seite zugleich eine Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes verbunden, die ihrerseits ebenso die Struktur der intuitiven Erkenntnis hat. Denn sofern die mens humana sich dieser Verhältnisse ihrer Ideen bewußt ist - und nur in dieser Bewußtheit vollzieht sie eine adäquate Erkenntnis - ist sie sich zugleich ihrer selbst in genau jenem Haben dieser Ideen bewußt. Sofern darin die Idee, welche die Essenz des Körpers mental repräsentiert, in ihrem Verhältnis zur Idee Gottes bewußt ist, kann man hier auch von einer intuitiven Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes sprechen. Die mens humana weiß in dieser Erkenntnis nämlich sich im bewußten Verknüpfen der beiden in ihr enthaltenen Ideen als in einem Verhältnis zu Gott unter dem Attribut Cogitatio betrachtet, das dem der immanenten Kausalität entspricht und somit die Grundstruktur der scientia intuitiva erfüllt. Sie erkennt sich in diesem Verhältnis ihrer Ideen nämlich als einen Modus von Cogitatio, der im Herstellen der Verknüpfung von Idee Gottes und Idee der Essenz des

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Körpers eigene Aktivität entfaltet. Diese eigene Aktivität bewußt zu haben heißt, sie wiederum als eine Manifestation göttlicher Aktivität unter dem Attribut Cogitatio zu betrachten. So ist mit der intuitiven Erkenntnis der Essenz des eigenen Körpers immer auch eine intuitive Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes verbunden. Diese ganze Argumentation dürfte unausgesprochen hinter dem Übergang von Eth. V, prop. 29 zu Eth. V, prop. 30 stehen, worin unvermittelt von einer Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes die Rede ist. Allerdings geht m.E. die dritte Erkenntnisart nicht in einer solchen Selbsterkenntnis auf. 299 Wie kommt es aber nun zur intuitiven Erkenntnis von Dingen? Und wie ist es verständlich zu machen, daß Spinoza diese Erkenntnis von der intuitiven Erkenntnis der Essenz des Körpers bedingt sein läßt? Zum einen muß Spinoza die Erkenntnis sub specie aeternitatis von derjenigen, die die Dinge in zeitlicher Hinsicht betrachtet abgrenzen. Die entsprechende Argumentation lief, wie dargestellt, darauf hinaus, Existenzbetrachtung von Essenzbetrachtung zu differenzieren und die Erkenntnis der Dinge sub specie aeternitatis als eine Form der Essenzbetrachtung zu bestimmen. Nun ist damit aber noch nicht hinreichend differenziert. Denn auch die Essenz der Dinge ist uns nicht anders als über die Idee des Körpers, die wir als menschlicher Geist sind, zugänglich. Im Grunde genommen spielt also das gleiche Argument, das zur Demonstration der Möglichkeit adäquater Erkenntnis führte, auch zum Beweis der Möglichkeit intuitiver Erkenntnis der Dinge die Hauptrolle. Und das ist ja nicht weiter verwunderlich, weil es sich bei der intuitiven Erkenntnis ja um eine adäquate Erkenntnis handeln soll. In der Idee unseres Körpers, die eine Idee der körperlichen Affektionen ist, sind aber die Ideen der Essenzen der vom eigenen Körper verschiedenen Dinge nur als Ideen der Ursache der bestimmten Affektion des eigenen Körpers gegeben. Sollen diese Essenzen aber nun als solche gewußt werden, ist es nötig, sie von der Idee der Essenz des eigenen Körpers abzugrenzen und sie also „klar" zu erkennen. Deshalb hängt die intuitive Erkenntnis solcher Essenzen von der intuitiven Erkenntnis der Essenz des eigenen Körpers ab und damit zugleich von der Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes nach der dritten Erkenntnisart. Damit ist das Beweisziel von Eth. V, prop. 31 wieder erreicht. Was nun darin erkannt wird, wenn die Essenz einer res singularis erkannt wird, kann nach der Adäquatheitsregel aus Eth. II, prop. 38 nur dasjenige sein, was die Essenz des eigenen Körpers mit der Essenz der äußeren affizierenden Körper gemein hat. Und dieses Gemeinsame können freilich nicht die Essenzen selbst sein 300 , sondern es muß sich um etwas an 299 So versteht es hingegen W. Bartuschat: Subjekt und Metaphysik (2001), S. 24. 300 Nach Eth. Π, prop. 37: „Was allen Dingen gemeinsam ist und was gleichermaßen in einem Teil wie in dem Ganzen ist, macht nicht die Essenz eines Einzeldinges aus".

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diesen Essenzen handeln. Es bleibt nichts anderes301 als die Konstitution jedweder Essenz durch die immanente göttliche Kausalität oder anders gesagt: das Einbegriffensein der jeweiligen Essenz im unendlichen Modus des zugrundeliegenden Attributs. Dieses Gemeinsame, was in der intuitiven Erkenntnis der Dinge genauso wie in der des eigenen Körpers erfaßt wird, ist dennoch kein Abstraktum. Die Struktur immanenter Kausalität kann immer nur ausgehend von einem bestimmten existierenden Einzelding in der intuitiven Erkenntnis erfaßt werden, und zwar nur ausgehend von solchen Einzeldingen, welche unseren Körper affizieren. Nur deren Essenzen sind uns ideell zugänglich, sofern wir als Geist nur mentale Repräsentation unseres Körpers sind. Dies Gemeinsame wird also immer an einem Bestimmten erkannt. Und dies ist nicht etwa eine Subsumtion eines bestimmten einzelnen Falles unter eine vorher bekannte Regel, auch nicht die Aufstellung der Regel selbst, sondern ein je sich vollziehender Gedanke, der im existierenden Einzelding qua Essenz die göttliche Essenz in ihrer immanenten Kausalität am Werke sieht. Ich interpretiere also die Aussage Spinozas im Scholium von Eth. V, prop. 36, die dritte Erkenntnisart sei als „Erkenntnis von Einzeldingen (rerum singularium cognitio)" der zweiten als „auf Allgemeines gerichtete Erkenntnis (cognitione universali)" überlegen, nicht dahingehend, die zweite verhalte sich zur dritten Erkenntnisart wie die Applikation einer allgemeinen Regel auf einen gegebenen Einzelfall zur Aufstellung der Regel selbst. 302 . Vielmehr scheint es mir wichtig zu betonen, daß es in beiden Erkenntnisarten um die Erkenntnis von Einzeldingen303 geht. In der ratio werden dabei aber lediglich allgemeine Aspekte, nämlich Proprietäten von Einzeldingen, thematisch, wohingegen die scientia intuitiva die Essenz der Einzeldinge erfassen kann. 304 Und dies letztere immer zugleich damit, daß der menschliche Geist - wie Spinoza am Anfang desselben 301 Vgl. Eth. Π, def.l; lemma 2 nach prop. 13. Jeder Körper impliziert den Begriff des Attributs Extensio. 302 So M. Gueroult: Spinoza Π (1974), S. 454f. 303 Vgl. die dahingehende Interpretation von S. Carr: Spinoza's Distinction between Rational and Intuitive Knowledge (1978), S. 8-10. 304 An dieser Stelle sei noch einmal an das Problem erinnert, ob in Spinoza Philosophie individuelle Essenzen denkbar seien (dazu oben S. 44ff). Wie Gueroult überzeugend dargelegt hat, vermeidet Spinoza die Rede von individueller Essenz sorgfältig (vgl. M. Gueroult: Spinoza II [1974], S. 459-463). Dennoch leuchtet mir Gueroults Alternativvorschlag, Spinoza habe als Gegenstand der scientia intuitiva die „essences specifiques" vor Augen, auch nicht recht ein, sofern er damit nämlich eine Essenz der Gattung bspw. der Gattung Mensch versteht (S. 463). Soll die Essenz wirklich Essenz sein und nicht notio communis, dann darf sie sich nicht auf mehrere Exemplare einer wie auch immer zu bestimmenden Gattung beziehen. Essenz, als das was das Ding in seiner Existenz setzt, ist strikt, wenn auch nicht als individuelle Essenz, dann doch als Essenz eines Individuellen zu verstehen. Diese Essenz von Einzeldingen kann dann hinsichtlich ihrer Konstitution hin auf deren göttliche Verursachungsstruktur durchsichtig gemacht werden, was in der intuitiven Erkenntnis geschieht.

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Scholiums hervorhebt - sich selbst in seiner Essenz und, sofern er die Idee der Essenz des Körpers an der Idee des existierenden Körpers bildet, auch in seiner eigenen Existenz erkennt: nämlich als existierende Idee als aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur folgend. Die Komponente der Selbsterkenntnis, ohne die eine intuitive Erkenntnis von Einzeldingen nicht zu haben ist, macht es zugleich aus, daß die dritte Erkenntnisart den Geist mehr „affiziert" als ein allgemeiner Beweis der ratio, 305 welcher die in der scientia intuitiva erfaßte Struktur von göttlichen Attributen, Essenz und Existenz von Einzeldingen, mit Hilfe von notiones communes nur als Proprietäten von Einzeldingen, nicht von ihrer Essenz her aufzustellen weiß. Es kann hier, das sei nur angemerkt, nicht darum gehen, die dritte Erkenntnisart im Allgemeinen als Bedingung der zweiten zu rekonstruieren.306 Die ratio kann notiones communes bilden - beispielsweise die Charakteristik von Affekten als spezifische Gemeinsamkeiten von Menschen darin erfassen - völlig unabhängig von einer Intuition der entsprechenden Gegenstände. Was Spinoza in diesem Scholium nur anspricht, ist eine Überordnung der dritten Erkenntnisart genau in jenem Punkt, Essenzen zu begreifen. Dies ist der ratio prinzipiell nicht möglich. In dem von ihm im Scholium von Eth. V, prop. 36 angesprochenen Beweis, der auf Eth. I, prop. 25 verweist, nimmt die ratio „Essenz", „Existenz" und „Attribut" als notiones communes, nämlich als etwas allen Einzeldingen Gemeinsames, und bleibt darin der Essenz einer bestimmten existierenden res singularis äußerlich. Mit der Diskussion um die Verhältnisbestimmung der beiden adäquaten Erkenntnisarten und mit der Bestimmung der scientia intuitiva als ein je sich vollziehender Gedanke nähern wir uns bereits der Frage, wie ein Fortschreiten in der dritten Erkenntnisart zu denken wäre. 2. Das Problem des Fortschreitens in der intuitiven Erkenntnis Mit Eth. V, prop. 24 führt Spinoza in die Theorie der scientia intuitiva ein Moment ein, das hier unter dem Titel des „Fortschreitens" in der dritten Erkenntnisart diskutiert werden soll. „Quo magis res singulares intelligimus, eo magis Deum intelligimus." Ein Bündel von Fragen tut sich in der Konsequenz dieses Lehrsatzes auf, die für die Gesamtinterpretation der spinozanischen Philosophie zum Teil gewichtige Auswirkungen haben. Zunächst einmal wäre zu klären, in welchem Maße dieser Lehrsatz überhaupt für die Theorie der scientia intuitiva in Anspruch genommen werden kann. Wolfgang Bartuschat hat die Lesart vorgeschlagen, hier im 305 Vgl. W. Bartuschat: Spinoza Theorie des Menschen (1992), S. 363f. 306 Darauf läuft Gueroults Interpretation hinaus.

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Grunde das Resultat des Übergangs von der zweiten zur dritten Erkenntnisart formuliert zu finden. 307 Daher auch seine Übersetzung: „Je mehr wir Einzeldinge einsehen" oder noch deutlicher: „je mehr wir in dieser Weise Dinge einsehen". 308 Die Pointe des Satzes liegt seiner Meinung nach darin, daß es hier u m einen qualitativen Vergleich der Erkenntnisgattungen gehe. Je mehr wir demnach dieselben Dinge in der dritten Erkenntnisgattung und nicht bloß in der zweiten betrachten, desto mehr sehen wir dadurch Gott ein. Gegen diese Interpretation ist gar nichts einzuwenden, denn es ist in der Tat ein Fortschritt in der Gotteserkenntnis, die Dinge intuitiv zu erkennen, denn im rationalen Erkennen ist Gott nur in seiner Notwendigkeit in Gemeinbegriffen erfaßt, nicht aber in seiner Essenz, die nur über die Essenzen der Dinge selbst einsehbar ist. Zugleich darf - u n d hierin würde ich Bartuschats Interpretation auszuweiten versuchen - dies nicht so verstanden werden, als sei damit das im 24. Lehrsatz ausgedrückte dynamische Moment bereits hinreichend expliziert. Die dort ausgesagte Steigerung der Gotteserkenntnis hängt nicht nur davon ab, Dinge überhaupt nach der dritten Erkenntnisgattung zu begreifen, sondern auch insbesondere davon, immer mehr Einzeldinge auf diese Weise zu begreifen. 309 Dem Satz eignet mithin eine quantitative Bedeutung. Daß dies nicht heißen kann, Regentropfen zu zählen, versteht sich von selbst. Denn es geht ja keineswegs u m die numerische Summierung von Exemplaren einer Gattung, sondern u m die verstehende mentale Aneignung (intelligere) der Essenz von Individuen. 310 Individua in dem spinozanischen Sinne nicht von Exemplaren einer Gattung, sondern von Teilen eines Ganzen, sind nicht abzählbar, weil sie als Bestimmungsmomente eines Kontinuums gedacht sind. 311 Die Einzeldinge ihrer Essenz nach zu verstehen, heißt sie als bestimmte Teile eines Ganzen aufzufassen oder anders gesagt als endliche Modifikationen in der Totalität von Modifikationen, welche von der ewigen Essenz Gottes konstituiert ist. Das Mehr-Erkennen Gottes bezieht sich also auf Deus quatenus modificatus est, auf Gott, insofern sich in seinen Modifikationen seine Wirkmacht (potentia) manifestiert. Und diese Manifestation seiner Wirkmacht kann nicht in einem Begriff absoluter oder leerer Einheit gefaßt werden, 307 308 309 310

W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 334. Eth. V, prop. 25, dem; prop. 27, dem. Vgl. M. Walther: Metaphysik als Anti-Theologie (1971), S. 115. Deshalb scheint mir der Gegensatz bei Konrad Cramer etwas schief. Er exkamotiert das quantitative Verständnis mit Verweis auf das „Regentropfen zählen" (K. Cramer: „Anschauung des Universums". Schleiermacher und Spinoza [2000], S. 137). 311 Vgl. Eth. Π, def. 7.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

sondern nur in einem Begriff von Totalität. Nur innerhalb der Totalität läßt sich überhaupt das Moment der Steigerung denken. Allerdings nicht, sofern man diese Totalität nach den einschlägigen ontologischen Bestimmungen (Eth. I, prop. 16. 21) als unendlich und ewig ansieht, sondern sofern ein endlicher menschlicher Geist sich und die Dinge sub specie aeternitatis in Relation auf diese Totalität versteht. Das menschliche Erkennen, auch in der Art und Weise der dritten Erkenntnisart, unterliegt in seinem wirklichen Vollzug der zeitlichen Progression. Die scientia intuitiva ist trotz des Ewigkeitsaspektes, unter dem sie ihre Gegenstände versteht, im Werden. 312 Denn sie vermag nicht die Essenzen von Dingen zu erkennen unabhängig vom wirklichen Gegebensein dieser Dinge als im menschlichen Geist repräsentiert. Die Ideen jener Essenzen sind nichts als spezifische Distinktionshinsichten an Vorstellungen, welche die Dinge in ihrer aktualen Existenz zum Gegenstand haben. Und der Gehalt menschlicher Vorstellungen repräsentiert keineswegs eine Totalität von Dingen, sondern lediglich jene die unseren Körper affizieren und folglich in unserem Geist ihren entsprechen mentalen Ausdruck als Idee finden. Deshalb beschreibt Spinoza das Erkennen nach der dritten Erkenntnisart als ein Streben (conatus) des Menschen (Eth. V., prop. 25). Der Mensch vermag Gott in der Totalität seiner Modifikationen nicht ein für allemal und in einem Akt zu erkennen, sondern dieses Erkennen unterliegt einer Hemmung, die nicht nur darin besteht, daß die imaginatio oder die ratio anstelle der cognitio intuitiva sich die Dinge nach ihrer Weise verständlich machen, sondern die auch darin besteht, daß das Blickfeld des Menschen eingeschränkt ist und er sich überhaupt nur diejenigen Einzeldinge in der gegenüber imaginatio und ratio intensivierten, intimeren 313 anschauenden Wesenserkenntnis mental zueigen machen kann, welche ihm als seinen Körper affizierend vor das geistige Auge 314 kommen. Die Perfektibilität der dritten Erkenntnisart richtet sich also in ihrem quantitativen Aspekt auf das Vorantreiben einer intuitiven Einsicht in das Wesen von immer mehr der uns affizierenden Einzeldinge, d. h. auf die Approximation eines essentiellen Verstehens (intellectio) aller Dinge überhaupt, wie es von Spinoza in seiner Totalität nicht dem endlichen menschlichen, sondern nur dem unendlichen Verstand zugesprochen wird. Für den menschlichen Verstand ist dieses Streben mit erheblichen Mühen verbunden und dementsprechend selten.315 Dies aber nicht deshalb, weil die intuitive Erkenntnis an sich so anstrengend wäre, sondern weil sie gegenüber den beiden anderen Erkenntnisarten ihre mentale Dif312 313 314 315

Vgl. M. Walther: Metaphysik als Anti-Theologie (1971), S. 131. TIE § 95; Ba 8 4 / G e b 34. Vgl. Eth. V, prop. 23, schol. „Omnia praeclara tarn difficilia quam rara sunt" (Eth. V, prop. 42, schol.).

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ferenzierungsleistung zu vollbringen hat. Und zwar im Widerstreit gegen die imaginatio,316 die durch die schlagende Plattheit von Assoziationsmustern besticht, und in der Weiterführung der in der ratio angelegten adäquaten Erkenntnis der Proprietäten von Dingen hin zur Einsicht in deren Wesen. Die intuitive Einsicht selbst, wenn sie einmal in ihrem Vollzug erreicht ist, ist dabei eine Tätigkeit des menschlichen Geistes, in welcher dieser durch keine ihm äußeren Ursachen bedingt und also frei ist. 317 Als Gegenstand eines Strebens unterliegt die dritte Erkenntnisart also einerseits den Beschränkungen, die dem menschlichen Geist als einem endlichen Geist zukommen und befindet sich in ihrem Vollzug in einem Prozeß des Fortschreitens, immer mehr der ihn affizierenden Einzeldinge in deren Wesen zu erkennen. Der Anteil, den der menschliche Geist an der vollständigen Intellektion der Totalität von Dingen, wie sie im unendlichen Verstand gedacht werden, wächst mithin mit jeder intuitiv eingesehenen res singularis. Darin ist die scientia intuitiva im Werden begriffen. Andererseits ist sie reiner Vollzug der dem menschlichen Geist eigenen Aktivität, weil sie dessen eigene Essenz sowie die Essenz der Dinge in ihrem immanenten Grund und nicht in der Komplexion äußerer Ursachen versteht. Auf diesen Aspekt gründet Spinoza seine berühmte Theorie des amor Dei intellectualis.

3. Amor Dei Intellectualis als affektive Seite intuitiven Erkennens Die Affektenlehre ist das, was Spinozas , Ethik' zu einer Ethik werden läßt. Denn es sind die Affekte, die die Handlungsmacht des Menschen verändern und zugleich sein Streben so oder anders zu handeln bestimmen. 318 Der Affektbegriff wird von Spinoza im Blick auf die Gleichursprünglichkeit der Attribute so offen gehalten, daß er sowohl physiologisch als Veränderung und Bestimmung körperlicher Vorgänge als auch psychologisch als Veränderung und Bestimmung mentaler Vorgänge im Menschen herangezogen werden kann. 319 Das Besondere an Spinozas ethischer Konzeption mentaler Affekte ist es nun, daß darin Affekte als in einer unlösbaren Verbindung zu kognitiven Vorgängen stehend betrachtet werden. Der mentale Affekt hat gegenüber dem körperlichen Affekt 316 Vgl. M. Gueroult: Spinoza Π (1974), 443: „Ce qui commence alors dans l'Ame, ce n'est pas la connaissance due troisieme genre elle-meme, c'est la primaute de celle-ci sur la connaissance imaginative." 317 Vgl. zum spinozanischen Begriff der Freiheit: L. Kreimendahl: Freiheitsgesetz (1983); Ch. Ellsiepen: Immanenz und Freiheit. Spinozas Beitrag zur Religionsphilosophie (2005). 318 Dies hat in einer briUianten Studie jüngst Achim Engstier klargestellt. Vgl. A. Engstier: Spinozas Begriff des Affekts (2002). 319 Ebd., S. 115-123.

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

den Vorzug, daß er durch diese Verbindung zur Kognition durch den menschlichen Geist selbst in seiner dessen Handlungsmacht verändernden Wirksamkeit beeinflußt werden kann. Der körperliche Affekt - von Spinoza auch als körperliche Affektion beschrieben-birgt diese Möglichkeit nicht, da er nichts als physiologischer Ausdruck der Kausalkonstellation ist, in welcher sich der menschliche Körper befindet. 320 Der mentale Affekt, von dem im Folgenden auschließlich die Rede sein wird, steht schon im Blick auf die Möglichkeit seiner Beeinflussung, die erst im vierten und fünften Teil der , Ethik' dargestellt wird, bereits im Mittelpunkt des Interesses auch von deren drittem Teil, in dem Spinoza „De Origine et Natura Affectuum" zu handeln verspricht. Die Grundüberlegving, die hinter dieser Anordnung steht, ist etwa Folgende. Steht jeder Affekt in einer unlösbaren Verbindung zu einem Kognitionsvorgang - welcher Art, wird noch zu klären sein - und ist die Sphäre der Kognitionen vom menschlichen Geist beeinflussbar, so muß auf diese Weise auch die Sphäre der Affekte indirekt einer Beeinflussung durch den menschlichen Geist zugänglich sein. Den größten Raum, was diese kognitive Beeinflussung des Affektenlebens angeht, nimmt innerhalb der,Ethik' die Darstellung der Möglichkeit rationaler Einflußnahme auf Affekte ein (Eth. IV, prop. 59ff; Eth. V, prop. 1-9). 321 Hier soll uns aber nur die Möglichkeit, wie auch die dritte Erkenntnisart mit Affekten in Verbindung steht, interessieren. Dazu ist es nötig, zunächst zu untersuchen, wie Spinoza das Verhältnis von Affekt und Idee im Allgemeinen auffaßt. Weil aber der Affekt, der mit der scientia intuitiva verbunden wird, als „Amor" benannt wird, werden dabei insbesondere die Charakteristika jener Verbindung von Idee und Affekt im Begriff des Affektes „Liebe" herauszuarbeiten sein. In einem zweiten Abschnitt soll dann näherhin das Verhältnis von scientia intuitiva und amor Dei ins Auge gefaßt werden. Dabei wird es vor allem darauf ankommen, die Rolle der Selbsterkenntnis in dieser Relation zu ermitteln. Schließlich werden die Charakteristika der Intellektualität und Reziprozität des Amor Dei intellectualis zu interpretieren sein.

320 Die von Engstier, ebd., S. 127, nur angedeutete Möglichkeit „aktiver Affekte [... ] des Körpers" scheint mir deshalb von Spinozas Prämissen her nicht denkbar. S. dazu auch oben den Abschnitt zur Imaginatio, S. 74ff. 321 Vgl. dazu R. Wiehl: Die Vernunft in der menschlichen Unvernunft. Das Problem der Rationalität in Spinozas Affektenlehre (1983); J. Bennett: Study (1984), Kap. 14: Psychotherapy, S. 329ff; M. Schrijvers: Spinozas Affektenlehre (1989); F. Amann: Ganzes und Teil (2000), S. 267ff (Affekttherapie durch Erkennen); dies.: Erkenntnis und Affektivität (2002).

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a. Affekttheoretische Grundlagen Das Problem, wie Idee und mentaler Affekt zusammenhängen, wird in der der Affektenlehre gewidmeten Forschungsliteratur erstaunlich wenig thematisiert, wenn überhaupt als Problem zur Kenntnis genommen. 322 Das ist angesichts seiner systematischen Tragweite für Spinozas Ethikkonzeption unverständlich. An der Verbindung von affektivem und kognitivem Leben hängt die Möglichkeit der Beeinflussung der affektiven Handlungsbestimmung durch Rationalität und intuitives Erkennen. Der Ausgangsbefund wird von Spinoza in einem Axiom festgeschrieben. „Modi des Denkens, wie Liebe, Begierde oder was sonst noch mit dem Ausdruck Affekte des Gemüts (affectus animi) bezeichnet wird, gibt es nur, wenn es in demselben Individuum die Idee des geliebten, begehrten usw. Dinges gibt. Eine Idee kann es dagegen geben, auch wenn es keinen anderen Modus des Denkens gibt" (Eth. II, ax. 3). Das erste, was hier auffällt, ist: Affekte werden von Ideen unterschieden. Das ist bemerkenswert, weil sie als affectus animi selbst Ideen sind. 323 D. h. diese Unterscheidung kann keine Abgrenzung zu Ideen überhaupt bedeuten, sondern nur eine Differenzierung innerhalb des Genus Idee. Affekte werden von denjenigen Ideen abgegrenzt, welche Dinge zum Gegenstand haben, auf welche hin in den Affekten das Handlungsstreben des Menschen bestimmt wird. Der Gemütsaffekt (affectus animi) scheint also darin ein Charakteristikum zu haben, daß die ihm als Affekt eigenen Funktionen, die potentia agendi des Menschen bzw. genauer die potentia agendi des menschlichen Geistes zu verändern, und insofern dessen Handlungsstreben zu determinieren, 324 mit einer Repräsentationsleistung verbunden ist. Von Verbindung zu sprechen ist aber im Blick auf das o. g. Axiom noch ungenau. Denn dort wird die Repräsentationsleistung der Idee als eine conditio sine qua non für die affektive Funktion beschrieben. Noch deutlicher wird Spinoza in einer späteren Bezugnahme auf das Axiom, wo er von der Priorität der repräsentierenden Idee gegenüber den Affekten spricht. 325 Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob es sich bei repräsentierender Idee und Affekt eigentlich um zwei voneinander zu differenzierende Ideen handelt, oder vielmehr um zwei Aspekte humaner Ideen. Mir 322 Vgl. die in der vorigen Anmerkung genannte Literatur. Auch A. Engstier geht daran vorbei. Vgl. ders.: Spinozas Begriff des Affekts (2002), S. 125f, Aran. 50. 53. 323 Vgl. Eth. m , def. 3; Eth. HI, äff. gen. Def. 324 Ich folge hier A. Engstier: Spinozas Begriff des Affekts (2002). Er hat deutlich gemacht, daß die körperlichen Affekte Veränderungen der körperlichen potentia agendi, geistige Affekte aber Veränderungen der potentia agendi des Geistes darstellen. 325 Eth. II, prop. 11, dem.: „modis cogitandi, quorum omnium (per Axiom. 3. hujus) idea natura prior est". Vgl. auch Eth. Π, prop. 49, dem.

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scheint einiges für die zweite Variante zu sprechen. Wie wir oben bei der Darstellung der Attributenlehre in Hinsicht auf die Strukturisomorphie von Denken und Ausdehnung festgestellt haben, 326 ergibt sich für Modi des Attributs Cogitatio die Besonderheit, daß sie neben ihrem Sein als denkender Dinge (essentia formalis) auch einen Gegenstandsbezug aufweisen (essentia objectiva). Dies läßt sich für das Verständnis von Affekt und Repräsentation heranziehen. Nach ihrer Repräsentationsfunktion ist jede Idee auf einen Gegenstand (res) bezogen, also, was Ideen der mens humana angeht, auf ihren Körper bzw. auf sich selbst als Idee. Hingegen nach ihrer formalen Essenz, Modus von Cogitatio zu sein, nimmt jede Idee eine bestimmte Stellung im Kausalgefüge der Ideen im intellectus infinitus bzw. in der mens humana ein. Letzteres, also die kausale Position in der mens humana liegt nun dem zugrunde, was Spinoza unter einem Gemütsaffekt versteht. Er läßt nämlich nur diejenigen Ideen als Affekte gelten, welche in der essentiellen Wirkmächtigkeit der mens humana eine Veränderung zu bewirken in der Lage sind. Es mag auch Ideen geben, welche keine Veränderung dieser Wirkmächtigkeit implizieren 327 und diese Ideen können dann nur hinsichtlich ihrer Repräsentationsfunktion betrachtet werden. 328 In Bezug auf das Verhältnis der beiden Aspekte stellt nun das 3. Axiom Folgendes fest: Die Repräsentationsfunktion ist die notwendige Bedingung für die affektive Dimension von Ideen. Dies besagt nichts weniger, als daß die auf einen Gegenstand sich beziehende Dimension menschlichen Geisteslebens der handlungsbestimmenden Dimension logisch vorgeordnet ist. Nur sofern wir Gegenstände mental präsent haben, erfährt unser Denkvermögen eine Veränderung und richtet sich darauf aus, etwas bestimmtes zu denken 3 2 9 326 S.o.S. 55ff. 327 Diese Behauptung stützt sich auf ein Postulat (vgl. Eth. ΙΠ, post. 1; dazu F. Amann: Erkenntnis und Affektivität bei Spinoza [2002], S. 152). Auf das Ganze des unendlichen Verstandes gesehen, hat jede Idee ihre kausale Relevanz, aber wenn mit einem einzelnen menschlichen Geist nur ein endliches Ensemble von Ideen betrachtet wird, kann es sein, daß die potentia des komplexen Individuums mens humana von jener Idee ausgehend keiner Veränderung unterliegt. Es kann also in demselben menschlichen Geist Ideen geben, die sehr wohl ihr Ideatum haben, aber keine Änderung der potentia agendi des Geistes mit sich bringen. 328 Dies ist der Sinn des letzten Satztes von Eth. Π, ax. 3, der besagt, daß es eine Idee geben kann, „auch wenn es keinen anderen Modus des Denkens [d. h. Affekt] gibt". 329 Dieser Satz ist für Spinozas gesamte Theorie menschlichen Erkennens schlechterdings grundlegend, denn er dient als Basis zur Bestimmung des menschlichen Geistes als der Idee des Körpers (Eth. Π, prop. 11. 13). Idee des Körpers zu sein ist für den menschlichen Geist ein basaleres Konstitutionsmerkmal als die eigene Wirkmächtigkeit (potentia=essentia). Eine ähnliche Beobachtung ließe sich mit dem Verhältnis von Eth. I, ax. 4 und Eth. Π, prop. 7 machen. Die im Axiom festgehaltene Entsprechung von kausaler Ideenrelation und kausaler Relation der Ideata dient zur Begründung der Strukturisomorphie zwischen Modi des Denkens und Modi anderer Attribute im siebten Lehrsatz des zweiten Teils bzw. besonders im zugehörigen Corollarium. Es wäre daher zu ver-

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Nun gilt es, Spinozas Auffassung des Affekts Liebe (amor) im Blick auf das Verhältnis von Representations- und Affektdimension zu analysieren. Liebe ist, der einschlägigen Definition nach, „Freude unter der Begleitung der Idee einer äußeren Ursache" 330 . Da Freude ihrerseits als „Übergang des Menschen von einer geringeren zu einer größeren Vollkommenheit" 331 gefaßt ist, so kommt also als Definition der Liebe heraus, sie sei der Übergang des Menschen zu größerer Vollkommenheit unter der Begleitung der Idee einer äußeren Ursache. Die Frage ist, wie jenes Begleiten (concomitante) zu verstehen ist. Es ist m. E. keineswegs das soeben herausgearbeitete Verhältnis von affektiver und repräsentierender Funktion, das in Affekt und begleitender Idee aufginge. Jenes Verhältnis liegt vielmehr allen Affekten zugrunde, in der Liebe aber - und Entsprechendes gilt für Haß (odium) - geht es bei der begleitenden Idee um eine von dem Affekt zunächst einmal völlig unabhängige Idee, welche dann mit dem Affekt insofern assoziiert oder vergesellschaftet wird, daß dabei der Gegenstand der Idee als Ursache des Affekts aufgefaßt wird. Diese Beigesellung der Idee einer äußeren Ursache ist eine Deutungsleistung im menschlichen Geist und im Normalfall das Werk der imaginatio (vgl. Eth III, prop. 12: imaginari). Es kommt mir also hier darauf an, diese doppelte Beziehung von Idee und Affekt hinsichtlich des Amor zu differenzieren. Basal ist nach Eth. II, ax. 3 auch der Affekt der Liebe als Übergang zu größerer Vollkommenheit des Geistes nicht ohne die Repräsentation eines Gegenstands möglich. Die affektive Veränderung und Bestimmung der Denkrichtung basiert so auf einer ihr zugrundeliegenden Ideation. Etwas anderes ist aber das den Affekt der Liebe gegenüber dem der Freude auszeichnende Begleiten der Idee einer äußeren Ursache. Diese Idee, die den Affekt in einer kausalen Relation versteht, muß keineswegs denselben Gegenstand haben wie jene, welche die repräsentierende Seite zum Gemütsaffekt darmuten, daß Spinoza die Ideation, also das Bezogensein humaner Vorstellungen auf Gegenstände als basaler ansieht als die in der Attributenlehre explizierte Struktur der Gleichursprünglichkeit von Denken und Ausdehnung; vgl. dazu mit den Parallelen zu Schleiermachers,Dialektik' Ch. Ellsiepen: Gott und Welt (2006). Dies würde eine erneute Bestätigung sein für die von W. Bartuschat eingeschlagene Interpretationsrichtung, die das philosophische System Spinozas als eine Explikation der nicht-empirischen Bedingungen von Erfahrung versteht. Die Erfahrungsgegebenheit, in seinen Ideen auf Ideata bezogen zu sein, wird in der Attributenlehre hinsichtlich ihrer Ermöglichungsbedingungen expliziert. Die in den Axiomen eingeführten Erfahrungssätze dienen so zwar zur Herleitung und insofern zur Begründung der Ontologie, umgekehrt lassen sie sich erst innerhalb des Systems ontologischer Strukturpinzipien angemessen verstehen. 330 Eth. ΙΠ, def. äff. 6: „Amor est laetitia concomitante idea causae externae." vgl. Eth. III, prop. 13, schol. 331 Eth. ΙΠ, def. äff. 2: „Laetitia est hominis transitio a minore ad majorem perfectionem." vgl. Eth. ΙΠ, prop. 11, schol.

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stellt. In dieser Möglichkeit der Diskrepanz beider Ideen liegt vielmehr die Möglichkeit des Irrtums der imaginatio. Diese Differenzierung und damit die Möglichkeit der Nicht-Identität ist im Blick auf die Besonderheit der Bestimmung des Amor Dei intellectualis festzuhalten, dem wir uns nun zuwenden.

b. Affektive Dimensionen der scientia intuitiva Der Amor Dei intellectualis gehört insofern mit in die Theorie der scientia intuitiva mit hinein, als er deren affektive Seite darstellt. Er „entspringt (oritur)" (Eth V, prop. 32, corol.) aus der dritten Erkenntnisart, steht also zu ihr in genau jenem Verhältnis, das, wie im letzten Abschnitt dargestellt, vom dritten Axiom des zweiten Teils beschrieben wird: Dem Affekt geht notwendig eine Idee voran, welche dasjenige zum Gegenstand hat, wodurch die den Affekt ausmachende Veränderung und Bestimmung der potentia agendi des menschlichen Geistes verursacht ist. Im Fall der scientia intuitiva ist dieser Gegenstand die Essenz irgendeines Einzeldinges. Wie ist es nun verständlich zu machen, daß aus dieser Erkenntnis Liebe zu Gott entspringt, die nach den einschlägigen Definitionen als ein Übergang zu größerer Vollkommenheit unter der Begleitung der Idee Gottes als Ursache dieses Übergangs verstanden werden müßte? Was heißt zunächst einmal Übergang zu größerer Vollkommenheit in Bezug auf die dritte Erkenntnisart? Hier wird eine Unterscheidung wichtig, die weit hineinreicht in Spinozas Konzeption unendlicher und endlicher Kausalität und auch in der Grundlegung der Affektentheorie herangezogen wird. Es ist die Fassung eines strikten Begriffs von Handlung (actio/agere). 332 Handeln im strengen Sinn kann nur einer solchen Ursache zugesprochen werden, deren Wirkung vollständig aus ihr erfolgt. Spinoza spricht hier auch von einer „adäquaten Ursache". 333 Dieser Sprachgebrauch überträgt mit dem Begriff der Adäquatheit im Grunde ein erkenntnistheoretisches Kriterium auf die Kausalitätsrelation selbst. Damit macht Spinoza deutlich, daß es ihm auf die erkenntnistheoretischen Konsequenzen ankommt. Eine adäquate Ursache ist eine solche, die reine actio ist. Weil darum die in Frage stehende Wirkung ganz aus ihr erfolgt, kann sie auch vollständig aus der Ursache begriffen und das heißt adäquat begriffen werden. Dieser Begriff wird erst sinnvoll, wenn er auf eine endliche Ursache bezogen wird. Gott ist zufolge seiner unendlichen Kausalität reine actio.334 In Bezug auf ein Endliches, und hier hat 332 Eth. ΙΠ, def. 2. Dazu A. Engstier: Spinozas Begriff des Affekts (2002), S. 106-108. 333 Eth. ΙΠ, def. 1. S. o. S. 17. 334 Denn um Gott als Teilursache vorzustellen, müßte es neben oder außer seiner unendlichen Kausalität andere Kausalität geben. Spinozas Monismus der göttlichen Kausalität

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Spinoza besonders den menschlichen Geist im Blick, lassen sich aber Wirkungen, deren adäquate Ursache der menschliche Geist ist, von anderen unterscheiden, von denen er nur eine partielle Ursache ist. Im ersten Fall spricht Spinoza von actiones des menschlichen Geistes, im zweiten von passiones.335 In Bezug auf die scientia intuitiva ist dies von Belang, weil Spinoza den mentalen Vollzug, der sich in einer Kognition der dritten Erkentnisart ereignet, als reine Handlung des menschlichen Geistes auffaßt, die also auf dem Geist als auf ihrer adäquaten Ursache beruht. (Eth. V, prop 31). Die Begründung liegt schlicht darin, daß in der dritten Erkenntnisart eine Relation von adäquaten Ideen gewußt wird. Die Idee der Essenz Gottes ist für den menschlichen Geist nur als adäquate denkbar (Eth. V, prop. 46) und die daraus folgende Idee der Essenz eines existierenden Einzeldinges ist, weil aus adäquaten Ideen nur wiederum adäquate Ideen folgen können (Eth. V, prop. 40), auch adäquat. Eine adäquate Idee ist eine solche, deren Bildung allein vom menschlichen Geist abhängt. D.h. auch das, was aus dieser folgt, ist eine Bildung, die zu den reinen actiones des menschlichen Geistes zu zählen ist. Das Erkennen in der dritten Erkenntnisart ist also ein Vollzug reiner Handlung der mens humana. Im Vollzug reiner Handlung ergibt sich aber, weil kein teilweises Erleiden darin gesetzt ist, eine Steigerung der eigenen Vollkommenheit. Der menschliche Geist vermag, sofern er intuitiv erkennt, seine Essenz zu verwirklichen (essentia actualis), die in einem Streben besteht, das eigene Sein zu bewahren (conatus in suo esse perseverare, Eth. III, prop. 7). Seine Kraft zu denken (potentia agendi=cogitandi) erfährt eine Steigerung, dadurch daß im intuitiven Erkennen ein Vollzug von Selbsttätigkeit erfolgt, der kein Beeinflußtwerden in der eigenen Tätigkeit von ihm Äußeren zu erleiden hat. 336 Übergang zu größerer Vollkommenheit des menschlichen Geistes drückt sich als affektives Moment an der entsprechenden Idee aus, das Spinoza Freude (laetitia) nennt. Die primäre337 affektive Konnotation der scientia intuitiva ist also ein Affekt der Freude, weil in ihrem Vollzug eigeimpliziert so die Auffassung göttlichen Wirkens als reiner, nur aus sich selbst folgender Handlung. 335 Eth. ΙΠ, def. 2f. Wohlbemerkt ist der menschliche Geist auch in den passiones nicht untätig, aber die betrachtete Wirkung hat neben dem menschlichen Geist noch andere Ursachen. Vgl. auch Eth. Π, def. 3, expl. 336 Das so im Vollzug gesetzte esse actuale des menschlichen Geistes, das nicht im Bezug zu anderen endlichen Dingen, also nicht-zeitlich verstanden wird, ist darum ein esse reale (Eth. V, prop. 29, schol.), dessen Setzung eine Steigerung von Vollkommenheit darstellt. 337 Zu den „affectus primaria" rechnet Spinoza Freude (Laetitia), Trauer (Tristitia) und Begierde (cupiditas). Aus diesen Grundaffekten lassen sich dann alle komplexeren Affekte verstehen. Vgl. Eth. ΙΠ, prop. 11, schol.; Eth. ΙΠ, def. äff. 3, expl.

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ner Tätigkeit als reiner Eigen-Handlung (actio) das Streben des menschlichen Geistes, sein Sein zu bewahren, zur Erfüllung kommt. Es bleibt aber nicht bei diesem Grundaffekt der Freude allein, sondern mit der scientia intuitiva geht ein komplexerer Affekt einher, was damit zusammenhängt, daß im Erkennen der dritten Art nicht nur eine actio des menschlichen Geistes vollzogen wird, sondern sich der menschliche Geist auch dieser seiner Handlung bewußt zu sein vermag. Dieses Bewußtsein kann, weil es eine adäquate, also wahre Idee zum Gegenstand hat, diese Idee auch als wahre zu erfassen, d. h. es enthält die Idee der wahren Ursache jener Idee. 338 Anders als diejenigen Ideen, die von der imaginatio mit passiven Affekten (passiones) verbunden werden und nicht notwendigerweise dasjenige als Ursache der Veränderung von eigener Handlungsmacht imaginieren, was auch re vera deren Ursache ist, erfaßt das Bewußtsein einer reinen Handlung des Geistes dieses auch in seiner wahren Ursache. Was also eine actio mentis und deren Bewußtsein als Affekt angeht, so besteht hier die im vorigen Abschnitt herausgearbeitete Differenz nicht. Die dem Affekt zugrundeliegende Idee, aus der er hervorgeht, und die sich auf diese Idee als auf ihren Gegenstand wiederum beziehende begleitende Idee, welche die Ursache der im Affekt bewußt werdenden Steigerung zum Gegenstand hat, fallen zusammen. Sie fallen zusammen in dem Sinne, nach welchem Idee und Idee der Idee in strukturisomorphen Zusammenhängen zu denken sind. Die Möglichkeit einer Diskrepanz zwischen den wahren Ursachen von Affektzuständen und deren von der imaginatio mit diesen assoziierten Ursachenzuschreibungen fällt also bei Affekten, die aus reinen Handlungen des menschlichen Geistes resultieren, weg. Die Idee einer wahren Idee erfaßt diese in ihrer wahren Ursache und trifft damit auch die wahre Ursache des aktiven Affekts. Terminologisch grenzt Spinoza diese als intellectio von jener als imaginatio ab.339 Die mit der scientia intuitiva einhergehende Freude wird also, sofern der menschliche Geist sich selbst betrachtet, „begleitet" von der Idee der wahren Ursache der sich durch die scientia intuitiva vollziehenden Steigerung der dem menschlichen Geist eigenen Denkmacht. Und diese wahre Ursache, die hier zum Bewußtsein kommt, ist der menschliche Geist selbst. Er ist die adäquate Ursache des intuitiven Erkennens. Mithin voll338 Nach dem Konzept der idea ideae oder cognitio reflexiva. S. o. S. 7Iff. Zur ontologischen Begründung in der Attributenlehre und besonders im sog. ,intra-kogitativen Parallelismus' vgl. oben S. 55ff, bes. S. 60ff. Die Wahrheitsgewißheit der cognitio reflexiva einer wahren Idee folgert Spinoza in Eth. Π, prop. 43. 339 Intellectio ist stets die Kognition einer wahren Idee. Vgl. Eth. IV, prop. 28, dem.: „Deinde Mens, quatenus intelligit, eatenus tantum agit, (per Prop. 1. et 3 p. 3)." Die angegebenen Lehrsätze aus dem dritten Teil machen klar, daß intelligere heißt, adäquat zu erkennen, und dies heißt, so zu erkennen wie der göttliche Verstand erkennt: wahr (Eth. Π, prop. 11; prop. 32; prop. 34).

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zieht der menschliche Geist im intuitiven Erkennen eine Handlung und steigert damit seine Denkmacht, was einerseits durch das affektive Moment der Freude und andererseits durch die begleitende Idee seiner selbst als Ursache dieser Steigerung zum Bewußtsein kommt. Diese Kombination des Affekts der Freude mit der begleitenden Idee seiner selbst als Ursache bezeichnet Spinoza als „Selbstzufriedenheit/inneren Frieden (acquiescentia in se ipso)" 340 Im Gegensatz zur Liebe, in welcher die begleitende Idee die Steigerung eigener Vollkommenheit oder potentia als in einer äußeren Ursache fundiert vorstellt, zeichnet sich Selbstzufriedenheit dadurch aus, daß sie diese Steigerung als in einer inneren Ursache, also in sich selbst fundiert vorstellt. Nun nennt Spinoza aber den aus der scientia intuitiva entspringenden Affekt „amor", Liebe. Die sich mit dieser Erkenntnis einstellende „acquiescentia in se ipso" (Eth. V, prop. 27) muß also ein Moment implizieren, wonach sie auch als Liebe verstanden werden kann. D. h. die in der Selbstzufriedenheit mitvorgestellte Ursächlichkeit des Geistes selbst, muß ein Moment implizieren, wonach sie auch als eine vom Geist verschiedene Ursächlichkeit aufgefaßt werden kann. Das Bewußtsein des Vollzugs der scientia intuitiva als die Idee der Essenz des Geistes in reiner Aktivität muß also ein Moment an sich tragen, wonach es zugleich das Bewußtsein der Essenz einer vom Geist verschiedenen Aktivität ist, ohne daß dabei die Aktivität des Geistes das Merkmal reiner actio verliert. Hier ist nun genau die Stelle, an welcher die in der scientia intuitiva selbst erfolgende ideelle Struktur - kraft der Strukturisomorphie von Idee und Idee der Idee - für die affektive Dimension dieser Erkenntnisart ihre Relevanz gewinnt. Denn die mitvorgestellte Idee der Essenz des menschlichen Geistes als adäquater Ursache der Tätigkeit intuitiven Erkennens kann nach der in der scientia intuitiva gesetzten Struktur als Folge der Idee der Essenz Gottes betrachtet werden. Und zwar als solche Folge, welche den Status Folge zu sein darin hat, zugleich auch Grund zu sein. Diese auf der Theorie der immanenten Kausalität gründende Rekonstruktion des Gegenstands der scientia intuitiva mißt so der Essenz des menschlichen Geistes allerdings eine eigene Handlung zu. Die geistige Tätigkeit des intuitiven Erkennens ist nur aus dem menschlichen Geist allein, d. h. genauer gesagt ohne den Einfluß von anderen endlichen Geistern zu erklären. Dies schließt aber gerade nicht aus, daß auch die Essenz des Geistes, gerade weil sie selbst eine eigene Ursächlichkeit besitzt, aus der Essenz Gottes erklärbar ist und in dieser gründet. Denn sie wird in der scientia intuitiva verstanden als eine Manifestation von Kausalität überhaupt, welche von anderen solchen Manifestationen nur durch ihre 340 Eth. ΠΙ, prop. 30, schol; def. äff. 25. In Bezug auf die Selbstzufriedenheit des Geistes in Eth. V, prop. 42, schol. übersetzt Bartuschat „acquiescentia animi" treffend mit „innerer Frieden".

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individuelle Bestimmtheit verschieden ist und sich so als bestimmte Modifikation der göttlichen Kausalität verstehen läßt. Mit der Frage, wie diese Momente immanenter Kausalität, die in der scientia intuitiva als Ideata von Ideen virulent werden, als die affektive Dimension dieser Erkenntnisart kennzeichnend verstanden werden können, ergibt sich zugleich eine Verschiebung in der Fassung des üblichen Liebesbegriffs. Der Begriff der Liebe als Freude unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache, kann so nicht für das affektive Moment der dritten Erkenntnisart herangezogen werden. Denn die Kausalität Gottes ist gerade nicht als äußere Ursache der Essenz irgendeines Einzeldinges und also auch des menschlichen Geistes begriffen worden, sondern als immanente, seine Wirkungen in sich setzende Kausalität, die insofern diesen Wirkungen selbst nicht äußerlich bleibt, sondern in ihnen fortwirkt als Ursächlichkeit am Ort ihrer Wirkungen. Nichts ist Wirkung immanenter Kausalität, was nicht zugleich Ursache wäre und in diesem Ursachesein ist es eben eine Wirkung der immanenten Ursächlichkeit Gottes. Es ist aber durch die scientia intuitiva mit dem Begriff der Essenz Gottes als Ursache der in ihr vollzogenen actio gerade ein im Begriff der Essenz des menschlichen Geistes nicht Aufgehendes vorgestellt. Insofern kann es bei der bloßen Selbstzufriedenheit, die die Ursache der Steigerung eigener potentia nur in sich selbst weiß, nicht bleiben. Der herkömmliche Liebesbegriff paßt aber andererseits auch nicht, weil - wie gesagt - die Essenz Gottes für diesen Vollzug nicht als äußere Ursache zu stehen kommt. Dennoch ist trotz der Identität in der Kausalität von Essenz Gottes und Essenz der mens humana ein Differenzmoment zwischen beiden gesetzt und das führt Spinoza dazu, die affektive Seite der scientia intuitiva dennoch mit Liebe zu bezeichnen.

c. Intellektualität und Reziprozität Also entwirft er mit dem Amor Dei Intellectualis einen diesen Anforderungen angepaßten neuen Liebesbegriff. Er nennt sie intellektuell, um sie vom üblichen als passivem Affekt konzipierten Liebesbegriff abzugrenzen. Während dieser einen Affekt der Freude kennzeichnet, dessen begleitende Idee einer Ursache nur imaginiert ist, und also keinen Anspruch auf Wahrheit machen kann, ist dagegen die die scientia intuitiva begleitende Idee notwendig eine wahre Idee. Sie sieht also deren Vollzug ein (intelligit), indem sie ihn aus der Essenz des menschlichen Geistes als aus seiner wahren Ursache - sub specie aeternitatis - erkennt. Ein zweites Merkmal des Amor Dei intellectualis könnte man - mit einigen für die Sache sehr wichtigen Vorbehalten - das der Reziprozi-

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tät 341 nennen. Spinoza entwickelt in Lehrsatz 35 und 36 und Folgesatz des letzten Teils der Ethik ein Gefüge von Sätzen, die auf den ersten Blick eher absurd als explikativ zu sein scheinen. Diese Aussagen über die intellektuelle Gottesliebe erschließen sich nur im Kontext der Theorie der intellektuellen Gotteserkenntnis, mit der jener Affekt aufs Engste zusammenhängt. Lehrsatz 35 kann man als die Voraussetzimg ansehen, unter der die folgenden Sätze dieses reziproke Identifizieren beginnen können. 342 Wenn Spinoza hier von Gott sagt, er liebe „sich selbst mit einer unendlichen geistigen Liebe" 3 4 3 , so wird darin selbst noch der in der bisher auf den menschlichen Geist als Subjekt bezogenen Konzeption des Amor Dei intellectualis grundlegende transitorische Aspekt von Affektivität aufgegeben. Gott kann nicht zu größerer Vollkommenheit übergehen, weil er alle Vollkommenheit als Realität in sich enthält (Eth. V, prop. 17, dem.) Daß Gott sich einer unendlichen Vollkommenheit „erfreut (gaudet)" (Eth. V, prop. 35, dem.) hat also nichts mit dem passiven Affekt „gaudium" (Eth. III, def. äff. 16) zu tun, sondern drückt Spinozas Verlegenheit aus, mit dem für die menschliche Affektivität entwickelten Vokabular nicht arbeiten zu können, weil Affektivität Beschränkimg voraussetzt. Es handelt sich bei diesem Ausdruck, Gott freue sich seiner unbeschränkten Vollkommenheit, also im Grunde um einen Grenzbegriff (Eth. V, prop. 17, corol.). Denselben Status hat auch die daraus gefolgerte Liebe Gottes zu sich selbst. Der intellectus infinitus wird hier als begleitende Idee verstanden, welche die Ursache der Vollkommenheit Gottes zum Gegenstand hat. Diese Ursache ist zufolge der Gleichursprünglichkeit von göttlicher Essenz und Existenz als causa sui Gott selbst. Eigentlich müßte Spinoza diesen Grenzaffekt des Sich-Freuens unbeschränkter Vollkommenheit, unter der Begleitung der Idee seiner selbst als Ursache, eine göttliche Selbstzufriedenheit nennen. Denn Gott kann sich selbst keine externe Ursache sein. Spinoza will aber auf etwas anderes hinaus, nämlich auf eine Differenzierung der in Gott gesetzten Totalitäten von Realität und insbesondere der Totalität des intellectus infinitus. Er will den menschlichen Geist und dessen „geistige Gottesliebe" in diese Struktur einzeichnen und daraus verständlich machen und deshalb nennt er den sich auf Gott beziehenden Affekt Amor, nicht Acquiescentia in se ipsum. Dieses Anliegen wird nun mit Lehrsatz 36 deutlich und hier ist in wünschenswerter Klarheit ausgesprochen, was es mit der Reziprozität von Liebe des Geistes zu Gott und Gottes zum Geist auf sich hat. „Des Geistes geistige Liebe zu Gott ist genau die Liebe Gottes, mit der Gott 341 Vgl. P. Macherey: Introduction V (1994), S. 168-172. 342 Vgl. dazu auch Th. Kisser: Affektenlehre (2002), S. 240. 343 „Deus se ipsum amore intellectuali infinito amat."

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sich selbst liebt, nicht insofern er unendlich ist, sondern insofern er durch die unter einem Aspekt von Ewigkeit betrachtete Essenz des menschlichen Geistes ausgedrückt (explicari) werden kann, d. h. des Geistes geistige Liebe zu Gott ist Teil der unendlichen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt." 344 Die intendierte Differenzierung der in Gott gesetzten Totalitäten wird greifbar durch die Einschränkung, welche Spinoza für die Reziprozität der Gottesliebe einfügt. Es kommt alles darauf an, dieses „quatenus" hier stark zu machen. Nicht in seiner absoluten Unendlichkeit betrachtet, sondern nur insofern Gott durch die Essenz des menschlichen Geistes sub specie aeternitatis ausgedrückt werden kann, kann die Liebe dieses Geistes zu Gott auch als Gottes Liebe zu sich verstanden werden. 3 4 5 Als Subjekt der Liebe kommt Gott also in Betracht, insofern er im Modus menschlicher Geist manifestiert ist. Als Objekt der Liebe kann er angesehen werden, insofern er als absoluter Grund der sich in jenem Modus manifestierenden und zugleich diesem Modus eigenen Handlungsmacht fungiert. Im Differenzieren der Aspekte, unter denen Gott betrachtet werden kann, ergibt sich zwischen Subjekt und Objekt der Liebe genau jene Struktur immanenter Kausalität, die in der scientia intuitiva intelligiert wird. Deren affektives Moment ist mithin nach derselben Struktur explizierbar. Spinoza spielt hier in der Theorie des Amor Dei intellectualis den doppelten Aspekt von absoluter Identität u n d Differenz durch, welche den Kern seiner Theorie immanenter Kausalität ausmacht. Einerseits identifiziert er des Geistes Liebe zu Gott mit Gottes Liebe zu sich selbst (est ipse), anderseits gibt er mit dem einschränkenden „quatenus" das Differenzmoment wieder u n d beschreibt so auch den Amor Dei intellectualis in einer Struktur von Identität in der Differenz. Am Ende des Lehrsatzes von Eth. V, prop. 36 gibt Spinoza dann den entscheidenden Hinweis, wie er dieses Aufeinanderbeziehen von Identität und Differenz in der göttlichen Liebe zu sich selbst verstanden wissen will: als ein Verhältnis von Teil u n d Ganzem. Die menschliche Liebe zu Gott wird verstanden als Teil der Liebe Gottes zu sich selbst. Die mit dem „quatenus" in Anspruch genommene Differenzierung wird also mit der Relation von endlichem u n d unendlichem Modus identifiziert. Der endliche Modus eines Attributs ist Teil des unendlichen Modus desselben Attributs. Sofern der menschliche Geist als Modus des Attributs Cogitatio anzusehen ist - u n d das ist er nur insofern, als er eine actio vollzieht - , ist 344 „Mentis amor intellectualis erga Deum est ipse Dei amor, quo Deus se ipsum amat, non quatenus infinitus est, sed quatenus per essentiam humanae mentis, sub specie aeternitatis consideratam, explicari potest, hoc est, mentis erga Deum amor intellectualis pars est infiniti amoris, quo Deus se ipsum amat." 345 Diese Differenz scheint mir die Interpretation von Macherey zu wenig zu berücksichtigen (Introduction V [1994], S. 170).

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er auch Teil des unendlichen Verstandes als des unendlichen Modus des Attributs Cogitatio. Als intuitiv erkennender ist der menschliche Geist aktiv und insofern Modus. Wenn dieses Verhältnis von Teil und Ganzem nun für den intuitiv erkennenden Geist und den intellectus infinitus gilt, so muß es auch für die entsprechenden affektiven Momente gelten. Die mit dem intellectus infinitus verbundene geistige Liebe wird dabei als eine Totalität vorgestellt, in welcher jene Freude über eigen-verursachte Vollkommenheit als Ganzheit der Modifikationen solcher Freude vorgestellt wird, welche aus dem intuitiven Erkennen endlicher Geister unter Begleitung der Idee Gottes als Ursache entspringt. Das im intuitiven Erkennen thematisch werdende Verhältnis immanenter Kausalität spiegelt sich also auch in deren affektivem Moment des Amor Dei intellectualis. Spinoza unternimmt diesen gewaltigen Explikationsgang, weil er überzeugt ist, daß im Grunde erst das intuitive Erkennen selbst kraft dessen Affekt in der Lage ist, uns zu immer ausgedehnterer und tieferer Einsicht in die Strukturen der Welt der Dinge zu bestimmen. Ein rationaler Beweisgang mag über alle Zweifel erhaben sein und, wenn er einleuchtet, auch entsprechend durch die dabei vollzogene Aktivität des Geistes Affekte freisetzen, die das Streben des menschlichen Geistes nach dem Vollzug seiner Essenz im Erkennen befördern (Eth. V, prop. 28). Aber diese aus der ratio entspringenden Affekte vermögen nicht in derselben Weise unsere potentia cogitandi zu bestimmen wie der aus der scientia intuitiva entspringende Amor Dei intellectualis. Spinoza insistiert darauf, daß das Erkennen nach der dritten Erkenntnisart den menschlichen Geist mehr „affiziere" als die Vorführung eines rationalen Beweises derselben immanenten Kausalrelation, welche in der scientia intuitiva bewußt wird (Eth. V, prop. 36, schol.). Und in der Tat läßt sich die Theorie der scientia intuitiva als der Versuch verstehen, denjenigen Akt des menschlichen Geistes zu beschreiben, in welchem die Immanenz göttlicher Kausalität in der eigenen Kausalität nicht nur ausgesagt, sondern denkend erfahren wird. Denn in der Scientia intuitiva wird im Vollziehen des Gedankens der Immanenzrelation der Status dieses Vollzuges als Aktivität bewußt. Das mentale Setzen eines Einzeldinges als Modifikation göttlicher Kausalität wird auf einer mentalen Metaebene noch einmal abgespiegelt, indem nämlich dieses mentale Setzen selbst als eine Modifikation göttlicher Kausalität bewußt gemacht wird. Erst dieses Bewußtsein mentaler Eigenaktivität als Manifestation des göttlichen Grundes am Orte des eigenen Bewußtseins bestimmt dieses Bewußtsein mit jenem Affekt, durch welchen ein Mensch im Bewußtsein der Partizipation am Ewigen „inneren Frieden" erlangt. Die Konzeption der scientia intuitiva gipfelt so in der Explikation des Amor Dei als

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

Partizipation am Ewigen. Mit der Einsicht eigener Freiheit346 als Teil der Freiheit Gottes ist ein Affekt höchster Selbstzufriedenheit verbunden, in welcher die Identität göttlichen Wesens in der Differenz und Beschränktheit des eigenen Wesens als Bewußtsein der Partizipation am Ewigen erlebbar wird.

4. Fazit: Scientia Intuitiva, Metaphysik und Subjektivität Über die Theorie immanenter Kausalität und die in der Attributenlehre implizierte Strukturisomorphie von Denken und Ausdehnung haben wir die metaphysisch-ontologischen Grundlagen für das Verständnis der dritten Erkenntnisart Spinozas aufgesucht. Den Kontext der Erkenntnistheorie zu erläutern galt ein zweites Kapitel, bevor wir zu einer Interpretation der scientia intuitiva vorangehen konnten. In diesem Fazit soll nun zusammenfassend noch einmal bedacht werden, in welcher Weise sich in diesem Konzept der Ausgang von metaphysischen Grundannahmen und ein erkenntnistheoretischer Ansatz zueinander verhalten. Darin kommt zugleich eine Fragerichtung zum Ausdruck, in der Schleiermacher Spinoza vor allen Dingen rezipieren wird. Neben allen metaphysischen Einzelfragen wird es Schleiermacher immer auch darum gehen, ob und inwiefern Spinozas Philosophie mit einem erkenntnistheoretischen oder genauer gesagt: erkenntniskritischen Ansatz vereinbar ist. Schleiermachers Affirmation einer solchen Vereinbarkeit ist nicht ohne Anhaltspunkte in Spinozas Philosophie selbst, was besonders an dessen Konzept der höchsten Erkenntnisart deutlich wird. In einem Beitrag zu Ehren Konrad Cramers anläßlich dessen 65. Geburtstags referierte Wolfgang Bartuschat über „Subjekt und Metaphysik in Spinozas Ontologie" 347 und pointierte darin die schon in seiner Spinoza-Monographie 348 vertretene These, Spinozas Philosophie sei im Einzelnen wie im Ganzen aus einer Doppelperspektive her angelegt (S. 27). Die eine Perspektive sei die des ersten Teils der,Ethik' („De Deo"), welcher eine „Basis-Ontologie" (S. 23) oder allgemeine „Strukturmetaphysik" (S. 18) darstelle. Die andere Perspektive nehme Spinoza in den folgenden vier Teilen der Ethik ein, wo er vom Menschen und besonders von der mens humana handelt. Während im ersten Teil aus Definitionen und Axiomen rein formal eine Struktur entworfen wird, kommt die Füllung derselben und deren Konkretion erst durch die auf empirische Grundlagen aufbauende Perspektive des menschlichen Geistes in den 346 Vgl. Ch. Ellsiepen: Immanenz und Freiheit (2005). 347 W. Bartuschat (2001). Die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diesen Aufsatz. Vgl. auch ders.: Metaphysik und Ethik in Spinozas „Ethica" (1991). 348 Spinozas Theorie des Menschen (1992).

4. Fazit

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folgenden Teilen hinzu. Der Buchtitel „Spinozas Theorie des Menschen" bringt die Interpretationslinie Bartuschats prägnant zum Ausdruck, Spinozas Philosophie entgegen einer verbreiteten Einseitigkeit, nicht mit „De Deo" abbrechen zu lassen, sondern die ,Ethica' geradezu von hinten zu lesen. 349 Spinozas Theorie des Menschen, so Bartuschat, impliziere seine Theorie des Absoluten; seiner Theorie menschlicher Subjektivität korreliere die Strukturmetaphysik des ersten Teils. Der Ort, an dem dies in Spinozas System vorrangig zu zeigen wäre, ist die Theorie der dritten Erkenntnisart.350 Sie stellt nicht nur den Schlußpunkt der ,Ethik' dar, sondern ist auch systematisch gesehen der höchste Punkt, in welchem Spinozas Theorie menschlicher Geistigkeit gipfelt. Meine Überlegungen nehmen hier also den Grundgedanken Bartuschats auf und versuchen diesen an Spinozas Konzeption der scientia intuitiva weiterzuführen. Für Spinozas Theorie der höchsten Erkenntnisart stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Metaphysik und Subjektivität in besonderer Weise. Denn sie ist definiert als Erkenntnis desjenigen Zusammenhangs, der zugleich die Basis der ontologischen Strukturtheorie darstellt. In dieser Erkenntnisart wird der Wesenszusammenhang von Gott und Einzeldingen erkannt, ein Zusammenhang, der durch das grundlegende Theorem der Immanenz göttlicher Kausalität expliziert wird. Setzt nun die scientia intuitiva diesen Zusammenhang als das zu Erkennende bereits ontologisch voraus? Oder gewinnen die ontologischen Strukturaussagen immanenter Kausalität erst kraft der scientia intuitiva überhaupt ihre Basis im Subjekt? Wäre letzteres, so erwiese sich der Vollzug dieser Erkenntnis als subjektive Bedingung, jenen ontologischen Zusammenhang als vorausgesetzt annehmen zu können. Die Voraussetzung wäre ihrerseits noch einmal an eine subjektive Bedingung geknüpft und so zwar Voraussetzung, aber eine auf die Subjektivität relative Voraussetzung. In der oben gegebenen Interpretation der spinozanischen Konzeption der scientia intuitiva haben wir die Argumentation zum Aufweis der Möglichkeit dieser Erkenntnisart von derjenigen unterschieden, welche ihre Merkmale als wirklich vollzogenen Erkenntnisakt betreffen. Anhand dieser Unterscheidung, die im wesentlichen mit der Sonderung des im zweiten bzw. im fünften Teil der Ethik zur höchsten Erkenntnisgattung Gesagten zusammenfällt, läßt sich auch die aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Metaphysik und Subjektivität für die scientia intuitiva beantworten. Das Hauptargument für die Möglichkeit des dritten genus cognoscendi stellt eine geistmetaphysische Folgerung aus der Kombinati349 Diesen Perspektivenwechsel diagnostizierte Hermann Timm für die Art der Rezeption Spinozas durch die Romantiker. Vgl. ders.: Amor Dei Intellectualis (1977), S. 70. 72. 350 Darauf weist auch Bartuschat hin. Vgl. ders.: Subjekt und Metaphysik (2001), S. 24f.

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on von Attributenlehre und Theorie immanenter Kausalität dar, welche aus der Bestimmtheit des Gegenstands einer Vorstellung auf deren eigenen Status Rückschlüsse unternimmt. Ist jener Gegenstand ein Einzelding und impliziert, sofern als endlicher Modus verstanden, die Essenz Gottes, so muß die Idee der Essenz Gottes auch in der Idee jenes Einzeldings impliziert sein (Eth. II, prop. 45). Daraus ergibt sich die Möglichkeit intuitiver Erkenntnis insofern, als diese den Zusammenhang von Idee der Essenz Gottes und Idee der Essenz von Einzeldingen umfaßt. In dieser rein aus der Strukturmetaphysik des Ersten Teils der Ethik gefolgerten Aussage kann aber noch gar nichts über die Möglichkeit solchen Erkennens für einen menschlichen Geist ausgesagt werden. Denn dazu müße erst gezeigt sein, daß zur spezifischen Verfassimg des menschlichen Geistes gehört, Ideen von Einzeldingen zu haben. Das empirische Faktum von mentaler Bewußtheit und von Körperempfindung ist die Basis, auf der Spinoza seine Bestimmung des menschlichen Geistes als eine bloß auf einen einzelnen Körper bezogene Idee entwickelt. Über eine Theorie körperlicher Affektion und eine darauf aufbauende einer imaginativen Assoziation von Vorstellungen, gelangt Spinoza zu der Aussage, daß menschliche Geister Vorstellungen vom eigenen Körper und von anderen Körpern als von Einzeldingen haben. Somit kann er dann behaupten, die in diesen Vorstellungen implizierte Idee des Wesens Gottes sei allen Menschen, insofern deren Geist von solcher Struktur ist, „bekannt" (Eth. II, prop. 47, schol.) - und das heißt hier nichts weiter als: prinzipiell zugänglich. Allen Menschen sei deshalb die dritte Erkenntnisart möglich. Bereits an dieser Sequenz aus dem Ende des zweiten Teils der Ethik ist ersichtlich, daß Spinoza nicht rein aus der Logik seiner Strukturmetaphysik heraus argumentiert, sondern auf Annahmen zurückgreift, die auf die Erfahrung menschlichen Bewußtseins rekurrieren und nur daraus gewonnen werden können. Die Gesamtperspektive ist jedoch die einer ontologischen Strukturbestimmimg. Nur für deren Spezifikation werden empirische Annahmen hinzugenommen. Wenn das Ergebnis zwar nicht vollständig spekulativ im Sinne eines Deduktionsgangs gewonnnen wurde, so kann man doch aufgrund des methodischen Ausgangs von einer allgemeinen Struktur, welche dann empirisch spezifiziert wird, von einer Geistmetaphysik sprechen, die Spinoza als Basis für seine Behauptung der Möglichkeit intuitiver Erkenntnis heranzieht. Die Verhältnisse werden intrikater, wenn nun der Blick auf die Beschreibung der Wirklichkeit dieser Erkenntnisart gelenkt wird. Gehen wir einmal von der Hypothese aus, Spinoza wolle mit der scientia intuitiva die Art der epistemischen Aneignung - die ratio cognoscendi - eines metaphysisch vorausgesetzten Zusammenhangs plausibel machen. Sie wäre dann ratio cognoscendi immanenter göttlicher Kausalität am Orte des Individuellen. Aber was wäre dann über die ratio essendi desselben Zu-

4. Fazit

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sammenhangs von Spinozas Ansatz her aussagbar? Im Grunde nichts. Denn selbst die im ersten Teil der Ethik entfalteten metaphysischen Sätze verdanken sich der zweiten Erkenntnisart, die allen Dingen gemeinsame Struktureigenschaften auf den Begriff zu bringen hat. Sie ist aber ebenso eine Art epistemischer Bestimmung, ist aus der Perspektive des menschlichen Geistes heraus gedacht. Deutlich wird diese Denkrichtung an einem auf den ersten Blick paradoxen Lehrsatz. Spinoza schließt aus der erkenntistheoretisch ausgewiesenen Adäquatheit einer Idee auf deren ontologische Wahrheit und nicht umgekehrt (Eth. II, prop. 34). Die metaphysische Strukturtheorie des Absoluten und seiner Modifikationen ist eben eine Theorie des Absoluten. Diese hält Spinoza allein deshalb für notwendig wahr - im Sinne der Übereinstimmung mit dem Sein der Dinge - , weil sie keine anderen Bestimmungen zuläßt als solche, denen das Merkmal klaren und deutlichen Erkennens, sprich: der Adäquatheit zuzuerkennen ist. Die Form der ratio cognoscendi verbürgt also die Übereinstimmung mit der ratio essendi der Dinge. Die Frage nach dem Verhältnis von dritter Erkenntnisart und metaphysischer Perspektive ist so streng genommen als eine Frage nach dem Verhältnis der beiden höheren Erkenntnisarten zu stellen. Die oben aufgestellte Hypothese erweist sich infolgedessen als schief, weil sie auf Seiten der metaphysischen Perspektive einen erkenntnistheoretisch unreflektierten Bezug auf den Seinsmodus der Dinge unterstellt. Wenn man also von einer Geistmetaphysik spricht, welche dem Konzept der scientia intuitiva zugrundeliege, so müßte dies aus der erkenntnistheoretischen Perspektive heraus als eine Funktion des im spinozanischen Sinne rationalen Erkennens für die Erklärung des intuitiven dargelegt werden. Die These von der Funktionalität der Strukturmetaphysik für die Theorie der Subjektivität (Bartuschat) liest sich dann als eine Funktionalität adäquater Rationalität für die Erklärung adäquater Intuition. Dies gilt voll und ganz für die oben wiedergegebene Erklärung der Möglichkeit des intuitiven Erkennens. Es werden Strukturen aufgezeigt, welche die adäquate Intuition als möglich erscheinen lassen. Darüberhinaus erweist sich die in der metaphysischen Perspektive der ratio etablierte Theorie des Absoluten aber noch in einer weiteren Hinsicht als funktional auf die dritte Erkenntnisart. Dieser Aspekt ergibt sich aus der spezifischen Struktur des in der scientia intuitiva Erkannten. Das Absolute wird darin nur insofern thematisch als es als ein am Orte des endlich-einzelnen wirksames Prinzip gedacht wird. Die Identität göttlicher Kausalität wird als im Differenten endlicher Kausalität wirksam erkannt. Das Absolute dient so im menschlichen Erkenntnisprozeß als Prinzip der Explikation der Eigenwirksamkeit endlicher Dinge, seien es nun mentale oder extensionale, geistige oder körperliche Sachverhalte von Eigenwirksamkeit. In der rationalen Theorie von Strukture!-

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I. Spinozas Konzept intuitiver Erkenntnis

genschaften von Dingen überhaupt ist jene Hinsicht, das Absolute als Erklärungsprinzip für Endlich-Einzelnes heranzuziehen, nicht gangbar, weil sich kein rationaler, d. h. in den Strukturbegriffen notwendig liegender Zusammenhang von Unendlichkeitssphäre und Sphäre des EndlichEinzelnen herstellen läßt. Deren Zusammenhang wird erst aus der Perspektive des Endlich-Einzelnen als solcher gesetzt, und zwar in einem Akt der ein Einzelding betrachtenden menschlichen Subjektivität. Dieser Akt ist die adäquate Intuition. Der Zusammenhang wird intuitiv hergestellt, insofern das Endlich-Einzelne seinem inneren Wesen nach als ein mit der göttlichen Wirksamkeit Identisches erkannt wird. Zugleich wird diese Identität als eine Identität in der Differenz gedacht. Beides ist ausgedrückt, wenn Spinoza von der Essenz des Einzelnen als von einer Modifikation der in allem überhaupt wirksamen göttlichen Ursächlichkeit spricht. Der in dieser Relation gesetzte Differenzaspekt verdankt sich dabei einer im weiteren Sinne rationalen Struktureinsicht. Um sagen zu können, jenes Einzelne sei Modifikation des in allem und nicht nur in jenem Einzelnen wirksamen und nur insofern göttlichen Prinzips, bedarf es einer die im Verhältnis Einzelnes-Göttliches gesetzte strukturelle Differenz miterfassenden epistemischen Funktion. In den Akt des intuitiven Erfassens geht also ein Moment ein, welches eine Strukturtheorie des Absoluten bereits voraussetzt. Umgekehrt ist dieses Moment und die darin vorausgesetzte Theorie des Absoluten in dieser Erkenntnisart rein auf die Wesensexplikation des in Frage stehenden Einzelnen hin in Anspruch genommen. Im Modus intuitiven Erkennens geht es dem menschlichen Subjekt keineswegs um eine All-Aussage über die Strukturen der Dinge überhaupt, sondern um ein tieferes Verstehen gerade dieses oder jenes endlich-einzelnen Dinges in dessen eigentümlicher Wirksamkeit, nämlich als Ort der Manifestation des göttlichen Grundes. Die Perspektive auf dieses oder jenes Einzelne ist aber von der Subjektivität des einzelnen Menschen in seiner kognitiven Bezogenheit unablösbar. Insofern ist das Verhältnis von Metaphysik und Subjektivität in Spinozas Konzept der scientia intuitiva in der Tat als eine nicht reduzierbare, miteinander korrelierte Dualität von Perspektiven zu beschreiben. Zum einen argumentiert Spinoza bei der Erklärung der Möglichkeit der dritten Erkenntnisart weitgehend aus einer rationalen Strukturtheorie heraus. Lediglich zu deren Spezifikation wird auf empirische Annahmen zurückgegriffen. Zum anderen bringt die Deskription des wirklichen Vollzugs der cognitio intuitiva zum Ausdruck, daß in dieser Erkenntnisart etwas eingesehen werden kann, das die metaphysische Strukturtheorie, sofern sie auf menschliche Vollzüge applizierbar sein und d. h. überhaupt Relevanz beanspruchen will, immer schon voraussetzen muß. Aus rationaler Einsicht in die Strukturen von Dingen ist der in der scientia intuitiva thematische Zusammenhang von singulärer und göttlich-universaler

4. Fazit

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Kausalität als Relation der Immanenz nicht herleitbar. Er wird erst in derjenigen Betrachtung konstruktiv geleistet, welche ihn an der Vorstellung eines faktisch-existierenden endlichen Einzeldings als ideelle Implikation zu Bewußtsein bringt. Die scientia intuitiva vermag also durch die bewußte Einsicht in die Prinzipienstruktur von Singulärem einen Zusammenhang subjektiv plausibel zu machen, der vonseiten rationaler Argumentation offen gelassen, aber in Hinsicht auf die Applikation der Strukturontologie auf menschliche Vollzüge als unbeweisbare Prämisse vorausgesetzt werden mußte. Die Doppelperspektive kommt im Kern der Theorie der dritten Erkenntnisart dann noch einmal zum Tragen, insofern in die ihr eigene Betrachtung neben dem intuitiven Aspekt zugleich eine im weiteren Sinne rationale Struktureinsicht eingeht. Dieses rationale Moment besteht darin, daß die das Wesen des Einzeldinges konstituierende Eigenwirksamkeit aus einem solchen immanent-identischen Prinzip heraus verstanden wird, das nicht nur als genau dieses Einzelding konstituierend, sondern gerade in dieser seiner Konstitutionsfunktion für das Singulare als differenzierte und bestimmte Manifestation eines universalen Prinzips aufgefaßt wird. In Spinozas Konzept intuitiven Erkennens ist also die metaphysische Perspektive aufs Engste an die Perspektive menschlicher Subjektivität angebunden. Wie erst die subjektive Intuition am Einzelnen dessen basales Prinzip erschaut, so ist sie gleichwohl als eine Form von vernünftiger Einsicht - dafür steht der spinozanische Begriff der Adäquatheit insofern ausgewiesen, als das basale Prinzip jenes Einzeldinges zugleich als Universalprinzip erfaßt wird. Der intuitiven Wesensschau ist eine rationale Struktureinsicht eingeschrieben. Wir können also im Blick auf Spinoza festhalten, daß die Beschränkung seines Systems auf eine deduktiv vorgehende Substanzmetaphysik eine grobe Vereinseitigung darstellt. Trotz der Prominenz der Vertreter jenes Vorurteils gegenüber Spinoza - Jacobi, Hegel, Fichte, Schelling - ist die seinem philosophischen Ansatz gleichwertig zukommende erkenntnistheoretische Perspektive, die die Struktur menschlicher Subjektivität als Ausgangspunkt nimmt, als Korrelat der metaphysischen Perspektive herauszustellen.

II. Die Aneignung. Schleiermachers Spinozarezeption 1793/94 Bereits zwei Jahre nach Erscheinen von Friedrich Heinrich Jacobis epochemachenden Spinozabriefen hatte Schleiermacher, der damals am Anfang seines Theologiestudiums in Halle stand, die Gelegenheit gehabt, sich mit diesem Werk vertraut zu machen. Ihm war aber, so schreibt er seinem Vater, „wegen der großen Verwirrung und Unbestimmtheit in seiner [sc. Jacobis] philosophischen Sprache" vieles unklar geblieben und er gestand, er müsse daher wohl „alle zwischen ihm und Mendelssohn gewechselte Schriften" 1 noch einmal lesen. Das war im Sommer 1787. Erst sechs Jahre später - nach dem Examen und seiner Hauslehrerzeit im ostpreußischen Schlobitten war Schleiermacher nun in Berlin als Lehramtsanwärter am Gedikeschen Seminarium tätig - haben wir Kunde, daß Schleiermacher dieses Vorhaben verwirklicht hat. Gustav von Brinckmann lieh ihm „die Jakobischen Sachen" aus, die Schleiermacher im Frühjahr 1794 zurückgab.2 Unter diesen „Jakobischen Sachen" war zunächst die zweite Auflage von Jacobis ,Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn' von 1789 [LSp 2 ], die vom Verfasser gegenüber der ersten Auflage um wichtige Beilagen erweitert worden war. Neben Erläuterungen einzelner Formulierungen in der Auseinandersetzung v.a. mit Kant und Herder und grundsätzlichen Überlegungen zu Spinozas Philosophie hatte Jacobi hier auch eine zusammenfassende Darstellung der Philosophie Giordano Brunos beigefügt. Außer diesem Band hatte Schleiermacher Jacobis Schrift: „David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus" [DH] von 1787mit ausgeliehen. Aus beiden Büchern schrieb Schleiermacher wichtige Stellen ab und legte dafür eigens Notizhefte an, die uns erhalten geblieben sind und im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe vollständig ediert vorliegen. Schon die Titel dieser Manuskripte verraten, daß es Schleiermacher nun bei der nochmaligen Lektüre der Werke Jacobis nicht so sehr um dessen eigene Philosophie, als vielmehr um einen Zugang zur Philosophie Ba1 Brief Nr. 80 vom 14.8.1787 an J.G.A. Schleyermacher; KGA V / 1 , S. 91f. 2 Brief Nr. 256 an G. v. Brinckmann (vor Mitte April 1794); KGA V / 1 , S. 344.

Einleitung

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ruch de Spinozas ging. An Brinckmann schreibt Schleiermacher, er habe über Jacobis Büchern „förmlich den Spinoza studirt". 3 Dieses förmliche Studium begann er Vinter der Überschrift „Spinozismus. Spinoza betreffend aus Jakobi" 4 mit einer Abschrift der 44 Paragraphen, durch welche Jacobi innerhalb eines Briefes an Mendelssohn „die Lehre des Spinoza selbst ins klare setzen" wollte: Nach eigener Aussage hatte Jacobi in diese Darstellung „alle [seine] Geisteskräfte" investiert und „weder Mühe noch Geduld dabey zu schonen" gedacht.5 Hier hatte Schleiermacher also die konzentrierteste Darstellung der Philosophie Spinozas in dem Jacobibuch, die zudem noch den Vorteil bot, daß Jacobi zum Beleg der in den Paragraphen aufgestellten Sätze einschlägige Lehrsätze aus Spinozas Hauptwerk ,Ethica', dem ,Tractatus de intellectus emendatione', den ,Cogitata metaphysica' und aus dessen Briefen im lateinischen Wortlaut in umfangreichen Anmerkungen anführte. Schleiermacher kopierte diese Stellen fast ausnahmslos mit, sie waren ihm zu dieser Zeit die einzige authentische Textgrundlage für Spinozas Philosophie.6 In einem zweiten Heft machte sich Schleiermacher nun daran, aus den Jacobischen Paragraphen und den ausgewählten Sätzen Spinozas des letzteren philosophischen Grundansatz zu rekonstruieren und gab der Abhandlung den Titel:,Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems'. 7 Der im Original 22 Seiten umfassende Text entwickelt Grundprinzip und Folgerungen der spinozanischen Philosophie, um sie anschließend unter mehreren Leitgesichtspunkten sowohl mit Leibniz als auch mit Kant zu vergleichen.8 3 Ebd. 4 KGA 1/1, S. 511-558. Im Folgenden mit dem Kürzel: „Sp" und den Seitenzahlen der KG A 1 / 1 . 5 JWA 1/1, S. 93. 6 Daß Schleiermacher Spinoza im Original zugänglich war, ist erst für das Jahr 1800 nachweisbar (Brief Nr. 953 vom 20. 9. 1800 an F. Schlegel, KGA V / 4 , S. 266). Allerdings kommt in dem Brief zum Ausdruck, daß Schleiermacher die nachgelassenen Werke Spinozas („Hier lieber Freund ist der Spinoza - aber nicht ganz, denn ich habe ihn nicht ganz; es fehlt alles was bei seinem Leben erschienen ist." [Z. 2f|) seinem Freund ausleiht, der darauf Wert legt, aus dessen Exemplar zum Zwecke der Vorlesungsvorbereitung zu studieren (Brief Nr. 952 von F. Schlegel, KGA V / 4 , S. 265). Man kann also annehmen, daß Schleiermacher die Opera posthuma nicht erst neu erworben hat, sondern zu diesem Zeitpunkt bereits durchgearbeitet hatte. In den,Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre' von 1803 finden sich dann Formulierungen, die eindeutig belegen, daß Schleiermacher seine Kenntnis Spinozas zu diesem Zeitpunkt nicht nur aus Jacobi, sondern bereits aus der in den Opera posthuma enthaltenen ,Ethica' und dem ,Tractatus de intellectus emendatione' schöpfen konnte. Vgl. GKS 33. 44. 56. 71f. 268f. 294.307. 336. 7 KGA 1/1, S. 559-582. Im Folgenden mit dem Kürzel: KDSp und den Seitenzahlen der KGAI/1. 8 Schon 1790 berichtet Schleiermacher davon, er sei dabei, die kantische Philosophie mit der „Leibnizischen" zu vergleichen und nehme dabei „von Tag zu Tage mehr im Glauben an diese [sc. die kantische] Philosophie" zu. Die beiden Spinoza gegenübergestell-

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H. Schleiermachers Spinozarezeption

Nach diesem eigenen Entwurf eines Spinozabildes ging Schleiermacher dann daran, Jacobis Spinozabuch im einzelnen zu studieren und schrieb dazu ihm wichtig erscheinende Stellen in das erste Heft im Anschluß an die Kopie der Jacobischen Paragraphen und versah diese Stellen mit zum Teil ausführlichen Kommentaren, in denen er die in der f u r zen Darstellung des Spinozistischen Systems' eingeschlagene Richtung der Spinozadeutung en Detail gegenüber Jacobis Formulierungen rechtfertigte bzw. sie bestätigt sah.9 Zwei längere Erörterungen mit einem erneuten Vergleich Spinoza-Leibniz-Kant und einem Vergleich Jacobi-Kant sind in diese Stellendiskussion einbezogen. Schließlich ist noch ein drittes Heft: ,Über dasjenige in Jakobis Briefen und Realismus was den Spinoza nicht betrift, und besonders über seine eigene Philosophie' 10 erhalten, worin Schleiermacher aus beiden Jacobibüchern Texte notierte, insbesondere die 52 Sätze Jacobis über die Freiheit des Menschen aus der Vorrede der Zweitauflage der Spinozabriefe.11 Nur an zwei Stellen kommentiert Schleiermacher das Abgeschriebene.12

1. Schleiermachers Spinozarezeption via Jacobi A. Forschungslage Die Grundthemen, welchen sich Schleiermacher anhand der ihm überlieferten Lehre Spinozas in den beiden Spinozamanuskripten zuwandte, sind im wesentlichen schon von Wilhelm Dilthey benannt worden und orientieren sich vor allem an der ,Kurzen Darstellung des Spinozistischen Systems'. Dilthey nennt „zwei fundamentale Punkte", in denen Schleiermacher Jacobis Darstellung der Philosophie Spinozas „verbessert": 13 Zum einen gelte dessen Augenmerk dem Verhältnis von Unendlichem und Endlichem als dem Ausgangspunkt von Spinozas System, zum anderen der Darstellung des Verhältnisses der spinozanischen Attribute Ausdehnung und Denken. Daneben nennt Dilthey in den ,Denkmalen der inneren Entwicklung Schleiermachers', einem Anhang zu seiner Biographie, die beiden Themen aus dem Manuskript ,Spinozismus': Individualität und Personalität, die er allerdings nicht weiter erläutert, sondern

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ten Vergleichspositionen sind für Schleiermacher also keineswegs gleichwertig. Vgl. Brief Nr. 134 an v. Brinckmann vom 3.2.1790, KGA V / 1 , S. 191, Z. 54ff. Zur relativen Chronologie vgl. Sp 557. Vgl. G. Meckenstock: Historische Einleitung, in: KGA 1/1, S. LXXVIf; ders.: Deterministische Ethik (1988), S. 185; ders.: Schleiermachers frühe Spinoza-Studien (2002), S. 449f. KGA 1/1, S. 585-597. JWA1/1, S. 158-168. KGA 1/1, S. 590. 596f. W. Dilthey: Leben Schleiermachers (1870/1991), S. 148/175.

1. Schleiermachers Spinozarezeption via Jacobi

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lediglich den (stark gekürzten) Wortlaut der ihm vorliegenden Handschrift Schleiermachers mitteilt. 14 Vor dem Erscheinen der Kritischen Gesamtausgabe im Jahre 1984 sollten diese wenigen Zeilen Diltheys die einzige verläßliche Textedition zu beiden Themen sein. 15 Diesem Umstand ist es wohl geschuldet, daß die Frage nach dem Principium individuationis erst in der jüngeren Forschung überhaupt in den Blick gekommen ist. 16 Auf der Grundlage des Textes der Kritischen Gesamtausgabe gibt es zwei neuere Untersuchungen. Günter Meckenstock, der Herausgeber der Jugendschriften Schleiermachers innerhalb dieser Ausgabe, widmete diesem Schriftenensemble 1988 eine eigene Monographie, worin er sich in zwei Kapiteln den in Frage stehenden Spinozamanuskripten zuwendet. 17 Er bespricht gemäß seinem textnahen Ansatz die beiden Abhandlungen zum Begriff der Person und des Individuums in ,Spinozismus' gesondert, sieht deren Bedeutimg jedoch nur im Rahmen seiner Gesamteinschätzung, es sei Schleiermachers besonderes Anliegen in dieser Zeit, „die Grundlegung für eine deterministische Ethik überzeugend zu formulieren", lediglich auf einer „Nebenlinie" habe Schleiermacher Themen der theoretischen Philosophie bzw. solche der Theologie im Blick (S. 19f). So verfolge er mit seinem Exkurs zum Individuumsbegriff das Ziel, „Spinoza gegen den von Jacobi erhobenen Vorwurf [zu] verteidigen, daß der Spinozismus keine Individuation kenne und damit auch keine sittliche 14 W. Dilthey: Leben Schleiermachers (1870), Denkmale, S. 64-69, hier S. 68. 15 Die Teiledition von Hermann Mulert (Schleiermacher über Spinoza und Jacobi, Chronicon Spinozanum 3 [1923], S. 295-316) bricht nach Schleiermachers Anmerkung zu einer Textstelle S. 145 der 2. Auflage von Jacobis ,Über die Lehre Spinozas' ab (Sp 538, Z. 11) und bietet also gerade die wichtigen Ausführungen Schleiermachers zum Personbegriff (Sp 538-545) und zum Individuationsproblem (Sp 547-554) nicht. Die Edition Ε. H. Quapps im Anhang an seine Studie ,Christus im Leben Schleiermachers' (1972) ist philologisch unzuverlässig. Vgl. das vernichtende Urteil Meckenstocks in der Einleitung zu K G A 1 / 1 , S. LXXX. 16 E. Hirsch, Geschichte (1964), Bd. IV, S. 495, leugnet für Schleiermachers Frühphase bis 1798 jeden Zusammenhang von dessen metaphysischem Denken mit Spinoza. H. Süskind (Der Einfluß Schellings [1909], S. 16) erwähnt zwar die Frage der Individuation, sieht darin aber kein der Darstellung wertes „metaphysisches Ergebnis". E. Herms begreift das Thema als Implikat der Verhältnisbestimmung von Unendlichem-Endlichem (Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher [1974], S. 141-144) oder der der Attribute (S. 150f.). K. Nowak führt neben der „Inhärenz des Endlichen im Unendlichen" als bedeutenden philosophischen Bezugspunkt der Spinozamanuskripte „Individuation" auf, folgt in seiner Skizze aber im wesentlichen der Studie von Herms (Schleiermacher und die Frühromantik [1986], S. 84-93). 17 G. Meckenstock: Deterministische Ethik und kritische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789-1794 (1988), 181-218. Der spätere Aufsatz zum Thema ist eine gedrängte Zusammenstellung der ausführlichen Behandlung in der Monographie. Vgl. ders: Schleiermachers frühe Spinoza-Studien (2002).

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

Individualität", die Ausführungen dienten also „der theoretischen Absicherung eines sittlichen Interesses" (S. 198. Hhg. C.E.). Meckenstock kann für dieses Motiv keine Textbelege anführen. Zudem birgt sein Vorschlag die Tendenz, den Unterschied zwischen dem Individuationsproblem und der Frage nach der Identität des Selbstbewußtseins als der Voraussetzung sittlicher Handlungen zu verwischen. Schleiermacher ist hier ausschließlich mit ersterem Problem beschäftigt. Was die,Kurze Darstellung' betrifft, gibt Meckenstock zwar die Themen Unendlichkeit-Endlichkeit, Attributenlehre und Inhärenzgedanken paraphrasierend wieder (S. 204212), eine die Sache durchdringende und die einzelnen Themenkomplexe verknüpfende Interpretation ist aber nicht geleistet. Es bleibt bei dem vagen Hinweis, Schleiermacher habe in der Theologie eine „Tendenz zur Subjektivierung und Kosmologisierung" (S. 212). Das hinter diesen Stichworten stehende Sachproblem, den Einfluß transzendentalphilosophischer Denkweise auf Schleiermachers Argumentation in Beziehung zu dessen Verständnis der spinozanischen Metaphysik zu setzen, hat Meckenstock nicht erkannt.18 Julia A. Lamm gebührt das Verdienst, nach Blackwells eher überblicksmäßiger Darstellung des frühen Schleiermacher 19 die erste Detailstudie zu den Spinozamanuskripten Schleiermachers in der englischsprachigen Forschung vorgelegt zu haben. 20 Diese hat sie dann in den Rahmen einer größeren Arbeit zur „theologischen Aneignung Spinozas durch Schleiermacher" unter das Leitwort: „The Living God" gestellt, in der Schleiermachers Spinozismus von den Manuskripten über die ,Reden' bis zur,Glaubenslehre' verfolgt wird. 21 Unter vier Leitbegriffen steht ihre Diskussion von Schleiermachers Spinozaheften: „Organic monism", „A Complete Determinism", „Realism and the Feeling for Being" und „A Nonanthropomorphic God" und zeugt damit von dem Versuch, eine einseitige Konzentration, sei es auf metaphysische, ethische, erkenntnistheoretische oder theologische Fragestellungen zu vermeiden, vielmehr die vielfältigen Perspektiven Schleiermachers erst einmal nebeneinander zu stellen und so die Breite der Bezüge hervorzuheben. Dabei tritt aller18 Meckenstock scheint angesichts von Schleiermachers Verknüpfung von spinozanischer und kantischer Philosophie vielmehr selbst die verschiedenen Termini zu verwirren, wenn er vom „noumenologischen Substanzbegriff" (S. 194) oder von „Spinozas Aussagen zu Raum und Zeit" (S. 212) spricht. 19 A. Blackwell: Schleiermacher's Early Philosophy of Life. Determinism, Freedom, and Phantasy (1982). 20 J. A. Lamm: Schleiermacher's Post-Kantian Spinozism. The Early Essays on Spinoza 1793/94 (1994). 21 J. A. Lamm: The Living God. Schleiermacher's Theological Appropriation of Spinoza (1996). Das erste Kapitel: The Early Essays on Spinoza 1793/94 (S. 13-56) ist ein überarbeiteter Wiederabdruck des Aufsatzes von 1994; ich beziehe mich daher ausschließlich auf die Ausführungen von 1996.

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dings die Darstellung des inneren Zusammenhangs der Themen in den Hintergrund, so daß kaum deutlich wird, inwiefern Schleiermacher in der Auseinandersetzung mit Spinoza eigentlich von einer Grundeinsicht geleitet wird. Es entsteht vielmehr der m. E. nicht zutreffende Eindruck, die Themen und Perspektiven seien nur lose miteinander verbunden. Die in Julia Lamms Studie angezeigten Perspektiven führen zurück auf die Frage der Bedeutung von Schleiermachers Spinozarezeption für die Entwicklung seines Denkens, die in der Forschung die unterschiedlichsten Ansichten hervorgebracht hat. Einerseits geht es hier um das Motiv Schleiermachers, das ihm die drei o. g. Themen der Verhältnisbestimmung von Unendlichem und Endlichem, von Geist und Materie und schließlich das Individuationsproblem zu Schlüsselthemen hat werden lassen, und andererseits um die Wirkung, die die in den Spinozastudien erlangten Einsichten für Schleiermachers weiteres Denken, vor allem für die Grundkonzeption der ,Reden' gehabt hat. Werfen wir also einen Blick auf die Diskussion um die Motivlage Schleiermachers, mit der häufig auch Aussagen zur Bedeutung für die Konzeption der ,Reden' verbunden werden. Eine abschließende Beurteilung in dem letztgenannten Punkt wird freilich erst am Schluß dieser Arbeit gegeben werden können. Dilthey hat durch seine Darstellung die Forschung in dieser Frage vor ein Dilemma gestellt. Er beschreibt einerseits die philosophische Auseinandersetzung Schleiermachers, in der Spinoza ihn „von den erkenntnistheoretischen und ethischen in die metaphysischen Probleme" 22 geführt habe. Da Schleiermacher Spinoza aber „von dem kritischen Standpunkt Kants, der die Grundlage seines eigenen Philosophierens" 23 war, her rezipierte, konnte diese philosophische Auseinandersetzung lediglich Grenzbestimmungen hervorbringen. Demgegenüber macht Dilthey nun einen Zug im Leben Schleiermachers aus, der sich nicht in Zusammenhang mit diesen Beschäftigungen erklären lasse: „Jenseits dieser negativen Ergebnisse einer folgerechten kritischen Philosophie steht, unabhängig von ihnen, in seinem Gebiete sich frei bewegend, religiöses Gemütsleben." 24 Und er konstatiert eine Tendenz Schleiermachers, „beide Gebiete zu sondern und dadurch in ihren Grenzen zu befreien" (ebd.), und gibt Hinweise woher diese Tendenz ihren Ursprung genommen haben mag: Auf der einen Seite mag die Eigenständigkeit des Religiösen von Herrnhut inspiriert worden sein, mag das „freie, mächtige Walten des christlichen Gemüts unter den Brüdern ihm nahegerückt" sein, dem Schleiermachers „wissenschaftlicher Unabhängigkeitsgeist" gegenübersteht (ebd.). Auf der anderen Seite, so vermutet Dilthey, konnte sich Schleiermachers Tendenz zur Scheidung von Wissenschaft und Religion an den Gedan22 W. Dilthey: Leben Schleiermachers (1991), S. 178. 23 W. Dilthey: Leben Schleiermachers (1870/1991), S. 151/177. 24 Ebd., S. 301/318.

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ken Jacobis entwickeln, wenn er diese nur von ihrer „einseitigen Wendung gegen die Wissenschaft ablöste" (ebd.). Beide Hinweise Diltheys, sowohl der Verweis auf die Herkunft Schleiermachers aus der Herrnhuter Brüdergemeine als auch der auf Jacobi, wurden in der nachfolgenden Forschung aufgegriffen. Samuel Eck 25 hatte sich in seiner Dissertation von 1908 die Aufgabe gestellt, die Herkunft des von Schleiermacher in den,Monologen' dargestellten Individualitätsgedankens aufzuklären und kam zu der Ansicht, daß erstens das Herrnhutische Frömmigkeitsleben26 der religiöse Wurzelboden von Schleiermachers Individualitätsgedanken sei (S. 53-58), zweitens der entwickelte Begriff der Individualität in den,Monologen' ein geschichtlicher und kein ontologischer Begriff sei (S. 41) und deshalb drittens die Frage der Individuation wie sie in den Spinozaheften Schleiermachers angesprochen wird, im Grunde weder für das Konzept der,Monologen' noch daher für das der ,Reden' grundlegende Bedeutung habe (S. 9. 41. 59). Vielmehr bilden sich „diese ethischen Individuen [... ] nicht aus metaphysischem Recht, sondern aus unableitbarem geschichtlichem Leben" (S. 41). Diese These wurde dann von Erwin H. Quapp 1972 dahingehend variiert, daß die Herrnhuter Herkunft Schleiermachers die Frage nach dem Individuum nicht nur überhaupt provoziert, sondern auch die materiale Lösung des Problems in den Spinozamanuskripten präjudiziert habe. Das liest sich bei Quapp dann so, daß die aus der brüderischen Frömmigkeit stammenden Begriffe Anschauimg und Gefühl sich in der Formulierung des Begriffs eines Individuums in den Spinozaheften wiederfänden, um schließlich in den ,Reden' als Fundament des Religionsbegriffes zu dienen. 27 In jüngster Zeit hat Dorette Seibert diesen Strang wieder aufgenommen. In ihrer Dissertation,Glaube, Erfahrung und Gemeinschaft. Der junge Schleiermacher und Herrnhut' von 2003 vinternimmt sie einen Überblick über die herrnhutischen Einflüsse, wobei sicherlich das Eingehen auf den Nachfolger Zinzendorfs, den Bischof und Theologen August 25 Über die Herkunft des Individualitätsgedankens bei Schleiermacher (1908). 26 Vgl. dazu auch E. R. Meyer: Schleiermachers und C. G. von Brinckmanns Gang durch die Brüdergemeine (1905). 27 Vgl. Ε. H. Quapp: Christus im Leben Schleiermachers. Vom Herrnhuter zum Spinozisten (1972). Zur Herkunft des Individualitätsbegriffs aus dem Herrnhutischen vgl. S. 99: Im „Herzensverkehr mit Christus [... ] entsteht die unaustauschbare Art, mit ihm umzugehen, die Individualität"; zur Darstellung des Individuumsbegriffs in den Spinozamanuskripten vgl. S. 238. 306. Insbesondere die Interpretation der Spinozamanuskripte durch Quapp scheint mir an der Intention der Texte vorbeizugehen. Meckenstock hat die Arbeitsweise Quapps treffend beschrieben, indem er von „willkürlichen oder auch gewaltsamen Festlegungen" und „gedankenferner" Interpretation spricht. Vgl. Meckenstock: Deterministische Ethik (1988), S. 10-13.

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Gottlieb Spangenberg (1704-1792) Erwähnung verdient (S. 129-180). Neben anderen Jugendschriften geht sie - mehr paraphrasierend als interpretierend - auch auf die Spinozamanuskripte ein (S. 295-324). 28 Quapp scheint sich der Differenz der Problemstellungen von Individualitätsgedanke und Individuationsproblem nicht im Klaren zu sein, indem er mit dem Verweis auf die Eigentümlichkeit frommer Subjekte die Lösung der Frage nach dem Prinzip von Vereinzelung meint beantworten zu können. Dagegen setzt Eck in seiner These, daß nicht das ontologische Individuationsproblem für Schleiermachers Denken wie es in ,Monologen' und ,Reden' dokumentiert ist, sondern der ethisch-geschichtliche Individualitätsgedanke maßgeblich sei, die angesprochene Differnz von Individuation und Individualisierung voraus. Mit der Annahme der Disparatheit von philosophischer und religiös-geschichtlicher Entwicklung Schleiermachers verfolgt er Diltheys Andeutung, allerdings verbunden mit der völligen Ausblendung der philosophischen Seite. Diltheys Hinweis auf Jacobi ist in der Forschung dann von Ellert Herms aufgenommen worden, der es in seiner Studie: ,Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher' von 1974 für eine Schlüsseleinsicht hält, daß Schleiermacher in den Studien der Jacobibücher in erster Linie nicht an einer Herausarbeitung spinozanischer Philosophie interessiert war, wie noch Dilthey meinte, sondern zuallerst Jacobis eigene Philosophie rezipiert habe, um sie auf dem Hintergrund kantischer Einsichten kritisch umzugestalten.29 Die von Herms vorgetragene Deutung verdient insofern eine etwas ausführlichere Besprechung, als sie geeignet ist, auf den Problemhorizont hinzuführen, vor dem Schleiermachers Überlegungen in den Spinozamanuskripten stattfanden. Herms geht von der Beobachtung einer Jacobiverehrung durch Schleiermacher aus 30 und macht es sich nun zur Aufgabe, dem Grund solcher Hochschätzung nachzuspüren. Er findet ihn darin, daß Schleiermacher eine für Jacobi zentrale Einsicht übernommen habe, die dieser in 28 Im Ergebnis folgt sie weitgehend der Studie von Herms (Herkunft [1974]). „Unmittelbares Realitätsbewußtsein" und „Gefühl" als „Möglichkeit, die Grenzen der Erfahrung auf ihr Verhältnis zu einer sie überschreitenden Wirklichkeit" seien demnach Jacobische Gedanken, die von Schleiermacher aufgenommen worden seien (D. Seibert: Glaube [2003], S. 300-309. 323). 29 Vgl. E. Herms: Herkunft und Entfaltung (1974), S. 121. 144. Die Kapitelüberschrift spricht programmatisch auch nicht vom Spinoza- sonder vom „Jakobistudium": „3. Teil. Die Erarbeitung einer kritischen Theorie des unmittelbaren Selbstbewußtseins im Zuge des Jakobistudiums seit 1793." 30 E. Herms: Herkunft und Entfaltung (1974), S. 121f. Schleiermacher hat sich in einigen Briefen in ehrfürchtiger Haltung über Jacobi geäußert und hatte ihm - das geht aus einem Brief an Niebuhr vom 28. 3. 1819 hervor (Meisner Π, S. 297) - sogar seine Glaubenslehre widmen wollen, ein Vorhaben das durch den Tod Jacobis drei Wochen vor dieser Äußerung Schleiermachers vereitelt wurde.

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eben den Büchern entwickelt hatte, die Schleiermacher im Winter 1793 studierte: in Jacobis ,David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus' von 1787 und der zweiten Auflage der Spinozabriefe von 1789. Schleiermacher habe diese Einsicht zwar kritisch umgestaltet, in ihren Grundzügen sei sie aber von ihm rezipiert und zur Grundlage für erkenntnistheoretische, anthropologische, metaphysische und nicht zuletzt religionstheoretische Konsequenzen Schleiermachers geworden.31 Es handelt sich dabei um Jacobis „Theorie der Unmittelbarkeit des Realitätsbewußtseins", so der Ausdruck von Herms, die von Schleiermacher übernommen worden sei. Dies lasse sich an Predigten der Zeit und insbesondere an den Spinozamanuskripten nachweisen. Bevor er aber einen solchen Nachweis antreten kann, gibt Herms einen Überblick über die in Frage stehende Jacobische Theorie, wie sie Jacobi in den 1787 veröffentlichten Gesprächen ,David Hume über den Glauben' entwickelt.32 Die Wirklichkeit von Vorstellungsgehalten könne nach Jacobi nicht durch ein Schlußverfahren bewiesen werden, sondern sei unmittelbar in jeder Wahrnehmung immer schon gegeben (Herms, S. 123), allerdings ist der Gehalt dieses unmmittelbaren Bewußtseins stets ein doppelter. In dem unmittelbaren Bewußtsein - in Anlehnimg an Hume „Gefühl" genannt (S. 124) - sind sowohl Gegenstandsbewußtsein als auch Selbstbewußtsein impliziert und zwar untrennbar und daher gleichursprünglich. Auf der Ebene des Gehaltes ist so eine Vermitteltheit zu konstatieren, der die Unmittelbarkeit des „Bewußtseins der Wirklichkeit dieser ganzen Sphäre der Vermittlung und Wechselwirkung" (S. 125) gegenübersteht. Dieses „unmittelbare Bewußtsein bestimmter Wirklichkeit" (S. 158) benennt Herms als „unmittelbares Realitätsbewußtsein" und sieht hierin Jacobis Grundeinsicht, aus der sich zum einen der Sinn der Formel, Glaube sei Element allen Erkennens, erschließen lasse, sofern mit dem Stichwort Glaube auf die Unmittelbarkeit des genannten Bewußtseins hingewiesen werde (S. 126). Zum andern ergebe sich aufgrund der Gleichursprünglichkeit von Selbst und Welt im unmittelbaren Realitätsbewußtsein die Erklärung für den Anschluß Jacobis an Leibnizens Lehre von der prästabilierten Harmonie (S. 128). Drittens läßt sich aber auch, insofern „unzertrennliche Einheit des Mannigfaltigen" nach Jacobi Individualität ausmache, dessen Vorliebe für die Leibnizsche Monadenlehre einsehen, weil Selbst und Welt im unmittelbaren Realitätsbewußtsein gerade eine solche Einheit darstellen (ebd.). Zu dieser Rekonstruktion merkt Herms an, daß Jacobi sich eine wesentliche Implikation seiner Einsichten nicht klar gemacht habe, nämlich, daß die im unmittelbaren Realitätsbewußtsein erschlossene Wirk31 E. Herms: Herkunft und Entfaltung (1974), S. 152f. 157f. 32 Vgl. DH 170-177.

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lichkeit nichts als eine „Wirklichkeit der Erkenntnis" ist (S. 134). Er unterließ infolgedessen die in seiner Konzeption angelegte Unterscheidung „zwischen dem phänomenalen Gehalt des Realitätsbewußtseins und dessen transphänomenaler - nämlich unmittelbar gegebenen - Wirklichkeit selber" (ebd.). Hätte Jacobi diese Unterscheidung vollzogen, hätte das erhebliche Konsequenzen einerseits für seinen Begriff des Individuums gehabt - nur phänomenale Einheit, nicht substantielle - andererseits für seinen Freiheitsbegriff. Die „relative Freiheit im Umkreis der endlichen Phänomenalität" wäre mit der „absoluten Unfreiheit des Wirklichkeitsbewußtseins selber" zugleich zu denken gewesen (S. 135). Damit ist der Rahmen gesteckt, in dem Herms Schleiermachers Rezeption Jacobischer Gedanken sieht. Einerseits diagnostiziert er eine Übernahme des Grundmodells des unmittelbaren Realitätsbewußtseins durch Schleiermacher, das dieser aber im Sinne der beobachteten Inkonsistenzen Jacobis korrigiere. Die erste Behauptung konstruiert Herms aus einer Kombination der Briefabhandlung „Wissen, Glauben, Meinen" 33 mit einer Predigtäußerung Schleiermachers, wonach der Terminus des unmittelbaren Selbstbewußtseins für ein Bewußtsein stehe, in welchem „die Wirklichkeit des mit der Außenwelt in einem notwendigen, sinnlich Oermittelten Verhältnisse stehenden und diese für wahr haltenden Selbstes unmittelbar erschlossen" (S. 138) sei. Dies decke sich völlig mit Jacobis Theorie und sei „noch deutlicher in den Spinozastudien vorgetragen". Die einzigen Belege aus diesen Texten, die Herms für diese Auskunft hat, sind die Ausdrücke „Gefühl des Seins" und „unmittelbarer Begriff" (S. 138. 140).34 In sein folgendes Referat der ,Kurzen Darstellung des Spinozistischen Systems' ist die angebliche Genese von Schleiermachers Einsichten durch eine kantisch-kritische Rezeption von Jacobis Theorie des unmittelbaren Realitätsbewußtseins dann auch nur im Modus der Behauptung eingestreut.35 Sowenig die These überzeugen kann, Schleiermacher habe eine Theorie des unmittelbaren Realitätsbewußtseins von Jacobi übernommen, so scheint mir die Studie von Ellert Herms doch ihre Stärke und ihren Wert zu haben, einerseits überhaupt den Blick auf Jacobi zu lenken und andererseits auf den Problemhorizont zu weisen, vor dem Schleiermacher seine Spinozastudien betreibt. Daß Jacobi als der Vermittler der Philoso33 Vgl. Brief Nr. 326, KGA V / 1 , S. 424^28. 34 In der Einschätzung, Schleiermacher übernehme hier Jacobis unmittelbaren Realitätsglauben folgt ihm J. Lamm: The Living God (1996), S. 46-55, bes. S. 52f. Der Ausdrücke „Gefühl des Seins" und „unmittelbarer Begriff" bedient sich Schleiermacher in Aufnahme der Terminologie Jacobis in dem Manuskript ,Spinozismus', vgl. Sp 534f. Eine Interpretation derselben als Rekonstruktionsbegriffe spinozanischer Philosophie, die solch weitreichenden Hypothesen den Grund entzieht, werde ich unten zu geben versuchen. S. u. S. 186. 35 Vgl. Herms 1974, S. 144-151, bes. S. 147. 148. 151.

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phie Spinozas für Schleiermacher diesem gleichzeitig die Fragestellung vermittelte, unter der Schleiermacher Spinoza - dann auch gegen Jacobi - aus Jacobi las, mag folgende Überlegung verdeutlichen. B. Die Spinozakritik Jacobis und die Problemstellung von Schleiermachers Spinozarezeption In der Spinozakritik Jacobis36 lassen sich zwei schwerpunktmäßige Argumentationen unterscheiden. Zunächst, und das heißt vor allen Dingen in dem Brief an Mendelssohn vom 4. 11. 1783, stand Jacobi das Problem des Verhältnisses von Geist und Materie vor Augen und der Fatalismusvorwurf gegenüber Spinoza bezog sich auf die Einschätzung, daß dessen Philosophie eine mechanische Wirksamkeit allein des Materiellen lehre: „[Jacobi:] Die ganze Sache besteht darinn, daß ich aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fatalismus [... ] schließe. - Wenn es lauter würkende und keine Endursachen giebt, so hat das denkende Vermögen in der ganzen Natur blos das Zusehen; sein einziges Geschaffte ist, den Mechanismus der würkenden Kräfte zu begleiten. Die Unterredung, die wir gegenwärtig miteinander haben, ist nur ein Anliegen unserer Leiber". 37 Schleiermacher erkannte schnell die Fehleinschätzung Jacobis, was das Verhältnis der „Attribute" Denken und Ausdehnung bei Spinoza anging, und die Aufdeckung von Jacobis Mißverständnis spielt auch eine Rolle für die Genese seiner eigenen Spinozarezeption.38 Indessen war dieses Argument nicht Jacobis einziges und auch nicht sein schlagkräftigstes, um seinen Vorwurf des Fatalismus zu untermauern. Er rückte den Fatalismusvorwurf in eine Argumentation ein, die Spinoza nicht um des materiellen Gehaltes seiner Lehre, sondern als Paradigma einer Art Philosophie zu treiben, vorführte. Diese nunmehr methodische Argumentation hatte Jacobi thesenhaft schon in der Erstauflage vertreten, in der siebten Beilage der Zweitauflage39 sollte sie nun „zur Evidenz gebracht" 40 werden.41 Die schon in der Erstauflage vorgebrach36 Zum äußeren Hergang des Streits zwischen Jacobi und Mendelssohn vgl. K. Christ: Jacobi und Mendelssohn (1988). 37 Vgl. JWA 1/1, S. 20f. Diese Diagnose Jacobis bedeutet keinen Vorwurf des Materialismus im engeren Sinne, der die Realität des Geistigen gar nicht anerkennt. Jacobi sieht in Spinoza lediglich einen Vertreter der Ansicht, alles Geistige folge seiner Ordnung nach dem Kausalnexus des Materiellen. Siehe dazu unten S. 179ff. 38 S.U.S. 180ff. 39 JWA 1/1, S. 247-265. 40 JWA 1/1, S. 156. 41 E. Herms (Herkunft und Entfaltung [1974], S. 131) sieht diese doppelte Argumentation werkgeschichtlich als eine neue Stoßrichtung der Jacobischen Spinozakritik, die sich Jacobi durch die in den Gesprächen über ,Idealismus und Realismus' von 1787 ent-

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te These lautete: „Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus." und richtete sich nicht nur gegen den Spinozismus, sondern gleichermaßen gegen die „Leibnitz-Wolfische Philosophie", insofern diese die bei Spinoza lediglich konsequenter vorgebrachten Grundsätze teile und also den „unabläßigen Forscher" zu Spinoza zurückführe.42 Hier ist Jacobis eigentliche Auseinandersetzung mit Spinoza auf derjenigen Ebene erreicht, auf der sie zugleich eine Auseinandersetzung um die Bedeutung und die Grenzen des Rationalismus überhaupt darstellt.43 Insofern ist Jacobi auf der Höhe seiner Zeit - vier Jahre nach dem Erscheinen der / Kritik der reinen Vernunft' Kants - , sein Argument gegen Spinoza in einer erkenntniskritischen Wendung vorzubringen.44 Er transformiert den Vorwurf, Determinismus würde konsequenterweise Fatalismus bedeuten,45 der noch ganz mit dem Verhältnis des Materiellen zum Geistigen befaßt ist, indem der Wille hier durch körperlich-mechanische Vorgänge determiniert sei,46 auf die erkenntnistheoretische Ebene, wo nunmehr die Konsequenzen des Determinismus innerhalb der Vorstellungswelt des Menschen untersucht werden. Jacobis Ausgangspunkt für seine Kritik ist seine Theorie des menschlichen Bewußtseins, die durch eine doppelte Struktur gleichursprünglicher Elemente gekennzeichnet ist. Auf der einen Seite präsentiert das menschliche Bewußtsein das Ineinander von „Ich und Du", von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Gegenstand, und ist also gleichursprünglich Selbst- und Gegenstandsbewußtsein 47 Jacobi ent-

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wickelte Theorie des „unmittelbaren Realitätsbewußtseins" ergeben habe, und dann in der Beilage VII breiter entfaltet wurde. Allerdings sind die Zielpunkte der methodischen Argumentation auch schon in der Erstauflage der Spinozabriefe von 1785 benannt, so daß keine eigentliche Entwicklung des Jacobischen Denkens in diesem Punkt anzunehmen ist. Beides formuliert Jacobi in seinen sechs „kurzen Sätzen", die er „als den Inbegriff [seiner] Behauptungen" an den Schluß seines Spinozabuches in der ersten Auflage stellt. Vgl. JWA1/1, S. 120-125. Vgl. K. Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik (1986), S. 86f. Vgl. dazu R. Schnepf: Rez. der JWA 1/1, Studia Spinozana 14 (1998), S. 291-294. Schnepf sieht besonders die in der siebten Beilage vorgebrachte Spinozakritik als eigentlich gegen Kant gerichtete Invektive. Vgl. JWA 1/1, S. 18: „[Jacobi:] Denn der Determinist, wenn er bündig seyn will, muß zum Fatalisten werden"; vgl. ebd., S. 24. Vgl. JWA 1/1, S. 21: ,,[Jacobi:]Wir glauben nur, daß wir aus Zorn, Liebe, Großmuth, oder aus vernünftigem Entschlüsse handelten. Bloßer Wahn! In allen diesen Fällen ist im Grunde das was uns bewegt ein Etwas, das von allem dem nichts weiß, und das, in so ferne, von Empfindung und Gedanke schlechterdings entblößt ist. Diese aber, Empfindung und Gedanke, sind nur Begriffe von Ausdehnung, Bewegung, Graden der Geschwindigkeit [... ] Leßing: Ich merke, Sie hätten gerne Ihren Willen frey." Vgl. DH176: „[Jacobi:... ] daß auch bey der allerersten und einfachsten Wahrnehmung, das Ich und das Du, inneres Bewußtsein und äusserlicher Gegenstand, sogleich in der Seele da seyn müssen; beydes in demselben Nu, in demselben untheilbaren Augenblicke, ohne vor und nach, ohne irgend eine Operation des Verstandes".

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wickelt diese Anschauung durch die Überlegung, daß die durch die Sinne gegebene Überzeugung vom Dasein äußerer Gegenstände in gleicher Weise wie diejenige vom Dasein des eigenen Bewußtseins selbst nicht durch eine Verknüpfungsleistung des Verstandes zustande kommen, sondern ursprünglich aufeinander bezogen sind und sich uns nur in dieser Bezogenheit präsentieren: „Der Gegenstand trägt eben so viel zur Wahrnehmung des Bewußtseyns bey, als das Bewußtseyn zur Wahrnehmung des Gegenstands. Ich erfahre, daß ich bin, und daß etwas außer mir ist, in demselben untheilbaren Augenblick; und in diesem Augenblicke leidet meine Seele vom Gegenstande nicht mehr, als sie von sich selbst leidet. Keine Vorstellung, kein Schluß vermittelt diese zwiefache Offenbarung." 48 Der letzte Teil des zitierten Satzes weist schon auf die andere Seite der Jacobischen Bewußtseinsauffassung. Nicht nur besteht eine untrennbare Verbindung zwischen Gegenstandswahrnehmung und Selbstbewußtsein, sondern beides ist nicht kraft einer Verknüpfungsleistung des Verstandes verbunden, sondern ist demselben in dieser Verbundenheit bereits vorgegeben und insofern „unmittelbar". 49 An dieser Stelle begibt sich Jacobi nun in eine gewisse Doppeldeutigkeit bei der Beschreibung des Unmittelbarkeitscharakters des Bewußtseins, indem er diesen Aspekt als „Vorstellung des Unbedingten" bezeichnet. Die dahingehende Formulierung findet sich in der siebten Beilage der Zweitauflage seines Spinozabuches: Das menschliche Bewußtsein, so Jacobi, sei „aus zwey ursprünglichen Vorstellungen, der Vorstellung des Bedingten und des Unbedingten zusammen gesetzt [...]. Bey de sind unzertrennlich mit einander verknüpft, doch so, daß die Vorstellung des Bedingten die Vorstellung des Unbedingten voraussetzt, und in dieser nur gegeben werden kann." 50 Zum einen versteht Jacobi das Unbedingte im Sinne einer Unhintergehbarkeit der oben entwickelten Struktur des Bewußtseins, und in dieser Bedeutung hat die Rede vom Unbedingten eine kritische Funktion. Daneben nimmt Jacobi aber die Vorstellung des Unbedingten auch 48 DH 175. Die Stelle steht im Zusammenhang einer Erörterung der Art wie uns Vorstellungen gegeben werden. Jacobi bezieht sich auf Frans Hemsterhuis und dessen Theorie, Vorstellungen als „Resultat der Beziehungen, welche sich zwischen uns und den Gegenständen, und allem, was uns von den Gegenständen trennt, befinden" (S. 170) aufzufassen. Aus Hemsterhuis ist auch die Frage nach der Unmittelbarkeit „der Ueberzeugung von dem wirklichen Daseyn der Dinge außer uns" (S. 172), die zur Frage nach dem Verhältnis von Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein führt. Zum Verhältnis Jacobi-Hemsterhuis vgl. K. Hammacher: Hemsterhuis und Jacobi (1995). 49 DH 172f. vgl. S. 168: Die Offenbarung des Daseins der äußeren Gegenstände ist „unmittelbar in Absicht auf uns, weil wir das eigentliche Mittelbare davon nicht erkennen." Die Stelle weist auf die in der vorigen Anmerkung zitierte Auffassung von Hemsterhuis. 50 Beilage V n , J W A I / l , S . 260.

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in positiver, konstitutiver Funktion in Anspruch. Dieser Doppelsinn ist mehr als eine begriffliche Ungenauigkeit,51 sondern geradezu der Schlüssel zum Verständnis der erkenntnis- und religionstheoretischen Brisanz, die in Jacobis Spinozakritik steckte. Für unseren Zusammenhang ist aber vor allem der kritische Aspekt relevant; Jacobis eigene positive Alternative, die sich angesichts des Dilemmas, das die kritische Sicht bringt, kraft des berühmt-berüchtigten „Salto mortale" in eine unbefragbare Gewißheit des Unbedingten rettet, kann hier außen vor bleiben. 52 Wenden wir uns also der kritischen Funktion der Jacobischen Auffassung des Unbedingten zu. Mit dem Hinweis auf das Unbedingte steckt Jacobi hier den Rahmen ab, innerhalb dessen er menschliche Erkenntnis überhaupt für möglich hielt. Die menschliche Bewußtseinsstruktur sei in dem Sinne für den begreifenden Verstand unhintergehbar, als sie in ihrem Zusammenspiel von Bewußtsein und sinnlich gegebenen Gegenständen den einzigen Zugang zur Gegenstandswelt verschaffe.53 Freilich geht Jacobi bei der Beschreibung dieser Position, die dann zum Argument gegen Spinoza wird - anders als Kant - von einer von Gesetzen durchwalteten Natur als Gegenstandswelt aus, deren Beziehtingen im Verstand zu reproduzieren heißt, etwas zu begreifen.54 Es geht ihm um das Nachforschen nach den Gründen der Dinge in dem unendlichen Zusammenhang endlicher Dinge, nach dem, „was das Daseyn der Dinge vermittelt", oder in einer anderen Wendung: das Entdecken des „Mechanismus" der Dinge. 55 Solches Erkennen der Dinge durch die Einsicht in deren Gründe ist 51 E. Herms weist auf den Doppelsinn des Wortes „unbedingt" bei Jacobi hin: „Hier wäre zwischen dem ,unbedingt Gegebenen', d. h. der ohne erkennbare Bedingungen erschlossenen Phänomensphäre, und dem ,unbedingt Gebenden', d. h. dem selbst unerkennbaren Grunde der Phänomenalität zu unterscheiden." (Herkunft und Entfaltung [1974], S.134). 52 Auch für Jacobis Rekurs auf ein Unbedingtes in einer positiven Funktion ist die Beilage VII, Jacobis „heimliches Hauptwerk", einschlägig. Vgl. JWA 1/1, S. 260: „Wir brauchen also das Unbedingte nicht erst zu suchen, sondern haben von seinem Daseyn dieselbige, ja eine noch größere Gewißheit, als wir von unserem eigenen bedingten Daseyn haben." Dazu ausführlich B. Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis (2000), S. 64-76; H. Timm: Gott und die Freiheit (1974), S. 135-225. 53 Vgl. G. Baum: Uber das Verhältnis von Erkenntnisgewißheit und Anschauungsgewißheit in F. H. Jacobis Interpretation der Vernunft (1971), S. 17: „der grundlegenden Funktion der Anschauung als Quelle jeglicher Gegenstandserfassung tritt eine ebenso prinzipielle Einschätzung des abstrakten Denkens in Bezug auf mögliche Welterfahrung gegenüber." 54 Vgl. Beilage VII, JWA 1/1, S. 263: „Eine mögliche Vorstellung für uns ist allein diejenige, welche nach den Gesetzen unseres Verstandes hervorgebracht werden kann. Die Gesetze des Verstandes beziehen sich subjectiv und objectiv auf die Gesetze der Natur, so daß wir keine Begiffe, als Begriffe des blos Natürlichen zu bilden im Stande sind, und was durch die Natur nicht wirklich werden kann, auch in der Vorstellung nicht möglich, das ist: denkbar machen können." 55 Beilage VII, JWA 1/1, S. 260. Vgl. S. 258, Anm. 1: „Wir begreifen eine Sache, wenn wir sie aus ihren nächsten Ursachen herleiten können, oder ihre unmittelbaren Bedingungen

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für Jacobi der Begriff „philosophischer" 56 oder „deutlicher Erkenntnis". 57 Hier sah er das Betätigungsfeld aufgeklärter Vernunft, deren Einsicht in die Mechanismen der Natur darauf beruht, daß „wir nur gemäß dem Satze des zureichenden Grundes, das ist: der V E R M I T T E L U N G , denken und begreifen können". 58 In dem Hinweis auf die Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grund ist klargestellt, daß Jacobi hier nicht nur die Grenzbestimmungen menschlicher Rationalität im Zusammenhang der Beurteilung eines bislang am Rande des erlaubten Denkhorizonts rangierenden Amsterdamer Philosophen diskutiert, sondern die ganze zeitgenössische, von Leibniz und Wolff ausgegangene rationalistische Schulphilosophie vor Augen hat. Ihr beschreibt er aber nicht nur die Grenze, sondern wirft ihr zugleich Grenzüberschreitung vor, worin Spinoza als konsequentester Ausgestalter einer auf dem Satz vom Grunde erbauten Philosophie vorangegangen sei und das letztgültige Exempel statuiert habe. Grenzüberschreitung sieht Jacobi, wo mit Hilfe dieser rationalen Methode, die auf die Angabe von Gründen zielt, Aussagen über die Bedingung der Möglichkeit solcher Gründe überhaupt gemacht werden, über dasjenige, was den Grund des Gesamtzusammenhangs einer in unendlichen Kausalbeziehungen stehenden Welt angeben soll. „Ein ungereimtes Unternehmen", so schreibt er prägnant, sei es, „den Mechanismus des Prinzips des Mechanismus an den Tag" bringen zu wollen. 59 Ungereimt ist dieses Unternehmen seiner Meinimg nach gerade aus derjenigen methodischen Einsicht, daß die Grenze des menschlichen Begreifens dort verlaufen muß, wo die Struktur dieses Begreifens über sich selbst hinausgreifen will: „so bleiben wir, so lange wir begreifen, in einer Kette bedingter Bedingungen. Wo diese Kette aufhört, da hören wir auf zu begreifen, und da hört auch der Zusammenhang, den wir Natur nennen, selbst auf." 60 Dieser Vorwurf gilt aller schulphilosophischen Metaphysik, aber auch dem regressiven sog. Prosyllogismus Kants, wenn dieser es unternimmt, von der Totalität des Bedingten auf die Idee eines Unbedingten zu schließen.61 Spinoza gilt nun in Jacobis Augen insofern als das Paradebeispiel solcher Grenzüberschreitung des Rationalismus, als er sich nicht darauf beschränke, die Natur als die Verkettung und den Zusammenhang

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der Reihe nach einsehen: was wir auf diese Weise einsehen, oder herleiten können, stellt uns einen mechanischen Zusammenhang dar." Vorrede zu LSp 2 , JWA 1/1, S. 156. Ebd., S. 163: „XXVII: Die Erkenntnis dessen, was das Daseyn der Dinge vermittelt, heißt eine deutliche Erkenntniß;" vgl. Beilage ΥΠ, JWA 1/1, S. 261. Beilage VII, JWA 1/1, S. 263 (Hhg. im Original). Vgl. einen ähnlichen Hinweis auf den Satz vom Grund: Vorrede zu LSp 2 , JWA 1/1, S. 156. Beilage W , JWA I / 1 , S . 260. Beilage VH, JWA I / 1 , S . 261. Vgl. KrV Β 377ff.

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endlicher Dinge aufzuklären, indem er Einsicht in die Art und Weise der Verkettung gewinnen wollte, sondern es unternehme, ein Prinzip dieses Zusammenhangs überhaupt aufzusuchen. Die Pointe des Vorwurfs ist dabei, daß er den Übergang von diesem Prinzip zu den Dingen der Natur wiederum auf natürliche, d. h. auf der Struktur rationaler Begründung basierende Art zu begreifen suche. „Was er [Spinoza] eigentlich zu Stande bringen wollte: eine NATÜRLICHE Erklärung des Daseyns endlicher und successiver Dinge, konnte durch seine neue Vorstellungsart so wenig, als durch irgend eine andre erreicht werden." 62 Von der Unmöglichkeit dieses Unterfangens war Jacobi aus den genannten methodischen Gründen überzeugt. Es mußte für ihn bei der Interpretation der Philosophie Spinozas die Frage in den Vordergrund treten, inwiefern es Spinoza gelungen ist, bzw. besser gesagt, inwiefern es ihm nicht gelungen ist, den Übergang von einem der endlichen Welt vorausliegenden Prinzip zur „wirklichen Succeßion" (ebd.) endlicher Dinge zu erklären. Denn, so kann man sich Jacobis Gedankengang vor Augen führen, wenn sich „das wirkliche Daseyn einer succeßiven, aus einzelnen endlichen Dingen [... ] bestehenden Welt, auf keine Weise begreiflich, das heißt natürlich erklären" 63 läßt, dann ist die Nagelprobe, der sich jeder Versuch, dieses Dasein endlicher Dinge aus einem Prinzip abzuleiten, unterziehen muß, die Frage, ob denn die abgeleiteten Dinge wirkliche endliche Dinge seien. Oder, da der Begriff eines Prinzips endlicher Dinge jenseits des menschlichen Erkennens liegt, ob nicht vielmehr die aus diesem gefolgerten Dinge sich ebenso als unbegreiflich herausstellen müssten. Der Begriff dieser Dinge müßte daher eigentlich als völlig leer gelten und könnte in keiner Weise auf diejenigen wirklichen Einzeldinge bezogen sein, deren Existenz nach Jacobi in jeder Wahrnehmung unmittelbar bewußt ist. Wenn Spinoza nun, wie Jacobi im Gespräch mit Lessing über den „Geist des Spinozismus" formuliert, „jeden Übergang des Unendlichen zum Endlichen" verworfen hatte, indem er eine „ewig in sich unveränderliche Ursache der Welt [setzte], welche mit allen ihren Folgen zusammengenommen - Eins und dasselbe wäre", 64 wie sollte dann plausibel sein, aus jener unveränderlichen Ursache der Welt wirkliche veränderliche Dinge abzuleiten? Weil Jacobi von der Unmöglichkeit der begrifflichen Erfassung eines Prinzips der natürlichen Welt endlicher Einzeldinge überzeugt war, ist ihm das Ansinnen Spinozas, Unendlich-ewiges und Endlich-einzelnes theoretisch zu verbinden der Hauptpunkt seines kritischen Einwands. Das Individuationsproblem ist damit zur Schlüsselfrage in der Beurteilung der Philosophie Spinozas geworden: „Der Spinozis62 Beilage VII, JWA \/\, S. 251. Hhg. im Original. 63 Beilage VH, JWA 1/1, S. 257. Hhg. im Original. 64 LSp, JWA 1/1, S. 18.

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

mus kann nur von der Seite seiner Individuationen mit Erfolg angegriffen werden". 65 Dies ist nicht nur genau die Textstelle, an der Schleiermachers Überlegungen zum principium individuationis ansetzen (Sp 547), sondern auch der systematische Kontext, in dem seine Erörterungen zu lesen sind. Wenn hiermit gesagt sein soll, daß Schleiermacher sich der erkenntnisund religionstheoretischen Brisanz bewußt war, die die Frage nach der Individuation des Unendlichen durch Jacobis Fokussierung derselben auf die Grenzbestimmungen aufgeklärter Rationalität erhalten hatte, so kann das nicht heißen, daß er sich mit der Übernahme der Fragestellung auch schon die von Jacobi gegebenen Lösungsvorschläge angeeignet habe. Dies betrifft nicht nur die Beurteilung der Philosophie Spinozas in dem kritischen Punkt seiner Individuationstheorie, sondern auch die von Jacobi gebotene Alternative in der Frage einer Möglichkeit des Zugangs zum Unbedingten. In beiden Hinsichten wird sich Schleiermachers Position in den Spinozamanuskripten als eigenständig und Jacobi gegenüber durchaus kritisch erweisen. 66 Der Anteil, den Jacobi an der konstruktiven Rezeption Spinozas durch Schleiermacher trotz dieser Divergenzen hat, liegt in der Vorgabe der Problemstellung. Die Verbindung der Bewußtseinsproblematik mit dem Individuationsproblem, wie sie Jacobi in seiner Spinozakritik vorgenommen hat, steckt für Schleiermacher den Ausgangsrahmen ab. Das Motiv, Spinoza mit Kant zu lesen, könnte für Schleiermacher zum einen darin gelegen haben, beide Denker vereint gegen Jacobis Vorwurf aufzubieten, konsequent rationalistische Systeme könnten das Individuationsproblem nicht lösen. Zum andern stellt die Basis, von der Jacobi in seiner reductio ad absurdum ausgeht - die Unhintergeh65 Beilage VI, JWA 1/1, S. 234. Hhg. im Original. Vgl. Vorrede zu LSp 2 , JWA 1/1, S. 155.: „das System des Spinoza mag sich in dem, was es positives hat, ohne sonderliche Mühe widerlegen lassen; seine Erklärung des Daseyns einzelner Dinge, einer succeßiven Welt, ist nicht allein unzulänglich, sondern beruht auf einem erweislichen inneren Widerspruche." 66 Die Frage nach einem Individuationsprinzip bei Spinoza war bei Jacobi offensichtlich in Auseinandersetzung mit Herder aufgekommen. Obgleich Herder selbst in dieser Frage auch anschließend literarisch in die Debatte eingriff mit seinem Buch: ,Gott. Einige Gespräche' von 1786 (vgl. besonders das fünfte Gespräch, Werke XVI, S. 532-578, bes. 573-575), scheint Schleiermachers kritischer Ansatz gegenüber Jacobis Spinozabild jedenfalls nicht direkt von Herder beeinflußt zu sein. J. A. Lamm legt ihrer Deutung diese Prämisse zugrunde (The living God [1996], 14. 26 u.ö.); anders P. Grove: Deutungen (2004), S. 119. 134 (Anm. 511). 153 (Anm. 608). Die m.W. einzige Erwähnung von Herders ,Gott' in den Jugendschriften Schleiermachers stammt aus der Zeit nach 1793/94 und bezieht sich darauf nur rein äußerlich, ohne einen Hinweis zu geben, ob oder inwiefern Schleiermacher von diesem Buch gedanklich profitiert hätte. Vgl. Gedanken ΠΙ (1798-1801), Nr. 41, KGA 1/2, S. 128. Zum Verhältnis Schleiermachers zu Herder vgl. M. Ohst: Schleiermacher und Herder (2000); P. Grove: „Vereinigungsphilosophie" (2000). Zu Herders Spinozarezeption vgl. H. Clairmont: Spinozadeutung (2002); E. Schürmann: „Ein System der Freiheit" (2002).

2. Die Entwicklung einer spinozistischen Individuationstheorie

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barkeit des natürlichen, bedingten Bewußtseins - für Schleiermacher zugleich das Feld dar, das es zu präzisieren gilt, will man dem Jacobischen Vorwurf nicht nur entgegentreten, sondern auch den Boden entziehen. Schleiermachers Rückgriff auf Spinoza unter kritisch-idealistischem Vorzeichen scheint so seinerseits durch Jacobis Problemformulierung provoziert.

2. Die Entwicklung einer spinozistischen Individuationstheorie in Auseinandersetzung mit Leibniz und Kant Die Spinozamanuskripte sind für das Vorhaben, dem Entdeckungszusammenhang von Schleiermachers Gedanken durch die Analyse der entsprechenden Erörterungskontexte auf die Spur zu kommen, geradezu eine Fundgrube. Sie bieten Einblick in die Gedankenwelt Schleiermachers in einem Stadium seiner intellektuellen Entwicklung, in der grundlegende Optionen noch offen gegeneinander abgewogen werden. In und durch Jacobis Schriften entdeckt Schleiermacher Spinoza, aber er macht sich dessen Philosophie nicht als ein in sich feststehendes Lehrgebäude zu eigen, sondern befragt es auf seine fundamentalen Prinzipien und auf die Leistungsfähigkeit in Hinsicht auf die Grundfragen der theoretischen Philosophie. Als die dabei entscheidende Frage erkannte er die nach einem Prinzip von Vereinzelung. Schleiermacher bezeugt, daß diese Einsicht ihm schon mit der frühesten philosophischen Beschäftigimg gekommen sei: „Ich besinne mich, daß auch mir schon bei meinen ersten philosophischen Meditationen das principium individuationis als der erste kritische Punkt der theoretischen Philosophie vorschwebte" (Sp 546). Allerdings fügt er dieser Bemerkung rückblickend hinzu: „nur daß ich meinen Anker nirgends werfen konnte" (ebd.). Festen philosophischen Grund in dieser Hauptfrage zu erlangen war Schleiermacher also bislang nicht gelungen. Mit der Lektüre des Jacobischen Spinozabuches wird die Frage für ihn erneut virulent, weil, wie wir gesehen haben, Jacobis deutliche Kritik an Spinoza auf das Argument zuläuft, dieser habe an der Frage der Individuation theoretisch versagt. Schleiermacher hat die Vermutung, daß Jacobi die Leistimgsfähigkeit der spinozanischen Philosophie in dieser Frage unterschätzt, und begibt sich daran, dieser Vermutung nachzugehen, indem er versucht, sich ein eigenes Bild von Spinoza zu machen und Vergleiche desselben mit der Leibnizschen und kantischen Theorie vornimmt. Die Frage nach einem principium individuationis ist dabei jedoch nicht auf die ausdrückliche Erörterung in der längeren Abhandlung in ,Spinozismus' beschränkt (Sp 546-554). Sie durchzieht auch die

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

,Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems' (KDSp 559-582) und erweist sich als Schleiermachers eigentliche Leitfrage in beiden Manuskripten. Dies soll im Folgenden an vier Problemstellungen 67 gezeigt werden, die in Schleiermachers Überlegungen auf die Entwicklung einer tragfähigen Individuationstheorie hinführen. In einem ersten Zugang lassen sich diese Problemfelder so charakterisieren: Innerhalb der Auffassung von Spinozas Metaphysik nimmt Schleiermacher eine erste wesentliche Korrektur an Jacobis Spinozaverständnis vor, die als eine Voraussetzung für die Entwicklung des individuationstheoretischen Potentials des Spinozismus angesehen werden muß. Jacobis Urteil über Spinozas Versagen in der Herleitung von Einzeldingen hing, wie im letzten Abschnitt gesehen, eng damit zusammen, daß er dessen Philosophie als ein bloß auf dem Satz vom zureichenden Grund aufgerichtetes rationalistisches System verstand. Schleiermacher versucht nun nachzuweisen, daß dem nicht so ist und gewinnt, indem er für Spinoza einen zweiten, sich auf die endlichen Dinge beziehenden Grundsatz herausarbeitet, Raum für die Fragestellung der Vereinzelung der Dinge. Im Ergebnis sieht er Spinozas Philosophie in zwei Prinzipien, dem Satz vom zureichenden Grund und einer Setzung der Unselbständigkeit des Endlichen gegründet. Erst durch die Verschränkung beider Annahmen tut sich die Frage nach einer Verhältnisbestimmung zwischen Unendlich und Endlich auf. Und so ist Schleiermachers Ansicht nach auch der eigentümliche Lösungsansatz Spinozas, das Endliche sei „innerhalb" des Unendlichen, erst aus der Kombination beider Prinzipien verständlich (Β 1). Vor diesem Hintergrund stellt sich für Schleiermacher erst das eigentliche Problem einer Individuationstheorie in Spinozas Philsophie, nämlich in der Frage, wie eine Inhärenz des Endlichen im Unendlichen gedacht werden kann. Schleiermachers Antwort aus dem Geiste des ihm aufgrund der Jacobischen Darstellung vorschwebenden Spinozismus orientiert sich zunächst an der spinozanischen Physik, also an den einschlägigen Bestimmungen für das Attribut der Ausdehnimg (Extensio) als Inbegriff der Sphäre des Körperlichen. Besonderes Augenmerk findet hier der sogenannte „unmittelbare Modus", Bewegung und Ruhe. Er spielt für die Vereinzelung des Körperlichen zu einzelnen Körpern in Schleiermachers Spinozainterpretation eine wichtige Rolle. Hierzu greift er auch Gedanken Giordano Brunos aus dem Anhang von Jacobis Spinozabuch auf (B 2).

67 Die genetische Abfolge dieser Komplexe im Denken Schleiermachers ist anhand der Manuskripte nicht auszumachen, weil er bei der Erörterung eines Problems die anderen Stränge präsent hält und so praktisch alle Bezüge zugleich im Blick hat. Die hier gegebene Gliederung versucht im Sinne einer systematischen Rekonstruktion die gedankliche Verzahnung der Aspekte deutlich zu machen.

2. Die Entwicklung einer spinozistischen Individuationstheorie

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Damit ist das Individuationsproblem aber keineswegs erschöpfend behandelt. Müßte, so fragt sich Schleiermacher, dieselbe Struktur der Vereinzelung nicht auch in der Sphäre des Denkens im Attribut Cogitatio zu explizieren sein? Wie sind einzelne Gedanken als einzelne auszuweisen? Schleiermacher meldet hier Zweifel an Jacobis Spinozaverständnis an. Dem Denken soll nach dessen Auffassung der spinozanischen Attributenlehre eine bloße Repräsentationsfunktion körperlicher Prozesse zukommen. Schleiermacher wittert in den von Jacobi selbst angegebenen Sätzen Spinozas, daß dessen großartige Philosophie nicht, wie Jacobi meinte, in einer Konzeption des körperlichen Mechanismus aufginge, den das Denken dann nur zu „begleiten" hätte. Vielmehr müsse das Denken gleichberechtigt („parallel") neben der Ausdehnung stehen als „Ausdruck" der einen göttlichen Substanz.68 Schleiermacher lotet aus, welche Folgen diese Auffassung des echten Spinoza haben müsse, wenn sie nur konsequent gedacht würde. Er kommt dabei zu Resultaten für eine Individuationstheorie im Attribut Denken, die Spinozas Philosophie aus dessen System selbst heraus in die Nähe zur Transzendentalphilosophie rücken (C). Es kann dann nicht mehr verwundern, daß Schleiermacher nun auch ausdrücklich eine Nähe des so verstandenen Spinoza zu Kant konstatiert. Die Annäherung Spinozas an transzendentalphilosophische Grundsätze hat sich an Schleiermachers Ausdeutung der Attributenlehre Spinozas gezeigt. Diese Lehre ist es auch, in der er nun ausdrücklich einen Vergleichspunkt zu Kant erblickt. Hier schwingt sich Schleiermacher zum kreativsten und kühnsten Gedanken innerhalb der Spinozamanuskripte empor, wenn er die spinozanischen Attribute als den Formen der Anschauung bei Kant funktional äquivalent expliziert und diese Analogien in Hinsicht auf das Individuationsproblem fruchtbar zu machen sucht. Dieser Abschnitt (D) bereitet den Übergang zum dritten Kapitel und Zielpunkt dieses Teils vor. Denn in der Verschränkung des Spinozismus mit einem idealistischen Ansatz liegt zugleich der Hintergrund für die systematische Verbindung des Individuationsproblems mit dem Anschauungsproblem. Bevor wir aber dieser Sequenz nachgehen, soll Schleiermachers Auseinandersetzung mit Leibniz skizziert werden (A). Leibnizens Monadologie bietet prima facie die beste Theorie der Individualität. Eine Metaphysik individueller Substanzen ist im Blick auf die Plausibilisierung von Einzelheit von vornherein in einer günstigeren theoretischen Ausgangsposition als eine Theorie, in der die Vereinzelung erst noch gezeigt werden muß. So sieht es Jacobi und kommt so zu der Meinung, Leibniz sei in diesem Punkt Spinoza deutlich überlegen. Schleiermacher ist ande68 S.o. Teil I, zur Strukturisomorphie von Modi verschiedener Attribute (1 Β 1), S. 49ff.

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

rer Meinung und bringt kritische Einwände gegen die Schlüssigkeit des Leibnizschen Ansatzes vor. Das Hauptargument lautet, die Leibnizsche Monadologie setze voraus, was zu zeigen wäre. Sie setzt Individualität voraus, statt zu zeigen, wie es zur Vereinzelung von Individuen kommt. Darüberhinaus eigne ihr, so Schleiermacher, eine konzeptionelle Doppelsinnigkeit, die vor allem an Leibnizens Lehre der monadischen Perzeptionen festzumachen sei. Bereinige man diese hier diagnostizierte Inkonsequenz, so erweise sich die Monadenlehre jedoch als durchaus anschlußfähig - an Spinoza. Im „Übergang vom Leibnizianismus zum Spinozismus" wird von Schleiermacher die Sicht eines holistischen Monismus vorbereitet, der die systemlogische Basis für Schleiermachers Erörterung der Individuationsfrage im Geiste des Spinoza darstellen wird. In diesem Zusammenhang fällt auch der spätere Schlüsselbegriff des „Universums" zum ersten Mal.

A. Spinozistische Kritik an der Leibnizschen Monadenlehre Auf Leibnizens Monadenlehre wurde Schleiermacher durch eine Stelle in der sechsten Beilage gelenkt, in der Jacobi nicht nur behauptet hatte, der Spinozismus könne „nur von seiten seiner Individuationen mit Erfolg angegriffen werden", sondern dem auch beigefügt hatte, daß nach der Widerlegung Spinozas in diesem Punkt Leibnizens Monadenlehre die einzige ernstzunehmende Individuationstheorie darstelle.69 Jacobi spricht also aus, was auf der Hand liegt. Die Monadologie sei als Individuentheorie der spinozanischen Philosophie überlegen. Denn diese behauptet nur eine einzige Substanz und ist also in der Beweispflicht, die Möglichkeit von deren Vereinzelung aufzuweisen. Diese Behauptung der Überlegenheit Leibnizens widerspricht Schleiermacher in seinem Studienheft mit einer kühnen Gegenthese: „Ich glaube nicht, daß Leibniz in Absicht auf das Principium Individui mehr leistet als Spinoza" (Sp 547). Wie überhaupt Leibnizens Monadenlehre - entgegen Jacobis Einschätzung, diese stelle den entscheidenden Punkt des Gegensatzes dar - in Schleiermachers Augen keinen „bleibenden Unterschied" zwischen beiden Systemen festzusetzen vermag, weil „Leibniz hier bei sich selbst auf halbem Wege stehn geblieben, und [... ] uns die Monaden wieder zum Spinozis-

69 „worauf dann entweder Leibnizens Monaden, oder Eleatische Akatalepsie an die Stelle treten müßen." (Beilage VI, JWA 1/1, S. 233; Sp 547). Im Begriff der Akatalepsie drückten die eleatischen Philosophen Parmenides und Zenon die Unmöglichkeit der Wesenserkenntnis aus. Die wahrgenommene Mannigfaltigkeit trügt und ist in Wahrheit nur ein Sein. Demnach ist mit dem Begriff der Akatalepsie eine Individuation jedenfalls dem Sein nach unmöglich.

2. Die Entwicklung einer spinozistischen Individuationstheorie

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mus zurükführen." 70 Die Entwicklung dieser Behauptung legt Schleiermacher in der ,Kurzen Darstellung' in den Vergleichen mit Leibniz dar (KDSp 569f. 571-573). Seine Auffassung der Leibnizschen Philosophie orientiert sich an der von Jacobi v. a. in der sechsten Beilage und im ,David Hume' gegebenen Darstellung und an den in beiden Büchern gegebenen ausführlichen Leibniz-Zitaten.71 In der Frage, woher Leibniz, wenn er mit den Monaden eine „unendliche Menge von Einheiten" annehme, „das Princip die Einheiten zu unterscheiden lind diese unendliche Vielheit zu constituieren" (KDSp 571) nehme, ist nach Schleiermacher das Problem der Monadenlehre formuliert. Da zum einen weder die von Leibniz zugegebene physische Teilbarkeit der Materie 72 auf eine metaphysische Teilung in Monaden schließen lasse, noch zum anderen die Leibnizsche Unterscheidimg von schlafenden und wachenden Monaden eine wesentliche Differenz zwischen Monaden ausmache, so wäre Leibniz eigentlich „weder gemüßigt noch veranlaßt eine Mehrheit des existirenden anzunehmen [... ] und Spinoza würde ihm leicht den Uebergang zu seiner Meinung von der Einheit des Unendlichen abtrozen" (KDSp 572). Die Begründung des zweiten Arguments verdient nähere Aufmerksamkeit, weil aus ihr die Verbindung deutlich werden kann, die Schleiermacher zwischen der Leibnizschen Monadenlehre und Spinozas Ontologie sieht und die ihn einen Übergang von einem System zum anderen behaupten läßt. Wenn nach Leibniz, so Schleiermacher, mehrere schlafende Monaden sich zu einem sogenannten „aggregatum substantiale" zusammenfinden, das selbst aber kein Individuum konstituiert, so kann auch dessen Vereinigung mit einer wachenden Monade, die das Aggregat zur Bewußtheit erhebt, daran nichts ändern. Vielmehr sei der Unterschied zwischen schlafenden und wachenden Monaden ein gradueller und kein wesentlicher.73 70 Beilage VI, JWA I / 1 , S . 233; Sp546f. 71 JWA 1/1, S. 232-246; DH 237-262. Auf seine Ausführungen im ,David Hume' verweist Jacobi in der Beilage VI ausdrücklich (JWA 1/1, S. 240 Anm. 1). Wiewohl Schleiermacher sicherlich schon vorher, nicht zuletzt im Studium, die Grundbegriffe Leibnizscher Philosophie gehört hatte, ist es doch auffällig, wie sich seine Darstellung derselben, ζ. T. wörtlich an genau die von Jacobi gegebenen Stellen anschließt. So ist anzunehmen, daß Schleiermacher Jacobis ,David Hume' weiter gelesen hat als bis Seite 56 der ihm vorliegenden Erstauflage von 1787 (DH 170-172), zu der er in ,Über dasjenige' die letzte Anmerkung verzeichnet (KGA \/\, S. 596f). Ich verweise im Folgenden auf die entsprechenden Fundorte von Leibnizstellen bei Jacobi, die Schleiermacher jeweils vor Augen gehabt haben mag. 72 Vgl. den Hinweis Jacobis auf die entsprechende Auffassung Leibniz' in DH 241: „Also ist jeder, auch der kleinste Theil der Materie, ein gegliedertes Glied, und die Materie nicht allein ins Unendliche theilbar, sondern wirklich ins Unendliche getheilt." 73 Hierbei verweist er auf den bei Jacobi zitierten Ausspruch Leibnizens, wonach „in einer Kaffeetasse Monaden sind, welche einst als vernünftige Seelen existiren werden". Daher, so Schleiermacher, „muß ihnen das System der Vernunft schon angeboren sein."

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II. Schleiermachers Spinozarezeption

Denn jede Monade, ob wachend oder schlafend, hat eine Repräsentationsfunktion - die perceptio - und kraft dieser Funktion ist eine jede Monade auf alle anderen Monaden bezogen und zwar insofern sie ihr Verhältnis zu allen übrigen Monaden repräsentiert.74 Insofern, so ließe sich Schleiermachers Überlegung mit der Terminologie von Leibniz ausdrücken, ist die durch „Apperzeption" zustande kommende Verbindung einer wachenden mit einem aggregatum substantiale schlafender Monaden nur ein Spezialfall der allgemeinen Struktur der Perzeption. In dieser allgemeinen Perzeptionsfunktion, hebt Schleiermacher hervor, „stellt eine jede [Monade] gemäß ihrer Wechselverbindung mit allen übrigen die Welt vor". 75 Das begründe aber gerade nicht, warum die Monaden „für sich bestehende Dinge" 76 sein sollten. Vielmehr lege die Perzeptionsfunktion der Monaden ihre Uneigenständigkeit nahe, weil darin das ihnen Eigentümliche, jede Veränderung ihrer Perzeption nichts anderes als die Beziehung eines Teils auf das Ganze ausdrücke, nämlich die „Verbindung jeder einzelnen [... ] mit dem ganzen Universo" (KDSp 572). Hier fällt derjenige Begriff in Schleiermachers Spinozamanuskripten zum ersten Mal, der in den , Reden' dann zum Leitbegriff werden wird: der des Universums. 77 Daß Schleiermacher von Universum im Zusammenhang seiner Leibnizdarstellung spricht, ist dabei eigentlich nicht überraschend, denn er wird von Leibniz selbst in genau diesem Kontext gebraucht. Schleiermacher hatte die Stelle aus dessen ,Principia Philosophiae' bei seiner Lektüre von Jacobis,David Hume' lesen können: „quaelibet monas creata totum universum repraesentet". 78 Dieses Repräsentieren bezieht sich nach Leibniz auf die bloße Perzeptionsfunktion der Monaden und ist kein exklusives Charakteristikum der mit Bewußtsein ausgestatteten,wachenden' Monaden. Mit der Aussage, jede Monade repräsentiere das Universum, ist also eine ontologische Struktur verbunden, nach der es ein (nicht-kausales!) Verhältnis auch zwischen Monaden insofern gibt, als in der Perzeption einer jeden alle anderen in deren Beziehung auf jene mitperzipiert werden. Universum steht also bei Leibniz KDSp 571. Vgl. JWA1/1, S. 32, Z. 15ff. 74 Vgl. Leibniz: Principia Philosophiae § 62, zitiert in DH 242f, Anm. Die Principia Philosophiae stellen eine lateinische Fassung derjenigen französischen Abhandlung dar, die in deutscher Ubersetzung 1720 als „Monadologie" veröffentlicht wurde. Vgl. JWA 1/1, S. 242f und den Kommentar in JWA 1/2, S. 527f. Zur Repräsentationsfunktion der Monaden vgl. Leibniz: Monadologie § 14. 25. 60. 62f. 78; Theodizee § 403 (Werke Π/2, S. 244). 75 KDSp 572. Vgl. Leibniz: Brief an Arnauld vom 30.3.1690, zitiert in Beilage VI, JWA 1/1, S. 236. 76 So eine Formulierung Schleiermachers aus Sp 547. 77 Zwei weitere Belege finden sich in KDSp 576 und werden noch zu besprechen sein. 78 Princ. Phil. § 64, zitiert in DH 243 Anm. Außerdem hatte Jacobi in der Beilage VI (JWA 1/1, S. 236) ein umfängliches Zitat aus einem Brief an Arnauld vom 30.3.1690 gegeben, in dem Leibniz schreibt: „daß eine jede Substanz das ganze Universum vorstellt".

2. Die Entwicklung einer spinozistischen Individuationstheorie

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im Grunde für eine Totalität von Monaden, die in ihren Perzeptionen aufeinander bezogen sind. An dieser Stelle setzt nun genau Schleiermachers Kritik an. Es ist zu beachten, daß im Zuge dieser Kritik an Leibniz zugunsten eines „Übergangs zum Spinozismus" auch der Begriff des Universums innerhalb der Spinozamanuskripte eine Transformation erfährt. Diesen kritischen Übergang von Leibniz zu Spinoza denkt sich Schleiermacher nun in zwei Hinsichten. Zunächst stellt er die Frage, warum Leibniz, wenn er in den Monaden durch deren Repräsentationsfunktion eine auf das Ganze bezogene Mannigfaltigkeit gesetzt sieht, sie dennoch als substantielle, von einander unabhängige Einheiten versteht. Konsequenterweise müßte die Mannigfaltigkeit im Gehalt der Repräsentation vielmehr als „Modifikation" einer alles umfassenden „Centraimonade" erklärt werden. 79 Damit ist der entscheidende Schritt für Schleiermacher getan. Leibniz sah ein unendliches Universum von durch die Perzeptionsstruktur aufeinander abgestimmten und insofern wechselseitig bezogenen Monaden. Da er aber, so Schleiermacher, die ontologische Selbständigkeit der Monaden als Individuen nicht zu erklären imstande war, konnte Leibnizens Auffassung einer unendlichen wechselseitigen Verknüpfung beibehalten, aber die behauptete Vielheit selbständiger Einzelsubstanzen, für die es keinen Anhalt gab, fallen gelassen werden. Wenn nun aber, so folgert Schleiermacher weiter, nur eine, alles umfassende Monade 80 angenommen wird, so muß die Leibnizsche Auffassung, die Monaden seien in ihren Repräsentationen einer Veränderung fähig, eine neue Begründung erhalten. Denn war alle Veränderung in der Perzeption oder Repräsentation einer Monade auf ihren Zusammenhang mit den übrigen zurückgeführt worden, so scheidet bei einer einzigen allumfassenden Monade eine Erklärung aus, die auf der Monade Äußerliches verweisen würde. 79 „Spinoza würde ihm leicht den Uebergang zu seiner Meinung von der Einheit des Unendlichen abtrozen, wenn er ihm zeigte, was er so klar bewiesen daß das was individuell scheint nur zur Modifikation gehöre"; „denn beides [sc. ,Bewußtseyn', d. h. Apperzeption durch wachende Monaden, und ,bestimmte Vorstellung', d. h. Perzeption in allen Monaden] beruht auf der Modifikation des Daseyns der Monaden in ihrer Verbindung unter einander" (KDSp 572). „Oder beruht sie [sc. die Unterscheidung der Phänomene als abgesonderte Dinge] darauf daß grade das, was du [Leibniz] als dein Objekt ansiehst zu einer gemeinschaftlichen Centraimonade gehört? [... ] wie bist du von deiner Monadenkerintniß dazu gelangt die Individua von einander zu sondern?" (Sp 548). 80 Der Leibnizsche Begriff der Zentralmonade gewinnt so in Schleiermachers spinozistischer Interpretation gleichsam den Sinn einer Totalmonade, die alles umfaßt. Davon kann bei Leibniz keine Rede sein, der ihr eine Prinzipienfunktion für die ihr angegliederten Monaden zuweist. Vgl. G. W. Leibniz: Principes de la nature et de la gräce (1714), hg. v. U. J. Schneider (2002), § 3, S. 154f: „chaque substance simple ou Monade distinguee qui fait le centre d'une substance composee (comme par exemple d'un animal) et le principe de son unicM, est environöe d'une Masse composee d'une infinite d'autres Monades, qui constituent le corps propre de cette Monade centrale". Hhg. C.E.

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

Dies führt uns auf eine zweite Hinsicht des von Schleiermacher vorgeschlagenen Übergangs von Leibniz zu Spinoza, welche sich an eine von Jacobi mitgeteilte Überlegung Lessings anschließt: „Wenn sich Lessing eine persönliche Gottheit vorstellen wollte, so dachte er sie als die Seele des Alls und das Ganze nach der Analogie eines organischen Körpers." 81 „Organische Körper" sind nach Leibniz „Aggregate von Substanzen", die „verschiedener Umformungen fähig" sind,82 welche, in ähnlicher Weise wie die Veränderungen in den Repräsentationen der Monaden, auf den Zusammenhang mit anderen Körpern zurückzuführen sind. Jacobi referiert mm eine Reflexion Lessings über die Konsequenzen und Grenzen einer solchen Auffassung des Ganzen nach Analogie eines organischen Körpers: „Der organische Umfang derselben [sc. der Seele des Ganzen] könnte aber nach der Analogie der organischen Theile dieses Umfangs in so fern nicht gedacht werden, als er sich auf nichts, das außer ihm vorhanden wäre beziehn, von ihm nehmen, und ihm wieder geben könnte. Also um sich im Leben zu erhalten, müßte er von Zeit zu Zeit, sich in sich selbst gewißermaßen zurückziehn; Tod und Auferstehung mit dem Leben in sich vereinigen." 83 Ein Geben und Nehmen, so kann man den Gedanken Lessings zusammenfassen, kann unter Voraussetzung der umfassenden Zentral- bzw. Totalmonade, „Seele des Alls", nicht mehr als Wechselverhältnis zwischen selbständigen Einheiten, sondern muß allein als interner Vorgang der Zentralmonade gedacht werden. Eine innere Wechselrelation macht das „Leben" dieses Ganzen aus. „Man könnte sich von der innern Oekonomie eines solchen Wesens mancherley Vorstellungen machen." 84 Schleiermacher sieht in dieser Auffassung Lessings den „wahre [n] Uebergang vom Leibnizianismus zum Spinozismus", denn er kann sich die innere Ökonomie, das Zurückziehen der Weltseele in sich selbst „nicht anders denken als als ein wechselndes Hervorbringen und Zerstören der organischen Theile des Umfangs, d. h. der endlichen, nicht absoluten Individuen, also abermal Spinozismus." 85 Mit Lessings Vorstellung einer Weltseele und deren innerem „Leben" wird das Dilemma der Monadenlehre zwischen Selbständigkeit und universaler Bezogenheit aufgehoben. Leibniz, so kann man zusammenfassen, hatte in Schleiermachers Sicht darin nicht überzeugen können, daß er einerseits mit den Monaden selbständige endliche Einheiten annahm und andererseits gegen deren Selbständigkeit eine universale Bezogen81 82 83 84

LSp, JWA1/1, S. 31; Sp 532. Leibniz: Brief an Arnauld vom 30.3.1690, zitiert bei Jacobi in Beilage VI, JWA\/\, S. 236. LSp, JWA 1/1, S. 32f. (Hhg. im Original); Sp 532. Ebd. Zum Lebensbegriff bei Schleiermacher vgl. demnächst meinen Beitrag in dem Band: Figurationen des Lebens, hg. v. Petra Bahr u.a., Tübingen 2007. 85 Sp 532. Hhg. C.E.

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heit („liaison universelle" - „universali connexione" 86 ) dieser Einheiten aufeinander behauptete. Der so bezeichnete Selbstwiderspruch Leibnizens verschwindet nun insofern, wenn mit Lessing die Selbständigkeit des Einzelnen und die universale Bezogenheit nicht als Charakteristika der Außenbeziehungen verschiedener Entitäten, sondern als die eines Ganzen und seiner Teile zueinander expliziert werden. Damit geht in Schleiermachers Konstruktion aber eine wesentliche Transformation, gleichsam ein produktives Mißverständnis der Leibnizschen Philosophie einher. Er transformiert nämlich durch die Reformulierung des Lessingschen Ausspruches, die „innere Ökonomie" sei ein „Hervorbringen und Zerstören", die universale Bezogenheit der Monaden, die von Leibniz als eine in der Perzeptionsstruktur gegründete Perspektivität der Monaden in Hinsicht auf das Universum gemeint war, in eine kausale Interdependenz. Die Möglichkeit eines Übergangs von Leibniz zu Spinoza in diesem Punkt erreicht Schleiermacher gerade durch diese nicht ausdrücklich gemachte Umwertung eines bloßen Relationsgefüges im Sinne der Leibnizschen Monaden-„Verbindung" in eine kausale Wechselwirkungssphäre im Sinne von Jacobis Spinoza. 87 Die an Leibniz ausgemachte Inkonsequenz erscheint also in diesem Punkt zumindest als Frucht einer eigenwilligen Interpretation Schleiermachers. Sie dient ihm aber als Evidenzverstärker für die spinozanische Position. Der Leibnizsche Begriff der Zentralmonade wird gegen dessen Intention gewendet in den Begriff eines organischen Ganzen als einer allumfassenden Wechselwirkungssphäre. Hier beginnt die Neufassung des Universumsbegriffs. In Schleiermachers Kommentar der Jacobi-Lessing-Stelle liegt aber noch mehr: In der Beziehung der Teile des organischen Ganzen zueinander muß in irgendeiner Form eine Differenz zwischen ihnen gesetzt sein, sonst könnte man sie als Teile nicht voneinander unterscheiden. Diese Differenz kann aber als die zwischen Teilen keine unüberbrückbare Differenz „absoluter" Individuen sein. Ein absolutes Individuum wäre, entsprechend dem Substantialaspekt in der Konzeption Leibnizscher Monaden, ein völlig von anderen Individuen unabhängiges Individuum. Solche relationslose Individuen wären aber nicht als Teile eines Ganzen zu denken, weil sie als Teile eines Ganzen als aufeinander bezogen gedacht sein müßten. Fassen wir zusammen. In Hinsicht auf das Individuationsproblem bleibt Leibniz für Schleiermacher hinter der eigentlichen Fragestellung zurück, indem er voraussetzt, was zu zeigen wäre. Individualität und damit Differenz von Einzelnem gegenüber anderem Einzelnem müßte erst aus Prinzipien expliziert werden. Leibniz dagegen setzt die Indivi86 Vgl. Leibniz: Considerations sur les Principes de vie, et sur les Natures Plastiques, zitiert in DH 241. 87 Vgl. § 3 6 , J W A I / 1 , S . 109; Sp 521.

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dualität einfach voraus, indem er die Monaden als individuelle Substanzen setzt. Dabei, so Schleiermacher weiter, verstricke er sich auch noch in Selbstwidersprüche, weil er mit der Perzeptionsstruktur der Monaden doch eine Relationalität der Monaden zueinander annehme. Schleiermachers konstruktiv-mißverstehende Lösung diviniert aus dem Lessingschen Diktum einer „Seele des Alls" „nach Analogie eines organischen Körpers" ein nunmehr spinozistisch aufzufassendes „Universum", dessen interne Relationen als Wechselwirkung zu beschreiben sind. In Beziehung auf dieses Universum firmieren die einzelnen Relate der Wechselwirkungssphäre als Teile. Für den Individuenbegriff bedeutet das einen Ausschluß völlig beziehungsloser, sogenannter „absoluter" Individua. Daß Einzelnes nicht in einer absoluten Weise voneinander unterschieden sein kann, ist so das negative Ergebnis Schleiermachers, wenn er mit Lessing die Leibnizsche Monadenlehre in eine Lehre des alles umfassenden Weltganzen transformiert hat, dessen „Leben" nicht im äußeren Austausch, sondern in der inneren Ökonomie der Wechselbeziehung seiner Teile besteht. „Universum" bezeichnet nach dieser Transformation nicht länger ein All je eigenständiger Entitäten, sondern ein Ganzes bestehend aus wechselseitig aufeinander bezogenen und gegeneinander modifizierbaren Teilen. Die positive Erklärung jedoch, wie Schleiermacher die Beziehung der Teile zueinander sieht und was genau er entsprechend in dem oben genannten Zitat88 unter einem „endlichen Individuum" versteht, kann aus dem Gegensatz zu Leibniz allein nicht verständlich gemacht werden. Nachdem der „Übergang vom Leibnitianismus zum Spinozismus" beschrieben ist, muß an dieser Stelle die Darstellung selbst zu dem übergehen, was Schleiermacher als Zielpunkt des Übergangs ansieht: zum „Spinozismus". B. Das Verständnis von Individuation am Paradigma des Attributs Extensio 1. Basissätze von Schleiermachers Spinozaverständnis Es ist derselbe Gedanke, den Schleiermacher im Ergebnis der Abgrenzung gegenüber Leibnizens Monadologie äußert, der von ihm als das Spinoza eigentümliche Grundprinzip benannt wird: „daß es kein absolutes Individuum geben kann" (Sp 531). Jacobi hatte als im Sinne Spinozas formuliert, daß „ein absolutes Individuum eben so unmöglich als ein indivi88 S. o. S. 164, Anm. 85.

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duelles Absolutum ist". 89 Schleiermacher läßt in seiner Anmerkung zur Stelle im Manuskript ,Spinozismus' den zweiten Teil des Satzes unkommentiert, hebt aber in Bezug auf dessen ersten Teil, der die Unmöglichkeit eines absoluten Individuums ausspricht, hervor, daß Jacobi hier zwar dessen Wichtigkeit für das System Spinozas erkannt habe. „Warum", so wundert sich Schleiermacher, „ist aber Jacobi in den Paragraphen nicht auch von ihm ausgegangen?" (Sp 531). Seine Verwunderung ist hier wohlbegründet, denn Schleiermacher hatte die Darstellung von Spinozas Philosophie in Jacobis 44 Paragraphen gründlich studiert und auf ihre systematische Stringenz hin geprüft. Dabei war ihm eine Schwachstelle in der Argumentation gleich in den ersten grundlegenden Paragraphen aufgegangen, durch welche die Behauptung Jacobis, Spinoza baue sein System ganz auf dem Satz vom Grund auf, unhaltbar erscheinen mußte. Denn Spinoza brachte, so ist die These Schleiermachers zu Beginn seiner ,Kurzen Darstellung des Spinozistischen Systems', neben dem Satz vom Grund ein zweites Prinzip in Anschlag, welches kein anderes als das der Unmöglichkeit absoluter Individua sei. Davon hätte Jacobi also auch in den Paragraphen ausgehen müssen. Sehen wir uns das Argument näher an, denn es spielt für die Individuationsproblematik eine grundlegende Rolle. Schleiermacher greift die Argumentation Jacobis in dessen dritten und vierten Paragraphen auf. 90 Einerseits, so Jacobi, verstoße die Annahme, das Endliche sei unabhängig vom Unendlichen entstanden, gegen den Satz vom Grund (§ 3). Andererseits gelte dieser Verstoß aber auch für die traditionelle Lehre, Gott habe die endlichen Dinge außerhalb von sich hervorgebracht (§ 4). Denn beide Grundhypothesen müssten ein Entstehen aus nichts voraussetzen.91 Endliche Dinge können also, die Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grund vorausgesetzt, weder entstanden noch vom Unendlichen außer sich hervorgebracht worden sein. Aber, so hinterfragt Schleiermacher den Fortgang von Jacobis Argumentation, in der Konsequenz aus diesem doppelten negativen Ergebnis blieben immer noch zwei Möglichkeiten, das Dasein endlicher Dinge zu erklären. Entweder, und das sei Spinozas Lösung, hat das Unendliche die endlichen Dinge in sich hervorgebracht92 oder die Dinge bestehen „von 89 LSp, JWA1/1, S. 22; Sp 530. 90 KDSp 563f. Die genannten Jacobischen Paragraphen finden sich JWA 1/1, S. 94; Sp 513. 91 § 3: „Von Ewigkeit her ist also das wandelbare bei dem unwandelbaren, das zeitliche bei dem Ewigen, das endliche bei dem unendlichen gewesen, und wer also ein Beginnen des Endlichen annimmt, der nimmt ein Entstehen aus dem Nichts an."; § 4; „Wenn das Endliche von Ewigkeit her bei dem Unendlichen war [§ 3], so kann es nicht außer demselben seyn; denn wenn es außer demselben wäre, so wäre es entweder ein anderes für sich bestehendes Wesen, oder es wäre von dem bestehenden Dinge aus nichts hervorgebracht worden." 92 Vgl. JWA 1/1, S. 95, Sp 514, § 6: „Das Endliche ist also in dem Unendlichen".

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Ewigkeit her für sich" (KDSp 564). Die letzte Alternative habe Jacobi obwohl er sie in § 4 selbst formuliert93 - „gar nicht einmal ordentlich widerlegt" (KDSp 564). Deshalb bedürfe es, argumentiert Schleiermacher, neben dem Satz vom zureichenden Grund eines zweiten Prinzips, um zu demjenigen Satz zu kommen, den er als den „Hauptsaz Spinozas" bezeichnet, nämlich: „Es muß ein Unendliches geben, innerhalb dessen alles endliche ist" (ebd.).94 Um zu dieser Grundaussage zu gelangen, mußte also „eine andere leitende Idee in Spinozas Geist vorhanden gewesen seyn" (ebd.) und das konnte nur diejenige sein, die die zweite Alternative: das Für-sich-Bestehen endlicher Dinge ausschließt. Da Ausschluß des Für-sich-Bestehens endlicher Dinge nichts anderes hieß, als die Unmöglichkeit „absoluter" Individua zu behaupten, ist hier deutlich, daß Schleiermacher in dieser Bestimmung nicht nur einen Abgrenzungsgesichtspunkt der Philosophie Spinozas gegenüber der Leibnizschen Monadenlehre sieht, sondern zugleich auch ein konstitutives Prinzip jener Philosophie selbst. Auf eine „wissenschaftliche Form" gebracht spricht Schleiermacher von diesem Grundsatz als dem Satz vom „Fluß der Dinge" (Sp 531) und macht damit zur Charakterisierung eines der Prinzipien des Spinozismus eine terminologische Anleihe bei Heraklit.95 93 LSp, JWA1/1, S. 94; Sp 513. S. o. Fußnote 91. 94 Diesen Satz hatte Schleiermacher aus Jacobis § 6 gewonnenen. S. o. Fußnote 92. 95 Die heraklitische Formel vom Fluß der Dinge gehört zu Schleiermachers Lieblingsausdrücken zur Rekonstruktion des spinozariischen Individuenbegriffs. Vgl. KDSp 566. 564. 567; Sp 525. 531. Zum Rückgriff Schleiermachers auf Gedankengut des Vorsokratikers s.u. S. 175. Der „Fluß" der Dinge begegnet auch bei Leibniz. Vgl. dazu eine bei Jacobi wiedergegebene Stelle aus ,De ipsa natura, sive de vi insita, actionibusque creaturarum' (Acta eruditorum 1698, Opera omnia Π, 2, S. 52f; bei Jacobi wiedergegeben in: Beilage VI, JWA 1/1, S. 233): „Anderswo ist es von mir erklärt, [...], daß die eigentliche Substanz der Dinge in der Kraft des Agierens und Leidens liegt (ipsam rerum substantiam in agendi patiendique vi consistere): daraus folgt, daß auch keine dauerhaften (durabiles) Dinge hervorgebracht werden können, wenn ihnen keine permanente Kraft stetig durch göttliche Macht eingedrückt werden kann. Daraus würde folgen, daß keine geschaffene Substanz, keine Seele der Zahl nach dieselbe bleiben und also nicht von Gott erhalten werden würde und folglich alle Dinge bloß gewissermaßen leere oder fließende Modifikationen und, wenn ich so sagen darf, Einbildungen der einen bleibenden göttlichen Substanz wären (evanidas quasdam sive fluxas unius divinae substantiae permanentis modificationes, & phasmata, ut sie dicam); und, was auf dasselbe hinausgeht, daß die eigentliche Natur oder Substanz aller Dinge Gott ist (ipsam naturam, vel substantiam rerum omnium Deum esse)" (Hhg. u. Übersetzung C.E.). Vgl. auch Leibniz: Monadologie § 71: „Car tous les corps sont dans un flux perpetuel comme des rividres, et des parties y entrent et en sortent continuellement." Auch in den,Reden' spielt Schleiermacher auf Heraklit im Zusammenhang des Individuenbegriffs an. Vgl. Reden 87. Siehe dazu unten S. 320. In seiner späteren historischkritischen Heraklitdarstellung unter dem Titel „Herakleitos der dunkle, von Ephesos" aus dem Jahre 1808 hebt Schleiermacher die Lehre vom Fluß der Dinge als dessen „Grundanschauung" (S. 142) hervor, KGA 1/6, S. 134-142.

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Auf diesem zweiten Prinzip neben dem Satz vom Grund beruht nach Schleiermachers Rekonstruktion der Hauptsatz Spinozas, nach dem ein Unendliches notwendig existiert, innerhalb dessen alles Endliche ist. Hinsichtlich der Frage der Individuation wird die Problematik durch die Annahme dieses zweiten Prinzips nicht einfacher. Wie kann im System Spinozas von Einzelnem die Rede sein kann, wenn angenommen wird, der Satz vom „Fluß der endlichen Dinge, deren jedem für sich betrachtet keine Existenz zukomt" (KDSp 564) fungiere als Prämisse dieses Systems? Offenbar hat Schleiermacher einen Individuumsbegriff vor Augen, der nicht an die Bestimmung substantieller Selbständigkeit geknüpft ist. „Eigentliche Individua", läßt er Spinoza sagen, „sofern jedes eine eigne Substanz seyn soll gebe ich gar nicht zu, und habe also auch nicht nöthig ein Principium dafür anzugeben." (Sp 550). Daß Einzelheit keine Bestimmung von Substanz ist, gilt nun nicht nur zur Abweisung einer Vielzahl einzelner endlicher Substanzen, die wie Leibnizsche Monaden völlig unabhängig voneinander existierten. Vielmehr findet diese Einsicht auch auf den Substanzbegriff, genauer gesagt auf den Gottesbegriff96 des Spinoza Anwendung. Schleiermacher bezieht sich hier auf Spinozastellen, die er bei Jacobi als Beleg zu § 11 vorgefunden hatte, wonach Gott „nur sehr uneigentlich unum oder unicum" genannt werden kann, weil „das Subsumiren unter Zahlen nur dann, und bei den Dingen Statt finde welche man unter einen gemeinschaftlichen Geschlechtsbegriff gebracht hat. Diese Operation aber findet in Rüksicht auf Gott gar nicht statt." 97 96 Wenn Schleiermacher bei Spinoza von „der Substanz" spricht, meint er die göttliche Substanz. Er folgt darin Jacobi, der in seinem § 10 Gottesbegriff und Substanzbegriff gleichgesetzt hatte: „dieses einzige unendliche Wesen aller Wesen nennt Spinoza Gott, oder die Substanz" (JWA 1/1, S. 98; Sp 516). Bei Spinoza sind beide Begriffe differenziert. Der Substanzbegriff fungiert in den ersten Lehrsätzen seiner ,Ethica' zunächst als ein Aufbaumoment des Gottesbegriffes. Nachdem freilich gezeigt ist, daß es neben der göttlichen Substanz keine andere Substanz geben kann - weil es nicht zwei Substanzen mit den Eigenschaften der göttlichen Substanz geben kann - kommt dem Substanzbegriff dieselbe systematische Funktion zu wie dem Gottesbegriff. S. o. den Abschnitt zur Grundlegung des spinozanischen Begriffs immanenter Kausalität, Teil I, S. 29ff. 97 KDSp 568f. Die bei Jacobi (JWA 1/1, S. 99, Anm.) lateinisch zitierte Stelle aus CM 1,6 (Opera I, S. 246) lautet: „sed tantum hic notandum est, Deum, quatenus ab aliis entibus eum separamus, posse dici unum; verum, quatenus concipimus ejusdem naturae plures esse non posse, unicum vocari [Vgl. Eth. I, prop. 8, schol. 2], At vero, si rem accuratius examinare vellemus, possemus forte ostendere, Deum non nisi improprie unum et unicum vocari"; „nur bemerke ich noch, daß Gott, sofern man ihn von anderen Dingen sondert, einer [unum] genannt werden kann; daß er aber, sofern man erkennt, daß nicht mehrere gleichen Wesens bestehen können, einzig [unicum] genannt werden kann. Wollte man aber die Sache genauer prüfen, so könnte ich vielleicht zeigen, daß Gott nur uneigentlich Einer und Einziger genannt wird." (Übers. Bartuschat 2005, S. 147). Die Begründung fuhrt Spinoza in Ep. 50 vom 2.6.1674 an Jarig Jelles, Op. IV, S. 239f. an, eine Stelle, die Jacobi ebenfalls als Beleg notiert hat: „rem solummodo existentiae, non vero essentiae respectu unam, vel unicam dici: res enim sub numeris, nisi postquam

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Wenn der Gottesbegriff also so konzipiert ist, daß ihm weder das Prädikat des Einen noch der Einzigkeit im eigentlichen Sinne 98 zugesprochen werden kann, so geht es auch nicht an, ihn als ein einzelnes Wesen zu beschreiben und „Gott den Namen eines individui" (KDSp 569) zu geben. Schleiermacher stimmt demnach sachlich der Feststellung Jacobis, daß nach Spinoza „ein absolutes Individuum eben so unmöglich als ein individuelles Absolutum ist", 99 in beiden Teilaussagen zu. Hatte Schleiermacher die Unmöglichkeit absoluter Individua als die Unmöglichkeit einer Selbständigkeit des Endlichen argumentativ für den Übergang von Leibniz zu Spinoza gebraucht, so ist hier die zweite Aussage im Blick: Auf den Begriff Gottes als des Absoluten ist der Begriff des Individuums nicht anwendbar.100 Soll dennoch ein Prinzip der Individuation in Spinozas Philosophie denkbar sein, so bieten beide genannten Ausschlußbestimmungen nach Schleiermacher den Rahmen, innerhalb dessen ein solches aufgesucht werden müsse. Weder gehe es an, Einzelnes als Substanzhaftes oder für sich Bestehendes zu denken, noch könne von der göttlichen Substanz gesagt werden, sie sei selbst individuiert. Letzteres schließt aus, daß die Substanz als eine Entität neben anderen aufgefaßt werden kann, und impliziert deren wesentliche Unteilbarkeit: „Die Substanz ist [... ] re vera ungetheilt" (Sp 550). Denn eine Teilbarkeit würde die Möglichkeit einer internen Besonderung bedeuten. Vor diesem Hintergrund erhebt Schleiermacher nun gegen Jacobis Vorwurf, Spinoza gebe keine Rechenschaft „von der innern Möglichkeit [... ] solcher einzelnen Dinge in dem absoluten continuo seiner einzigen Substanz", 101 Einspruch, indem er diesem „alles, was sich nach seiner

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ad commune genus redactae fuerunt, non concipimus.[... ] Quoniam vero Dei existentia ipsius sit essentia, deque ejus essentia universalem non possimus formare ideam, certum est, eum, qui Deum unum, vel unicum nuncupat, nullam de Deo veram habere ideam, vel improprie de eo loqui."; „, daß ein Ding allein in Hinblick auf seine Existenz [existentiae respectu], aber nicht in Hinblick auf sein Wesen [essentiae respectu] eines und einzig [unam vel unicam] genannt wird; denn wir können erst dann die Dinge unter Zahlbegriffe bringen, wenn wir sie unter eine gemeinsame Gattung gebracht haben. [... ] Da nun aber Gottes Existenz Gottes Wesen ist und da wir uns von seinem Wesen keine allgemeine Idee bilden können [universalem non possimus formare ideam], so hat sicherlich derjenige, der Gott als einen oder als einzig bezeichnet, von Gott keine wahre Idee oder er redet uneigentlich [improprie] von ihm." (Übersetzimg PhB 96, S. 209f). Das hieße in Spinozas Terminologie: was die Essenz betrifft. Vgl. die Wendung in dem in der vorigen Anmerkung gegebenen Zitat aus Ep. 50: „essentiae respectu". LSp, JWA1/1, S. 22; Sp 530. Vgl. JWA 1/1, S. 39: „Der Gott des Spinoza, ist das lautere Prinzipium der Würklichkeit in allem Würklichen, des Seyns in allem Daseyn, durchaus ohne Individualität, und schlechterdings unendlich." (Hhg. C.E.). Schleiermacher hat diese Stelle nicht exzerpiert. Beilage VI, JWA I / 1 , S . 234 ;Sp 547.

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Philosophie über das Principium Individui sagen läßt" (Sp 549), in den Mund legt. Dabei stellt sich an die gesuchte Theorie der Individuation die doppelte Anforderung, weder eine Substanzenvielheit noch die Teilbarkeit der Substanz erforderlich zu machen. 2. Individuationstheoretische Konsequenzen Schleiermachers Versuch, im Namen Spinozas eine solche Theorie aufzuspüren und also plausibel zu machen, auf welche Weise von „endlichen Individua" 102 gesprochen werden kann, setzt bei dem von ihm festgestellten „Hauptsaz Spinozas" an, wonach es „ein Unendliches geben [muß], innerhalb dessen alles endliche ist" (KDSp 564). Das Verhältnis alles Endlichen zum Unendlichen ist hier als ein „innerhalb"-Sein beschrieben. Näherhin ist damit ein Umgriffenwerden des Endlichen in seiner Totalität ausgesagt („alles endliche"). In dieser Beschreibung kann aber nicht deutlich werden, inwiefern Endliches als Endliches vom Unendlichen unterschieden werden kann. Wie gar einzelnes Endliches in Bezug zum Unendlichen stehen soll, ist aus der Charakterisierung des Hauptsatzes ebensowenig einsehbar. Um also in Hinsicht auf das Individuationsproblem etwas zu gewinnen, bedarf es einer näheren Bestimmung des im Hauptsatz aufgestellten Verhältnisses. Daraus, daß das Unendliche das Endliche als Totalität umschließt, folgt noch kein Prinzip, nach dem Endliches Einzelnes voneinander zu unterscheiden wäre. Wenn aber ein solches Prinzip sich nicht aus der direkten Relation von Unendlichem und Endlichem ergeben kann, so muß die Frage danach als die nach einer Vermittlungsstruktur zwischen Unendlichem und Endlichem gestellt werden. Dieser käme die Funktion zu, Prinzipien der Vereinzelung von Endlichem und also von deren Unterscheidbarkeit an die Hand zu geben. Den Bezug auf eine solche Vermittlungsfunktion zwischen Unendlichem und Endlichem scheint Schleiermacher als das für Spinozas Konzeption in diesem Punkt Entscheidende vor Augen zu haben. Den Anhaltspunkt dafür hatte Schleiermacher in der Paragraphendarstellung Jacobis finden können. Dieser hatte in seinem § 15 die einzelnen Körper als „modi der Bewegung und Ruhe in der unendlichen Ausdehnung" 103 bezeichnet und damit eine Dreistufigkeit in Spinozas Ontologie festgestellt, die sich auf dessen Unterscheidung von endlichen und unendlichen Modi der Attribute bezieht. „Unendliche Ausdehnung" steht für Spinozas Attribut Extensio. „Bewegung und Ruhe" (motus et 102 Sp 532. S. o. Fußnote 85 auf S. 164. 103 JWA 1/1, S. 101; Sp 517.

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quies) stellt den unendlichen Modus dieses Attributs dar. Die einzelnen Körper sind nun Modi des unendlichen Modus Bewegung und Ruhe des Attributs Ausdehnung. Jacobi deutet die Unterscheidung Spinozas zwischen unendlichen und endlichen Modi in Hinsicht auf die Relation zum entsprechenden Attribut. So werden „unmittelbare" und „mittelbare" Modi eines Attributs unterschieden. Während also Bewegung und Ruhe „die unmittelbaren modi [... ] der unendlichen Ausdehnung" darstellen (§ 16), entspringen die einzelnen Dinge „mittelbar aus dem Unendlichen" (§ 36). 104 Mittelbarkeit ist hier also über das Attribut-Modus-Schema dargestellt. Diese Jacobischen Darlegungen aufnehmend bringt Schleiermacher das so verstandene Verhältnis der Einzeldinge zum „Unendlichen", d. h. zum Attribut, auf den Begriff der „mittelbaren Inhärenz": „Die endlichen veränderlichen Dinge stehen zu dem unendlichen existirenden in dem Verhältniß einer mittelbaren Inhärenz." 105 Wenn sich nun ein Individuationsprinzip in Spinozas Philosophie finden lassen soll, dann muß es auf der Ebene der „unmittelbaren Modi" gesucht werden, deren Vermittlungsfunktion Aufschluß darüber geben müßte, wie Einzelheit im Endlichen gedacht werden kann. Für Körper müßte das Differenzierungskriterium also in einer Bestimmung von Bewegung und Ruhe als den „unmittelbaren Modi" der Ausdehnung zu suchen sein. 106 Daß dies Spinozas 104 JWA 1/1, S. 101.109; Sp 517.521. Jacobi bezieht sich mit dieser Terminologie wohl auf eine Stelle im Beweis von Eth. I, prop. 23, in der Spinoza solche modi, die „unmittelbar [immediate] aus der absoluten Natur eines Attributs Gottes folgen", von solchen modi unterschieden hatte, die „vermittels irgendeiner Modifikation folgen, welche aus dessen [des Attributs] absoluter Natur folgt [mediante aliqua modificatione, quae ex ejus absoluta natura sequitur]". Die vermittelten Modi sind hier also vermittelt durch die unvermittelten. Es besteht jedoch ein gewichtiger Unterschied zwischen Jacobis Auffassung und der angeführten Unterscheidung Spinozas. Spinoza differenziert hier zwischen zwei Arten von unendlichen Modi. Das macht der Bezug im Beweis auf Eth. I, prop. 21 und Eth. I, prop. 22 deutlich. Jacobi hingegen unterscheidet unendliche Modi als unvermittelte von endlichen als vermittelten Modi. Vgl. auch Jacobis § 23 (JWA 1/1, S. 103; Sp 518), in dem dieser den endlichen Verstand als „modificatum modificatione" des unendlichen absoluten Denkens bezeichnet. Mit diesem Ausdruck bezieht er sich auf Spinozas Lehrsatz 22 im ersten Teil der Ethik, wo mit modificatum modificatione aber der vermittelte unendliche Modus eines Attributs eingeführt wird. 105 KDSp 573 (Hhg. C.E.). Vgl. auch KDSp 567: „daß zu jener Essenz [sc. des Unendlichen] die endlichen Dinge in dem Verhältniß der Inhärenz wenigstens mittelbar stehen müssen." Hhg. C.E. 106 An dieser Interpretation einerseits eines mittelbaren Verhältnisses von Einzeldingen und göttlicher Substanz, andererseits einer Individuationsfunktion der unmittelbaren Modi, hält Schleiermacher dann auch später in seiner Vorlesung zur Geschichte der Philosophie von 1812 fest. Vgl. SW ΙΠ/4.1, S. 277: „Da nun die einzelnen Dinge nur durch Bewegung und Ruhe [d.h. durch den unmittelbaren modus der Ausdehnung] verschieden sind und die einzelnen Seelen nur durch Verstand und Willen [d.h. durch den unmittelbaren modus des Denkens]: so treten diese [sc. Bewegung und Ruhe bzw. Verstand und Willen] dazwischen [d.h. zwischen Attribute und einzelne Dinge] als mo-

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Meinung sein mußte, stand für Schleiermacher durch ein bei Jacobi gegebenes Zitat aus dem physikalischen Einschub im zweiten Teil von Spinozas Ethik fest: „Corpora ratione motus et quietis, celeritatis et tarditatis et non ratione substantiae ab invicem distinguuntur. Eth. P. II. Lemma I." 1 0 7 Damit war aber allererst der Ort des Individuationsproblems in Spinozas Philosophie bestimmt. Über die Art, wie Körper als Bestimmung von Ruhe und Bewegung als einzelne aufzufassen sein könnten, hatte Jacobi keine Auskunft geben können, auch keine erläuternden Textstellen Spinozas überliefert - daher dessen negatives Urteil, Spinoza gebe „von der innern Möglichkeit [... ] solcher einzelnen Dinge [... ] keine Rechenschaft". 108 Schleiermacher gibt sich damit aber nicht zufrieden, sondern meint, hier habe Jacobi zu kurz gegriffen und beginnt, im Namen der Philosophie Spinozas in Richtung einer Individuationstheorie weiter zu denken: „ich [Spinoza] kann in dieser Rüksicht nicht begreifen wie mein guter Freund Jakobi, der sonst meine Angelegenheiten so gut administrirt, sagen konnte ich würde aus Mangel eines Grundes der Individuation zu den Monaden oder zu etwas noch weit schlimmerm hingetrieben. Ich will suchen das Gegentheil zu beweisen" (Sp 550). Als Grundlage der sehr dichten Argumentation Schleiermachers lassen sich zwei Annahmen benennen. Die erste betrifft das Problem der Teilbarkeit der Substanz. Wenn die Substanz auch „re vera ungetheilt" sei, so könne sie doch als „in Gedanken theilbar" (Sp 550) angesehen werden und in diesem Sinne eines Gedankenexperiments spricht Schleiermacher dann auch von „Partikeln der Substanz". 109 di, welche nur an und in den einzelnen Dingen sind, aber durch welche sich allein die unendliche Ausdehnung [sc. die Substanz unter dem Attribut Extensio] und der unendliche Gedanke [sc. die Substanz unter dem Attribut Cogitatio] offenbaren"; S. 278: „Durch die Entfernung der einzelnen Dinge von der unmittelbaren Beziehung auf die Gottheit". 107 § 15, JWA 1/1, S. 101; Sp 517. „Körper unterscheiden sich voneinander aufgrund von Bewegung und Ruhe und aufgrund des Grades ihrer Geschwindigkeit und nicht im Hinblick auf Substanz." (Eth. II, prop. 13, lemma 1) Schleiermacher nimmt auf dieses Lemma Bezug in einer Argumentation, die die Unterstellung ad absurdum führen soll, Spinoza habe beim Beweis der Einheit der Substanz mittels der Behauptung, „daß das Wesen eines Dinges keine Zahl enthalte" logisches Wesen und reelles Substrat der Eigenschaften verwechselt: „Spinoza that aber ganz das Gegentheil; denn das logische Wesen der Dinge müßte abgeleitet seyn aus Bewegung und Ruhe und in der Art dieser Ableitung und Verbindung bestehn; da sagt nun Spinoza daß sie [sc. die Dinge] in dieser Rüksicht verschieden wären" (KDSp 566). 108 Beilage VI, JWA I / 1 , S . 234; Sp 547. 109 Sp 551. Vgl. denselben Gedanken einer nur gedanklichen Teilbarkeit des Einen in Jacobis Brunodarstellung: Beilage I, JWA 1/1, S. 202: „so ist [... ] das Wesen des Weltalls im Unendlichen Eins, und nicht weniger in jedem der einzelnen Dinge, welche von uns als Theile desselben angesehen werden, gegenwärtig." (Hhg. C.E.). In Eth. I, prop. 15, schol. unterscheidet Spinoza zwei Betrachtungsweisen der Quantität. Deren Teilbarkeit ist einer Phantasievorstellung („prout in imaginatione est") zuzuordnen. Unteilbar er-

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Die zweite Annahme betrifft den Gedanken der Vollständigkeit der durch „Ruhe und Bewegung" beschriebenen Sphäre. 110 Und zwar müssen, so stellt Schleiermacher fest, im Ganzen der Ausdehnung immer alle möglichen Veränderungszustände von Bewegung und Ruhe zugleich vorkommen: „Die Substanz aber muß beständig nicht nur in allen ihren Theilen Bewegung und Ruhe, und zwar ein maximum von beiden, sondern auch in allen zusammengenommen immer alle möglichen Modifikationen von Bewegung und Ruhe [... ] darstellen". 111 Dies präsentiert Schleiermacher als eine Konsequenz aus der Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grund: „sonst müßte ja ebenfalls irgendwann irgend etwas aus nichts entstehn." (Sp 551). Veränderung läßt sich demnach, wenn ein Entstehen aus nichts ausgeschlossen werden soll, nur so denken, daß die Totalität möglicher veränderlicher Zustände als bestehend angenommen wird. Wenn nun außerdem ausgeschlossen ist, daß das veränderliche Einzelne für sich besteht - nach Schleiermachers Rekonstruktion das zweite Prinzip des Spinozismus 112 - so ist Veränderung nur vorstellbar unter der Voraussetzung, daß zugleich mit dem einen Bestehenden eine Totalität von Modifikationen desselben besteht. Schleiermacher bezieht nun beide Annahmen, die der gedanklichen Teilbarkeit der Substanz und die der Vollständigkeit ihrer Modifikationen in Bewegung und Ruhe aufeinander und gewinnt so diejenige Relation, innerhalb derer er dann im Sinne Spinozas den Begriff eines Individuums aufstellen wird. „Die Modifikationen der Bewegung sind nicht nur die Grade derselben schlechtweg, sondern auch das Verhältniß derselben zur Masse" (Sp 551). So ist die Menge möglicher Modifikationen von Bewegung nicht auf deren mögliche Variationen dem Grade nach, d. h. in Hinsicht auf Richtung und Geschwindigkeit, beschränkt, sondern ist umfassender zu denken. Nämlich ist sie die Menge aller möglichen Grade von Bewegung im Verhältnis zur „Masse", d. h. in Bezug zu allen gedachten Teilen der Substanz. Die Totalität von Bewegungsmodifikationen umscheint sie jedoch dem Verstand („prout in intellectu est"), der Quantität als Substanz erkennt. Deshalb sind Teile der Materie nach Spinoza nicht „realiter" verschieden, sondern nur nach ihren Affektionen („modaliter"). 110 Schleiermacher hat auch an dieser Stelle gleichermaßen die zum Ausgedehnten parallele Struktur des Denkens im Blick. Er führt hier die von Jacobi als unendliche Modi des Attributs Cogitatio bestimmten Begriffe „Vorstellung und Begierde" als Parallelen zu Bewegung und Ruhe an. Ich werde diesen Aspekt im Folgenden zunächst unberücksichtigt lassen. Welche Konsequenzen er für die Individuationsproblematik hat, wird im nächsten Abschnitt eigens thematisiert. 111 Sp 551. Vgl. auch hier einen entsprechenden Gedanken Brunos (Beilage I, JWA 1/1, S. 202): „Das Universum aber begreift nicht allein alles Daseyn, sondern auch alle Weisen des Daseyns in sich: es ist alles, was seyn kann, in der That, zugleich, vollkommen, und auf eine schlechterdings einfache Weise." Der zentrale Begriff „darstellen" wird im nächsten Abschnitt erörtert werden. S.u. S. 193. 112 S.o.S. 166f.

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faßt so jeden denkbaren Grad von Bewegung für jede denkbare Partikel der Substanz. Von hieraus stellt Schleiermacher nun die Überlegung an, daß die Grade der Bewegung, wenn sie entgegengesetzt sind, in einem und demselben Moment verschiedenen Massepunkten zugehören müssen: „Wenn die ganze Substanz in jedem Moment alle diese Modifikationen [sc. der Bewegung] zusammen an sich haben muß, so müßen die wiedersprechenden [sie!] derselben [sc. der Modifikationen von Bewegving] unter verschiedene Partikeln der Substanz vertheilt seyn" (Sp 551). Ausgehend von dieser Konstellation entgegengesetzter Bewegungsmodifikationen gelangt Schleiermacher zu seiner Bestimmung des Individuums, die in auffälliger Weise Gedanken aufnimmt, die von Giordano Bruno in derselben Problematik entwickelt worden waren. Während seiner Spinozastudien konnte Schleiermacher ohne weiteres Einblick in Brunos Gedanken nehmen. Denn Jacobi hatte einen zusammenfassenden Auszug aus dessen Schrift ,De la causa, prineipio et uno' von 1584 als erste Beilage der zweiten Auflage seiner Spinozabriefe angefügt. 113 Darin ist ein Abschnitt wiedergegeben, in dem Bruno die Frage behandelt, wie unter der Voraussetzung wesentlicher Einheit eine Vielheit gedacht werden könne. Bruno sieht nach Jacobi die Differenz, welche die Vielheit als solche charakterisiert, in der Art und Weise, in der ein Wesen in Vielem je vorhanden sei. 114 Eine Explikation dieser Differenz in der Art und Weise findet Bruno im Heraklitischen Gedanken von der Koinzidenz der Gegensätze. 115 Dieser Gedanke wird ausgeführt als eine Theoriefigur, nach welcher die in einem Gegensatz unterschiedenen Relate als Modifikationen eines identischen Prinzips verstanden werden. 116 Eigentlich „Entgegengesetztes" setzt solche Modifikationen des zugrundeliegenden Prinzips voraus, 113 LSp 2 , JWA 1/1, S. 185-205. 114 Beilage I, JWA 1/1, S. 201f: „Die einzelnen Dinge, welche sich einander unaufhörlich verändern, suchen kein neues Daseyn, sondern nur eine andre Art des Daseyns.[... ] Alle [einzelnen Dinge] gehören zu Einem Daseyn; nur nicht auf dieselbe Weise". 115 Vgl. Beilage I, JWA 1/1, S. 204: „Demjenigen, welcher unseren Betrachtungen bis hierhin gefolgt ist, kann die Behauptung des Heraklit von der durchgängigen Coincidenz des Entgegengesetzten in der Natur [... ] nicht mehr anstößig sein." Der Bezug auf Heraklit findet sich auch bei Bruno selbst (Vgl. JWA 1/2, S. 500), allerdings bringt er ihn an dieser Stelle seines Dialogs zwar mit der Wahrheit entgegengesetzter Definitionen, nicht aber mit dem bei Bruno sonst geläufigen, von Nikolaus von Kues übernommenen Begriff der coincidentia oppositorum in Verbindung. Hier hat Jacobi also „das rechte Wort an seine rechte Stelle" gesetzt (Vorrede zu LSp 2 , JWA 1/1, S. 152 Anm.). Zur coincidentia oppositorum bei Bruno vgl. E. Canone: Giordano Bruno (1548-1600). Von den Schatten der Ideen zum unendlichen Universum (1999), S. 192. 116 Beilage I, JWA 1/1, S. 204: Gegensätze wie „Kälte und Wärme, jedes im niedrigsten Grade, verlieren sich in Eine und dieselbe Eigenschaft, und beweisen die Identität ihres Prinzips, dessen Modificationen, im höchsten Grade, Resistenz; im niedrigsten, Vereinigung erblicken lassen."

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zwischen denen im Rahmen des Modifikationsspielraums „im höchsten Grade" Spannung - „Resistenz" - entsteht. Sind dagegen die Modifikationen des Prinzips „im niedrigsten" Grade different, so können die Modifikationen in der Hinsicht dieses Gegensatzes als beieinander im „Punkt der Vereinigung" 117 angesehen werden. Im Gedanken der Koinzidenz der Gegensätze soll also ein Übergang denkbar gemacht werden vom Beieinander des Differenten als dessen Vereinigung zum Gegeneinander des Differenten als der höchsten Aufspannimg des schon im Vereinigungspunkt gesetzten Gegensatzes. Die Möglichkeit der Anwendung eines solchen Gedankens liegt im Auffinden eines solchen Prinzips, aus dem heraus sowohl der Vereinigungspunkt als auch der aufgespannte Gegensatz von Differentem erklärt werden kann. 118 Soweit Jacobis Bruno-Referat. Vor diesem Hintergrund ist nun der Schlußgedanke in Schleiermachers Argumentation in Sachen spinozistischer Individuation zu sehen: „Eine bestimmte Masse muß also in jedem Moment der Vereinigungspunkt mehrerer dieser [sc. „wiedersprechenden"] Modifikationen seyn und so nennst du sie ein Individuum" (Sp 551). Schleiermacher knüpft an die Konzeption Brunos nicht nur terminologisch an, wenn er vom „Vereinigungspunkt" von „wiedersprechenden Modifikationen" spricht. Auch sachlich steht Bruno hier Pate. Nach Jacobis Brunoauszug ist „Vereinigung der Gegensätze" derjenige Status der Modifikationen eines Prinzips, in dem das Gegensätzliche im geringsten Grade ausgebildet ist, d. h. in dem es nicht mehr als Gegensätzliches, sondern als in einer bestimmten Hinsicht Kongruierendes wahrgenommen wird. Schleiermachers Bestimmung des spinozistischen Individuumsbegriffs läuft in genau diesen Bahnen. Was in einer bestimmten Hinsicht, nämlich bezüglich des Gegensatzes von Ruhe und Bewegung als kongruent gelten kann, das kann auch als Individuum angesehen werden. 119 Vereinigimg der Gegensätze ist hier genommen als Vereinigung hinsichtlich Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit. Bewegung und die ihr korrespondierende Ruhe stellen so diejenigen Prinzipien dar, deren Modifikationen die Möglichkeit von Vereinzelung bieten, sofern diese Mo117 Vgl. Beilage I, JWA1/1, S. 205. 118 Vgl. Beilage I, JWA 1/1, S. 205: „Den Punkt der Vereinigung zu finden, ist nicht das Größte; sondern aus demselben auch sein Entgegengesetztes zu entwickeln: diese ist das eigentliche und tiefste Geheimniß der Kunst." Jacobi formuliert hier etwas ungenau: Statt „aus demselben " müßte es strenggenommen heißen: aus dem Prinzip, das den Punkt der Vereinigung auffinden läßt, auch sein Entgegengesetztes entwickeln. Denn auch der Punkt der Vereinigung ist nicht Prinzip, sondern als eine Modifikation desselben Principiatum. 119 Als Beispiel nennt Schleiermacher „mehrere Stüke Holz auf einer Karre", die entgegen dem Anschein strenggenommen als ein Individuum angesehen werden müssen, weil sie „gegenwärtig in Absicht auf Bewegung und Ruhe vollkommen mit einander vereinigt sind" (Sp 551).

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difikationen Kongruenzen aufweisen. Bewegung und Ruhe können hier also als Individuationsprinzipien gelten. Damit ist das Konzept einer „mittelbaren Inhärenz" aufgegangen, nach welchem Einzelnes vermittelt durch den unendlichen Modus dem Attribut inhäriert: Für den unendlichen Modus Ruhe und Bewegung des Attributs Ausdehnung hatte sich eine Individuation durch Modifikation von Bewegung denken lassen. Möglich wurde diese Theorie von Individuation durch den Gedanken, solche Modifikationen von Bewegung als einem Individuum zugehörig anzusehen, welche in einer bestimmten Hinsicht - als in Bezug auf einen möglichen Gegensatz - kongruieren oder in Schleiermachers Worten „vereinigt" sind. Diese Wendung war gedanklich provoziert durch die Lektüre von Jacobis Brunodarstellung in der ersten Beilage seines Spinozabuches. Die Verbindung des dort aufgegriffenen cusanischen Gedankens der coincidentia oppositorum mit dem metaphysischen Rahmen der spinozanischen Philosophie ergab Schleiermachers eigentümliche Rekonstruktion der Individuationstheorie, welche er Spinoza in seinem Manuskript ,Spinozismus' vortragen läßt.120 Schleiermachers Beitrag zum Thema Individuation ist damit aber keineswegs erschöpft. In die hier vorgetragene, am Bewegungsbegriff orientierte Konzeption war eine Prämisse eingegangen, deren Berücksichtung Schleiermacher veranlaßt, seine Theorie von Individuation allgemeiner anzulegen. Eine Einschränkung seines Geltungsbereiches erfährt der Begriff des Einzelnen, der sich an Bewegungsverhältnissen festmacht, dadurch, daß die für eine solche Betrachtung zugrundegelegten Masseeinheiten, die sogenannten „Partikeln der Substanz", nur durch eine Denkoperation zustande gekommen waren. Wir hatten oben schon notiert, daß die Substanz nach Schleiermachers Spinozabild „re vera" ungeteilt sei, und nur in Gedanken teilbar.121 Diese Prämisse reflektiert Schleiermacher nun nach seiner Darstellung der Individuationstheorie. Der gewonnene Begriff des Individuums kann kein „geschloßner und vollkommen begrenz120 Daß eine solche Spinozadeutung nicht abwegig ist, zeigt die zeitgenössische Rekonstruktion von Spinozas Geisttheorie durch Lambert van Velthuysen: „Und ebenso wie ein Komplex und Aggregat bestimmter Modi der Ausdehnung, die ein bestimmtes wechselseitiges Verhältnis zueinander haben, einen Körper [... ] konstituieren [...], so konstituiert auch eine Ansammlung bestimmter Ideen oder Modi des Denkens, die ein bestimmtes Verhältnis zueinander und zu einem Dritten, nämlich zu einem Körper, haben, die einzelnen Geister: & obwohl ein Geist von einem anderen Geist sich nicht der Substanz nach unterscheidet, unterscheidet sich daher der eine Geist vom anderen den Modi nach. [... ] weil feststeht, daß es für die Konstitution der Einheit eines Individuums in der Natur ausreicht, daß ein Aggregat gewisser, in derselben Weise sich erhaltender Modi bestehen bleibt, auch wenn nicht alle einzelnen Modi bestehen blieben" (Opera omnia, Rotterdam 1680, S. 1375, in Übers, zit. nach Spinoza: Lebensbeschreibungen (1998), Nr. 90, S. 290). 121 S.o.S. 173.

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ter" sein, weil jede gedachte Partikel wieder in sich in Gedanken teilbar sein muß und nicht ausgemacht ist, daß alle so in Gedanken abgeteilten Teilpartikel denselben Vereinigungspunkt ihrer Bewegung haben und insofern noch als ein Individuum anzusehen sind. 122 Diese Einschränkung des aufgestellten Begriffs impliziert, daß Individuation im Körperlichen stets eine Rücksicht auf das Denken voraussetzt. Das was wir als Einzelnes bezeichnen, weil es übereinstimmende Bewegungsverhältnisse aufweist, verdankt sich einer vorgängigen abstrahierenden Isolierung in diskrete Teilmomente, die dann vermittels der Beobachtung zu individuellen Konzentrationspunkten i. S. von Trägern kongruierender Bewegungsverhältnisse verdichtet werden. Der Status der letzteren, darüber macht sich Schleiermacher keine Illusionen, ist pointiert ausgedrückt der eines „Scheinindividuums". 123 Der Schein des Individuellen besteht zuletzt darin, daß hiermit ein Begriff von Individuum aufgestellt wird, der im Grunde eine Relation zum Inhalt hat. 124 Die Bestimmtheit des Individuums besteht in der Relation der in ihm vereinigten Modifikationen zu allen übrigen. Diese Charakteristik des Individuellen als relative Einheit in Bezug auf ein umfassendes Relationengefüge bringt Schleiermacher an anderer Stelle dadurch zum Ausdruck, daß er von der Vereinigung der entgegengesetzten Modifikationen auch als einer „Mischung" 125 derselben sprechen kann. Dieser Ausdruck impliziert die innere Diversität und nur relative äußere Einheit des Individuums in seinem Zusammenhang mit anderen Individuen. Der Mischungsbegriff, der hier zur Bezeichnung eines relationalen Individualitätsverständnisses herangezogen wird, macht bekanntlich in den ,Reden' und ,Monologen' Furore. 126 Der vor allem in den ,Monologen' unter ethischen Gesichtspunkten vorausgesetzte Begriff von Individualität hat seinerseits sein Fundament in dem hier dargelegten an Spinoza entwickelten metaphysischen Individuationsverständnis.127 Doch auf dem Weg vom metaphysischen zum ethischen Individualitätsverständ122 Vgl. Sp 551: „ja, ich kann auch nicht einmal bestimmen welche Masse als ein Individuum anzusehn ist, denn auch diese Masse wird in Gedanken theilbar seyn, die darunter enthaltenen Partikeln werden mit dem Ganzen nicht vollkommen gleichartig, und dieses wird also auch nicht für alle auf die nemliche Art der Vereinigungspunkt der Modifikationen seyn." 123 KDSp 575f.: „die endlichen Dinge sind ein aus einer durch die Theile des unendlichen verbreiteten ungleichförmigen Vereinigung der entgegengesezten modorum der Attribute entstehender Schein." (Hhg. C.E.). Vgl. zum Ausdruck „Scheinindividuum" KDSp 576, Z. 33ff. 124 Vgl. KDSp 568: „zum deutlichen Beweis daß das sogenannte Wesen der Dinge, das wodurch wir ihre Identität bestimen nur ein Verhältniß sey". Vgl. auch Sp 530. 125 Sp 537; vgl. KDSp 578. 126 Siehe dazu unten Teil ΙΠ, S. 332ff. 127 Vgl. U. Barth: Der ethische Individualitätsgedanke (1994/2004).

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nis liegt noch eine zweifache Problemverschiebung, so daß beides nicht einfach kurzgeschlossen werden kann. 128 Zum einen war bisher lediglich Schleiermachers spinozistisches Individuationsverständnis, wie er es zunächst am Körperlichen, spinozanisch gesprochen am Attribut Extensio rekonstruiert hat, thematisch geworden. Individualität als ethischer Leitbegriff kann aber nur auf das metaphysische Problem der Einzelheit oder Vereinzelung des Geistigen bezogen werden. Es wäre dabei zu fragen, wie Individualität menschlicher Subjektivität überhaupt zu denken sei. Ein zweiter Schritt wäre es dann, das Resultat des aufs Geistige gewandten Individuationsproblems auf die ethische Problematik und Aufgabe einer „Bildung" zur Individualität zu beziehen. 129 Es ist klar, daß nur der erste Schritt innerhalb der Spinozamanuskripte ins Auge gefaßt wird. Es geht Schleiermacher hier um nichts anderes als das metaphysische Problem eines principium individuationis. Aber indem er es auch als die Frage der Vereinzelung in der Sphäre des Geistes versteht, erarbeitet er sich hier ein Fundament, das für das ethische Individualitätsverständnis der ,Reden' und ,Monologen' eine entscheidende Grundlage bilden wird.

C. Die Weiterentwicklung der Individuationstheorie am Attribut Cogitatio 1. Schleiermachers Verständnis des spinozanischen Attributs Cogitatio Schleiermacher hat um die Schwierigkeiten einer rein am Bewegungsbegriff orientierten Individuationstheorie gewußt. Aber ihm schien Spinozas Philosophie auch an dieser Stelle mehr herzugeben, als es von Jacobis Darstellung her zu vermuten war. Jacobi hatte nämlich dem Denken (Cogitatio) in seiner Verhältnisbestimmung der Attribute einen gegenüber der Ausdehnung (Extensio) inferioren Stellenwert zugemessen. Schleiermacher vermutete, Jacobi habe hier Spinoza nicht eigentlich verstanden. Wenn dem Denken aber ein der Ausdehnung gleichberechtigter Status zukäme, hätte das für eine Individuationstheorie weitgehende Folgen. Schleiermacher erfragt und diviniert sich ein Verständnis Spinozas, das diesen in die Nähe bringt zum kritischen Idealismus. Die folgende Darstellung soll darum vor Augen führen, wie Schleiermacher ausgehend von der Frage des Stellenwerts des Attributs Denken im System Spinozas zu Konsequenzen für eine Theorie der Individuation geführt wird, die diese Theorie aus dem System selbst heraus in die Nähe zur Transzenden128 So G. Meckenstock: Deterministische Ethik (1988), S. 198; ders.: Schleiermachers frühe Spinoza-Studien (2002), S. 455. 129 Siehe dazu unten Teil ΠΙ, S. 327ff.

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talphilosophie bringt. Bevor im nächsten Abschnitt diejenigen Äußerungen Schleiermachers erörtert werden, die diese Nähe durch Aufsuchen von Äquivalenzen in kantischer und spinozistischer Philosophie explizit machen/ 3 0 soll hier zunächst Schleiermachers Auslotung der geistphilosophischen Leistungsfähigkeit eines konsequent gedachten Spinozismus eine Darstellung finden. Mit diesem Programm ist die These verbunden, daß Schleiermachers transzendentalphilosophische Wendung des Spinozismus nicht in erster Linie eine Okkupation desselben durch einen vom Geist des kritischen Idealismus durchdrungenen jungen Denker war, sondern daß Schleiermacher in Spinozas Philosophie selbst die systematischen Grundsätze finden konnte, deren Konsequenzen ihn auf anderem Weg zu Resultaten führte, in denen er kantische Einsichten wiederzuerkennen vermochte. Der Vorgang der Amalgamierung von spinozistischer Metaphysik und transzendentalphilosophischer Erkenntnislehre in Schleiermachers Ringen um eine Theorie der Individuation scheint mir im Vorblick auf die Religionstheorie der,Reden' insofern von Bedeutung, als hier gerade die mit den dortigen Schlüsselbegriffen „Universum" und „Anschauung" verbundenen Problemfelder zur Debatte stehen. 131 Der Ausgangspunkt für Schleiermachers Vertiefung der spinozistischen Individuationstheorie über den Begriff des Körperlich-Einzelnen hinaus war eine Kritik an Jacobis Auffassung vom Stellenwert des Attributs Denken in Spinozas Philosophie. Jacobi hatte in seine Darstellung eine Prämisse einfließen lassen, deren Anwendung auf Spinoza durch Jacobi Schleiermacher als einseitige Interpretation Spinozas vorkam (vgl. Sp 557). Jacobi sah nämlich eine Entsprechung zwischen dem Verhältnis von Ausdehnung und Denken einerseits und dem Unterschied von wirkenden Ursachen (causae efficientes) und „Endursachen" (causae finales) andererseits. Allein im Materiell-Ausgedehnten waren seiner Meinung nach Wirkursachen zu finden, im Geistigen dagegen - und hier läßt Jacobi eine Prämisse seiner eigenen philosophischen Position einfließen - haben Endursachen, d. h. eigentliche Zwecke ihren Ort. Wenn nun Spinoza kategorisch das Vorhandensein von causae finales leugnete und überall nur causae efficientes am Werke sah, 132 so verstand Jacobi diese Einschränkung in dem Sinne, daß der Mechanismus von aufeinander bezogenen wirkenden Ursachen nur im Ausgedehnten, Körperlichen stattfand und dem Denken, wenn es zugleich mit dem Ausgedehnten sein sollte, nur die Funktion des „Begleitens" des körperlichen Mechanismus zukom130 S.u. Abschnitt D 2 , S. 21 Iff. 131 Der systematische Zusammenhang des Ergebnisses der Spinozastudien mit der Religionstheorie der,Reden' wird im dritten Kapitel dieses Teils, S. 228ff., dargestellt werden. 132 Vgl. JWA 1/1, S. 19. 20. 57. 75. 85. 87. 228-230. 264. Vgl. für Spinoza selbst v. a. Eth. I, app.

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men konnte. „Wenn es lauter würkende und keine Endursachen giebt, so hat das denkende Vermögen in der ganzen Natur blos das Zusehen; sein einziges Geschaffte ist, den Mechanismus der würkenden Kräfte zu begleiten." 133 Damit wollte Jacobi nun Spinoza keineswegs „Materialismus" vorwerfen als jene „ungereimte Meynung, daß das Denken nur eine Modification der Ausdehnung sey". 134 Eine kausale Abhängigkeit des Denkens von der Ausdehnung scheint auch in Jacobis Spinozaverständnis nicht statthaft, ebensowenig wie das Denken auf Ausgedehntes Wirkungen habe. Allerdings sieht Jacobi in Spinozas Attributenlehre der Extensio eine gewisse Vorzugsstellung eingeräumt, weil in ihr „würkende Kräfte" am Werk seien, wohingegen der Cogitatio lediglich zukomme, diese Kausalstruktur des Körperlich-Ausgedehnten mental zu repräsentieren. Eine Ursächlichkeit des Denkens selbst, so Jacobi, war durch Spinozas Leugnung der Finalursachen nicht in dessen System unterzubringen. „Wir glauben nur, daß wir aus Zorn, Liebe, Großmuth, oder aus vernünftigem Entschlüsse handelten. Bloßer Wahn! In allen diesen Fällen ist im Grunde das was uns bewegt ein Etwas, das von allem dem nichts weiß, und das, in so ferne, von Empfindung und Gedanke schlechterdings entblößt ist." 135 Schleiermacher hatte nun gegen diese Deutung Jacobis einiges einzuwenden. 136 Die Hauptschwäche in dessen Interpretation sah er in dem restriktiven Verständnis von wirkenden Ursachen. Jacobi, so mutmaßt Schleiermacher, möchte „den Spinoza gern behaupten lassen das denkende Wesen habe gar keine Causalität: der Zusammenhang des einen gedachten mit dem andern liege gar nicht in dem gedachten, sondern nur in dem ausgedehnten; ein gedachtes beziehe sich gar nicht auf ein anderes, sondern jedes unmittelbar auf ein ausgedehntes" (Sp 528). Warum aber sollte Spinoza nicht auch wirkende Ursachen in der Cogitatio annehmen können? „ich begreife nicht warum das denkende Vermögen nicht auch unter die wirkenden Ursachen gehören kann: auf eine 133 JWA1/1, S. 20f. 134 J W A I / 1 , S . 79. 135 JWA 1/1, S. 21. Schleiermacher kommentiert scharfsinnig: „Die lezten Worte Jakobis laßen es zweifelhaftens ob er meint daß das ausgedehnte die Handlung bestimme oder daß das Unendliche Ding diese Verrichtung habe" (Sp 530). Die letztgenannte Lesart widerspricht dem Grundansatz von Spinozas Begriff des Unendlichen. Denn das Unendliche müßte endlich bestimmt sein, um als movens der Handlung in Frage zu kommen. Somit kann nicht das Unendliche an sich, sondern nur sofern es bestimmt ist, gemeint sein. Das Unendliche, sofern es bestimmt ist, ist aber das Endliche und sofern es nicht das Denkende ist, bleibt nur das ausgedehnt Endliche, also die erste Lesart. 136 Die Behandlung des Themas findet sich bei Schleiermacher sowohl in der,Kurzen Darstellung' im Abschnitt „Π. Spinozas Kosmologie" (KDSp 577-582), als auch in ,Spinozismus' als Kommentar zu verschiedenen Jacobizitaten (Sp 527-530. 531. 532. 534. 537f. 557).

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Vorstellung kann ja wol ein Urtheil [... ] ganz mechanisch folgen, wie denn eine bloß logische Folge immer eine ganz mechanische ist" (ebd.). Wohl leugnete Spinoza Finalursachen in dem Sinne, daß das Denken für Körperliches ursächlich wäre (ebd.), aber das sollte keineswegs bedeuten, daß dem Denken jegliche Ursächlichkeit abgesprochen und es, auf eine bloße Begleitfunktion beschränkt, gleichsam nur als „Kopie" originärer körperlicher Prozesse betrachtet werden könne. 137 Schleiermachers Einwand war von denjenigen Grundbestimmungen der Attributenlehre Spinozas her motiviert, die Jacobi selbst in seinen Paragraphen angegeben hatte. Dort hieß es: „Nach Spinoza sind eine unendliche Ausdehnung und ein unendliches Denken Eigenschaften Gottes", und weiter: „alles was sich aus der unendlichen Natur Gottes formaliter ergibt, sich auch objective aus derselben ergeben muß und vice versa" (§ 14). 138 Wenn also Ausdehnung und Denken beides „Eigenschaften", d.h. Attribute Gottes 139 sein sollen, so sei nicht einzusehen, argumentiert Schleiermacher, warum ein Primat der Ausdehnung vor dem Denken bestehen solle, wie Jacobi behauptet hatte. Und wenn gilt, daß mit körperlichen Prozessen als etwas, das „formaliter" aus der Natur Gottes folgt, dasjenige verbunden sein soll, was im Denken als mentale Repräsentation „objective" aus derselben Natur Gottes 140 folgt, so muß dasselbe auch umgekehrt gesagt werden können: „Mit dem Denken ist nothwendig die Ausdehnung verbunden, was also im Denken vorkomt muß auch in der Ausdehnung vorkommen". 141 Schleiermacher beharrt hier gegen Jacobi auf dem „vice versa". Mit dem gleichem Recht, mit dem Jacobi ein bloßes Begleiten des Gedachten annimmt, könnte das Ausge137 KDSp 578f. Vgl. Jacobis eigene Entwicklung der Sache in DH 230-232: „Vorstellungen sind nur Copien der wirklichen Dinge [... ] Ich sage, die Vorstellungen können das Wirkliche, als solches, nie darstellen. Sie enthalten nur Beschaffenheiten der wirklichen Dinge, nicht das wirkliche selbst." 138 JWA1/1, S. 100; Sp 516f. 139 In Spinozas Terminologie entspricht Jacobis Begriff „Eigenschaft" der Begriff des attributum, der ausschließlich für Substanzen gebraucht wird, während proprietas nur auf endliche Modi Anwendung findet. Zum spinozanischen Attributsbegriff s. o. Teil I, S. 32ff und S. 48ff. Die Verdeutschung durch Jacobi entspricht der gängigen durch Wolff geprägten schulphilosophischen Verwendung. Vgl. deutsch-lateinisches Register zu Ch. Wolff: Deutsche Metaphysik (1752/1983), S. [673]: „Eigenschaft, Attributum". 140 Daß die objektiven Essenzen aus der Natur Gottes folgen sollen, ist eine gewisse Jacobische Vergröberung der Theorie Spinozas. Nach Eth. Π, prop. 7, corol. folgt dasjenige, was „objective" folgt, aus der Idee Gottes: „was auch immer aus der unendlichen Natur Gottes folgt und kraft dieses Folgens ein Sein hat [sequitur formaliter], das alles folgt in Gott aus der Idee Gottes [ex Dei idea] in derselben Ordnung und mit derselben Verknüpfung in ideeller Weise [sequitur objective]." (Hhg. C.E.). Zu diesem Problem s.o. Teil I, S. 59f. 141 KDSp 578. Schleiermacher formuliert hier die Umkehrung des in Jacobis § 26 Gesagten: „muß alles, was in der Ausdehnung vorgeht, auch im Bewußtseyn [Denken] vorgehn". Vgl. Jacobis Brief an Hemsterhuis, JWA 1/1, S. 79f.

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dehnte auch als das Gedachte begleitend aufgefaßt werden (KDSp 579; Sp 530). Dies scheint Schleiermacher die konsequente Auslegung der in den Paragraphen gegebenen Sätze zu sein 142 und keineswegs im Widerspruch mit den Grundprinzipien des Spinozismus zu stehen: „Ich glaube daß Spinoza dies hätte zugeben können ohne die Haupteinheit seines Systems zu verlezen" (KDSp 578). Schleiermacher findet so zu einer Charakterisierung jenes „Parallelismus" der Attribute Denken und Ausdehnung, mit dem Jacobi schon in dem berühmtgewordenen Gespräch mit Lessing nicht recht „an den Tag" kommen wollte. 143 Die Differenz zwischen Jacobi und Schleiermacher im Verständnis der spinozanischen Attributenlehre scheint auf den ersten Blick nur eine Nuance, diese ist aber folgenreich. Sie läßt sich folgendermaßen zusammenfassen. Zwar hat Jacobi keineswegs Spinozas Konzeption so vollständig verkannt, daß er darin eine „Zurückführung der geistigen Phänomene auf die körperlichen" erblickt hätte, wie es Dilthey diagnostizierte.144 Jacobi sah Spinoza nicht als Materialisten, der das Denken als bloße Wirkung körperlicher Prozesse angesehen hätte, vielmehr war ihm Cogitatio bei Spinoza durchaus ein vom körperlichen Kausalzusammenhang Unterschiedenes. Allerdings maß Jacobi in seiner Spinozadarstellung dem Denken gegenüber der Ausdehnung insofern einen inferioren Status zu, als er Gedanken nicht als untereinander kausal verknüpft ansah, sondern das Denken als bloße Funktion mentaler Repräsentation faßte, die immer nur in Bezug auf ihren Gegenstand wirklich sein konnte. Und dieser Gegenstand des Denkens war für Jacobis Spinoza nun nichts anderes als das in mannigfaltigen Beziehungen von Ursache und Wirkung stehende Körperlich-Ausgedehnte. Schleiermacher rückte Jacobis Spinozaverständnis in diesem Punkt zurecht, indem er aus der Gleichrangigkeit beider Attribute folgerte, auch im Denken müßten nach Spinoza wirkende Ursachen anzunehmen sein. Das Denken ginge dann nicht in seiner Repräsentationsfunktion auf, sondern bildete einen eigenen Zusammenhang kausaler Beziehungen. 145 142 Diese könnte sich an Jacobis § 42 festmachen lassen, in welchem es heißt, alle Attribute seien „substantielle wesenhafte Ausdrücke eines und desselben reellen Dinges" (JWA1/1, S. 112; Sp 523). Hhg. C.E. 143 JWA 1/1, S. 27. Den heute immer noch gängigen Interpretationsbegriff des „Parallelismus" setzt schon Jacobi als bekannt voraus. Zur Bedeutung desselben s. o. Teil I, S. 48ff. 144 W. Dilthey: Leben Schleiermachers (1870), Denkmale, S. 67. 145 Sp 529: „Es ist also nach Spinoza gewiß, daß jede Veränderung in dem Denkenden als Wirkimg betrachtet sich auf ein voriges Denkendes bezieht". Schleiermacher vermutet bereits in KDSp ein Mißverständnis in Jacobis Darstellung. Zum Vergleich mit Leibniz formuliert er so zwar für Spinoza noch im Sinne der Jacbischen Darstellung, merkt aber ausdrücklich an, daß er hier nicht den authentischen, sondern Jacobis Spinoza reproduziert: „eben so wenig scheint Spinoza, wenigstens nach Jacobis Darstellung zuzugeben daß die Veränderungen des denkenden sich unabhängig von denen des ausgedehnten nach gewißen Gesezen aus einander entwickeln." Leibniz beschreibt Begierde als eine

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II. Schleiermachers Spinozarezeption

Überhaupt, so Schleiermacher, sei Jacobis Verständnis terminologisch dadurch erschlichen, daß Jacobi das Körperliche als „schlechtweg das Ding" lind das Gedachte als „Begriff des Dinges" bezeichnet. 146 Schleiermacher nimmt demgegenüber an, daß bei Spinoza nicht die körperliche Sphäre die primäre sei, sondern es eine metaphysische Rede gebe vom „Ding", die als solche nicht auf Körperlichkeit eingeschränkt ist, sondern ebenso für Gedankliches Gebrauch finden kann. 147 2. Individuationstheoretische Konsequenzen Diese Korrektur hatte, um das Ergebnis vorwegzunehmen, Konsequenzen für Schleiermachers Rekonstruktion der spinozistischen Individuationstheorie, und zwar in einer dreifachen Weise. Zum einen konnte die Bestimmung des Verhältnisses des Unendlichen zum Endlichem, welche Schleiermacher mit dem Leitwort mittelbarer Inhärenz unternommen hatte, nicht auf das Attribut Ausdehnung beschränkt bleiben, sondern mußte im Sinne Spinozas gleichermaßen auch für das Attribut Denken formuliert werden (a). Zum anderen konnte dann das, was als Individuum zu bezeichnen war, weder bloß von dem Attribut Ausdehnung her noch bloß von dem Attribut Denken her beschrieben werden. Vielmehr mußte eine Konzeption gefunden werden, die die Verbundenheit beider Attribute im endlichen Einzelding auf den Begriff bringt (b). Schließlich war auch der Gegenstandsbereich des Denkens umfassender zu bestimmen als Jacobi es suggeriert hatte. Das Denken ist nicht auf die Repräsentation von Körperlichem restringiert, sondern kann sich „Wirkung der Seele ohne alle Dazwischenkunft des Leibes [... ] dies scheint bei Spinoza anders. [... ] die Vorstellung der Sache war nur das Bewußtseyn jenes [körperlichen] Eindruks; die Begierde der Seele nur das Bewußtseyn jener Bewegung, und zwischen der Vorstellung und der Begierde ist kein unmittelbar causeller Zusammenhang, wenigsten nach Jacobis Darstellung" (KDSp 581, Hhg. C.E.). Schleiermacher vermutet also in beiden Fällen, daß nach Spinoza durchaus ein Kausalzusammenhang im Denken besteht, wagt aber an dieser Stelle noch nicht, Jacobis Darstellung gänzlich zu verlassen. 146 KDSp 578. Vgl. Jacobis § 30, Sp 519; JWA 1/1, S. 106: „Der unmittelbare Begriff eines wirklich vorhandenen einzelnen Dinges, wird der Geist, die Seele (mens) desselben einzelnen Dinges genannt, das einzelne Ding selbst, als der unmittelbare direkte Gegenstand eines solchen Begrifs heißt der Leib." Vgl. auch § 24, ebd., S. 519; S. 104f. 147 Vgl. KDSp 579: „Ueberhaupt sehe ich nicht ein, warum nur der Körper Beschaffenheiten annimt, und nicht das Ding selbst. Im leztern Fall könnten doch einige [sc. Beschaffenheiten des Dinges] von der Art seyn daß sie entweder den Körper gar nichts angehn, oder doch in ihm nur als Kopie existiren". Vgl. auch Sp 529. 537f. Schleiermachers Vermutung, Spinoza gebrauche den Begriff „Ding" als einen allgemeinen metaphysischen Terminus, der weder auf Körperliches noch auf Geistiges beschränkt sei, bestätigt sich im Gebrauch von res in Spinozas Ethik, die Schleiermacher freilich damals nur in Auszügen vorlag. Vgl. Eth. I, prop. 3; prop. 4; prop.16, corol. u.ö.

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auch auf Gedachtes beziehen. Diese Einsicht galt es auch für die theoretische Erfassung des Bewußtseins von Einzelnem fruchtbar zu machen. Die mentale Repräsentation des Individuellen konnte nach Spinoza nicht lediglich Körperlich-Individuelles, sondern mußte die Verbundenheit beider Attribute im Einzelding widerspiegeln (c). Diesen drei Schritten, in denen Schleiermacher als Konsequenz aus dem gegenüber Jacobi korrigierten Verständnis des Attributs Denken in Spinozas Philosophie ein allgemeineres Verständnis von Individuation aufzustellen sucht, wird im Folgenden nachzugehen sein. Die Überlegungen führen von Ansätzen einer Individuationstheorie im Bereich des Geistigen über die Reflexion des Verhältnisses von Körperlichem und Geistigem im einzelnen Ding hin zum Problem des körperlich-geistig Individuierten als Gegenstand des menschlichen Bewußtseins. 148 (a) Was die erste Konsequenz betrifft, so kann man in Schleiermachers Manuskripten den Versuch erkennen, Individuation im Sinne Spinozas nicht nur für Körperlich-Ausgedehntes, sondern auch für GeistigGedankliches zu explizieren. Auch hier geht es Schleiermacher darum, einen Vermittlungsbegriff zwischen der Unendlichkeitssphäre (Substanz/Attribut) lind dem Endlich-Einzelnen (endlicher Modus) aufzusuchen, um ein Prinzip zu entwickeln, nach dem auch für den Bereich des Geistigen einzelnes von anderem einzelnem zu differenzieren wäre. Ganz entsprechend zu dem Gedankengang, der eine Auffassung von Individuation im Attribut Extensio ergeben hatte, erblickt Schleiermacher auch für das Attribut Cogitatio eine dreifache metaphysische Strukturierung. Die dort ausgemachte Unterscheidung von Attribut, unmittelbarem unendlichen Modus und mittelbaren endlichen Modi sollte nun auch für das Attribut Denken Plausibilität gewinnen. Der Vermittlungsbegriff zwischen dem Attribut Extensio und endlichen Körpern war von Schleiermacher in „Ruhe und Bewegung" als dem unmittelbaren unendlichen Modus gefunden worden. 149 Entsprechend galt es für Schleiermacher nun auch, den unmittelbaren unendlichen Modus des Attributs Cogitatio aufzusuchen. Hier ergibt sich in der Rekonstruktion von Schleiermachers Überlegungen allerdings eine terminologische Schwierigkeit. Denn im Sprachgebrauch folgt Schleiermacher, was diesen Vermittlungsbegriff betrifft, Jacobis Darstellung, verbindet damit aber eine sich von Jacobis Auffassung abhebende Sicht auf Spinozas Philosophie des Geistes. Um Schlei148 Auch hier versteht sich, daß Schleiermacher die genannten drei Schritte nicht in dieser Form nacheinander in seinen Spinozamanuskripten formuliert. Dem Charakter dieser Schriften entsprechend sind die herangezogenen Äußerungen Schleiermachers verstreut und werden hier rekonstruierend an den ihnen sachlich zukommenden systematischen Ort gestellt. 149 Siehe dazu oben S. 171ff.

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ermachers Intention hier nachvollziehen zu können, muß daher zunächst auf die Bedeutung der herangezogenen Termini „Gefühl des Seyns" und „unmittelbarer Begriff" bei Jacobi eingegangen werden. Jacobi hat in einem französischen Schreiben an Hemsterhuis, das er in seine Spinozabriefe mit eigener deutscher Übersetzung aufgenommen hat, Spinoza auch etwas über das Verhältnis des Denkens und einzelner Gedanken zur göttlichen Substanz sagen lassen. 150 Darin wird zunächst das Verhältnis des Denkens zum „Seyn" thematisiert. Den Ausdruck „das Seyn" hatte Jacobi zur Bezeichnung der göttlichen Substanz eingeführt.151 Das „absolute und reelle Continuum [... ] des Denkens" ist demnach eine „Eigenschaft" des „Seyns", d. h. ein Attribut der Substanz. 152 Mit dieser Aussage verknüpft Jacobi im Laufe des fiktiven Dialogs zwischen Spinoza und Hemsterhuis nun eine funktionale Charakterisierung des Denkens. Bezogen auf das „Seyn" kommt dem Denken nämlich zu, es zu objektivieren oder genauer gesagt: es zu repräsentieren. Für diese Funktion des Denkens gegenüber dem „Seyn" wählt Jacobi hier den Ausdruck „Gefühl des Seyns". 153 Später in den Paragraphen spricht er von dieser Funktion des Denkens als vom „reinen unmittelbaren absoluten Bewußtseyn in dem allgemeinen Seyn", 154 bemerkt aber dazu, daß ihm der französische Ausdruck „sentiment de l'etre", dessen Übersetzung „Gefühl des Seyns" ergeben hatte, besser geeignet schien, das Gemeinte wiederzugeben. Denn es ging ihm um die begriffliche Erfassung desjenigen grundlegenden Bezugs von Denken auf das Sein, der von bestimmten Denkgehalten abstrahiert155 und unabhängig von jeder Reflexion des Denkens auf sich selbst anzusetzen ist. 156 „Gefühl", das ist zu beachten, steht hier für ein abstraktes ontologisches Repräsentationsverhältnis von Denken und Sein, das nichts mit dem Gefühlsbegriff der empirischen Psychologie zu tun hat. Für diesen ontologischen Gefühlsbegriff gebraucht Jacobi in den Paragraphen den Terminus „unmittelbarer Begriff". 157 Dieser drückt wie jener den bloßen mentalen Bezug auf einen Gehalt aus. Darin wird zum 150 151 152 153 154 155

L S p , J W A I / l , S . 54-88, hier S. 59-61. LSp, JWA 1/1, S. 59; vgl. auch § 10, JWA1/1, S. 98. Ebd. Brief an Hemsterhuis, JWA 1/1, S. 65. 79. 80. § 25 JWA 1/1, S. 105; Sp 519. Darauf hat schon H. Timm hingewiesen: „Absolutes Bewußtsein aber ist unmittelbares Gefühl - ,Seyn das sich fühlt, oder Bewußtseyn' - und als solches der Vorstellung entgegengesetzt, die ein mittelbarer Begriff ist, bestimmt durch das real verschiedene Dingobjekt." (Gott und die Freiheit [1974], S. 214). 156 Vgl. JWA 1/1, S. 105, Anm. 1. Der französische Ausdruck „sentiment de l'etre", so die Anmerkung, schien ihm „reiner und besser; denn das Wort Bewußtseyn scheint etwas von Vorstellung und Reflexion zu involvieren, welches hier gar nicht statt findet." 157 § 27 JWA 1/1, S. 105; Sp 519: „XXVII. Das Bewußtseyn einer Sache nennen wir ihren Begriff, und dieser Begriff kann nur ein unmittelbarer Begriff seyn."

2. Die Entwicklung einer spinozistischen Individuationstheorie

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einen von jedweden konkreten Bestimmungen dieses Bewußtseinsgehalts abstrahiert.158 Zum anderen wird durch das Prädikat „unmittelbar" die Nichtreflexivität dieses Bezugs ausgedrückt. Wichtig festzuhalten ist, daß bei Jacobi beide Termini: „Gefühl des Seyns" und „unmittelbarer Begriff" für den Charakter mentaler Repräsentation überhaupt stehen und sich nicht auf einzelne gehaltliche Bestimmungen von endlichem menschlichem Bewußtsein beziehen. Da Jacobi, wie wir gesehen haben, das Attribut Cogitatio in der Funktion der mentalen Repräsentation aufgehen läßt, stehen die beiden Ausdrücke nicht nur für den spinozanischen intellectus infinitus, sondern zugleich auch für das Attribut Cogitatio selbst. 159 Vor diesem Hintergrund sind nun Schleiermachers Überlegungen zur Individuation im Attribut des Denkens zu sehen. Zu einer Stelle aus dem Jacobischen Hemsterhuisbrief, schreibt er, sei ihm „eine Versinnlichung des Verhältnißes des unendlichen zu den endlichen Dingen eingefallen" (Sp 535). Diese Explikation bezieht sich ausdrücklich auf das Attribut „Denken", 160 und Schleiermacher bedient sich dabei Jacobischer Begrifflichkeit: „Das eigentliche wahre und reelle in der Seele ist das Gefühl des Seyns, der unmittelbare Begrif wie es Spinoza nennt; dieser läßt sich aber niemals wahrnehmen, sondern es werden nur einzelne Begriffe und Willensäußerungen wahrgenomen [... ] eigentlich existirt nichts, als das Gefühl des Seyenden: der unmittelbare Begrif. Die einzelnen Begriffe sind nur seine Offenbarungen." 161 Hier setzt Schleiermacher das „Gefühl des Seyns" in Beziehung zu „einzelnen Begriffen und Willensäußerungen". „Der unmittelbare Begrif" erscheint wie bei Jacobi als Synonym zu „Gefühl des Seyns" und bezieht 158 Vgl. ebd., § 28f,: „XXVHI. Ein unmittelbarer Begriff, in, und für sich allein betrachtet, ist ohne Vorstellung. XXIX. Vorstellungen entstehen aus mittelbaren Begriffen, und erfordern mittelbare Gegenstände". „Vorstellung" steht hier für die konkrete Bestimmtheit des Objektgehalts des Denkens. 159 Spinoza selbst differenziert zwischen dem Attribut Cogitatio und dem intellectus infinitus als unendlichen Modus dieses Attributs, dem die Funktion der Objektivation zukommt. Siehe dazu oben Teil I, S. 55ff und Anm. 216 auf S. 82. 160 Schleiermacher bezieht sich auf das Attribut Denken durch die Chiffre „Zeit": „Meine Versinnlichung ist nicht aus dem Objekt des Raums, sondern aus dem der Zeit genommen" (Sp 535). „Zeit" steht für Denken, wie „Raum" für Ausdehnung steht (vgl. dazu KDSp 576). Die Erklärung für diese eigenwillige Chiffrierung ergibt sich aus Schleiermachers transzendentalphilosophischer Wendung des Spinozismus, die zugleich auch eine spinozistische Wendung der kantischen Transzendentalphilosophie ist. Siehe hierzu den nächsten Abschnitt, S. 201ff. 161 Sp 535. Schleiermacher hält den Terminus „unmittelbarer Begriff" aus den Paragraphen Jacobis offensichtlich für einen authentischen Ausdruck Spinozas. Auf den hier verwendeten Offenbarungsbegriff wird noch einzugehen sein. Er spielt im Zusammenhang des erkenntnistheoretischen Status des Endlichen eine wichtige Rolle. Siehe dazu unten S. 197ff.

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II. Schleiermachers Spinozarezeption

sich gleichfalls wie bei Jacobi auf das Attribut Cogitatio.162 Allerdings läßt Schleiermacher in seinem Verständnis Spinozas das Attribut Cogitatio und die dem unendlichen Verstand zukommende Funktion der mentalen Repräsentation nicht - wie Jacobi - zusammenfallen und von daher erscheint „der unmittelbare Begriff" hier nicht als unmittelbarer unendlicher Modus des Attributs, sondern nur als Charakterisierung des Attributs selbst. Das wird darin deutlich, daß Schleiermacher ausdrücklich auf eine metaphysische Vermittlungsstruktur Bezug nimmt, die auch in der Sphäre der Cogitatio zur Vermittlung von Attribut und endlichem Einzelnen anzusetzen ist. Der „unmittelbare Begrif [... ] ist der eigentliche wesentliche Grund der Seele, dasjenige, an dessen modis (Verstand und Willen) alle jene einzelnen Begriffe inhärieren" (Sp 535). „Verstand und Wille" stehen hier für diese Vermittlungsstruktur, die in der Begrifflichkeit der Jacobischen Spinozadarstellung den unmittelbaren unendlichen Modus des Attributs Denken ausmacht. 163 Daß dieser unmittelbare unendliche Modus des Denkens in Verstand und Willen zu finden sei, hatte Schleiermacher aus Jacobis Paragraphen entnommen. 164 162 Ellert Herms forschungsgeschichtlich nicht unwirksame These, Schleiermachers Begriff „Gefühl des Seyns" in den Spinozamanuskripten sei ein Beleg für Schleiermachers Rezeption des von Herms herauspräparierten Jacobischen „Realitätsbewußtseins", berücksichtigt m. E. zu wenig den Kontext, in welchem jener Begriff von Schleiermacher verwendet wird (Vgl. E. Herms: Herkunft und Entfaltung [1974], S. 140. 152). Dieser Kontext ist eindeutig die Spinozarezeption Schleiermachers. Der Begriff ist, wie gezeigt, bereits bei Jacobi Interpretationsbegriff für einen spinozanischen Terminus und Jacobi hat ihn noch dazu in dieser Funktion seinerseits von Hemsterhuis übernommen. Es scheint mir daher etwas weit hergeholt, darin alle von Jacobi vornehmlich im,David Hume' vorgebrachten Merkmale des Gefühlsbegriffs impliziert zu sehen. Ebensowenig scheint mir hier, wie J. Lamm behauptet (The Living God [1996], S. 51f), der religionsphilosophisch aufgeladene Gefühlsbegriff des späten Schleiermacher präfiguriert. Peter Grove (Deutungen des Subjekts [2004], S. 112-115) hat richtig gesehen, daß dieser Begriff im Kontext einer Explikation des Verhältnisses Unendlich-Endlich steht. Groves kantianisierende Interpretation des Ausdrucks als „Bewußtseinsbestandteil a priori" kann aber dessen Funktion für jene Verhältnisbestimmung gerade nicht erhellen. Dies ist m. E. nur dann möglich, wenn man den Begriff in seinem Kontext schlicht als Rekonstruktionsbegriff für die spinozanische Metaphysik liest. 163 Das Prädikat „unmittelbar" des Terminus „der unmittelbare Begriff", das die nichtreflexive Bezogenheit des Denkens auf seinen Gegenstand meint, ist also nicht zu verwechseln mit dem Prädikat „unmittelbar" des Terminus „unmittelbarer unendlicher Modus", das in der Jacobi-Schleiermacherschen Spinozadeutung als Vermittlungsstruktur in der metaphysischen Systemlogik zwischen Attribut und vermittelten endlichen Modi fungiert. S. o. S. 171. 164 Die Bestimmung der unendlichen Modi des Attributs Cogitatio stellt in der Spinozaforschung ein eigenes Problem dar. Im Brief an Schuller (Ep. 64 vom 29.7.1675, Opera IV, S. 278) nennt Spinoza lediglich den „schlechthin tinendlichen Verstand" als unendlichen Modus des Denkens, neben Ruhe und Bewegung als unendliche Modi der Ausdehnung. Wenn Jacobi, dem Schleiermacher hier folgt, Verstand und Wille als unendliche Modi des Denkens nach Spinoza bezeichnet (§ 17, JWA1/1, S. 101), so bezieht er sich hierbei auf eine Formulierung in Eth. I, prop. 32, corol. 2, wonach „Wille und Verstand sich so zu Gottes Natur verhalten, wie Bewegung und Ruhe". Diese Stelle

2. Die Entwicklung einer spinozistischen Individuationstheorie

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Damit ergibt sich für Schleiermacher im Attribut Cogitatio eine den Verhältnissen im Attribut Extensio ganz parallele metaphysiche Struktur: Die Modifikationen der unmittelbaren unendlichen Modi Verstand und Wille sind nichts als die einzelnen Begriffe und Willensbestimmungen. Auch in der Cogitatio zeigt sich das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem so als eine in sich gestufte Inhärenzrelation. Das Einzelne inhäriert nicht direkt dem Attribut, sondern zeigt sich diesem nur mittelbar inhärent. 165 Eine nähere Explikation solcher „mittelbaren Inhärenz" im Attribut Denken gibt Schleiermacher nicht ausdrücklich.166 Im Zusammenhang der Abweisung von Jacobis Mißverständnis, im Denken gebe es keine eigene Kausalität, führt Schleiermacher allerdings ein Argument an, das als Versuch gesehen werden kann, Individuation auch im Attribut Cogitatio zu explizieren. Und zwar käme es ja analog zur Darstellung der Individuation in der Ausdehnung darauf an, den Vereinigungspunkt entgegengesetzter Modifikationen, jetzt aber nicht von „Bewegung und Ruhe", sondern von „Verstand und Willen" zu bestimmen. Der Übergang von einem solchen Vereinigungspunkt zum nächkönnte aber auch so verstanden werden, daß alle genannten Begriffe Modi bezeichnen oder sich auf die natura naturans als natura naturata beziehen. Die Doppelheit von Willen und Verstand ist jedenfalls nicht der Zielpunkt Spinozas in diesem Corollarium. Vgl. auch Eth. Π, prop. 49, corol.: „Willen und Verstand sind ein und dasselbe." Schleiermacher hat durch die Zusammenführung von Willens- und Verstandesbestimmungen im Begriff des Entschlusses, diese von Spinoza intendierte Vereinigung beider Vermögen diviniert. Vgl. dazu das Folgende und zu Spinoza in diesem Punkt s. o. S. 82, Anm. 216. 165 Sp 535. Julia Lamm (The Living God [1996], S. 52) sieht zwar den Zusammenhang des Ausdrucks „Gefühl des Seyns" mit dem Attribut Cogitatio, folgert aber rein aus dem Begriff „feeling" heraus die Möglichkeit eines unmittelbaren Inneseins des Unendlichen: „the attribute of thought, as the immediate re-presentation of Being, is taken to be the original feeling for this being. This explains how the infinite can be immediately ,known' or ,felt' without an accompanying representation." Sie sieht Schleiermachers Gefühlsbegriff denn auch in der Nähe von Jacobis Glaubensbegriff, wobei Schleiermachers „Gefühl" im Gegensatz zu Jacobis „Glaube" für eine „immediate intuition of the infinite in the finite" (S. 54, Hhg. i.O.) stehe. Der genaue Sinn von „immediate", wenn damit ausdrücklich nicht die Negation derjenigen Vermittlung gemeint sein soll, die darin besteht, daß das Unendliche nicht direkt sondern im Endlichen geschaut wird, bleibt dahingestellt. Gegen die Möglichkeit einer unmittelbaren Vorstellbarkeit des Unendlichen durch einen endlichen Verstand hat sich Schleiermacher klar ausgesprochen. Vgl. KDSp 575. Der ontologische Grund dieser unmittelbaren Nichtvorstellbarkeit des Absoluten liegt in der Struktur der mittelbaren Inhärenz des Einzelnen im Attribut. Zum Problem der Unmittelbarkeit der Vorstellung des Absoluten s.u. S. 199. 166 In dem Exkurs zum principium individuationis im Manuskript ,Spinozismus' beschränkt er sich nach der Entwicklung des Individuumsbegriffs im Attribut Extensio auf einen summarischen Hinweis, der in der systematischen Konsequenz des Parallelismus der Attribute gedacht ist: „Eben so in Absicht auf das mit dem ausgedehnten vereinigte Denkende." Allerdings werden auch hier parallel zu den unmittelbaren Modi der Extensio („Bewegung und Ruhe") diejenigen der Cogitatio, nämlich „Verstand und Willen" erwähnt. Vgl. Sp 550. 551. Zum Begriff „mittelbare Inhärenz" s. o. S. 172.

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

sten wäre eine Ursache-Wirkungsrelation nur im Denken. Schleiermacher sieht die Möglichkeit einer solchen Kausalreihung im Denken in derjenigen Tätigkeit des menschlichen Geistes, die er im Anschluß an Jacobi „Entschluß" nennt. 167 Das Denken, so Schleiermacher, schreitet von einem Entschluß zum nächsten fort, und „es läßt sich sehr wol und im Geist des Systems [sc. Spinozas] denken daß der Entschluß [... ] eine Wirkung des vorher gedachten ist" (Sp 529). Als Ausgangs- bzw. Zielpunkt von Veränderungsprozessen, die sich rein auf das Gedachte beziehen, kann der „Entschluß" als Individuationsgestalt des Denkens fungieren. Was ihn in der Sicht Schleiermachers dazu geeignet macht, wird deutlich aus der im obigen Zitat ausgelassenen, von Schleiermacher stereotyp wiederholten Näherbestimmung von „Entschluß". Danach wird dieser „als bloßes Urtheil gedacht [... ] und [schließt] Lust und Unlust in sich". 168 „Urtheil" steht hier für den vorstellenden Verstand, „Lust und Unlust" aber für eine Bestimmtheit des Willens. Ein „Entschluß" kann daher als konstituiert sowohl durch Verstandestätigkeit als auch durch Willensäußerung gelten und somit einen Vereinigungspunkt von Modifikationen der unendlichen Modi Verstand und Willen ausmachen. Dieser Vereinigungspunkt müßte dann im Sinne der Schleiermacherschen Rekonstruktion als endlicher oder mittelbarer Modus des Denkens bezeichnet werden. 169 167 Jacobi nennt in seinem § 34 (JWA 1/1, S. 107f.) die „Fähigkeiten des Verstandes" und die „Entschlüsse des Willens" entsprechend „nichts anders, als die Fähigkeiten des Körpers nach der Vorstellung oder objective". 168 Sp 528. Vgl. Sp 529. 530. In dem bei Jacobi in der Anmerkung zu § 34 (JWA 1/1, S. 108) zitierten Scholium zu Eth. ΠΙ, prop. 2 wird einerseits nur der Entschluß („decretum"), andererseits der „Entschluß und Trieb des Geistes (mentis tarn decretum quam appetitum)" als diejenige Bestimmung unter dem Attribut Cogitatio genannt, die mit der „Bestimmtheit des Körpers (corporis determinatio)" unter dem Attribut Extensio korrespondiere. Schleiermacher dürfte seine Auffassung von Entschluß als Vereinigung von Urteil und Lust-Unlust-Bestimmtheit aus diesem Zitat (decretum et appetitum) entnommen haben. 169 J. Lamm (The Living God [1996], S. 40f.) hat auf die wichtige Rolle des Begriffes „Entschluß" für Schleiermachers Konzeption eines vollkommenen Determinismus hingewiesen, in der auch das Gedachte in sich einem durchgängigen Kausalnexus unterliegt. Sie sieht die Pointe der doppelten Bestimmung eines Entschlusses als Urteil und LustUnlust-Bestimmtheit darin, die Koinzidenz von Ursachen im Denken und in der Ausdehnung zu erweisen. „Urteil" würde auf das Gedachte im Entschluß, „Lust-Unlust" auf das Körperliche hinweisen. Mir scheint dagegen Schleiermacher den „Entschluß" nur als einen Modus des Denkens aufzufassen. Er führt den „Entschluß" gerade dazu an, dem Denken als solchem eine eigene Kausalität zuzuschreiben. Dieser Kausalität wird ausdrücklich abgesprochen, Veränderungen des Körperlichen bewirken zu können, was bei einer psychophysischen Doppelbestimmtheit des Entschlusses schwer erklärbar wäre. Die doppelte Charakterisierung des Entschlusses als Urteil und Lust-Unlust-Bestimmtheit scheint mir darauf abzuzielen, eine Individuationsgestalt im Attribut Denken als Vereinigung der Modifikationen von Verstand und Willen auf den Begriff zu bringen.

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(b) Damit kommen wir zur zweiten Konsequenz von Schleiermachers Korrektur an Jacobi in der Auffassung der Attributenlehre. Nicht nur versucht Schleiermacher - das war der erste Punkt - seine Auffassung spinozistischer Individuationstheorie auch für die geistige Sphäre plausibel zu machen. Aus dem Attributstatus der Cogitatio resultiert auch eine untrennbare Verbindung von Cogitatio und Extensio, Denken und Ausdehnung. Diese Verbindung ist - und das ist der zweite Punkt - nun auch in der Beschreibung von Individuation zu berücksichtigen. Das, was als Individuum bestimmt werden soll, kann weder allein i. S. körperlicher Individuation in Beziehung auf Bewegungsverhältnisse bestimmt werden, noch i. S. geistiger Individuation bloß in Hinsicht auf Begrifflichkeit und Willensäußerung. Beide Hinsichten von Individuation sind immer miteinander verbunden. Schleiermacher drückt dies so aus, daß er vom Individuum als von einem „Aggregat von verschiedenen Mischungen der unmittelbaren und mittelbaren modorum im Verhältnis zu allen anderen ähnlichen Dingen" spricht. 170 Auffallend ist hier die Formulierung „Mischung unmittelbarer Modi". Dies kann nach dem, was in Schleiermachers Sicht über das Verhältnis der Attribute gesagt worden ist, nicht als eine Wechselbeziehung oder kausale Interdependenz der Attribute im Individuum zu verstehen sein.171 Vielmehr soll damit der Gedanke ausgedrückt werden, daß in jedem Einzelding die Mischung mittelbarer Modifikationen jedes der Attribute mit der Mischung mittelbarer Modifikationen des je anderen Attributs zugleich und „verbunden" (KDSp 578) ist. Die Vereinigung von Bewegungsgegensätzen als „Mischung" mittelbarer Modi des Attributs Ausdehnung ist stets verbunden mit der im „Entschluß" gesetzten „Mischung" mittelbarer Modi des Attributs Denken. 172 Die Möglichkeit und Notwendigkeit dieser Verbundenheit hat Schleiermacher, das gilt es hier zu vergegenwärtigen, von der „Parallelität" der Attribute als gleichursprünglicher Eigenschaften der Substanz her verstanden. 173 Wie ist nun diese zwiefache Gestaltungsform der Substanz in Denken und Ausdehnving in Hinsicht auf die Beziehung von Unendlichem und Endlichem zu beschreiben? Welche Charakterisierung gewinnen die Individua dadurch, daß sie als doppelt gegründet erscheinen in dem Unendlichen, oder anders gesagt: auf doppelte Weise der Substanz 170 KDSp 578. Vgl. die äquivalenten Formulierungen in Sp 537 und in KDSp 576. 578, Z. 10-13. 171 Vgl. KDSp 577: „Das Denken ist nicht die Ursach der Ausdehnung, auch die Ausdehnung an sich nicht die Ursach des Denkens, sondern (beides ist nur überall) unzertrennlich verbunden." 172 Vgl. auch KDSp 578: In jedem einzelnen Ding ist genauso wie „in jeder Veränderung eine neue Modifikation der Ausdehnung und eine neue Modifikation des Denkens enthalten, also beides überall auf das genaueste mit einander verbunden". 173 S.o.S. 182.

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

mittelbar inhärieren? Für Schleiermachers Sicht in dieser Frage ist wiederum die Brechung von Spinozas Philosophie durch die Darstellung Jacobis zu berücksichtigen. Es geht hier um die Heranziehung des Begriffs „exprimere". Spinoza verwendet diesen Begriff zur Bezeichnung ganz unterschiedlicher Relationstypen.174 Er gebraucht ihn sowohl für das Verhältnis von Attribut und Modus, 175 als auch für die Relation von Substanz und Attribut. Im ersten Fall ist mit der Relation des exprimere eine Kausalrelation impliziert, im zweiten, der für den hier untersuchten Zusammenhang einschlägig ist, führt das exprimere keineswegs etwa eine UrsacheWirkungs-Beziehung zwischen Substanz und Attribut mit sich, sondern verweist vielmehr auf die Konstitution des Wesens der Substanz durch ein Attribut. Zu beachten ist dabei, daß diese Konstitution für die göttliche Substanz einer Diversität fähig ist, weil ihr (unendlich viele) verschiedene Attribute zukommen. Jedes der Attribute konstituiert auf seine Weise die göttliche Substanz. Das genau ist gemeint, wenn Spinoza davon spricht, „unumquodque [attributum] infinitam essentiam in suo genere exprimit" (Eth. I, prop. 16, dem.). 176 „Exprimere" fungiert so als allgemeiner Terminus Spinozas für die Beziehung von Substanz und Attribut, der noch über der Diversität der Attribute steht. Jacobi macht diese Ansicht Spinozas - bezogen auf die beiden Attribute Cogitatio und Extensio - dem jungen Schleiermacher in einem Zitat aus Eth. II, prop. 7, schol. zugänglich, das er zu seinem § 14 als Beleg notiert: „Es ist zu erinnern", heißt es in diesem Zitat Spinozas, „daß, was auch immer von einem unendlichen Verstand als eine Essenz der Substanz ausmachend [constituens] wahrgenommen werden kann, nur zu einer einzigen Substanz gehört, und daß folglich die denkende Substanz und die ausgedehnte Substanz ein und dieselbe Substanz sind, die bald unter diesem, bald unter jenem Attribut aufgefaßt wird. Dann gilt auch, daß ein Modus von Ausdehnung und die Idee dieses Modus ein und dasselbe Ding sind, aber in zwei Weisen ausgedrückt [duobus modis expressa]". 177 Jacobi greift in seiner Darstellung Spinozas beide Aspekte in der Übersetzung des „exprimere" mit „ausdrücken" auf. Einerseits gibt er die 174 175 176 177

S. o. S. 32ff. Vgl. Eth. I, prop. 25, corol. S. o. S. 42. Siehe dazu oben S. 49ff. JWA \/\, S. lOOf; Sp 517: „revocandum nobis in memoriam est id [... ] quod quicquid ab infimto intellectu percipi potest, tamquam substantiae essentiam constituens id onme ad unicam tantum substantiam pertinet, et consequenter quod [Schleiermacher (Sp 517) liest „sub" statt „quod"] substantia cogitans, et substantia extensa una eademque est substantia, quae iam sub hoc iam sub illo attributo comprehenditur. Sic etiam modus extensionis et idea illius modi una eademque est res; sed duobus modis expressa." Hhg. u. Übers. C.E.

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Konstitutionsfunktion des „exprimere" im Verhältnis von Substanz und Attributen wieder, wenn er in seinem § 42 ausfuhrt, alle Attribute seien „substantielle wesenhafte Ausdrücke eines und desselben reellen Dinges [d. h. der göttlichen Substanz]". 178 Andererseits hat er auch die Kausalrelation von Attribut und Modus mit dem Begriff des Ausdrucks im Blick. Dahingehend stellt er in Beilage VII fest, Spinoza habe die „ewige unendliche Actuosität der Materie [... ] in dem Verhältnisse von Bewegung und Ruhe der naturae naturatae ausgedrückt" 179 gefunden. Schleiermachers kritischer Kommentar zu der letztgenannten Stelle geht ebenso auf beide Ebenen ein: „Die Kraft 180 und alles was ihr zugehört komt von Ewigkeit der Substanz zu. Die Veränderungen des Ausgedehnten und Denkenden sind nur verschiedene aber parallele Ausdrücke ihrer Handlung. Aber Spinoza fand diesen unmittelbaren Modus nicht nur in dem Verhältniß von Bewegung und Ruhe, sondern auch in dem von Verstand und Wille ausgedrückt" (Sp 556). Schleiermacher betont die ,Parallelität' im Ausdruck der Substanz durch die Attribute Ausdehnung und Denken und folgert, daß auch auf der Ebene der Modi eine ,Parallelität' des „Ausdrucks" herrschen müsse. Der „Ausdruck" göttlich-substantieller Kausalität kann daher nicht auf die Ausdehnung beschränkt sein und sich in Bewegungsverhältnissen manifestieren, sondern muß gleichermaßen im Denken und zwar als Verhältnis von Verstand lind Willen aufzufinden sein. Statt „ausdrücken" spricht Schleiermacher schon in den Spinozamanuskripten in diesem Sinne von „darstellen": „Die Substanz muß beständig [... ] alle möglichen Modifikationen von Bewegung und Ruhe, von Vorstellung und Begierde darstellen" (Sp 551). Der später in den ,Reden' zentrale Begriff der Darstellung erscheint hier in der systematischen Funktion von Spinozas Begriff „exprimere". Wie Spinoza hat Schleiermacher dabei einen weiten Begriff vor Augen. „Ausdruck" bzw. „Darstellung" ist ihm eine allgemeine Charakterisierung der Verhältnisse von Substanz, Attribut und Modus unabhängig von den Spezifika der bekannten Attribute Denken und Ausdehnung. Ja, er verteidigt diesen weiten Begriff im Namen Spinozas geradezu gegen Jacobis Einseitigkeit, nur im Ausgedehnten „Ausdruck" göttlich-substantieller Kausalität zu sehen. Auch in den ,Reden' wird Schleiermacher „Darstellung" in diesem allgemeinen Sinne gebrauchen als einen Begriff, der auf körperliche wie auf geistige Phänomene bezogen werden kann. 181 In den Spinozamanuskripten verwendet er den Begriff „Darstellung" allerdings außerdem noch in einem engeren Sinne, und zwar in termi178 179 180 181

JWA 1/1, S. 112; Sp 523. Hhg. C.E. Beilage VII, JWA 1/1, S. 253. Jacobis „Aktuosität der Materie" gibt Schleiermacher hier mit „Kraft" wieder. Vgl. Reden 50. 51. 56 u.ö. S. u. Teil m , S. 351.

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nologischer Anlehnung an Jacobi im Gegenüber zu „Vorstellung". Jacobi hatte das Begriffspaar „darstellen - vorstellen" in seinem ,David Hume' in Bezug auf den Wirklichkeitsstatus von Ideellem im Gegensatz zu Reellem gebraucht. Vorstellungen seien nicht an sich wirklich, sondern nur in Bezug auf ihre Gegenstände, die Wirkliches darstellen.182 Jacobi unterscheidet hier das „wirkliche Ding" vom „empfindenden Ding", wobei das Empfindende als vorstellend auf das sich darstellende Wirkliche als auf seinen Gegenstand bezogen ist. Für seine These, daß „in der bloßen Vorstellung das Wirkliche selbst, die Objektivität, nie dargestellt werden" kann, beruft sich Jacobi auf Leibniz und dessen Unterscheidung von „exprimere" und „repraesentare". 183 Nach Jacobi verhalten sich also Geistiges zu Materiellem wie Vorstellung zu Darstellung. Man könnte hier auch von der Unterscheidung von ontischer Repräsentation („Darstellung") und mentaler Repräsentation („Vorstellung") reden, die bei Jacobi dem Körperlichen einerseits und dem Geistigen andererseits zugeschrieben werden. So einfach ist Schleiermachers Sicht auf diese Sache nicht. Wenn er dieses Begriffspaar heranzieht, so kommt auch hier seine Auffassung zum Zuge, gegen Jacobi die Cogitatio im Sinne Spinozas als Attribut genauso wie die Extensio zu sehen und dem Geistigen neben seiner ideellen Funktion auch eine reelle Funktion zuzusprechen. Schleiermachers Charakterisierung von „Darstellung" und „Vorstellung" steht im Zusammenhang einer Erklärung, wie die Verschiedenenheit der „parallelen Ausdrücke" der Substanz aufgefaßt werden kann. Mit „Darstellung" und „Vorstellung" beschreibt er die spezifische Art des Ausdrucks, wie sie in Ausdehnung und Denken verschieden ist. 184 Im Gegensatz zu Jacobi, der Ideelles, das vorstellend ist, dem Reellen, das darstellt, ausschließend entgegenstellt, zeigt sich in Schleiermachers Verwendung dieser Begriffe ein differenzierteres Bild. Während Ausgedehntes als bloßer Ausdruck der Substanz nur darstellend ist, muß dem Denken i. S. von Spinozas Attribut Cogitatio nach Schleiermacher eine doppelte Charakterisierung zugemessen werden. Denken ist als Attribut darstellend: Es ist Ausdruck der Substanz. Darüberhinaus hat das Denken aber auch noch seine spezifische Funktion: es ist auf einen Gegenstand mental bezogen. Schleier182 DH 208. 232. 183 Ebd., S. 236. 243. An der letztgenannten Stelle verzeichnet Jacobi ein Leibniz-Zitat aus dessen Princ. Phil. § 64: „Et sicuti hoc corpus exprimit totum universum per corvnexionem omnis materiae in pleno, ita etiam anima totum repraesentat universum, dum repraesentat hoc corpus, quod ad ipsam spectat peculiari quadam ratione" (Hhg. z.T. bei Jacobi). 184 Vgl. Sp 530. 531; KDSp 578. Synonym zu „Darstellung" in diesem engeren Sinne steht auch einmal „Ausdruk" (ebd.). Anstelle von „Vorstellung" kommt auch „Bewußtseyn", „Begrif" (ebd.) oder „Gefühl" (Sp 534) vor. Zu den drei letztgenannten Termini s.o. S. 186.

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macher behauptet also für das Geistige eine doppelte Repräsentationsrelation. Es ist qua Attribut ontische Repräsentation und als spezifisch Geistiges hat es zugleich die Funktion mentaler Repräsentation. Jacobi verkürzt also Schleiermachers Ansicht nach das Geistige, wenn er es in seiner mentalen Repräsentationsfunktion aufgehen läßt und die Ebene des „Darstellens" im Sinne der ontischen Repräsentation allein auf die Extensio beschränkt. Terminologisch etwas irreführend wird die Sache nun dadurch, daß Schleiermacher die ontische Repräsentation, die das „exprimere" für das Denken zu vertreten hat, als „Vorstellung" bezeichnet. Diesen Begriff der „Vorstellung" stellt er der „Darstellung" im Sinne Jacobis gegenüber, als des „Ausdrucks" der Substanz in der Extensio. Das Begriffspaar „Vorstellung" und „Darstellung" kommt also bei Schleiermacher an dieser Stelle als ein Gegensatz innerhalb der ontischen Repräsentation zu stehen. In der Sphäre der Cogitatio heißt diese ontische Repräsentation „Vorstellung", in der Extensio heißt die ontische Repräsentation „Darstellung". Beide Begriffe stehen also für Arten des „Ausdrucks" der göttlichen Substanz unter verschiedenen Attributen. Hatte Schleiermacher dieses „ausdrücken/exprimere" nun ebenfalls als „darstellen" verstehen können, so kann man sagen, dieses „darstellen" in einem weiteren Sinne sei in sich diversifiziert in Bezug auf die attributive Qualifizierung. Nämlich als Darstellen/exprimere in der geistigen Sphäre (= „Vorstellung") einerseits und in der körperlichen Sphäre andererseits (= „Darstellung" im engeren Sinne). Für die Charakterisierung des „endlichen Individuums" nun hat diese Auffassung von Körperlichem und Geistigem als verschiedener, aber gleichursprünglicher und untrennbarer185 Ausdrucksweisen der Substanz Konsequenzen. Wenn sich nämlich die Substanz durch ihre beiden Attribute in jedem Individuum mittelbar auf zweifache Weise ausdrückt, so heißt das, daß Einzelnes ebenso auf zweifache Weise beschrieben werden kann. „Jede Veränderung eines Dinges ist ein neues Verhältniß desselben gegen die andern: die Verhältniße eines Dinges laßen sich aber von zwei Seiten ansehn und bestehn gleichsam aus zwei einander genau harmonierenden Theilen, der Darstellung dieses neuen Verhältnißes, dem äußerlichen Theil der in der Ausdehnung besteht, und der Vorstellung desselben, dem innerlichen Theil, der im Denkenden besteht. Weil beide sich auf das ganze Verhältniß beziehn, so ist alles, was in der Darstellung ist auch in der Vorstellung, und alles, was in der Vorstellung ist, auch in der Darstellung." 186

185 Vgl. KDSp 577. S. o. Anmerkung 171 auf S. 191. 186 Sp 530. Hhg. C.E.

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Hatte Schleiermacher den Begriff des endlichen-Singulären als Vereinigungspunkt entgegengesetzter Modifikationen gefaßt, so ergibt sich nun auch für diese Charakterisierung eine doppelte Ausführung. Der Vereinigungspunkt kann sowohl in der „äußeren Einheit" von Bewegungsverhältnissen im Ausgedehnten, als auch in einer „inneren Einheit" von geistigen Prozessen im Denken gesetzt sein: Vereinigungspunkt entgegengesetzter Modifikationen„Jedes einzelne Ding ist ein Aggregat von verschiedenen Mischungen der unmittelbaren und mittelbaren modorum im Verhältniß zu allen anderen ähnlichen Dingen. Die äußere Einheit dieser Beziehungen, das ausgedehnte ist der Leib des Dinges, die innere Einheit, das denkende ist die Seele; jener ist gleichsam die Darstellung, der Ausdruk der Verhältniße des Dinges, diese ist das Bewußtseyn, der Begrif derselben [d.h. die Vorstellung der Verhältniße des Dinges]." 187 Von einer äußeren Einheit spricht Schleiermacher demnach in Bezug auf die Darstellung der Verhältnisse des Einzeldings im Zusammenhang der ausgedehnten Dinge; von einer inneren Einheit in Bezug auf die Vorstellung dieser Verhältnisse des Einzeldings im Zusammenhang der denkenden Dinge. Schleiermacher verbindet mit diesen beiden Einheitshinsichten, welche jedes Individuum kennzeichnen, die traditionellen Begriffe von Leib und Seele. „Leib" heißt die Einheit aller Verhältnisse eines Individuums, insofern diese Verhältnisse äußerlich, d. h. körperlich-ausgedehnt ausgedrückt oder „dargestellt" sind. „Seele" beschreibt die Einheit derselben Verhältnisse, aber insofern sie innerlich, d. h. geistig-gedanklich ausgedrückt oder „vorgestellt" sind. Leib und Seele erscheinen hier also als zwei Ausdrucksweisen derselben Einheit 188 von Verhältnissen, anhand derer etwas als ein endliches Individuum angenommen wird. (c) Ein weiteres ist es, wenn dieses doppelt charakterisierte endliche Einzelding nun als Gegenstand einer repräsentierenden Idee thematisch wird. Auch hier mußte Schleiermachers Korrektur an Jacobis Verständnis des spinozanischen Attributs Cogitatio Folgen für die Theorie von Einzelheit haben. Wir kommen damit zur dritten Konsequenz, die sich aus dieser Korrektur für Schleiermacher ergeben hat. War in Jacobis Spinozasicht der Gegenstand des Denkens auf die körperlich-ausgedehnte Welt beschränkt, so mußte Schleiermachers Auffassung, das Denken sei, insofern es Attributsstatus habe, in gleicher Weise wie die Ausdehnung „Ausdruck" der Substanz, auch Konsequenzen für die Bestimmung des Gegenstandsbereichs des Denkens nach sich ziehen. Wenn nämlich das Denken auf das substantielle Sein als auf seinen Gegenstand bezogen ist und dieses sich auf doppelte Weise ausdrückt, so kann der Gegenstandsbereich des Denkens nicht auf das Ausgedehn187 KDSp 578. „Bewußtseyn" und „Begrif" stehen hier synonym zu „Vorstellung". S. o. S. 186. 188 Vgl. das von Jacobi angegebene Zitat aus Eth. Π, prop. 7, schol. (s. o. Anm. 177).

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te beschränkt sein, sondern muß das Reelle (im Sinne von res) in seiner zweifachen Ausdrucksgestalt umfassen. Das bedeutet, daß auch das Denken selbst, insofern es Ausdruck der Substanz ist, Gegenstand des Denkens ist. 189 Dies hat auch Konsequenzen für das Verständnis des Einzelnen als eines Gegenstands einer Vorstellung. Hier vollzieht Schleiermacher eine folgenreiche Umkehrung der Blickrichtung, die durch die Betrachtung von Dingen als Gegenständen von Vorstellungen möglich wird. Bisher war Schleiermachers Rekonstruktion Spinozas vom Problem der Individuation, also der Vereinzelung und Differenzierung des Einen und Identischen, ausgegangen: Die Substanz als das Eine und Identische drückt sich vermittelt durch Individuationsprinzipien im Einzelnen aus. Diese Betrachtung konnte, wie wir gesehen haben, sowohl für Dinge als ausgedehnte als auch als denkende angestellt werden. Werden nun aber die Dinge als Gegenstände von Vorstellungen thematisch, so läßt sich dieses Ausdrucksverhältnis auch umgekehrt formulieren: In den Einzeldingen oder endlichen Individuen ist die Substanz mittelbar ausgedrückt. Und da dieser Ausdruck der Substanz in Ausdehnung und Denken auf zweifache Weise konstituiert ist, sind die Dinge, sofern sie Gegenstände von Vorstellungen werden, in diesen Vorstellungen auch in zweifacher Ausdrucksgestalt mental repräsentiert. So gilt, daß „kein Ding sich uns als ein einzelnes ausgedehntes darstelle, welches nicht zugleich denkend und keins als ein einzelnes denkendes, welches nicht zugleich ausgedehnt sei" (KDSp 577). Hier wird der Darstellungsbegriff in dem weiten Sinne des spinozanischen „exprimere" durch die reflexive Wendung „uns" verschränkt mit dem Gesichtspunkt einer mentalen Repräsentation. Auf die weitreichenden Implikationen dieser Verschränkung wird in den folgenden Abschnitten einzugehen sein. Festzuhalten ist hieran zunächst, daß ein endliches Einzelding nach Schleiermachers Ansicht, insofern es Gegenstand einer Vorstellung wird, als ein Individuiertes von Ausdehnung und Denken zugleich angesehen werden muß. Wird in der Richtung dieses Perspektivenwechsels vom Einzelding als Gegenstand einer Vorstellung auf die Substanz zurückgesehen, so ergibt sich die Möglichkeit einer Aussage über die Substanz von den Einzeldingen her. Und zwar sind hier beide Strukturprinzipien der spinozanischen Metaphysik von Belang: das in der Substanz-Modus-Struktur ausgedrückte Theorem der unendlichen Kausalität der Substanz und das in 189 Vgl. KDSp 579: „ich sehe nicht ein, warum nur das ausgedehnte der Gegenstand des Denkens seyn kann, und nicht auch die Art wie das ausgedehnte gedacht wird [... ] ich begreife nicht wie Spinoza sagen kann die Seele erfährt nichts als die Beschaffenheit des Körpers, wenigstens macht sie doch aus dieser Folgerungen, welche nur der Natur des denkenden gemäß sind [... ] Hier vermuthe ich, daß manches im Spinoza anders ist, als in Jacobis Darstellung".

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

der Substanz-Attribut-Struktur ausgedrückte Theorem der unendlichen Realität der Substanz. Schleiermacher faßt diesen Perspektivenwechsel unter Berücksichtigung beider Strukturprinzipien in eine einzige Kurzformel, „daß jedes endliche Ding alle Eigenschaften der Gottheit offenbaren müsse". 190 Die Details dieser gedrängten Formulierung haben je ihre eigene Pointe. Zunächst fällt auf, daß hier nicht mehr nur von den beiden bekannten Attributen Ausdehnung und Denken die Rede ist, sondern von „allen Eigenschaften der Gottheit", d. h. Attributen der göttlichen Substanz. Diese Entschränkung hin auf die Totalität der unendlich vielen Attribute, die Schleiermacher hier aus Jacobis Darstellung entnimmt, 191 wird in den,Reden' eine wichtige Rolle spielen. Dort erscheint dieser spinozanische Grundgedanke in der Ausrufung der Unendlichkeit der Religion nach dem Durchgang durch verschiedene Arten der „Anschauung des Universums". 192 Eine zweite Überlegung gilt dem Begriff des „Offenbarens" in jener Formulierung. Schleiermachers Feststellung ist, daß „jedes endliche Ding alle Eigenschaften der Gottheit offenbaren" müsse. Er hatte diesen Gedanken einer Anmerkung Jacobis in dessen Paragraphen entnommen, wo Jacobi über die quantitative Unendlichkeit der spinozanischen Attribute einen brieflichen Einwand Tschirnhausens gegenüber Spinoza referiert. Tschirnhaus hatte seinerzeit eingewandt, es müsse so viele Welten wie Attribute geben und aus Spinozas Reaktion, Ausdehnung und Denken gäben nach seiner Philosophie auch nur „Ein Weltall", gefolgert, daß dann, unendliche Attribute vorausgesetzt, auch „jedes Einzelding auf unendliche Weisen ausgedrückt [infinitis modis expressam]" sein müsse. 193 Jacobi gibt diese Formulierung Tschirnhausens in der Paraphrase so wieder, daß „in dem Begriffe eines jeden einzelnen Dinges, die Begriffe aller verschiedener Eigenschaften [sc. Attribute der Substanz] enthalten seyn müßten". 194 Jacobi hat also in seiner Paraphrase bereits die Blickrichtung geändert. Statt vom unendlich vielfältigen Ausgedrücktsein des Ein190 KDSp 575. Daß Schleiermacher diesen Gedanken als Behauptung eines „Ungenannten" gegenüber Spinoza referiert, ändert nichts an dem zentralen systematischen Stellenwert desselben in Schleiermachers Spinozarekonstruktion. Der Ungenannte ist Ehrenfried Walther Tschirnhaus, der, z.T. via Schüller, mit Spinoza in Briefkontakt stand. Vgl. Ep. 63-66, Opera IV, S. 274-280, und Jacobis Paraphrase, die Schleiermacher vor Augen hat, in: JWA 1/1, S. 104. 191 Vgl. JWA 1/1, S. 103: „von den unendlichen Eigenschaften, welche der unendlichen Substanz von Spinoza zugeschrieben werden". 192 Vgl. Reden 104f. S. u. Teil m , S. 359. 193 Ep. 65 von Tschirnhaus an Spinoza vom 12.8.1675, Opera IV, S. 279: „Quod [... ] mundum utique unicum esse, id tarnen exinde non minus quoque darum est eum ipsum infinitis modis expressum; ac proinde unamquamque rem singularem infinitis modis expressam esse." 194 JWA 1/1, S. 104.

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zeldinges zu reden und also von der Attributsstruktur her auf das Einzelne zu sehen, macht er eine Aussage über die Attributsbegriffe ausgehend vom Begriff des Einzeldings. Wenn Schleiermacher sich nun notiert, daß „jedes endliche Ding alle Eigenschaften der Gottheit offenbaren müsse", wird aus dem „Ausgedrücktsein" des Einzeldinges bei Tschirnhaus über Jacobis „Enthaltensein" der Attributsbegriffe im Begriff des Einzeldinges ein „offenbaren". Was Jacobi also noch als allgemeinen metaphysischen, nämlich auf die Struktur des Denkens bezogenen Sachverhalt formuliert, rückt Schleiermacher in die Perspektive des vorstellenden Subjekts. Denn die Frage, die sich für Schleiermacher aufgetan hat, ist nun, inwiefern ein einzelnes Ding dem vorstellenden Subjekt einen hinsichtlich der Attributsstruktur vollständigen Ausdruck der „Gottheit" offenbaren könne. Das Verhältnis von Substanz und endlichem Modus wird damit von Seiten des Endlichen her betrachtet und zwar insofern es Gegenstand einer Vorstellung ist. Schleiermachers Auffassung in dieser Frage ist die weitreichendste Konsequenz aus seinem gegenüber Jacobi neuen Verständnis des spinozanischen Attributs Cogitatio und zugleich der Scharnierpunkt zu seiner transzendentalphilosophisch gewendeten Interpretation Spinozas. Denn Schleiermacher ist es jetzt nicht mehr nur um eine Rekonstruktion der metaphysischen Struktur des Absoluten im Blick auf eine Theorie der Individuation zu tun, sondern es geht ihm hier um die Vorstellbarkeit des Absoluten nach den Prinzipien von Spinozas Philosophie. Der Ausgangspunkt ist die klare Ablehnung einer Vorstellbarkeit der göttlichen Substanz „abgesondert von den endlichen Dingen betrachtet". Als solche ist sie die „unvorstellbare Materie", von der weder Begriff noch Anschauimg möglich ist. 195 Dies gilt - und hierauf liegt der ganze Ton - „abgesondert von den endlichen Dingen betrachtet". D. h. nicht vorstellbar ist die Substanz in ihrem An-sich-Sein. Aus der Perspektive des vorstellenden Subjekts bedeutet dies, daß die Substanz unabhängig von ihren Modifikationen dem vorstellenden Subjekt schlechthin unzugänglich ist. Sie kann niemals an sich als Gegenstand einer Vorstellung vorkommen. Ihr eignet eine ,,vollkomne[n] unmittelbarefn] Nichtvorstellbarkeit" (KDSp 575). 196 Allerdings - und das ist Schleiermachers Zielpunkt - besitzt die absolute Substanz bei dieser vollkommenen unmittelbaren Nichtvorstell195 KDSp 567: „ich möchte es [sc. das Unendliche Ding] die unvorstellbare Materie nennen, denn Spinoza selbst sagt, m a n könne sich keinen allgemeinen Begrif davon machen und anschauen kann m a n es auch nicht.". Vgl. auch KDSp 569. 196 Diese frühe Einsicht, die für Schleiermachers Religionsverständnis nicht hoch genug veranschlagt werden kann, wird dann in der Vorlesung zur Geschichte der Philosophie v o n 1812 ebenfalls an Spinoza festgemacht. Vgl. SW ΙΠ/4.1, S. 2 7 5 - 2 8 2 (zu Spinoza), hier S. 282: „Das Erkennen der Dinge in Gott ist aber zugleich die Erkenntnis Gottes, weil Gott nicht unmittelbar anzuschauen ist" (Hhg. C.E.).

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barkeit „eine unendliche (mittelbare) Vorstellbarkeit" (ebd.)· Diese Formulierung ist die konzentrierteste Zusammenfassung seiner Spinozainterpretation, die es Schleiermacher ermöglicht, Spinoza mit kantischtranszendentalphilosophischen Gedanken zu verschränken. Sie wird uns im Verlauf des nächsten Abschnitts also noch beschäftigen. Um diesen Gegensatz von „unmittelbarer Nichtvorstellbarkeit" und „mittelbarer Vorstellbarkeit" zu verstehen, ist es wichtig zu sehen, auf welcher Ebene hier von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit die Rede ist. Der hier verwendete Begriff von Unmittelbarkeit hat offensichtlich noch keine Differenz des epistemischen Status der Leistung des vorstellenden Subjektes Blick, sondern ist ganz aus der Logik der metaphysischen Bestimmungen her gedacht. Die Stufigkeit der realistischen Fundierungsverhältnisse, die Schleiermacher auf den Begriff der „mittelbaren Inhärenz" der endlichen Individuen in der göttlichen Substanz gebracht hatte, werden hier in eine idealistische Perspektive gerückt. Daraus ergibt sich die Frage nach der Möglichkeit, wie die göttliche Substanz als Ideatum einer Vorstellung gedacht werden kann. Schleiermachers These ist es nun, daß sie nicht an sich, sondern nur in ihren endlichen Modifikationen Ideatum von Vorstellungen sein kann. Mit anderen Worten betrifft die Ebene der Vermittlung nichts anderes als das Verhältnis von Substanz und endlichem Modus, und zwar insofern es als Gegenstand einer Vorstellung betrachtet wird. Die besondere Pointe dieser Überlegungen ist es, daß die Frage nach den Prinzipien dieser Vermittlung der Vorstellbarkeit der göttlichen Substanz mit der Frage nach den metaphysischen Individuationsprinzipien konvergiert. Dies ist m. E. der gedankliche Kristallisationspunkt, an dem Schleiermacher von Spinoza aus Spinozismus und Kritizismus aufeinander zu beziehen vermag. Die Konvergenz der Frage nach den Vermittlungsprinzipien einer epistemischen Bezugnahme auf das Absolute mit der Frage nach den Prinzipien metaphysischer Vereinzelung, ermöglicht es, metaphysische Einsichten für die epistemischen Fragestellungen fruchtbar zu machen. Die metaphysische Frage nach einem Individuationsprinzip lautete: Was individuiert die Dinge? Nun erscheint diese Frage in der Wendung: Was individuiert den Gegenstand von Vorstellungen? Mit dieser Transformation der Fragestellung macht sich Schleiermacher das Erklärungspotential der Philosophie Spinozas in der Lösung des metaphysischen Individuationsproblems für die epistemisch gewendete Fragestellung zunutze. Auch für das Problem der Individuationsprinzipien der Ideata hat Spinoza etwas zu bieten. Der Schlüssel liegt dabei in der Auffassimg der Prinzipien der Vermittlung, die verständlich machen, wie die eine Substanz sich in einer unendlichen Vielheit endlicher Individuen ausdrückt. Waren diese von Schleiermacher in den unendlichen Modi der jeweiligen Attribute gefunden worden, so überträgt Schleiermacher dies

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nun in Hinsicht auf die Fragestellung, wie endliche Individuen als Ideata von Vorstellungen erklärbar sein können. Er bewegt sich hier - das muß festgestellt werden - in einer freien Extrapolation und selbständigen Weiterführung dessen, was er als Spinozas Philosophie rekonstruiert hat. Die Hauptrolle spielt dabei eine eigenwillige Umdeutung der spinozanischen Attributenlehre. Da sich die Motive dieser Umdeutung nur vor dem Hintergrund von Schleiermachers spinozistischer Interpretation gewisser kantischer Theoreme verstehen lassen, unterbrechen wir die Rekonstruktion von Schleiermachers Spinozarezeption an diesem Punkt und fragen nach dem in den Spinozamanuskripten greifbaren Kant-Verständnis Schleiermachers und deren Verschränkung mit spinozistischen Grundgedanken.

D. Die Konstruktion einer spinozistisch-idealistischen lndividuationstheorie 1. Die spinozistische Fortschreibung kantischer Philosophie Schleiermachers Spinozarezeption in den Jugendmanuskripten dokumentiert eine Auseinandersetzung des jungen Denkers mit den großen philosophischen Entwürfen. Unter dem Leitgesichtspunkt der Individuationsproblematik trägt Schleiermacher Spinozas Philosophie nicht nur vergleichend an Leibniz heran, sondern verwendet große Bemühung darauf, die Leistungsfähigkeit der Philosophie des Niederländers auch gegenüber dem „kritischen Idealism" Immanuel Kants herauszuarbeiten. Der Vergleich mit Kant legte sich für Schleiermacher schon biographisch nahe, da seine vorangegangenen vor allem ethischen Themen gewidmeten Studien in der Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie Kants entstanden waren. 197 Seine Erstbegegnung mit Kant hatte Schleiermacher jedoch in der Auseinandersetzung mit dessen theoretischer Philosophie. Schon im Brüder-Seminar in Barby hatte er die,Prolegomena' studiert. 198 Nun, in den Spinozamanuskripten, nimmt er diesen Faden wieder auf. Kant ist ihm hier Gesprächspartner in Fragen der theoretischen Philosophie. Jacobi hat vermutlich den konkreten Anlaß gegeben, Kant und Spinoza aufeinander zu beziehen, indem er in seinen Spinozabriefen zur Erläuterung der aufgestellten Paragraphen nicht nur Originalzitate aus Spinozas Werken beibrachte, sondern auch solche aus Kants ,Kritik

197 Vgl. G. Meckenstock, Deterministische Ethik (1988), S. 25-180; P. Grove: Deutungen (2004), S. 23-156, bes. S. 25-51. 198 Vgl. Brief Nr. 80 an seinen Vater vom 14.8.1787, KGA V / 1 , S. 92.

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der reinen Vernunft', um die Lehre Spinozas „faßlicher zu machen". 199 In der ersten Auflage hatte Jacobi noch geschrieben, diese Stellen von Kant seien „ganz im Geiste des Spinoza", dies aber wegen des darin gesehenen Vorwurfs des Spinozismus an Kant in der zweiten Auflage abgemildert: „Daß die kantische Philosophie dadurch des Spinozismus nicht beschuldigt werde, braucht man keinem Verständigen zu sagen." Schleiermacher dachte nicht daran, Kant Spinozismus vorzuwerfen, sondern nahm die Jacobischen Hinweise als Aufforderung, Gemeinsamkeiten und Differenzen beider Positionen aufzusuchen. In dieser Absicht tätigt Schleiermacher Anfragen an Kant und zwar von einem virtuell eingenommenen spinozistischen Standpunkt aus. Seine eigene Rekonstruktion von Spinozas Philosophie dient ihm dabei als Hintergrund für eine spinozistische Fortschreibung kantischer Theoreme. In ähnlicher Weise wie Schleiermacher ausgehend von spinozanischen Grundsätzen Konsequenzen in einer transzendentalphilosophischen Richtung weitergedacht hat, wie sie im letzten Abschnitt dargestellt wurden, so entwickelt er nun Konsequenzen kantischer Philosophie in spinozistischer Richtung. Kant mit dem, was ihm an Spinoza aufgegangen ist, weiterzuführen und Spinoza mit dem, was ihm an Kant eingeleuchtet hat, zu verbinden ist das Programm. Die Möglichkeit dieser Verbindung von Spinoza und Kant liegt für Schleiermacher im Aufsuchen struktureller Parallelen beider Systeme im Blick auf die Leitproblematik der Individuation. Die dabei ausgemachte sachliche Nähe entsteht freilich erst unter seiner eigenen Feder, und zwar durch die transzendentalphilosophisch motivierte Weiterführung Spinozas einerseits und durch die spinozistische Revision kantischer Philosophie andererseits. Bevor die von Schleiermacher aufgestellten Parallelen dargestellt und der Ertrag der gedanklichen Verschränkung von spinozistischer und kantischer Philosophie herausgestellt werden kann, wollen wir uns den beiden Hauptpunkten von Schleiermachers spinozistischer relecture Kants zuwenden. Die kritischen Anfragen Schleiermachers an Kant betreffen dessen Lehre von Noumena und Phaenomena. Hierin findet Schleiermacher Inkonsequenzen. Deren Überwindung, die Schleiermacher selbst unternimmt, steht unter dem Leitgesichtspunkt des Individuationsproblems. Zuerst wird der Begriff der Noumena kritisch beleuchtet, sodann richtet Schleiermacher sein Augenmerk auf die Phaenomena. In Bezug auf die Frage der Individuation findet er die kantische Lehre in beiden Punkten unbefriedigend. Weder scheint die Rede von einer Vielheit von Noumena 199 LSp 2 , JWA1/1, S. 96.105. Schleiermacher schreibt die Zitate aus KrV A 25. 32.107 nicht ab. Vermutlich, weil er die ,Kritik der reinen Vernunft' selbst zur Verfügung hatte. Bereits 1787 im Jahr des Erscheinens der zweiten Auflage hat er den Plan, sie zusammen mit seinem Onkel zu studieren (vgl. den in der vorigen Anm. genannten Brief).

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transzendentalphilosophisch ausgewiesen, noch vermag Kant in Schleiermachers Augen eine schlüssige Antwort zu geben, wie die Vereinzelung der Erscheinungen transzendentalphilosophisch zu erklären wäre. 1. Die erste Anfrage betrifft die Vereinzelung der Noumena. Dabei ist zu bedenken, daß Schleiermacher den Begriff Noumenon/Noumena hier durchgängig mit dem Begriff des Ding-an-sich identifiziert. Schleiermacher hat also an dieser Stelle nicht die Differenzierung von Noumena im Sinne der kantischen Differenz von Gottes-, Welt- und Ich-Idee vor Augen, sondern fragt nach der Möglichkeit einer Vielheit eines der Erscheinung zugrundegelegten An-sich. Eine naheliegende Deutung für das Individuationsproblem angesichts der Unterscheidung von Noumena und Phaenomena wäre es, die einzelnen Erscheinungen als Erscheinung von einzelnen Dingen-ansich zu verstehen. 200 Demgegenüber versucht Schleiermacher deutlich zu machen, daß die Einzelheit der Erscheinungen keineswegs aus der Einzelheit zugrundeliegender Dinge-an-sich geschlossen wird, sondern sich aus Prinzipien ergibt, die bloß der Sphäre der Erscheinimg angehören. Dies gelte für die ganze Erscheinungswelt: sowohl für die „ausgedehnten Dinge" als auch für „denkenden Dinge". 201 Denn, was auf der einen Seite die körperlichen Gegenstände betrifft, so liegt deren Individuation „bloß im vorstellbaren" (KDSp 574). Wir stellen uns Einzelheit derselben vor als „Cohäsion, die identische Vereinigung der Kräfte einer gewißen Masse an einem Punkt". 202 Daraus ergibt sich in der Frage nach der Individuation der Erscheinungen das Resultat, daß von Vorstellungen individuierter Körper keineswegs auf eine Vielheit von einzelnen Dingenan-sich zurückgeschlossen werden kann: „von dieser Seite also wäre wenigstens Unwissenheit über die Mehrheit der Noumenen, und Gewißheit daß wenigstens die Mehrheit der Phaenomene sich nicht auf sie beziehn kann." 203 Ein Zusatzargument Schleiermachers ist die gedankliche Teilbarkeit physischer Individuen in mehrere neue Individuen. Die Teilbarkeit widerspricht der Annahme, daß vorgestellte Individuen Erscheinung von Individuen an sich wären. Denn unter Voraussetzung der Teilbarkeit 200 Schleiermacher läßt offen, ob er dies wirklich als einen kantischen Gedanken oder nur als Weiterführung des kantischen Ausgangspunkts verstanden wissen will. Vgl. KDSp 573: „Die Dinge sind an sich anders als sie werden wenn sie durch unser VorstellungsVermögen und durch unsere Organisation gegangen sind; das ist es wovon Kant ausgeht: natürlich führt das dahin: jeder Erscheinung liegt also ein Ding zu Grunde". 201 An dieser Formulierung sieht man, daß Schleiermacher hier von Spinoza her die Fragestellung an Kant heranträgt. 202 KDSp 574. Hier klingt das oben dargestellte spinozistische Verständnis von Individuation an, das Schleiermacher im Manuskript „Spinozismus" breiter ausgeführt hat. S. o. S. 171ff. 203 Ebd. Der Ausdruck „Mehrheit" ist hier nicht im modernen Sinne als „der größere Teil" zu verstehen, sondern steht, wie zur Zeit Schleiermachers durchaus üblich, für Vielheit überhaupt.

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müßte sich die Anzahl der Noumena nach der der Phaenomena richten, nach der Erscheinungsthese müßte dieses gerade umgekehrt gelten.204 Wie steht es nun auf der anderen Seite mit den „denkenden Dingen", mit den Bewußtseinsinstanzen: Wäre hier mit dem Selbstbewußtsein nicht eine identische Einheit im Phänomenalen gegeben, welche ihrerseits auf eine identische Einheit im Noumenalen zurückwiese? Schleiermacher bestreitet diese Behauptung der Zulässigkeit eines Rückschlusses von der Ebene der Phaenomena auf die der Noumena und zwar mit dem lapidaren Verweis auf Kants Paralogismenkapitel der Kritik der reinen Vernunft: „Ist es denn gewiß, daß jedem Bewußtseyn ein eignes noumenon zum Grunde liegt? gehört nicht diese Behauptung ebenfalls zum Paralogism der Vernunft?" 205 Von Kants eigenen Prämissen her, so resümiert Schleiermacher, ist daher in keiner Weise, weder in Betrachtung körperlicher Individuen noch in Bezug auf eine dem Bewußtsein zugrundeliegende Instanz, etwas über eine Vielheit von Individuen im Noumenalen aussagbar. Individualität kann nach den Grundsätzen des transzendentalen Idealismus nur auf Phänomenales bezogen werden: Das „individualisirende Bewußtseyn beruht auf der Receptivität und bezieht sich nur auf die Erscheinung" (KDSp 574). Daraus zieht Schleiermacher eine überaus wichtige Konsequenz, die das Fundament für seine Verbindung von kantischer Transzendentalphilosophie und Spinozismus legt. Wenn man nämlich „gar keinen Grund hat eine Mehrheit der Noumenen zu behaupten, und wir nichts von ihnen sagen sollen als was sich nothwendig auf die Erscheinung bezieht, so ist es schon eine Anmaßung, wenn wir uns anders ausdrüken, als das noumenon, die Welt als noumenon" (KDSp 574). 206 Der Plural noumena, dessen sich Kant bedient, ist also nach Schleiermachers Ansicht von Kants eigenen erkenntniskritischen Erwägungen her durch nichts gerechtfertigt. Von denselben Erwägungen her ist es aber auf der anderen Seite ebensowenig erlaubt, „sich weiter zu versteigen, und mit Spinoza eine positive Einheit und Unendlicheit zu behaupten" (ebd.). Das Noumenon bleibt also das Unerkennbare. Der Singular, den Schleiermacher hier verwendet, soll keine Möglichkeit des Wissens um dasselbe als um ein Individuum einschließen. Aus dieser These ergibt sich eine Restriktion für die Unterscheidung von Phaenomena und Noumena. Schleiermacher sieht sich als legitimer Fortschreiber von Kants kritischem Ansatz, wenn er dessen Rede von 204 Vgl. zur bloß vorgestellten oder gedanklichen Teilbarkeit auch Sp 551. 205 KDSp 574. Auf diese Fragestellung werden wir unten noch näher eingehen. S.u. S. 242ff. 206 Hhg. im Original. Der Ausdruck „Welt als Noumenon" wird im nächsten Kapitel eingehend interpretiert werden. S.u. S. 240ff.

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Phaenomena und Noumena auf diejenige von Phaenomena und dem unserem Wissen entzogenen Noumenon überhaupt restringiert. Der Plural noumena muß deshalb unterlassen werden, weil er zu dem keineswegs in kantischer Intention liegenden Mißverständnis Anlaß geben könnte, die Vielheit der Erscheinungen durch eine Vielheit von Dingen an sich erklären zu wollen. Wenn diese Erklärung aber nach Kants eigenen Grundsätzen ausscheidet, wie kommt es dann in dessen Philosophie zur Vielheit der Erscheinungen? Inwiefern könnte dabei eine Rede vom noumenon noch sinnvoll sein? Die „große Frage", die Schleiermacher sich an dieser Stelle zu erörtern selbst aufgibt, „wes Ursprungs [... ] die Idee von einem Individuo" (KDSp 574) sei, ist demnach, wenn sie an die kantische Philosophie gestellt wird, die Frage nach einem Individuationsprinzip für die Welt der Erscheinungen. 2. Damit kommen wir zu einem zweiten Punkt, in dem Schleiermacher eine von ihm ausgemachte offene Frage der theoretischen Philosophie Kants in eigentümlicher Weise selbst und zwar im Sinne Kants zu beantworten versucht. Der „großen Frage" nach dem principium individui, die Schleiermacher im Zuge seiner ,Kurzen Darstellung des Spinozistischen Systems' aufgeworfen hatte, geht Schleiermacher bekanntlich in seinem Manuskript ,Spinozismus' detaillierter nach (Sp 546-554). Hier unterscheidet er zwei Fragestellungen. Die Frage nach dem „objektiven Grund der Individuation" (Sp 550) entspricht dabei dem in der ,Kurzen Darstellung' thematisierten Problem einer Vereinzelung des Noumenalen. Hier entwickelt Schleiermacher, wie wir gesehen haben, eine eigene Rekonstruktion eines spinozistischen Individuationsprinzips in Abhebung von der Leibnizschen Monadenlehre, die Prinzipien der Vereinzelung im Kontinuum anzugeben vermag. 207 Davon differenziert er die Frage nach dem „subjektiven Grund der Individuation" (ebd.) in der Frage, „wie und warum ich die äußern in der Erfahrung vorkommenden Gegenstände als von einander gesonderte Dinge betrachte" (Sp 548). Hier kommt nun das Problem einer Vereinzelung in der Sphäre des Phänomenalen zur Sprache. Entsprechend ist Kant hier Schleiermachers Gesprächspartner bzw. der Gesprächspartner des redend von Schleiermacher eingeführten Spinoza. 208 Er konfrontiert ihn von dem virtuell eingenommenen Standpunkt Spinozas aus mit einem Problem, das Kant selbst gar nicht als solches erkannt habe. Es geht um die Frage der Prinzipien, durch welche die uns als Erscheinung gegebenen Gegenstände voneinander differenziert wer207 S.o.S. 171ff. 208 Kant ist gemeint mit der „jezigen herrschenden Vorstellungsart" und mit den im folgenden im Plural Angeredeten („ihr/ euch" Sp 549), explizit wird er erst später im Text genannt (Sp 552, Z. 29f.).

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den. Schleiermacher setzt sich mit den kantischen Bestimmungen in der KrV auf allerhöchstem Erörterungsniveau auseinander. Der Ausgangspunkt seiner Anfrage ist das soeben rekonstruierte Argument. Wenn klar ist, daß von transzendentalphilosophischen Grundsätzen aus die Vielheit der Erscheinungen nicht von einer Vielheit zugrundeliegender Dinge an sich her erklärt werden kann, bedarf es, so Schleiermacher, eines anderen Erklärungsgrundes für die Absonderung unterscheidbarer Individua der Erscheinung. Schleiermachers Verdacht ist, daß Kant dieser Frage nicht gründlich genug nachgegangen sei und er schickt sich deshalb an, sie selbst nach kantischen Grundsätzen zu beantworten. Schleiermachers in den Spinozamanuskripten dokumentierter Einstieg in die Auseinandersetzung mit Kant scheint mir selbst schon das Ergebnis einer diffizilen Überlegimg zu sein, die man sich etwa folgendermaßen rekonstruieren kann. Er setzt der Sache nach zwei Fragestellungen in Beziehung zueinander, die bei Kant diesen Bezug gar nicht aufweisen. Nämlich einerseits die einschlägigen kantischen Bestimmungen zur Frage der Individuation und andererseits Kants Argumentation im zweiten Beweisschritt der Transzendentalen Deduktion der Kategorien. Kants Verständnis der Individuation im Amphiboliekapitel der KrV (B 316-349) geht von der Unterscheidung der beiden Erkenntnisstämme aus. Nicht die gedankliche, kategoriale Bestimmung des Mannigfaltigen der Empfindung macht die Individualität der Erscheinungsgegenstände aus, sondern deren Raum-Zeit-Stellen-Bestimmtheit (KrV Β 319f. 328. 338). Zur Exemplifizierung bringt er hier das berühmte Beispiel der Wassertropfen an, die nicht durch ihre begriffliche Bestimmtheit, sondern nur durch ihre Örter im Raum voneinander linterschieden sind (KrV Β 328). Wohlgemerkt hängt diese Individuationsfunktion hier aber nicht an Raum und Zeit als Anschauungsformen. Als solche sind Raum und Zeit für alle Gegenstände der Anschauung identisch und nur deshalb kann Kant Raum und Zeit ja als reine Anschauungen bezeichnen, die nichts vom Materiellen der Empfindung enthalten und also auch gar keine Unterscheidungsprinzipien an die Hand gibt. Um was es ihm im Amphiboliekapitel geht, ist also nicht ein Verweis auf Raum und Zeit als Anschauungsformen, sondern als Sphären, worin Individuen bestimmte Stellen einnehmen. Raum und Zeit sind so gleichsam als die Koordinatensysteme verstanden, worin das Mannigfaltige der Erscheinimg durch konkrete Stellenbestimmtheit als Individuum ausgewiesen wird. Schleiermacher sucht nun aber das Individuationsproblem bei Kant nicht an diesem Punkt auf. Eine unausgesprochene Frage, die seine Erörterungen vorantreibt, läßt ihn die eigentliche Problematik an einem anderen Ort im kantischen System suchen. Die Frage ist, wie eine RaumZeit-Stellen-Bestimmtheit möglich sein soll, wenn doch Raum und Zeit als Kontinua verstanden werden müssen. Wie könnte es möglich sein,

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in einem Kontinuum und an diesem selbst einen diskreten Punkt auszumachen, ohne eine sich auf dieses Kontinuum richtende Bestimmungsleistung des Verstandes? Als Anschauung sind nämlich Raum und Zeit nach Kant Kontinua. Die Differenzierung von Örtern im Raum ist schon nicht mehr als Funktion der Anschauung, sondern bereits als Verstandesleistung anzusehen. Hierauf scheint Kant im Amphiboliekapitel keine Antwort geben zu können. Die Genese des Wissens um die Stellenbestimmtheit in Raum und Zeit wird dort nicht weiter thematisiert. Für Schleiermacher ergibt sich daraus, daß er die Problematik der Individuation bei Kant genau an dem systematischen Ort aufsucht, an welchem die Frage eines funktionalen Bezugs des Verstandes auf Raum und Zeit als Kontinua der Anschauung virulent wird. Dieser Ort ist der zweite Beweisschritt innerhalb der Transzendentalen Deduktion der Kategorien. Es geht hier um die Funktion der Einbildungskraft zur Konstitution von formalen Räumen als diskreter Elemente im Raum als einem Kontinuum. „Wie geht es also zu daß ihr eure Wahrnehmungen auf bestimmte Objekte, Individua, reducirt? Ihr antwortet, daß dies von der ursprünglichen Synthesis der Einbildungskraft herrühre welche dem Mannigfaltigen Einheit gebe; allein da sie nicht jede einzelne Empfindung zum Individuo stempelt, und doch auch nicht alle zusammen unter einer Einheit versammelt, was begränzt denn ihre [sc. der Einbildungskraft] Operationen? was berechtigt ihre [sc. der Individuorum] Sonderung?" (Sp 550). Die Frage nach Individuationsprinzipien für die Welt der Erscheinung ist für Schleiermacher dabei zugleich diejenige nach den Prinzipien von bestimmter Objektkonstitution überhaupt: „laß uns noch das subjektive [sc. Individuationsprinzip] beleuchten wie nemlich und nach was für Gesezen du [sc. Kant] deinen Begrif vom Individuo, von der objektiven Einheit bei der Wahrnehmung anwendest und diese dadurch zu Objekten constituirst" (Sp 552). Bevor Schleiermachers eigenem Antwortversuch nachgegangen werden soll, wird es hilfreich sein, die Grundlinien von Kants Verständnis dieser Frage zu skizzieren. Schleiermachers Verdacht, die kantische Erklärung der Funktion der Einbildungskraft reiche nicht hin, das Unterscheiden von Individuen zu plausibilisieren hat wohl die einschlägigen Bestimmungen in § 26 der ,Kritik der reinen Vernunft' vor Augen, also einen Abschnitt innerhalb der transzendentalen Deduktion der Kategorien, der überschrieben ist mit „Transzendentale Deduktion des allgemein möglichen Erfahrungsgebrauchs der reinen Verstandesbegriffe".

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Dort wird die Synthesisfunktion der Einbildungskraft209 als diejenige Verbindung beschrieben, durch welche das Mannigfaltige der Anschauung zur Einheit verbunden wird. Nun wäre die Frage Schleiermachers, was denn die Operationen der Einbildungskraft begrenze, an Kant so heranzutragen, daß nach den Bedingungen gefragt wird, unter welchen diese Synthesis sich vollzieht. Da die Einbildungskraft gleichsam zwischen Sinnlichkeit und Verstand steht, ist ihre Synthesisleistung nach Kant einer doppelten Bedingtheit ausgesetzt. Was erstens den Bezug auf die Sinnlichkeit betrifft, muß sie sich, da sie sich als Verbindung auf das Mannigfaltige gegebener Anschauung bezieht, notwendig gemäß den Formen, in denen Anschauung überhaupt gegeben werden kann, vollziehen. D. h. die Synthesis der Einbildungskraft steht unter den Bedingungen von Raum und Zeit (B 160). Was zweitens den Bezug auf den Verstand betrifft, so ergibt sich eine Abhängigkeit der Synthesis der Einbildungskraft vom Verstand über die erstgenannte Bedingtheit durch die Anschauungsformen. Raum und Zeit werden nämlich selbst als a priorische Einheit von Mannigfaltigem vorgestellt (B 39; Β 47f.) und ihre Vorstellung setzt daher eine solche synthetische Einheit voraus, die selbst nicht Anschauung ist, sondern Form der Verbindung des Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung überhaupt, welches eine intellektuelle Synthesis darstellt (B 161f.). Diese synthetische Einheit ist in der Kategorie als der Form der Verbindung von Mannigfaltigem einer gegebenen Anschauung überhaupt enthalten. Deshalb steht die Synthesis der Einbildungskraft nicht nur unter der Bedingung der Anschauungsformen, sondern auch unter der Bedingung der Kategorien (B 161. 164. Beispiele Β 162f.). Das Resultat dieser Überlegungen liegt für Kant darin, daß alle durch Synthesis der Einbildungskraft möglichen Erscheinungen „ihrer Verbindung nach unter den Kategorien stehen" (B 165). Die Kategorien schreiben der Natur als dem Inbegriff der Erscheinungen Gesetzmäßigkeit vor. Es kommt aber nun darauf an, was hier unter dem Inbegriff der Erscheinungen verstanden wird. Diese Gesetzmäßigkeit betrifft nämlich nicht die Natur als Inbegriff sinnlich bestimmter Erscheinungen, sondern nur die Natur als Inbegriff von Erscheinungen überhaupt (B 165). Insofern - und das ist der entscheidende Punkt für die von Schleiermacher aufgeworfene Frage - ergeben sich aus der Abhängigkeit der Synthesis der Einbildungskraft (in der Konstitution von Objekten in der Erscheinung) von Anschauungsformen und Kategorien lediglich die formalen Rahmenbedingungen, denen gemäß die Synthesis der Einbildungskraft Objekte überhaupt zu konstituieren oder produzieren ver209 Den von Schleiermacher gebrauchten Terminus „ursprüngliche Synthesis der Einbildungskraft" konnte ich bei Kant nicht ausmachen. Dieser spricht von einer „reinen" oder „transzendentalen" Synthesis der Einbildungskraft. Vgl. KrV A 101.

2. Die Entwicklung einer spinozistischen Individuationstheorie

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mag. Zur Differenzierung empirisch oder individuell bestimmter Objekte der Erscheinung voneinander reichen beide formale Bedingungen an die Synthesis der Einbildungskraft allerdings nicht hin: weder die (transzendental-ästhetische) Bedingimg, das Anschauungsmannigfaltige nur im Nebeneinander des Raumes und im Nacheinander der Vorstellungen in der Zeit verbinden zu können, noch die (transzendental-logische) Bedingung, im Verbinden von gegebener Anschauimg überhaupt an die Struktur der Kategorien gebunden zu sein. Schleiermachers kritische Einschätzung in dieser Problematik ist es, daß Kant „die Antwort darauf: was denn eigentlich die Einbildungskraft in der Operation der ursprünglichen Synthesis begränze noch schuldig geblieben" (Sp 552) sei. Er mutmaßt zwar, daß im Sinne Kants diese Unterscheidung von Einzelnem in der Erscheinung „eine Handlung von innen sei und also [... ] bestirnten, in unsern n o t w e n d i g e n Vorstellungen gegründeten Gesezen folge" (ebd.), führt aber nicht aus, welche Gesetze hier gemeint sein könnten. Wenn Schleiermacher dann dazu ansetzt, eine Antwort auf seine eigene Frage an Kants Stelle zu geben, hat er jedenfalls die Bedingtheit der Synthesis der Einbildungskraft durch die Kategorien als mögliche „Geseze" nicht im Blick. Auch geht er nicht auf die sogenannten „Schemate" ein, die nach Kant die Verfahren darstellen, empirische Begriffe in der Anschauung zu realisieren, und so als die eigentlichen Vermittlungsgrößen fungieren, die Tätigkeit der Einbildungskraft gemäß den Kategorien in der Anschauung zu regeln. Schleiermachers Antwortversuch konzentriert sich bezeichnenderweise ganz auf die Sphäre der Anschauimg. Die Hauptrolle in der Differenzierung individueller Erscheinungen weist er Raum und Zeit zu, und zwar insofern diese als Kontinua der Anschauung aufzufassen sind. Das eigentliche „Princip der Trennung der Objekte" (Sp 553) erscheint ihm in der wechselseitigen Begrenzung der in Raum und Zeit gegebenen Kontinua. 210 Wäre die Einbildungskraft nur an den Raum gebunden, würde sie nicht aufhören, „das Mannigfaltige des Raums zur Einheit zu verbinden" (Sp 553) und damit ein Kontinuum der Erscheinung im Raum nachzuzeichnen, das abgesehen von der physischen Aufnahmefähigkeit der Sinne keinerlei Grenzziehung zuließe. 211 Da sie aber ebenso an die Form der Zeit gebunden ist, ergibt sich die Möglichkeit, das kontinuierliche Bild des Raumes in der zeitlichen Abfolge von Vorstellungen verändert zu finden. Für die Veränderung gegenüber dem Bild in vorangehenden Vorstellungen wird die Einbildungskraft ein neues Objekt ent210 Diesen Kontinua entspricht in kantischer Terminologie der Begriff „formale Anschauung", den Kant Raum und Zeit zuordnet, insofern in diesen Vorstellungen Einheit gesetzt sei (B 160f). 211 Ebd.: „Deine Einbildungskraft wird nicht aufhören das Mannigfaltige des Raums zur Einheit zu verbinden, so weit das physische Vermögen der Organe sie nur führt."

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werfen. 212 So ergibt sich eine Differenzierungsfunktion in den Kontinua von Raum und Zeit erst durch ihre wechselseitige Bezogenheit aufeinander: „Du hast für die Objekte im Raum keine andere Unterscheidung als die Zeit, für die Objekte in der Zeit keine andere Unterscheidung als den Raum" (ebd.). Die Trennung der „Objekte in der Zeit" führt Schleiermacher nicht näher aus, stellt nur fest, daß die Einbildungskraft nicht aufhören wird, ein zeitliches Kontinuum nachzuzeichnen, bis „entweder dies continuum getrennt ist, oder eine Verschiedenheit der Räume ins Spiel kommt." 213 Schleiermacher setzt also mit der Tätigkeit der Synthesis der Einbildungskraft zunächst eine unbegrenzte, kontinuierliche Imaginationsleistung, deren Gegenstand ein Ganzes der Gegenstandswelt ohne eine Abtrennung von individuellen Objekten ergeben würde, wenn diese Tätigkeit nur in jeweils einer Sphäre der Anschauung, im Raum oder in der Zeit vonstatten ginge. Durch die doppelte formale Struktur der Anschauung und deren Verschänktheit jedoch ergibt sich Veränderung und so „zerfällt [in der Tätigkeit der Einbildungskraft] nach und nach das Ganze in diejenigen Theile welchen zusammen eine eigne Reihe von Veränderungen zukommt" (Sp 553f). Die Reihe von Veränderungen, die hier gemeint ist, bezieht sich auf die Kongruenz von Gegenständen in wechselnden Vorstellungen. Das gegenüber Veränderungen Gleichbleibende wird als ein Individuum vorgestellt und das veränderte Element wird als davon differenter Gegenstand vorgestellt. 214 Schleiermachers eigenwillige Fortschreibung kantischer Gedanken, wonach die Einbildungskraft in den Kontinua der Anschauung nur durch die Verschränkung dieser Kontinua formale Anschauungen als diskrete, individuelle Objekte nachzuzeichnen vermag, scheint mir stark unter dem Eindruck seines eigenen Spinozaverständnisses zu stehen. Raum und Zeit als Kontinua der Anschauung versieren, so meine ich, als ins 212 Ebd.: „nur wo das wahrgenommene aufhört so zu seyn, wie es wahrgenommen wurde oder wo das continuum gestört wird, wird sie [sc. die Einbildungskraft] ein neues Objekt anfangen". Mit der Störung des Kontinuums des Raumes ist wohl die physische Unterbrechung der sinnlichen Anschauung durch Abbruch der Sinnentätigkeit gemeint. 213 Ebd. Eine Trennung des Kontinuums der Zeit müßte analog zur Unterbrechung des Kontinuums des Raumes einen physischen Abbruch bedeuten: etwa Bewußtlosigkeit. 214 Vgl. Sp 553: „Kämst du aber auf deiner Spur zurück [zeitliche Differenz!] und fändest nun den Gegenstand a zu an [sc. a n ] oder η verändert so würdest du allerdings dieses hinzugekommene η oder n.a für ein eignes Objekt halten". Meckenstocks (Deterministische Ethik [1988], S. 198) Assoziierung der „Reihe von Veränderungen" mit Kants Freiheitsbegriff führt m. E. nicht weiter. Es geht hier um theoretische Vereinzelung von Vorstellungsgegenständen, nicht um praktische Selbstbestimmung. Der theoretische Begriff des Individuums ist weder für Schleiermacher noch für Kant die Bedingung für moralische Autonomie. Daß diese Reihe, so Meckenstock weiter, „gesetzmäßig" sei, ist aus Schleiermachers Notizen in den Spinozamanuskripten nicht zu entnehmen.

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Subjektive gewendete unendliche Modi der spinozanischen Attribute. Das Motiv ihrer Analogisierung entspringt der Frage nach den Prinzipien der Individuation. Diese These gilt es nun im Folgenden zu entfalten. Schleiermacher macht nämlich eine solche Analogie zwischen Spinoza und Kant in seinen Manuskripten explizit. Der Rahmen und Zielpunkt dieser Konstruktion von strukturellen Entsprechungen scheint mir das Individuationsproblem zu sein. 2. Die Konstruktion individuationstheoretischer Strukturparallelen zwischen Kant und Spinoza Schleiermacher hat in seinen beiden Spinoza-Manuskripten die Idee einer Theorie von Individuation vor Augen, die ihn antreibt, einerseits weitestgehende geistphilosophische Konsequenzen aus den Grundsätzen der spinozanischen Philosophie zu entwickeln und andererseits Kants kritischen Idealismus hinsichtlich der Tragfähigkeit der Grundbegriffe von Noumena und Phaenomena zu hinterfragen und in dessen Sinne fortzuschreiben. Wir sind beiden Gedankengängen in den vorausgehenden Abschnitten nachgegangen und haben gesehen, wie Schleiermacher aus dem jeweiligen philosophischen Ansatz heraus seine Folgerungen entwickelt. Aufseiten des Spinozismus führte ihn sein gegenüber Jacobi neues Verständnis des „Denkens" als eines gleichberechtigten Attributs neben der „Ausdehnung" zu einer Fassung des Individuationsproblems, die dieses nicht mehr nur als metaphysisches Problem im Sinne der Frage nach der Vereinzelung der Substanz begreift, sondern als ein erkenntnistheoretisches Problem expliziert: erklärt werden muß auf dieser Ebene die Vereinzelung der Gegenstände von Vorstellungen. Spinozas Philosophie wird so im Blick auf das Individuationsproblem auf ein erkenntistheoretisches Erörterungsniveau gebracht. In seiner Rekonstruktion und Fortschreibung der kantischen Transzendentalphilosophie geht Schleiermacher gleichsam den umgekehrten Weg. Die kantische Theorie bedarf keiner erkenntnistheoretischen Fortentwicklung. Es ist gerade ihre Stärke, die Fragestellung der Philosophie auf die erkenntnistheoretischen Bedingungen gelenkt zu haben, unter denen der menschliche Geist Vorstellungen überhaupt zu entwickeln in der Lage ist. Das Individuationsproblem ist im Rahmen des Kantianismus von vornherein als das Problem der Vereinzelung der „Erscheinung", mithin der Gegenstände unserer Vorstellung zu formulieren. Deshalb ist Schleiermacher bemüht, den Anschein einer vorgängigen Vereinzelung von Dingen-an-sich, wie sie unabhängig von unserer Vorstellung wären, gänzlich zu tilgen. In dieser Absicht spricht er vom Noumenon im Singular: das unseren Vorstellungen zu Grunde liegende ist keiner Differenzie-

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rung und quantitativen Bestimmung zugänglich. Zugleich ist ihm aber positiv daran gelegen, Individuationsprinzipien für die Gegenstände unserer Vorstellung im Sinne der kantischen Philosophie auszumachen und zieht, wie wir gesehen haben, Raum und Zeit als diejenigen Prinzipien heran, die der Einbildungskraft die Differenzierung der Erscheinungswelt ermöglichen. Beide Gedankenlinien konvergieren, wie nun zu zeigen sein wird, in eine explizite Analogisierung kantischer und spinozistischer Positionen, die schließlich von Schleiermacher zur These ihrer fast gänzlichen Verschmelzung gesteigert wird. Was die Bedeutung der Individuationstheorie für den Ansatz der Religionsphilosophie betrifft, erreicht Schleiermacher mit dieser Verschränkung von Transzendentalphilosophie und Spinozismus den höchsten Punkt des in den Spinozamanuskripten entfalteten Gedankengangs. Mit dessen Erreichen ist zugleich die Spannweite der systematischen Grundprobleme des späteren Begriffes von Religion als „Anschauung des Universums" umgriffen. 215 Die Entwicklung des Gedankens innerhalb von Schleiermachers Spinozamanuskripten weist ihrerseits eine gewisse Dynamik auf. Am Anfang steht die Idee struktureller Parallelität gewisser Theoreme innerhalb des kantischen bzw. spinozistischen Systems der Philosophie. Hier lassen sich in Schleiermachers Überlegungen drei Analogiemomente namhaft machen, die in einem aufeinander aufbauenden sachlichen Zusammenhang stehen. Die jeweiligen spezifischen Differenzpunkte der Analogate werden von Schleiermacher benannt, aber in Folge durch die konsequente Fortschreibung der jeweiligen Ansätze einander angenähert, so daß eine Verschränkung und damit eine systematische Vereinigung der verhandelten Gedanken in einer Konzeption erreicht wird. Textgenetisch vollzieht sich diese Entwicklung von der ,Kurzen Darstellung des Spinozistischen Systems' hin zum Manuskript ,Spinozismus'. Die augenfällige relative Chronologie erhält damit eine inhaltliche Bestätigung.216 Wenden wir uns nun der Darstellung dieses Entwicklungsgangs im einzelnen zu. (a) Eine erste Strukturparallele formuliert Schleiermacher für das Verhältnis der „Sinnenwelt" zu dem ihr „zugrunde liegenden" (KDSp 571). Beide, Spinoza und Kant, kommen darin überein, „den Dingen unsrer Wahrnehmung ein anderes Daseyn unterzulegen welches außer unserer Wahrnehmung liegt" (KDSp 573). So „läßt sich zwar nicht gradezu behaupten, daß bei Spinoza das unendliche Ding sich zu den endlichen verhalte wie bei Kant die noumena zu den Phänomenen, denn sonst müßte Spinoza die kritische Philosophie vor Kant erfunden haben; inzwischen, 215 Eine zusammenfassende Formulierung des systematischen Ertrags der Spinozamanuskripte im Blick auf die Grundbegriffe der Religionstheorie der ,Reden' wird am Ende dieses Kapitels erfolgen. S. u. S. 255ff. 216 Zur relativen Chronologie s. o. Anmerkung 9 auf S. 142.

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da doch bei beiden die Idee zum Grunde [liegt; Kj. des Hrsg.] daß eins das wirkliche und wesentliche, das a priori, das an sich des andern enthalte, so muß allerdings von dieser Seite die Vergleichung angestellt werden" (ebd. Hhg. i.O.). Dem spinozanischen Verhältnis von Unendlichem und Endlichem, d. h. von Substanz und endlichen Modi, entspreche, so Schleiermachers These, das Verhältnis, das Kant zwischen den Noumena und Phaenomena, d. h. in Schleiermachers Lesart: zwischen Dingen-ansich und Erscheinungen annimmt. Diese Verhältnisse entsprechen sich nun gerade darin, daß der Substanz bzw. den Noumena gegenüber den endlichen Modi bzw. den Phaenomena eine logische Priorität zukommt. Über die nähere Charakterisierung dieser Priorität für das jeweils ins Auge gefaßte Verhältnis, sagt die Analogie noch nichts aus. Schleiermacher stellt hier lediglich mögliche Vergleichshinsichten zur gedanklichen Verfügung, deren Gegenparte sinngemäß ergänzt werden müßten: existenzlogische Priorität des Wirklichen vor dem Möglichen, begriffslogische Priorität des Wesens vor den Eigenschaften, formallogische Priorität des Apriorischen vor dem Aposteriorischen, erkenntnislogische Priorität des Ansichseienden vor dem Füruns des Vorgestellten. Die spezifische Differenz der beiden Positionen, die in der Aufstellung einer solchen Priorität in eine Entsprechung gesetzt werden, ist festgehalten in dem Vorbehalt, man könne die Analogie nicht „gradezu" behaupten, weil die Einsichten der „kritischen Philosophie" Spinoza vom Standpunkt Kants trennten. Diese vage Formulierung wird in der noch darzustellenden dritten Analogie verdeutlicht werden. Als ein weiterer Unterschied bei struktureller Parallelität fällt die Formulierung des vorgängigen Elements der Prioritätsbeziehung ins Auge. Schleiermacher spricht hier auf der Seite Kants noch von den Noumera, einer Vielheit von Dingen an sich, denen bei Spinoza das Unendliche, die eine Substanz entspreche. Diesen Unterschied wird Schleiermacher in dem bereits besprochenen, auf das Zitat unmittelbar folgenden ersten Punkt der angekündigten „Vergleichung" erörtern. 217 Angedeutet wird er bereits in einer vorangehenden Formulierung, die uns zugleich auf ein weiteres Analogiemoment führt: „die Welt der noumena ist grade auf eben die Art die Ursach der Sinnenwelt, wie Spinozas unendliches Ding die Ursach der endlichen Dinge ist." (KDSp 570). Der „Welt der Noumena" bei Kant entspricht hier das eine „unendliche Ding" bei Spinoza als dasjenige Element der Analogie, dem jeweils Priorität zukommt, die hier als kausale Priorität expliziert ist. Dies wirft die Frage auf, welches denn „eben die Art" kausaler Priorität sei, in welcher das spinozanische Verhältnis von Substanz und endlichen Modi und Kants Relation von Noumena und Phaenomena übereinkommen sollen. 217 Siehe dazu unten S. 238ff.

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(b) Die Antwort läßt sich aus einer zweiten Strukturparallele explizieren, die Schleiermacher zwischen beiden Theorien ausfindig macht. Im Zuge der Bemühung, „Spinozas dunkle Terminologie" in der Formulierung des Status des Endlich-Einzelnen „in unsere Sprache" (KDSp 575) zu übertragen, kommt Schleiermacher auf eine weitere Nähe zu Kant zu sprechen. Der von ihm herausgearbeitete Scheincharakter im spinozanischen Begriff des Individuums 218 liegt, in Spinozas Terminologie ausgedrückt, in der Struktur des Verhältnisses von Substanz und endlichen Modi, das Schleiermacher als ein Verhältnis „mittelbarer Inhärenz" bezeichnet hatte. 219 Die Rede von „Inhärenz" gehe dabei auf das Konto von Spinozas „dunkler Terminologie". Die Mittelbarkeit des Verhältnisses dagegen erscheint Schleiermacher als ein weiterführender Gedanke. Denselben sieht er auch in Kants Philosophie ausgedrückt und kann deshalb in dieser Hinsicht eine Analogie beider Theorien etablieren. „Wo sollte Spinoza ein anderes Schema zur Verdeutlichung jenes Verhältnißes des wandelbaren Scheins zum beharrlichen Wesen hernehmen, als das von Substanz und Accidenz. Spinoza ist also allerdings Kant auch hierin weit näher als jeder andere. Raum und Zeit ist auch bei ihm nicht nur die Form, sondern der Ursprung alles wandelbaren und aller Veränderung; was also dadurch bestimmt ist, ist auch bei ihm nicht im Ding selbst, sondern nur Modifikation eines Dinges, Raum und Zeit ist das modificirende Medium, nur daß er dieses nicht in uns, sondern in einen unbekanten unendlichen Stoff hinein verlegte" (KDSp 576). Die gemeinsame Basis von kantischer und spinozanischer Auffassung des Verhältnisses von Noumena und Phaenomena bzw. Unendlichem und Endlichem erblickt Schleiermacher an dieser Stelle darin, daß dieses Verhältnis über Zwischenglieder expliziert wird, die als „Medium" fungieren, die Relate zu verbinden. Was auf der einen Seite Spinoza betrifft, hatte Schleiermacher die endlichen Einzeldinge oder Modifikationen der Substanz nicht einfach als ein ihr Inhärierendes beschrieben. Vielmehr inhärieren die Einzeldinge der Substanz, weil sie Teile desjenigen Ganzen sind, das als unendlicher Modus aus der Substanz folgt, insofern sie unter einem Attribut betrachtet wird. Hieraus hatte er geschlossen, die Attribute bzw. genauer gesagt: die unendlichen Modi derselben, müßten in Spinozas System den Ort des Individuationsproblems ausmachen. Sie stellen diejenigen,Kategorien' dar, die allererst ermöglichen, die identische Einheit der Substanz mit der differenzierten Vielheit endlichindividueller Modi in Relation zu bringen. In der so aufgefaßten Stufigkeit des Inhärenzverhältnisses stellen die unendlichen Modi der Attribute die entscheidenden Verbindungs- bzw. Vermittlungsgrößen dar. 218 S.O.S. 178ff. 219 S.O.S. 172ff.

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In der Rekonstruktion bzw. Fortschreibung Kants auf der anderen Seite war diese Funktion den Anschauungskontinua Raum und Zeit zugefallen, die als Prinzipien der Individuation vorgestellter Gegenstände in der Erscheinungswelt herausgearbeitet worden waren. Wenn Schleiermacher im obigen Zitat Raum und Zeit als spinozanische Begriffe zu reklamieren scheint, („Raum und Zeit ist auch bei ihm [d. h. bei Spinoza!]") so ist dieser Transfer der kantischen Terminologie in das philosophische Begriffssystem Spinozas Ausdruck davon, daß die Anschauungskontinua auf der einen Seite und die unendlichen Modi der Attribute auf der anderen Seite als in derselben systematischen Funktion erblickt werden. Angesichts dieser Übereinstimmung kann Schleiermacher die kantischen Termini zur Beschreibung Spinozas heranziehen. 220 Damit ist an dieser Stelle aber noch keine Identität beider Theoreme gemeint, in dem Sinne, daß Raum und Zeit nichts anderes wären als die Attribute Extensio und Cogitatio.221 Denn Schleiermacher macht auf eine spezifische Differenz beider Positionen aufmerksam. Die Vermittlungsfunktion von Raum und Zeit ist von Kant am Orte des endlichen Bewußtseins („in uns") angesiedelt, während Spinoza dieselbe in Gestalt der Attribute „in einen unbekanten unendlichen Stoff hinein verlegte" (KDSp 576). Diese Formulierung ist ein Indiz dafür, daß Schleiermacher die Individuationsprinzipien nicht im unbekannten unendlichen Stoff der einen Substanz verorten würde, sondern sie eher am Orte des menschlichen Bewußtseins anzusiedeln geneigt ist. Daß Spinoza sie von dort weg „verlegt" habe, impliziert zugleich, daß Schleiermacher der Meinung ist, auch Spinoza selbst habe die Attribute Ausdehnung und Denken ursprünglich als Elemente menschlicher Verfaßtheit, nicht schon als göttliche Attribute angesehen oder wenigstens ansehen können. (c) Eine solche Ansicht vertritt Schleiermacher in der Tat. Sie ist aus einer Passage zu entnehmen, in welcher er Spinozas „Saz von dem Wesen und den Eigenschaften des an sich existirenden" in einen Vergleich mit Kant stellt (KDSp 574f; Nr. 2). Der Gedankengang wird uns auf ein drittes Analogiemoment führen. Der in Schleiermachers Überschrift genannte „Saz" ist Jacobis § 14: „Nach Spinoza sind eine unendliche Ausdehnung und ein unendliches Denken Eigenschaften Gottes. Beyde ma220 Meckenstock (Deterministische Ethik [1988], S. 209-212) hält die von Schleiermacher für Kant namhaft gemachte „Form eines jeden Vorstellungsvermögens"(KDSp 575) für die Dualität der beiden kantischen „Erkenntnisstämme", und kann deshalb weder deren Identifikation mit Raum und Zeit noch Schleiermachers Analogie mit den spinozanischen Attributen einen Sinn abgewinnen. 221 Vgl. zum Verhältnis der Spinozanischen Attributenlehre zu Kants Lehre der Anschauungsformen S. Büttner: Spinozas Attribut der Ausdehnung und Kants Form der Anschauung - ein systematisch orientierter Vergleich (2001). Büttner stellt weitgehende strukturelle Ubereinstimmungen zwischen der Konzeption von Extensio bei Spinoza und Kants Lehre vom Raum als Anschauungsform fest.

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chen zusammen nur Ein unzertrennliches Wesen aus". 222 Dem hatte Jacobi in der zweiten Auflage seiner Spinozabriefe die Einschätzung angefügt, daß „der Gott des Spinoza [... ] außer den Eigenschaften der unendlichen Ausdehnung und des unendlichen Denkens, keine andre Eigenschaften" habe. Denn obwohl Spinoza zum Zwecke der apriorischen Definition und Demonstration des Gottesbegriffs „Gott auf eine unbestimmte Weise unendliche Eigenschaften auch der Menge nach zuschrieb", so konnte er von bestimmten Attributen doch nur über die uns bekannten etwas aussagen, ihre Menge mußte also a posteriori festgelegt werden: „Nun aber fanden sich im Menschlichen Begriffe nur zwey Eigenschaften des unendlichen Wesens: Ausdehnung und Denken." 223 Ganz im Sinne dieses Raisonnements Jacobis ist nun Schleiermachers Erörterung des Lehrstücks ausgerichtet. Allerdings geht er über Jacobi hinaus, indem er den Gedankengang mit „der Idee des kritischen Idealismus" in Zusammenhang bringt, an welcher Spinoza hier „ganz nahe" (KDSp 574) sei. Ausgangspunkt ist die Frage nach dem Grund der Ausschließlichkeit von Ausdehnimg und Denken als Attributen der Substanz: „Das Wesen des unendlichen Dinges [sc. der Substanz] besteht doch offenbar nur darin, daß es der absolute Stoff ist; woher weiß er [sc. Spinoza] aber daß die absolute Ausdehnung und das absolute Denken die einzigen Attribute desselben sind?" (KDSp 574). Die von Schleiermacher gegebene Antwort referiert Jacobis Argument einer a posteriorischen Eingrenzung bestimmter Attribute. „Nur daher, weil wir von keinen andern Eigenschaften Vorstellung haben können." 224 Während Jacobi dem kritischen Idealismus auf der Grundlage dieser Überlegungen in seiner eigenen Philosophie zwar ganz nahe sei, aber „ohne es zu wissen", macht Schleiermacher die Nähe Spinozas zu Kant explizit, indem er die beiden spinozanischen Attribute mit den beiden kantischen Anschauungsformen in Verbindung bringt. „Will das nicht eben so viel sagen, als: es ist alles für uns verloren was nicht im Raum angeschaut und in der Zeit empfunden werden kann" (KDSp 575). Diesen Gedanken führt Schleiermacher im Manuskript ,Spinozismus' zur These einer förmlichen Analogie aus. Er kommentiert hier eine Be222 JWA1/1, S. 100; Sp 516. 223 LSp 2 , JWA \/l, S. 103f. Hhg. C.E. 224 KDSp 574f. Diese Überlegung bringt Schleiermacher auch noch in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie aus den Jahren 1810ff: „Von dem rein speculativen Standpunkt sezt Spinoza eine unbestimmte Mehrheit von Attributen, unbewußt aber bildet sich diese in den bestimmten Gegensaz dieser beiden aus, wofür es nur diese Vereinigung giebt, daß die unbestimmte Mehrheit in Bezug auf alle möglichen Formationen des Geistes (indem nämlich Attribut das ist, was der Geist von der Substanz wahrnimmt) gesezt ist, der bestimmte Gegensaz aber in Bezug auf den menschlichen Geist. So geht Spinoza auch hier in dem Maaß, als die bestimmten Sezungen anfangen, ächt cartesianisch von dem empirischen Bewußtsein aus." (SW ΙΠ/4.1, S. 278f).

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merkung Mendelssohns 225 zu Spinozas Begriff der Möglichkeit und sieht seine Behauptung eines „Parallelismus [Spinozas] mit Kant nicht wenig" bestätigt. Nach Mendelssohn vertrat Spinoza die Ansicht, „alles, was in der sichtbaren Welt erfolgt [,sei] von der strengsten Nothwendigkeit; weil es so und nicht anders in dem göttlichen Wesen und in den möglichen Modifikationen seiner Eigenschaften gegründet ist. Was nicht wirklich erfolgt, ist ihm auch nicht möglich, nicht denkbar. Spinoza hielt auch das für unmöglich, was zwar keinen Widerspruch enthält, aber doch in den göttlichen Modifikationen, als der nothwendigen Ursach aller Dinge nicht gegründet ist." 226 Schleiermachers Kommentar ist selbst eines Kommentars würdig: „Des Spinoza Idee von der Möglichkeit mag Mendelssohn richtig gefaßt haben. Mir bestätigt sie den Parallelismus mit Kant nicht wenig. Seine [sc. Spinozas] Möglichkeit verhält sich zu seiner Idee von den Eigenschaften des Unendlichen eben so wie Kants reale Möglichkeit im Gegensaz der logischen zu den Formen der Vorstellung" (Sp 533). Was nach Spinoza nicht möglich ist, ist es deshalb nicht, weil es nicht in den Attributen der Substanz („Eigenschaften des Unendlichen") einbegriffen ist. 227 Ausgehend von unendlichen Attributen der Substanz fallen Möglichkeit und Wirklichkeit in Eins. Faßt man nun aber nach Jacobis Interpretation die uns bekannten Attribute als einzige ins Auge, so erscheint alles das als unmöglich, was nicht in den beiden Attributen Ausdehnung und Denken einbegriffen ist. Auch Spinoza scheint in seinem Begriff der Möglichkeit also von der Verfaßtheit menschlichen Vorstellens auszugehen und entsprechend diesen Begriff auf der Basis des für uns Möglichen zu konzipieren. Schleiermacher sieht hier seine These von der Analogie zwischen Kant und Spinoza bestätigt. Denn auf entsprechende Weise ist nach Kant dasjenige nicht „real möglich", also möglicher Gegenstand von Erfahrung, was uns nicht durch die Formen der Anschauung als Vorstellung („Formen der Vorstellung") gegeben werden kann, wenn auch manch anderes als widerspruchsfrei denkbar („logisch möglich") angesehen werden kann. 228 Sol225 Jacobi hatte Mendelssohns briefliche Einwände vom 1.8.1784 unter dem Titel „Erinnerungen an Herrn Jacobi" in die zweite Auflage seiner Spinozabriefe, die Schleiermacher vorlag, aufgenommen. Sie waren zuerst 1786 in Mendelssohns Schrift ,An die Freunde Lessings' veröffentlicht worden. 226 JWA1/1, S. 174; Sp 533. Hhg. C.E. Mendelssohn reproduziert hier die Auffassung Leibnizens bzw. Pierre Bayles über Spinozas Begriff der Möglichkeit, wie sie Leibniz im § 173 seiner Theodizee dargelegt hatte. Jacobi hatte auf diesen Paragraphen an zentraler Stelle hingewiesen. Vgl. LSp, JWA 1/1, S. 18f (Anm. 1). 227 Dies nimmt auf Mendelssohn Ausdruck „in den möglichen Modifikationen seiner Eigenschaften gegründet" Bezug. 228 Zu Kants Unterscheidung von logischer und realer Möglichkeit vgl. im Abschnitt ,Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena': KrV A 244/B 302.

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ches, was widerspruchsfrei gedacht werden kann, gleichwohl aber kein möglicher Gegenstand von Erfahrung ist, nennt Kant ein Noumenon. 229 Nimmt man diese Stelle mit der Ableitung der spinozanischen Attribute aus der Verfaßtheit des menschlichen Vorstellungsvermögens in der ,Kurzen Darstellung' zusammen, so läßt sich nun ein drittes Analogiemoment von spinozanischer und kantischer Philosophie im Sinne Schleiermachers formulieren. Wie nach Spinoza Ausdehnung und Denken die Prinzipien der uns bekannten Welt abgeben und uns die Dinge, wie sie in den anderen, unendlich vielen Attributen der Substanz einbegriffen sind, unbekannt bleiben, so geben nach Kant Raum und Zeit die Prinzipien ab für die Welt der Phaenomena, mithin aller uns möglicher Erfahrung, wohingegen die Welt der Noumena unserer Erfahrung und Erkenntnis prinzipiell verschlossen bleibt. Die Übereinstimmimg der spinozanischen Attribute Denken und Ausdehnung und der kantischen Anschauungsformen Raum und Zeit liegt nach Schleiermacher also in deren restringierender Funktion in Bezug auf den Gegenstandsbereich möglicher Erfahrung des menschlichen Geistes. Allerdings konstatiert Schleiermacher eine spezifische Differenz in der Analogie beider Konzeptionen. Spinoza scheint nämlich, obwohl er die Eingrenzung der Attribute auf Ausdehnung und Denken aus deren Vorstellbarkeit geschlossen hatte, dennoch an deren Verortung im Absoluten festzuhalten, indem er sie Attribute der Substanz nennt. Demgegenüber hat der kritische Idealismus Kants Raum und Zeit konsequenterweise nicht in einem uns imbekannten Reich der Noumena loziert, sondern sie dem menschlichen Geist zugeordnet. Hätte Spinoza von der Einsicht, daß „alles für uns verloren [ist] was nicht im Raum angeschaut und in der Zeit empfunden werden kann [... ] den leichten Uebergang genommen zu der Einsicht daß Raum und Zeit das eigenthümliche unserer Vorstellungsart ausmache, so würde er nicht gesagt haben Ausdehnung und Denken wären die Attribute, vielweniger die einzigen Attribute des Unendlichen. Hierauf beruht die einzige Differenz zwischen ihm und Kant." 230 229 Vgl. KrV A 249/B 307. 230 KDSp 575. Hhg. C.E. Schleiermachers Diagnose mag auch durch Äußerungen zu dieser Frage von Kant selbst motiviert worden sein. Nachdem Jacobi in der Erstauflage der Spinozabriefe (1785) zur Erläuterung des spinozanischen Begriffes der Unendlichkeit Zitate aus der ,Kritik der reinen Vernunft' Kants Lehre vom Raum betreffend angeführt hatte (s.o. Arm. 199 auf S. 202), sieht sich Kant genötigt, sich zu Spinoza in dieser Frage zu positionieren. Entsprechende Vorüberlegungen sind tins aus dem Opus Postumum Kants überliefert (AA XXI, S. 99: „Der Geist des Menschen ist Spinozens Gott (was das Formale aller Sinnengegenstände betrifft) und der Transzendentale Idealism ist Realism in absoluter Bedeutung."; ΧΧΠ, S. 56: „Wir schauen uns nach dem transzendentalen Idealism des Spinoza in Gott an"; S. 64: „Der transzendentale Idealism ist der Spinozism in dem Inbegriff seiner eigenen Vorstellungen das Object zu setzen [... ] Von Spinozens Idee alle Gegenstände in Gott anschauen heißt soviel als alle Begriffe welche das Formale der Erkenntnis in einem System, d.i. die Elementarbegriffe

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(d) Damit haben wir alle drei Analogiemomente vor Augen, die sich in Schleiermachers Vergleich von Spinoza und Kant herausarbeiten ließen. Ich fasse zusammen. Nach der ersten Analogie verhält sich das Unendliche zum Endlichen bei Spinoza wie die Noumena zu den Phaenomena bei Kant und zwar jeweils im Sinne einer Prioritätsrelation. Die spezifische Differenz bei dieser Entsprechung besteht in der Fassung des Vorgängigen als Identisch-Eines (Spinoza) bzw. als Vieles (Kant). Ein zweites Entsprechungsmoment sieht Schleiermacher für diese Relation von Unendlichem und Endlichem bzw. von Noumena und Phaenomena darin, daß sie als Kausalbeziehung zu explizieren ist und zwar als eine solche Kausalbeziehung, die durch gewisse Vermittlungsglieder konstituiert wird. Die Prinzipien der Vermittlung fungieren dabei zugleich als Individuationsprinzipien. In der Theorie Spinozas haben die unendlichen Modi der Attribute Ausdehnung und Denken diese Funktion, bei Kant die Anschauungskontinua Raum und Zeit. Ein drittes Analogiemoment ergibt sich aus der restringierenden Funktion dieser Individuationsprinzipien für den Gegenstandsbereich unserer Erkenntnis. Sie fungieren zugleich als Prinzipien der Einschränkung des überhaupt widerspruchsfrei Denkbaren auf das unserem Geist Erfahrbare. Bei Spinoza werden mit Ausdehnung und Denken die der Menge nach unendlichen Attribute der Substanz auf die uns vorstellbaren Attribute eingeschränkt, bei Kant die unbekannte Welt der Noumena ausmachen unter einem Princip fassen"). In der KpV (1788) äußert er sich darin auch öffentlich zu seinem Verhältnis zu Spinoza. Diese Stelle ist insbesondere interessant, weil es hier explizit um den Begriff der Attribute im Verhältnis zur Kantischen Bestimmung von Raum und Zeit geht: „Daher wenn man jene Idealität der Zeit und des Raums nicht annimmt, nur allein der Spinozismus übrig bleibt, in welchem Raum und Zeit wesentliche Bestimmungen des Urwesens selbst sind" (KpV 182). Vgl. dazu S. Büttner: Spinozas Attribut der Ausdehnung und Kants Form der Anschauung - ein systematisch orientierter Vergleich (2001). Dort auch weitere Literaturhinweise zum Verhältnis Kant-Spinoza. Schleiermacher hat die KpV sicherlich selbst gelesen. Zusätzlich ist es nicht unwahrscheinlich, daß er auf diese Stelle durch die Rezension der KpV von August Wilhelm Rehberg (1757-1836) in der Allgemeinen Literaturzeitimg von 1788 (Nr. 188a-b vom 6.8.1788) aufmerksam wurde, in welcher Rehberg explizit darauf eingeht. Wie Schleiermacher sieht Rehberg die Möglichkeit einer Weiterentwicklung des Spinozismus durch Beseitigung der Hypostasierung der göttlichen Attribute, lehnt aber eine realistische Fassung des Gottesgedankens von seinem eigenen erkermtnistheoretischen Ansatz her ab: „so schlagen alle ihre [sc. der Vernunft] vergeblichen Bemühungen, ihre Ideen realisiert zu denken, nur zu einem Spinozismus aus, der nicht allein, wie Kant (S. 182 [der KpV]) sehr richtig sagt, die einzige Art ist, wie die wirkliche Welt gedacht werden kann, wenn Raum und Zeit für ihr [sc. der wirklichen Welt] selbst anhängende Bestimmungen gelten sollten: sondern der auch, von diesen falschen Vorstellungen von Raum und Zeit gereinigt, die einzige Art ist, wie überall die theologischen Ideen gedacht werden können, wenn ihnen eine objective Realität angedichtet werden soll, dergleichen sie für unsern jetzigen Verstand gar nicht haben können." (S. 359, zit. nach P. Grove: Schleiermacher und Rehberg [1998], S. 14).

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auf die uns erfahrbare der Phaenomena. Eine Differenz sieht Schleiermacher hier in der Verortung dieser Restriktionsprinzipien: Spinoza weist sie dem Absoluten zu, Kant hingegen versteht sie als Charakteristika menschlicher Vorstellungsart. Die aufgeführten spezifischen Differenzen erschienen nun Schleiermacher im Zuge der erneuten Durchsicht der Jacobischen Darstellung und ihrer Kommentierung im Manuskript ,Spinozismus' im Grunde nicht als solche, die für das kantische bzw. spinozanische System konstitutiv wären. Vielmehr ergibt sich, wie wir gesehen haben, aus seiner bisherigen Interpretation auch eine Annäherung beider Positionen in diesen Fragen. Denn sowohl in der quantitativen Charakterisierung des Noumenalen bzw. der Substanz als auch in der Verortung der Individuationsprinzipien müßten sich Kant und Spinoza in Schleiermachers Sicht aufeinander zu bewegen. Die Argumente sind oben schon gegeben worden: Einerseits sei ein Kantianismus, der den transzendentalen Idealismus konsequent beachtet, nicht berechtigt, von einer Mehrzahl von Dingen an sich zu sprechen, sondern müßte sich auf die Konstatierung eines uns völlig unbekannt bleibenden Noumenon, das gleichwohl als Ursache der Welt der Phaenomena gesetzt werden kann, beschränken. 231 Die erkenntnistheoretische Enthaltung einer näheren Bestimmung dieses Noumenon wird damit für Schleiermacher das Kriterium für einen kritischen Idealismus. Andererseits kann ein konsequenter Spinozismus, der die Cogitatio als gleichursprüngliches Attribut neben der Extensio und in ihrer spezifischen Funktion der Repräsentation ernstnimmt, die Individuationsfrage nicht bloß als ein metaphysisches Problem auffassen, sondern muß auch ihre erkenntnistheoretische Valenz aufzuzeigen versuchen. 232 Das metaphysische Problem, Prinzipien der Vereinzelung der einen Substanz zur Vielheit des körperlichen oder geistigen Endlich-Einzelnen anzugeben, muß um das erkenntnistheoretische ergänzt werden, Prinzipien der Vereinzelung menschlicher Vorstellungsgehalte aufzusuchen. 233 Daher konnte die Verortung der Individuationsprinzipien in den göttlichen Attributen für einen konsequenten Spinozismus nicht das letzte Wort sein. Denn wenn sich nach Spinoza in jedem Einzelding, sofern es Gehalt einer Vorstellung ist, alle Attribute der Substanz offenbaren, so liegt die transzendentalphilosophische Reformulierung, „der absolute Stoff sei fähig die Form eines jeden Vorstellungsvermögens anzunehmen" (KDSp 575), in spinozistischer Fluchtlinie.234 Die göttlichen Attribute könnten ebenso231 232 233 234

S. o. S. 203f. S.o. S. 179ff. S.o.S. 196ff. Schleiermacher sieht Ansätze in dieselbe Richtung auch bei Jacobi und Hemsterhuis. In dem „was Hemsterhuis und mit ihm Jakobi über die verschiedenen Ansichten der

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gut als Vorstellungsformen firmieren. Man könnte hier, um eine Formulierung Hermann Timms aufzugreifen, von einer „Subjektivierung der Attributenlehre" 235 sprechen, welche Schleiermacher, das ist die Pointe, als konsequenten Spinozismus annahm. Damit ist aber die „einzige Differenz zwischen ihm und Kant", die Schleiermacher in der ,Kurzen Darstellung des Spinozistischen Systems' noch geltend machte, für Spinoza als nicht konstitutiv und daher im Zuge eines konsequenten Spinozismus als eine aufzuhebende erwiesen. Schleiermachers Folgerung ist die „Verschmelzung" von Kant und Spinoza in einer transzendental-spinozistischen Individuationstheorie im Manuskript,Spinozismus'. In dieser Verbindung beider Ansätze kommt Schleiermacher zu einer Auflösung des Individuationsproblems, die dessen metaphysische und erkenntnistheoretische Anforderungen gleichermaßen erfüllt.

Welt nach der Receptivität der Organe philosophiren" seien sie, ohne es zu wissen, ganz in der Nähe des „kritischen Idealism"(KDSp 575). Schleiermacher hat hier wohl Jacobis Wiedergabe eines Briefes von Hemsterhuis an die Fürstin Gallitzin über den Atheismus in der zweiten Beilage der Spinozabriefe vor Augen, die er exzerpiert hat (JWA 1/1, S. 206-215; KGA 1/1, S. 586). Hemsterhuis stellt dort fest, daß „Materie nur ein Wort [sei], wodurch man die wirklichen Wesenheiten bezeichnet, in so fern zwischen diesen Wesenheiten und unseren jetzigen Organen Beziehung ist" und konstatiert „daß wir von der Materie nicht mehr Eigenschaften wahrnehmen können, als wir Organe haben" (JWA 1/1, S. 215). Mit dieser Ansicht, so Schleiermacher, seien Hemsterhuis und Jacobi „sämtlich ganz nahe an dem kritischen Idealism ohne es zu wissen." (KDSp 575). Im Verlauf der Lektüre von Jacobis,David Hume' (DH170-172) hat Schleiermacher dann Zweifel an dieser Nähe von Hemsterhuis und Kant bekommen. Hemsterhuis habe wohl eher eine relative Bedingtheit der Vorstellung durch vermittelnde Organe gemeint als eine schlechthirmige Bedingtheit der Vorstellungen durch das Vorstellungsvermögen i. S. eines transzendentalen Verständnisses (vgl. KDSp 596f). Zu Jacobi vgl. auch DH 260-285, bes. 263. 285 „Wie die Receptivität, so die Spontaneität, wie der Sinn, so der Verstand." Zu Hemsterhuis vgl. dessen Schrift: Ueber den Menschen und die Beziehungen desselben, in: Vermischte philosophische Schriften des H. Hemsterhuis. Erster Theil. Aus dem Französischen übersetzt, Leipzig 1782 [Original Paris 1772], S. 218: „So wie der Sinn des Gefühls dem Menschen, als ein einzelnes Wesen betrachtet, das Universum, in so fern es fühlbar ist, und das Gehör und die Lust ihm dasselbe, in so fern es tönend oder hörbar ist, und das Gesicht und das Licht dasselbe, insofern es sichtbar ist, ihm zeigen und offenbaren: so zeigt und offenbart das, was man Herz, oder Gewissen nennt, und die Gesellschaft mit Wesen seiner Art, ihm das Universum, in so fern es moralisch ist. [... ] alle diese verschiedenen Seiten des Universums, wovon wir, durch diese verschiedenen Organe, Vorstellungen haben, sind gleich sehr [... ] den betrachtenden und thätigen Vermögen des Menschen unterworfen." Freundlicher Hinweis von Andreas Kubik. 235 Η Timm: Amor Dei Intellectualis (1977), S. 81.

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Ε. Die doppelte Auflösung des Individuationsproblems Betrachtet man die wesentlichen Züge von Schleiermachers Auseinandersetzung mit dem Individuationsproblem, lassen sich zwei Ebenen unterscheiden. Die erste Ebene wird von Schleiermacher v. a. im Vergleich Spinozas mit Leibniz traktiert und behandelt das Individuationsproblem als metaphysisches, „objektives" (Sp 548. 550) Problem. Es geht hier um die Frage der Vereinzelung von Dingen. Die andere Ebene wird von Schleiermacher in den Vergleichen von Spinoza und Kant betreten und behandelt das Individuationsproblem als ein erkenntnistheoretisches, „subjektives" (ebd.) Problem der Vereinzelung der Gegenstände unserer Vorstellungen. Beide Erörterungen sollen hier noch einmal in einer systematischen Zusammenfassung gegenübergestellt werden.

1. Die Auflösung des metaphysischen Individuationsproblems Das Resultat der metaphysischen, am Paradigma des Attributs Extensio entfalteten Erörterung des spinozanischen Individuationsprinzips ist die Explikation der Struktur einer „mittelbaren Inhärenz" der Einzeldinge in der einen Substanz. Der Stufigkeit der metaphysischen Grundbegriffe von Substanz, Attributen und Modi in Spinozas System entspricht in Schleiermachers Rekonstruktion eine Stufigkeit der Inhärenzrelation, welche die Einzeldinge als endliche Modi der Substanz nicht unmittelbar in dieser, sondern vermittels der Attributsstruktur in der Substanz inhärieren läßt. Innerhalb der Attributsstruktur sind es die unendlichen Modi, die gleichsam die ontologische Scharnierfunktion haben, Unendlichkeitssphäre und Endlichkeitssphäre aufeinander beziehbar zu machen. Da von der Seite des Unendlichen aus gesehen - aus der Substanz nur Unendliches folgen kann, bezeichnen die unendlichen Modi die nach den Attributen qualitativ voneinander unterschiedenen, nach ihrem Einheitsgrund in der Substanz aber identischen Totalitäten. Aus der Perspektive der endlichen Dinge gesehen stellen die unendlichen Modi hingegen diejenige Struktur von Ganzheit dar, der alles Endliche zugehört. Kraft dieser Zugehörigkeit kommt alles Endliche in einer Wechselbezogenheit zu stehen, welche erst individuelle Bestimmung ermöglicht. Teil zu sein des unendlichen Modus ist für den endlichen Modus die Voraussetzung individueller Bestimmtheit. Die als Totalität gedachten unendlichen Modi sind also gleichsam metaphysische Kategorien, durch welche Einzeldinge als Einzelne bestimmbar werden. Mehr als die Ermöglichungsbedingung individueller Bestimmtheit kann allerdings durch die unendlichen Modi nicht aufgewiesen werden. Denn als Totalitäten enthalten sie zwar alle möglichen Bestimmtheiten als endliche Modifikationen in sich, geben

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aber gerade, weil sie den Ganzheitsaspekt repräsentieren, keine Prinzipien an die Hand, einzelne Bestimmungen als einzelne von anderen zu differenzieren. Sie sind Prinzipien von Endlichkeit, damit aber nur notwendige Bedingungen, nicht aber hinreichende Prinzipien von Individuation. Schleiermachers paradigmatische Erörterung der Individuationsprinzipien von Körpern auf der Grundlage des spinozanischen Bewegungsbegriffs hat genau diese Struktur vor Augen. Bewegung mit seinem Komplement Ruhe ist als unendlicher Modus des Attributs Ausdehnung als eine solche Totalitätssphäre gedacht, die alles Körperliche in sich befaßt. Um aber innerhalb derselben wiederum einzelne Körper voneinander zu differenzieren, bedarf es einer gedanklichen Sonderung der in der Totalität befaßten Modifikationen von Bewegung. Daß sich diese Modifikationen, als Teile im unendlichen Modus der Bewegung, in einer kontinuierlichen Wechselbeziehung befinden, muß der gesuchte Individuenbegriff zur Grundlage haben. Schleiermacher findet ihn mit Hilfe der von Cusanus via Jacobis Darstellung der Philosophie von Giordano Bruno entlehnten Figur der Vereinigung von Entgegengesetztem. Die Abgrenzung diskreter Individua vollzieht sich im Auffinden von „Vereingigungspunkten" entgegengesetzter Modifikationen im Kontinuum der Bewegung. Einzelne Körper sind also solche Modifikationen von Bewegung, die zu den sie umgebenden gleichartige Relationen unterhalten und insofern vernetzt sind. Individua sind in Schleiermachers Spinozadeutung daher anders als Leibnizens Monaden keine abgesonderten Entitäten, sondern gleichsam relative Ruhepunkte im unendlichen Zusammenhang von Bewegung. Das meint Schleiermacher, wenn er diese Bestimmung des Individuellen mit der heraklitischen Formel vom „Fluß aller endlichen Dinge" (KDSp 566) 236 wiedergibt. Das Einzelne ist nur als relativer Vereinigungspunkt innerhalb eines Kontinuums aufzufassen. Indem das Einzelne so Teil des in einem Kontinuum ausgedrückten Ganzen ist, inhäriert es auf eine mittelbare Weise der Substanz. Als eine besondere Modifikation in der Totalität der Modifikationen, die im Begriff des unendlichen Modus gefaßt ist, ist das einzelne Ding zugleich bezogen auf die Substanz, aber nicht auf eine unmittelbare Weise. Denn die einzelne Modifikation folgt nicht als solche aus der Substanz, sondern nur insofern sie in den Zusammenhang unendlicher Modifikationen gestellt ist. Das Konzept der mittelbaren Inhärenz des Einzelnen in der göttlichen Substanz impliziert also einen Individuenbegriff, der einzelnes nur als eine relative Bestimmtheit innerhalb eines Ganzen ansieht, welches Ganze wiederum seinen Einheitsgrund darin findet, daß es als in sich Unendliches von Modifikationen Ausdruck der Einen Substanz ist.

236 Dazu oben S. 168f. 175.

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Schleiermachers Rekonstruktion der spinozanischen Metaphysik im Begriff der mittelbaren Inhärenz gilt nach seiner - von der Auffassung Jacobis abgehobenen - Interpretation für Dinge (res) beider Attribute gleichermaßen. Nicht nur inhäriert körperlich Einzelnes (als relative Bestimmung im tinendlichen Modus Ruhe und Bewegung) der Substanz mittelbar unter dem Attribut der Ausdehnung, sondern in entsprechender Weise inhäriert auch gedanklich Einzelnes (als relative Bestimmung im unendlichen Modus des Denkens) der Substanz mittelbar unter dem Attribut Denken. Diese Parallelität ist hier deshalb hervorzuheben, weil von der metaphysischen Frage der Individuation im Attribut Denken diejenige zu unterscheiden ist, welche nicht die Idee selbst, sondern das Ideatum, nicht das aktive Moment des Denkens an einem Gedanken, sondern seinen Gehalt betrifft. Während Schleiermacher die Individuation von Ideen als geistigen Akten noch unter das „objektive" Individuationsproblem zählt, faßt er das „subjektive" unter der Frage zusammen, inwiefern Individuation im Ideatum der Ideen, im gegenständlichen Gehalt unserer Vorstellungen expliziert werden kann. Dieser letzteren Fragestellung, auf die es für die Interpretation des Anschauungsbegriffs vorwiegend ankommt, wenden wir uns nun zu.

2. Die Auflösung des erkenntnistheoretischen Individuationsproblems Schleiermachers Wendung des Individuationsproblems als einer erkenntnistheoretischen, „subjektiven" Fragestellung, vollzieht sich einerseits als eine Auslotung dessen, was von spinozanischen Prinzipien her gedacht werden kann, und andererseits als eine transzendentalphilosophische Fortschreibung Spinozas anhand kantianisierender Analogiebildungen. Was, um zunächst auf den ersten Aspekt einzugehen, innerhalb des Systems Spinozas eine Perspektivenverlagerung von der Betrachtung der Dinge zu einer Betrachtung derselben als Gegenständen von Ideen ermöglicht, ist die Annahme, daß Ideen überhaupt, seien es die eines endlichen oder unendlichen Verstandes, auf nichts anderes als auf die „Natur" ideativ bezogen sind. 237 In den Ideata der Ideen ist die Natur als Repräsentiertes gegeben. Die innere Struktur dieses Repräsentierten als Gegenstand von Ideen ist und bleibt dieselbe metaphysische Struktur, die der Natur realiter zukommt. Die Natur aber umfaßt nach Spinoza nichts als die eine göttliche Substanz (als natura naturans) und deren Modifikationen (als natura naturata). 238 War das Verhältnis von Gott zu seinen Modifikationen im Konzept immanenter göttlicher Kausalität expliziert, so ist 237 Vgl. Eth. I, prop. 30, dem. Siehe dazu oben Teü I, S. 55ff. 238 Vgl. Eth. I, prop. 29, schol.

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diese Relationalstruktur also auch gültig für das Verhältnis von Gott und Modifikationen, sofern beides Ideatum, Gegenstand von Vorstellungen wird. 239 Schleiermacher faßt den spinozanischen Gedanken einer ideativen Bezogenheit von Vorstellungen überhaupt auf die Natur in seiner Rekonstruktion in den von Jacobi aufgenommenen Ausdruck, das Denken als Attribut sei das „Gefühl des Seyns", wobei unter Sein hier der „Urstof", die Substanz verstanden wird. 240 Das Denken bezieht sich also auf die Substanz als auf seinen Gegenstand, es ist der „unmittelbare Begriff" (Sp 535) derselben. Da aber - nach Schleiermachers gegenüber Jacobi korrigiertem Verständnis der spinozanischen Attributenlehre - im Attribut Cogitatio dieselbe Struktur der mittelbaren Inhärenz gilt wie in jedem Attribut der Substanz, so müssen auch die „einzelnen Begriffe und Willensäußerungen" dem Attribut als „unmittelbarem Begriff" inhärieren und zwar vermittelt durch die unendlichen Modi des Attributs Cogitatio: „Verstand und Wille" 241 . Das heißt, das Einzelne im Denken ist, sofern es eine mittelbare Modifikation des Attributs ist, genauso wie dieses ideativ auf die Substanz bezogen. Nun aber ist es als Einzelnes nicht auf die Substanz überhaupt, sondern auf die Substanz in ihren Modifikationen bezogen, und zwar wegen der Strukturisomorphie zwischen den Modifikationen verschiedener Attribute, auf genau jene Modifikation, welche im Gesamtzusammenhang des jeweiligen unendlichen Modus dieselben Relationen zu den übrigen Modifikationen aufweist. Eine einzelne Idee repräsentiert daher ein Einzelding, insofern es Modifikation ist, unter allen möglichen Attributen. Wenn Schleiermacher feststellt, daß „jedes endliche Ding alle Eigenschaften der Gottheit offenbaren müsse" (KDSp 575), so ist das in dem Horizont einer Reflexion auf den allgemeinen Status von Ideen gesagt. Jedes Einzelding, sofern es Gegenstand einer es repräsentierenden Idee ist, ist in dieser Idee als Modifikation unter allen Attributen repräsentiert. Gilt dies für Ideen überhaupt, so ist der menschliche Geist, die „Seele" doch nicht in der Lage, die Dinge unter unendlich vielen verschiedenen Attributen vorzustellen, sondern nur unter zweien, der Ausdehnung und dem Denken. Für unser menschliches Vorstellen gibt Schleiermacher daher dieselbe Aussage in einer konkretisierenden Einschränkung wieder, „daß nemlich kein Ding sich uns als ein einzelnes ausgedehntes darstelle, welches nicht zugleich denkend, und keins als ein einzelnes denkendes, welches nicht zugleich ausgedehnt sei" (KDSp 577). Menschliches Vorstellen ist solchermaßen auf sein Ideatum bezogen, daß dieses stets in der Verschränkung seiner 239 Dies ist das Resultat der sehr komplexen spinozanischen Theorie der Strukturisomorphie von Realem und Idealem. Siehe dazu oben Teil I, S. 48ff. 240 Sp 534. Zur Problematik des Ausdrucks „Gefühl des Seyns" s. o. S. 186ff. 241 S. o. S. 187.

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attributiven Qualitäten als Körper und als Idee vorstellbar ist, mag auch die einzelne Vorstellung es unter diesem oder jenem Attribut betrachten. Für die Frage der Explikation von Individuation für den Gegenstand menschlicher Vorstellung ergibt sich daraus folgende Konsequenz. Ist der Gegenstand menschlicher Vorstellung ein Einzelnes, so muß sich dieses Einzelne als Ideatum - nicht anders als jedes Einzelne überhaupt - gemäß der Struktur der mittelbaren Inhärenz als ein mittelbarer Ausdruck der Substanz explizieren lassen. Diese Explikation ist unter Berücksichtigung der Verschränkung der Attribute der Ausdehnung und des Denkens vorzunehmen. D. h. das Einzelne, das Gegenstand der menschlichen Vorstellung ist, muß sich unter beiden dem menschlichen Vorstellen zugänglichen Attributen, also sowohl als Körper als auch als Idee betrachtet, gemäß der Struktur mittelbarer Inhärenz als ein mittelbarer Ausdruck der Substanz explizieren lassen. Inwiefern aber der Gegenstand menschlicher Vorstellung als ein mittelbarer Ausdruck der Substanz verstanden werden kann, ergibt sich für Schleiermacher aus der oben dargestellten Auflösung des Individuationsproblems. Die Substanz drückt sich in unendlichen Modi als den Totalitäten der endlichen Dinge unter beiden Attributen aus. Die Einzeldinge sind, sofern sie als Modifikationen Teil der unendlichen Modi sind, ein durch diese vermittelter Ausdruck der Substanz. Als Gegenstand der Vorstellung werden diese realistischen Fundierungsverhältnisse in eine idealistische Perspektive gerückt: Die Vorstellung von Einzelnem ist die Vorstellung eines durch die unendlichen Modi der Attribute vermittelten lind damit individuierten Ausdrucks der Substanz. Die Substanz kann also, obgleich sie „per se" oder unabhängig von ihren Modifikationen betrachtet unvorstellbar ist, als in Einzelmodifikationen individuierte, gleichsam vermittelte Substanz sehr wohl der Gegenstand menschlicher Vorstellving sein. Ja, sie ist es als solche modifizierte und individuierte Substanz permanent, indem jeder mögliche Gegenstand menschlicher Vorstellung, sowohl als einzelner Körper als auch als einzelne Idee, als ihr mittelbarer Ausdruck zu verstehen ist. Das Diktum von der „unendlichen (mittelbaren) Vorstellbarkeit" (KDSp 575) der Substanz findet so von Spinozas Philosophie her eine erste, noch rein metaphysisch argumentierende Erklärung: Die mittelbare Vorstellbarkeit der Substanz ist deshalb eine unendliche, weil die Substanz in unendlichen Einzeldingen als in ihren Modifikationen vorgestellt werden kann. Die Prinzipien, die die Substanz für den Menschen vorstellbar machen, sind keine anderen als diejenigen, die überhaupt die metaphysische Struktur der Welt ausmachen. Es sind die Attribute mit ihren Totalitäten darstellenden unendlichen Modi, welche sowohl als Ausdruck der Substanz als auch als ein solches Ganzes verstanden werden können, als dessen Teilmodifikation Einzelnes sich konstituiert.

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Schleiermacher findet es im Sinne des kritischen Idealismus allerdings unbefriedigend an Spinozas Philosophie, daß die Prinzipien für das Verständis des Gegenstands unserer Vorstellung in einer metaphysischen Struktur verankert scheinen, welche selbst nicht aus dem menschlichen Vorstellungsleben hergeleitet ist, sondern diesem bereits zugrundeliegt und also strenggenommen in einen Bereich fällt, der dem menschlichen Vorstellen als Gegenstand gar nicht zugänglich sein könnte, hätte es nicht irgendwoher die Kenntnis des metaphysischen Systems. Aber dieses Manko der „falschen Hypothesen von den Eigenschaften [sc. Attributen] des Unendlichen" (KDSp 575) sieht Schleiermacher als eines an, das überwunden werden kann, 242 ohne die Stärken von Spinozas Explikation preisgeben zu müssen. Aus dieser Überwindung wird sich eine zweite Erklärung der Möglichkeit mittelbarer Vorstellbarkeit des unmittelbar unvorstellbaren Unendlichen ergeben. Wenn Schleiermacher in diesem Sinne die spinozanischen Attribute mit den kantischen Anschauungskontinua von Raum und Zeit in Analogie setzt 243 , gewinnt er eine Perspektive, in welcher die Prinzipien der Individuation der Vorstellungsgegenstände aus der Art des menschlichen Vorstellungsvermögens selbst erklärbar werden, ohne sie als gegebene metaphysische Struktur voraussetzen zu müssen. Diese Analogie war, wie wir gesehen haben, durch eine erkenntnistheoretische Enthaltung über den quantitativen Status des Noumenalen ermöglicht worden. Das uns in dieser Hinsicht unbekannte Noumenon konnte so der unvorstellbaren spinozanischen Substanz entsprechen.244 Setzt man mit Schleiermacher diese Analogiebildungen hier voraus, so liest sich dessen Ergebnis der Individuationsfrage für den Gegenstand menschlicher Anschauung folgendermaßen. Die Vorstellung von Einzelnem ist eine durch die mit unserer Anschauungsart verbundenen Kontinua von Raum und Zeit vermittelte Vorstellung des Noumenon, mithin eine Vorstellung der Erscheinung des Noumenon. „Mir wenigstens scheint es mit den denkenden Dingen grade die Bewandniß zu haben, als mit den ausgedehnten: das individualisierende Bewußtseyn beruht auf der Receptivität und bezieht sich nur auf die Erscheinimg" (KDSp 574). „Raum und Zeit ist das modificirende Medium" (KDSp 576). Schleiermacher denkt sich die Vermittlungsfunktion von Raum und Zeit analog derjenigen der unendlichen Modi im Konzept mittelbarer Inhärenz. Sie weisen als Kontinua der Wahrnehmimg in sich keinerlei Möglichkeit der Differenzierung auf. Alles müßte für die Einbildungskraft, die die Wahrnehmung innerlich nachzeichnet, ein fortlaufendes Kontinuum ergeben. 242 In dieser Einschätzung ist Rehberg Schleiermacher vorangegangen. Vgl. oben Anm. 230 auf S. 219. 243 S. o. S. 218ff. 244 S. o. S. 238ff und S. 213ff.

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Jedoch ergeben sich die Differenzierungen für die Einbildungskraft dadurch, daß Raum und Zeit als Kontinua verschränkt sind. Was also in aufeinanderfolgenden Vorstellungen im Raum als verändert erscheint, wird unterschiedlichen Individua zugesprochen. Und umgekehrt macht die Veränderung der Erscheinung im Raum eine Differenzierung von aufeinanderfolgenden Vorstellungen möglich. Eine einzelne räumliche Erscheinung als Gegenstand einer zeitlich differenzierten Vorstellung ist also nichts anderes als ein relativer Vereinigungspunkt in den Anschauungskontinua räumlicher und zeitlicher Veränderung. Die so skizzierte Individuation der Erscheinung als des Gegenstands menschlicher Anschauung wird von Schleiermacher als eine transzendentalphilosophische Reformulierung der spinozistischen Individuationstheorie verstanden. Die Pointe liegt darin, daß hier in das Verhältnis von Noumenon und Phaenomena die Individuationsfunktion der Anschauungskontinua eingezeichnet wird. Raum und Zeit fungieren insofern als das „modificirende Medium", als sie das an sich unanschaubare Noumenon zu einer Mannigfaltigkeit von Erscheinungen individuierend modifizieren und dadurch als Gegenstand der menschlichen Anschauung vorstellbar machen. Hierin liegt eine zweite, und zwar kritisch-idealistische Explikation des Diktums der „unendlichen (mittelbaren) Vorstellbarkeit" (KDSp 575) des Absoluten, der wir uns nun im Hinblick auf den Anschauungsbegriff näher zuwenden wollen.

3. Die Genese eines religionsphilosophischen Anschauungsbegriffs aus der Auflösung des Individuationsproblems Meine Interpretation der Schleiermacherschen Spinozamanuskripte hat das Individuationsproblem als die für Schleiermacher bestimmende Leitfrage seiner Spinozarezeption herausgearbeitet und ist dabei von der Hypothese ausgegangen, daß die Frage der Individuation zugleich das systematische Kernproblem darstellt, aus dem heraus Schleiermachers späterer religiöser Anschauungsbegri ff seine Aufbaumomente erhält. Es gilt daher nun, diese Verbindung des Anschauungsbegriffs mit dem Individuationsproblem aufzuzeigen. Es soll im folgenden Kapitel gezeigt werden, wie noch innerhalb der Spinozamanuskripte erste Ansätze dafür gefunden werden können, daß der Anschauungsbegriff für Schleiermacher systematisch ins Zentrum rückt und daß bereits hier die eigentümliche Verbindung desselben mit dem Universumsbegriff angelegt ist.

3. Die Genese eines religionspMosophischen Anschauungsbegriffs

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Rein wortstatistisch freilich spielen beide Begriffe in den Manuskripten eine untergeordnete Rolle. Der Anschauungsbegriff fällt nur fünfmal, 245 der Universumsbegriff lediglich viermal. 246 Zudem scheint Schleiermacher dem Begriffsausdruck „anschauen" keine Exklusivität einzuräumen, denn er gebraucht Ausdrücke wie „vorstellen" 247 , „wahrnehmen" 248 , „betrachten" 249 oder „denken" 250 ganz parallel. Es wäre also übertrieben zu behaupten, Schleiermacher habe in den Spinozamanuskripten schon eine ausgearbeitete Theorie des Anschauungsbegriffs, noch weniger eine solche für eine Anschauung des Universums. Jedoch lassen sich Gründe dafür aufzeigen, daß in der Sache bereits in den Spinozamanuskripten die Grundmomente des späteren Begriffs religiöser Anschauung vorhanden sind und deshalb im Kontext der Beschäftigung Schleiermachers mit Spinoza die Genese seiner prominenten Stellung gesehen werden kann. Dieses Kapitel hat also gleichsam eine Scharnierfunktion für die werkgenetische Rekonstruktion des frühen Religionsbegriffs Schleiermachers. Die in den Spinozamanuskripten festgehaltene gedankliche Konstellation einer Verbindung von kantischen und spinozanischen Elementen scheint mir für diese Frage entscheidend. Hatten wir im vorangehenden Kapitel Schleiermachers Auseinandersetzung mit dem Individuationsproblem bis zu dessen Auflösung in weitgehenden Analogiesetzungen verfolgt, deren transzendentalphilosophisch-spinozistische Pointe die Fokussierung der Frage von den Gründen der Vereinzelung von Dingen überhaupt auf Individuationsprinzipien von Gegenständen, wie sie unserem vorstellenden Bewußtsein vorliegen, verlagert hatte, so hatte sich darin schon die Tendenz Schleiermachers gezeigt, die an Spinoza gewonnenen Einsichten auf ein transzendentalphilosophisches Erörterungsniveau zu bringen. Damit erschien es für Schleiermacher in der Frage der Individuation möglich, den kantischen Kritizismus mit den Stärken des spinozistischen Systems zu verbinden. Der Anschauungsbegriff gewinnt in dieser Konstellation einerseits durch die Anknüpfung an den kritischen Idealismus Kants, andererseits durch dessen spinozistische Modifikation Kontur. Schleiermacher steht, bei aller frühen Kritik an Kants praktischer Philosophie, in Sachen der theoretischen Philosophie fest auf dem Boden des kantischen Kritizismus. Das hat Dilthey richtig gesehen, wenn er den „kritischen Standpunkt Kants als Grundlage der Untersuchungen Schlei245 246 247 248 249 250

Sp 526, Z. 26; KDSp 567, Z. 10; KDSp 569, Z. 15; KDSp 575, Ζ. 1.13. KDSp 572, Z. 7; KDSp 576, Z. 11. 18. 32. Sp 526; KDSp 575 u.ö. Sp 526, Z. 27. KDSp 576, Z. 32. Sp 527, Z. 5.

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ermachers" bezeichnet. 251 Für die Frage nach dem Anschauungsbegriff ist die Aufnahme von Kants kritischem Idealismus der Erscheinung, wie er ihn in der transzendentalen Ästhetik der KrV aufstellt, von Belang. Schleiermacher entwickelt in den Spinozamanuskripten anhand des von Jacobi vorgegebenen Stichworts „anschauen" eine Theorie von „Erscheinung" als Gegenstand menschlicher „Vorstellung", die in ihren Grundzügen mit der kantischen Fassung von Erscheinung als eines Gegenstands sinnlicher Anschauung übereinkommt und von Schleiermacher auch in dieser Übereinstimmimg ausdrücklich intendiert ist. Eine erste Hinsicht, in welcher der Anschauungsbegriff in den Spinozamanuskripten Gestalt gewinnt, ergibt sich also aus seiner Verkoppelung mit dem Erscheinungsbegriff. Anschauung ist hier ganz in den Bahnen Kants verstanden als die Art, wie wir auf Erscheinimg rezeptiv bezogen sind. In den so bestimmten Anschauungsbegriff findet bei Schleiermacher zweitens aber auch die kritisch-restriktive Dimension des transzendentalen Idealismus Eingang. Demnach sind uns in der Anschauung nur Erscheinungen gegeben. Das An-sich-Sein der Dinge bleibt menschlicher Anschauung als solches prinzipiell unzugänglich. Wäre Schleiermacher bei diesem doppelten Ergebnis des kritischen Idealismus stehen geblieben, so wäre er in gewisser Weise ein Kantianer geblieben. Schleiermacher findet aber den gedanklichen Gehalt des kritischen Idealismus der Erscheinung nicht nur als Eigentümlichkeit der kantischen Philosophie, sondern, so meine These, ebenso bei Spinoza ausgedrückt bzw. in der Fluchtlinie eines konsequenten Spinozismus. Und diese spinozistische Lesart rückt für ihn nun ihrerseits die kantische in ein problematisches Licht. Das Ergebnis der im letzten Kapitel untersuchten Verschränkung von Kant und Spinoza war für Schleiermacher einerseits eine gedankliche Wendung der spinozanischen Metaphysik in eine spinozistische Erkenntnistheorie, in welcher die endlichen Dinge als Erscheinungen der an sich unerkennbaren göttlichen Substanz aufgefaßt werden. Daraus ergab sich andererseits eine Anfrage an Kants Unterscheidung der Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena. Diese Anfrage betraf die Möglichkeit der quantitativen Pluralität des Noumenalen. Wodurch ist denn Kant berechtigt eine Mehrzahl von Noumena anzunehmen, wenn uns in der Anschauung nichts als Erscheinungen gegeben sind und von diesen gar kein Schluß auf jene zulässig ist? Die Konsequenz ist für Schleiermacher, wie wir gesehen haben, eine Modi251 W. Dilthey: Leben Schleiermachers (1870/1970), S. 88ff/94ff. Dilthey macht dies allerdings nicht an den frühen Texten deutlich, sondern stellt dazu nur fest: „Dies Verhältniß der beiden großen Männer tritt in den Schriften Schleiermachers nicht klar heraus" (S. 101/108). P. Grove (Deutungen des Subjekts [2004], S. 133) urteilt über das Manuskript ,Spinozismus', daß Schleiermacher „nirgends im Frühwerk vorbehaltloser von kantischer Erkenntnistheorie her" argumentiere. Dem kann ich nur zustimmen.

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fikation der kantischen Terminologie dahingehend, in Anlehnung an Spinozas numerische Unbestimmtheit der göttlichen Substanz nur noch von einem Noumenon überhaupt zu sprechen, über das freilich weiter nichts bekannt sein kann, als daß es der Sphäre der Phaenomena insgesamt korrespondiert. In dieser Fassung wird in das Konzept der Anschauung, als der Art unserer rezeptiven Bezugnahme auf Erscheinung, ein Problem eingeschlossen, das bei Kant an dieser Stelle gar nicht in den Blick kommt. In Schleiermachers spinozistischer Lesart jedoch avanciert es geradezu zum Schlüsselproblem. Seine grundlegende Einsicht läßt sich in folgender Überlegung zusammenfassen: Die Erscheinungsrelation einer grenzbegrifflich gefaßten An-sich-Dimension zu den Gegenständen unserer Anschauung impliziert eine Indwiduationsfunktion der Anschauung. Denn die Gegenstände der Anschauung liegen in einer bestimmbaren Einzelheit vor, jene An-sich-Dimension muß jedoch quantitativ unbestimmbar bleiben. Erscheinung bedeutet also zugleich Vereinzelung. Mit dieser These hängen weitere Fragen zusammen: Was sind die Prinzipien einer solchen Vereinzelung von Erscheinungen? Und was bedeutet es für die Explikation von menschlicher Anschauung, wenn die in ihr angeschauten Gegenstände nicht als Erscheinungen von sonst unbekannten Dingen an sich, sondern als Individuationsgestalten des Noumenalen überhaupt angesehen werden müssen? An dieser Stelle kommt für Schleiermacher die an Spinoza entwickelte Individuationstheorie auch für die Grundelemente seines Anschauungsbegriffs zum Tragen. Vor diesem Hintergrund sind im Folgenden die Implikationen der Individuationsproblematik für den Anschauungsbegriff herauszuarbeiten. In einem ersten Punkt soll es darum gehen, die Art der Anknüpfung Schleiermachers an Kants kritischen Idealismus der Erscheinung aus den einschlägigen Passagen der Spinozamanuskripte zu erheben. Es wird sich zeigen, daß sinnliche Anschauung dort gleichsam als epistemisches Korrelat des Erscheinungsbegriffs fungiert (A). Inwiefern nun dieser erkenntnistheoretische Ansatz bei den Gegenständen sinnlicher Anschauung aus Schleiermachers Sicht mit Spinoza nicht nur vereinbar ist, sondern geradezu ein Basisgedanke Spinozas selbst bildet, ist in einem zweiten Punkt darzustellen (B). Hiermit sind wir aber noch nicht auf dem Erörterungsniveau angekommen, eine Vorform der religiösen Anschauung der ,Reden' in den Spinozamanuskripten auszumachen. Vielmehr ist bis zu diesem zweiten Punkt lediglich von den Bestimmungen sinnlicher Anschauung nach Kant, wie sie Schleiermacher in seiner Theorie menschlicher „Vorstellung" traktiert bzw. wie er sie in Spinozas Ideenbegriff wiederfindet, die Rede. Die Problemebene, welche dem religiösen Anschauungsbegriff der ,Reden' den Weg bereitet, erreicht Schleiermacher, indem er den Begriff sinnlicher Anschauung im Rahmen seines erkenntniskritischen Idea-

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lismus mit dem Individuationsproblem in Verbindung bringt. Erst beide Stränge zusammen ergeben das Potential für eine religionsphilosophische Valenz des Anschauungsbegriffs. So wird im dritten Abschnitt dieses Kapitels die Auflösung des Individuationsproblems mit dem kritischidealistischen Ansatz beim endlichen, sinnlich bestimmten Bewußtsein in der Frage zusammengeführt, wie nach den Überlegungen in Schleiermachers Spinozamanuskripten von einer Anschauung des Unendlichen aus der Perspektive endlichen Bewußtseins gesprochen werden könne (C).

A. Die Grundlegung von Schleiermachers Anschauungsbegriff im Anschluß an Kant 1. Anschauung als epistemisches Korrelat eines Idealismus der Erscheinung Ein erstes Moment derjenigen systematischen Konstellation, in der Schleiermachers Anschauungskonzeption sich entwickelt, sehe ich in seiner Aufnahme des kantischen Idealismus der Erscheinung. Wenn Schleiermacher in den Spinozamanuskripten von „kritischer Philosophie" (KDSp 573) oder vom „kritischen Idealism" 252 spricht, bezieht er sich auf die von Kant vorgenommene Unterscheidung von Erscheinimg und Ding an sich, was in Schleiermachers etwas vergröbernder Sicht zugleich bedeutet: auf die Unterscheidung von Phaenomenen und Noumenen. Er macht damit das Hauptcharakteristikum von Kants theoretischer Philosophie an dessen bereits in der transzendentalen Ästhetik der ersten Kritik aufgestellten Einsicht fest, uns durch die Sinne gegebene Gegenstände nicht für Dinge-an-sich zu halten, sondern die Gegebenheitsweise dieser Gegenstände als eine für tins unübersteigbare Schranke der Erfahrung anzusehen. Solche uns durch die Sinne gegebene Gegenstände heißen Erscheinungen und sind von den Dingen, wie sie unabhängig von ihrer Gegebenheitsweise, d. h. „an sich" sind, wohl zu unterscheiden. Das idealistische Moment dieser Unterscheidung liegt nun darin, daß die Gegebenheitsweise von Erscheinungen in der Struktur unserer Sinnlichkeit begründet ist. Uns sind Gegenstände vermittels jener formalen Charakteristika der Sinnlichkeit nur als außereinander und nacheinander, mithin in den Formen von Raum und Zeit gegeben. Die Vorstellungsart, die solche in den Formen von Raum und Zeit gegebenen Gegenstände, d. h. Erscheinungen zum Gegenstand hat, heißt bei Kant „sinnliche Anschauung". Schleiermachers Anknüpfung an Kant in dieser Thematik läßt sich an seinem Kommentar zu einer Jacobischen Bemerkung aus den Spino252 Sp 541. 542; KDSp 574, Z. 26. 31; 575.

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zabriefen ablesen. Jacobi bringt hier das Stichwort „anschauen" und bietet so Schleiermacher Anlaß zu einer Kette von Assoziationen, die ihn letztlich zu einer gedanklichen Verschmelzung von kantischer und spinozistischer Philosophie hinführt. Die oben entwickelten Analogien finden hier einerseits ihren genetischen Ausgangspunkt, andererseits ihren systematischen Zielpunkt. Von daher wird die Passage noch weiter zur Rekonstruktion der Genese des Anschauungsbegriffs heranzuziehen sein. 253 Hier soll sie aber zunächst nur in Bezug auf Schleiermachers an Kant anknüpfendes Verständnis eines Idealismus der Erscheinung interpretiert werden. Die Jacobische Passage, die den „Geist des Spinozismus" explizieren soll, lautet: „Im Grunde aber ist das, was wir Folge oder Dauer nennen, bloßer Wahn; denn da die reelle Würkung mit ihrer vollständigen reellen Ursache zugleich, und allein der Vorstellung nach von ihr verschieden ist: so muß Folge und Dauer, nach der Wahrheit, nur eine gewisse Art und Weise seyn, das Mannigfaltige in dem Unendlichen anzuschauen." 254 Jacobi mutet Spinoza hier eine Doppelposition zu: „nach der Wahrheit" seien reelle Ursache und Wirkung identisch, realiter gebe es also nach Spinoza keine Kausalrelationen der Dinge, nur „der Vorstellung nach" gebe es diese Verhältnisse. Jacobi sieht Spinoza deshalb in der von ihm aufgemachten Alternative von Realismus oder Idealismus 255 auf Seiten des Idealismus. Wenn Verhältnisse nur in der Vorstellung des Menschen, nicht aber in re vorhanden sind, so sind sie nach Jacobis Einschätzung nichts als Einbildung des Menschen, „bloßer Wahn". Schleiermacher nun behandelt in seinem Kommentar das Problem, wie eine „Folge von Erscheinungen" (Sp 526. Hhg. C.E.) in Bezug zu dem 253 S. u. S. 257ff. 254 LSp, JWA 1/1, S. 20; Sp 526. Hhg. i.O. 255 Diese in den Spinozabriefen angedeutete Differenz entfaltet Jacobi ausführlich in seinem philosophischen Dialog ,David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus' von 1787, der mit zu Schleiermachers Lektürestoff im Winter 1793/94 gehörte (vgl. Schleiermachers Manuskript ,Uber dasjenige in Jacobis Briefen und Realismus, was den Spinoza nicht betrifft, und besonders über seine eigene Philosophie', KGA 1/1, S. 583ff. „Realismus" steht hier als Kurztitel für das angegebene Werk Jacobis). Jacobi sucht die Frage nach dem Status extramentaler Wirklichkeit im ,David Hume' in eine Disjunktion zu treiben. Daß „uns die Dinge als außer uns erscheinen" (KGA 1/1, S. 596) sage noch nichts über deren Wirklichkeitsstatus aus. Entweder man nimmt die Wirklichkeit von Dingen an, deren Erscheinung uns als Vorstellung bewußt ist, und vertritt damit die Position des Realismus. Dessen „Ueberzeugung vom Daseyn wirklicher Dinge außer mir" kann sich freilich nicht auf Gründe stützen und wird deshalb von Jacobi „Glauben" (Vorrede zu DH; KGA 1/1, S. 595.) genannt. Oder man beläßt es bei der Feststellung der Vorstellung der Dinge „als außer uns", muß sich dann aber eingestehen, daß diese Vorstellungen „bloße Erscheinungen in uns, [...], folglich als Vorstellungen von etwas außer uns gar nichts sind" (DH 141; KGA 1/1, S. 596) Dies ist die kontradiktorisch entgegengesetzte Position des Idealismus. Für Jacobi stellt sich das Problem also in der Alternative von Realismus oder Idealismus.

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ihnen zugrunde liegenden Noumenalen anzusehen ist. Daß Schleiermacher hier von „Erscheinungen" spricht ist eine deutliche Abwendung von Jacobi. Während Jacobi die „reelle" und die „vorstellende" Seite bei Spinoza in eine radikale Gültigkeitsdisjunktion von „Wahrheit" und „Wahn" stellt, die eigentlich als eine von Sein und Schein verstanden wird, flicht Schleiermacher durch seine kantianisierende Interpretation an dem Zusammenhang, der diese beiden Seiten in ein plausibles Verhältnis setzen soll. Ebenso hatte bereits Mendelssohn als Jacobis erster Leser gegen diesen eine kantianisierende Lesart vorgeschlagen: „Folge und Dauer" seien „nothwendige Bestimmungen des eingeschränkten Denkens; also Erscheinungen, die man doch von bloßem Wahn vinterscheiden muß." 256 Wenn Jacobi also die Hinsicht „der Vorstellung nach" auf die Ebene der Willkür des vorstellenden Subjektes stellt, so liegt Schleiermacher mit Mendelssohn ganz auf der Ebene der kantischen Argumentation, der seinen „kritischen Idealismus" wider allen Vorwurf verteidigt, mit der Lehre von der Idealität von Raum und Zeit die Sinnenwelt zu bloßem subjektivem Schein zu reduzieren.257 Vielmehr sei, so Kant in den Prolegomena von 1783, über die Objektivität der Erscheinungen, derzufolge sie als Erscheinungen bezeichnet werden, noch gar nichts entschieden. Objektivität fällt nämlich in die Funktion des urteilenden Verstandes und ist nicht von der Gegebenheitsweise von Gegenständen abhängig. Daß uns Menschen also Gegenstände nur vermittelst der Sinnlichkeit in der Anschauung gegeben werden und sie also als Erscheinungen zu bezeichnen sind, sagt nach Kant noch gar nichts über deren mögliche Objektivität aus. Der Status von Gegenständen als Erscheinungen schließt Objektivität nicht aus, ist also offen für die Alternative einer bloß subjektiven Erscheinung und einer objektiven Erscheinung. Wenn Schleiermacher also hier von Erscheinungen spricht, läßt er sich nicht von der von Jacobi aufgemachten Alternative schrecken, als ob jede Theorie, die nicht im Sinne eines unkritischen Realismus den Gegenständen unserer sinnlichen Vorstellung wirkliche Dinge zugrundelegt, notwendig diese Gegenstände und damit die ganze Sinnenwelt für bloßen Schein erklären müßte. Mit seinem Begriff von Erscheinung, den er aus dem Jacobischen Stichwort „anschauen" extrapoliert, sieht sich Schleiermacher in ausdrücklicher Übereinstimmung mit Kant. „Darum stellt sich uns das ganze [sc. eines Gegenstandes] nur in einer Reihe von Erscheinungen dar, in welcher alles beisammen ist, was nur für unser VorstellungsVermögen beisamen seyn darf, und alles getrennt, was zu Folge desselben ge256 Vgl. Erinnerungen, JWA1/1, S. 175. Hhg. i.O. 257 Vgl. zum Folgenden Proleg, § 13 Anm. 3 (AAIV, S. 290-294) und Kants Argumentation, warum Erscheinung nicht bloßer Schein sei, in der Allgemeinen Anmerkung zur Transzendentalen Ästhetik', KrV A 42-49 / Β 59-73.

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trennt seyn muß. Ich glaube daß in dieser Darstellung nichts enthalten ist was der kantischen Ansicht der Dinge widerstrebte" (Sp 527. Hhg. C.E.). Während Kants Begriff der Vorstellung noch jenseits der Differenz von Gedanke und Anschauung liegt, 258 hat Schleiermacher hier einen vergleichsweise engen Begriff von Vorstellung. Was Schleiermacher hier unter „vorstellen" faßt, weist jene Charakteristika auf, welche Kant im engeren Sinne der Vorstellungsart der „sinnlichen Anschauung" 259 zuweist. Sinnliche Anschauung ist nach Kant bekanntlich hinnehmend und den Formen von Raum und Zeit unterworfen. In Schleiermachers Formulierung, einer Darstellung „für uns" „in Erscheinungen" kommt der hinnehmende Charakter dieser Vorstellungsart zum Ausdruck. Schleiermachers „Vorstellungsvermögen" als die Gegebenheitsweise des Gegenstands beschränkende Bedingung steht für die kantische Sinnlichkeit und schließlich wird von Schleiermacher in diesem Kontext auch das „außereinander" und das „nacheinander" genannt, welches auf die kantischen Anschauungskontinua Raum und Zeit verweist. Darin, daß Schleiermacher sich hier deutlich an Kants Idealismus der Erscheinung der transzendentalen Ästhetik anlehnt, ist ein erstes Moment in der Genese von Schleiermachers Anschauungsbegriff zu sehen. Anschauung, näherbestimmt mit den Merkmalen dessen, was Kant als „sinnliche Anschauung" bezeichnet, kommt als die tins Menschen mögliche Vorstellungsart, wie uns Gegenstände gegeben werden können, zu stehen. Der Anschauungsbegriff erhält somit eine erste Bestimmung dadurch, die Art unserer primären rezeptiven Bezogenheit auf Erscheinung anzugeben.

2. Die kritische Restriktion menschlicher Anschauung Der Ausgangspunkt bei der sinnlichen Anschauung ist aber nur die eine Seite des kritischen Idealismus. Auf der anderen Seite steht dieser für eine kritische Restriktion. Kant hat mit seiner Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit nicht nur die Absicht gehabt, die Struktur unseres Anschauungsvermögens darzutun, um etwa die Möglichkeit reiner Mathematik aufzeigen zu können, sondern verband mit dieser zugleich die kritische These, daß unser Anschauen nicht anders als in diesen Formen stattfinden, mithin nichts als Erscheinung möglicher Gegenstand menschlicher Anschauung sein könne. Auf der einen Seite impliziert diese Restriktion also eine Dif258 Vgl. KrV A 320/B 376f. 259 Vgl. KrV Β 34. Dieses Changieren zwischen den Ausdrücken „vorstellen" und „anschauen" mag durch eine Reinholdsche Lesart Kants vonseiten Schleiermachers bedingt sein. Vgl. dazu P. Grove: Deutungen des Subjekts (2004), S. 154.

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ferenzierung der Gegenstände in solche, die uns in unserer sinnlichen Anschauung gegeben werden können (Phaenomena), und solche, die „nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung" sind, „indem wir von unserer Anschauungsart de [r] selben abstrahieren" (Noumena, KrV Β 307). Dieser mit der Erscheinungslehre implizierte Begriff von Noumena ist nach Kant nicht in einem positiven Sinn als Bestimmung eines Dinges, wie es an sich oder unabhängig von unserer Erfahrung wäre, sondern bloß „im negativen Verstände" zu nehmen, 260 d. h. in seinem restriktiven Sinn, und stellt somit einen Grenzbegriff möglicher Gegenstände menschlicher Anschauung dar.261 Auf der anderen Seite ist mit dem Erscheinungsbegriff auch eine Restriktion ausgesagt bezüglich der Art des Anschauungsvermögens selbst. Wenn nämlich Erscheinung derjenige Gegenstand ist, der uns in den Formen von Raum und Zeit gegeben wird und zwar durch die Vermittlung der Sinnlichkeit, und Gegenstand unserer Anschauung nichts als Erscheinung sein kann, dann heißt das, daß unser Anschauungsvermögen charakterisiert und restringiert ist auf eine hinnehmende („gegeben"), sinnliche und auf die Formen von Raum und Zeit beschränkte Art des Vorstellens. Ähnlich wie in Hinsicht auf die Gegenstände dem Begriff der Phaenomena der Grenzbegriff von Noumena an die Seite gestellt wird, tritt nun bei Kant dem Begriff der menschlichen, „sinnlichen" Anschauung der Begriff einer „intellektuellen Anschauung" gegenüber, der gleichfalls als Grenzbegriff fungiert. Kant spricht es überdeutlich aus, daß wir Menschen gerade nicht über eine solche Art des Anschauens verfügen. 262 Sie ist für uns lediglich denkbar, nämlich wiederum als negative Abstraktion der uns zukommenden Anschauungsart. Eine intellektuelle Anschauung wäre zu denken als nicht hinnehmend, nicht sinnlich, und nicht den Formen von Raum und Zeit unterworfen, und daher ihre Gegenstände „selbsttätig" gebend, „intellektuell" und die Dinge in ihrem An-sich-sein erkennend. Die traditionellen Eigenschaften eines göttlichen Verstandes, der als anschauender Verstand die Dinge nicht nur erkennt, wie sie sind, sondern sie damit allererst hervorbringt, werden von Kant so als bloße Grenzbestimmungen des humanen, d. h. sinnlichen Anschauungsvermögens aufgefaßt (vgl. KrV Β 72). Kant muß diesen Grenzbegriff einer nichtsinnlichen Anschauung denken, weil diese unsere sinnliche Anschauung 260 Vgl. KrV Β 307: „Die Lehre von der Sinnlichkeit ist nun zugleich die Lehre von den Noumenen im negativen Verstände". 261 Vgl. KrV Β 311: „Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche." 262 Vgl. KrV Β 307: „Verstehen wir aber darunter [sc. unter einem Noumenon] ein Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nämlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Möglichkeit nicht einsehen können, und das wäre das Noumenon in positiver Bedeutung." Vgl. auch KrV Β 68. 71f. 135.138f. 146.149. 311f.

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nicht als notwendig deduzierbar ist. Der Grenzbegriff einer intellektuellen Anschauung dient dem Aufweis der Kontingenz unserer Anschauungsart (vgl. KrV Β 144). Der Begriff intellektuelle Anschauung steht somit bei Kant in einer analogen systematischen Funktion wie der Begriff Noumena. Beide sind als Grenzbestimmungen anzusehen und zwar als diejenigen, die hinsichtlich Anschauungsvermögen bzw. Anschauungsgegenstand die restriktiven Implikationen eines Idealismus der Erscheinung auf den Begriff bringen. Anders als Jacobi 263 scheint Schleiermacher den grenzbegrifflichen Charakter des kantischen Terminus Noumena erkannt zu haben und will im Geiste des transzendentalen Idealismus gerade an der kritischen Seite desselben festhalten. Wenn er vom Begriff der Erscheinung Gebrauch macht, ist er sich dessen bewußt, über dasjenige, was da erscheint, keine Erkenntnisaussage treffen zu können. In seinen Kant-Referaten in den Spinozamanuskripten kommt dies an drei Stellen zum Ausdruck. Sieht man einmal von der realistischdynamischen Beschreibungsart ab, so ist in der folgenden Passage durchaus ein erkenntniskritisches Moment auszumachen. „Die Dinge sind an sich anders als sie werden wenn sie durch unser VorstellungsVermögen und durch unsere Organisation gegangen sind; das ist es wovon Kant ausgeht" (KDSp 573). Die Dinge-an-sich mögen zwar „anders" sein als unsere sinnlichen Vorstellungen von ihnen, aber in dieser Andersheit sind sie uns gerade prinzipiell entzogen, da uns nur vermittelst unseres „Vorstellungsvermögens" und das heißt hier: vermittelst unserer sinnlichen Anschauung Gegenstände in Vorstellungen gegeben werden können. Die Dinge-an-sich sind kein möglicher Gegenstand unserer Anschauung, weil die „Veränderung", die sie erfahren, wenn sie durch unser Anschauungsvermögen gehen, für uns unhintergehbar ist. 263 Jacobi hatte 1787 in einer Beilage zum ,David Hume' mit dem Titel ,Uber den transzendentalen Idealismus' (Werke Π, S. 291-310) gegen Kant eingewandt, „daß der kantische Philosoph den Geist seines Systems ganz verläßt, wenn er von den Gegenständen sagt, daß sie Eindrücke auf die Sinne machen, dadurch Empfindungen erregen, und auf diese Weise Vorstellungen zuwege bringen·, denn nach dem kantischen Lehrbegriff kann der empirische Gegenstand, der immer nur Erscheinung ist, nicht außer uns vorhanden und noch etwas anders als eine Vorstellung seyn; von dem transzendentalen Gegenstande wissen wir aber nach diesem Lehrbegriffe nicht das geringste" (Werke Π, S. 301f, Hhg. i.O.). Mit seinem erkenntnistheoretischen Begriffsapparat in der Rede von „Eindrücken", von „Sinnlichkeit" usw. verstoße Kant, so das Argument Jacobis, selbst gegen den Geist des Idealismus, insofern diese Begriffe einen Bezug der Vorstellungsgehalte auf eine An-sich-Dimension in sich schließen. In der Jacobischen Alternative, das Dasein einer objektiven Außenwelt entweder vorauszusetzen oder sich einer Aussage über sie strikt zu enthalten, nimmt Kant aus der Perspektive Jacobis deshalb eine unerlaubte Zwischenstellung ein, indem zwar der Geist seiner Philosophie eine Enthaltung fordert, der Buchstabe des Systems jedoch ohne solche Begriffe nicht auskommt, die jene Voraussetzung implizieren (Werke Π, S. 303-310).

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Für uns ist nur das Resultat dieser Veränderung gegeben, nämlich in der formalen Strukturiertheit aller Erscheinungen als möglicher Gegenstände unserer Anschauung durch Raum und Zeit. Hinter diese Strukturiertheit kann prinzipiell nicht zurückgegangen werden. „Es ist alles für uns verloren was nicht im Raum angeschaut und in der Zeit empfunden werden kann" (KDSp 575). Dinge an sich sind für uns „verloren", sie können als Noumena zwar denkbar sein, sind aber - für uns jedenfalls - nicht anschaubar. Prägnant formuliert Schleiermacher die Unmöglichkeit, Aussagen über die Sphäre der Phänomena auf die Sphäre der Noumena zu übertragen: „von dem aber was es [sc. das Ding] als Phänomenon ist gar kein Schluß auf das, was es als Noumenon seyn mag gelten kann" (Sp 542). Wichtig hierbei ist die Richtung, von der aus diese Inkommensurabilität ins Auge gefaßt wird. Nämlich von den Phänomenen aus, also vom Gegenstand unserer sinnlichen Anschauimg her, ist es nach kritischidealistischen Maximen nicht erlaubt, auf entsprechende Bestimmungen der Noumena zu schließen.

3. Eine kritizistische Konsequenz für den Begriff des Noumenalen Wenngleich Schleiermacher zu der hier zu erörternden Konsequenz von seinem Spinozaverständnis her angeregt und motiviert worden ist, 264 so versteht er die Argumentation, die auf sie hinführt, doch als eine vom kantischen kritisch-idealistischen Standpunkt her zu führende 265 und insofern steht sie inhaltlich in direktem Zusammenhang mit Schleiermachers soeben dargestellter Anknüpfung an Kant. Schleiermacher zieht nämlich aus der Unzugänglichkeit der An-sichSphäre für unser Anschauen im Geiste des kritischen Idealismus eine für unseren Zusammenhang wichtige Konsequenz. „Ihr [sc. Kantianer] dürft nicht behaupten, daß der Grund von der Mehrheit der Substanzen im Raum [d. h. als Erscheinung] in der Mehrheit der Substanzen an sich liege, denn diese Behauptung würde eurer übrigen Lehre widersprechen." 266 Sich eines Schlusses von den Phänomenen auf die entsprechenden Dinge-an-sich zu enthalten, impliziert zugleich die Unmöglichkeit ei264 Vgl. KDSp 573: „der Saz von der Einheit und Unendlichkeit des existirenden. Wie Spinoza zu diesem komt habe ich oben deutlich zu machen gesucht, warum kommt Kant nicht dazu?" 265 Wie P. Grove dargelegt hat, trifft sich Schleiermachers spinozistisches Ansinnen mit der im zeitgenössischen Kantianismus besonders durch Reinhold vertretenen Tendenz zur kritizistischen Elimination des Ding-an-sich (Deutungen des Subjekts [2004], S. 154156). 266 Sp 549. Zur kantischen Unterscheidung von Substanzen im Raum und Substanzen an sich, vgl. KrV A 265f / Β 321f.

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ner Aussage über die Quantität bzw. über die Differenziertheit des Noumenalen überhaupt. Schleiermacher wendet hier die kantische These, die Kategorien seien im Hinblick auf Erkenntnis nur auf Erscheinung, nicht aber auf Noumena anwendbar,267 gegen Kant selbst. Wenn dem so ist, so muß man sich auch einer Anwendung der Kategorie der Quantität auf der Ebene der Noumena gänzlich enthalten. Daß Schleiermacher die Restriktion der Kategorien auf ihren empirischen Gebrauch hier im Sinn hatte, scheint mir durch eine Äußerung in anderem Kontext wahrscheinlich. „Wodurch wird Kant nun genöthigt oder auch nur veranlaßt, ein außerweltliches Ding als Ursach der Verstandeswelt anzunehmen? weiß er denn ob überhaupt die Kategorie der Causalität auf die Noumena anwendbar ist?"268 (KDSp 570. Hhg. C.E.). Schleiermacher unterstellt hier Kant einen „inkonsequenten Rest des alten Dogmatismus". Von daher wird er auch an der oben angeführten Stelle diesen durch einen konsequenteren kritischen Idealismus zu ersetzen gesucht haben. Wenn aber über die quantitative Bestimmtheit des Noumenalen keine Erkenntnis vorliegen kann, so ist strenggenommen nicht einmal von einer Mehrzahl von Noumena zu sprechen. „Wenn man also gar keinen Grund hat eine Mehrheit der Noumenen zu behaupten, und wir nichts von ihnen sagen sollen als was sich nothwendig auf die Erscheinung bezieht, so ist es schon eine Anmaßung, wenn wir uns anders ausdrüken, als das Noumenon, die Welt als noumenon. Eben so wenig geht es nun aber an sich weiter zu versteigen und mit Spinoza eine positive Einheit und Unendlichkeit zu behaupten; davon konnte aber dieser dem der kritische Idealism fremd war nichts wissen." (KDSp 574. Hhg. i.O.). Vom Noumenalen soll also nichts behauptet werden, als was sich auf die Erscheinung bezieht. Schleiermacher fordert eine Enthaltung über die quantitative Bestimmtheit des Noumenalen: weder kann es als Vieles i. S. 267 Vgl. die Ausführungen Kants im 3. Hauptstück der Analytik der Grundsätze über den „Grund der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena", KrV A 235-260 / Β 294-315, bes. A 250. Β 305-309. 268 Schon Gottlob Ernst Schulze hatte in seiner anonym im Jahre 1792 erschienen Abhandlung ,Aenesidemus' herausgestellt, daß die Kategorie der Kausalität zufolge der kantischen Philosophie nicht auf Dinge-an-sich bezogen werden dürfe: „So wie aber die reinen Verstandesbegriffe überhaupt, eben so hat auch der Begriff der Ursache ganz und gar keine Bedeutung, wenn er von Gegenständen und Erfahrung abgehen, und auf Dinge an sich selbst bezogen werden soll [... ] Eine gleiche Bewandtnis hat es mit dem Gebrauche des Grundsatzes der Kausalität oder mit dem Satze vom zureichenden Grunde, nach welchem alles, was geschieht, eine Ursache voraussetzt. Er ist ein Grundsatz, durch den Erfahrung erst möglich gemacht wird, und zugleich ein allgemeines Gesetz der Natur, das a priori erkannt werden kann. Dieser Grundsatz betrifft nämlich eine besondere Art der Verknüpfung des Daseins der Wahrnehumgen in einer Erfahrung. Er geht daher auch nicht auf die synthetische Einheit in der Verknüpfung der Dinge an sich selbst, sondern der Wahrnehmungen" (ed. Frank 1996, S. 96f).

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der pluralischen Rede von Noumena bezeichnet werden, noch ist es als ein positives Singulum gegen den Geist des kritischen Idealismus zu hypostasieren. Schleiermachers von Spinoza her motivierte kritizistische Konsequenz aus einem Idealismus der Erscheinimg könnte aber auch weitergehend im Blick auf die von Kant als regulative Ideen der Vernunft gefaßten Begriffe von Gott, Welt und Ich interpretiert werden. Während Kant in diesen Ideen drei Einheitshinsichten des Denkens unterscheidet, müßte Schleiermachers Kritik diese Differenzierung ebenso betreffen. Das Noumenale dürfte in sich keine Differenzierung in die verschiedenen Noumena Gott, Welt und Ich zulassen. Die Einheit der Erscheinungen in dem ihr zugrundeliegenden wäre nicht kategorial zu differenzieren, sondern überall ein und dieselbe, lediglich der Bezug auf Erscheinung wäre ein differenzierter. Die relative Einheit der Erscheinungen im Blick auf deren Gegenstandsqualität als Noumenon betrachtet ergäbe die Idee der Welt, die relative Einheit der Erscheintingen im Blick auf die hervorbringende epistemische Instanz (fließendes Bewußtsein) als Noumenon betrachtet die Idee des Ich, die absolute Einheit aller relativen Einheiten von Erscheinung als Noumenon betrachtet ergäbe die Idee Gottes. In den Spinozamanuskripten zieht Schleiermacher eine solche Gedankenlinie, die von seinem Ansatz her durchaus konsequent erscheint, aber nicht explizit aus. Es finden sich lediglich Andeutungen. Sie betreffen zum einen die Stellung des Weltbegriffs zum Problem Phänomenal-Noumenal, zum anderen den Status einer dem Bewußtsein zugrundeliegenden Instanz. Beide Erörterungen basieren auf der kritisch-idealistischen Epoche in Bezug auf die Bestimmung des Noumenalen und zielen darauf ab, eine Individuationsfunktion in die Relation Noumenal-Phänomenal einzuzeichnen. Was erstens den Weltbegriff betrifft, so läßt sich darüber etwas sagen anhand der oben schon zitierten formelhaften Wendung „die Welt als noumenon" (KDSp 574), die Schleiermacher als von metaphysischer Anmaßung frei ansieht. Sie birgt eine gewisse Doppeldeutigkeit, die auf den ersten Blick der strengen Enthaltung, etwas über den Status des Noumenalen auszusagen, widerspricht. Die Explikation des Status des Noumenalen durch den Weltbegriff scheint nämlich unter der Hand jene quantitative Bestimmung des Noumenalen als eine Vielheit wieder hinzuzubringen, welcher sich zu enthalten gerade Schleiermachers kritische Forderung gewesen ist. Gleichwohl kann Schleiermachers Formulierung verständlich gemacht werden und paßt sich in sein eigentümliches Konzept ein, wenn man die kritisch-idealistische Unterscheidung von Phaenomenal und Noumenal hier als Interpretationsrahmen zugrunde legt. „Welt als noumenon" wäre so nicht als Charakterisierung nur des Noumenalen für sich genommen, sondern als der Versuch zu lesen, Phänomenales und Nou-

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menales aufeinander zu beziehen. Will man nämlich phänomenale und noumenale Sphäre aufeinander beziehen, so darf dies nach Schleiermacher nicht in der Weise geschehen, daß man eine Entsprechung der Pluralität der Phänomena zu einer Pluralität von Noumena setzt. Vielmehr ist nach Schleiermachers kritizistischer Position das Noumenale keiner Bestimmbarkeit fähig. Deshalb kann sich in der Formel von der „Welt als noumenon" der Weltbegriff, der nicht ohne eine interne Vielheit gedacht werden kann, nur auf das Phänomenale beziehen lassen. Die Pluralität der Erscheinungen kann in einem Inbegriff als Welt gefaßt werden. Dagegen ist das weder durch die Kategorie der Einheit noch der Vielheit bestimmbare Noumenale nur insofern auf die im Weltbegriff ausgesagte Vielheit bezogen, als es auf Erscheinung überhaupt bezogen ist. Die Formel „die Welt als noumenon" bringt in dieser Lesart in komprimierter Form das Resultat von Schleiermachers Aufnahme des kritischen Idealismus Kants und seine weitergehende kritizistische Konsequenz zum Ausdruck. 269 Das hier bloß durch das „als" gesetzte Verhältnis von Phänomenalem und Noumenalem ist durch die quantitative Unbestimmbarkeit auf der Seite des Noumenalen und durch den eine Vielheit implizierenden Weltbegriff auf der Seite des Phänomenalen um eine Funktion angereichert, welche ein Problem heraufbeschwört, das sich für Kant in dieser Weise nicht stellte. Ein quantitativ unbestimmbares Noumenon erscheint für uns in einer Vielheit von Phänomenen. Die Erscheinungsrelation zwischen Noumenal und Phänomenal muß also in sich eine Pluralisierungs- oder Differenzierungsfunktion aufweisen. Das Noumenon als der uns gänzlich unerkennbare Grenzbegriff der Erscheinungslehre ist somit nicht nur als dasjenige anzusehen, welches unseren Erscheinungen zugrunde liegt: es erscheint uns nicht nur, sondern es differenziert sich in diesem Erscheinen zu der Vielheit von Erscheinungen als der Gegenstände, welche uns in der Anschauung gegeben werden. Wenn aber die Erscheinungsrelation zugleich eine Differenzierungsfunktion aufweist, so ist damit noch nichts über die Prinzipien gesagt, nach welchen eine Individuation zu einzelnen Erscheinungen tatsächlich von statten geht. Wenn also die These dahingehend ausgeweitet werden soll, die Erscheinungsrelation zugleich als ein Individuationsverhältnis anzusehen, so müssen Prinzipien angegeben werden können, nach denen eine Differenzierung von Individuen in der Sphäre der Erscheinung explizierbar ist. Die Idee, das Noumenon individuiere sich in Erscheinungen, welche uns als Gegenstand der sinnlichen Anschauung gegeben werden, steht und fällt also damit, daß Individuationsprinzipien angege269 Christian Seysen spricht von dieser Formel als von einem „Grenzgedanken des unbedingt Bedingenden". Vgl. ders.: Rezeption des Atheismusstreits (1999), S. 183.

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ben werden können. Eine Anschauung von Individuationsgestalten des nicht anschaubaren Noumenon in dessen Erscheinungen müßte durch den Aufweis von Prinzipien plausibilisiert werden, nach denen Erscheinungen als einzelne voneinander differenziert werden. Deshalb stellt sich für Schleiermacher an dieser Stelle die Grundfrage nach den principia individuationis. „Dabei bleibt nun aber noch die große Frage zu erörtern: wes Ursprung ist die Idee von einem Individuo und worauf beruht sie?" (KDSp 574). Die kritizistische Konsequenz, den Grenzbegriff des Noumenon in quantitativer Hinsicht als unbestimmbar anzusehen, bringt so Schleiermacher dazu, die Erscheinungslehre Kants systematisch mit dem Individuationsproblem zu verknüpfen. Zugleich ebnet sie den Weg, die bei Kant aufgedeckte Problemkonstellation mithilfe der spinozanischen Philosophie einer Lösung zuzuführen. Denn das Analogat zum kantischen Noumenon fand Schleiermacher bei Spinoza in der göttlichen Substanz, deren plurale Verfaßtheit von vornherein ausgeschlossen war. War also die mißliche kantische Rede von Noumena argumentativ überwunden, konnte Schleiermacher mit der Amalgamierung beider Systeme fortschreiten. Deren systematischer Fokus liegt nun in der Frage nach Individuationsprinzipien für die Sphäre der Erscheinung als des Gegenstands unserer sinnlichen Anschauung. Wären solche Prinzipien der Vereinzelung von Erscheinving namhaft zu machen, so würde auch die Erscheinungslehre selbst plausibilisiert, die nach Schleiermachers Argumentation nicht ohne eine Individuationsfunktion zu denken ist. Das Individuationsproblem ist also auch insofern mit dem Anschauungsbegriff verbunden, als erst eine Auflösung desselben durch die Angabe von Individuationsprinzipien berechtigt, vom Gegenstand unserer Anschauung als von der Erscheinung eines uns unerkennbaren Noumenon zu reden. Was den zweiten Punkt betrifft, erörtert Schleiermacher den erkenntnistheoretischen Status der epistemischen Instanz anhand des Begriffs des „fließenden Bewußtseins". 270 Seine Betrachtungen stehen innerhalb der längeren Diskussion der Begriffe der Person und der Personalität im Manuskript ,Spinozismus' (Sp 538-545), in welcher Schleiermacher das Paralogismenkapitel der ersten Auflage der KrV 271 durchgängig zugrun270 Der Ausdruck selbst begegnet Schleiermacher bei Jacobi als Zitat des kantischen Diktums, daß man zweifeln könne, ob das „Bewußtseyn nicht fließend sei" (JWA 1/1, S. 220; Sp 538.) 271 KrV A 361-366, bes. A 364. Zwar findet man dort den von Schleiermacher gebrauchten Ausdruck „das Bewußtseyn kann fließend seyn" (Sp 542) nicht wörtlich wieder, aber sehr wohl den Ausdruck „fließend" im Zusammenhang der Klärung des Status der menschlichen Seele als Subjekt. Die Annahme, daß Jacobi und mit ihm Schleiermacher den Ausdruck als eine interpretative Zusammenfassung aus dem, Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der kantischen Schriften (1788)' von Carl Christian Erhard Schmid entnommen hätten, wie es Meckenstock (Sp 542) vermutet, scheint mir un-

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de legt, 272 und bringen das Resultat, ein den wechselnden Vorstellungen des menschlichen Bewußtseins zugrundeliegendes noumenales individuiertes Ich anzunehmen, sei mit der kritischen Restriktion menschlichen Bewußtseins auf die Erscheinung unvereinbar. Auch an dieser Stelle argumentiert Schleiermacher für eine erkenntnistheoretische Enthaltung in der Frage nach der kategorialen Bestimmtheit des Noumenalen. Das, was unseren Vorstellungen noumenal zugrunde liegen mag, kann nicht weiter differenziert werden. Deshalb scheidet auch eine Deutung des Ausdrucks „fließendes Bewußtsein", die er im Schmidschen Wörterbuch findet, 273 für Schleiermacher aus. Denn gegen diese Position, nach der man nicht wissen könne, ob das „nemliche Bewußtseyn während der ganzen Zeitreihe schon die Erscheinung mehrerer transcendentaler Subjekte gewesen ist" 274 sprechen alle Vorbehalte, die Schleiermacher im Namen der Transzendentalphilosophie gegen die Annahme einer Vielheit von Noumena vorgebracht hatte. 275 Seine eigene Interpretation berücksichtigt die kritische Enthaltung über die kategoriale Bestimmung des Noumenalen und schlägt, so Schleiermacher, zugleich mehr in den „Spinozistischen Kram": „Es ist aber auch noch ein anderer Fall möglich nemlich daß dem Ich des Bewußtseyns/ür sich allein gar kein noumenon zum Grunde liegt, sondern dieses Ich nur

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nötig. Schmid verweist für seine Aufzählung des dreifältigen Personbegriffs bei Kant zwar auf die Zweitauflage der KrV, wo sich der Ausdruck „fließendes Bewußtsein" in der Tat nicht findet, hat aber offenbar die Formulierung der Erstauflage vor Augen (KrV A 364), von der auch Jacobi ausgegangen sein dürfte (Vgl. JWA1/2, S. 512). Kant weist in der einschlägigen „Kritik des dritten Paralogismus der transzendentalen Psychologie" in der ersten Auflage der KrV nach den Prinzipien der Transzendentalphilosophie nach, daß es ein Fehlschluß sei, aus der Identität des Selbst im Bewußtsein auf die Persönlichkeit der Seele i. S. ihrer Beharrlichkeit in der Zeit zu schließen. Der Kern des Arguments ist der Nachweis, daß in diesem Schluß das Ich als Gegenstand des inneren Sinns mit dem Ich als einem Gegenstand einer virtuellen Außenperspektive auf sich selbst verwechselt werde und ihm deshalb statt eines kontinuierlichen Fließens des Ich in innerer Wahrnehmung Beharrlichkeit in der Zeit zugeschrieben werde (vgl. KrV A 361-366). Vgl. C. C. E. Schmid: Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der kantischen Schriften (1788), S. 276f.: „Person bedeutet [... ] 2) ein reales Subject d.i. eine beharrliche Substanz, mit Bewußtseyn ihrer Identität. Ob Ich dieses sey, weis ich nicht, weil mein Bewußtseyn fließen, in ein andres Subject übergehen könnte." (zit. nach Sp 542). Sp 542. 545. Diese Deutung konnte ihren Anhaltspunkt bei Kant haben, der unmittelbar vor der behandelten Stelle die Möglichkeit eines solchen „Wechsels" oder einer „Umwandelung des Subjekts" in Erwägung zieht, wonach jedes solche Subjekt „den Gedanken des vorhergehenden Subjekts aufbehalten und so auch dem folgenden überliefern könnte."(KrV A 363.) In der zweiten Auflage der KrV stellt Kant klar heraus, was er von solchen Mutmaßungen über die nähere Bestimmung der Noumenasphäre hält: „Ich bin weit entfernt, dergleichen Hirngespinsten den mindesten Wert oder Gültigkeit einzuräumen; auch haben die obigen Prinzipien der Analytik hinreichend eingeschärft, von den Kategorien (als der Substanz) keinen anderen als Erfahrungsgebrauch zu machen." (KrV Β 418). S. o. S. 203ff. 238ff.

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eine fließende, allein auf der Zeit beruhende Beschaffenheit eines andern Dinges ist." 276 Nach dieser Deutung würde dem Bewußtsein als Erscheinung weder eine Mehrzahl von Noumena, noch ein individuelles Noumenon (gar kein Noumenon „für sich allein") entsprechen. Das Bewußtsein würde vielmehr allein auf der Zeit beruhen, d. h. durch die Vermittlung des inneren Sinns zustande kommen. Es wäre so als eine Erscheinung verständlich und zwar als eine lediglich durch den inneren Sinn vermittelte bestimmte Erscheinung des Noumenon überhaupt. „Beschaffenheit eines andern Dinges" steht hier also für die Bestimmtheit, welche das Noumenon annimmt durch die spezifische Anschauungsart des inneren Sinnes. Daß diese Beschaffenheit „fließend" ist, heißt daher nichts anderes, als daß das Bewußtsein sich in der zeitlichen Sukzession aneinander anschließender mentaler Zustände gewahrt. Das zeitliche Kontinuum als Produkt der Einbildungskraft, sofern sie den Gegenstand des inneren Sinnes nachzeichnet, stellt nun aber genau die eine Seite in der doppelten Formalstruktur der Anschauung dar, in welcher Schleiermacher den Grund für die Möglichkeit einer Differenzierung einzelner Erscheinungen gesehen hatte. In der Verschränkimg der Kontinua von Raum und Zeit hatte Schleiermacher, wie oben dargestellt, in Fortschreibung kantischer Gedanken den Grund für die Vereinzelung der Erscheinung gesehen. Hier nun bezieht er sich zum einen auf den Kontinuumscharakter der Zeit, indem er das Fließende des Bewußtseins als eine durch den inneren Sinn vermittelte Erscheinung eines uns verborgenen Noumenalen versteht. Darin liegt aber noch ein Weiteres. Denn der innere Sinn vermittelt uns nicht nur ein zeitliches Kontinuum in der Sukzession von Vorstellungen, sondern diese Vorstellungen sind ihrerseits vermittelt durch den äußeren Sinn. D.h. das Fließen des Bewußtseins stellt nicht nur als zeitliches ein eigenes Kontinuum dar, sondern erweist sich zugleich als der Ort, an welchem auch das durch den äußeren Sinn vermittelte Kontinuum des Raumes zu Bewußtsein kommt. Das fließende Bewußtsein ist der Ort der Verschränkung beider Kontinua, worin die Einbildungskraft in ihrer Tätigkeit des Nachzeichnens individuelle Gestalten voneinander abzugrenzen in der Lage ist. Schleiermachers Deutung der kantischen Auffassung von Bewußtsein anhand der Formel vom fließenden Bewußtsein stimmt so zusammen mit seinem Gedanken, das Noumenon überhaupt werde in der Anschauung zur Einzelheit von Erscheinungen modifiziert und individuiert. Das Fließen des Bewußtseins ist der Begriff für den Charakter des durch inneren und äußeren Sinn ermöglichten anschaulichen Vorstellens, sofern es als Ort desjenigen Modifikationsprozesses anzusehen ist, 276 Sp 542. Hhg. C.E. Vgl. Sp 545: „Das transzendentale Selbstbewußtseyn, [... ] das Ich [... ] kann [... ] sowol von einem transzendentalen Substrat zum andern Übergehn, als auch nur eine fließende Eigenschaft seyn."

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der gleichermaßen eine Erscheinungsrelation wie eine Indiviuduationsfunktion in sich schließt. Das Noumenale wird am Ort des anschaulichen Vorstellens zur Vielheit einzelner Erscheinungen individuiert. Daß Schleiermacher für den Status des Bewußtseins gerade die Formel des fließenden Bewußtseins wählt, zeigt sich als ins Subjektive gewendete Version seiner Rekonstruktion der spinozanischen Individuationstheorie, die er auf dem Grundaxiom vom „Fluß aller endlichen Dinge" aufgebaut hatte. Wie dort die Einzeldinge nur in einer relativen Abgrenzung voneinander differenziert werden konnten, so sieht Schleiermacher auch in den individuierten Gegenständen der Anschauung keine völlig beziehungslosen Erscheinungen, sondern faßt sie als Teile der Kontinua von Raum und Zeit auf, durch deren Korrelation sie als voneinander differenzierte anschaubar werden.

B. Der Anschauungsbegriff eines ,spinozistischen Idealismus der Erscheinung' Um die an Spinoza entwickelte Individuationstheorie transzendentalphilosophisch fruchtbar machen zu können, mußte Schleiermacher ein Verständnis der spinozanischen Philosophie voraussetzen bzw. entwickeln, das einen solchen gedanklichen Transfer zuließ. So ist es der Hintergrund für die Transposition der spinozistischen Individuationsthematik in die kritisch-idealistische Konzeption einer Erscheinungslehre, daß Schleiermacher in Spinozas Philosophie selbst eine Affinität zum kritischen Idealismus entdeckt. Das Besondere an Schleiermachers Aufnahme von Kants transzendentalem Idealismus ist es, daß er diesen Gedanken nicht nur als kantischen nachzeichnet und in den entsprechenden Kant-Referaten seiner Vergleiche mit Spinoza und Leibniz darstellt. Vielmehr spürt er den sachlichen Gehalt des idealistischen Gedankens gerade auch im System Spinozas auf. Dieser konnte zwar den kritischen Idealismus nicht „vor Kant erfunden" (KDSp 573) haben, ist Schleiermachers Auffassung nach dieser Idee aber „ganz nahe" (KDSp 574) gekommen. In Spinozas philosophischem System sieht Schleiermacher strukturell analoge Momente, die einen Idealismus der Erscheinung mit spinozistischen Grundsätzen kompatibel erscheinen lassen. Wir hatten den Begriff eines Idealismus der Erscheinung im Blick auf Kants Transzendentale Ästhetik (der ersten Kritik) an einem idealistischen und einem kritischen Aspekt festgemacht. Der gegenständliche Gehalt menschlicher Anschauung ist nach dem idealistischen Aspekt bedingt durch die Art, wie unserem sinnlichen Vorstellungsvermögen Gegenstände überhaupt gegeben werden können. Nach dem kritischen Aspekt ist der mögliche Gegenstand unserer Anschauung auf Erschei-

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nung restringiert. Eine Anschauung von Gegenständen unabhängig von gegebener Erscheinung ist uns prinzipiell unmöglich, d. h. das Ding-ansich ist kein möglicher Gegenstand unserer Anschauung, sondern nur ein Grenzbegriff unseres Bewußtseins. Wenn hier nun von einem ,spinozistischen Idealismus der Erscheinung' gesprochen wird, so soll damit Schleiermachers Entdeckung beider Aspekte in der Struktur der spinozanischen Philosophie benannt werden. 1. Für den idealistischen Aspekt steht Schleiermachers Verständnis der spinozanischen Lehre vom menschlichen Geist (mens) oder - nach Jacobis Interpretationsbegriff-von der menschlichen „Seele". 277 Für Schleiermachers Auffassung ist es entscheidend, daß er sein Spinozaverständnis in direktem Widerspruch zu Jacobis Darstellung entwickelt. Um in diese Brechung etwas Licht zu werfen, sei hier kurz an Spinozas Theorie des menschlichen Geistes erinnert. Spinoza faßt in seiner ,Ethica' den menschlichen Geist als ein originäres Repräsentationsvermögen auf. 278 Dieser ist also, obgleich er eine Vielzahl von Ideen 279 unter sich befaßt, funktional selbst eine Idee, die auf ein Ideatum bezogen ist. In der Frage, worauf der menschliche Geist sich als auf sein Ideatum bezieht, ist somit zugleich die weitergehende Problematik enthalten, in welchen Grenzen menschliche Erkenntnis stattfinden kann, weil in der Bestimmung dieses Ideatums diejenigen Bedingungen angegeben werden, ohne welche keine menschliche Erkenntnis möglich ist. Systematisch gesehen hat demnach die Frage nach dem ideativen Bezugspunkt des menschlichen Geistes bei Spinoza die Funktion einer erkenntnistheoretischen Reflexion über die Voraussetzungen und kritischen Restriktionen menschlichen Bewußtseins. In Jacobis Darstellung erscheint Spinoza in diesem Punkt in einer eigentümlichen Ambiguität. Die epistemische Bezogenheit des menschlichen Geistes sowohl auf die eigene körperliche Zuständlichkeit als auch auf „unveränderliche Eigenschaften, die Natur und den Begriff des Unendlichen" führen Spinoza nach Jacobi zur Aufspaltung des Geistes in eine Dualität epistemischer Vermögen. „Man könnte gewissermaßen sagen, auch er [sc. Spinoza] habe einem jeden Wesen zwei Seelen zugeschrieben: Eine, die sich nur auf das gegenwärtige einzelne Ding und eine andre, die sich auf das Ganze bezieht." 280 Während Jacobi diese Unterscheidung für einen der „Hauptschlüssel zu dem System des Spinoza" (ebd.) ansieht, hält Schleiermacher Jacobis Interpretation schlicht für abwegig. Was Jacobi „von den beiden Seelen sagt, läßt sich nicht einmal gewißermaßen sagen; mir wenigstens scheint 277 278 279 280

Vgl. § 30, JWA1/1, S. 106; Sp 519. Vgl. zum Folgenden oben S. 74ff. Idea ist Spinozas Grundausdruck für Vorstellungen aller Art. JWA 1/1, S. 22; Sp 530.

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dem ganzen System [sc. Spinozas] nichts wesentlicher zu seyn, als der Saz, daß die Seele sich allein auf das Individuum bezieht" (Sp 531). „Individuum" bedeutet hier einzelner menschlicher Körper. Die Seele referiert mental auf einen einzelnen menschlichen Körper und auf nichts anderes. Schleiermacher bezieht sich darin auf § 30 in Jacobis Paragraphendarstellung und den darin als Beleg beigefügten einschlägigen Lehrsatz Eth. II, prop. 13 aus Spinozas ,Ethik': „Objectum ideae, humanam mentem constituentis, est corpus, sive certus extensionis modus actu existens & nihil aliud" (Hhg. bei Jacobi). Jacobis deutsche Paraphrase lautet: „Der unmittelbare direkte Begrif eines wirklich vorhandenen einzelnen Dinges, wird der Geist, die Seele (mens) desselben einzelnen Dinges genannt, das einzelne Ding selbst, als der unmittelbare direkte Gegenstand eines solchen Begrifs heißt der Leib" (JWA1/1, S. 106; Sp 519). An dieser Stelle ist eine Bemerkung zu Schleiermachers Begrifflichkeit in Abgrenzung zu Jacobi angebracht. Den Terminus „unmittelbarer Begriff" gebraucht Jacobi für eine einfache Repräsentationsbeziehung im Gegensatz zu einer „Vorstellung", die ein vermitteltes Bewußtsein bezeichnet. 281 Schleiermacher macht in seinen Manuskripten diese Differenz nicht mit, sondern spricht von „Vorstellung" im Sinne des unmittelbaren Repräsentierens. Dies macht es für ihn möglich, Vorstellungs- und (kantisch verstandenen) Anschauungsbegriff gleichsinnig zu behandeln. Für beide ist eine Unmittelbarkeit der Repräsentation charakteristisch. In der folgenden Darstellung verwende ich „Vorstellung" infolgedessen auch nicht nach Jacobischer, sondern nach Schleiermacherscher Manier. Mit seiner Ablehnung einer zweiten Seele ist Schleiermacher Spinozaphilologisch sicherlich auf der besseren Seite. Ein solches zusätzliches Erkenntnisvermögen wird von Spinoza selbst nirgends behauptet 282 - auch in Jacobis übriger Darstellung taucht dieser Gedanke nirgends auf. Indes weist Jacobis Hypothese auf ein Problem, das sich auch und gerade für Schleiermachers Spinozainterpretation stellt. Wenn er nämlich den spinozanischen Ausgangspunkt für den menschlichen Geist in der mentalen Repräsentation eines Einzeldinges sieht, wie sollte von einer solchen Vorstellung eines Individuums (idea individui) eine Vorstellung von allgemeinen Eigenschaften oder, für unsere Frage wichtiger, vom Unendlichen selbst entstehen? Schleiermacher vermutet hier, daß Jacobi die These von der zweiten, auf das Ganze bezogenen Seele nur deshalb in Erwägung zieht, weil er, Jacobi, das Geistige nur als eine Begleitung des Körperlichen ansehe, demzufolge der menschliche Geist nichts als die Veränderungen des Körperlichen vorstellen und keinerlei davon unabhängige Verknüpfung von Ideen selbst bewirken könne. Schleiermacher 281 Vgl. §§ 27-29, JWA \/\, S. 105f; Sp 519. Siehe dazu auch oben die ausführliche Darstellung im Zusammenhang der Klärung des Begriffs „Gefühl des Seyns", S. 186ff. 282 S.o.S. 74ff.

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ist hier bekanntlich anderer Meinung. Daß er dem Denken (Cogitatio) bei Spinoza eine eigene kausale Dignität zumißt, ist, wie wir gesehen haben, die Voraussetzving seiner transzendentalphilosophischen Fortschreibung des Spinozismus.283 Es wird nun zugleich auch die Voraussetzung für ein neues Verständnis der spinozanischen Konzeption einer Erkenntnis des Unendlichen. Die Frage, auf welche Weise Spinoza die Verbindung der Vorstellung von Einzelnem im menschlichen Geist mit der Vorstellung des Ganzen konzipiert hat, ist mit Schleiermachers Hinweis auf den spinozanischen Satz, die Seele sei auf einzelnes bezogen, noch nicht gelöst. Allerdings ist damit aber die klare Ablehnung von Jacobis Postulat einer zweiten Seele gemacht. Denn dieses Postulat bietet im Grunde nicht nur keine Lösung des Problems an, sondern verabschiedet es als solches. Jacobi selbst indes scheint dies geahnt zu haben, denn er fügt anmerkungsweise hinzu, daß die zweite Seele, die sich auf das Ganze beziehen soll, diese Beziehung nur „vermittels dieses Körpers" habe - d. h. nach Jacobi: vermittels des Einzeldinges, das Gegenstand der ersten Seele ist - , „der kein absolutes Individuum sein kann [...], sondern allgemeine unveränderliche Eigenschaften und Beschaffenheiten, die Natur und den Begriff des Unendlichen enthalten muß." 284 Mit dieser Anmerkung ist aber gerade die entscheidende Frage impliziert, inwiefern die mentale Repräsentation des Einzelnen die Vorstellung von Endlich-Einzelnem und zugleich die Vorstellung des Unendlichen in sich schließen kann. Hier stellt sich das Problem einer Explikation der These Spinozas von der Immanenz der göttlichen Kausalität als einer Identität in der Differenz setzenden Relation von Unendlichem und Endlichem am Orte des vorstellenden Bewußtseins. Es ist nämlich die Frage, inwiefern in der Differenz von Vorstellungen, die in deren unterschiedlicher Referenz auf Endliches bzw. auf das Unendliche begründet ist, eine Identität zu setzen ist. Jacobis Vorschlag einer Aufspaltung der Repräsentationsvermögen geht diesem zentralen Problem aber gerade aus dem Weg 285 und ist daher weniger als eine Spinozainterpre283 S.o.S. 179ff. 284 JWA1/1, S. 22; Sp 530. 285 Allenfalls könnte man Jacobis Rede von den zwei Seelen dann als weiterfuhrende Spinozainterpretation ansehen, wenn damit die Unterscheidung von inadäquater und adäquater Erkenntnis, also von imaginatio einerseits und ratio und scientia intuitiva andererseits, gemeint sein sollte. Diese Unterscheidimg wäre dann nicht eine des Gegenstandsbereichs menschlicher Vorstellung, wie die Rede von den zwei Seelen suggeriert, sondern eine Unterscheidung der Art und Weise der Verknüpfung gegebener Vorstellungen. Dann wäre mit dieser Unterscheidung wirklich ein „Hauptschlüssel" von Spinozas System benannt. Freilich dürfte Jacobi diese Deutung, wie Schleiermacher richtig vermutet, nicht nahegelegen haben, sofern er vom Mentalen nur als einer Begleiterscheinung des Körperlichen ausging. Wie sollte eine differenzierte Art, Vorstellungen zu verknüpfen ins Auge zu fassen sein, wenn, wie Jacobi behauptet, die Abfolge der Vorstellungen bloßes Abbild der Verkettung körperlicher Zustände ist.

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tation als vielmehr in der Fluchtlinie der ihm eigenen Tendenz zu sehen, die Vorstellungen von Endlichem und Unendlichem streng zu trennen und also auch vermögenstheoretisch beides voneinander zu scheiden. 286 Schleiermachers Festhalten am Individuenbezug der menschlichen Seele zeigt dagegen seinen Willen, sich dem von Spinoza aufgeworfenen Problem der Immanenz des Unendlichen im Endlichen gerade auch in der Fassung als Problem der Verhältnisbestimmung des Endlichen und Unendlichen als Gegenstand menschlicher Vorstellungen zu stellen. Die unhintergehbare Bezogenheit des menschlichen Bewußtseins auf endliche Gegenstände erscheint Schleiermacher ein gleichermaßen feststehender Grundsatz Spinozas wie auf der anderen Seite die Ablehnung der Möglichkeit einer besonderen Ideation der unendlichen Substanz unabhängig vom Bezug auf Endlich-Einzelnes. 2. Hieran schließt sich der kritische Aspekt von Schleiermachers Deutung der spinozanischen Theorie des menschlichen Geistes an, nämlich im Blick auf das Verständnis der Möglichkeit einer Auffassung der göttlichen Substanz durch den menschlichen Geist. „Abgesondert von den endlichen Dingen betrachtet", so formuliert Schleiermacher, sei das spinozanische „Unendliche" die „unvorstellbare Materie [zu] nennen, denn Spinoza selbst sagt, man könne sich keinen allgemeinen Begrif davon machen und anschauen kann man es auch nicht" (KDSp 567). Die Unvorstellbarkeit des Unendlichen wird hier einerseits durch dessen Unbegreiflichkeit, andererseits durch dessen Unanschaubarkeit begründet. Beide Aussagen werden durch die vorangestellte Bedingung eingeschränkt, daß hier das Unendliche „abgesondert von den endlichen Dingen betrachtet", d. h. vom Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen hier gänzlich abstrahiert wird. So abstrakt „per se" 2 8 7 betrachtet kann die unendliche göttliche Substanz nicht Gegenstand eines begrifflichen Erkennens sein. Diese Einsicht hatte Schleiermacher dem spinozanischen Argument entnommen, daß Gott nur uneigentlich eins (unum) und einzig (unicum) zu nennen sei. Quantitative, numerische Einheit und Einzigkeit setzen nämlich einen Vergleichshorizont in der entsprechenden Gattung voraus und Gattungen ihrerseits sind freilich nur von existierenden Dingen in Bezug auf deren Essenz auszusagen. Gott ist aber als wesensmäßig existierende Entität (causa sui) in keiner Weise unter ein Genus subsumierbar und kann 286 Vgl. seine Unterscheidung einer „doppelten Richtung" jeder Kreatur in der (von Schleiermacher exzerpierten) thetischen Darstellung menschlicher Unfreiheit und Freiheit in der Vorrede zur zweiten Auflage der Spinozabriefe. „Die Richtung auf das Endliche ist der sinnliche Trieb oder das Prinzip der Begierde; die Richtung auf das Ewige ist der intellektuelle Trieb, das Prinzip reiner Liebe" (Vorrede zu LSp 2 , JWA 1/1, S. 168; vgl. Schleiermachers Exzerpt in ,Über Jacobis Philosophie', KGA 1/1, S. 594). 287 KDSp 567, Z. 15.

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deshalb auch nicht Vinter einen Gattungs- oder Universalbegriff gebracht werden.288 Von diesem Argument zu unterscheiden ist die Begründung der Unanschaubarkeit, die uns hier vorwiegend interessieren muß. „Anschauung" wird hier, wie oben angemerkt, gleichsinnig wie der Terminus „Vorstellung" ohne weitere Näherbestimmung im Sinne einer unmittelbaren mentalen Repräsentation verstanden. Die These der Unanschaubarkeit der Substanz im Sinne einer solchen unmittelbaren mentalen Repräsentation derselben wird von Schleiermacher durch eine Reflexion auf die spinozanische Attributenlehre begründet. Schleiermacher stellt sich die Frage, warum Spinoza, obwohl er aus dem Ansatz seiner Substanzenlehre die göttliche Substanz mit unendlich vielen Attributen ausstatten müßte, doch in seinem System nur auf zwei Attribute eingeht, nämlich auf die Ausdehnung (Extensio) und das Denken (Cogitatio). Er vermutet, daß Spinoza dies deshalb so konzipiert hat, weil „wir von keinen anderen Eigenschaften Vorstellungen haben können" (KDSp 575). Wenn dem aber so ist, dann muß Spinozas systematische Verortung der Attribute beim Substanzbegriff im Grunde inkonsequent erscheinen. Er hätte sie vielmehr konsequenterweise in der Besonderheit menschlicher Rezeptivität ansetzen müssen. Diesem Argument waren wir oben bei der Darstellung der Analogien zwischen Spinoza und Kant bereits nachgegangen.289 Schleiermacher macht nun eine wichtige negative Folgerung. Spinoza hätte, indem er Extensio und Cogitatio nur mit Rücksicht auf die mentale Verfaßtheit des Menschen als Attribute aufstellt, sie konsequenterweise auf „das eigenthümliche unserer Vorstellungsart" oder die „Eigentümlichkeiten des anschauenden" (KDSp 575) zurückführen müssen. Spinoza würde nun, wenn er gesehen hätte, daß Denken und Ausdehnung der humanen Möglichkeit ihrer unmittelbaren mentalen Repräsentanz wegen konstituiert wären, „nicht gesagt haben Ausdehnung und Denken wären die Attribute, vielweniger die einzigen Attribute des Unendlichen" (KDSp 575). Vielmehr hätte er zugeben müssen, die Differenzierung in Ausgedehntes und Denkendes sei eine durch die Art des menschlichen Anschauungsvermögens bedingte und keineswegs eine solche, die dem Unendlichen an sich zukäme. 290 Will man sich das Unendliche nun aber abstrakt und für sich betrachten, so muß in dieser Betrachtung gerade auch von der Eigenheit der menschlichen Vorstellungs- und das heißt Anschauungsart vollständig abgesehen werden. In dieser Abstraktheit eignet dem Unendlichen eine Absolutheit, die vonseiten des menschlichen Bewußtseins - wohlge288 S.o.S. 169ff. 289 S. o. S. 213ff. 290 Siehe dazu Kants Selbsteinschätzung im Vergleich zu Spinoza in dieser Frage oben Aran. 230 auf S. 219.

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merkt nur in dieser Hinsicht - als dessen Unanschaubarkeit zum Tragen kommt. Denn unabhängig von unserer Art unmittelbarer mentaler Repräsentation, können wir keine Gegenstände in unserem Geist repräsentieren. Diese Art war aber gerade durch die ausschließliche Bezogenheit auf Ausgedehntes und Gedachtes charakterisiert. Im Blick auf das Unendliche ist hier also eine kritisch-restriktive Konsequenz zu ziehen: Das Unendliche ist überhaupt abstrahiert von seinen Attributen unanschaubar und fiir uns gar abgesehen von Ausdehnung und Denken unanschaubar. Diese Überlegung führt Schleiermacher zu der These, 291 der „absolute Stoff" sei charakterisiert durch eine „vollkomne [... ] unmittelbare [... ] Nichtvorstellbarkeit". Der in dieser Formulierung intendierte Sinn von „unmittelbar" ist wohl zu unterscheiden, von der mit dem spinozanischen Ideenbegriff bzw. mit dem kantischen Anschauungsbegriff vorausgesetzten Unmittelbarkeit der mentalen Repräsentation eines Gegenstands. Wenn Schleiermacher hier von einer „unmittelbaren Nichtvorstellbarkeit" des „absoluten Stoffs" spricht, so ist dabei eine andere Ebene angesprochen. Es ist hier die Frage, unter welchen Bedingungen der menschliche Geist überhaupt das Unendliche zum Gegenstand seiner Vorstellung machen kann. „Unmittelbar" heißt in diesem Fall so viel wie ,unabhängig von der Vermittlung durch die Art unseres unmittelbaren mentalen Repräsentationsvermögens'. Und wenn also in diesem Sinne Schleiermacher von einer „unmittelbaren Nichtvorstellbarkeit" des Absoluten spricht, so ist damit die Möglichkeit negiert, unabhängig von unserer Art der Anschauung das Absolute zum Gegenstand von Vorstellungen zu machen. Die zu differenzierenden Hinsichten von Unmittelbarkeit lassen sich also folgendermaßen zusammenfassen. Während die Unmittelbarkeit des mentalen Repräsentierens eine Eigenheit unseres Anschauungsvermögens bzw. spinozanisch gesprochen: unseres menschlichen Geistes als Ideationsfunktion bezeichnet, intendiert Schleiermacher mit der These einer „unmittelbaren Nichtvorstellbarkeit" des Absoluten den Ausschluß der Möglichkeit einer Vorstellung des Absoluten unabhängig von der Vermittlung durch dieses uns eigene Repräsentationsvermögen, also den Ausschluß von Jacobis „zweiter Seele". Die von Schleiermacher hier in diesem letzeren Sinne negierte Unmittelbarkeit stellt die kritische Implikation der These von der Unhintergehbarkeit der sinnlichen Anschauung für menschliche Erkenntnis dar. Der Begriff eines von unserer Anschauungsart völlig abstrahierten Absoluten ist daher ein Grenzbegriff. Sofern uns keinerlei Gegenstände mental präsent werden können ohne die Vermittlung unserer Art des Repräsentierens, kann auch das Absolute uns ohne diese Vermittlung in keiner Weise 291 Vgl. P. Grove: Deutungen des Subjekts (2004), S. 153-155.

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präsent werden. Die „unmittelbare Nichtvorstellbarkeit" betont also die kritische Konsequenz aus der Gebundenheit unseres Anschauens an eine bestimmte Art, an bestimmte „Eigentümlichkeiten". In der oben zitierten Passage 292 hatte Schleiermacher die Unanschaubarkeit des spinozanischen Unendlichen unter die Bedingung einer Abstraktion von „den endlichen Dingen" gestellt. Daß diese Abstraktionshinsicht mit der soeben genannten Abstraktion von dem Besonderen unserer Art unmittelbarer mentaler Repräsentation, konvergiert, setzt die Auflösung des Individuationsproblems in der Schlüsselthese voraus, daß Endlich-einzelnes für uns überhaupt nur durch die Vermittlung unserer Art mentaler Repräsentation konstituiert wird. Dem werden wir im folgenden Abschnitt genauer nachgehen. Hier ist zunächst festzuhalten, daß Schleiermacher in Spinozas Philosophie die unendliche göttliche Substanz für sich betrachtet als einen dem menschlichen Vorstellen entzogenen Gegenstand charakterisiert. Weder läßt sie sich unter einen allgemeinen Begriff subsumieren, noch kann sie in dieser Abstraktion Gegenstand menschlicher Anschauung werden. 3. Schleiermacher hebt, so kann man die bisherigen Erörterungen zusammenfassen, an Spinozas Philosophie solche Aspekte hervor, die diesen in eine eigentümliche Nähe rücken zu Kants kritischem Idealismus. Zum einen betont er Spinozas Verständnis des menschlichen Geistes als einer mentalen Repräsentation von Einzelnem und setzt damit den Ausgangspunkt menschlicher Erkenntnis bei der unmittelbaren Vorstellung endlicher Gegenstände an. Zum anderen bedeutet dies eine kritische Eingrenzung des Gegenstandes menschlicher Erkenntnis. Unabhängig von den ihm als Repräsentationsfunktion unmittelbar gegebenen endlichen Vorstellungsgegenständen kann der menschliche Geist überhaupt auf keine Gegenstände mental zugreifen. Daraus folgert Schleiermacher, daß nach Spinoza die göttliche Substanz für uns dann und insofern als vollkommen unvorstellbar angesehen werden muß, als man sie als unabhängig von den als Gegenstand unserem Geist gegebenen Einzeldingen betrachtet. Diese beiden Aspekte des Spinozismus lassen sich nun einigermaßen auf den idealistischen bzw. kritischen Aspekt des von Schleiermacher an Kant herausgearbeiteten kritischen Idealismus der Erscheinung abbilden. Der kantische Ansatzpunkt jeglicher Erkenntnis beim Gegenstand sinnlicher Anschauung, welcher, weil er immer schon durch unsere besondere Sinnesvermögen vermittelt ist, als Erscheinung zu werten ist, entspricht in Schleiermachers Spinozaverständnis die Gebundenheit der Erkenntnis des menschlichen Geistes an dessen unmittelbare mentale Repräsentation endlicher Gegenstände. Die kantische Restriktion sowohl unserer 292 S. o. das Zitat aus KDSp 567 auf S. 249.

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Anschauungsart auf die sinnlich vermittelte als auch des Gegenstands derselben auf Erscheinung impliziert einen nur denkbaren Begriff eines Dinges an sich, das den Erscheinungen korreliert: den Grenzbegriff des Noumenalen als eines Gegenstands einer nicht-sinnlichen, intellektuellen Anschauung. Diesem kritischen Aspekt des kantischen Idealismus stellt Schleiermacher in seiner Spinozadeutung dessen Ansicht an die Seite, die göttliche Substanz könne unabhängig von ihrem Zusammenhang mit den endlichen Dingen nicht Gegenstand unmittelbarer mentaler Repräsentation des menschlichen Geistes werden. Dem spinozanischen Substanzbegriff kommt in Hinsicht auf den möglichen Gegenstandsbereich menschlichen Erkennens darum eine ähnliche Funktion als Grenzbegriff zu wie dem kantischen Begriff des Noumenon. Kant und Spinoza rücken für Schleiermacher in diesem Punkt „ganz nahe" zusammen. 4. Allerdings entdeckt Schleiermacher an Spinoza, daß man es nicht bei der kantischen Auskunft der völligen Unerkennbarkeit des Noumenons belassen muß, was mutatis mutandis die prinzipielle Nichtanschaubarkeit der göttlichen Substanz bedeutete. Schleiermacher hat in der Entwicklung des kritischen Aspekts deutlich hervorgehoben, daß diese Nichtanschaubarkeit der Substanz einer bestimmten Abstraktion geschuldet ist, die darin besteht, sie unabhängig von den Einzeldingen zu betrachten. Ohne diese Abstraktion ergibt sich für Schleiermacher nach spinozanischen Grundsätzen ein ganz anderes Bild. Aus der Struktur der spinozanischen Philosophie erschließt er sich die Spitzenthese, daß der göttlichen Substanz, obgleich sie in der Abstraktion vom Zusammenhang mit den Einzeldingen als unvorstellbar anzusehen ist, in diesem Zusammenhang betrachtet nicht nur überhaupt vorstellbar wird, sondern eine unendliche Vorstellbarkeit erlangt. Diese Vorstellbarkeit bezieht sich allerdings nicht auf die begriffliche Subsumierbarkeit, sondern ausschließlich auf die unmitttelbare mentale Repräsentation als der primären Funktion des menschlichen Geistes. Im Hinblick auf diese Funktion des menschlichen Geistes, welcher in Schleiermachers Kantrezeption das Vermögen menschlicher Anschauung entspricht, „besizt" die göttliche Substanz trotz ihrer „vollkomnen unmittelbaren Nichtvorstellbarkeit eine unendliche (mittelbare) Vorstellbarkeit" (KDSp 575). In dieser These ist mit wenigen Worten formuliert, was m. E. die Grundlegung des religiösen Anschauungsbegriffs, wie ihn Schleiermacher aus Kant und Spinoza entwickelt, ausmacht. Es kommt allerdings darauf an zu verstehen, welcher Art die Vermittlung ist, die Schleiermacher hier anführt. Unmittelbar völlig unanschaubar, soll dem Göttlichen mittelbar eine unendliche Anschaubarkeit eignen. Die Entwicklung dieses Begriffs der Mittelbarkeit erscheint mir - um mit Jacobi zu sprechen ein „Hauptschlüssel" für die Rekonstruktion der Genese von Schleiermachers eigentümlichem Anschauungsbegriff. Die Konzeption einer Struk-

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II. Schleiermachers Spinozarezeption

tur der Vermittlung, wonach Schleiermacher dem Absoluten eine mittelbare mentale Repräsentierbarkeit durch das menschliche Bewußtsein zumißt, ist die entscheidende Grundlage, um die Differenzierungen und Ausführungen des späteren Begriffs einer Anschauung des Universums zu verstehen. Denn für den Schleiermacher der ,Reden' wird es das Charakteristikum der Religion sein, das „Universum" auf unendliche Weise „im Einzelnen" anzuschauen. Für die Interpretation dieses Begriffs religiösen Anschauens wird es vor allem auf die Explikation der Näherbestimmung „im Einzelnen" ankommen. Ohne der Untersuchung des nächsten Teils vorzugreifen, läßt diese Näherbestimmung für den Begriff Anschauung des Universums eine Struktur vermuten, die, über eine einfache Repräsentationsrelation hinausgehend, in sich komplex aufgebaut ist. Die Grundmomente dieser komplexen Struktur der religiösen Anschauung beruhen, so meine These, auf dem bereits in den Spinozamanuskripten entwickelten Gedanken einer unendlichen mittelbaren Anschaubarkeit des Absoluten. Dieser Gedanke der Möglichkeit einer mittelbaren Anschauung des tinmittelbar unserer Anschauung Entzogenen macht zugleich die Besonderheit der Position aus, die Schleiermacher im Namen Spinozas hier entwickelt. Sie vertritt wie die kantische einen kritischen Idealismus der Erscheinung, geht aber über die beiden bei Kant festgehaltenen Aspekte des kritischen Idealismus hinaus, indem sie über eine Vermittlungsstruktur eine Verbindung zieht zwischen der Welt der uns in der Anschauung gegebenen Erscheinungen mit dem an sich selbst völlig unbestimmbaren und unanschaubaren „Noumenon" der spinozanischen Substanz. Der von Schleiermacher hier herausgearbeitete spinozistische Idealismus der Erscheinung ist also gerade durch dieses vermittelnde Aufeinanderbeziehen von Noumenalem und Phänomenalem, von Substanz und endlichem Vorstellungsgegenstand gekennzeichnet. Die Erfassung der Strukturelemente dieser Vermittlungsrelation mußte Schleiermacher während der Lektüre des Jacobischen Spinozabuches als Zielpunkt vor Augen stehen, denn sie liegt in der Fluchtlinie der Auflösung desjenigen Problems, an dem er Spinoza zu messen unternommen hatte. Die anspruchsvollste Fassung des Individuationsproblems war nämlich gerade in der Frage aufgeworfen worden, inwiefern sich Prinzipien finden lassen, nach denen nicht nur eine Vereinzelung realer Dinge in einer metaphysischen Argumentation plausibel gemacht, sondern nach denen sich im Gegenstand mentaler Repräsentation die Individuation einzelner Erscheinungen auch erkenntnistheoretisch erklären ließe. Das Individuationsproblem läuft also in seiner erkenntnistheoretischen Zuspitzung auf gerade die Fragestellung hinaus, auf die Schleiermacher durch seine Implementierung des kritischen Idealismus in Spinozas Philosophie gestoßen war, nämlich wie die Vermittlungsstruktur in

3. Die Genese eines religionsphilosophischen Anschauungsbegriffs

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Schleiermachers Postulat einer unendlichen mittelbaren Anschaubarkeit des Unendlichen zu verstehen sei. Von der Auflösung des Individuationsproblems kann also auch der Schlüssel zum Problem jener Vermittlungsstruktur im Mentalen erwartet werden. C. Religionsphilosophische Implikationen des Individuationsproblems für den Anschauungsbegriff Bei der Darstellung des kritischen Aspekts des Idealismus waren zwei Abstraktionshinsichten festgehalten worden, unter denen Schleiermacher das spinozanische „Unendliche", die göttliche Substanz, als unserem gegenständlichen Vorstellen entzogen ansieht. 293 Das war zum einen die Formulierung, diese sei „abgesondert von den einzelnen Dingen betrachtet" die „unvorstellbare Materie" (KDSp 567). Die zweite Abstraktionshinsicht hatte sich aus einer Reflexion Schleiermachers über den Status der spinozanischen Attributenlehre ergeben. Da deren „Vorstellbarkeit" im Sinne einer unmittelbaren mentalen Repräsentierbarkeit durch den menschlichen Geist in Schleiermachers Augen die eigentliche spinozanische Begründung sei, die bestimmten Attribute Cogitatio und Extensio aufzustellen, stellten diese folglich nicht eigentlich „Eigenschaften der Gottheit", sondern „Eigenthümlichkeiten des Anschauenden" dar. Aus der Verortung der Attribute in der Struktur des anschauenden Subjektes zog Schleiermacher, wie gesehen, die doppelte Konsequenz, der „absolute Stoff" besitze zugleich mit einer „vollkomnen unmittelbaren Nichtvorstellbarkeit eine tinendliche (mittelbare) Vorstellbarkeit" (KDSp 575). Einerseits behauptet Schleiermacher damit eine Entzogenheit des Absoluten als eines Gegenstands mentaler Repräsentation des Menschen, sofern von einer Vermittlung desselben abgesehen wird. Andererseits wird es als auf unendliche Weise repräsentierbar gesetzt, sofern diese Vermittlung gesetzt ist. Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit beziehen sich hier auf die Voraussetzung bzw. auf die Abstraktion von den humanen Strukturen gegenständlicher Vorstellung oder wie Schleiermacher kantianisierend sagen kann: auf die Vermittlungsfunktion der „Eigenthümlichkeiten des Anschauenden". Die besondere Dynamik dieser Bestimmungen macht aus, daß Schleiermacher an beiden Stellen dasselbe Problem vor Augen hat und somit die Abstraktion von den Einzeldingen der Sache nach nichts anderes bedeutet als die Abstraktion von unserer Anschauungsart. Das heißt umgekehrt, daß eine Explikation des Zusammenhangs von „Unendlichem" und Einzeldingen zugleich eine Aufklärung derjenigen Strukur unserer 293 S.o.S. 252.

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

Anschauung an den Tag zu bringen verspricht, durch deren Vermittlung der spinozanischen Substanz nach Schleiermacher eine unendliche „Vorstellbarkeit" zukommen soll. Schleiermachers Behandlung des Individuationsproblems in den Spinozamanuskripten, die gerade das Verhältnis der göttlichen Substanz als des spinozanischen „Unendlichen" zu den Einzeldingen ins Auge faßt, ist nun daraufhin auszuwerten, inwieweit sie Aufschluß über sein Verständnis einer vermittelten Anschaubarkeit des Absoluten geben kann. Die bewußtseinstheoretische Auflösung des Individuationsproblems hatte den Gegenstand menschlicher Anschauung als Erscheinung in ein eigentümliches Verhältnis zu dem darin erscheinenden Noumenon gestellt.294 Es gilt nun zu bedenken, wie dieses Verhältnis von Schleiermacher aus der mit dem kritischen Idealismus angenommenen Perspektive endlichen Bewußtseins heraus verstanden worden ist. Die systematische Basis dieser Fragestellung liegt darin, daß Schleiermacher zwar jenes kritisch-idealistische Moment zur Geltung zu bringen versucht, indem er das Absolute als unserem direkten epistemischen Zugang entzogen versteht. Allerdings - und darin liegt der entscheidende Punkt für die Möglichkeit seiner religionsphilosophischen Valenz - sieht er dieses Absolute eben nicht als prinzipiell und in jeder Hinsicht entzogen an, sondern setzt gleichsam als Generalprämisse eine Bezogenheit desselben auf unser menschliches Anschauen. Die Frage ist für ihn daher nicht, ob wir überhaupt in einem Bezug zum Absoluten stehen, sondern wie dieser Bezug aus der Perspektive des endlichen menschlichen Bewußtseins her zu explizieren ist. Aber selbst die Bestimmung des endlichen Bewußtseins als eines endlichen, welche notwendig ist, um den Bezug zum Absoluten aus endlicher Bewußtseinsperspektive einnehmen zu können, operiert von der virtuellen Setzung eines nicht-endlichen Bewußtseins. Die methodische Vexierfrage, wie das endliche Bewußtsein sich als endliches in seinen Beschränkungen bewußt werden kann, ohne sich selbst in ein unendliches Bewußtsein hinein mißzuverstehen, erhält nämlich bei Schleiermacher in den Spinozamanuskripten eine Antwort gerade durch die Art und Weise, wie er die Perspektive eines unendlichen Verstandes einführt. Die Perspektive eines unendlichen Verstandes ist für Schleiermacher ein bloß virtueller Standpunkt. 295 Die Funktion des Gedankens eines unendlichen Verstandes liegt für das endliche Bewußtsein darin, die Hinsichten, in denen das endliche Bewußtsein seine eigene Beschränktheit erfährt, gedanklich zu einschränken. Vor diesem virtuellen Hintergrund eines unbeschränkten Bewußtseins, versetzt sich das endli294 S. o. die Zusammenfassung S. 224ff. 295 Schleiermachers Beschreibung dieses Standpunktes ist im Irrealis gehalten: Ein solches Wesen „müßte die präformierten Keime [... ] wahrnehmen", es „sähe im Korn schon den ganzen Baum", „alles wäre ihm Eins" (Sp 526f).

3. Die Genese eines religionspMosophischen Anschauungsbegriffs

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che Bewußtsein in die Lage, seiner Beschränkungen als solcher bewußt zu werden, ohne dieselben darin faktisch zu überschreiten. Schleiermachers Thematisierung der Perspektive eines unendlichen Verstandes verspricht also einerseits Aufschluß zu geben über die spezifische Verfaßtheit der Beschränkungen, denen seiner Meinung nach endliches Bewußtsein und insonderheit endliche menschliche Anschauung unterliegt. Andererseits geben diese Erörterungen Aufschluß über die Art und Weise, in der sich ein endliches Bewußtsein dieser seiner Beschränkungen bewußt zu werden vermag, woraus sich die Art von deren Transzendierung ergibt. Was das erste betrifft, so lassen sich aus Schleiermachers Manuskripten, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, zwei Hinsichten der Beschränktheit der menschlichen Anschauung eruieren: die ihrer materialen Fassimgskraft (1.) und die ihrer formalen Strukturiertheit (2.). Die Besonderheit beider Hinsichten entsteht daraus, daß Schleiermacher als den Standpunkt virtueller Entschränkung einen unendlichen Verstand entwirft, der spinozistische Züge trägt. Beiden Hinsichten wird also gerade unter dem Gesichtspunkt gesondert nachzugehen sein, wie hier die jeweiligen Elemente der spinozistischen Individuationsmetaphysik transzendentalphilosophisch in die Charakteristika des bloßen Grenzbegriffs eines unendlichen Verstandes transponiert werden. Soweit kann man in den Spinozamanuskripten Andeutungen und Hinweise für die gedankliche Grundlage der Genese von Schleiermachers Anschauungsbegriff zusammentragen. In einer diesen Teil insgesamt abschließenden Reflexion (3.) sollen auf der Grundlage dieser Auffassimg Schleiermachers von den Beschränkungen des endlichen Bewußtseins, wie sie sich aus den Spinozamanuskripten entwickeln läßt, Folgerungen für den Modus eines solchen humanen Welt- und Selbstverständnisses dargelegt werden, in welchem die Einheitsperspektive des Unendlichen Verstandes zwar intendiert ist, ohne aber die Beschränkungen des endlichen Bewußtseins darin zu überspringen oder faktisch zu negieren. Diese Überlegungen sollen schon vorblicken lassen auf das weitergehende Beweisziel dieser Arbeit, die aus der Spinozarezeption hervorgegangenen Einsichten Schleiermachers als Hintergrund jenes Religionsverständnisses zu erweisen, das er mit dem Begriff einer Anschauung des Universums sechs Jahre später in den,Reden' vortragen wird.

1. „Anschauen des Mannigfaltigen in dem Unendlichen" Im Manuskript ,Spinozismus' interpretiert und kommentiert Schleiermacher eine Stelle aus Jacobis Spinozabriefen, an der ihm seiner eigenen Aussage nach die gedankliche Verschmelzung von Kant und Spinoza zuerst in den Sinn gekommen ist. Er gibt die Passage gleichsam als den

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

Entdeckungszusammenhang seiner Parallelisierung von Kant und Spinoza an. „Mich haben nur diese Worte zuerst auf eine gewiße versinnlichende Ansicht geführt, welche das Spinozistische Verhältniß des Noumens zu den Phänomenen mit dem kantischen fast zusammenschmilzt" (Sp 526). Die Idee einer solchen Verschmelzung entzündet sich an dem Diktum Jacobis, im Geiste des Spinozismus sei „Folge oder Dauer nach der Wahrheit nur eine gewiße Art und Weise [... ] das Mannigfaltige in dem Unendlichen anzuschauen" (ebd.). Jacobi gibt hier die entscheidenden Stichworte des Mannigfaltigen, des Unendlichen und des Anschauens, die Schleiermacher beflügeln, kantische und spinozanische Philosophie sich gegenseitig bereichernd systematisch zu amalgamieren. Die in dieser Absicht entworfenen Analogiebildungen Schleiermachers sind bereits ausführlich besprochen worden, 296 ebenso ist die Stelle im Blick auf Schleiermachers Aufnahme des kantischen Idealismus der Erscheinung interpretiert worden. 297 Schleiermachers Kommentar zu dem Jacobizitat soll vor diesem Hintergrund hier erneut herangezogen werden und zwar im Blick darauf, welche Aspekte der Anschauungsbegriff bei Schleiermacher hinzugewinnt, dadurch daß er ihn im Kontext der Jacobischen Stichworte des Mannigfaltigen und des Unendlichen zu explizieren sucht. Methodisch verfolgt Schleiermacher eine Explikation dieses tiefsinnigen Diktums durch eine abwechselnde Versetzung in die Standpunkte eines unendlichen und unseres endlichen Bewußtseins. Dem iterativen Perspektivenwechsel schickt er eine Hypothese voraus, die in zweierlei Hinsicht bedeutsam ist, und zwar hinsichtlich der kritisch-idealistischen Sichtweise und des Individuenbegriffs. „Nehmen wir an jeder Folge von Erscheinungen, wobei wir ein Individuum im Auge zu behalten glauben, läge ein gemeinschaftliches noumenon zum Grunde" (Sp 526). Was das erste betrifft, wird Jacobis erkenntnistheoretisch unbestimmte Rede von Folge und Dauer mit dem idealistischen Index des Phänomenalen versehen. Anschauungsbegriff und Erscheinungsbegriff fordern sich für Schleiermachers kritischen Idealismus gegenseitig. 298 In dieser vorausgeschickten Hypothese wird zum anderen der bereits entwickelte Begriff des Individuums als eines bloß im Phänomenalen zu lozierenden, nicht abgeschlossenen, relativen Vereinigungspunktes vorausgesetzt. Nun versetzt sich Schleiermacher virtuell in den Standpunkt eines unendlichen Verstandes und stellt sich dabei die Frage, wie ein solcher unendlicher Verstand ein Dingbewußtsein aufbauen würde. Ein unendlicher Verstand müßte einen vollentwickelten Begriff eines jeden Dinges haben können. „Ein Wesen also welches dieses Ding an sich, als Eins, ohne Dauer und Folge, vorstellen oder anschauen sollte, müßte darin 296 S.o. S. 21 Iff. 297 S. o. S. 232ff. 298 S. o. S. 232ff.

3. Die Genese eines religionspMosophischen Anschauungsbegriffs

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gleichsam die präformirten Keime aller jener Erscheinungen wahrnehmen, den Grund derjenigen Beziehungen des Dings auf andere woraus sich iins die Erscheinungen entwickeln." (Sp 526). Es versteht sich für Schleiermacher, daß dieses Wesen „ein andres Vorstellungsvermögen haben [müßte] als wir, es müßte nicht an eine so eingeschränkte Einheit in der Verbindung des Mannigfaltigen gebunden seyn"(ebd.). Auch die jeweiligen Differenzen in der Erscheinungssequenz müßte es als Einheit anschauen können. Es sähe „im Korn schon den ganzen Baum, und alles Dazwischenliegende, und das alles wäre ihm Eins." 299 Das Mannigfaltige in dem Unendlichen anschauen hieße also für einen solchen unendlichen Verstand, in einem Ding-an-sich all dasjenige als Einheit anzuschauen, was für uns in verschiedene Erscheinungen auseinandertritt. Freilich, so reflektiert Schleiermacher, war die anfangs gemachte Hypothese in einer bestimmten Hinsicht bereits aus der Perspektive des endlichen Bewußtseins heraus formuliert, sie enthalte eine „Rüksicht auf unser Vorstellungsvermögen [...], welche jenem Wesen nicht ansteht." Es gäbe nämlich für ein Wesen mit einem uneingeschränkten Vorstellungsvermögen keinen Grund, lediglich einer bestimmten Entwicklungssequenz von Erscheinungen, die wir wohl einem Individuum zuordnen würden, ein noumenon zugrunde zu legen. Es würde nicht bloß gerade diese phänomenalen Differenzierungen in der (für uns noumenalen) Einheit eines Ding-an-sich anschauen können. Vielmehr würden ihm in der Anschauung dieser Einheit die „präformirten Keime" nicht bloß eines beschränkten Ausschnitts, sondern der Gesamtheit der in der Erscheinung überhaupt gesetzten Differenzierungen ansichtig werden. Hieraus ergibt sich für Schleiermacher der in Hinsicht auf unser endliches Bewußtsein limitative Charakter des Weltbegriffs. Denn es ist ausschließlich der Vorzug eines unendlichen Verstandes, in einem Ding-an-sich die ganze Welt der Erscheinungen anschauen zu können. Aus dieser virtuellen Perspektive „darf sich diese Reihe [sc. vom Samenkorn bis zum Baum] hier nicht endigen, sie muß sich auf alle vorhergehende und nachfolgende Bäume und Körner erstrecken, und weil die mechanischen und chemischen Veränderungen in dem Dinge [sc. an sich] und dem Grund seiner Beziehung zu andern eben so gut präformirt seyn müßten als die organischen, die mit ihnen so genau zusammenhängen, so muß sich diese Reihe auf die ganze Sinnenwelt erstreken, und so kommen wir wieder auf das Spinozistische Verhältniß". 300 299 Sp 526f. Schleiermachers Formulierung ist nicht ganz präzise. Der unendliche Verstand sähe nicht im Korn den ganzen Baum, sondern im Ding sowohl Korn als auch Baum als auch alles dazwischenliegende. Das Beispiel der Entwicklung des Samenkorns zum Baum findet sich in diesem Kontext auch bei Jacobi. Vgl. DH 198. 300 Sp 527. Die hier angedeutete Stufung einer mechanischen, chemischen und organischen Naturbetrachtung kehrt in den,Reden' wieder als Gliederung von Hinsichten, in denen die äußere Natur zum Gegenstand einer religiösen Anschauung werden kann.

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

An dieser Stelle wird deutlich, was Schleiermacher meint, wenn für ihn das „Spinozistische Verhältniß des Noumens zu den Phänomenen mit dem kantischen fast zusammenschmilzt", wie er eingangs bezeugt. Das „spinozistische Verhältniß" ist darin mit dem kantischen verschmolzen, daß es, und das heißt hier: das Verhältnis von göttlicher Substanz und endlichen Modifikationen, als ein solches von Noumenon und Phänomenen gedeutet wird. Insofern dieses Verhältnis von Noumenon und Phänomenen als ein spinozistisches Verhältnis gedeutet wird, werden darin aber alle diejenigen Charakteristika vereinigt, die Schleiermacher unter dem Begriff der mittelbaren Inhärenz im Blick auf das Individuationsproblem herausgearbeitet hat. Endlich-Einzelnes ist in dieser Sicht insofern als Modifikation der Substanz anzusehen, als es Teil der Totalität von Modifikationen ist, welche im sogenannten unendlichen Modus als direktem Ausdruck der einen Substanz gesetzt ist. Diese spinozistische Bestimmung der ontologischen Grundrelation wird hier von Schleiermacher ihrerseits idealistisch reformuliert: einzelne Erscheinungen sind insofern Modifikation des einen Noumenon („präformirte Keime") als sie Teil sind eines ,unendlichen Modus', nämlich der „Sinnenwelt" als des Ganzen aller Erscheinungen überhaupt. Nun kommt es aber gerade darauf an, daß Schleiermacher dieses „spinozistische Verhältniß" nicht etwa aus der Perspektive des endlichen menschlichen Bewußtseins entwirft, sondern als konsequente Ausmalung jenes Standpunktes, den einzunehmen uns nur virtuell möglich ist. „Jenes Wesen", welches in einem Ding-an-sich alle Differenzen der Sinnenwelt als Modifikationen dieses einen Dinges anschauen könnte, müßte als ein unendlicher Verstand gedacht werden. Ein solcher müßte nicht nur einer kantisch verstandenen „intellektuellen Anschauung" fähig sein, Dinge in ihrem An-sich-Sein anzuschauen, ohne an ihr Gegebensein als Gegenstände der Sinne gebunden zu sein. 301 Ihm würde vielmehr keine Differenzierung einer Pluralität von Dingen-an-sich gelten, sondern er würde alle Differenzen bloß als Modifikation der An-sich-Sphäre überhaupt anschauen. Ein solcher Begriff des unendlichen Verstandes trägt Züge des spinozanischen intellectus infinitus.302 Zugleich sind in Schleiermachers idealistische Reformulierung dieses spinozistischen unendlichen Verstandes „Rücksichten" eingegangen, die sich seines Ausgangspunkts von der Perspektive des endlichen Bewußtseins verdanken. Für den spinozanischen intellectus infinitus sind die Einzeldinge nichts anderes als Modifikationen der Substanz. Für Schleiermachers hier entwickelten Begriff eines unendlichen Verstandes sind die Modifikationen „präformirte Keime [... ] woraus sich uns die Erscheinungen entwiVgl. Reden 83-87; dazu unten Teil ΠΙ, S. 317, Aran. 143. 301 Vgl. KrV Β 68. 72.135.138. 307. 311f. 302 Vgl. oben Anm. 216 auf S. 82 bzw. S. 55ff.

3. Die Genese eines religionsphilosophischen Anschauungsbegriffs

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kein". Schleiermacher spiegelt die Differenzierungen im endlichen Bewußtsein in den göttlichen Verstand hinein, um so sein Gedankenexperiment weiter zu entwickeln und reichert damit den Begriff des unendlichen Verstandes an. Ein unendlicher Verstand müßte demnach dasjenige, was sich - durch die Art unseres Anschauungsvermögens - für uns als verschieden in einer Reihe von Erscheinungen „darstellt" (Sp 527), in einer solchen Einheit anzuschauen in der Lage sein, welche „nicht nur alles das wesentliche [sc. essentialiter] enthalten [müßte], welches diese Reihe von Erscheinungen mit einander gemein hat, sondern auch das wodurch jedes Glied sich von dem andern unterscheidet" (Sp 526). Diese Einheit, in welcher der unendliche Verstand anzuschauen vermag, müßte also das der Reihe der Erscheinungen Identische und das ihr je Differente essentiell („wesentliche") implizieren. Und insofern sich die Reihe für einen solchen unendlichen Verstand auf die ganze Sinnenwelt erstrecken müßte, müßte er das Identische und Differente der gesamten Welt der Erscheinungen in einer Einheit anschauen können. Was läßt sich für das Verständnis menschlicher Anschauung aus einem solchen spinozistisch verstandenen Grenzbegriff eines unendlichen Verstandes ableiten? Der Ertrag der virtuellen Thematisierung des unendlichen Verstandes ist es, diesem gegenüber zwei Limitationshinsichten für die menschliche Anschauung benennen zu können. Die eine liegt darin, daß die Phänomenalitätsgrenzen als ein Spezifikum endlichen Bewußtseins in den Blick kommen. Der näheren Begründung dieser basalen Beschränkung des menschlichen Bewußtseins aufgrund seiner formalen Strukturiertheit werden wir im Kontext von Schleiermachers spinozistischem Anschauungsbegriff im nächsten Abschnitt nachgehen. Es ergibt sich aber noch eine weniger voraussetzungsreiche Hinsicht der Beschränkung: Während der unendliche Verstand alle Differenzen der gesamten Sinnenwelt in einer Einheit überblickt, ist der Gegenstand unserer Anschauung ein endliches Mannigfaltiges und keineswegs eine unendlich sich erstreckende Sinnenwelt. Während der unendliche Verstand Einzelmodifikationen in der Einheit der Totalität von Modifikationen (d. h. als Teil des „unendlichen Modus") anschaut, sind uns bloß einzelne Erscheinungen gegeben, nicht aber eine Totalität unendlich vieler Erscheinungen in ihrem Zusammenhang, wie sie der Begriff einer Sinnenwelt umfaßt. D. h. die materiale Fassimgskraft unseres Anschauungsvermögens ist beschränkt. Im Blick auf den Begriff einer Totalität im Gegenstand eines unendlichen Verstandes muß der Gegenstand unserer Anschauung daher als eingeschränkt bloß auf einen endlichen Teil der unendlichen Sinnenwelt charakterisiert werden. Freilich wird es noch gesondert zu betrachten sein, welche epistemischen Operationen vonnöten sind, um ein Bewußtsein dieser Einschränkimg des Gegenstands unserer Anschauung auf einen Teil der Sinnenwelt zu konstituieren.

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

2. „Das Unendliche im Inbegriff des Endlichen anschauen" Eine zweite Hinsicht der Beschränkung für das endliche Bewußtsein ergibt sich für Schleiermacher aus einer Reflexion auf die spinozanische Attributenlehre und zwar in Hinsicht auf deren Funktion für die Möglichkeit der Auffassung der Substanz. Um diesen Aspekt herauszuheben, seien zwei Einsichten erinnert, die Schleiermacher in diesem Zusammenhang voraussetzt. Wir hatten erstens gesehen, daß Schleiermacher das „Unendliche", wie er die spinozanische Substanz zu nennen pflegt, per se oder abstrahiert vom Zusammenhang mit den endlichen Dingen für nicht anschaubar hält. Und zwar hatte Schleiermacher dies nicht aus der Reflexion auf die Beschränktheit unseres Anschauungsvermögens gefolgert, sondern als bereits im spinozanischen Konzept der göttlichen Substanz liegend herausgearbeitet. Die unmittelbare Nichtanschaubarkeit des Unendlichen ist also im Blick auf die oben thematisierte Perspektivendualität von unendlichem und endlichem Bewußtsein für beide Perspektiven gleichermaßen gültig. Zweitens hat nun Schleiermacher dieser Nichtanschaubarkeit der Substanz in ihrer Abstraktheit eine relative, nämlich mittelbare Anschaubarkeit gegenübergestellt. Medium der Vermittimg sind dabei aber nicht die endlichen Einzeldinge, sondern, weil die Substanz Unendlichkeit ausdrückt, wiederum Unendliches: In dem Ganzen unendlicher Modifikationen drückt sich die Substanz aus und ist deshalb entsprechend auf mittelbare Weise auch nur anschaubar in dem Ganzen ihrer Modifikationen. Ein solches Ganzes von Modifikationen ist aber, so ist im letzten Abschnitt deutlich geworden, in Schleiermachers Verständnis keineswegs dem endlichen Bewußtsein als Anschauung gegeben, sondern allein einem virtuell zu entwerfenden unendlichen Bewußtsein als dessen Gegenstand zuzuschreiben. In der angesprochenen Reflexion nun setzt Schleiermacher beide Aspekte voraus, wenn er von einer Anschauung des Unendlichen im „Inbegrif der endlichen Dinge" (KDSp 569) spricht. „Inbegrif" steht hier für ein unendliche Teile in sich fassendes Ganzes, das seinen Teilen logisch vorangeht, nicht etwa für eine Synthesis einer aus Mannigfaltigem gebildeten Einheit im Sinne einer kollektiven Einheit. 303 Im Inbegriff der 303 Schleiermacher folgt hier Jacobis Erläuterung von „Inbegriff", daß es sich dabei nicht um einen Begriff kollektiver Einheit handelt. Vgl. § 7, JWA 1/1, S. 95; Sp 515: „Dieser Inbegriff [sc. aller endlichen Dinge, § 6] ist keine ungereimte Zusammensetzung endlicher Dinge, die ein unendliches ausmachen, sondern der strengsten Bedeutung nach ein Ganzes, dessen Theile nur in und nach ihm seyn, nur in und nach ihm gedacht werden können." Vgl. in diesem Sinne auch JWA 1/1, S. I l l , Anm. 1: „Es ist kaum begreiflich, wie man dem Spinoza hat vorwerfen können, daß er aus dem Zusammennehmen des Eingeschränkten das Uneingeschränkte habe entstehen lassen, und daß

3. Die Genese eines religionsphilosophischen Anschauungsbegriffs

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endlichen Dinge das Unendliche anschauen, heißt also, es in einer solchen Ganzheit anschauen, in welcher alle Teile mitbefaßt sind und welches Ganze nicht etwa erst aus der Anschauung einzelner Teile sukzessiv zusammenzubringen wäre. Die Anschauung einer solchen Ganzheit entspricht genau dem, was Schleiermacher als Vorzug des unendlichen Verstandes beschrieben hat. Dieser war deshalb imstande, die Sinnenwelt als Ganzes zu erfassen, nicht etwa weil er einzelne Erscheinungen zur Einheit der Sinnenwelt zusammenzufassen vermag, sondern weil er in der Einheit des einen Dinges-an-sich alle möglichen Modifikationen als „präformierte Keime" vorstellen kann. D. h. aber, er nimmt alles Einzelne nur insofern wahr, als er das Ganze wahrnimmt, nämlich als dessen integrative Teile. Der unendliche Verstand synthetisiert nicht die Erscheinungen zu einer Einheit, sondern er schaut die Einheit der einen Substanz an und zwar nicht als abstrakte, leere Einheit, sondern vielmehr als erfüllte Einheit eines Ganzen möglicher Modifikationen. Wenn Schleiermacher also von einem Anschauen des Unendlichen im „Inbegriff der endlichen Dinge" spricht, so ist bereits durch den Rekurs auf das mit dem Ausdruck „Inbegriff" verbundene Ganzheitsverständnis eine Vorstellungsart angesprochen, die nur in der virtuellen Perspektive eines unendlichen Bewußtseins zu denken ist. In dieser Perspektive verbleibend ergibt sich nun in der Reflexion auf die Attributenlehre für Schleiermacher ein weiterer Aspekt, der als Grenzbestimmung dann auch für die Charakterisierung der Anschauungsart des endlichen Bewußtseins von Belang ist: Die Substanz ist auf verschiedene Weise als im Inbegriff der endlichen Dinge anschaubar. „Noch giebt es etwas, was mir weniger klar ist, als das übrige, nemlich: was heißt es, die Substanz unter einem gewißen Attribut betrachten z.E. in dem Saz: es ist einerlei ob man das unendliche Ding unter dem Attribut der Ausdehnung, oder dem des Denkens betrachtet. Ich erkläre es mir aber so: in so fern man das unendliche Ding in dem Inbegrif der endlichen Dinge anschauen will ist es gleichviel, ob man die ausgedehnten oder die denkenden Dinge betrachtet; nemlich gleichviel sowol in Absicht auf das Resultat, weil im Bewußtsein alles vorkomt, was in der Ausdehnung geschieht, aber auch sonst nichts als auch in Absicht auf die seine unendliche Substanz nur ein ungereimtes Aggregat aus endlichen Dingen sei." Hier verweist Jacobi auf den aristotelischen Grundsatz: „totum parte prius esse necesse est" mit der Feststellung: „Diesem erhabenen, fruchtbaren Grundsatze, folgt Spinoza überall." Zu Schleiermachers Rekurs auf diese Bestimmung vgl. KDSp 570: „Spinoza meint, es sei kein anderes Unbedingtes möglich als der ganze Inbegrif des Bedingten" und ebd., S. 567: „seiner Form nach ist es [sc. das unendliche Ding] das unbedingte, welches nicht außerhalb der Reihe sondern nur in dem ganzen Inbegrif derselben zu finden ist." Vgl. auch Schleiermachers Verteidigung dieses Sinns von Ganzheit im Widerspruch zu Mendelssohns Interpretation des „Inbegriffs" als tranzsendentale Einheit, als gedankliches „Kollektivum" oder „Zusammen", Sp 535; JWA1/1, S. 180f.

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Π. Schleiermachers Spiriozarezeption

Procedur, weil die denkenden Dinge keine anderen sind als die ausgedehnten." 304 Was Schleiermacher sich hier als Erklärung zurechtlegt, ist nichts anderes als eine Explikation der spinozanischen Attribute als Bestimmungen der Art und Weise, in welcher Dinge überhaupt (res) Gegenstände möglicher Anschauung werden können. Daß überhaupt eine Pluralität solcher Weisen möglich ist, hat seinen Grund in der eigentümlichen Fassung des spinozanischen Attributsbegriffs, wonach jedes Attribut das Wesen der Substanz vollständig konstituiert und folglich, wie Schleiermacher feststellt, die Attribute als „parallele Ausdrücke" (Sp 557) ein und derselben Substanz verstanden werden müssen. Auf diesem Grund ist die Möglichkeit einer Anschauung ein und desselben Dinges (res) unter verschiedenen Attributen nachvollziehbar, ohne daß dabei eine Differenz im reellen Gehalt zu setzen wäre. Diese Parallelität und Gleichwertigkeit der Anschauungsweisen unter verschiedenen Attributen, gilt nun selbstverständlich ebensosehr in der virtuellen Perspektive eines unendlichen Verstandes als für unser endliches Bewußtsein, allerdings mit einer spezifischen Differenz, die zugleich die Grenze unserer Anschauungsart markiert. Schleiermacher hatte gegen manche Jacobische Suggestionen herausgearbeitet, daß für Spinozas Begriff der göttlichen Substanz eine unendliche Menge von Attributen charakteristisch sein muß. Ein unendlicher Verstand müßte, so wäre zu folgern, auch unter unendlichen Attributen die Substanz betrachten können oder in Schleiermachers Worten: sie wäre ihm auf unendlich viele Weisen „im Inbegrif der endlichen Dinge" anschaubar. Wie aber die Konzeption von Spinozas Attributenlehre in der Bestimmung, Gott unendliche Attribute zuzuschreiben, der Versuch ist, die Gleichursprünglichkeit von Denken und Ausdehnung in einer allgemeinen Struktur zu explizieren und damit den Anthropomorphismus im Gottesbegriff zu unterlaufen, so zielt die Konzeption des intellectus infinitus, der die Dinge unter unendlichen Attributen zu erkennen imstande ist, darauf ab, in einer allgemeinen Struktur die Möglichkeit der doppelten Bezogenheit des menschlichen Bewußtseins, einerseits auf sich selbst als Körper, andererseits auf sich selbst als Denken, zu explizieren. Bei Spinoza ist also der Begriff eines unendlichen Verstandes dazu konzipiert, einen vollständigen Begriff eines auffassenden Geistes zu entwerfen, um diesen unbeschränkten Geist gegenüber dem endlichen menschlichen Geist nicht nur abzugrenzen, sondern diesen in jenen einzuzeich304 KDSp 569. Der Satz, auf den Schleiermacher hier verweist, findet sich bei Jacobi in § 14, vgl. JWA 1/1, S. 100; Sp 516f. Jacobi seinerseits referiert auf Spinoza, Eth. II, prop. 7, schol.: „substantia cogitans, et substantia extensa una eademque est substantia, quae iam sub hoc iam sub illo attributo comprehenditur. Sic etiam modus extensionis et idea illius modi una eademque est res; sed duobus modis expressa".

3. Die Genese eines religionsphilosophischen Anschauungsbegriffs

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nen und aus ihm verständlich zu machen. Dieser basalen Einsicht Spinozas ist Schleiermacher gefolgt Betrachten wir also, was Schleiermacher im Anschluß an Spinoza in Bezug auf die Modi 305 des Anschauens, die einem endlichen menschlichen Bewußtsein möglich sind, zu sagen hat. Das „Exempel" in dem oben genannten Zitat, nämlich die Aufgabe, den „Saz: es ist einerlei ob man das unendliche Ding unter dem Attribut der Ausdehnung, oder dem des Denkens betrachtet" zu explizieren, rekurriert auf die beiden konkret genannten Attribute Extensio und Cogitatio und nimmt damit eine Beschränkungshinsicht gegenüber der Perspektive des unendlichen Verstandes ein, dessen Gegenstand die Totalität der Dinge unter allen, unendlichen Attributen ist. Unser endliches Bewußtsein ist nun nicht nur in seiner materialen Fassungskraft beschränkt, insofern wir keine unendlichen Ganzheiten anschauen können, sondern auch in seiner formalen Strukturiertheit, insofern uns Gegenstände überhaupt nur gegeben sind unter zwei dieser unendlich vielen Weisen. Wie wir gesehen haben, hat Schleiermacher die spinozanischen Attribute Extensio und Cogitatio im Sinne eines kritischen Idealismus aus Attributen oder Eigenschaften Gottes erkenntniskritisch umgedeutet, nämlich als Spezifika unserer menschlichen Anschauungsart. Als solche fungieren sie gegenüber dem Vollbegriff eines unendlichen Verstandes als Beschränkungshinsichten, nämlich insofern wir die Dinge nicht unter all ihren unendlichen qualitativen Hinsichten, als den Arten wie sie die Substanz unter den verschiedenen Attributen ausdrücken, erkennen, sondern beschränkt sind darauf, wie uns Gegenstände der Konstitution unseres Anschauungsvermögens nach gegeben werden. Dies bedeutet zweierlei. Sind die Attribute nicht mehr als ontologische Strukturprinzipien verstanden, sondern nach ihrer erkenntnistheoretischen Funktion umgedeutet zu Strukturmerkmalen der Art unseres Anschauungsvermögens, so ergibt sich hieraus eine Erklärung, warum Schleiermacher von einem spinozistischen Standpunkt aus von den Ge305 Der Modusbegriff ist hier nicht im Sinne des spinozanischen Begriffs Modus als Affection der Substanz (Eth. I, def. 5) gemeint, vielmehr als Bezeichnung der Art, den Ausdruck der Substanz unter verschiedenen Attributen mental aufzufassen. Bereits bei Spinoza findet sich der Modusbegriff auch in diesem Sinne verwendet, wenn er von unendlichen Weisen spricht, in denen Unendliches aus der Substanz folgt. Bezeichnenderweise fällt in diesem Zusammenhang auch der Begriff des unendlichen Verstandes. Vgl. Eth. I, prop. 16: „Ex necessitate divinae naturae, infinita infinitis modis (hoc est omnia, quae sub intellectum infinitum cadere possunt) sequi debent." (Hhg. C.E.). Siehe dazu oben Teil I, S. 53. Schleiermacher wird später sowohl in den ,Reden' als auch in der ,Dialektik' den Modusbegriff bzw. den der Modifikation auch in diesem Sinne verwenden. Vgl. Reden 104; DialM § 132 (1814/15), 100. Zu Letzterem vgl. demnächst Ch. Ellsiepen: Gott und Welt. Der Spinozismus von Schleiermachers Dialektik (2006).

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

genständen unserer Anschauung als von Erscheinungen sprechen kann. Der Begriff der Erscheinung markiert die Abhängigkeit der Gegebenheitsweise eines Gegenstands von dem auffassenden mentalen Vermögen. In einem unendlichen Verstand hingegen müßte der Totalitätsbegriff aller möglichen Repräsentationsweisen vorausgesetzt werden, so daß einem solchen mentalen Vermögen die aufgefaßten Gegenstände wirklich Dinge und nicht Erscheinungen wären, weil sie von ihm unter allen unendlich vielen Arten aufgefaßt werden könnten. Die ontologische Bestimmung der Dinge ginge so in keiner Weise über die Art ihrer mentalen Erfassving hinaus. Ist jedoch die Art des Auffassens von der spezifischen Struktur des auffassenden Vermögens abhängig und dieses Vermögen als ein endliches gesetzt, so geht die - aus der Perspektive dieses endlichen Bewußtseins grenzbegriffliche - Bestimmung des ontologischen Status der Gegenstände über deren erkenntnistheoretische Bestimmung als uns Gegebene hinaus: Und die Reflexion auf diese Diskrepanz läßt uns von diesen Gegenständen nicht mehr als von Dingen, sondern als von Erscheinungen sprechen. Zum anderen bedeutet die Abhängigkeit der Gegebenheitsweise der Gegenstände von der formalen Strukturiertheit unseres Anschauungsvermögens die konkrete Einschränkung nur auf ganz bestimmte Weisen von Erscheinung. Schleiermachers Umdeutung der spinozanischen Attribute und deren Verortung im Anschauungsvermögen des Menschen machte es ihm möglich, sie funktional den kantischen Anschauungsformen von Raum und Zeit gleichzusetzen. Daraus ergibt sich die Art wie die Beschränkimg unserer Anschauimg in dieser Hinsicht verstanden werden muß. Wir können nur anschauuen, was unserem äußeren Sinn als räumlich und was unserem inneren Sinn als zeitlich erscheint, soweit geht Schleiermacher mit Kant. Darin erblickt er aber den Gehalt der spinozanischen Attribute. Was uns als räumlich erscheint, ist Ausgedehntes, also Teil dessen, worin sich die Substanz unter dem Attribut Extensio ausdrückt. Was uns als zeitlich erscheint, sind Vorstellungen, ist also Geistiges und Teil dessen, worin sich die Substanz unter dem Attribut Cogitatio ausdrückt. Die Hinsicht der Beschränkung unserers endlichen Bewußtseins, die Schleiermacher mit der Umdeutung der spinozanischen Attributenlehre als der Strukturmerkmale unseres Anschauungsvermögens intendiert, ist also in der formalen Limitation der Gegenstände unserer möglichen Anschauung auf Ausgedehntes und Gedachtes gelegen. Die spinozistische Komponente in diesem Limitationsverständnis liegt darin, daß Ausgedehntes und Gedachtes Erscheinungsweisen ein und derselben Substanz darstellen. Obschon diese Substanz uns - für sich betrachtet - nichts als ein unbekanntes Noumenon ist, gewährt der grenzbegriffliche Rekurs auf dieselbe ein Verständnis von Denken und Körper als qualitativ verschiedener Erscheinungsweisen desselben Noumenalen.

3. Die Genese eines religionsphilosophischen Anschauungsbegriffs

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Ein solches Verständnis impliziert aber nicht nur die Anerkennung der Gleichursprünglichkeit beider Erscheinungsweisen, sondern auch ihre wesentliche Zusammengehörigkeit. Diese Umdeutung der Attributenlehre Spinozas zu einer Theorie der Erscheinungsweisen des Absoluten für unser menschliches Bewußtsein hat in Schleiermachers weiterem Denkweg, das sei hier vorausblickend angemerkt, ihre Spuren hinterlassen. Was hier unter spinozistischer Terminologie als Ausgedehntes und Denken firmiert, wird später in den ,Reden' als Natur und Menschheit, in der philosophischen Ethik' als Natur und Vernunft, in der,Dialektik' als Reales und Ideales verhandelt. Immer eignet beiden Polen die Charakteristik der wesentlichen Zusammengehörigkeit und Gleichursprünglichkeit, in den,Reden' im Verständnis von Menschheit und Natur als Darstellungsweisen des Universums, in der Philosophischen Ethik' im „Ineinander von Vernunft und Natur" oder in der ,Dialektik' in der Explikation des Idealen und Realen als „Modi des Seins". Und Schleiermacher hält in den genannten Werken auch denjenigen Aspekt durch, der ihm hier in den Spinozamanuskripten in der Amalgamierung von Spinozismus und kantischer Philosophie wesentlich ist: die beiden Erscheinungsweisen von Gegenständen sind nicht etwa metaphysische Klassifikationen. Vielmehr sind sie transzendentalphilosophisch auf die Art unseres Kognitionsvermögens zurückzuführen. Bevor aber diese Spuren der Spinozarezeption aus den frühen Manuskripten in Schleiermachers ,Reden' weiterverfolgt werden, will ich im folgenden Abschnitt im Sinne einer systematischen Rekonstruktion die Leitlinien eines religiösen Selbst- und Weltverständnisses auf der Grundlage der Basiseinsichten Schleiermachers in den Spinozamanuskripten skizzieren.

3. Anschauung des Unendlichen aus der Perspektive endlichen Bewußtseins Im Vorangehenden sind verschiedene Hinsichten herausgearbeitet worden, in welchen die Möglichkeit einer Anschauimg des Unendlichen gerade für ein endliches Bewußtsein als beschränkt erscheinen muß. Die erste und grundlegendste Hinsicht der Limitation einer Anschauung des Unendlichen ist die prinzipielle Entzogenheit des Unendlichen für jegliches Bewußtsein, sei es endlich oder unendlich, nämlich sofern das Unendliche für sich, als Absolutum zur Betrachtung kommen soll. Als Absolutum ist es das Unfaßbare, kann weder Gegenstand eines Begriffes noch einer Anschauving werden. Denn es steht als solches jenseits des begrifflichen Gefüges von Gattungen und entzieht sich der Unmittelbarkeit der Anschauung, weil es selbst keine Einzelentität, kein Individuum, sondern

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

der Grund aller Individuation ist. Soll aber die Welt der Einzeldinge in einem Dependenzverhältnis zu ihrem Grund stehen, ohne daß dieser selbst als Einzelentität erscheint, so ist ein ursprünglicher Zusammenhang zwischen dem Absoluten und der Welt anzunehmen. Als Grund aller Einzeldinge ist das Absolute der Welt gegenüber transzendent. Jedoch nicht in dem Sinne, daß es als Entität außerhalb der Welt zu stehen käme. Vielmehr ist es, sofern es selbst nicht Entität, sondern nur Prinzip des Seins ist, der Welt immanent. Diese Verschränkung des Transzendenz- und des Immanenzaspekts in der Kausalrelation liegt in Spinozas Theorie von Gottes immanenter Kausalität. Schleiermacher greift sie erkenntnistheoretisch auf, indem er eine unendliche mittelbare Anschaubarkeit des Unendlichen postuliert. Sofern nämlich das Unendliche dem Endlichen immanent ist und ein mentaler Bezug auf Endliches sehr wohl möglich ist, muß darum ein über dieses Endliche vermittelter mentaler Bezug auf das Unendliche ebenso möglich sein. Nur ergibt sich an dieser Stelle eine erneute, und zwar in sich gedoppelte Brechung im Blick auf die Möglichkeit eines Bewußtsein von dem Unendlichen, wenn nämlich die Perspektive eines endlichen Bewußtseins, also unsere menschliche Perspektive eingenommen werden soll. Die erneute, in sich gedoppelte Brechung, der das menschliche Bewußtsein in Ansicht des Absoluten unterliegt, läßt sich an den in den vorangehenden Abschnitten besprochenen Differenzen gegenüber dem Grenzbegriff eines unendlichen Verstandes ablesen. Erstens wäre für einen unendlichen Verstand das Absolute mittelbar anschaubar in der Totalität einer Sinnenwelt, in welcher das Absolute sich ausdrückt. Und zweitens wäre diese Sinnenwelt ihm strenggenommen keine Sinnen-Welt, sondern schlicht Welt, weil er - mit allen unendlichen Sinnen ausgestattet - die Welt unter allen möglichen Erscheinungsweisen des Absoluten erfassen könnte, mithin sie ihm aufhörte, bloße Erscheinung zu sein. Ohne in metaphysische Spekulationen über diesen unendlichen Verstand zu geraten, bringt er doch als Grenzbegriff die beiden Limitationshinsichten ans Licht, unter denen die Möglichkeit einer bloß mittelbaren Ansicht des Absoluten näherhin für ein endliches Bewußtsein steht. Sofern unserem endlichen Bewußtsein in unserem Anschauen nämlich erstens keine Totalitätssphäre der Endlichkeit, sondern immer nur Endlich-Einzelnes gegeben ist, hängt die Möglichkeit einer mittelbaren Anschauimg des Absoluten durch ein endliches Bewußtsein an der Möglichkeit, das in unserer Anschauung gegebene Endlich-Einzelne auf die Totalität des Endlichen, auf einen Begriff von Welt zu beziehen. Zweitens ist unsere Anschauimg an eine bestimmte Strukturiertheit unserer Sinnlichkeit gebunden und von daher auf die Erfassung von Gegenständen als räumlicher und zeitlicher bzw. in der Form des Ausgedehnten und Gedachten eingeschränkt. Die Möglichkeit einer mittelbaren Anschau-

3. Die Genese eines religionspMosophischen Anschauungsbegriffs

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ung des Absoluten hängt für das menschliche Bewußtsein deshalb davon ab, diese Gegebenheitsweisen von Gegenständen unserer Anschauung allererst als Erscheinungsweisen des Absoluten zu verstehen. Beide Bedingungen sind miteinander verschränkt. Dem menschlichen Anschauen wird Endlich-Einzelnes gerade vermöge der Formen des Anschauungsvermögens als Gegenstand gegeben. Diese Formen fungieren als Individuationsprinzip für alles, was uns als Erscheinung bewußt werden kann. Und umgekehrt ist uns Einzelnes als Erscheinung immer nur als räumlich oder zeitlich Differenziertes gegeben, d.h. als Raumoder Zeiterfüllendes, als individuierte Ausdehnung oder als individuiertes Denken. Wenn man nun alle drei Aspekte berücksichtigt - die Limitation auf eine Mittelbarkeit der Anschauung des Absoluten und die doppelte Einschränkung der Möglichkeit einer solchen mittelbaren Anschauung für das menschliche Bewußtsein - so ergibt sich eine Staffelung von Bewußtseinsschritten in der Anschauung des Unendlichen aus der Perspektive des endlichen Bewußtseins. Formal gesehen ist der Grundakt ein Verstehen des gegebenen Gegenstands als Inbegriffen in einer höheren Einheit und zwar einerseits im Sinne einer Relation von Teil und Ganzem, andererseits im Sinne einer immanenten Ursache-Wirkungsrelation und drittens als Verschränkung beider Kategorien nach dem Schema von Prinzip und Erscheinimg. Als Aufbaumomente in der Anschauung des Unendlichen aus der Perspektive des menschlichen Bewußtseins lassen sich so drei Ebenen solcher Verstehensakte voneinander vinterscheiden: 1. Die individuelle materiale Bestimmtheit des Gegenstands der Anschauung als Inbegriffen in der höheren Einheit eines Ganzen des in der jeweiligen Form der Sinnlichkeit Anschaubaren verstehen. 2. Dieses Ganze als Inbegriffen in der höheren Einheit eines alle Teile wie das Ganze konstituierenden immanenten Prinzips, d. h. als Erscheinung des ansonsten unbekannten Absoluten verstehen. 3. Dieses Erscheinungsganze als Inbegriffen in der höheren Einheit eines unendliche Weisen der Erscheinung konstituierenden Prinzips, d. h. als Erscheinungsweise des in seinen übrigen Erscheinungweisen imbekannten Absoluten verstehen. Die konkrete Bedeutung dieser drei Verständnisebenen läßt sich abmessen, wenn man die beiden Formen unserer Sinnlichkeit, Raum und Zeit, die von Schleiermacher im Sinne von körperlich-ausgedehnter und geistiger Bestimmtheit gedeutet werden, in das Schema einsetzt. Auf der ersten Ebene wird die individuelle Bestimmtheit des Gegenstands der Anschauung als Inbegriffen in der höheren Einheit eines Ganzen des in der jeweiligen Form Anschaubaren verstanden. D. h. die jeweilige räumliche bzw. geistige Bestimmtheit in einem Gegenstand der Anschauung wird als Inbegriffen in dem Ganzen einer Körperwelt bzw. geistigen Welt

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Π. Schleiermachers Spinozarezeption

verstanden. Hier kommt Schleiermachers spinozistische Individuationstheorie zum Tragen, wonach das körperliche Individuum als Vereinigungspunkt im Gesamtzusammenhang der Körperwelt bzw. eine einzelne geistige Bestimmtheit als Vereinigungspunkt im Kontinuum der geistigen Welt verstanden werden kann. Auf der zweiten Ebene werden Körperwelt bzw. geistige Welt als Inbegriffen in der höheren Einheit ihres jeweiligen Prinzips, d.h. jeweils als Erscheinung des Absoluten verstanden. Der Zusammenhang beider Weltbegriffe ist auf dieser Ebene noch nicht im Blick. Es wird entweder innerhalb des Körperlichen alles Einzelne wie das Ganze dieser Sphäre als Inbegriffen in der Einheit des ihr zugrundeliegenden Prinzips verstanden. Oder es wird innerhalb des Geistigen jede einzelne Bestimmtheit wie das Ganze einer geistigen Welt in der höheren Einheit des ihr zugrundeliegenden Prinzips verstanden. Es liegt hierin sozusagen das Weltbild einer je immanenten Absolutheit der Natur bzw. der geistigen Welt.306 Erst auf der dritten Ebene wird ein Verständnis des Zusammenhangs von Körperwelt und geistiger Welt angebahnt. Sofern Körperwelt und geistige Welt nicht nur für sich als Erscheinung des Absoluten, sondern als Inbegriffen in der höheren Einheit eines unendliche Weisen der Erscheinung konstituierenden Prinzips verstanden werden, relativiert sich ihr Status: sie werden als je bestimmte Weise der Erscheinung, d. h. als Teilbestimmung im Ganzen unendlicher Erscheinungsweisen des Absoluten verstanden. Hierin liegt das Verständnis der Relativität der uns allein zugänglichen Sphären von naturaler und geistiger Welt. Es ist wichtig, gerade im Blick auf die ,Reden', diese drei Ebenen auseinanderzuhalten. Deshalb sei hier noch einmal hervorgehoben, daß Schleiermachers religionsphilosophisches Credo, wie es für die frühen 1790er Jahre in den Spinozamanuskripten dokumentiert ist, zwar wohl die Möglichkeit eines Innewerdens des Absoluten im Einzelnen ausspricht. Aber diese Vermitteltheit des Absoluten, dadurch, daß es als im Einzelnen erscheinend überhaupt nur erfaßt werden kann, ist für unser endliches Bewußtsein ihrerseits noch einmal vermittelt: Nur als Teil des Ganzen der geistigen oder körperlichen Welt verstanden kann uns eine einzelne natürliche Begebenheit oder geistige Erscheinung wirklich Ausdruck einer höchsten Einheit sein. Es ist hier von Schleiermacher eine doppelte Brechung der im religiösen Bewußtseins gesetzten Beziehung auf das Unendliche vorausgesetzt. Anschauung des Unendlichen heißt für uns: Das Einzelne im Ganzen, d. h. als Teil des Ganzen der Endlichkeit anschauen und dies Ganze als Ausdruck einer höchsten Einheit verstehen. 306 Hierhin gehört dann auch Schleiermachers Kritik an der Einseitigkeit derjenigen, denen die geistige Welt („Menschheit") einziger Bezugsrahmen der Religion ist. Vgl. Reden 104.125.131. S. u. S. 359ff.

3. Die Genese eines religionsphilosophischen Anschauungsbegriffs

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Ein Hauptproblem bei der Interpretation des Schleiermacherschen Religionsverständnisses in den ,Reden' stellt die Bestimmung des Universumsbegriff dar. Mir scheint der Grund dieser Problematik u.a. darin zu liegen, daß Schleiermacher mit diesem Begriff, sofern er ihn in der Formel einer Anschauung des Universums faßt, die oben genannten drei Verständnisebenen ineinander zu fassen versucht. Von daher wird uns insbesondere bei der Interpretation des Universumsbegriffs der ,Reden' die Sonderung der Ebenen ein methodisches Anliegen sein. Die Durchdringung der verschiedenen Verständnisebenen im Universumsbegriff deutet sich bereits in den Spinozamanuskripten an. Pointiert verwendet Schleiermacher den Universumsbegriff in diesen frühen Texten nur im Zusammenhang einer Illustration seiner spinozistischen Theorie mittelbarer Inhärenz. Hier stellt er sich das „spinozistische Universum vor als einen Baum" (KDSp 576f). Ohne an dieser Stelle in die ζ. T. abstrusen Details dieser Veranschaulichung zu gehen, wird daraus deutlich, daß der Universumsbegriff nicht nur die Totalitätssphären von Denken und Ausdehnung 307 in sich begreift, sondern auch deren essentiellen Konstitutionsgrund.308 Wie nun nach der Theorie mittelbarer Inhärenz die Bestimmungen von Mischungsverhältnissen, die uns in diesen Sphären Individua vorstellen lassen, dem Universum als essentiellem Grund nicht zukommen, 309 so ist es bei der Betrachtung der einzelnen körperlichen und geistigen Erscheinungen aus der Perspektive des menschlichen Bewußtseins „einerlei, unter welchem von beiden Attributen das Universum betrachtet wird" (ebd.). Aus diesen Bemerkungen läßt sich im Blick auf die oben herausgestellten drei Verständnisebenen eine dreifache Bedeutung des Universumsbegriff vermuten. Er müßte demnach stehen erstens für alle Einzelbestimmungen, sofern sie als besondere Teilverhältnisse in einem Ganzen vorgestellt werden, d. h. für die Korrelation von Individuum und Welt; zweitens für die Ganzheitssphären als Ausdruck eines ihnen je immanenten Prinzips und drittens für das allen Ganzheitssphären gleichermaßen zugrundeliegende immanente Prinzip. Wenden wir uns damit der Untersuchung der ,Reden' zu.

307 In Schleiermachers Bild: „System der Säfte" und der „Saftbehälter". 308 Im Bild: „Baum an sich". 309 „(D. h. eine einzelne Vorstellung, eine einzelne Ausdehnung ist nicht in Gott.) Auf diese Art inhaerieren die endlichen Dinge dem Unendlichen." (KDSp 576f.).

III. Die Umsetzung. Anschauung des Universums als Leitbegriff von Schleiermachers , Reden über die Religion' Ausgehend von einer Interpretation von Schleiermachers frühen Spinozana sind am Schluß des vorigen Teils einige Konsequenzen des darin geäußerten philosophischen Ansatzes extrapoliert worden, die schon auf die Religionstheorie der ,Reden' vorausweisen sollten. Lebensgeschichtlich liegen für Schleiermacher zwischen den Manuskripten und der Abfassung der ,Reden' fünf Jahre, die für seine philosophische Prägung nicht unbedeutend gewesen sein dürften. In diese Zeit fällt eine erste Beschäftigung mit Fichte (1797) und die intellektuelle Begegnung mit Friederich Schlegel (1797).1 Die grundsätzliche Autorität Spinozas - so soll im Folgenden gezeigt werden - scheint für Schleiermacher dadurch aber keinen Abbruch erfahren zu haben. Die in der Grundformel „Anschauving des Universums" zusammengefaßte Religionstheorie der ,Reden' läßt sich vielmehr als die religionstheoretische Umsetzung der in den Spinozamanuskripten dokumentierten philosophisch-theologischen Position verstehen. In diesem dritten Teil meiner Abhandlung wird es darum gehen, diese These zu erläutern. Damit soll jedoch keineswegs der Einfluß von Fichte oder Schlegel herabgesetzt werden. Beides steht außer Frage. Jedoch ist insbesondere in der älteren Forschung die Bedeutung Fichtes für Schleiermachers frühes Religionsverständnis gelegentlich überschätzt worden. Und diese Überschätzung ging mit einem geradezu kategorischen Ausschluß des spinozistischen Moments in Schleiermachers frühem Werdegang einher.2 Demgegenüber hat die neuere Li1 Peter Grove hat in seiner Habilitationsarbeit eine eingehende Interpretation der frühen Dokumente, die eine Fichterezeption nahelegen, geliefert (u.a. Gedanken I, Nr. 15. 18, KGA1/2, S. 9-11). In seiner Arbeit ist außerdem das Verhältnis zu Schlegel breit dargelegt. Vgl. P. Grove: Deutungen (2004), S. 170-222 bzw. zu Schlegel S. 157-169. 223-248. Zur Fichterezeption vgl. auch Em. Hirsch: Geschichte (1964) IV, S. 500-521, U. Barth: Individualität (1994), S. 314ff. Zum Verhältnis zu Schlegel vgl. W. Dilthey: Leben Schleiermachers I (1870/ 1991), S. 354-363 / 374-380; E. Herms: Herkunft (1974), S. 235-264; G. Scholtz: Schleiermacher und die Kunstreligion (2000), S. 525f; R. D. Richardson: Berlin Circle (2000). 2 Emanuel Hirsch läßt für diese Doppelthese in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht die frühe Beschäftigung Schleiermachers mit Spinoza via Jacobi völlig außer acht (Ge-

Einleitung

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teratur auf den Einfluß von Schleiermachers Spinozismus wieder hingewiesen, ohne freilich die systematische Verbindung von der gedanklichen Konstellation der Spinozamanuskripte von 1793/94 hin zur Grundlegung der Religionstheorie der ,Reden' aufzuzeigen.3 Der folgende Versuch einer solchen zugleich historisch-genetischen Explikation wie systematischen Rekonstruktion will in diesem Sinne die Bedeutung der Spinozarezeption zur Geltung bringen und dadurch zu einem genaueren Verständnis der Religionsschrift beitragen. Zu einigen der Probleme, vor die sich die Schleiermacherforschung in der Redeninterpretation gestellt sieht, scheint mir durch die Heranziehung von Schleiermachers früher Spinozarezeption ein besserer Zugang möglich. Diese Fragestellung ist deutlich linterschieden von einem Vergleich Schleiermachers mit Spinoza etwa in der Hinsicht, ob oder inwiefern Schleiermachers Religionskonzept der spinozanischen Erkenntnislehre einzuzeichnen sei.4 Hier geht es also zunächst darum, die Bedeutung von Schleiermachers Spinozarezeptfon für sein Verständnis von Anschauung des Universums in den ,Reden' ans Licht zu heben. 5 Den Ausgangspunkt bei Schleiermachers Spinozarezeption nehmen heißt nun, die im vorigen Kapitel dargestellte Durchdringung kantischkritizistischer und spinozistischer Gedanken auf die Grundkonzeption der,Reden' beziehen. Insbesondere geht es darum, die beiden in der Programmformel „Anschauen des Universums" enthaltenen Begriffe nach ihren Aufbaumomenten hin zu rekonstruieren. Die in den Spinozamanuskripten greifbare philosophisch-theologische Grundoption läßt sich als Hintergrund für deren Interpretation fruchtbar machen. Zu den wichtigsten Interpretationsproblemen gehört, was den Begriff der Anschauung betrifft, die oft beinahe mit dem status confessionis verbundene Frage, ob Anschauung, sofern sie sich auf das Universum bezieht, eher mit dem Index der Passivität oder der Aktivität des anschauschichte [1964] IV, S. 495). Sein negatives Urteil, was das Verhältnis beider Denker anbelangt, „Schleiermachers Universum und Spinozas deus sive natura" hätten „nichts miteinander zu tun" (ebd., S. 503) verdankt sich im wesentlichen einem verkürzenden Spinozaverständnis in der Alternative von „Kosmotheimus" und mystischem Akosmismus (vgl. Geschichte [1964] I, S. 155-188, bes. 177.180f; IV, S. 503). Eine Gemeinsamkeit zwischen Schleiermacher und Spinoza sieht Hirsch lediglich in beider Ablehnung der personalen Gottesauffassung (Geschichte [1964] IV, S. 503). 3 Vgl. G. Meckenstock: Deterministische Ethik (1988), S. 181-233, bes. 227-233; ders.: Schleiermachers frühe Spinoza-Studien (2002); J. Lamm: The Living God (1996), S. 5794; U. Barth: Reden (1998), S. 460-463; J. Dierken: „Daß eine Religion ohne Gott besser sein kann als eine andre mit Gott" (2000), S. 675-678; P. Grove: Deutungen (2004), S. 79156 (Spinozamanuskripte). 253-370 (Reden), bes. 303. 339. 4 Einen systematischen Vergleich unternimmt K. Cramer in seinem Beitrag: „Anschauung des Universums". Schleiermacher und Spinoza (2000). Die rezeptionsgeschichtliche Fragestellung spielt dabei keine Rolle. 5 Auf systematische Parallelen von Spinoza und Schleiermacher wird gleichwohl an den entsprechenden Schlüsselstellen hingewiesen werden.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der ,Reden'

enden Subjektes versehen werden muß. Schleiermacher gibt für beides Anhaltspunkte. Prima facie erscheint das Präsentwerden der Struktur des Universums im Bewußtsein für dieses als ein passiver Vorgang. Zumal Schleiermacher das Universum dabei auch noch als ein Handelndes bezeichnet. Religiöse Anschauung wäre dann eine Form des rezeptiven Erlebens. 6 Daneben beschreibt der Redner die religiöse Anschauung aber auch als einen Akt des religiösen Subjektes, in welchen eine Deutungskomponente eingeht, mithin eine Eigenaktivität des Subjektes nicht kategorisch ausgeschlossen werden kann, sondern vielmehr vorausgesetzt werden muß. In Wendungen wie: „alles einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen" (Reden 56) ist die Struktur des „etwas-als-etwas verstehen" impliziert und damit eine Deutungskomponente, die nicht ohne eine Leistung oder Aktivität des in diesem Bewußtsein begriffenen Subjektes denkbar ist.7 Diese Alternative in eine Polarität aufzulösen scheint mir die richtige Art, mit diesem Problem umzugehen. 8 Das Grundproblem, warum in dieser Frage die Interpretation stockt, scheint mir in zweierlei zu liegen. Zum einen wird oftmals die Zweistufigkeit der Schleiermacherschen Argumentation gerade in der allgemeinen Beschreibung der „höchsten Formel" nicht ernst genug genommen. 9 Schleiermacher versucht die Struk6 Vgl. W. Dilthey: Leben Schleiermachers I (1870, 31979), S. 403. 410f; G. Ebeling: Luther und Schleiermacher (1985), S. 418; K. Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik (1986), S. 167. 185f. 189: „Übermächtigtwerden"; C. Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit (1994), S. 105-194: „Uraffektion"; J. Lamm: Living God (1996), S. 63. 80. 84; F. Lönker: Religiöses Erleben (1998); D. Lange: Schleiermachers Christologie (2000), S. 701. 7 Vgl. U. Barth: Versuch (1983), These 4, S. 83ff; Was ist Religion? (1996), S. 545; Reden (1998), S. 449. 461f; J. Stolzenberg: Weltdeutungen (2000), S. 69-78; C. Seysen: Wissen und Religion (2001), S. 24-29; P. Grove: Deutungen des Subjekts (2004), S. 290-301. 305. 326. 328f. 334. 8 Vgl. U. Barth: Reden (1998), S. 449. Barth bestimmt Schleiermachers Position hinsichtlich des Gefühlsbegriffs als eine „selbstbewußtseinstheoretische Mitte zwischen affektiver Erlebnissubjektivität und produktiver Reflexionssubjektivität" (vgl. auch S. 455. 456.459). Eine entsprechende Mittelstellung weist er auch dem Anschauungsbegriff zu, welcher für „religiöses Erleben" einerseits als auch andererseits für eine „Form mentaler Einstellung" steht, in welcher „alle Gestalten innerweltlicher Erfahrung in eine Unendlichkeitsperspektive eingerückt werden." (S. 462). Letztere Formulierung impliziert wenigstens ein aktivisches, deutendes Moment. Vgl. auch die expliziten Hinweise zum Deutungsmoment der Religion S. 467. 470. 473 und die Einschätzung in U. Barth: Schleiermacher-Literatur (2001), S. 422: „Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit bzw. Erleben und Deuten im Vollzug des Anschauens". C. Seysen (Rezeption des Atheismusstreits [1999], S. 182. 187) folgt Barth in dieser Zuordnung von Erleben und Deuten. 9 So beispielsweise bei F. Lönker: Religiöses Erleben (1998), S. 59f. Insbesondere überträgt Lönker die Charakteristika des Verhältnisses von Gefühl und Anschauung in Schleiermachers Schilderung des „ersten geheimnißvollen Augenbliks" (Reden 73-75) vorschnell auf die religiöse Sphäre, ohne die in der Analogie von sinnlicher u. religiöser Anschauung mitgesetzte Differenz zu thematisieren. Eine ähnlich problematische Interpretation dieser Stelle bei C. Albrecht (Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit

Einleitung

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tur der religiösen Anschauimg durch Analogie derselben zu einem nochnicht-religiösen allgemeinen Anschauungsbegriff zu charakterisieren.10 Zum anderen ist eine Charakterisierung des Anschauungsbegriffs, wie er von Schleiermacher für die religiöse Anschauung zugrunde gelegt wird, nicht ohne eine eingehende Analyse des Universumsbegriffs zu haben. Die Bedeutung dieses Begriffs als Korrelat der religiösen Anschauung ist aber nur eruierbar durch eine Interpretation, die die sonst meist unbeachteten Konkretionen religiöser Anschauung in der zweiten, dritten und fünften Rede mit einbezieht. Der so erhobene Universumsbegriff scheint mir das vorzügliche Feld, Schleiermachers,Reden' vor dem Hintergrund seiner Spinozarezeption zu verstehen. Es wird sich erweisen, daß sich die an den frühen Spinozamanuskripten festgemachte Stellung Schleiermachers zwischen Spinoza und Kant in die Religionstheorie der ,Reden' fortsetzt. Freilich ist auch der Anschauungsbegriff mit einer langwierigen und nicht leicht durchschaubaren Debatte im 18. Jahrhundert verbunden. Bevor wir also an die Interpretation der ,Reden' gehen, sollen Motive des Anschauungsbegriffs in exemplarischen Debattenpositionen skizziert werden (Kapitel 1). Bei der anschließenden Erhebung der Aufbaumomente von Schleiermachers Religionsbegriff in den ,Reden' setze ich zunächst bei den beiden Konkretionssphären von Universum, die Schleiermacher in der zweiten Rede vor Augen führt, an. Es wird darum gehen, die für Natur und Menschheit grundlegenden Momente herauszuarbeiten (Kapitel 2 A). Vor diesem Hintergrund soll dann die kategoriale Struktur des Universumsgedankens rekonstruiert werden (Kapitel 2 B). Schließlich soll beides für den Versuch einer Neuinterpretation des Begriffs religiöser Anschauimg herangezogen werden (Kapitel 2 C). Schleiermachers Verfahren in der zweiten Rede, den Begriff der Religion mit Konkretionen zu veranschaulichen, läßt sich in einem größeren Bogen noch einmal für das Verhältnis von zweiter Rede und den folgenden Reden ausmachen; hier nun allerdings in Bezug auf den Begriff der Bildung zur Religion. Im abschließenden Kapitel 3 soll der spinozistisch interpretierte Religionsbegriff dieses wichtige Feld der Religionsschrift, das schon mannigfaltige Motive für die weitere wissenschaftliche Arbeit Schleiermachers in sich trägt, erschließen.

[1994], S. 105-194), der daran seine systematisch-weitreichende These von Schleiermachers Verständnis von Religion als einer „Uraffektion" durch das Absolute festzumachen sucht. Dazu kritisch U. Barth: Schleiermacher-Literatur (2001), S. 4 1 9 ^ 2 2 . Undeutlich ist dieses Verhältnis auch bei G. Wenz: Sinn und Geschmack fürs Unendliche (1999), S. 8f. 10 Vgl. dazu die beide Ebenen mustergültig auseinanderhaltende Interpretation bei P. Grove: Deutungen des Subjekts (2004), S. 290-301.

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1. Die zeitgenössische Debattenlage Daß Schleiermacher sein neues Religionsverständnis durch die Einführung eines bestimmten Begriffes von „Anschauen" zu etablieren versucht, ist kein Zufall. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war dieser Begriff in aller Munde. Man hat hier nicht zuletzt an die großen Exponenten idealistischer Philosophie zu denken. Fichte und Schelling machten den Kern ihres Ansatzes in den 90er Jahren an einer „intellektuellen Anschauung" fest. In ganz anderer Weise hatte Kant innerhalb seiner Zwei-Stämme-Lehre zuvor „Anschauung" als eine der beiden für Erkenntnis konstitutiven Komponenten des menschlichen Bewußtseins herausgestellt. Bis es zu dieser Kantischen Weichenstellung kam, hatte der Begriff aber bereits eine lange Vorgeschichte hinter sich. „Anschauende Erkenntnis" war ein terminus technicus in der empirischen Psychologie der Christian Wolff folgenden Schulphilosophie und gewann in der ästhetisch-poetologischen Debatte um den Geschmacks- und Geniebegriff zunehmend an Bedeutimg. Das „Anschauen der Sachen selbst" wird zum Programm einer Ästhetik, die unter dem Namen der „schönen Wissenschaften" nicht nur für die Kunst im engeren Sinne, sondern für den gesamten Umgang gebildeter Kreise in „Gesellschaft" die Leitgedanken vorzugeben beanspruchte. Daß Schleiermacher, der sich mit seiner Religionsschrift ausdrücklich an die Gebildeten wendet, einen Begriff aufgreift, der seit Jahrzehnten in der Debatte jener Gebildeten war, mag als ein kluger Schachzug gewertet werden, Anknüpfungspunkte bei den Adressaten zu finden. Schleiermacher bezieht sich aber mit diesem Begriff zugleich auf Motive, die sich in der Debatte auf die ein oder andere Weise mit dem Anschauungsbegriff verbunden hatten. Die in den Spinozamanuskripten angelegte und in den ,Reden über die Religion' durchgeführte Idee eines religiösen Anschauungsbegriffes integriert verschiedene Aspekte des Anschauungsbegriffs, wie sie in der zeitgenössischen Debatte diskutiert wurden, in ein einheitliches Konzept. Deren Problematik soll daher anhand von exemplarischen Debattenbeiträgen aufgezeigt werden. 11 Es soll hier darum gehen, Problemkonstellationen aufzuzeigen, vor deren Hintergrund dann Schleiermachers eigener Entwurf gesehen werden kann. Vier Punkte scheinen mir wesentlich. 11 Für eine Gesamtdarstellung der Debatte von Wolff bis Kant verweise ich auf die klassische und klarsichtige Studie von Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft (1923). Petra Bahr hat im ersten Teil ihrer Dissertation den Fokus besonders auf Alexander Baumgarten und den Kontext der Rhetorik gelegt: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A. G. Baumgarten und I. Kant (2004).

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Erstens wird in der Anschauung ein - wie auch immer näher zu explizierender - konkreter Gegenstandsbezug vorausgesetzt. Dieser Aspekt zieht sich von Wolffs Psychologie über die Geniedebatte der 1760er Jahre bis zu Kant. Anschauen wird als eine mentale Einstellung angesehen, in welcher der Mensch auf Gegenstände unmittelbar bezogen ist. Unmittelbarkeit und konkreter Gegenstandsbezug werden hier zeichenhafter Vermittlung und Abstraktheit gegenübergestellt. Warum diese Bezogenheit auf konkrete Gegenständlichkeit zwar für Schleiermachers Begriff sinnlicher Anschauung, nicht aber ungebrochen auch für dessen religiösen Begriff einer „Anschauung des Universums" gilt, wird zu zeigen sein (A). Zweitens gibt es eine Tendenz, Anschauung vom Erkennen im engeren Sinne her abzugrenzen. Seit der ,Aesthetica' Baumgartens mit ihrer Aufwertung der Sinnlichkeit ist die Frage virulent, inwieweit die Anschauung als sinnliches Vermögen gegenüber dem Verstand Selbständigkeit zum Erkennen besitzt. Die sich abzeichnende Dreigliederung in der Vermögenspsychologie wie die Kantische These der Zweistämmigkeit der Erkenntnis weisen der Anschauung dann ihren erkenntnistheoretischen Ort zu (B). Drittens wird der Anschauung auch eine absolutheitstheoretische Dimension zugesprochen. Sie grenzt die religiöse Art der Anschauung von der sinnlichen ab. In der Debatte war der junge Schelling nach der kantischen These der Restriktion menschlicher Anschauung auf deren sinnliche Variante in seiner Schrift ,Vom Ich als Princip der Philosophie' von 1795 mit einem Überbietungsversuch hervorgetreten, der in gewisser sachlicher Nähe zu Fichte 12 intellektuelle Anschauung als eine dem Menschen mögliche ausweisen wollte. Der Anschauungsbegriff wird von ihm dabei in expliziter Anknüpfung an Spinoza dezidiert in eine absolutheitstheoretische Perspektive gerückt. Auch Schleiermachers religiöser Anschauungsbegriff weist, wie wir sehen werden, eine absolutheitstheoretische Dimension auf, welche die religiöse von der sinnlichen Anschauung abgrenzt. Dennoch gibt es unübersehbare Differenzen zwischen Schellings und Schleiermachers Konzept. Diese hängen vor allen mit der Funktion des Universumsbegriffs für Schleiermachers Religionsverständnis zusammen (C). Viertens war in der Genieästhetik seit der Jahrhundertmitte die Verbindung von Anschauen und Darstellen bereits gezogen worden. Der Darstellungsbegriff löst dabei den Nachahmungsbegriff ab. Die sich auf die Einbildungskraft stützende Tätigkeit des künstlerischen Genies be12 Sieht man von dem frühen Vorkommen des Begriffs der intellektuellen Anschauung in den ,Eigenen Meditationen' und der ,Aenesidem us-Rezension' ab, so ist der einschlägige Referenztext erst die ,Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre' von 1797 (Werke I, S. 463ff). Vgl. J. Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung (1986).

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steht gerade darin, eine Sache darzustellen, um sie auf diese Weise anschaubar zu machen. Auf ganz andere Weise stellt Kant in seiner Theorie der Mathematik und der Theorie des Kunstschönen in der ,Kritik der Urteilskraft' eine Verbindung von Darstellung und Anschauung her. Die Korrelation von Anschauen und Darstellen war Schleiermacher also bereits vorgegeben (D). Schleiermachers aus seiner in den Spinozamanuskripten dokumentierten Synthese von Spinoza und Kant hervorgegangener Begriff religiöser Anschauung läßt sich in Abgrenzung und Anknüpfimg an diese vier Motive - konkreter Gegenstandsbezug, erkenntniskritische Restriktion, absolutheitstheoretische Dimension und Bezug auf den Darstellungsbegriff - näher konturieren. Daher gilt es, die genannten Problemkonstellationen des Anschauungsbegriffs in der Debatte des 18. Jahrhunderts exemplarisch aufzuzeigen.

A. Der Gegenstandsbezug der Anschauung „Anschauende Erkäntniß" verdeutscht Christian Wolff den Begriff „cognitio intuitiva" in seiner ,Deutschen Metaphysik' von 1720.13 Der Anschauungsbegriff beerbt so den lateinischen Intuitus-Begriff in der durch Wolff geprägten Wissenschaftssprache. Die Unterscheidung von „anschauender Erkäntniß" und „figürlicher Erkäntniß (cognitio symbolica)" 14 , die Wolff im Zuge seiner Seelenlehre vornimmt, liegt in der Art, wie die in einer Erkenntnis erkannte Sache vorgestellt wird. Stellen wir sie „durch Wörter, oder andere Zeichen" vor, handelt es sich um „figürliche Erkenntnis". In der anschauenden Erkenntnis dagegen stellen wir „die Sachen [... ] selbst" vor. 15 Zur Klasse anschauender Erkenntnis gehören nach Wolff insbesondere die „Empfindungen" als Vorstellungen äußerlicher Körper, die durch die Affektion der Sinne veranlaßt werden. 16 Und da diese Empfindungen die Basis nicht nur für alle Produkte der Einbildungskraft, sondern auch für die Begriffsbildung darstellen, „nimmet alles unser Nachdencken von der anschauenden Erkäntniß ihren Anfang". 17 13 Mit ausführlichem Titel: ,Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt'. Sie erlebte bis 1752 zwölf Auflagen. Hier wird die Deutsche Metaphysik zitiert nach der 12. Auflage 1752, ND Hildesheim 1983. Zur Übertragung vgl. das deutsch-lateinische Register im Anhang der Deutschen Metaphysik, S. [673]. 14 Ebd., S. [674], 15 Deutsche Metaphysik § 316, S. 173f. 16 Deutsche Metaphysik § 220. 749, S. 122. 456. 17 Deutsche Metaphysik § 746 [Druckfehler: 846], S. 525. Vgl. Reden 54: „Vom Anschauen muß alles ausgehen". Der Satz bezieht sich vom Kontext der ,Reden' her auf den

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Alexander Baumgarten führt in seiner ,Metaphysica' von 1739 Wolffs Unterscheidung fort, indem er sie als nur graduellen Unterschied innerhalb zeichenvermittelter Erkenntis etabliert. Während in der „cognitio symbolica" das Zeichen mehr als das Bezeichnete die Vorstellung dominiert, wie etwa in mathematischen Gleichungen, ist in der „cognitio intuitiva" das Bezeichnete im Vordergrund und das Zeichen tritt zurück, wie etwa bei einer bildlichen Vorstellung18 eines Gegenstands.19 Entscheidend ist, daß bei Wolff wie bei Baumgarten die anschauende Art des Erkennens den Gegenstand in den Vordergrund stellt. Alle figürliche oder symbolische Erkenntnis, die sich ausschließlich im Medium von Zeichen vollzieht bzw. diese gegenüber der Sache in den Vordergrund stellt,20 bedarf einer Rückbindung an die Anschauung, um sich des mit dem Zeichen bezeichneten Gegenstands zu versichern. Wird hingegen die zeichenvermittelte Erkenntnis vom Anschauen isoliert, so hat sie die Tendenz, zum Zwecke einer immer feineren Distinktion philosophischer Theoreme ihren Realitätsbezug immer weiter zu verringern. In der zweiten Jahrhunderthälfte macht sich eine Umgewichtung geltend, die sich auf die Vorordnung der Anschauung aufgrund ihres direkten Gegenstandsbezugs vor die zeichendominierte Kognitionsart beruft. Sie schaut geradezu mit einem Überlegenheitsgestus und mit Geringschätzung auf die Arbeit logischer Begriffsoperationen, die als bloße Spekulation, als „untaugliches Hirngebäude" 21 abgetan wird, weil sie den realen Bezug auf die Gegenstände verloren zu haben scheint. Das Gegenmodell heißt ganz in Wolffischer Tradition: Anschauung. So stellt Martin Resewitz, der „einzige selbständige Schüler, den Baumgarten geallgemeinen, d. h. sinnlichen Begriff des Anschauens, nicht etwa auf den spezifisch religiösen. 18 Bilder der Einbildungskraft hatte bereits Wolff als Beispiele für „anschauende Erkäntniß" angeführt: „Wenn ich an einen Menschen gedencke, der abwesend ist und mir sein Bild gleichsam vor Augen schwebet", Deutsche Metaphysik § 316, S. 173. 19 A. Baumgarten: Metaphysica § 620: „Si signum et signatum percipiendo coniungitur et maior est signi, quam signati perceptio, COGNITIO talis SYMBOLICA dicitur, si maior signati repraesentatio quam signi, COGNITIO erit INTUITIVA (intuitus) [Anmerkung in der 7. Aufl. 1779:] ein anschauendes Erkenntniß." Beide Arten erscheinen als Ausprägungen der „facultas characteristica", also des Bezeichnungsvermögens. Vgl. dazu P. Bahr: Darstellung (2004), S. 96f. 20 Bei Georg Friedrich Meier, der die Grundgedanken Baumgartens aufnahm und in deutscher Sprache verbreitete, findet sich eine Definition der „anschauenden Erkenntnis", die beide Aspekte nebeneinanderstellt: „Nemlich die anschauende Erkenntniß einer Sache bestehet darin, wenn wir sie entweder ohne Zeichen erkennen, oder doch eine grössere und stärkere Vorstellung von ihr haben, als von ihrem Zeichen, welches wir uns zugleich neben ihr vorstellen" (Metaphysik [1755-59], § 623). 21 Alexander Baumgarten: Metaphysica, zit. nach P. Bahr: Darstellung (2004), S. 132. Durch die vierte Strophe von Matthias Claudius' Abendlied ,Der Mond ist aufgegangen' ist uns dieser Logik-Affront heute noch präsent. Es heißt dort: „wir spinnen Luftgespinste und suchen vielen Künste und kommen weiter von dem Ziel" (Der Wandsbecker Bote [1771ff], Frankfurt a. M. 1975, S. 292).

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habt hat" 22 in seinem ,Versuch über das Genie' von 1759/60 fest: „Man muß aber durch [sc. unter (per)] anschauende Erkenntniß nicht bloß eine sinnliche, oder durch die Sinne erlangte Erkenntniß verstehen, sondern eine jede Erkenntniß, die uns die Sache selbst darstellt, welche durch die Worte bezeichnet wird" 23 Der Gegensatz von Sachbezug und Zeichenvermitteltheit herrscht auch hier vor und wird in die Ästhetik des Genies eingestellt: „Genie haben, heißt also: anschauende Erkenntniß von Sachen besitzen, oder eine Fähigkeit zu solcher Erkenntiß haben". 24 Der Autor stellt sich damit bewußt gegen das Ideal begrifflich-logischer Erkenntnis: „Wenn diese Anmerkungen die Klasse derjenigen Systemerbauer verurtheilen, welche ihren größten Ruhm darinn zu setzen scheinen, eine bloß symbolische Erkenntniß in unserem Vaterlande auszubreiten, und alles Genie sorgfältig bey ihren Anhängern zu unterdrücken [...], so erlaube man mir zu sagen, daß dieses Urtheil noch sehr glimpflich." Das Hauptargument ist, daß in jenen „wortreichen Bänden [... ] zwar eine Menge neuscheinender Begriffe, die nach einer methodischen Kunst zusammen geflochten sind, vorkommen", sie aber „weder in der Natur gesucht worden, noch auch darinn vorhanden sind." 25 Ähnlich stellt Thomas Abbt in seiner Abhandlung ,Vom Einflüsse des Schönen auf die strengern Wissenschaften' von 1762 den „betrügerischen" oder „blos trockenen Zeichen" das „Anschauen der Sache selbst" 26 gegenüber. In diesem Zusammenhang ist auf ein internes Problem der Wölfischen Logik aufmerksam zu machen, das diese Entgegensetzung von inhaltsleerer, zeichenhafter Vorstellung und sachbezogenem anschaulichen Vorstellen begünstigt haben wird 2 7 Die Wölfische Begriffslehre basiert nämlich zum großen Teil auf einer Lehre von der Abstraktion. Um einen Begriff zu bilden, müssen aus einer sinnlich-klaren Vorstellung (Empfindung) Merkmale herausgehoben werden. Mit diesem Herausheben, das ein Werk der Aufmerksamkeit ist, gewinnt die Vorstellung Deutlichkeit im Sinne der internen Differenzierung von Merkmalen. Das Problem, auf das vor allem Alexander Baumgarten hingewiesen hat, ist nun folgendes: Mit der Hervorhebung eines Merkmals ist zwangsläufig das Zurücktreten der übrigen verbunden. „Bei der Abstraktion verarmt die Vorstellung; sie büßt an Fülle ein, was sie an Deutlichkeit gewinnt." 28 Zur abstrahierenden Begriffsbildung Wolffs entwickelt Baumgarten deshalb eine Gegenrichtung, die nicht eine immer weitere und in sich differenziertere 22 23 24 25 26 27 28

A. Baeumler: Irrationalitätsproblem (1923), S. 234. Zitat aus A. Bormann: Vom Laienurteil (1974), S. 76. Ebd., S. 77. Ebd., S. 80. Ebd., S. 84. Vgl. zum Folgenden A. Baeumler: Irrationalitätsproblem (1923/1975), S. 198-231. A. Baeumler: Irrationalitätsproblem (1923/1975), S. 199.

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Verdeutlichung von Merkmalen und Untermerkmalen dieser Merkmale intendiert, sondern darauf zielt, möglichst viele koordinierte Merkmale einer Sache in einer Vorstellung zu vereinigen. 29 Diejenige Vorstellung, welche diese extensive Fülle von Merkmalen in einem Maximum in sich hält, wäre der Begriff eines Individuums, das darin vollständig bestimmt ist.30 Folgt man Baeumlers Sicht der Dinge, so ergibt sich aus dieser Gegenbewegung Baumgartens geradezu eine historische Zäsur: „Die vorklassische Epoche des 18. Jahrhunderts zerfällt in zwei große Abschnitte: im ersten herrscht Wolff, die Abstraktion, im zweiten Baumgarten, die Tendenz zum Individuum." 31 In der Geschmacks- und Geniedebatte wird diese Entgegensetzung der Tendenzen in das Repertoire der Unterscheidung von zeichenhafter und anschauender Erkenntnis aufgenommen. 32 Die zeichenhaft-logische Wissenschaft wird in ihren Abstraktionen zwar immer genauer, aber dies geht zu Lasten ihres Realitätsbezuges. Demgegenüber geht die anschauende Erkenntnis auf das Konkrete in dessen mannigfachen Beziehungen. Und dieses Konkrete ist eben nicht das Allgemeine, sondern das Individuelle. Anschauende Erkenntnis ist „diejenige Erkenntniß, vermöge welcher wir die Sache in concreto erblicken, mit ihren Wirkungen, Zufälligkeiten und Veränderungen, die in derselben aus dem Verhältniß mit andern zu entstehen pflegen. In je mehreren Verhältnissen man also eine 29 Baumgarten unterscheidet beide Richtungen durch die Begriffe der „intensiven Klarheit" und einer „extensiven Klarheit". Erstere ist die Klarheit, die durch die Klarheit der Merkmale einer Sache entsteht ( „claritas claritate notarum", Metaphysica § 531). Letztere gehorcht dem Grundsatz, daß eine Steigerung von Merkmalen - von denen nicht gesagt ist, daß sie selbst wiederum in sich klar, d. h. deutlich erkannt sind - die Klarheit der Vorstellung steigert: „multitudine notarum augetur claritas" (ebd.). Vgl. auch G. F. Meier: Vernunftlehre (1752), § 166. Vgl. dazu P. Bahr: Darstellung (2004), S. 97101. Bahr interpretiert die extensive Klarheit als „indiskrete Merkmalsfülle" (S. 99) und „Prägnanz" einer Vorstellung. „Gleichsam trächtig" (G. F. Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften [1748-50], § 126) ist die Vorstellung deshalb, weil an ihnen durch die Nicht-Differenziertheit ihrer Merkmale eine Fülle von „immer neuen Zeichenverhältnissen, Abwandlungen und Revisionen iterierbar sind" (Bahr, S. 99). 30 A. Baumgarten: Metaphysica § 148: „ens omnimode determinatum est singulare (individuum)". Baumgarten nimmt hierin einen Leibnizschen Gedanken auf. Leibniz stellt dem Allgemeinbegriff (concept commun) mit endlich vielen Merkmalen den Individuumsbegriff (concept individuel) mit sämtlichen möglichen Merkmalen gegenüber. Vgl. beispielsweise die Ausführungen im Briefwechsel mit Arnauld (hg. v. R. Finster, Hamburg 1997, S. 79): „Der Begriff der Kugel [d. h. der Allgemeinbegriff] ist unvollständig, aber der Begriff der Kugel, die Archimedes auf sein Grab setzen ließ [d. h. der Individuenbegriff] ist vollständig und muss all das enthalten, was sie von allen anderen Kugeln unterscheidet". 31 A. Baeumler: Irrationalitätsproblem (1923/1975), S. 208. 32 Einen ersten Einblick verschaffen die Hinweise bei A. Bormann: Der Töne Licht. Zum frühromantischen Programm der Wortmusik (1987), S. 194-197. Vor allem ist zu verweisen auf den von von Bormann herausgegebenen Quellenband, der Auszüge vieler zum Teil schwer zugänglicher Texte enthält: Vom Laienurteil zum Kunstgefühl. Texte zur deutschen Geschmacksdebatte im 18. Jahrhundert (1974).

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Sache erblicken kann, desto größer und reicher muß auch die anschauende Erkenntniß davon seyn." 33 Die Anschauung stellt eine einzelne Sache in ihrer Konkretion und d. h. in ihren Beziehungen zu anderen Sachen vor: „Die anschauende Erkenntniß eines Gegenstands ist die Erkenntniß desselben in seinen individuellen Verbindungen und Verhältnissen".34 Wenn Schleiermacher in den ,Reden' mit biblischer Wucht gegen die theologischen Systembildner als die Buchstabengläubigen in der Religion wettert 35 , hat er das Zeitalter hinter sich. Auch daß er sich als Gegenmodell auf eine Anschauving beruft, liegt ganz im Duktus der ästhetischen Debattenlage des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In der Entgegensetzung von abstrakter Begriffsbildving und Vorstellung der konkreten einzelnen Sache in der Vielfalt ihrer Bezüge setzt Schleiermacher durch das Aufgreifen des Anschauungsbegriffs die Tendenz zum Individuellen auf seine Weise fort. Sieht man Schleiermachers „Anschauen des Universum" vor dem Hintergrund der schulphilosophischen Differenzierung von „anschauender" und „figürlicher", von sachbezogener und zeichenbezogener Erkenntnis, sowie deren Fortschreibung in der ästhetischen Debatte, so wird bereits an der Wahl des Ausdrucks ein religionsphilosophisches Interesse am Konkreten und Individuellen deutlich. Hieraus darf jedoch keineswegs die Folgerving abgeleitet werden, Schleiermachers religiöser Anschauungsbegriff gehe in diesem Bezug auf konkrete Gegenständlichkeit auf. Vielmehr wird sich zeigen, daß dieser Bezug in der religiösen Anschauung eine Brechung aufweist und dadurch auf ein nicht-sinnliches Moment verweist.

B. Erkenntniskritische Restriktion der Anschauung Der Unterschied von intuitiver und diskursiver Vorstellung fällt in der vorkantischen Erkenntnistheorie noch nicht mit dem von Sinnlichkeit und Intellekt zusammen. Die Debatte, an deren Ende Kants Restriktion der menschlichen Anschauving auf sinnliche Anschauung steht, ist für Schleiermachers Bestimmung des religiösen Anschauens nicht unerheblich. Wie wir anhand der Spinoza-Manuskripte gesehen haben, stellt sich Schleiermacher auf den Boden einer kritisch-idealistischen Erkenntnistheorie. Das heißt aber noch nicht, daß er den Idealismus der Erscheinung 33 M. Resewitz: Versuch über das Genie (1759/60), in: A. Bormann: Vom Laienurteil (1974), S. 76f. 34 Ebd., S. 81. 35 Vgl. Reden 28: „Man hat aber doch Systeme von allen Schulen? Ja eben von den Schulen, die nichts anders sind als der Siz und die Pflanzstätte des todten Buchstabens, denn der Geist läßt sich weder in Akademien festhalten, noch der Reihe nach in bereitwillige Köpfe ausgießen", der „Geist der Sache, dieser ruht auf den Erfindern". Vgl. auch Reden 122.

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auch genau in der Form vertreten hätte, in der ihn Kant formuliert hatte. Die Transzendentale Ästhetik der ,Kritik der reinen Vernunft' kann nicht zuletzt auch als Antwort auf die Debatte um eine sinnliche Art des Erkennens verstanden werden. Vom kritischen Erkenntnisbegriff Kants her betrachtet, muß ja schon die Verbindung von Anschauen und Erkennen im Begriff einer „anschauenden Erkenntnis" als in sich widersprüchlich erscheinen. Anschauimg kann nach Kants These der Zweistämmigkeit des Erkennens nicht für sich allein Erkenntnisvalenz beanspruchen. Das Argument greift jedoch nur, wenn vorausgesetzt ist, daß Anschauung ausschließlich eine Leistimg der Sinnlichkeit ist, nicht aber eine solche des Verstandes. Wären in der Anschauung sowohl sinnliche als auch intellektuelle Funktionen am Werke, so wäre ihre Kennzeichnimg als Erkenntnis auch nach dem Kantischen Begriff derselben zuzulassen. Aber gerade die Verwischimg der Grenzen der Vermögen erscheint Kant als Schwäche der schulphilosophischen Erkenntnistheorie. 36 Der Ausgangspunkt für das Problem liegt in dem für Wolffs Denken basalen Theorem einer Gradualität der Qualität einer Erkenntnis. Für Kant kann Erkenntnis nicht mehr oder weniger sein. Etwas ist Erkenntnis genau dann, wenn Kategorien auf sinnliche Anschauungen angewandt werden, oder es ist keine Erkenntnis. 37 Wolff hingegen hat mit den Begriffen der Klarheit und der Deutlichkeit solche Erkenntniskriterien an der Hand, die in sich eine Steigerung zulassen. Das Klare als von anderem Differenziertes kann in sich weiter differenziert werden und dadurch Deutlichkeit erlangen. Diese Binnendifferenzierung klarer Vorstellungen in immer distinktere Bestimmungen ist im Grunde unabschließbar. Merkmale können in Untermerkmale und diese wiederum in Untermerkmale zweiter Ordnung unterschieden werden. Die Deutlichkeit kann im Prinzip immer weiter gesteigert werden. Umgekehrt kann eine nicht-deutliche Vorstellung immerhin klar sein und also einen gewissen Erkenntniswert aufweisen, der zwar gegenüber der deutlichen Erkenntnis geringer zu veranschlagen, aber dennoch nicht zu vernachlässigen ist. Das vermögenstheoretische Korrelat dieser graduellen Erkenntnistheorie ist die Prämisse einer einheitlichen Grundkraft des menschlichen Geistes. Die „vis repraesentativa", die „Vorstellungskraft", zeigt sich in klaren wie in deutlichen Vorstellungen am Werke.38 36 Vgl. KrV Β 61f: „Die Leibniz-Wolffische Philosophie hat daher allen Untersuchungen über die Natur und den Ursprung unserer Erkenntnisse einen ganz Unrechten Gesichtspunkt angewiesen, indem sie den Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellektuellen bloß als logisch betrachtete, da er offenbar transzendental ist, und nicht bloß die Form der Deutlichkeit oder Undeutlichkeit, sondern den Ursrpung und den Inhalt derselben betrifft, so daß wir durch die erstere die Beschaffenheit der Dinge an sich selbst nicht bloß undeutlich, sondern gar nicht erkennen." 37 Vgl. KrV Β 74f. 38 Deutsche Metaphysik § 753-756, S. 468f.

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Wenn nun „anschauende Erkenntnis" und „figürliche Erkenntnis" von Wolff zwar verschiedenen Vermögen zugeteilt werden, erstere den Sinnen, letztere dem Verstand, so muß der Unterschied doch als ein nur gradueller gedacht werden, was auch die Schwierigkeit impliziert, die Grenze von unteren und oberen Erkenntisvermögen genau zu bestimmen. Was durch die Sinne vorgestellt wird, ist von dem, was durch den Verstand vorgestellt wird, nur graduell verschieden. Sinnliche Klarheit ist immerhin bereits ein Differenzierungsgewinn gegenüber völliger „Dunkelheit" und kann durch zeichenvermitteltes verstandesmäßiges Denken in immer größere Differenziertheit und also Deutlichkeit überführt werden. Die Anschauung ist für Wolff deshalb auch nur insofern gegenüber dem figürlichen Erkennen inferior, als sie „nicht vollständig" ist. Es wäre aber freilich auch ein vollständiges Anschauen denkbar, das ohne Vermittlung von Zeichen all das deutlich erkennt, was in einer Sache an Merkmalen liegt.39 Der eigentliche Unterschied von „anschauendem" und „figürlichen" Erkennen besteht hinsichtlich der Deutlichkeit also in einer zeitlichen Dimension. Während das Anschauen ohne Vermittlungsschritte zu einem gewissen Grad der Deutlichkeit im Erkennen gelangt, vermag figürliche oder symbolische Erkenntnis diesen Grad der Deutlichkeit durch eine Sukzession von Verdeutlichungen zu steigern. In diesem Sinn ist das Problem von Simultanität und Diskursivität mit der Frage nach Anschauung und begrifflichem Denken verbunden. Die Frage, die sich unter diesen Umständen hinsichtlich des Anschauungsbegriffs auftut, ist, zu welchem Grad von Klarheit bzw. Deutlichkeit menschliches Anschauen in der Lage ist. Wolff selbst schätzt die Leistung unserer Anschauung in dieser Hinsicht relativ gering ein. Was wir anschauend erkennen, ist uns über die Sinne vermittelt40 und als solches per se undeutlich.41 Die figürlichbegriffliche Erkenntnis des Verstandes hat deshalb erheblich größeren Nutzen im Blick auf das Wissen als die intuitiv-sinnliche. 39 Deutsche Metaphysik § 319, S.176: „Es hat aber die figürliche Erkäntniß viele Vortheile für der anschauenden, wenn diese nicht vollständig ist, das ist, alles deutlich gleichsam vor Augen leget, was ein Ding in sich enthält, und wie es mit andern verknüpfet ist und gegen sie sich verhält." 40 Diese Ausdrucksweise soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß bei Wolff von einer empiristischen Theorie der Vorstellung als Produkt sinnlichen Eindrucks keine Rede sein kann. Seine an Leibniz sich anschließende Theorie der Harmonie schließt einen influxus physicus aus und sieht vielmehr eine Entsprechung von Sinnenreiz und Vorstellung vor, ohne eine kausale Determination zu behaupten. Vgl. dazu Deutsche Metaphysik § 765-768, S. 478-481. 41 Deutsche Metaphysik § 319, S. 177: „Denn da jetzund unsere Empfindungen grösten Theils undeutlich und dunckel sind; so dienen die Wörter und Zeichen zur Deutlichkeit."

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Hier nimmt Baumgarten in der Folge eine wichtige Akzentverschiebung vor. Die vom unteren Erkenntnisvermögen erworbenen Vorstellungen, die er sinnliche Repräsentationen („repraesentationes sensitivae") nennt, haben seiner Meinung nach eine Erkenntnisleistung eigener Art. Sie sind zwar nicht deutlich, das ist geradezu ihre negative Definition,42 aber sie haben gerade deshalb eine Erschließungsfunktion für die vorgestellten Gegenstände, die derjenigen des Verstandes „analog" 43 ist. Dadurch, daß in einer nicht-deutlichen, aber klaren Vorstellung viele Merkmale nebeneinander stehen, ergibt sich zwar kein distinktes logisches Ordnungsgefüge, aber dennoch ein gewisser Zusammenhang und damit eine Form der Einheit von Mannigfaltigem.44 Ein Gedicht etwa als eine solche sinnliche Rede, in welcher möglichst viele Merkmale in einer zusammenhängenden und noch ersichtlichen Form zusammengedrängt sind,45 kann so zu einer Erkenntnis verhelfen, die nicht den Charakter einer logisch-rationalen Begründung trägt, sondern programmatisch „sinnliche Erkenntnis (cognitio sensitiva)", 46 heißt und eine „ästhetische Wahrheit" 47 erfaßt. Hervorragende Bedeutung gewinnen in dieser Sicht auch Beispiele. Die Theorie der Beispiele ist deshalb erwähnenswert, weil hier die Grundrichtung von Baumgartens ästhetischem Ansatz besonders deutlich wird. Im Beispiel wird das Allgemeine durch das Besondere erklärt. Das Besondere besitzt diese Klärungskraft, weil es eine Vorstellung ist, in welcher eine Sache in extensiver Klarheit, d. h. in einer Fülle von koordinierten Merkmalen, gefaßt ist.48 Zu dem weniger bestimmten Allgemeinen werden durch ein Beispiel mehr Bestimmungen und zwar möglichst klare Bestimmungen hinzugefügt. Im Besonderen des Beispiels kann so das Allgemeine erkannt werden. Lessing formuliert in seiner Fabeltheorie: „Ein Besonderes, insofern wir das Allgemeine in ihm anschauend erkennen, heißt ein Exempel." 49 Diese Funktion des Besonderen für die anschauende Erkenntnis des Allgemeinen ist dann am größten, wenn es sich bei dem Besonderen um ein Individuum handelt. Denn das In42 A. Baumgarten: Metaphysica § 521: „Repraesentatio non distincta sensitiva vocatur." 43 Die unteren Erkenntnisvermögen werden von Baumgarten als „analogon rationis" (Aesthetica [1750], § 1) verstanden und damit in gewisser Weise vereinheitlicht. Die Pluralität der unteren Erkenntnisvermögen (Sinne, Gedächtnis, Einbildungskraft usw.) erscheint damit tinter einem zusammenfassenden Gesichtspunkt. Vgl. dazu P. Bahr: Darstellung (2004), S. 24. 44 Vgl. A. Baeumler: Irrationalität (1923/1975), S. 215. 217; U. Franke: Kunst als Erkenntnis (1972), S. 59-61; P. Bahr: Darstellung (2004), S. 42. 45 Ebd., S. 213f. Vgl. A. Baumgarten: Meditationes (1735), § 9: „Oratio sensitiva perfecta est poema." 46 A. Baumgarten: Aesthetica (1750), § 1: „Aesthetica [... ] est scientia cognitionis sensitivae." 47 Aesthetica § 437. 444. Vgl. dazu Baeumler: Irrationalität (1923), S. 225f. 48 A. Baumgarten: Meditationes § 21f. 49 zit. nach Baeumler: Irrationalität (1923/1975), S. 222.

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dividuum ist das am meisten Bestimmte, es hat eine größtmögliche Fülle von Merkmalen. 50 Eine anschauende Erkenntnis eines Individuellen impliziert also ein Maximum an extensiver Klarheit. In der Anschauung eines Individuums findet sich am meisten Gehalt, um an ihm ein Allgemeines klarer werden zu lassen. Der Wert von anschauender Erkenntnis, die Wolff zwar als Anfangsgrund alles rational-deutlichen Erkennens wohl anerkannte, aber ihren Erkenntiswert nicht als eigenständig würdigte, wird von Baumgarten so erheblich höher veranschlagt.51 Die cognitio intuitiva ist als cognitio sensitive 52 zu einem Analogon der Vernunft aufgestiegen. Anschauende Erkenntnis ist nicht nur Anfangsgrund der begrifflichen, auf Deutlichkeit abzielenden Rationalität, sondern weist in sich bereits eine ihr eigentümliche Erschließungs- und Erklärungskraft auf. In der auf Alexander Baumgarten folgenden Debatte wird dieser Gesichtspunkt dann noch ausgebaut. Exemplarisch soll zunächst wiederum auf Martin Resewitz verwiesen werden. Anschauung wird bei ihm nicht mehr, wie bei Baumgarten auf sinnliche und undeutliche Erkenntnis beschränkt, sondern als eigener Erkenntnismodus hingestellt. Der Verweis auf den göttlichen Verstand, der anschauend erkenne, dient hier jedoch nicht nur - wie später bei Kant - als Gegenbild und Grenzverständnis, sondern als ein „Urbild", 53 dem unsere Art des Anschauens analog ist. Ja mehr noch: der Unterschied zwischen der Deutlichkeit des göttlichen Anschauens und unserem Anschauen nicht-sinnlicher Gegenstände wird als nur gradueller verstanden. „Es geht aber nicht an, alle Gegenstände unserer Erkenntiß für die Sinne und Einbildungskraft zu bringen [d. h. anschauend zu erkennen]; wir können unsere Seele und andere geistige Wesen, wir können Gott und seine Eigenschaften, wir können das Wesen der Dinge, ihren innern Stoff und ihre Zusammensetzung nicht sehen. Ist uns also das Anschauen solcher Gegenstände möglich oder nicht? Ich 50 A. Baumgarten: Metaphysica § 148. S. o. Anm. 30 auf S. 281. 51 Vgl. „Aestetices finis est perfectio cognitionis sensitivae, qua talis. Haec autem est pulcritudo." (Baumgarten: Aestetica § 14). 52 Die cognitio sensitiva ist nämlich gerade eine cognitio intuitiva oder anschauende Erkenntnis, weil sie durch Sinnen oder Einbildungskraft hervorgebracht wird, wodurch der in ihr betrachtete Gegenstand im Gegensatz zum Zeichencharakter der Erkenntnis ganz in den Vordergrund tritt. 53 Versuch über das Genie (1759/60): „Und verhält es sich nicht eben so mit den schönen Künsten und Wissenschaften? Die anschauende Erkenntniß ist die Seele derselben. [... ] Ich weiß wohl, daß man diese Art der Erkenntniß die sinnliche zu nennen pflegt; aber [... ] nicht eine jede Art der anschauenden Erkenntniß [ist] eine strickte sinnliche, das ist eine undeutliche Erkenntniß. Die anschauende Erkenntniß kann höchst deutlich seyn, wie es an dem vollkommensten Urbilde derselben unwidersprechlich ist, denn Gott muß alles und in allen Dingen anschauend sehen" (in: A. Bormann: Vom Laienurteil [1974], S. 78). Vgl. A. Baumgarten: Vorrede zur Metaphysik (1749): Primum autem ens absolute, non reflectit, hinc nunquam deducitur ad notas absolute primas, quoniam omnia distinctissime seit ex omnibus." (ed. U. Niggli, S. 74).

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antworte, ja, es ist möglich, nur nicht in der Vollkommenheit, Deutlichkeit und Gewißheit, dazu wir in Absicht sinnlicher Gegenstände gelangen können." 54 In anderer Richtung wird der Begriff des anschauenden Erkennens von Christian Garve (1742-1798) auch direkt der rational-diskursiven Erkenntnis entgegengestellt. Es schwingt dabei ein genialisches Überlegenheitsbewußtsein mit, wenn der mühsame Gang „Schluß vor [sc. für] Schluß von der bekannten Wahrheit zur unbekannten fortzugehen, und sich die ganze Reihe von Begriffen, durch welche beide zusammenhängen, gleich mit Deutlichkeit und richtiger Unterscheidung zu denken", als „unmöglich" hingestellt wird. Der „schnelle Flug des Genies" müsse „erst das unbekannte Land ausspähen [... ] die ganze Reihe mit Einem Blick und einer Art von unmittelbarem Anschauen" voraussehen oder „vorausempfinden": „die ganzen Ideen, die hier [sc. in einem dunkeln Theil unsrer Seele] verborgen liegen, zeigen sich mit einem male, obgleich Zeit und Folge dazu gehört, um sie einzeln nach und nach herauszuheben, und zum Bewußtseyn zu bringen." 55 Von Ferne erinnert dieses Verständnis von Anschauung an den cartesischen Intuitusbegriff. Dieser steht nach Descartes für das Überschauen einer Begründungsreihe mit einem Blick. Doch zwischen Descartes und dieser Geniekonzeption liegen Welten, weil der cartesische Intuitus die Reihe durch lange Übung erst nach erfolgtem deduktivem Fortgehen zu überschauen vermag und so gleichsam ein Gleichzeitig-Präsenthaben eines komplexen Zusammenhangs ex post darstellt, den man vorher in Einzelschritten sich erarbeitet hatte. 56 Garve spricht dagegen von einem „Vorausempfinden". Das Genie hat eine „Kirnst glücklich zu rathen", seine Fähigkeit liegt gerade in einem simultanen Anschauen von etwas, das nicht zuvor bereits bekannt ist, sondern vielmehr erst „erfunden" werden muß. 57 Führt man sich diese Stationen vor Augen: eine nur graduelle Unterscheidung von sinnlicher Anschauung und rational-diskursivem Erkennen hinsichtlich ihrer Deutlichkeit bei Christian Wolff, die Hervorhebung der Eigenständigkeit sinnlich-klarer Erkenntnis im Blick auf die Erschließung von poetisch-ästhetischen Zusammenhängen durch Baumgarten und schließlich die Überdehnung dieses Gedankens hin auf eine sinnlich-anschauliche Erfassung von Nicht-sinnlichem bzw. ein anschauendes Vorausblicken von rational Nachvollziehbarem im Gefolge der Ge54 M. Resewitz: Versuch über das Genie (1759/60), in: A. Bormann: Vom Laienurteil (1974), S. 82. 55 C. Garve: Versuch über die Prüfung der Fähigkeiten (1769/1779), in: A. Bormann: Vom Laienurteil (1974), S. 86f. 56 Zum cartesischen Begriff des Intuitus s. o. Teil I, S. 62ff. 57 C. Garve: Versuch über die Prüfung der Fähigkeiten (1769/1779), in: A. Bormann: Vom Laienurteil (1974), S. 87.

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niedebatte, so erscheint Kants Integration des Anschauungsbegriffs in seine Zweistämme-Theorie nicht nur als eine Synthese von Rationalismus und Empirismus,58 sondern zugleich als ein vorläufiger Schlußpunkt dieser aufklärerischen Debatte um den Status der Anschauung im Erkenntnisprozeß. Kants entscheidender Beitrag in dieser Sache ist die Loslösung von dem an das Kriterium von Klarheit und Deutlichkeit gekoppelten graduellen Erkenntnismodell. Seine Festlegung der Sinnlichkeit als eines rezeptiven, des Verstandes und der Vernunft als spontaner Vermögen brachte die anschauliche Vorstellung als Produkt der Sinnlichkeit in die Position einer uns vermittels der Sinne bloß gegebenen.59 Sie ist rezeptiv und sinnlich und das macht ihren Charakter aus, auch wenn darin empirische Inhaltlichkeit von reiner Formalität unterschieden werden. Die Zweistämmelehre impliziert eine strikte Trennung der Funktionen von Sinnlichkeit und Verstand und eine strikte Trennung von Anschauung und Begriff als der von diesen hervorgebrachten Vorstellungen. Von der Anschauung in diesem erkenntnistheoretischen Horizont eine eigene Einheitsleistung erwarten, hieße im Duktus Kants die Funktion des Verstandes mit denen der Sinnlichkeit unzulässig vermengen. Kants kritische transzendentale Ästhetik bringt es mit sich, daß er das Konzept eines „anschauenden Verstandes" bzw. einer „intellektuellen Anschauung" nur als Grenzbegriff gelten läßt. 60 Unser menschliches Anschauen ist, weil wir endliche Wesen sind, auf die sinnliche Rezeptivität beschränkt. Das selbständige „Geben" von Gegenständen in der Anschauung wird ausgeschlossen. Dies kann und will er zwar nicht beweisen, stellt es aber als kontingenten Sachverhalt der Erfahrung hin, an der wir nicht vorbei können, ohne metaphysisch „überschwenglich" zu werden. 61 Die faktische Beschränkung auf sinnlich-vermittelte Anschauung nämlich dahingehend zu überdehnen, daß sie Über-Sinnliches zu vernehmen meint, ist das Selbst-Mißverständnis, das Kant all jenen zuschreibt, die meinen, übersinnlichen Gehalten im Sinne von Erkenntnis anschauend habhaft werden zu können. Schleiermacher ist, wie aus den Spinozamanuskripten deutlich wurde, im vollen Bewußtsein dieser Kantischen Restriktion der Anschauung auf die rezeptive Sinnlichkeit.62 Wenn er nun in den ,Reden' eine „Anschauung des Unendlichen" als Formel für Religion ausruft, scheint er prima facie ins Lager der ,Überschwenglichen' hinüberzugehen. Seine Berufung auf „dunkle Ahndungen" erinnert zudem an die nicht58 59 60 61 62

Vgl. U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs (1992), S. 433-475, bes. 435-443. Vgl. KrV Β 33. 74. Vgl. etwa KrV Β 75. Dazu und weitere Stellen s. o. Teil Π, S. 236. Vgl. KdU § 76f, Β 341. 351. S. o. Teil Π, S. 235ff.

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deutliche anschauende Erkenntnis, welche das Genie von übersinnlichen Gegenständen zu erlangen in der Lage sein soll. Aber Schleiermachers Anschauungsbegriff in den ,Reden' weist auf ein tieferes Verstehen der nachkantischen Problemlage hin, als diese Anklänge suggerieren. Darauf weist, wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird, die innere Stufung im Anschauungsbegriff hin: Sinnliche und religiöse Anschauung werden analogisiert, aber nicht gleichgesetzt.63 Sodann läßt sich aus den ,Reden' vielerorts ersehen, daß religiöse Anschauung keinen Erkenntnisanspruch für sich erhebt. Vor dem Hintergrund der skizzierten Debattenlage lassen sich die Anfragen an Schleiermachers Begriff der religiösen Anschauung vielmehr dahingehend präzisieren: Wie hängt die religiöse Anschauung mit der sinnlichen zusammen? Und in welcher Weise kann religiöse Anschauung auf einen Zusammenhang mit übersinnlichen gegenständen' zielen, ohne dabei einen irgendwie versteckten Erkenntnisanspruch zu erheben?

C. Die absolutheitstheoretische Dimension der Anschauung Mit den Fragen nach dem Verhältnis von sinnlicher und religiöser Anschauung bzw. nach dem Gegenstand der letzteren sind wir bereits in einen Debattenzusammenhang eingetreten, der in den 1790er Jahren nicht nur die Kantische Kritik voraussetzt, sondern deren restriktive Dimensionen durch eine höhere Gestalt der Bewußtseinsphilosophie zu überbieten versucht. Fichte und Schelling sind hier die Exponenten. Im Blick auf Schleiermachers religiösen Anschauungsbegriff ist besonders Schelling von Interesse.64 Denn bei ihm paart sich im Begriff der „intellektuellen Anschauimg" ein Sich-Abheben von der Kantischen Restriktion humaner Anschauung auf deren sinnliche Variante mit einem absolutheitstheoretischen Interesse. Daß dieses Interesse auch in Schleiermachers Religionsbegriff vorherrschend ist, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Die Frage ist nur, wie er es neben jener erkenntniskritisch-idealistischen Intention zur Geltung bringen kann bzw. besser gesagt: wie er beide Intentionen in seinem Religionsbegriff zu vereinigen vermag. Schellings Bestimmung von intellektueller Anschauung, wie er sie in seinem frühen Entwurf: ,Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen' von 1795 dargelegt hat, kann den Ansatz Schleiermachers in seiner Kontur schärfen, weil er die Probleme einer absolutheitstheoretischen Anreicherung des Anschauungsbegriffs vor Augen zu führen vermag. 63 S.u. S. 373ff. 64 Zur Abgrenzung Schleiermachers zu Fichte in diesem Punkt vgl. C. Seysen: Rezeption des Atheismusstreits (1999), S. 182.

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Die allgemeine Intention des frühen Schelling läßt sich wohl darin sehen, die kritische Philosophie Kants durch eine Verschränklang von spinozistischen Motiven mit einem bewußtseinstheoretischen Ansatz fichtescher Provenienz 65 zu vollenden. Hieraus ergibt sich dann auch seine Bestimmung des Begriffs „intellektuelle Anschauung". Seine Absicht läßt sich zusammengedrängt an einer prägnanten Formulierung ablesen. Es geht ihm um das „Eis και παν unsers besseren Lebens" (Vom Ich 75). 66 Die spinozistische Programmformel „Hen kai Pan" steht für sein Bestreben, alles in einem letzten Prinzip zu gründen, das „bessere Leben" dafür, daß es ihm - hier jedenfalls noch 67 - vor allen Dingen um eine Letztbegründung im Rahmen einer Bewußtseinsphilosophie zu tun ist. Beides bringt Schelling auf eine eigentümliche Weise zusammen. Das „Unbedingte" als alles befassendes Grundprinzip fand Schelling in Spinozas Substanzbegriff. Diese Bestimmung war für ihn aber deshalb noch mangelhaft, weil Substantiales immer noch Gegenstand von Vorstellungen werden kann bzw. in Schellings Begrifflichkeit: als „Ding" oder „Objekt" zu fungieren vermag. Was aber in Bezug auf etwas anderes Objekt sein kann, ist von diesem her gedacht und also nicht unbedingt. Deshalb treibt Schelling die Frage nach dem Unbedingten weiter und faßt es als etwas, das selbst in keiner Weise objektiviert werden kann. Hinter der Art dieser Argumentation sowie auch deren Lösung steht das von Schelling aus Fichtes drei Grundsätzen der Wissenschaftslehre von 1794 weiterentwickelte Modell von absolutem Ich, Nicht-Ich und Synthese von Ich und Nicht-Ich. In diesem Horizont kommt nur das absolute Ich als „unbedingbar" (Vom Ich 168) in Frage. Die Wende aus einer metaphysischen in eine bewußtseinstheoretische Fassung des Absolutheitsbegriffs, verdankt sich bei Schelling also im Grunde genommen selbst metaphysischen Argumenten. Er stellt nicht etwa an das gesuchte unbedingte Prinzip die Anforderung, von der Basis unseres bewußten Lebens her ausweisbar zu sein, sondern geht vielmehr von einem Begriff des Unbedingten aus, 68 sucht dann nach einem Prinzip, das das in jenem Begriff 65 Vgl. zu den im Detail divergierenden Einschätzungen der Position Schellings zwischen Fichte und Spinoza: H.-C. Lucas: „Ich bin indessen Spinozist geworden!". Der junge Schelling zwischen Fichte und Spinoza (2002), S. 477-485. 66 So in einer Anmerkung zu ,Vom Ich als Princip der Philosophie', SchelW 1/1, S. 75 [Im Folgenden mit dem Kürzel: „Vom Ich" mit Seitenzahlen dieser Ausgabe zitiert]. Eine fast gleichlautende Bemerkung hatte Schelling Ende 1794 als Widmung seinem Freund Pfister in ein Exemplar seiner Schrift ,Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt' eingetragen: „das hen kai pan eines bessern Lebens" (SchelW 1/1, S. 253f). 67 Die bald folgenden naturphilosophischen Schriften beziehen die gesamte auch natürliche Wirklichkeit mit in diesen Letztbegründungsgang ein. Zu einer Übersicht über die Phasen von Schellings Philosophie vgl. X. Tilliette: Schelling. Une philosophie en devenir I (1970), S. 21-58; C. Iber: Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip (1994), S. 6-8. 68 Das Diktum, „Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen" (Brief an Hegel vom 4. Februar 1795; Vom Ich 184), ist also zunächst methodisch zu verstehen.

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geforderte Merkmal der Unbedingtheit schlechthin erfüllt, und findet es im „absoluten Ich". Gegenüber Spinozas Begriff der göttlichen Substanz hat der Begriff des „absoluten Ich" für Schelling nur diesen einzigen Vorzug, nicht selbst Objekt werden zu können. Deshalb tritt er für den jungen Idealisten an die Stelle, von der aus Spinoza seiner Meinung nach sein System hätte begründen sollen. Ansonsten gibt er dem „absoluten Ich" genau die Merkmale, die die spinozanische Gott-Substanz auszeichnen. Die „absolute Selbstmacht" (Vom Ich 179) des Ich schillert wie Spinozas Gottesbegriff zwischen absolutem Durch-sich-selbst-Sein69 - causa sui - und einem „unbedingten Setzen aller Realität in sich selbst" (Vom Ich 179) causa rerum. Die darauf aufbauende „Deduktion der untergeordneten Formen" (Vom Ich 160) des absoluten Ich folgt zwar der Kantischen Kategorientafel, benennt aber solche Bestimmungen, die offensichtlich den spinozanischen Gottesbegriff zum Vorbild nehemen: der Quantität nach absolute Einheit, nicht numerische oder generische (Vom Ich 182f), der Qualität nach absolute Realität aufgrund der Unendlichkeit seiner „Attribute" (Vom Ich 192), der Relation nach absolute Substantialität im Sinne eines In-Seins alles Seienden im Ich (Vom Ich 192f), wobei das Ich als „immanente Ursache alles dessen, was ist" (Vom Ich 195) fungiert, und der Modalität nach „reines ewiges Sein" „außer aller Zeit gesetzt" im Gegensatz zur Dauer.70 Zusammengefaßt: „Spinoza'n war die Welt (das Objekt schlechthin, im Gegensatz gegen das Subjekt) - alles, mir ist es das Ich." 71 Diese Transformation vom spinozistischen Substanz-Begriff, hier schon im Sinne der eigenen Kritik an Spinoza als objektivierbare Welt verstanden, hin zum Ich als Prinzip der Philosophie läßt Schelling ausrufen: „Im Ich hat die Philosophie ihr Έν και παν gefunden, nach dem sie bisher als dem höchsten Preise des Siegs gerungen hat" (Vom Ich 193). Der Begriff der „intellektuellen Anschauung" gewinnt nun vor dem Hintergrund dieses Ansatzes seine Kontur. Schelling diagnostiziert für Spinozas Systemansatz, daß er zwar zunächst das Unbedingte als ein Erkennbares, als „Objekt" gesetzt habe, im Verlauf der Darstellung der daraus folgenden Konsequenzen ihm das Unbedingte aber zum „Subjekt" werde - und umgekehrt das Erkennende selbst zum „Objekt". 72 Die Nicht-Objekthaftigkeit des Unbedingten, die sich Spinoza „gleichsam wi69 Vom Ich 168: „Das Ich ist also nur durch sich selbst als unbedingt gegeben." 70 Vom Ich 202. Vgl. zur Besonderheit der Bestimmung des absoluten Ich hinsichtlich der Modalität: B. Sandkaulen: „Für das absolute Ich gibt es keine Möglichkeit". Zum Problem der Modalität beim frühen Schelling (1998). 71 Brief an Hegel vom 4. 2.1795, Briefe von und an Hegel, Bd. 1, S. 22. 72 Vom Ich 171. 185. 207. Man könnte vermuten, daß Schelling hier auf die Reziprozität von Gott und Ich im Begriff des Amor Dei intellectualis anspielt. Gott ist zunächst als Objekt dieser Liebe gedacht, ist aber letztlich als Subjekt und Objekt zugleich zu denken. Siehe dazu oben Teil I, S. 130ff.

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der seinen Willen" (Vom Ich 171) nur aus der Kraft seiner Konsequenzen ergeben habe, ist für Schelling der Anlaß, den Begriff der „intellektuellen Anschauung" zunächst für Spinozas System heranzuziehen. So erscheint dieser Begriff in der Ichschrift zum ersten Mal als Übertragung für die dritte Erkenntnisart Spinozas: „keine sinnliche Anschauung, kein Begriff erreicht seine [sc. Spinozas] Einige Substanz, nur der intellektuellen Anschauung ist sie in ihrer Unendlichkeit gegenwärtig" (Vom Ich 171). Bei dieser Reformulierung der spinozanischen Erkenntnisweisen der imaginatio, ratio und scientia intuitiva als sinnliche Anschauung, Begriff und intellektuelle Anschauung 73 ist schon das eigene Schema leitend, das wenig später entfaltet wird. Die Nicht-Objekthaftigkeit bzw. genauer die Unbedingbarkeit des schlechthin Unbedingten ist der Grund dafür, daß es nur in intellektueller oder wie es im Fortgang heißt: „intellektualer" Anschauung gegenwärtig sein kann. Als begrifflich Gefaßtes wäre es auf höheres oder niederes bezogen und also nicht unbedingt. Und als Gegenstand des sinnlichen Anschauens wäre es eben als Gegenstand, als Objekt gedacht (Vom Ich 181). Die Intellektualität des Anschauens ist so die „Form des Gesetztseins" (Vom Ich 163) für ein schlechthin Unbedingtes. „Das Ich also ist für sich selbst als bloßes Ich in intellektualer Anschauung bestimmt" (Vom Ich 181). Das hat zur negativen Konsequenz, daß „intellektuale Anschauung" nicht im realen Objekt-Bewußtsein anzutreffen sein kann. Der Begriff wird von Schelling also auf strengste Weise mit seinem Absolutheitsbegriff verblinden. Intellektuelle Anschauung steht für die Form der objektlosen Selbsthabe, Selbstrealisierung und Selbstmacht des Ich als eines absoluten. Für das Ich als sinnlich-empirisches, d. h. in der Objektbezogenheit des Bewußtseins, kann intellektuelle Anschauung gar nicht vorkommen. Denn wo „Objekt ist, da ist sinnliche Anschauung" (Vom Ich 181), nicht aber intellektuale. Intellektuale Anschauung bezieht sich nur auf das, was unter Aufhebung der Subjekt-Objekt-Dualität und also frei von aller Bedingbarkeit zu denken wäre. Im Grunde kommt Schellings Begriff der intellektualen Anschauung so als eine ichtheoretische Variante der spinozanischen causa sui zu stehen.74 Bei Spinoza steht diese Figur für die notwendige Implikation der Existenz einer Sache in deren Wesen. 73 Vgl. Vom Ich 185, Aran.: „Die niedrigste Stufe der Erkenntniß ist ihm [sc. Spinoza] bloße Imagination der einzelnen Dinge, die höchste - reine intellektuale Anschauung der unendlichen Attribute der absoluten Substanz, und die dadurch entstehende adäquate Erkenntniß des Wesens der Dinge." 74 Er findet nur deshalb auch auf die höchste Erkenntnisart des Spinoza Anwendung, weil Schelling Spinoza unterstellt, sein als Substanz und so notwendig als Objekt gesetztes Unbedingtes werde ihm selbst unter der Hand zu einem objektlosen, absoluten Ich (Vom Ich 171. 185. 207), also zu einem solchen Unbedingten, dessen Begriff Schelling selbst vorschwebt. Nur in Bezug auf Letzteres kann er dann auch von der scientia intuitiva als einer intellektualen Anschauung reden (171.185).

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Der causa sui-Begriff sprengt dabei strenggenommen den Begriff einer in Ursache und Wirkung zerfallenden Kausalität. 75 Schellings intellektuale Anschauung hat insofern eine analoge Funktion, als sie die „Form des Gesetztseins" des Unbedingten ist, das durch sich selbst gesetzt ist. Schelling scheint an dieser Stelle eben gerade keine Unterscheidung eines aktiv Setzenden und passiv Gesetztwerdenden im Unbedingten etablieren zu wollen, was wieder eine Subjekt-Objekt-Scheidung mit sich brächte. Sein Begriff intellektualer Anschauung referiert vielmehr nur auf die unbedingbare Art des Gesetztseins des bloßen, objektlosen Ich. Intellektuelle Anschauung ist, wie Hermann Süskind treffend formuliert „das Sichselbst-denken des reinen Ich, welches zugleich sein Entstehen ist." 76 Das Besondere an Schellings Begriff intellektualer Anschauung kann man in seiner Differenz gegenüber den einschlägigen Bestimmungen bei Kant ersehen. In der ersten wie in der dritten ,Kritik' versteht Kant den Begriff eines „anschauenden Verstandes" und damit eines „absolutnotwendigen Wesens" nur als einen für uns „problematischen Begriff" (KdU § 76, Β 341). Einerseits wird also in diesem Begriff die Verknüpfung von verstandesmäßigem bzw. intellektuellem Anschauen und Existenznotwendigkeit des Anschauenden wie des Angeschauten gedacht. Intellektuelles Anschauen gibt sich selbst im Anschauungsakt seine Gegenstände, ist also nicht auf etwas außer ihm (Gedachtes) angewiesen, das ihm Vorstellungen sinnlich vermittelt geben würde. Kant akzeptiert diese Idee eines anschauenden Verstandes bzw. eines absolutnotwendigen Wesens zwar als „unentbehrliche Vernunftidee", lehnt aber andererseits eine Relevanz derselben über ihre regulative Funktion hinaus ab. Diese Idee zum Realprinzip von Erkenntnis zu machen, wäre „überschwenglich" (KdU § 76, Β 342), zumal wir uns aufgrund der Struktur unserer Subjekti75 Siehe dazu oben Teil I, S. 32. 39f. 76 H. Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), S. 105. Dieser Begriff wird dann von Schelling im ,System des transzendentalen Idealismus' von 1800 zu einem Vermögen bewußter Nachkonstruktion der unbewußt, also nicht als Objekte vorgestellten Handlungen des Ich erweitert. Damit ist er immer noch in den Fichteschen Bahnen einer Selbstanschauung eigener Tätigkeit gefaßt. Beginnend mit der Abhandlung ,Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge' von 1802 (AW ΠΙ, S. 109-229) gibt Schelling der intellektuellen Anschauung dann aber die Funktion einer Erfassung des Absoluten selbst und zwar als ein „Vermögen, das Allgemeine im Besonderen, das Unendliche im Endlichen, beide zur lebendigen Einheit vereinigt zu sehen." („Fernere Darstellungen' [1802], SchelW 1/4, S. 362.) Vgl. den Überblick über Schellings Entwicklung des Begriffs intellektueller Anschauung bei Süskind (1909), S. 104-106. 120-134. Wie Süskind herausgearbeitet hat, weist diese Fassung des Anschauungsbegriffs beim mittleren Schelling dann eine deutliche Nähe zu Schleiermachers Position in den ,Reden' auf. Sporadisch schon 1799 verwendet Schelling den Begriff „Anschauung des Universums" ab 1801 und dann vor allem in den,Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums' von 1803 und dort explizit in Anknüpfung an Schleiermacher (SchelW 1/5, S. 278f) - allerdings nicht als Grundakt von Religion, sondern als philosophische Grundeinstellung.

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vität überhaupt keine Vorstellungen über die Art und Weise eines solchen Anschauungsvermögens zu machen in der Lage sind. Schelling ist sich dieser Auffassungen Kants bewußt (Vom Ich 181) und versucht dessen Restriktion auf sinnliche Anschauung dadurch zu unterlaufen, daß er die intellektuelle Anschauung nicht als intentionale Struktur, d. h. als Bewußtsein von etwas, faßt, sondern als absolute Einheit, für welche die Differenz von Vorstellendem und Vorgestelltem, von Subjekt und Objekt als noch irrelevant gedacht wird. Zugleich konstruiert Schelling damit kein „absolutnotwendiges Wesen", das etwa außerhalb unseres Geistes zu denken und somit wieder uns - objektiv - entgegengesetzt wäre. Hierin sieht er ja gerade den „Dogmatismus" Spinozas. Vielmehr denkt er sich das absolutnotwendige Wesen als unserem geistigen Leben angehörend, als Ich. Intellektuelle Anschauung ist dabei die Form der absoluten Position, des Sich-Setzens des Ich, das aufgrunddessen „absolutes Ich" heißt. Dieses hat aber - auch darin soll Kant überboten werden - nicht etwa eine nur regulative Funktion, sondern Schelling mißt ihm als der selbst unbedingbaren Bedingung unseres geistigen Lebens eine Prinzipienfunktion für die Realität unseres Wissens überhaupt zu. Das Interessante daran ist, daß Schellings Begriff intellektueller Anschauung in seiner Verbindung mit dem des absoluten Ich dabei nicht aufhört, Grenzbegriff zu sein. Das absolute Ich ist sowohl jenseits der möglichen Gegenstandssphäre von sinnlicher Anschauung als auch jenseits derjenigen von Begriffen zu verorten. Es ist aber nicht etwa als Regulativ unserer Vernunftschlüsse und also im Blick auf die Art und Weise der Durchführung von Erkenntnisakten gedacht, sondern als ein allen Erkenntnisakten immer schon vorausliegend gedachtes inneres Prinzip. Im Blick auf Schleiermacher ist diese Fassung des Anschauungsbegriffs deshalb bemerkenswert, weil hier von Schelling dem Anschauungsbegriff eine absolutheitstheoretische Bedeutung auf transzendentalphilosophischem Boden zugemessen wird. Das ließe sich in dieser Allgemeinheit auch von Schleiermachers religiösem Anschauungsbegriff sagen. Das Universum als Gegenstand religiöser Anschauung steht für diese absolutheitstheoretische Dimension. Schleiermacher scheint durch die Verbindung von Anschauungs- und Universumsbegriff gerade über die Kantische Restriktion menschlicher Anschauung auf deren sinnliche Vollzugsform hinauszugehen zu wollen. Das will auch Schelling, aber beide tun es offensichtlich auf eine gänzlich verschiedene Weise. Schelling sucht nach einem Realprinzip des Wissens und findet in der intellektualen Anschauung die Form suisuffizienter Selbstsetzung des „absoluten Ich", die allem bestimmten, intentionalen Bewußtsein voraus- und zugrundeliegt. Anders als sinnliches Anschauen ist nach Schelling das intellektuale per definitionem ein objektloses Schauen, in welchem keine Repräsentationsbeziehung stattfindet und die Differenz von vorstellendem Subjekt und

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vorgestelltem Objekt noch keine Anwendung finden kann. Aufgrund dieser Relationslosigkeit hat die intellektuale Anschauung für Schelling den Status von absoluter Einheit, die, dem bewußten Vorstellen immer vorausliegend, ihm zugleich unerreichbar ist. Schleiermacher beschreitet mit seinem Begriff des Anschauens des Universums in mehreren Hinsichten andere Wege. Seine religiöse Anschauung läßt sich erstens nicht auf die Alternative von Intellektualiät und Sinnlichkeit festlegen. Als intellektuale müßte sie, folgt man Schellings Modell, von sinnlichen Elementen gänzlich abgetrennt sein. Schleiermacher führt uns aber sehr konkrete Anschauungen des Universums vor Augen. Sie ist aber auch keine bloß sinnliche, denn der Universumsbegriff verweist auf einen über das Konkret-Einzelne hinausgehende Dimension. Zweitens loziert Schleiermacher seinen religiösen Anschauungsbegriff nicht im Blick auf die Frage nach einem Realprinzip allen Wissens. Das Anschauen des Universums steht nicht im Horizont einer Letztbegründungsintention von Wissen - das wird dann das Programm der ,Dialektitik' sein 77 - , sondern ihm scheint es mit der Abgrenzung religiösen Anschauens von der eigentlichen Erkenntnisfunktion um eine Dimension zu gehen, die zwar an allem Wissen (nicht anders als an Handlungvollzügen) aufgesucht werden kann, aber mit dem Erkenntnisakt selbst nicht zusammenfällt. Schleiermacher geht es in der Religion nicht darum, einen letzten Grund des Wissens ausfindig zu machen. Mit Schellings Bemühen, in der intellektuellen Anschauung einen „Urgrund" des Wissens auszuweisen, der selber nicht gewußt werden kann, besteht daher nur insofern eine Gemeinsamkeit, als auch hier Anschauung von den eigentlichen Erkenntnisfunktionen (Begriff und sinnliche Anschauung) grundsätzlich unterschieden wird. Die Differenz von Schelling und Schleiermacher läßt sich drittens im Blick auf die jeweilige Anknüpfung an Spinoza herausstellen. Schelling verortet in seiner Ichschrift das intellektuelle Anschauen ganz in seiner Theorie des Absoluten. Jenes Anschauen ist die Form der Selbstposition des absoluten Ich. Es erweist sich so als ich-theoretische Variante des spinozanischen Begriffs Gottes als causa sui. So wie bei Spinoza Gott bloß als causa sui niemals Objekt einer menschlichen Idee werden könnte, so ist bei Schelling das absolute Ich in der Einheit seiner intellektuellen Anschauung selbst nicht vorstellbar. Schleiermacher weist dem religiösen Anschauungsbegriff eine andere Position zu. Religiöses Anschauen ist immer ein Akt des Menschen, niemals nur Form der Selbsthabe des Absoluten. Es geht im religiösen Anschauen um einen geistigen Vollzug des Menschen, in dem durchaus etwas vorgestellt wird. Damit kommt Schlei77 Vgl. U. Barth: Der Letztbegründungsgang der,Dialektik' (2004).

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ermacher aber der spinozanischen scientia intuitiva deutlich näher als Schelling. Denn - wie wir gesehen haben - verbindet Spinoza die Bestimmung der causa sui im Gottesbegriff mit dem der causa rerum und gewinnt so seinen grundlegenden Begriff der immanenten Kausaliät Gottes als dem in allen Wirkungen manifesten Prinzip von Kausalität überhaupt. Die dritte Art des Erkennens ist nach Spinoza die epistemische Erfassung jenes sich in allen Dingen manifestierenden aktiven Grundes am Orte eines einzelnen Dinges selbst. Wenn Schelling scientia intuitiva mit seinem Begriff der „intellektuellen Anschauung" überträgt, so verkürzt er das darin enthaltene Programm erheblich, sofern intellektuelle Anschauving für Schelling - jedenfalls in seiner Ichschrift - nur auf die Art der Selbsthabe des Absoluten und nicht auf dessen Fundierungsfunktion verweist, geschweige denn als eigener geistiger Akt des Menschen ausgewiesen werden könnte. Ich werde in den folgenden Kapiteln zu zeigen versuchen, daß es Schleiermacher anders als Schelling gerade auf die Erfassung des Absoluten in dessen Fundierungsfunktion ankommt und daß sein Begriff religiöser Anschauung sich daher der Struktur der spinozanischen scientia intuitiva analog zeigt. Die Einsicht, daß sich diese Fundierungsfunktion nirgend anders als an dem dadurch Fundierten festmachen läßt, führt zu Schleiermachers Ausrichtung des religiösen Bewußtsein auf das Einzelne, das als Ort und Manifestationsgestalt jener Fundierungsfunktion durch die religiöse Anschauung entdeckt wird. Der vorherrschende Begriff in Schleiermachers ,Reden' für diese Manifestation des Absoluten in seiner Fundierungsfunktion ist der der „Darstellung des Universums". 78 Das ist kein Zufall. Denn auch der Darstellungsbegriff hat seine Vorgeschichte in der Debatte des ausgehenden 18. Jahrhunderts und ist auf das Engste mit dem Begriff der Anschauung verbunden. Wenden wir uns also dem Debattenhintergrund für dieses vierte Motiv von Schleiermachers religiösem Anschauungsbegriff zu.

D. Anschauung und Darstellung Der Darstellungsbegriff bei Schleiermacher ist ein weites Feld. Er hat für sein Denken leitmotivische Funktion und durchzieht sein Gesamtwerk. Von den Frühschriften über die philosophische und theologische Ethik vind die ,Glaubenslehre' bis hin zu Psychologie und ,Dialektik' greift Schleiermacher auf diesen Begriff zurück. 79 Schon der Verweis auf 78 Reden 50. 68.104.126.127. Parallel steht „Darstellung des Unendlichen" (Reden 51.56). Vgl. auch „Darstellung der [unendlichen] Menschheit" (Reden 8. 26. 92. 99. 104. 109) und „Darstellung der [unendlichen] Religion" (Reden 248. 260. 261). 79 Spinnozamanuskripte 1793/94 (KGA 1/1, S. 527. 530f. 534. 551. 578); Grundlinien 1803 (ed. Braun I, S. 107f); Hermeneutik 1805-19 (ed. Braun I, S. 175. 196); Christliche Sitte

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diese verschiedenen Kontexte des Darstellungsbegriffs läßt vermuten, daß er nicht auf eine einsinnige Bedeutung festgelegt werden kann. In den,Reden' selbst stoßen wir neben jener „Darstellung des Universums" ebenso auf verschiedene handlungstheoretische Varianten von „darstellen", die auf die zentrale Begrifflichkeit des „darstellenden Handelns" in der philosophischen Ethik' vorausweisen. Die Fülle der Bedeutungen, die der Darstellungsbegriff bei Schleiermacher anzunehmen in der Lage ist, spiegelt die Komplexität der Debattenlage im 18. Jahrhundert. Eine Nachzeichnimg dieses verwickelten Diskurses in seiner Breite ist hier nicht angezeigt.80 Nur ein Aspekt soll hier im Blick auf den Religionsbegriff der ,Reden' herausgegriffen werden, und zwar die Korrelation von Anschauungs- und Darstellungsbegriff. Der Darstellungsbegriff ist nicht erst von Schleiermacher mit dem Anschauungsbegriff verbunden worden. Wenn Schleiermacher also davon spricht, das „Universum" werde in der Religion in dessen „Darstellungen" angeschaut, so nimmt er ein geprägtes Begriffspaar auf und gibt ihm seine eigentümliche Bedeutung. Die folgende Skizze soll die Beziehung von Anschauen und Darstellen in der Debatte des ausgehenden 18. Jahrhunderts anhand von exemplarischen Positionen vor Augen führen. Den Ausgangspunkt für die Debatte um den Darstellungsbegriff zu bestimmen ist schwierig.81 Der Vorschlag, ihn bei Leibniz und dessen Repräsentationsgedanken zu suchen, scheint mir in die richtige Richtung zu weisen. 82 In der Monadenlehre läuft eine Beschreibung der Perzeptionsfunktion der Monaden 83 als Repräsentation (des Körpers bzw. des ganzen Universums aus individueller Perspektive)84 mit einer Beschreibung zusammen, welche diese Funktion als ein Ausdrücken, französisch „expri-

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1822 (ed. Braun m , S. 147ff. 163ff. 178); Psychologie 1830 (ed. Braun IV, S. 6. 12 u.ö.); Der christliche Glaube 1830 (CG 2 § 59); Dialektik (DialM 12. 90f. 139. 171). Zur Philosophischen Ethik,,Monologen' und ,Reden' s. das Folgende. Die Stellenangaben sind keineswegs erschöpfend. Einblicke in diesen Diskurs mit dem Schwerpunkt auf dessen rhetorische Implikationen bietet die Studie von P. Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A. G. Baumgarten und I. Kant (2004). Die sehr überblicksartige Einführung in Martha B. Helfers Studie zum Darstellungsbegriff geht gar nicht auf die philosophische Dimension des Begriffs ein und läßt den Darstellungsdiskurs im 18. Jahrhundert mit Klopstock (Deutsche Gelehrtenrepublik 1774; Von der Darstellung 1779) beginnen. Vgl. Μ. B. Helfer: The retreat of Representation (1996), S. 13-22, hier S.15f. P. Bahr: Darstellung des Undarstellbaren (2004), S. 58. Perzeptionen bezeichnen die veränderlichen Zustände der Monaden. Vgl. Monadologie § 14, S. 114f; Principes de la nature et de la gräce § 2, S. 152f. Ich beziehe mich auf die Ausgabe der Philosophischen Bibliothek (PhB 537): Monadologie und andere metaphysische Schriften, hg. v. U. J. Schneider (2002). Monadologie § 14. 25. 60. 62f. 78, S. 114f. 120f. 134f. 136f. 144f; Principes § 3. 12, S. 154f. 166f.

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mer" faßt. 85 Der Expressionsbegriff wird von Leibniz in der Monadologie als allgemeiner ontologischer Relationsbegriff gebraucht. 86 Die einzelne Monadensubstanz „drückt" in sich alle Beziehungen „aus", in denen das in ihr Veränderliche zu anderen Monaden steht. 87 „Exprimer" ist in diesem Kontext also noch völlig frei von der Konnotation eines Äußerns. Die Monade ist dadurch definiert, keine aus-sich-herausgehenden Außenbeziehungen zu haben, sie „hat keine Fenster". 88 Leibniz verwendet hier den metaphysischen Begriff des exprimere, den, wie wir gesehen haben, bereits Spinoza im Zusammenhang seiner Theorie der Attribute bzw. der Modi zugrundegelegt hat. 89 Wenn Schleiermacher in den Jugendmanuskripten Spinozas „exprimere" als „darstellen" wiedergibt, bewegt er sich auf der Ebene der ontologischen Bedeutung des Expressionsbegriffs, wie sie auch in Leibnizens Monadologie vorausgesetzt wird. Von der Monadologie bis zum Darstellungsbegriff in den frühen 1790er Jahren liegt allerdings noch eine erhebliche Wegstrecke. Drei Stationen scheinen mir für die Zusammenordnung von Darstellen und Anschauen in der Debatte wichtig. In einem vierten Punkt soll dann der Blick voraus auf den Darstellungsbegriff der philosophischen Ethik' gewandt werden, um so die Bandbreite des Darstellungsbegriffes vor Augen zu führen, die Schleiermacher dann ausgehend von den,Reden' entwickeln wird. 1. Die erste Station ist noch nicht unmittelbar mit dem Begriff „Darstellung" verbunden, bereitet aber gleichsam den Boden. Alexander Gottlieb Baumgartens Aufwertung der repraesentationes sensitivae, also der sinnlichen Vorstellungen bringt genau das Anliegen von Leibnizens Monadologie zur Geltung, daß das menschliche Gemütsleben auf Vorgängen beruhe, die in deren bewußten Anteilen nicht aufgehen. 90 Nicht jede Perzeption ist zugleich Apperzeption. Baumgartens Akzentverschiebimg bereitete, wie schon oben erwähnt, der „anschauenden Erkenntnis" den Weg zu deren Anerkennung neben der logisch-begrifflichen Erkenntnis. Für das weitere ist nun entscheidend, daß „anschauende Erkenntnis" nicht nur jene sinnliche Repräsentation ausmacht, welche uns einen Eindruck der Sinne in dem Moment gegenwärtig macht, in welchem er auch stattfindet. Vielmehr erstreckt sie sich schon bei Wolff auch auf abwesende Gegenstände, welche „in Bildern" innerlich vor Augen geführt werden. Diese Funktion ist die der Einbildungskraft,91 die mehr ist als 85 Monadologie § 56. 59. 62. 65, S. 132f. 134f. 136f. 138f. 86 Vgl. Brief an Arnauld vom 9. 10. 1687, Werke ed. Gerhardt, Bd. 2, S. l l l f f . S. o. Teil I, Aran. 80 auf S. 33. 87 Monadologie § 56, S. 132f: „chaque substance simple a des rapports qui expriment toutes les autres". 88 Monadologie § 7, S. 112f. 89 S.o.TeilI,S.32f.41f. 90 Vgl. A. Baeumler: Irrationalitätsproblem (1923/1975), S. 37f. 41.123-128. 91 Zur Einbildungskraft vgl. A. Baeumler: Irrationalitätsproblem (1923), S. 141-166.

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bloße Reproduktion, die dem Gedächtnis zufällt. Sie enthält bereits Abstraktionsmomente. Um sich etwas Abwesendes innerlich vorzustellen, ist es nicht nötig, alle Aspekte des Gegenstandes vorzustellen, sondern es reicht hin, die wichtigsten, von Körpern etwa eher Umrisse als Farben, zu einem Bild zusammenzufügen.92 Die Einbildungskraft ist also ein synthetisches Vermögen. Sie wählt aus und stellt zusammen und ist so nicht nur in der Lage, vergangene Vorstellungen in bestimmten Hinsichten wieder hervorzubringen, sondern kann auch Neues dadurch hervorbringen, daß sie Merkmale auf neue Weise kombiniert. Sie ist also ein produktives, ein Erfindungsvermögen (facultas inveniendi) und zwar im Gegensatz zum Witz/Geist/esprit nicht nach einer bestimmten Methode, sondern in schöpferischer Willkür.93 Einbildungskraft hat eine kreative Komponente. Im Blick auf die anschauende Erkenntnis bedeutet dies, daß das Feld möglicher Gegenstände derselben durch die Einbildungskraft erweitert werden kann. Was uns die Einbildungskraft im „Bild" vor Augen „malt" 94 kann in einer „anschauenden Erkenntnis" erfaßt werden. Sie präsentiert uns Vorstellungen von Gegenständen, die wir anschauend erkennen können. 2. An dieser Stelle kommt nun der Darstellungsbegriff ins Spiel. Er steht für jene Leistung der Einbildungskraft, etwas so vorzustellen, daß es ein Gegenstand der anschauenden Erkenntnis werden kann. In dieser Weise kommt der Begriff schon in dem ,Versuch über das Genie' von Martin Resewitz aus dem Jahr 1759/60 vor 95 : „Darstellen" heißt, etwas „anschauend zu machen". 96 Resewitz' Darstellungsbegriff hat im lateinischen „exhibere" sein Äquivalent in der Beispieltheorie Christian Wolffs: „Exempla dicuntur singularia sub notionibus universalibus comprehenP. Bahr: Darstellung (2004), S. 145-172. 92 Deutsche Metaphysik § 232-236, S. 129-131. Vgl. A. Baeumler: Irrationalitätsproblem (1923), S. 145. 93 Vgl. A. Baeumler: Irrationalitätsproblem (1923), S. 149. 94 J. J. Bodmer und J. J. Breitinger hatten das Hauptbetätigungsfeld der Einbildungskraft, die Poesie, unter Aufnahme der traditionellen Formel „ut pictura poiesis" nochmals unter das Leitbild der Malerei gestellt. Vgl. A. Baeumler: Irrationalitätsproblem (1923); P. Bahr: Darstellung (2004), S. 57-59. Schon die Titel der Schriften Bodmers und Breitingers weisen darauf hin: Von dem Einfluß und Gebrauch der Einbildungskraft (1727); Die Discourse der Mahlern (1721). Vgl. auch die Wendung bei M. Resewitz: Versuch über das Genie (1759/60), in: A. Bormann: Vom Laienurteil (1974), S. 81: „Die anschauende Erkenntniß eines Gegenstandes ist die Erkenntniß desselben in seinen individuellen Verbindungen und Verhältnissen; er muß also entweder vor die Sinne gebracht, oder durch die Einbildungskraft ausgemalt werden, wenn man zum Anschauen desselben gelangen soll." (Hhg. C.E.). 95 Er wird also nicht erst im Zusammenhang der Ablösung des ästhetischen Paradigmas der Nachahmung in die Debatte gebracht (so P. Bahr: Darstellung [2004], S. 3). 96 M. Resewitz: Versuch über das Genie (1759/60), in: A.Bormann: Vom Laienurteil (1974), S. 80.

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sa, quatenus [... ] ea, quae notioni universali insunt intuenda exhibent."97 Der Wendung „anschauend zu machen" entspricht dabei das präzisere „intuenda exhibere": etwas darstellen heißt es anschaubar machen. Dieses Darstellen ist zunächst einmal ein Vorgang, der im Innern des Subjektes verbleibt. Es gilt, „die Gegenstände [... ] in einzelnen Fällen vor seine [... ] Einbildungskraft zu bringen" 98 , um sie anschauend erkennen zu können. Die Einbildungskraft wird also im Darstellen dafür eingesetzt, ein möglichst konkretes Bild einer Sache zu erhalten. Das impliziert eine Zunahme von Konkretion im Verhältnis dessen, was dargestellt oder anschauend gemacht wird, zu dem Darstellenden, das angeschaut wird. Dieser graduelle Unterschied von größerer Allgemeinheit hin zu größerer Konkretion oder Besonderheit ist der Kontext, in welchem der Darstellungsbegriff bei Resewitz fällt: „Denn je abstrakter ein Begrif ist, desto schwerer ist er in der Natur aufzusuchen, desto schwerer ist es, zumal ohne einige Hülfe der Bezeichnungskunst, ihn anschauend zu machen, oder in der Natur wieder darzustellen". 99 Der Vollzug des Darstellens, der etwas als Gegenstand anschauender Erkenntnis präsentiert, ist aber nicht nur auf das einzelne Subjekt beschränkt, sondern eröffnet auch eine inter subjektive Dimension. Es gilt nicht nur etwas anschauend zu machen, indem man es durch die Einbildungskraft vor die eigenen Sinne zu bringen versucht, sondern die „wahren Weltweisen", die nach anschauender Erkenntis streben, lassen „es sich angelegen seyn [...], Wahrheiten, die vor und an sich abstrakt sind [... ] für [d. h. vor] die Empfindimg ihrer Mitbürger zu bringen." 100 Das Darstellen im Sinne eines anschauend-Machens nicht nur für sich selbst, sondern für andere impliziert ein Aus-sich-Herausgehen und Äußern. Hier sind zwei Entwicklungsstränge miteinander verbunden, welche der Darstellungsbegriff in der zweiten Jahrhunderthälfte nehmen wird. Der eine ist mit der Beziehimg von Allgemeinbegriff und sinnlichkonkreter Einzelvorstellung in der Anschauung verbunden, der andere nimmt seine Stelle innerhalb der Debatte um die Theorie ästhetischer Produktion ein. 101 In beiden Richtungen ist das Darstellen stets auf An97 Philosophie practica universalis (1739) § 250, zit. nach A. Baeumler: Irrationalitätsproblem, S. 221, Aran. 3. ("Beispiele nennt man Einzeldinge als unter Allgemeinbegriffe gefaßt, sofern sie das, was in den Allgemeinbegriffen enthalten ist, als ein anzuschauendes darstellen" (Übers, u. Hhg. C.E.). 98 M. Resewitz: Versuch über das Genie (1760), in: A. Bormann: Vom Laienurteil (1974), S. 81. 99 Ebd, S. 80. 100 Ebd. 101 Als Programmbegriff für eine poetologische wie überhaupt produktionsästhetische Neubesinnung wird der Darstellungsbegriff von Klopstock und Gottfried August Bürger in den 80er Jahren propagiert. Das überkommene Mimesis-Ideal sollte von einem

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schauung bezogen, sei es im ersten Fall die eigene Anschauung oder im zweiten die Anschauung anderer Menschen. Schleiermacher wird beide Stränge von Darstellung in seinem Werk aufnehmen, ja selbst innerhalb der Religionstheorie der,Reden' kommen beide zur Geltung. Doch kommen sie in einer Form zur Geltung, die die kritische Läuterung des Begriffes innerhalb der Kantischen Philosophie voraussetzt. Insbesondere für die Frage nach einer Darstellung des Allgemeinen im Besonderen ist der Aufweis von Schranken menschlicher Darstellungsvollzüge in Kants drei Kritiken aufschlußreich, weil diese Schranken zugleich das menschliche Anschauen betreffen. 3. Der Darstellungsbegriff hat in Kants Philosophie zwei hervorgehobene Orte. 102 Zum einen tritt er in der Mathematiktheorie hervor und zum anderen ist er ein wichtiger Leitbegriff in der Kritik der Urteilskraft. Stets ist er dabei eng mit dem Begriff der Anschauung verbunden. Als grundlegende, beide Bereiche übergreifende Bestimmung kann gelten, daß Darstellung einen Akt der Einbildungskraft 103 bezeichnet. Er dient dazu, einem Begriff „objektive Realität" zu geben durch eine ihm korrespondierende sinnliche Anschauung. 104 Im Zusammenhang der Auseinandersetzimg mit Johann August Eberhard aus dem Jahre 1791 kommt der Darstellungsbegriff in jenem „entscheidenden Schlußsatze" der „Kritik des reinen Verstandes" zu stehen, wonach, „keinem Begriffe seine objective Realität anders gesichert werden könne, als so einseitigen Verständnis als bloß technischer Nachahmung hin auf seine auch das kreative Moment des Künstlers berücksichtigende Seite vertieft und so neubelebt werden. Darstellung steht hier für eine Mimesis im Medium der produktiven Einbildungskraft. Vgl. G. A. Bürger: Von der Popularität der Poesie (1777/78). 102 Der Begriff „Darstellung" ist in der Kant-Forschung nicht sonderlich intensiv bearbeitet. Vgl. immerhin B. J. Hafner: Darstellung. Die Entwicklung des Darstellungsbegriffs von Leibniz bis Kant und seine Anfänge in der antiken Mimesis und der mittelalterlichen Repraesentatio (1976); R. Gaschc: Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant (1994); Μ. B. Helfer: The retreat of Representation. The concept of Darstellung in German critical discourse (1996), S. 22-50; P. Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A. G. Baumgarten und I. Kant (2004), S. 172-299 (2. Teil: „Die Theorie der Darstellung in Kants Kritik der Urteilskraft"). Da im Kant-Lexikon von Eisler nur wenige Stellen zum Darstellungsbegriff verzeichnet sind und in den Begriffsregistern man diesen Eintrag meist vergeblich sucht, seien hier noch einmal (vgl. J. Stolzenberg: Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung [1986], S. 122, Anm. 120) einschlägige Stellen, allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit, genannt: KrV Β 180. 195. 741-746; KpV 120-125; KdU 1. Einl. cap. VII. νίΠ; KdU 2. Einl. cap. Vm, Β XLIX. L; KdU § 23. 25. 30. 35. 48f. 57. 59. 62, Β 74f. 84. 92. 124f. 132-135. 146. 191-193. 241. 255-257. 278; ,Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll' (1791, 2 1792), AA Vm, S. 189.191f;,Preisschrift über die Fortschritte in der Metaphysik' (1791, hg. 1804), AA XX, S. 325;,Anthropologie', AA VII, S. 191. 103 KdU § 3 5 Β 146. 104 Darstellungen sind Akte, in denen man Begriffe „anschaulich macht" (KdU § 57, Anm. I, Β 241).

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fern er in einer ihm correspondierenden Anschauung (die für uns jederzeit sinnlich ist) dargestellt werden kann, mithin über die Grenze der Sinnlichkeit, folglich auch der möglichen Erfahrung hinaus es schlechterdings keine Erkervntniß, d. i. keine Begriffe, von denen man sicher ist, daß sie nicht leer sind, geben könne." 105 Darstellung hat hier also die Funktion, den Zusammenhang von Begriff und Anschauung herzustellen - und zwar ausgehend vom Begriff. „Darstellung" ist „Versinnlichung" eines Begriffs, weil sie ihm eine entsprechende sinnliche Anschauung „unterlegt". 106 „Die Handlung der Hinzufügung der Anschauung zum Begriffe heißt in beiden Fällen Darstellung (exhibitio 107 ) des Objects, ohne welche (sie mag nun mittelbar, oder tinmittelbar geschehen) es gar kein Erkenntniß geben kann." 108 Die in diesem, dem handschriftlichen Nachlaß entstammenden Satz genannte Unterscheidung zweier Fälle bringt uns zu der Frage, in welchen Feldern solche Darstellung als Hinzufügung von Anschauung zum Begriff stattfinden kann. Die Fälle werden danach linterschieden, welcher Art die hinzugefügte Anschauung ist. Ist es eine empirische Anschauung, die einem Begriff hinzugefügt wird, so kann der Akt als eine Exemplifikation bezeichnet werden, die empirische Anschauung ist „Beyspiel" für den Begriff. Kann die Anschauung dem Begriff a priori hinzugefügt werden, so ist der Akt eine „Konstruktion". 109 Die Unterscheidung betrifft aber nicht nur die Art der dem Begriffe beigefügten Anschauung, sondern läßt sich ebenso von der Art des Begriffes her fassen. 110 Ein empirischer Begriff läßt sich durch Beispiel 105 I. Kant: Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll (1791, 2 1792), AA Vffl, S. 185-251, hier S. 189. Vgl. auch KrV Β 195: „Einen Gegenstand geben, wenn dieses nicht wiederum nur mittelbar gemeint sein soll, sondern unmittelbar in der Anschauung darstellen, ist nichts anders, als dessen Vorstellung [sc. den Begriff des Gegenstands] auf Erfahrving (es sei wirkliche oder doch mögliche) beziehen." (Hhg. C.E.). 106 KdU § 59 Β 255. Zum Begriff „unterlegen", der sog. „Hypotypose" vgl. auch AA VIII, S. 191. Dort heißt es: Die „objektive Realität, d.i. die Möglichkeit, daß es ein Ding von den genannten Eigenschaften geben könne, auf keine andere Weise, als daß man ihm die correspondierende Anschauung unterlegt, bewiesen wird." Dazu R. Gasche: Überlegungen zum Begriff der Hypotypose bei Kant (1994); R Bahr: Darstellung (2004), S. 269-292. 107 Vgl. den Sprachgebrauch bei Wolff. S.o. S. 300 mit Anm. 97. 108 I. Kant: Über die von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Frage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf's Zeiten in Deutschland gemacht hat? (postum veröffentlicht 1804), AA XX, S. 325. 109 „Wenn einem Begriffe die correspondierende Anschauung a priori beygegeben werden kann, so sagt man: dieser Begriff werde konstruiert; ist es nur eine empirische Anschauung, so nennt man das ein bloßes Beyspiel zu dem Begriff" (ebd.). Der oben zitierte Satz folgt hier unmittelbar. 110 So Kants Vorgehen in KdU § 59, Β 255.

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oder „Bild" 111 darstellen, ein reiner Verstandesbegriff wird dadurch „realisiert", d. h. sachhaltig gefüllt, daß eine ihm entsprechende Anschauung α priori erzeugt wird. Das Feld, in welchem reine, nicht-empirische Begriffe durch korrespondierende Anschauungen „konstruiert", d.h. a priori dargestellt werden können, ist die Mathematik. 112 Konstruktion in der reinen Anschauung als mathematische Darstellung unterlegt den mathematischen Begriffen jedoch nicht direkt „Bilder" im Sinne von den Begriffen entsprechenden empirischen Anschauungen. Die Begriffe werden vielmehr durch das Bilden von Methoden oder Regeln konstruiert, dem Begriff gemäße Bilder vorzustellen. Diese Regeln heißen „Schemata". Im Fall der geometrischen Begriffe sind solche Schemata ,,Regel[n] der Synthesis der Einbildungskraft in Ansehung reiner Gestalten im Räume" (KrV Β 180), im Fall der arithmetischen Begriffe „Methode [n], einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge in einem Bilde vorzustellen" (KrV Β 179). In der ,Kritik der Urteilskraft' (§ 59 Β 255) sieht Kant nun noch einen dritten Fall von „Darstellung" vor, in welchem weder einem empirischen Begriff ein Beispiel, noch einem reinen mathematischen Begriff oder Verstandesbegriff113 ein Schema als Regel der Versinnlichung und Realisierung „unterlegt" wird. Es steht vielmehr in Frage, wie einer Idee der Vernunft eine entsprechende Anschauung unterlegt bzw. wie auf jene Vernunftidee Anschauung überhaupt bezogen werden kann. Vernunftideen sind ja gerade solche Vorstellungen, denen per definitionem keine Anschauungen entsprechen können und die deshalb über mögliche Erfah111 Vgl. KrV Β 180. 112 KrV Β 741: „Einen Begriff aber konstruieren, heißt: die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen." In der Schrift gegen Eberhard differenziert Kant einen Begriff „reiner" Konstruktion von dem „empirischer Construction". Letztere ist Darstellung eines Begriffes „an irgendeiner Materie". Diese empirische Konstruktion wäre also die oben genannte Exemplifikation: Darstellung durch das Hinzufügen eines Beispiels zum empirischen Begriff. Er gesteht dabei jedoch ein, daß nur die reine Konstruktion, wie sie in der Mathematik Anwendung findet, eigentlich Konstruktion heißen kann. Die „empirische" dagegen „nur uneigentlich so genannte Construction" gehört nicht „zur Wissenschaft, sondern zur Kunst" und wird deshalb von ihm auch als „technische" Konstruktion bezeichnet (AA Vm, S. 191f, Anm.). Vgl. auch KdU § 57 Anm. I, Β 241: „demonstrieren (ostendere, exhibere) soviel heißt, als [... ] seinen Begriff zugleich in der Anschauung darstellen; welche [sc. Darstellung], wenn sie Anschauung a priori ist, das Konstruieren desselben [sc. des Begriffs] heißt, wenn sie aber empirisch ist, gleichwohl die Vorzeigung des Objekts bleibt, durch welche dem Begriffe die objektive Realität gesichert wird." 113 Das Schematismus-Kapitel der KrV ist auf die Erörterung der Frage nach der Darstellbarkeit von Kategorien gerichtet und sieht mathematische Schematisierung und Darstellung nur als unproblematische Voraussetzung dieser Erörtung an. In der KdU werden mathematische Begriffe und Kategorien zusammengefaßt, weil das Verfahren ihrer Darstellung bei beiden Begriffsklassen eines vermittelnden Schemas bedarf. Vgl. dazu P. Natterer: Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft (2003), Kap. 21, S. 380-398; P. Bahr: Darstellung (2004), S. 177.

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rung und damit auch über mögliche Erkenntnis hinausgehen und nur gedacht werden können.114 Die Art ihrer Darstellung, wenn es überhaupt eine geben können soll, kann also keine direkte Versinnlichung sein, weil die Idee als Vernunftbegriff „in concreto niemals kongruent kann gegeben werden" oder „im Bilde entworfen" werden kann (KrV Β 384). Von einer „logischen Darstellung" vermittels eines Schemas als der Regel zur Erzeugung von Bildern kann hier also nicht die Rede sein, weil keine Bilder schematisiert werden können, die einem Vernunftbegriff adäquat wären (KdU § 49 Β 195). An die Stelle der logisch-schematischen Darstellung tritt im Falle der Vernunftideen eine „symbolische Darstellung" (KdU § 59 Β 255). 115 Die Indirektheit in der Art, wie den Vernunftideen Anschauungen als Symbole „unterlegt" werden, faßt Kant als „Analogie" (KdU § 59 Β 256), die er nicht am Gegenstand der Vorstellungen, sondern an der subjektiven Regel der Reflexion über einen Gegenstand festmacht. Dieser Aspekt soll unten mit Schleiermachers religiöser Anschauung verglichen werden.116 Folgt man Kants Grundverständnis der symbolischen Darstellung als einer Veranschaulichung eines Nichtanschaulichen, so verwundert es, daß er auch von einem „Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen" 117 (KdU § 49 Β 192) spricht. Ästhetische Ideen sind ja selbst „innere Anschauungen" (B 194) und bedürften also strenggenommen keiner Darstellung in der Anschauung. Warum Kant hier dennoch von Darstellung ästhetischer Ideen spricht, läßt sich aber dem Kontext entnehmen. Jenes Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen bezeichnet Kant als „Geist" oder „Genie" und stellt sich damit in den poetologischen Debattenzusammenhang. Dort ist von Darstellung auch als von jener Tätigkeit eines Genies die Rede, der ästhetischen Vorstellung eine äußere sinnenfällige Gestalt zu geben wie es etwa in einem Gedicht oder in einem Gemälde geschieht. Für diese Dimension des Ästhetischen - das Kunstschaffen als äußere sinnliche Gestaltung ästhetischer Ideen in Worten und Werken verwendet Kant den Begriff des „Ausdrucks" und unterscheidet damit zwei Stufen im ästhetischen Prozeß, die gemeinhin beide mit dem Begriff 114 KrV Β 383: „Ich verstehe unter der Idee einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann." 115 Daß dieser Symbolbegriff von dem Wolff-Baumgartenschen Symbolbegriff im Sinne der Gegenüberstellung von cognitio intuitiva und cognitio symbolica gänzlich verschieden ist, darauf macht Kant an der angegebenen Stelle selbst aufmerksam. Symbolizität wird von Kant nicht als Zeichenhaftigkeit oder Prävalenz des Zeichens gegenüber dem Bezeichneten, sondern als vom Schematismus unterschiedene Teilklasse von Darstellung verstanden und so insgesamt dem Bereich des Intuitiven, der Anschauung eingeordet. Zu Wolff und Baumgarten oben S. 278. 116 S. u. S. 376ff. 117 Zur hochkomplexen Figur der ästhetischen Idee vgl. B. H. Kong: Die ästhetische Idee in der Philosophie Kants (1999).

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der Darstellung verbunden werden und daher leicht in ihrer systematischen Differenz übersehen werden können. 118 Genie besteht also nach Kant einerseits darin, „zu einem gegebenen Begriffe Ideen [sc. ästhetische Ideen] aufzufinden und andererseits zu diesen [sc. den ästhetischen Ideen] den Ausdruck zu treffen, durch den die dadurch bewirkte subjektive Gemütsstimmung [... ] anderen mitgeteilt werden kann." (KdU § 49 Β 198f). Wir finden bei Kant also eine terminologische Differenzierung zwischen jenen beiden oben genannten Strängen der Darstellungsdebatte: Unter dem Begriff der „Darstellung" faßt Kant die Bildung von Vorstellungen, welche das Allgemeine eines Begriffs im Besonderen einer sinnlichen Anschauung repräsentieren. Ein besonderer Fall darin ist die Bildung solcher anschaulicher Vorstellungen, welche die Repräsentation einer Vernunftidee, der prinzipiell keine sinnliche Anschauung adäquat sein kann, nur per analogiam oder „symbolisch" zu leisten vermag. Davon ist unter dem Begriff „Ausdruck" die rhetorisch-künstlerische Mediatisierung und Äußerung einer ästhetischen Idee unterschieden. Was Kant um größerer Deutlichkeit des ästhetischen Vollzugs auseinanderzuhalten versucht, rangiert in der Debatte und so auch bei Schleiermacher beides unter dem Darstellungsbegriff. 4. Dies wird besonders deutlich in der philosophischen Ethik' Schleiermachers, wo der Darstellungsbegriff sowohl in der Bedeutung eines expressiven Handelns, als auch im Zusammenhang der Verwirklichung einer praktischen Vernunftidee vorkommt. Wenngleich Schleiermachers Fassung jener praktischen Idee ganz andere Züge trägt als die Kants, so bleibt doch zumindest die Form des Darstellungsvollzugs als Realisierung einer nur gedachten Idee vergleichbar. Und auch der Bezug von Darstellung und Symbol wird hergestellt. In der Philosophischen Ethik lassen sich so vier Grundbedeutungen von „Darstellung" unterscheiden. 119 Erstens stellt Schleiermacher „darstellendes Handeln" in die Polarität von Innen und Außen. Durch Darstellung wird ein Inneres zu einem Äu118 Eine gewisse Unscharfe in dieser Hinsicht ist auch in der Studie von P. Bahr auszumachen. Durch die rhetorische Interpretation weiter Teile des Darstellungsbegriffs erfolgt der Übergang zu der poietisch-praktischen Äußerung oder „Performanz" beinahe unbemerkt auch unter dem Darstellungsparadigma. Vgl. P. Bahr: Darstellung (2004), S. 293-299, hier S. 295. Dies scheint bei ihr aber auch programmatische Gründe zu haben. Das Integral der Darstellungsdiskussion findet sie in dem Begriff der „Sinnform", in welchem die „Einheit von Bewußtseinsform und Artikulationsform" bezeichnet ist, „die im Darstellungsbegriff Baumgartens und Kants in unterschiedlicher Weise gewährleistet" sei (S. 2, Aran. 2). 119 Neben einer unterminologischen Verwendung und einem wissenschaftsliterarischen Sinn von „Darstellen" (PhE 245. 251. 487. 517 u.ö.). Ich gebe unter dem Siglum „PhE" die Seitenzahlen des zweiten Bandes der Werkausgabe, hg. v. Otto Braun, wieder.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

ßeren. „Darstellen" steht hier also parallel zu „Äußern". Diesen Sinn führt das - übrigens für die geschichtsphilosophische Dimension der Christologie lind die Ekklesiologie der Glaubenslehre' grundlegende - Darstellen eines Gefühls mit sich. Das Gefühl äußert sich in der Darstellung. Der Darstellungsvollzug trägt also Züge expressiven Handelns. Bezeichnenderweise tritt Darstellen im Sinne des expressiven Handelns in ein polares Verhältnis zum Anschauen: „Das Leben der Intelligenz als Natur [... ] besteht aus zwei Oscillationen, von außen nach innen Anschauen und von innen nach außen Darstellen."120 Darin ist eine zweite, intersubjekive Bedeutung darstellenden Handelns impliziert. Die Darstellung eines Menschen kann einem anderen, weil sie diesem als etwas Äußerlichem zugänglich ist, zur „Offenbarung" von dessen Innerem werden. Darstellendes Handeln ist insofern selbst ein Aufdecken von Innerlichkeit und damit zugleich Medium der Kommunikation und Bedingung von Gemeinschaft. 121 Drittens gewinnt der Darstellungsbegriff einen etwas abstrakteren, aber Kants Fassung direkt vergleichbaren Sinn innerhalb der ,Philosphischen Ethik' im Kontext einer Theorie des „Einbildens" 122 oder des „Realisierens" 123 einer Idee. Der Vernunftgehalt einer Idee wird durch einen Darstellungsvollzug in das wirkliche Bewußtsein bzw. in die körperliche Natur hineingebildet. Hieran macht Schleiermacher den ethischen Impetus darstellenden Handelns fest. 124 Viertens gerät der Darstellungsbegriff durch diese zuletzt genannte Funktion in die Nähe des Symbolbegriffs. Symbol wird hier verstanden als das, wodurch etwas aus einem anderen erkennbar wird. Nun ist das, worin eine Idee hineingebildet ist, zugleich das, woran sie erkennbar wird, d. h. ihr Symbol. Unter diesem Aspekt wird das darstellende Handeln zu einem symbolisierenden Handeln. 125 Auch in den,Reden' finden sich bereits beide grundlegenden Bedeutungsfelder von Darstellung - expressives Handeln einerseits, Realisation andererseits - angelegt. Und beide spielen für den Religionsbegriff eine nicht zu unterschätzende Rolle. Allerdings systematisch gesehen an sehr unterschiedlichem Ort. Der Äußerungs- und Kommunikationscharakter von Darstellung als expressiv-künstlerischem Handeln ist in der Religion insofern vital, als es Medium religiöser Kommunikation ist, und 120 PhE 40 (Tugendlehre 1804/05); Hhg. C.E. Zum Richtungssinn des darstellenden Handelns von innen nach außen vgl. auch PhE 73. 134. 207f. Zur Theorie der Darstellung eines Gefühls vgl. PhE 97f. 181-186. 310ff. 381. 121 Vgl. PhE 45. 52ff. 74. 122 Vgl. PhE 58. 64. 123 Vgl. PhE 45. 67. 124 Vgl. PhE 58-73. 125 Vgl. PhE 45. 89. 254. 261. 425ff. 563ff.

1. Die zeitgenössische Debattenlage

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betrifft die Vergemeinschaftungs- und Erhaltungsformen von Religion. 126 Hingegen hat die andere Richtung des Darstellungsbegriffs in den ,Reden' anders als in der Philosophischen Ethik bezeichnenderweise keinen handlungstheoretischen Bezugsrahmen. Darstellung als indirekte Realisierung eines nur gedachten Gegenstands in einer Anschauimg spielt, wie zu zeigen sein wird, für den Aufbau religiösen Bewußtseins selbst eine konstitutive Rolle. Kant hat hier Schleiermacher, was die transzendentalphilosophischen Rahmenbedingungen der Realisierung einer Idee angeht, eine religionstheoretische Steilvorlage gegeben.

E. Zusammenfassung Resümieren wir noch einmal die Problemlage, welche sich hinsichtlich des Anschauungsbegriffs durch die vier skizzierten Motive ergibt und vor deren Hintergrund das Eigentümliche von Schleiermachers Begriff religiöser Anschauung zu bestimmen ist. Die in der Debatte verhandelten Merkmale und Kontexte des Anschauens als einer spezifischen Vorstellungsart - im Vorstellungscharakter von Anschauen sind sich die ganze Schulphilosophie, Kant und Schleiermacher einig 127 - sind Anknüpfungsmöglichkeiten für Schleiermachers Religionsbegriff. Daß er den Anschauungsbegriff mit dem Religionsbegriff verbindet heißt nicht, daß er nun eine gänzlich neue Bestimmimg des Anschauens vornimmt. Vielmehr zeichnet sich sein Verfahren dadurch aus, in Analogiebildungen herkömmliche Bestimmungen des Anschauungsbegriffes aufzurufen und ihnen durch die Verbindung mit dem Universumsbegriff eine neue, eigentümlich religiöse Bedeutung zu geben. Es darf also nicht verwundern, daß ich in den angeführten Motiven überwiegend solche Momente herauszuarbeiten versucht habe, in welchen Schleiermacher positiv auf die schulphilosophische und poetologische Debatte Bezug nimmt. Es galt auszumachen, was er mit allen gemein hat, dann aber auf andere, eigene Art entwickelt. 128 1. Ein erstes Moment des Anschauungsbegriffs konnte daran festgemacht werden, daß der Vorstellungsart der Anschauung ein unmittelbarer Gegenstandsbezug zugeschrieben wird. Die Sache selbst wird 126 Zum Äußerungs- bzw. Kommunikationscharakter darstellenden Handelns vgl. Reden 12. 68.181. 190.196. 220-222. 227; Monologen 19. 24. 27. 47. 49. 118f. 129. Hierauf wird im Zusammenhang der Thematisierung von Bildung und Menschheit als Konkretion religiöser Anschauung zurückzukommen sein. S. u. S. 327ff. 127 Schelling schert in seiner Ich-Schrift in gewisser Weise aus diesem Konsens aus. 128 Dieses Vorgehen nimmt also methodisch Schleiermachers Grundgedanken in Anspruch, Individualität nicht an exklusiven Merkmalen, sondern an der Art ihrer Beziehung festzumachen. Zum Individualitätsbegriff im Kontext der Menschheit bzw. der diversen Religionen s. u. S. 330ff. 392ff.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

in „anschauender Erkenntnis" vermittels der Sinne oder Einbildungskraft vorgestellt, eine Vermittlung durch Zeichen findet hier nicht statt (Wolff) oder tritt in den Hintergrund (Baumgarten, Meier). Nach Baumgartens Aufwertung der sinnlich-ästhetischen Momente des Vorstellens, die auch eine Aufwertung der Anschauung mit sich führt, tritt in der Genie-Debatte die Berufung auf die „anschauende Erkenntis" vollends in den Vordergrund, um ein Gegengewicht zu bilden gegen die (jedenfalls unterstellte) Tendenz der Schulphilosophie, Gegenstandsfülle zugunsten begrifflich-logischer Distinktion zu vernachlässigen. Um die „Sache selbst", nicht um „trockene Zeichen" geht es dem Genie und soll es auch der wahren Weltweisheit gehen (M. Resewitz). Schleiermachers religiöser Anschauungsbegriff wird sich als konkretionsgesättigt zeigen. Es ist dabei dennoch von entscheidender Bedeutung, inwiefern er dabei religiöse Anschauung von sinnlicher Anschauung konkreter Dinge zu differenzieren vermag. Die Konkretion erwächst der religiösen Anschauung durch den Bezug auf die sinnliche. 2. Kants Zweistämmigkeitsthese liest sich vor diesem Hintergrund wie ein Integrationsprojekt zweier divergierender Debattenpositionen. Wenn er Anschauung und Begriffe als für Erkenntnis konstitutiv aufweist, bringt er den antirationalistischen Affekt wieder ins Lot, ohne dabei aber das Wahrheitsmoment des in der Geniedebatte Verhandelten, die basale Funktion der Anschauung für jegliche Erkenntnis preiszugeben. Zugleich weist Kant dem Anschauungsvermögen aber seine kritischen Grenzen an. Anschauung, wenigstens menschliche Anschauung, ist immer sinnliche Anschauung, worin uns Gegenstände gegeben werden. Was darüber hinaus will, ist im Begriff „intellektueller Anschauung" oder eines „anschauenden Verstandes" zwar als Grenzbegriff denkbar, hat aber in der Struktur unseres menschlichen Bewußtseins keinen Anhalt. Schleiermacher wird diesen von Kant gesetzten Rahmen auch in den ,Reden' nicht verlassen. Seine religiöse Anschauung wird er auf der einen Seite von Erkenntnis, auf der anderen Seite von einer überschwenglichen intellektuellen Anschauung im Sinne Kants abzugrenzen versuchen. Hier wird sich der Bezug auf die konkrete sinnliche Gehaltlichkeit als wichtiges Element herausstellen. Vor diesen Alternativen kann sein Bemühen verstanden werden, die Reflexion auf die Grenzen menschlichen Anschauens und das darin implizierte gedankliche Transzendieren dieser Grenzen für ein tieferes, religiöses Verständnis sinnlicher Anschauung fruchtbar zu machen. 3. In Absicht einer Überbietung von Kants Begrenzimg auf nur sinnliche Anschauung entwickelt Schelling eine Theorie „intellektualer Anschauung". Dieser Begriff dient als Kernbestimmimg des Versuchs, den transzendentalphilophischen Ansatz absolutheitstheoretisch zu fundieren. Der Titel seiner frühen Schrift ,Vom Ich als Princip der Philosophie'

1. Die zeitgenössische Debattenlage

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verrät zugleich Ort und Funktion der intellektualen Anschauung. Zu deren Bestimmung greift Schelling in eminentem Maße auf spinozanische Gedanken zurück. Intellektuale Anschauung als Seinsform des absoluten Ich trägt die Züge der causa sui Spinozas in einer ich-theoretischen Variation. Mit der causa sui hat sie aber gemein, daß sie weder gewußt, noch überhaupt vorgestellt werden kann, weil sie sich jeder Differenz von Subjekt und Objekt, welche im Vorstellen vorausgesetzt wird, entzieht. Intellektuale Anschauung beim frühen Schelling erweist sich so als immer vorauszusetzende absolute Selbsthabe des Ich, ohne dabei einen Für-Bezug aufzuweisen oder Bewußtsein von etwas zu sein. Schleiermacher teilt mit Schelling offenbar das Anliegen, eine absolutheitstheoretische Dimension in den Anschauungsbegriff hineinzubringen. Dafür steht der Begriff des Universums. Aber Schleiermacher teilt mit Schelling nicht die Position, den Anschauungsbegriff aus dem Gegenstandsbezug herauszunehmen und ihn für eine ungegenständliche Selbsthabe des absoluten Ich zu reservieren. Bei Schelling legt sich Anschauung klar in sinnliche und intellektuale Anschauung auseinander als Differenz von gegenständlicher und absoluter Anschauung. Schleiermachers religiöser Anschauungsbegriff steht demgegenüber in gewisser Weise für den Versuch einer Verbindung beider Dimensionen. 4. Die verwickelte Debatte um den Anschauungsbegriff ist etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mit einer nicht weniger komplexen Debatte um den Begriff der Darstellung verbunden. Darstellung erscheint bereits beim Baumgartenschüler Resewitz um 1759/60 als das Komplement zu anschauender Erkenntnis. Nur das, was im Medium der Sinne oder der Einbildungskraft dargestellt wurde, kann anschauend erkannt werden. Abstrakte Begriffe müssen im Darstellungsvollzug allererst sinnlich konkretisiert werden, damit das Allgemeine des Begriffs am realen, besonderen Gegenstand auch anschauend erkannt werden kann. Der Darstellungsakt gewinnt neben dieser Richtung vom Allgemeinen des Begriffs zum Besonderen der Anschauung auch Bedeutung in intersubjektiver Perspektive. Was der eine darstellt, kann von einem anderen angeschaut werden. An diese intersubjektive Dimension knüpft sich die ganze rhetorisch-poetologische Debatte um den Darstellungsbegriff, der mit Klopstock und Bürger als Vertiefung des Mimesis-Ideals gegenüber dem Nachahmungsparadigma favorisiert wird. Schleiermacher wird in den frühromantischen Werken sowohl als in seiner Kulturphilosophie, der philosophischen Ethik', diese an die Polarität von Aufnehmen und Äußern geknüpfte Dimension des Darstellungsbegriffes im Sinne eines „darstellenden Handelns" fortführen. Für die Religionstheorie der ,Reden' hat sie insofern Bedeutung, als auch die Religion als Moment des Humanum an jener Polarität teilhat. Hieraus entwickelt Schleiermacher dann die kommunikationstheoretischen und

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ΓΠ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

geschichtsphilosophischen Leitlinien, die in seiner Idee einer universalen Kirche aller Zeiten zusammenlaufen. 129 Ganz abgesehen von der intersubjektiven Dimension hat die Funktion des Darstellens als des Anschaubarmachens einer abstrakten Vorstellung durch eine andere konkretere Vorstellung eminente Bedeutung für die Sicherung der Sachhaltigkeit begrifflicher Vorstellungen. Kant nimmt den Darstellungsbegriff in diesem und man kann sagen, beinahe ausschließlich in diesem Sinne auf und exponiert ihn, zwar terminologisch unauffällig, aber an systematisch gesehen desto entscheidenderer Stelle. Für Kant zeigt sich nämlich das Problem gegenüber der Wolff-Schule wesentlich radikaler, weil er den nur graduellen Übergang von Begriffsallgemeinheit lind Anschauungskonkretion zu einem erkenntnistheoreischen Hiatus von Verstand und Sinnlichkeit verschärft hat. Darstellungsakte der Einbildungskraft übernehmen die Funktion einer „Versinnlichung" von Verstandesbegriffen. Das gilt für empirische und mathematische Begriffe, Kategorien und Vernunftideen gleichermaßen. Während aber in der mathematischen „Konstruktion" - Darstellung von reinen Begriffen a priori - der Bezug auf Anschauung durch deren reine Formen ermöglicht ist, ergibt sich die Schwierigkeit insbesondere bei den Vernunftideen, welche geradezu dadurch definiert sind, daß ihnen prinzipiell keine Anschauung adäquat sein kann. Die ,Kritik der Urteilskraft' unterscheidet deshalb zwischen „schematischer Darstellung" und „symbolischer Darstellung". Während in schematischer Darstellung etwas als etwas bestimmt prädiziert wird, ist in symbolischen Darstellungsvollzügen nur ein Analogieverhältnis zwischen Begriff und Anschauung vorgestellt. Die „ästhetische Idee" als prägnante, unendliche Verweisungsräume öffnende Anschauung kann so nach Kant als symbolische Darstellung der praktischen Vernunftidee des „Sittlichguten" dienen, weil die Bedingungen ihrer jeweiligen Erzeugung im Subjekt analoge Strukturen aufweisen. Die als „Darstellung" gefaßte innersubjektive Einbildung einer ästhetischen Idee unterscheidet Kant von deren „Ausdruck" als Äußerung und gestaltender Mediatisierung etwa in bildender Kunst und Poesie. Inwiefern Schleiermacher den Kantischen Begriff symbolischer Darstellung als indirekter Realisierung von Vernunftideen oder anders gesagt: grenzbegrifflich nur gedachter Vorstellungen in seinem Religionsbegriff aufnimmt und inwiefern er dabei eine eigentümliche Transformation dieses Modells vornimmt, wird sich erst aus der Rekonstruktion des religiösen Anschauungsbegriffs der ,Reden' ergeben. Dem wenden wir uns nun im folgenden Kapitel zu.

129 Siehe dazu unten Kapitel ΠΙ 3, S. 381ff.

2. Das spinozistische Fundament

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2. Das spinozistische Fundament des Religionsbegriffs Der Begriff der Darstellung spielte in der Debattenlandschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie wir gesehen haben, in mehreren Feldern eine Rolle. Am auffälligsten ist zunächst seine prominente Stellung in der ästhetisch-poetologischen Debatte. Hier löst er das Nachahmungsparadigma ab und dient zur Betonung der Eigenleistung des kunstschaffenden Subjekts. Auf dieser Linie ist der Darstellungsbegriff eng mit dem Genie-Ideal der Zeit verbunden. Genie zu haben ist das Vermögen, etwas für die sinnlich-unmittelbare, anschauende Erkenntnis darzustellen. Wie der Darstellungsbegriff auf diese Weise mit dem Anschauungsbegriff korreliert ist, so zeigt sich dasselbe Zusammen beider Begriffe sodann in einem ganz anderen Feld, nämlich in der mathematischen und vor allem geometrischen Konstruktion. Darstellung ist genus proximum von genetischer Konstruktion - so exponiert Immanuel Kant den Begriff in seiner ersten Kritik. Ein Begriff wird dargestellt durch eine ihm korrespondierende sinnliche Vorstellung, d. h. durch eine Anschauung. Konstruierende Darstellung in der Mathematik ergibt dabei sinnliche Bilder nicht auf direktem Wege, sondern gibt die Regel ihrer Bildung an. In der dritten Kritik gibt Kant schließlich den Impuls für eine großartige Karriere des Begriffs,130 indem er zur Frage Anlaß gibt, ob und gegebenenfalls wie eine „Darstellung des Undarstellbaren" 131 möglich sei. Gemeint ist bei Kant die Möglichkeit der „Versinnlichung" einer Vernunftidee, welche per definitionem sinnliche Anschauimg ausschließt. Kants Lösungsweg in der,Kritik der Urteilskraft' ist es dann, über die Analogizität ihrer Bildimg die „ästhetische Idee" als eine der Vernunftidee - symbolisch korrespondierende Anschauung vorzuschlagen. Auch Schleiermacher ist in gewisser Weise mit dem Problem einer Darstellung des Undarstellbaren befaßt. Die Frage, die ihn als Frage der Religion umtreibt, ist, wie man der „Gottheit", des „Ewigen", des „Unendlichen", mit einem Wort: des „Universums" als gleichsam übersinnlichen Gegenstands „sinnlich" gewahr werden könne. Einen „Sinn fürs Unendliche" anzunehmen ist dabei nichts weiter als die vermögenstheoretische Lokalisierung eines tiefgehenden Problems. Die Annahme eines solchen Sinnes fürs Unendliche impliziert dessen spezifische Eigenart und macht natürlich eine Abgrenzung von den anderen, den „sinnlichen" bzw. organischen Sinnen und eine Verhältnisbestimmimg zu denjenigen Anschauungen erforderlich, welche uns durch die bekannten Sinnesorgane vermittelt werden. Dies ist eine verwickelte Frage, vielleicht die Frage 130 Zur Wirkungsgeschichte bei Reinhold, Schulze, Fichte, Novalis und Kleist vgl. Μ. B. Helfer: The retreat of representation (1996), S. 51-174. 131 Vgl. Α. ν. Bormann: Der Töne Licht (1987), S. 198. So lautet auch der Titel der Dissertation von P. Bahr (2004).

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der ,Reden'

an Schleiermachers frühen Religionsbegriff, die auch die Forschung mit immer neuen Interpretationsversuchen nicht zur Ruhe kommen läßt. Den Zusammenhang und das Verhältnis von sinnlicher und religiöser Anschauung zu eruieren erscheint zunächst als ein bewußtseinstheoretisches Problem. Die bekannten Fragen, ob die religiöse Erfahrung eher den Einschlag der Passivität habe oder ob aktivische Komponenten dabei überwiegen bzw. ob sie infolgedessen eher als ein Erleben oder ein spontaner Vollzug zu werten sei, sind deshalb so schwer zu beanworten, weil Schleiermacher in seinen ,Reden' Andeutungen in beide Richtungen macht, ohne hierzu letztgültig Stellung zu beziehen. Diese Uneindeutigkeit spiegelt die Frage wider, ob eine Anschauving von etwas Übersinnlichem nicht notwendig eine andere Vollzugsform haben müsse als ihr Pendant, in welcher sinnliche Gegenstände aufgefaßt werden. Gleichwohl darf dabei ihr Anschauungscharakter nicht verloren gehen, der sie - jedenfalls im Kantischen Horizont - von begrifflichen Vorstellungen abgrenzt. Indessen ist die gerade eben geäußerte Unterstellung, Schleiermachers Anschauung des Universums sei eine Vorstellung des Übersinnlichen in intentione recta keineswegs ausgemacht. Schleiermacher präsentiert uns in seiner zweiten Rede „einige der hervorstechenden Anschauungen der Religion auf dem Gebiet der Natur und der Menschheit" (Reden 104) und er bemüht sich, seinen allgemeinen Religionsbegriff so konkret wie möglich zu machen. Darüber hinaus wird er nicht müde zu betonen, daß religiöses Anschauen ein Anschauen des Universums „im Endlichen und Einzelnen" sei. Endlich-einzelnes kann aber Gegenstand sinnlichen Anschauens sein und das bedeutet, daß „Universum" von Schleiermacher als eine Größe verstanden wird, welche einerseits sinnlich erfahrbar ist, aber andererseits in dem von den Sinnen uns Gegebenen allein nicht aufgeht. Der Universumsbegriff gibt damit mindestens ebenso schwierige Rätsel auf wie die Verhältnisbestimmung von religiöser und sinnlicher Anschauung. Aber ich denke, vom Universumsbegriff lassen sich die Charakteristika des Begriffs religiöser Anschauung her verstehen. Ich will des Weiteren vorschlagen, „die Sache einmal beim andern Ende zu ergreifen" und nicht mit der Erörterung des Anschauungsbegriffs, nach seinen allgemeinen Momenten und seiner sinnlichen und religiösen Variante zu beginnen, sondern Schleiermachers Religionsbegriff von einer Analyse des Universumsbegriffs her zu rekonstruieren. 132 Die Schwierigkeiten der Interpretation des religiösen Anschauungsbegriffs lassen sich bei diesem Vorgehen von den im Religionsbegriff der,Reden' 132 Die Anregung zu diesem Verfahren verdanke ich (über Umwegen) Claus-Dieter Osthövener (Halle, jetzt Wuppertal).

2. Das spinozistische Fundament

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implizierten133 und in erster Linie mit dem Universumsbegriff verbundenen metaphysischen Optionen Schleiermachers her verständlich machen. Diese mit dem Universumsbegriff verbundene implizite Metaphysik läßt sich dann ihrerseits vor dem Hintergrund des in den Spinozamanuskripten Dargelegten interpretieren. Und zwar zunächst, ohne die komplizierte transzendentalphilosophische Transformation der spinozistischen Metaphysik durch Schleiermacher berücksichtigen zu müssen. An der kritisch-idealistischen Grundeinstellung, die sich, wie gesehen, in den frühen Manuskripten manifestiert, hält Schleiermacher m.E. auch in den Reden fest. Es muß also hier ausdrücklich betont werden, daß mein methodisches Vorziehen der Rekonstruktion der Strukturen des Universumsbegriffs keineswegs darauf zielt, dem Schleiermacher der ,Reden' eine unkritische Metaphysik zu unterstellen. Es geht lediglich darum, von der idealistischen „Einklammerung" zum Zwecke der leichteren Gedankenführung vorübergehend abzusehen. Das Geltendmachen der bewußtseinstheoretischen Dimension des Religionsbegriffs wird dann einen eigenen Punkt in diesem Kapitel ausmachen (2 C). Wenn nun also beim Universumsbegriff eingesetzt werden soll, um hernach den religiösen Anschauungsbegriff besser erläutern zu können, so stellt sich sogleich eine weitere Schwierigkeit ein. Anders als bei Spinoza, wo ich ein ähnliches methodisches Vorgehen für geraten hielt, nämlich die dritte Erkenntnisart von der Struktur ihres Gegenstandes her zu verstehen, ist es bei Schleiermacher nicht möglich, gleichsam aus den ersten Bestimmungen den Universumsbegriff herzuleiten, weil er solche Bestimmungen schlicht und einfach nicht gibt. Seine ,Reden' breiten sein Religionsverständnis vor den lesenden Zuhörern nach allen Seiten aus und diese literarische Form bringt es mit sich, daß - trotz einer durchdachten Gliederung - kein strenger Beweisgang dem Text zugrunde liegt. Der literarischen Form entspricht dabei Schleiermachers Überzeugimg, ein Begriff müsse aus den Phänomenen, welche er zu beschreiben sucht, erhoben werden und an diesen Phänomenen im Nachgang wiederum seine Bewährung finden. Dem Religionsbegriff, den er zu Beginn der zweiten Rede exponiert und erläutert, gibt er Konkretionen bei, welche jene Bewährung des Begriffs leisten sollen, die ihn erst plausibel machen und die Leser von seiner Funktion überzeugen sollen, Religion als Phänomen wirklich zu erschließen. Wenn dem so ist, so müßte es für den Interpreten möglich sein, aus jenen gegebenen Konkretionen den allgemeinen Begriff oder jedenfalls Momente des allgemeinen Begriffs zu eruieren. Schleiermacher gibt diese Konkretionen ja gerade, nicht um den Begriff zu erläutern, sondern um ihn vielmehr anschaulich vor Augen zu führen. 134 133 P. Grove spricht von einer „impliziten Metaphysik" (Deutungen [2004], S. 343). 134 Dies begründet er damit, daß das Analysieren der Aufbaumomente der Religion nicht

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

Bevor also der Universumsbegriff selbst thematisch werden kann, sollen in diesem Kapitel Aufbaumomente desselben aus der Analyse der Konkretionen religiöser Anschauung in der Betrachtung von „Natur" und „Menschheit" herausgearbeitet werden (2 A). Ich werde anhand des wichtigen Theorems „Darstellung des Universums" zu zeigen versuchen, daß die Grundfigur des Universumsgedankens in der Verbindung eines hervorgehobenen Individualitätsbegriffs mit einem Totalitätskonzept liegt (2 B). Sie zeigt sich auch als organisierendes Prinzip für die in Natur und Menschheit ausgemachten Strukturen. Schleiermacher setzt damit ein Programm fort, das er in seinen frühen Spinozastudien ins Auge gefaßt hatte. Durch alle Vermittlungswege hindurch steht Spinoza so Pate für diesen Zentralbegriff der Reden. Wie wir im zweiten Teil dieser Arbeit gesehen und ausführlich dargelegt haben, steht aus Schleiermachers Sicht diese Rückbindung an spinozanische Grundeinsichten einer kritisch-idealistischen Position in keiner Weise entgegen. Vielmehr bringen die konsequent weitergeführten Grundsätze Spinozas Schleiermacher auf eine transzendentalphilosophische Wendung oder, wenn man so will: auf einen kritischen Spinozismus. Diese kritische Wendung setzt Schleiermacher in den,Reden' überall voraus. Das gilt es in einem dritten Abschnitt zu zeigen (2 C). Es wird dort um die erkenntniskritische Reformulierung des zunächst metaphysisch vorgetragenen Theorems der Darstellung des Universums gehen. In diesem Zusammenhang ist die Bestimmung des Verhältnisses von sinnlicher und religiöser Anschauung ebenso geboten wie eine abschließende Charakterisierung von Schleiermachers Begriff religiösen Anschauens.

A. Konkretionssphären des Universums Schleiermacher führt in seiner zweiten Rede nach eigenen Angaben „einige der hervorstechenden Anschauungen der Religion auf dem Gebiet der Natur und der Menschheit" (Reden 104) vor. Diese sind als Konkretionen religiöser Einstellung zugleich Konkretionen des Universums als der in diesen religiösen Akten - auf welcher Stufe der Konkretion auch immer - zugrundegelegten Leitidee. Wenn nun also die beiden Sphären „Natur" und „Menschheit" in Blick genommen werden, kommt es darauf zu dem gewünschten Effekt führen kann, die Leser selbst zu eigener religiöser Bildung anzuregen. Vgl. Reden 77: „Die Erzeugniße der lebenden Natur aus ihren getrennten Bestandtheilen zu restituieren, daran scheitert jede menschliche Natur, und so wird es Euch mit der Religion nicht gelingen, wenn Ihr Euch ihre einzelnen Elemente auch noch so vollkommen von außen an und eingebildet habt; von innen muß sie hervorgehen". Die Stelle bildet den Übergang zur Thematisierung der Konkretionen religiöser Anschauungen.

2. Das spinozistische Fundament

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an, jeweils die in deren Betrachtung eingebetteten Strukturen herauszuarbeiten. Diese Strukturen können uns, sofern sie in Natur und Menschheit sich als äquivalent herausstellen, Hinweise geben für die Rekonstruktion der Aufbaumomente des Universumsbegriffs selbst.

I. Individualität und Einheit in der äußeren Natur Wenn Schleiermacher von der „äußeren Natur" als nur vom „äußersten Vorhof" des Tempels der Religion spricht und sich damit von einer ausschließlichen Naturverehrung etwa Goethes135 oder auch der Naturphilosophie Schellings absetzt,136 welche die Natur für den „ersten und vornehmsten Tempel der Gottheit" (Reden 78) halten, so heißt das nicht, daß die ,Reden über die Religion' einer Geringschätzung der Natur das Wort reden würden. 137 Das Bild vom „äußersten Vorhof" und vom „innersten Heiligtum" hat vielmehr zum einen die rhetorische Funktion, den Spannungsbogen hin zur Thematisierung der Menschheit zu steigern. Zum anderen hat es seinen sachlichen Bezugspunkt in der besseren Anknüpfungsfähigkeit der gebildeten Adressaten des Redners an die Ausprägung von Religion auf dem Gebiet der Menschheit.138 Innerhalb der Beschreibung der möglichen Zugangsweisen zur Natur (Reden 78-87), gibt es wiederum einen Spannungsbogen von drei Varianten einer angeblich religionsaffinen Naturansicht hin zu Schleiermachers in sich wiederum dreigeteiltem Vorschlag einer Naturansicht, die, jedenfalls in ihrer höchsten Form, zur religiösen Anschauung geeignet sei. Womit sich Schleiermacher auseinandersetzt, ist zunächst die affektive Bezogenheit auf Naturereignisse in Furcht und Freude, sodann die verfeinerte Form derselben, welche sich im 18. Jahrhundert als ästhetisierende 135 Vgl. die Hinweise bei K. Cramer: „Anschauung des Universums" (2000), S. 119. 135138; E. Förster: Bedeutung von §§ 76,77 der Kritik der Urteilskraft (2002), S. 180-190. 136 Vgl. Schellings Reaktion auf die ,Reden' in seinem Gedicht: „Epikurisch Glaubensbekenntniß Heinz Widerporstens" von November 1799 (1999). Vgl. dazu K. Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik (1986), S. 224-226. 137 W. Dilthey summiert diese Passagen der Anschauung des Universums in der Natur lediglich auf, ohne ihnen aber eine weitergehende Bedeutung zuzumessen (Leben Schleiermachers I [1870/1991], S. 310f. 387f/ 327. 404f). In Nowaks Darstellung werden sie mit Verweis auf den „Vorhof"-Charakter einfach übergangen. Vgl. Schleiermacher und die Frühromantik (1986), S. 167. 227. 138 Vgl. Reden 79. 81. 89. 307. In der zweiten Auflage von 1806 korrigiert Schleiermacher entsprechend den Eindruck einer Geringschätzung der Natur in ihrer Bedeutung für die Religion: „Und zwar folget mir zuerst zur äußeren Natur, welche von so Vielen für den ersten oder einzigen Tempel der Gottheit, und vermöge ihrer eigenthümlichen Art das Gemüth zu berühren für das innerste Heiligtum der Religion gehalten wird, jetzt aber, wiewol sie mehr sein sollte, fast nur der Vorhof derselben ist" (Reden 2 llOf, Hhg. C.E.).

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Naturpoesie 139 herausgebildet hatte. Die Naturbegeisterung stand in Blüte, das läßt sich heute noch an den in dieser Zeit angelegten künstlichen Wildnissen ,englischer' Gärten ablesen. Das kontemplative Erleben der Natur, welches die Dichter besangen, und die Empfindungen, die dabei eine Hauptrolle spielten, all das will Schleiermacher ebensowenig zur Religion gerechnet sehen wie schließlich auch das Gefühl der Ehrfurcht, das sich im Menschen breitmacht angesichts der überwältigenden Ausmaße der Natur. Schleiermachers Argument läuft in allen drei Fällen auf dasselbe hinaus: Man heftet sich an die sinnliche Auffassung zufälliger Ereignisse und deren subjektiven Reflex im Gefühl, ohne einen Blick für einen größeren Zusammenhang, für das „Ganze" 140 und die dabei mitschwingende Empfindung zu bekommen. Auch die zuletztgenannte Ehrfurcht vor der unabsehlichen Größe des Naturraums wird als sensualistisch fixierte Ansicht entlarvt. Die metrisch unerfaßliche Unendlichkeit der Natur spiegelt bloß die Beschränktheit der menschlichen Sinne wider. 141 Das ausschließliche Bezogensein auf die sinnliche Affektion in der Naturbetrachtung kann nur entschränkt werden durch eine Ansicht natürlicher Dinge in ihrem Eingebundensein in Naturgesetze (Reden 8287), was „in der That den religiösen Sinn anspricht" (Reden 82). Schleiermacher differenziert hier drei Arten von Naturgesetzen und gibt damit einiges über seine Vorstellungen einer naturwissenschaftlichen Leitdisziplin zu verstehen. Zugleich, und darauf kommt es uns hier an, kann aus der durch die Gesetze ausgedrückten Struktur Rückschluß gewonnen werden darauf, welche Momente in der Naturbetrachtung in Schleiermachers Sicht ein religiöses Verständnis möglich machen. Werden Begebenheiten in der äußeren Natur in der Perspektive eines Naturgesetzes betrachtet, so erscheinen sie nicht mehr nur in ihrer sinnlichen Wahrnehmungsgestalt, sondern als Moment eines umfassenden Zusammenhangs, der durch die Gültigkeitssphäre der Gesetze umschrieben ist. Indem ein Sachverhalt als durchwaltet von diesen Gesetzen gesehen wird, verliert er den Charakter einer zufälligen Erscheinung in dem Maße, in welchem er Ausdruck dieser Gesetze ist. Das Moment ih139 Vgl. P. Bahr: Darstellung (2004), S. 208-213. 140 „Was ist jenes zarte Spiel der Farben, das Euer Auge in allen Erscheinungen des Firmaments ergözt [...]. Was ist es, nicht in Eurem Auge sondern in und fürs Universum? denn so müßtet ihr doch fragen, wenn es etwas sein soll für Euere Religion. Es verschwindet als ein zufälliger Schein [... ] wenn Ihr diese Dinge im Ganzen ansehn wollt." (Reden 80f, Hhg. C.E.). 141 Vgl. Reden 82: „Die Unfähigkeit Euerer Sinne kann nicht der Stolz Eures Geistes sein, und was macht sich der Geist aus Zahlen und Größen", vgl. auch Reden 125: „[I]ch verachte in der Religion nichts so sehr als die Zahl". Im Zusammenhang der 3. Rede gewinnt Schleiermacher diesem Negieren der Sinnlichkeit immerhin einen positiven Aspekt ab, indem „das Unermeßliche der sinnlichen Anschauung [... ] doch auch eine Hindeutung wenigstens auf eine andere und höhere Unendlichkeit"(Reden 154) sei.

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rer Gesetzmäßigkeit verleiht einer in anderen Hinsichten zufälligen Begebenheit Notwendigkeit und Unwandelbarkeit.142 Nun ist es aber von Bedeutung, welche Naturgesetze Schleiermacher hier heranzieht und wie folglich die Beziehung von Sachverhalten auf diese Gesetze bestimmt wird. Schleiermacher unterscheidet drei Stufen, die ausgehend von einer Orientierung am äußerlichen Wahrnehmen zu einem immer weiter ins Innere der Naturprozesse vordringenden Verständnis schreiten. Schematisch gesprochen sind diese Stufen bezogen auf eine mechanische, organische und dynamische143 Naturgesetzlichkeit in dem, was wir heute Physik, Biologie und Chemie nennen würden.144 Die mechanische Betrachtung kann nur die gleichbleibende Ordnung der Natur in Gesetzen festhalten. Die Gesetze sind als generalisierte Allgemeinheiten abstrahiert aus den Ereignissen der dem Menschen überschaubaren Sphäre. Wenn daher ein Sachverhalt in Bezug auf die Bewegungsgesetze betrachtet wird, geschieht diese Beziehung durch einen Akt der Subsumtion. Die Beschränktheit dieser Ansicht liegt darin, daß Ereignisse im Horizont dieser Gesetze nur nach einem allgemeinen Aspekt der uns überschaubaren Sphäre beschrieben werden können und so zwar in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Weder an jenen Sachverhalten selbst, noch an der von den Gesetzen umschriebenen Sphäre kann jedoch die Eigenart und Differenz zu anderen Sachverhalten bzw. zu Sphären anderer Gesetzlichkeit in den Blick kommen.145 In diesem Kontext verweist Schleiermacher auf die Unregelmäßigkeiten („Revolutionen" und „Perturbationen"), die auf einen Zusammenhang jener Sphäre mit anderen in einer „höheren Einheit" (Reden 84) deuten. Das Gesichtsfeld und damit die Gültigkeit der dem höheren Standpunkt angepaßten Gesetze kann zwar iterativ erweitert werden. Dies sind aber nur Annäherungen an einen unnerreichbaren ,,höchste[n]" Standpunkt.146 Dennoch 142 Vgl. Reden 82: „Erhebt Euch zu dem Bilk wie diese [sc. Gesetze] alles umfaßen [... ] und dann sagt, ob Ihr nicht anschaut [... ] die ewige Unwandelbarkeit der Welt." 143 Diese Dreiheit wird später in der Philosophischen Ethik zur Grundgliederung der spekulativen Naturwissenschaft gemacht. Vgl. PhE (1816/17), § 116, 552f. 556f. Vgl. dazu auch W. Dilthey: Leben Schleiermachers Π (1966), S. 459. Die Dreigliederung von mechanisch-chemisch-organisch ist Gemeingut der Frühromantiker. Vgl. dazu P. Kapitza: Frühromantische "Öieorie der Mischung (1968), S. 162-175. 144 Schleiermacher gebraucht den Terminus Physik meist zur Bezeichnung von spekulativer Naturwissenschaft überhaupt. Vgl. Reden 172. Im späteren System steht sie als solche der Ethik gegenüber. Vgl. Brouiüon 79. 80. 86; PhE (1812/13) 248f; (1816/17) 496. 535-537. 557; DialM (1814/15), § 58, 84; § 197,133; DialN (1818/19), 221. Von Biologie spricht er m. W. gar nicht, Chemie ist ihm eine gebräuchliche Disziplinenbezeichnung. Dazu Näheres im Folgenden. 145 Reden 84: „muß es neben der allgemeinen Tendenz zur Ordnung und Harmonie nothwendig im Einzelnen Verhältniße geben, die sich aus ihm selbst nicht völlig verstehen laßen." 146 Vgl. die späteren Überlegungen Schleiermachers in der Rezension von Schellings M e thode des akademischen Studiums' von 1804: „wenn wir auf diese Art ein Bewegungs-

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eignet der mechanischen Naturansicht insofern eine Möglichkeit, die Unendlichkeitsdimension der Welt zu „ahnden". Indem unser abstrahierender Verstand ein Allgemeines nur am Einzelnen aufzusuchen vermag, wird durch die Abweichungen von den Gesetzen die Endlichkeit unseres abstrahierenden Verstandes und demzufolge die nur partielle Gültigkeit der von ihm postulierten Gesetze deutlich. Durch das Bewußtsein, daß die aufgestellten Naturgesetze an den endlichen Bezugsrahmen unserer Wahrnehmung und Beobachtuhng gebunden sind, wird zugleich auf eine höhere Einheit als die physikalischer Gesetzmäßigkeit verwiesen. Auf der zweiten Stufe führt Schleiermacher das biologische Gesetz der Selbsterhaltung bzw. Selbstorganisation des Lebendigen als die Struktur vielgestaltiger Aneignung einer Fülle sich selbst reproduzierender Materien an (vgl. Reden 85f). Hier tut sich eine Mannigfaltigkeit im Materialvorrat, im Stoffwechsel, in der Selbstreproduktion und in den Lebensformen auf. Wenn also ein Lebewesen unter diesem Gesetz betrachtet wird, so erscheint es in den großen Zusammenhang des Lebendigen gestellt, an welchem es lebend teilnimmt. Jedoch bleibt auch diese Betrachtung noch relativ äußerlich, insofern als hier das „innere Schiksal" (Reden 85) als die wesentliche Antriebsstruktur dieser Selbstorganisationsprozesse nicht in den Blick kommt. Hatte die Betrachtung mittels physikalischer Gesetzmäßigkeit ihre Beschränkung durch ihre Bindung an den Erschließungshorizont des Makrokosmos, so bleibt die biologische Betrachtung an der Oberfläche des Mikrokosmos. Dennoch eignet ihr ein Moment, das sie zur Erschließung des Religiösen fähig macht. Lebewesen werden im Blick auf die Selbstorganisationsgesetze nicht für sich als sinnlich bestimmter Wahrnehmungsgegenstand genommen, sondern in einen größeren Zusammenhang alles Lebendigen gestellt. Der Blick weiter hinein in den Mikrokosmos, in das „Innerste" (Reden 86) der Natur, wird durch die dynamische Betrachtving der Natur in den Gesetzen der Chemie ermöglicht. Die Chemie erscheint Schleiermacher als die naturwissenschaftliche Leitdisziplin, weil sie für belebte und unbelebte Natur gleichermaßen die Grundprinzipien anzugeben weiß. 147 gesetz für das Sonnensystem an sich gefunden hätten, so würde es doch irgendwie, wenn auch auf eine für uns gänzlich unmerkliche Weise durch den allgemeinen Zusammenhang affiziert werden; und wir werden mit Recht sagen können, es solle sich so bewegen, erleide aber bisweilen Perturbationen, und ein Gesetz, das ein vollkommener Ausdruck des Seins wäre, würden wir erst gefunden haben, wenn wir das ganze Universum auf eine Formel bringen könnten. [... ] In welchem Umfange wir sie als ein Ganzes begreifen könnten, wenn es nicht das absolute Ganze wäre, so würden wir immer nur ein Gesetz haben, nach welchem das Sein sich nicht vollkommen richtete, und die Abweichimg würde uns über jenen Umfang hinausweisen." (SWΙΠ/2, S. 411). Vgl. auch die Reflexionen zum „Erdgeist" in Gedanken V (1800-1803), Nr. 163, KGA 1/3, S. 323f; Brouillon 149. 153. 155. 175f. 147 Ähnlich Schelling in seinen,Ideen zu einer Philosophie der Natur' von 1797.

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Die „ewigen Geseze nach denen die Körper selbst gebildet und zerstört werden" findet Schleiermacher in der unumschränkt gültigen Polarität entgegengesetzter Kräfte nach dem Modell von Attraktion und Repulsion.148 Dieses in der damaligen Naturphilosophie gängige Grundmodell 149 interpretiert er aber nun individuationstheoretisch und macht es erst so für eine religiöse Betrachtung fruchtbar. Schleiermachers Auffassung dieser chemischen Gesetze nimmt genau die Überlegungen auf, die ihn in den Spinozamanuskripten beschäftigt hatten. Dort hatte er die Leibnizsche Vorstellung des Individuellen als eines Selbständigen abgelehnt zugunsten eines an Spinoza entwickelten Verständnisses von einem „endlichen" oder „relativen" Individuum. Exemplifiziert wurde Letzteres an Bewegungsrelationen von äußeren Körpern bzw. an der Säftelehre der Botanik.150 In den ,Reden' geht nun Schleiermacher über die Betrachtung von Mechanik und Botanik bzw. Biologie hinaus und findet - hier noch ganz bezogen auf den Bereich der körperlichen Natur - in den durch die Chemie beschriebenen Prozessen eine Bestätigung seiner frühen Vorstellung von Individualität. Das in die Chemie transponierte Gesetz von Attraktion und Repulsion, von überall tätiger „Neigung und Widerstreben" drückt die Struktur dynamischer Wechselwirkung aus. 151 Die „chemischen Kräfte" (Reden 86. 297) sind überall am Werk und nichts ist von ihrem Einfluß ausgenommen. Dies hat für die Auffassung von Einzelheit in der Natur Konsequenzen. Zum einen ist es eine Illusion, voneinander abgegrenzte ein148 Reden 86: „Sehet wie Neigung und Widerstreben alles bestimmt und überall ununterbrochen thätig ist"; „Liebe und Widerstreben" (Reden 87). Vgl. auch Reden 6: „[D]ie beiden Urkräfte der Natur, das durstige an sich ziehen und das rege und lebendige Selbst verbreiten". 149 Das mechanische Modell von Attraktion und Repulsion geht auf Newton zurück und wurde dann von Kant in ,Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft' von 1786 aufgegriffen und schließlich durch die Vermittlung Carl August Eschenmayers (Principia quaedam disciplinae naturalis, imprimis chemiae, ex metaphysica naturae substernenda, 1796) von Schelling in seinen,Ideen zu einer Philosophie der Natur' von 1797 zum Grundmodell seiner „Philosophie der Chemie überhaupt" (SchelW Π, S. 292) herangezogen. Vgl. dazu J. Jantzen: Eschenmayer und Schelling (1999), S. 74-77. Dieses Grundmodell, das nochmals programmatisch in der ,Allgemeinen Deduktion des dynamischen Prozesses' von 1800 formuliert ist, überträgt Schelling seit dem,System des transzendentalen Idealismus' aus demselben Jahr auch auf die geistige Sphäre. Vgl. dazu H. Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), S. 74. 81. 115. Vgl. auch den allgemeinen Überblick über die Naturforschimg der Epoche bei D. v. Engelhardt: Naturwissenschaft der Aufklärung und romantisch-idealistische Naturphilosophie (1988), S. 80-96, hier S. 91. 150 Vgl. Sp 532. 551f; KDSp 576f; dazu oben S.171ff; 271ff. 151 Der Begriff Wechselwirkung taucht in den ,Reden' nur im Zusammenhang der Beschreibung des Verhältnisses des Menschen zur Außenwelt bzw. zur menschlichen Sozialwelt auf (Reden 171.177. (193)). Auch wenn der Terminus in unserem Kontext noch nicht fällt, scheint er mir aber gerade die Pointe auch des Naturverständnisses Schleiermachers auf den Begriff zu bringen.

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fache Einheiten in der Natur zu suchen. Vielmehr sind alle körperlichen Dinge aufeinander bezogen, ihre Getrenntheit und interne Differenz ist nur eine relative: „Sehet [... ] wie alle Verschiedenheit und alle Entgegensetzimg nur scheinbar und relativ ist, und alle Individualität nur ein leerer Namen." 152 Zum anderen ist es im Gegensatz zu diesem illusionären, nur scheinbaren Begriff, man könnte sagen: von Individualität „im schlechten Sinne" 1 5 3 , die sich durch Selbständigkeit und exklusive Abgrenzung der Elemente definiert, gerade der innige Zusammenhang alles Natürlichen, der auch ein sinnvolles Verständnis von Einzelnem allererst ermöglicht. Nicht nur ist alle Entgegensetzung körperlicher Entitäten bloß relativ, sondern umgekehrt gilt auch: Jede Gleichheit ist nur relativ. Alles scheinbar Gleiche hat seine eigene Gestaltung, gerade weil es kein Einfaches, sondern eine Durchdringung verschiedenartigster, mannigfaltiger Kräfte ist: ,,[S]eht wie alles Gleiche sich in tausend verschiedene Gestalten zu verbergen und zu vertheilen strebt, und wie Ihr nirgends etwas Einfaches findet, sondern alles künstlich zusammengesezt und verschlungen" (Reden 86). Dies führt zu einem Begriff von Individualität, der aufs Engste mit der Kenntnis der dynamischen Sphäre zusammengehört, welcher das so bestimmte Einzelne angehört. Es ist bemerkenswert, daß der Individualitätsbegriff in Schleiermachers Reden - aus gutem Grund - nicht nur auf die Beschreibung der Menschheit und menschlicher Individuen beschränkt ist, sondern bereits hier im Zusammenhang von bildenden wechselwirkenden Kräften in der Natur eine erste Explikation findet. Indem Schleiermacher Individualität von Naturerscheinungen von deren Eingebundensein in eine polar strukturierte Wechselwirkungssphäre abhängig macht, setzt er zugleich voraus, daß Individualität eine Beziehungsgröße ist. Einzelheit ist immer etwas relatives. Diese Bestimmungen von Individualität präsentieren - anhand der „chemisch" gedachten polaren Aufbaugesetze von organischen und anorganischen Körpern - in augenfälliger Weise genau jenen Begriff „endlicher Individualität", der, wie wir gesehen haben, den systematischen Fluch tpunkt von Schleiermachers frühen Spinozana bildete: Das Individuum ist ein relativer Vereinigungspunkt entgegengesetzter Kräfte. Hierin stimmen ,Reden' und Spinozamanuskripte überein. In den,Reden' betrifft die Vereinigung die po152 Reden 86. Vgl. auch Reden 186: „bei soviel Übergängen giebt es auch zwischen den entferntesten Elementen kein absolutes Abstoßen, keine gänzliche Trennung. Nehmt welche Ihr wollt von diesen Maßen [sc. Massen], die sich einzeln chemisch bilden, wenn Ihr sie nicht durch irgend eine mechanische Operation gewaltsam isolirt, wird keine ein eignes Individuum sein." 153 So in Anlehnung an Schleiermachers Rede von Mystik „im schlechten Sinne", Gedanken V (1800-1803), Nr. 154, KGA1/3, S. 322.

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laren Kräfte von Attraktion und Repulsion. Der Grad, in welchem wechselseitig bezogene Anziehung und Abstoßung in einem Körper ausgebildet ist, macht sein Individuelles aus: „jedes Ding hat nur dadurch sein bestimmtes Dasein, daß es die beiden Urkräfte der Natur, das durstige an sich ziehen und das rege und lebendige Selbst verbreiten, auf eine eigenthümliche Art vereinigt und festhält." (Reden 6). Das Einzelne ist nach diesem Verständnis von Individualität seiner Bestimmtheit nach völlig abhängig von dem „ewig fortgesezte[n] Spiel entgegegesezter Kräfte" (ebd.), dessen Teilmoment es ist. 154 Es ist bezeichnend, daß Schleiermacher an dieser Stelle die Naturansicht der „ältesten Weisen der Griechen" (Reden 87) in Erinnerung ruft. Gemeint ist wohl Heraklit, dessen παντα get in Verbindung mit der Konzeption einer Vereinigung von Gegensätzen ihn durch Jacobis Bruno-Auszug mit auf seinen spinozistischen Individuenbegriff gebracht hatte. 155 Die chemischen Gesetze haben aber nun keinen anderen Inhalt, als gerade diese dynamische Wechselwirkung alles Natürlichen auf den Begriff zu bringen. Eine einzelne natürliche Begebenheit im Blick auf diese Gesetze betrachten heißt dann, es als nur einen relativen Vereinigungspunkt von Kräften im unendlichen dynamischen Zusammenhang der Natur verstehen. Gibt Schleiermacher mit den chemisch-dynamischen Gesetzen aber diejenigen Prinzipien an, nach welchen jedes natürlich-einzelne notwendig in einem Zusammenhang mit allem anderen Einzelnen steht und erst durch und in diesem Zusammenhang als Einzelnes in seiner Bestimmtheit recht verstanden werden kann, so erscheinen diese Gesetze hier in einer doppelten Funktion. Zum einen fungieren sie als Prinzipien der Bestimmtheit individueller Kräftekonstellationen, d. h. als Individuationsprinzipien. Denn erst wenn der Zusammenhang gesehen ist, kann einzelnes als einzelnes in seiner durch den Zusammenhang bedingten Bestimmtheit in den Blick kommen. Zum anderen verweisen die Gesetze damit auch auf die Abhängigkeit jedes einzelnen Vereinigungspunktes von einem als umfassend gedachten Zusammenhang. Wenn Schleiermacher über dieser Einsicht ausruft: „Das ist der Geist der Welt" (Reden 86), kündigt sich indes schon ein weiterer Aspekt an, der in dem bisher Gesagten nicht aufgeht und allerst auf die religiöse Dimension der Naturbetrachtung hinführt: „nur derjenige, [... ] der nicht nur in allen Veränderungen, sondern in allem Dasein selbst nichts findet als ein Werk dieses Geistes und eine Darstellung und Ausführung dieser Geseze, nur dem ist alles Sichtbare auch wirklich Welt, gebildet, 154 Vgl. auch Reden 172: „Spiel ihrer [sc. der Natur] Kräfte"; Reden 187: „jede einzelne Vereinigung ist nur ein fließender integrierender Teil des Ganzen". 155 S. o. S. 175ff. Das „Fließen" zwischen entgegengesetzen Bestimmungen ist auch in den ,Reden' ein stehender Ausdruck. Vgl. Reden 185.187. 226. 252.

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von der Gottheit durchdrungen und Eins." (Reden 87). Dieser komprimierte Ausdruck einer Näherbestimmving des (natürlichen) Weltbegriffs ist bemerkenswert. Schleiermacher bringt durch die drei Merkmale: „gebildet", „von der Gottheit durchdrungen" und „eins" eine Struktur auf den Begriff, die zwar hier zunächst für die Welt der Natur formuliert ist, aber zugleich, und das wird der weitere Fortgang der Untersuchung belegen, auch Schleiermachers Fassung des Menschheitsbegriffs eingeschrieben ist. Insofern wird sie dann auch für die Rekonstruktion des Universumsbegriffs herangezogen werden können. Die in jenen drei Merkmalen implizierte Struktur von Welt erschließt sich in ihrer ganzen Tragweite, wenn man sie vor dem Hintergrund von Schleiermachers Überlegungen zum Individuationsproblem im Anschluß an Spinoza liest. Das erstgenannte Merkmal - „gebildet" - führt den für die ,Reden' grundlegenden Begriff des „Bildens" bzw. der „Bildung" mit sich. Er gewinnt seine ganze Bandbreite im Zusammenhang der Menschheitsthematik iind der - wenn man so sagen darf - ,Ontogenese' der Religion und steht dort an prominenter Stelle für die aktive Entwicklung einer humanen Anlage. 156 Hier steht „gebildet" für den Charakter der Welt nicht als Anhäufung oder bloßes Aggregat von Mannigfaltigem, sondern als eine solche Sphäre, in welcher alles mit allem in einer tätigen Verbindung steht. Dafür hatte Schleiermacher die Naturansicht nach dem Modell der Chemie gepriesen, daß sie gerade die Vorstellung einer innigen Verbundenheit alles Natürlichen mit sich führt: „Nehmt welche Ihr wollt von diesen Maßen [sc. Massen], die sich einzeln chemisch bilden, wenn Ihr sie nicht durch irgend eine mechanische Operation gewaltsam isoliert, wird keine ein eignes Individuum sein: ihre äußersten Theile werden zugleich mit Andern zusammenhängen, die eigentlich schon einer andern Maße [sc. Masse] angehören." (Reden 186). Den Gedanken eines allumfassenden dynamischen Zusammenhangs hatte Schleiermacher bereits in den Spinozamanuskripten gefaßt. Durch eine Verbindung des Leibnizschen Theorems der Monadologie, wonach der Gesamtzusammenhang aller Monaden sich in den inneren Bestimmungen jeder einzelnen Monade abspiegelt, mit dem spinozanischen Substanzenmonismus ergab sich Schleiermacher eine Vorstellving von Welt, die er als „Übergang des Leibnizianismus zum Spinozismus" in Lessings Idee einer „Seele des Alls" eintrug: Welt wird hier „nach Analogie eines organischen Körpers" aufgefaßt. Die „Seele des Alls", die den „Geist der Welt" der,Reden' präludiert, ist dabei nicht als von den Teilen 156 Vgl. zu ersterem Reden 95. 103 u.ö., zu letzterem die ganze dritte Rede: „Über die Bildimg zur Religion". Auf beides werde ich noch ausführlich eingehen. Siehe zur Bildung in der Menschheit den folgenden Abschnitt, S. 327ff, zur religiösen Bildung Kap. 3, S. 381ff.

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zu unterscheidendes Steuerzentrum für die Veränderungen im Einzelnen verstanden, sondern gleichsam als ,'Totalmonade' aufgefaßt. 157 Alle einzelnen Bezüge zwischen Dingen sind in dieser Sicht nur innere Modifikationen in dem einen Ganzen. In einem Gedankenheft zu Leibniz notiert Schleiermacher einige Jahre später: „Welt der Inbegrif desjenigen [... ] was sich dynamisch afficirt" 158 und spricht auch von „dynamischer Einheit". 159 Dieser Hintergrund macht auch plausibel, warum Schleiermacher die Naturansicht nach chemischen Kräften in den ,Reden' auf die des organischen Lebens folgen läßt. Die Betrachtung einzelner Lebewesen als Organismen ist lintergeordnet, weil sie nur deren Zusammenhang, nicht aber einen sie insgesamt umgreifenden Zusammenhang ins Auge faßt. 160 Die chemisch-dynamische Auffassung stellt hingegen gleichsam ein organisches Leben höherer Ordnung dar, insofern hier die ganze Natur als ein Organismus vorgestellt wird, so daß der Zusammenhang aller körperlichen Dinge kraft der sie „bildenden" chemische Kräfte als dessen Innenleben beschreibbar wird. 161 Das zweite Merkmal charakterisiert die religiöse Ansicht der „Welt" als „von der Gottheit durchdrungen". Das aus Gerhard Teerstegens Lied ,Gott ist gegenwärtig' 162 bekannte Motiv des göttlichen Durchdrungenseins der Welt bringt hier zugleich einen spinozistischen Gedanken zur Sprache, nämlich die Immanenz göttlicher Kausalität als das in aller endlichen Wirksamkeit konstitutive Prinzip. Wäre die Welt nur „gebildet" und in dieser alle Dinge umfassenden gegenseitigen Verbundenheit ihrer Kräfte nicht zugleich „von der Gottheit durchdrungen", so wäre bloß die Bedingtheit alles Endlichen untereinander ausgesagt als Bedingtheit hinsichtlich der individuellen Be157 Vgl. Sp 532. Schleiermacher gibt so dem Leibnizschen Begriff „Zentralmonade" eine eigentümlich spinozistische Interpretation. S. dazu oben S. 163f. 158 Leibniz I (1797/98), Nr. 68, KGA 1/2, S. 95; vgl. die gleichlautende Formulierung veröffentlicht als Fragment Nr. 335 im Athenäum 1798 (KGA 1/2, S. 145). 159 Leibniz I (1797/98), Nr. 55, KGA 1/2, S. 92. 160 Im Kontext der philosophischen Ethik kann sich diese Gewichtung jedoch umkehren, weil dort der Mensch als Lebewesen im organischen Zusammenhang mit anderen Menschen zum Thema wird. Vgl. dazu die oben Anm. 143 auf S. 317 angegebenen Stellen. 161 Schon in den Spinozamanuskripten deutet Schleiermacher die Natur als organisches Ganzes: „Das Zurükziehn dieser Weltseele in sich selbst, das Vereinigen des Todes mit der Auferstehung kann ich mir nicht anders denken als als wechselndes Hervorbringen und Zerstören der organischen Teile des Umfangs" (Sp 532). In den ,Reden' heißt es dann: „ihre [sc. der Natur] chemischen Kräfte, die ewigen Gesetze nach denen die Körper selbst gebildet und zerstört werden" (Reden 86). 162 Die 6. Strophe lautet: „Du durchdringest alles;/ laß Dein schönstes Lichte,/ Herr, berühren mein Gesichte!/Wie die zarten Blumen/ willig sich entfalten/ und der Sonne stille halten:/ laß mich so/ still und froh/ deine Strahlen fassen/ und dich wirken lassen!" (G. Teerstegen, 1697-1769).

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stimmtheit. Das Einzelne als Vereinigungspunkt antagonistischer Kräfte erschiene in diesem dynamischen Zusammenhang gegenseitiger Bildung zwar als „eigen gebildet" (Reden 53), die Konstitution der hier wirkenden Kräfte käme aber nicht als solche in den Blick. Es geht hier also nicht mehr nur darum, die einzelne Begebenheit in ihrer Bezogenheit im dynamischen Zusammenhang zu verstehen, sondern gerade in der Konstitution oder Stiftung dieses Zusammenhangs selbst, der durch das „Dasein" der einzelnen Kräfte entsteht, den „Geist der Welt" am Werke zu sehen (Reden 87). Das Durchdrungensein der Welt durch die Gottheit wird in dieser Passage dadurch expliziert, daß der „Geist der Welt [... ] sich im kleinsten eben so vollkommen und sichtbar offenbart als im größten" (Reden 86); und zwar - das ist hier der wesentliche Punkt - nicht nur in den wechselnden Bestimmtheiten der Dinge, sondern in deren Existenz überhaupt. Dabei ist die Funktion aufschlußreich, die Schleiermacher den Naturgesetzen in diesem Zusammenhang zuweist: „nicht nur in allen Veränderungen, sondern in allem Dasein [... ] eine Darstellung und Ausführung dieser Geseze" zu finden, darauf kommt es an. Die hier genannte Darstellungsrelation legt sich also in zwei Aspekte auseinander. Die Gesetze fungieren einerseits als Prinzipien für die Bildung individueller Bestimmtheit durch wechselseitige Dependenz. Ihr Inhalt ist ja gerade, daß nichts in der Natur von jenem Aufeinanderwirken ausgenommen ist, nichts also nur für sich steht. Die Gesetze stecken gleichsam den Rahmen ab, innerhalb dessen es zur Bestimmtheit von Einzelnem kommt. Andererseits sollen sie, weil alles „Dasein" als ihre „Darstellung" ansehbar sein soll, zugleich Konstitutionsprinzipien für die dynamischen Relationen überhaupt sein. Durch diese doppelte Funktion der chemischen Gesetze läßt sich die Aussage, die Welt sei von der Gottheit durchdrungen, noch in einem anderen Licht sehen. Schleiermacher weist den Gesetzen, sofern durch sie Einzelnes in seiner konkreten Bestimmtheit und Existenz „dargestellt" wird, die Funktion zu, vermittelndes Medium dieser Durchdringung zu sein. Dies ist zunächst ungewöhnlich, denn Gesetze konstituieren ihrem herkömmlichen Begriff nach nicht, sondern sind allgemeine Begriffe, die Prinzipien von Invarianzen im Veränderlichen bezeichnen. Schleiermachers Gesetzesbegriff geht aber insofern über diese Beschreibung hinaus, als hier durch die Darstellungsrelation der im Gesetzesbegriff immer implizierte Einheitsaspekt angereichert wird. Die generelle Einheit eines allgemeinen Begriffs verbindet sich mit der dynamischen oder erfüllten Einheit, welche strenggenommen nicht die Gesetze selbst, sondern die durch sie zu umschreibende Sphäre betrifft. Das, wodurch die Gesetze dargestellt werden, ist die erfüllte Einheit von Individuen, die darin überein-

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kommen, daß in ihnen jene Gesetze sich manifestieren. Hier sind also zweierlei Einheitsbegriffe von einander zu unterscheiden. Daß alle Individuen in dem Merkmal übereinstimmen, „Darstellung" jener Gesetze zu sein, ist eine generelle Einheit. Die Sphäre aber aller jener Individuen als Darstellungen jener Gesetze ist eine erfüllte Einheit oder anders gesagt: ein Ganzes, dessen Teile jene Individuen ausmachen. Wenn Schleiermacher nun für den religiösen Weltbegriff zu den beiden Merkmalen „gebildet" und „durchdrungen von der Gottheit" das dritte „eins" hinzusetzt, ist klar, daß er hier die Einheit an einem Ganzen und keine abstrakte oder generelle Einheit meint. Man könnte die Sequenz geradezu in einer prinzipientheoretischen Steigerung lesen: (1) Das Sichtbare ist Darstellung der Gesetze und die durch diese Darstellung umschriebene Sphäre dynamischer Wechselwirkung ist die Bedingung für individuelle Bestimmtheit. (2) Das Konstitutionsprinzip dieser Kräfte liegt den Gesetzen, die nur die allgemeine Struktur von dynamischer Wechselbeziehung ausmachen, noch zu Grunde und ist das eigentliche Darstellungsprinzip. Die Gesetze werden durch dieses Prinzip im Einzelnen dargestellt. Die nur allgemeine Gesetzesstruktur dynamischer Wechselbeziehung erhält so kraft dieses Prinzips in den individuellen Bestimmtheiten seine konkrete Gestalten. Dieses Prinzip der konkreten Darstellung des Allgemeinen im Individuellen ist der „Geist der Welt", die „Gottheit", welche die Welt durchdringt. (3) „Eins" ist die Welt nur insofern sie durchdrungen ist von der „Gottheit". Die hier gemeinte Einheit ist also die Einheit an dem Ganzen der Welt. Die Welt, hier als die Totalität natürlich wirkender Kräfte, ist, als von jenem sie durchwaltenden Prinzip konstituiert, einerseits auf eminente Weise von diesem Prinzip abhängig und ist andererseits zugleich der Ort seiner Manifestation. Die Einheit des Ganzen ist zugleich die Einheit des jede einzelne Kraft als Kraft konstituierenden Prinzips. Eine solche dreigliedrige metaphysische Struktur hatte Schleiermacher schon in seinen frühen Aufzeichnungen zu Spinoza vorgeschwebt. Hatte er dort das Individuationsprinzip individueller Bestimmtheit hinsichtlich des spinozanischen Attributs Extensio vor allem im Totum der Bewegungsrelationen des Ausgedehnten gesehen, so diente dieses Ganze - ebenso wie hier die durch die Gesetze umschriebene oder dargestellte Sphäre - als Vermittlungsgröße einer ontologischen Inhärenzrelation, deren eines Relat die unfaßbare einfache Einheit der einen Substanz, das andere die unendlichen vielgestaltigen Bewegungsmodifikationen in endlichen Körpern waren. Der Vermittlungsbegriff des Ganzen oder der Welt ist nach beiden Seiten anschlußfähig und nur deshalb in der Lage diese Vermittlungsleistung zu gewähren. Nach seiner Einheitsdimension ist er dem Begriff der einfachen Substanz - oder hier der Gottheit - anschlußfähig, nach seiner Bestimmtheitsdimension als ein Ganzes von Tei-

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len individueller Bestimmtheit ist er dem Begriff des Endlich-Einzelnen angemessen. Es ist dieser nach beiden Seiten explizierte Weltbegriff, der das Herzstück des Schleiermacherschen Ansatzes schon in den Spinozamanuskripten ausmacht - dort als Zusammenfassung der spinozistischkritischen Erörterung des principium individuationis 163 - wie auch hier in den,Reden'. Von hieraus kann die Formel vom „Geist der Welt"164 interpretiert werden. Der natürliche Zusammenhang wechselseitiger Bestimmung durch antagonistische Kräfte wird durch sie erst in das Licht gerückt, das ihn auch für die religiöse Betrachtung aufschließt. Durch den Geistbegriff wird diesem Zusammenhang eine Einheitsdimension eingeschrieben. Der Naturzusammenhang erscheint deshalb nicht mehr nur als irgendeine Sphäre neben anderen oder als Gesamtheit einzelner Bestimmungen, sondern als ein Ganzes, als „Welt". Der Ausdruck „Geist der Welt" oder wie Schleiermacher auch sagen kann: „Weltgeist" verbindet diese beiden Aspekte von Einheit und Vielheit zur Idee einer „Einheit in der Vielheit" oder „Totalität" (Reden 128). Die natürliche „Welt" ist nur insofern als ein Ganzes oder eine Totalität anzusehen, als der im Weltbegriff implizierte unendliche Zusammenhang nach seiner Einheitsdimension verstanden wird. Der „Geist der Welt" verweist in gleicher Weise auf die Vielheits- wie auf die Einheitsdimension der als Totalität aufgefaßten Natur. Vielheit, die eine Bedeutung für ein Ganzes haben soll, bedeutet aber bereits hier im Kontext der Naturbetrachtung: Individualität. Es ist, könnte man sagen, ein schwacher Individualitätsbegriff, weil er als veränderliche, fließende Größe konzipiert ist. Aber nur so vermag Schleiermacher den Gedanken zu fassen, der ihm an Spinoza aufgegangen ist: nämlich einerseits das Individuum in eine Dependenz alles Endlichen in wechselseitiger Bezogenheit zu stellen und es andererseits als eine Manifestation von Einheit in einem Ganzen zu verstehen. Mit dem Begriffspaar „Individualität und Einheit" faßt Schleiermacher diese beiden Aspekte seiner Naturansicht zusammen (Reden 87). Erst wo Individualität auf Einheit hin und Einheit als an der Individualität verstanden wird, kann derjenige Begriff von (natürlicher) Welt erreicht werden, den Schleiermacher als „Anschauung der Welt und ihres Geistes" (Reden 78) zum Modus religiöser Erfahrung erklärt.

163 Vgl. KDSp 574: „so ist es schon eine Anmaßung, wenn wir uns anders ausdrüken, als das noumenon, die Welt als noumenon." S. dazu meine Interpretation oben S. 240ff. 164 Der Begriff „Weltgeist" spielt auch bei der religiösen Betrachtung der Menschheit eine entscheidende Rolle. S. u. S. 348ff.

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2. Bildung des Individuums in der Menschheit Der den ,Reden' wie den ,Monologen' zugrunde liegende Menschheitsbegriff ist ein hochkomplexes Gebilde.165 Metaphysische, pädagogische, individualitäts- und sozialitätstheoretische sowie geschichtsphilosophische Aspekte durchdringen sich in diesem Begriff. Es gilt, deren inneren Zusammenhang herauszuarbeiten, und dazu scheint mir der Bildungsbegriff als geeigneter Leitfaden. Er führt hin auf Schleiermachers eigentümliche Auffassung menschlicher Individualität, Sozialität und Geschichte, wie sie in ihrer Verschränkung den Menschheitsbegriff konstituieren. Diese Verbindung des Bildungs- und des Menschheitsbegriffs läßt sich ihrer Struktur nach vor dem Hintergrund von Schleiermachers Spinozarezeption verstehen. In allen drei Hinsichten, so meine These, bildet die von Spinoza inspirierte konstruktive Lösung des Individuationsproblems den Schlüssel für das Verständnis von Schleiermachers bildungstheoretischem Menschheitsbegriff. Um dies im Folgenden zu zeigen, sollen anhand des Bildimgsbegriffs die Charakteristika von Individualiät, Sozialität und Geschichte herausgearbeitet und jeweils im Lichte der Rekonstruktion der Spinozamanuskripte expliziert werden. Zur Annäherung an das Thema seien zunächst aber Schleiermachers zeitdiagnostische Abgrenzungen zum Menschheits- wie zum Bildungsbegriff genannt, um so seine eigene Konzeption im zeitgenössischen Spektrum besser einordnen zu können. In beiden Gebieten ist Schleiermachers Abgrenzung weitgehend eine Kritik an vereinseitigenden Positionen der Aufklärung. Was die Ansicht des Humanen betrifft, so sieht er diese einerseits unter der Dominanz des empirischen Verstandesgebrauchs und einer Verendlichung des Rationalen verkümmern. Der „Standpunkt des bürgerlichen Lebens" (Reden 148.150) in seinen beiden Spielarten des empirischerklärenden Weltumgangs - von Schleiermacher gebrandmarkt als „Joch des Verstehens"166 - und der utilitaristischen Zweck-Mittel-Kalkulation das „Extrem des Nüzlichen" 167 - läßt über den Fragen nach dem „Woher und Wozu" keinen Raum mehr für die nach dem „Was und Wie" (Reden 149). Die ausschließliche Konzentration auf Ursachen- und Zweckreflexion impliziert eine Auffassung des Menschen, die im bloß empiri165 Es ist für die Erfassung der Grundstruktur von Schleiermachers Humanitätsverständnis unerläßlich, neben den ,Reden' auch die ,Monologen' heranzuziehen. Unter dem Siglum: Monologen verweise ich auf die Paginierung der Erstauflage von 1800 nach KGA1/3, S. 3-61. 166 Reden 147. 144. Dieser Ausdruck bedeutet keineswegs eine Absage an die Hermeneutik. Schleiermacher polemisiert hier lediglich gegen die Auffassung, alles lasse sich empirisch begreiflich machen. Er hat, um mit einem treffenden Ausdruck Emanuel Hirschs zu sprechen, die „kahle Verständigkeit" der Aufklärung vor Augen. 167 Reden 155; vgl. Reden 16. 35f.

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sehen Selbstverständnis befangen bleibt: „immer mit selbstsüchtigen Beziehungen beschäftigt" (Reden 8), bleibt ihm der Reichtum der Humanität vorenthalten. 168 Andererseits, so Schleiermachers Kritik, wird die Humanität in der ausschließlichen Orientierving an einem spekulativen Rationalitätsmodell zu einer Sphäre steriler Gleichförmigkeit reduziert. Die ethische Idealisierung der menschlichen Natur mißt den einzelnen Menschen an einem abstrakten praktischen Vernunftideal,169 und unterwirft ihn so den Bedingungen von genereller Allgemeinheit. Gleichförmigkeit ist der Erfüllungsmodus dieses Ideals. 170 Es ist eine gleichsam mechanische Betrachtving des Humanen. 171 Schleiermacher grenzt sich also sowohl von einer einseitig empirischen als auch von einer einseitig spekulativ-rationalen Anthropologie ab. Eine Betrachtung des Humanen, die beide Gesichtspunkte vereinen, d. h. Konkretheit und Allgemeinheit verbinden soll, faßt er unter dem Begriff der „Bildung". Damit rückt er seine Auffassung des Menschen in eine pädagogische Perspektive ein, knüpft darin zugleich an die Aufklärung an, will deren überkommenes Erziehungsideal jedoch vertiefen durch den Bildungsbegriff.172 Diese Vertiefung liegt einerseits mit der an Herder und Humboldt anknüpfenden Betonung der Individualität im pädagogischen Prozeß, andererseits in der ebenfalls durch Herder und vor diesem von Lessing bereits geforderten Horizonterweiterung des Problems auf die Menschheit als Gattung in ihrer Geschichte. Schleiermacher kritisiert eine bestimmte Spielart aufklärerischer Pädagogik. Unter dem Stichwort „Erziehung" setzt er sie seiner eigenen Sicht sozusagen als negative Schablone entgegen. In den ,Reden' kommt „Erziehung" durchgehend in pejorativen Kontexten vor. Ein erstaunlicher Befund, wenn man sich den nachmaligen großen Pädagogen Schleiermacher vor Augen führt. 173 Er kritisiert die Äußerlichkeit und den Zwangs168 Vgl. die Charakterisierung der in dieser Art des Weltumgangs befangenen Humanität als „äußere Gemeinschaft der Sinnenwelt" (Monologen 84). Die Kritik an diesem Standpunkt in der Auffassung des Menschen ist analog der negativen Einschätzung einer solchen Naturbetrachtung, welche sich an einzelnen Erscheinungen festmacht, sei es affektiv, ästhetisierend oder arithmetisch-spekulativ. S. o. S. 315. 169 Vgl. Reden 8.53. 92; Monologen 38f. 51. 73. 170 Vgl. Reden 92: „einförmige Wiederholung eines höchsten Ideals"; „dieselbe Formel, nur mit andern Coeffizienten verbunden"; Reden 53: „Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begrifs". 171 Die Analogie zur bloß mechanischen Naturbetrachtung liegt darin, alles einzelne nur in der Subsumption unter Allgemeingesichtspunkte zu verstehen. Zu Schleiermacher Verständnis der mechanischen Naturauffassimg s. o. S. 317f. 172 Vgl. H. Fischer: Schleiermachers Theorie der Bildung (2001), S. 132. 146. 173 Vgl. Reden 155.163.214. Zu Schleiermacher als Pädagoge vgl. F. Schleiermacher: Texte zur Pädagogik, hg. v. M. Winkler u. J. Brachmann (2000); K. Mollenhauer: Der frühromantische Pädagoge (1985).

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Charakter des intendierten pädagogischen Prozesses, 174 der den Menschen nur als Objekt der Erziehung und also nur unter einem allgemeinen Gesichtspunkt in den Blick nimmt. Wer Erziehung so versteht, daß er anderen Menschen etwas „anbilden" 175 wollte, geht von einer äußerlichen Vermittlung von Inhalten aus. Was der eine hat, soll demnach dem anderen „übertragen" (Reden 140) werden. Ohne dessen innere Beteiligung wird dieser Prozeß jedoch zur ,,blinde[n] Nachahmung". 176 Die Individualität des Einzelnen wird nicht als konstitutiver Faktor des Erziehungsprozesses wahrgenommen 177 und die mannigfachen Beziehungen der Menschen aufeinander werden in dieser Sicht auf allgemeine Übereinstimmungen reduziert. 178 Individualität und InterSubjektivität bleiben gleichermaßen unberücksichtigt und unverstanden. Wenn Schleiermacher sein eigenes pädagogisches Programm nun unter das Leitwort der Bildimg stellt, ist damit eine neue Wertschätzung des Einzelnen verbunden. Zugleich wird der im engeren Sinne pädagogische Problemkreis hin auf eine Betrachtung des intersubjektiven Zusammenhangs der Menschen entschränkt. Individualität, Sozialität und Geschichte erscheinen in Schleiermachers Verständnis als nur mehrere Aspekte ein und desselben Prozesses. Im Folgenden soll diesen Aspekten des Bildungsbegriffs nachgegangen werden. Zuvor sei jedoch noch eine Bemerkung zum Status der Bildung als einer inneren Angelegenheit des Menschen vorangestellt. Das Innen-Außen-Schema durchzieht die,Reden' sowohl als auch die ,Monologen'. Es ist methodische Leitfigur, den gerade ins Auge gefaßten Gegenstand nicht nur seinen äußeren Eigenschaften, sondern seinem inneren Wesen nach zu explizieren.179 Dies gilt für die im Titel stehende Religion 180 nicht weniger als etwa für den Begriff der Kirche 181 oder den einer positiven Religion. 182 Die Menschheit nun in ihrem inneren Wesen 174 Vgl. Gedanken I, Nr. 40 von 1796, KGA1/2, S. 15; Fragment Nr. 329 von 1798, KGA1/2, S. 144; Monologen 54. 86.108. 175 Reden 77. 138. 141. Vgl. Reden 142. 188, wo „bilden" in diesem negativen Sinne gebraucht wird. 176 Reden 141; vgl. zur Kritik eines solchen bloß äußerlichen Nachahmens Reden 27f. 138f. 140f. 196f. 199f. 177 Vgl. Reden 90: „Ihr quält Euch an ihr [sc. der Menschheit] zu beßern und zu bilden [... ] Auf die Menschheit wollt Ihr wirken, und die Menschen die Einzelnen schaut Ihr an. [... ] Ihr nehmt die Menschen einzeln, und so habt Ihr auch ein Ideal von einem Einzelnen, dem sie aber nicht entsprechen." 178 Vgl. Reden 96. 179 Vgl. Reden 22; Monologen 13f. 19. 22. 33. 58. 63. 75f. 84f. 116f. 119. 122. 129. 138. 149f; vgl. auch Fragm. Nr. 336, KGA 1/2, S. 146: „Wer dürfte sich selbst zerlegen wie das Objekt einer anatomischen Vorlesung [...]. Das innere Leben verschwindet unter dieser Behandlung." 180 Vgl. Reden 20. 248. 181 Vgl. Reden 176. 182 Vgl. Reden 281f.

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betrachtet ist - das ist die grundlegendste Bestimmung - eine auf Geistiges sich beziehende Idee. 183 Humanität macht Schleiermacher am Geistigen fest. Der hier zugrundeliegende sehr weite Begriff des Geistes, der Intellekt wie Sinnlichkeit gleichermaßen umfaßt und auch nicht auf Geistigkeit nur des Menschen eingeschränkt ist, ist ein Aufbauelement in der kunstvollen Komposition von Schleiermachers Universumskonzept, welches Körperliches und Geistiges, Natur und Menschheit in einer höheren Einheit verbindet. Auf diese aus seiner Spinozareption hervorgegangene Konzeption wird in den nächsten Abschnitten einzugehen sein. 184 Hier soll der Geistbegriff, um den Zusammenhang von Menschheit und Bildung zu erläutern, als vorausgesetzt gelten. Festzuhalten ist dabei, daß der Blick in das Innere der Humanität den Menschen als ein geistiges Wesen versteht. In diesem Sinne ist dann auch der pointierte Begriff einer „inneren Bildung" (Monologen 104.129; Reden 95.139) zu verstehen. Schleiermachers Verständnis von Bildung der Menschheit steht auf einem geistphilosophischen Fundament. 185 Im Bildungsbegriff faßt Schleiermacher sein auf das Innere, Geistige des Menschen gerichtetes Humanitätskonzept programmatisch zusammen.

a. Der Begriff menschlicher Individualität Mit dem Bildungsbegriff ist ein eigentümliches Verständnis menschlicher Individualität verbunden. Seit Herders großen Schriften zur Geschichte der Menschheit 186 und Wilhelm von Humboldts Theoriefragment zum Bildungsbegriff von 1793 ist dieser Zusammenhang von Bildung und Individualität vorauszusetzen. Dennoch steuert Schleiermacher etwas Neues bei. In der Polarität von Anlage und Entwicklung, innerhalb deren der Bildungsprozeß angesetzt werden muß, loziert Schleiermacher die Individualität bewußt nicht aufseiten der Anlage. Menschliche Individualität besteht für ihn nicht etwa in einer Besonderheit von Anlagen, vielmehr versteht er diese als der conditio humana eingeschriebene Entwicklungsmöglichkeiten, die allen Menschen im Grunde gemeinsam sind. 187 183 Vgl. Monologen 24: „Menschheit, wer vermöchte sie zu denken, ohne sich mit dem Denken ins unermeßliche Gebiet und Wesen des reinen Geistes zu verlieren"; Reden 6: „Die Geister, sobald sie auf diese Welt verpflanzt werden [...]. Jede menschliche Seele"; Reden 7f: ,,[H]at auch jede Seele einen Teil an den beiden ursprünglichen Functionen der geistigen Natur". Vgl. auch Reden 95.102; Monologen 15-17. 184 S. dazu unten S. 359ff. 185 Vgl. U. Barth: Der ethische Individualitätsgedanke (1994), S. 323. 186 ,Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit' von 1774; ,Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit' von 1784. Vgl. dazu grundlegend W. Dobbek: J. G. Herders Humanitätsidee (1949). 187 Vgl. Reden 98. 236. Vgl. auch ThgB 62.

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Während Herder in dieser Frage kaum eindeutig festzulegen ist, 188 geht Humboldt in seinem Programm der „Ausbildung des Individuums" 1 8 9 noch von der Voraussetzung einer vorgegebenen besonderen Anlage aus, deren Entfaltving es zu fördern gelte. Individualität wäre danach bereits auf der Seite der Anlage präformiert. 190 Hingegen ist Schleiermachers Begriff von Anlage nicht individualitäts-, sondern gattungstheoretisch gemeint. Wenn das Entwickeln von Anlagen als ein Bilden „der Menschheit in sich" (Monologen 44) bezeichnet wird, wird der Begriff der Menschheit hier in einem qualitativen Sinn verstanden. 191 Es geht hier nicht um die Gattung Mensch als ein Kollektivum, sondern um deren wesentliche Beschaffenheit, die Qualität des Humanen, welche in der Gestalt von gemeinsamen Anlagen als Entwicklungsmöglichkeiten menschlichen Geisteslebens das Menschsein überhaupt ausmacht und als solches allen Menschen angeboren 192 und gemeinsam ist. Individualität kann demnach nur in der Besonderheit der Entfaltung humaner Anlagen gesucht werden. Bestimmte, individuelle Entfaltung allgemeinmenschlicher Anlagen - das ist der Ausgangspunkt von Schleiermachers Bildungsbegriff.193 Damit ist Bildung nicht erst dort anzusetzen, wo mit bewußter Intention die individuelle Entwicklung menschlicher Anlagen 188 Jedenfalls findet man in der Sekundärliteratur zum Teil gegenläufige Analysen. H. Owren (Herders Bildungsprogramm [1985], S. 63) weist beispielsweise auf die Offenheit menschlicher Entwicklung ausgehend von gleicher Grundausstattung hin. R. Wisbert (Bildungsdenken [1987], S. 167f) dagegen sieht, bezogen auf Herders Journal meiner Reise im Jahr 1769', dessen Individualitätsverständnis durch die Leibnizrezeption geprägt und versteht damit Individualität als der geschichtlichen Entwicklung wenigstens ideell vorgegeben: „Aber gerade diese zentrale Dimension von Leibnizens Metaphysik, die Bestimmung der Substanz als einer individuellen, wird in der Wölfischen Schule [nach Herder] nicht genügend berücksichtigt, so daß sich das - oberflächlich betrachtet - paradoxe Verhältnis Herders zu Leibnizens Philosophemen aufklärt: Herder knüpft an Leibnizens Individidualitäts- und Kraftmetaphysik an und sucht diese zu einer neuen, nicht mehr im engeren Sinne systematischen Metaphysik der Geschichte weiterzuentwickeln, einer Metaphysik, in die er die konkrete geschichtliche Welt einzubeziehen gedenkt." 189 Gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903-1936, Bd. 2, S. 15. 190 Vgl. U. Frost: Das Bildungsverständnis Schleiermachers und Humboldts (2000), S. 861864. 191 Vgl. Reden 8.11. 88. 90. 91f. 97.103f. 105.110.125.131. 234. 293; Monologen 21. 34. 40. 44f. 46. 53. 77f. 97f. Menschheit in einem qualitativen Sinne ist auch bei Kant gängiges Verständnis; vgl. KdU Β 97. Belege für einen kollektiven Sinn des Menschheitsbegriffs s.u. Anm. 223 auf S. 339. 192 Vgl. Reden 144. 193 Monologen 44: ,,[D]ie Menschheit in sich zu einer entschiedenen Gestalt bilden". Vgl. 21. 112; Reden 103: Der Tod ist „der erste und lezte Feind der Menschheit. Das Rohe, das Barbarische, das Unförmliche soll verschlungen und in organische Bildung umgestaltet werden. [... ] [A]lles soll eigenes zusammengeseztes, vielfach verschlungenes und erhöhtes Leben sein"; 94f. 122; U. Barth: Der ethische Individualitätsgedanke (1994), S. 322; U. Frost: Bildungsverständnis (2000), S. 873.

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gefördert wird, sondern bereits dort, wo dies ohne absichtliches Zutun geschieht. Bildung kommt somit nicht erst als ethische Aufgabe in den Blick, sondern liegt dieser in einem basaleren Sinn als Prinzip geistiger Entwicklung überhaupt zu Grunde (vgl. Reden 9).194 Bildung in diesem weiteren Sinn genommen ist es, wodurch ein einzelner Mensch als Individuum erscheint. Seine besondere Art, die humane Anlage zu entfalten, unterscheidet ihn von allen übrigen. Damit wendet sich Schleiermacher von einem Exklusivitäts- oder Subtraktionsmodell 195 von Individualität ab, das auf der Ebene der Anlage auch Humboldt seinem Bildungsbegriff zugrunde gelegt hatte. Was nur einem einzigen Menschen als Anlage zukäme und allen anderen nicht, würde jenem die Menschheit im qualitativen Sinne absprechen. Individualität ist somit keine Ausschlußbestimmung, sondern muß sich an der Entfaltungsdimension dessen festmachen lassen, was allen Menschen gemeinsam ist. Das heißt freilich gerade nicht, daß das Individuelle zugunsten einer Gleichheit aller verschwindet, sondern Schleiermacher versucht, beide Aspekte dahingehend zu verbinden, daß zwar in allen Menschen qua Humanität sich gleiche Konstitutionsbedingungen geistigen Lebens überhaupt finden, es aber in dessen konkreter Ausfaltung zu Variabilität kommt. Wenn nun der Ort menschlicher Individualität so von der Anlage auf die Enfaltungsdimension des geistigen Lebens verlagert wird, könnte jedoch auch hier das Subtraktionsmodell vorgebracht werden in dem Sinne, daß die Bestimmtheit des Einzelnen darin bestünde, einen bestimmten Zug des Humanen zu entfalten, welche alle anderen (noch) nicht entfaltet haben. Seine Individualität verschwände dann aber sogleich wieder, wenn ein anderer die diesem wie jenem ebenso mögliche Anlage entwickelt. Dieses im Grunde quantitative Unterscheidungskriterium führt nur auf vorläufige Bestimmungen, ganz abgesehen davon, daß es unmöglich sein dürfte, den Nachweis einer solchen exklusiven Entfaltung zu führen. Schleiermacher verwirft das Subtraktionsmodell menschlicher Individualität deshalb sowohl auf der Ebene der Anlage als auch auf der der Entfaltung. Sein positives Verständnis menschlicher Besonderheit richtet sich nach dem Modell einer Konfiguration oder „Mischung". Dessen Ausgangspunkt liegt in einer dynamischen Auffassung menschlichen Geisteslebens. Menschliche Individualität ist in einem be194 Auf diese grundlegende Bedeutung des Bildungsbegriffs hat Ellert Herms hingewiesen. Vgl. Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Gegenwartsrelevanz (2003). 195 Vgl. M. Schröder: Das „unendliche Chaos" der Religion (2000), S. 599. Auf diese Modelle von Individualität werde ich im Zusammenhang der Thematisierung religiöser Bildung zur Individualität ausführlicher zu sprechen kommen. S. u. Kapitel 3, S. 381ff, bes. Abschnitt 3 C, S. 392ff.

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sonderen Zusammenspiel der geistigen Kräfte zu verorten, welche dem Menschen wesentlich sind. „Jede menschliche Seele [... ] ist nur ein Produkt zweier entgegengesetzter Triebe".196 Als diese Grundkräfte reklamiert der Redner ganz in Analogie zu seiner Naturauffassung die Polarität von Attraktion und Repulsion, nun aber in einer aufs Geistige gewendeten Form: Dem geistigen Insichaufnehmen steht das Aussichheraussetzen gegenüber. Es liegt auf der Hand, daß Schleiermacher in der Transformation des ursprünglich der Mechanik zugehörenden Kräftegegensatzes von Attraktion und Repulsion in den Bereich des Geistigen etwas ausspricht, was Schelling in seinem nur ein Jahr nach den ,Reden' veröffentlichten System des transzendentalen Idealismus' entfalten wird.197 Freilich ist dieses Verständnis des Lebens als „permanenter Wechsel gegenläufiger Bewegunsvollzüge" von Herder und Goethe ausgehend geradezu ein Gemeingut der Zeit gewesen: „Wer in den 80er Jahren emphatisch Leben sagt, meint in erster Linie Polarität".198 Herder konstatiert eine entsprechende Polarisierung auch der menschlichen Lebensvollzüge in ein Ansich-Ziehen und Aus-sich-Mitteilen als „wahre [n] Takt und Pulsschlag des Lebens".199 Schleiermacher deutet diese Polarität des geistigen Lebens nun auf ihr individuationstheoretisches Potential hin aus. In der bestimmten „Vereinigung" beider geistigen Tätigkeiten in ihrem Verhältnis zu einan196 Reden 6; vgl. 7. 94. Auf die Bedeutung der Wendung vom Kraft- zum Triebbegriff macht P. Grove: Deutungen des Subjekts (2004), S. 279f, aufmerksam. Er verweist hier auf eine Prägung Schleiermachers durch Reinhold und Fichte. 197 Vgl. H. Süskind: Der Einfluß Schellings (1909), S. 74. 81. 115. In Bezug auf die Natur entfaltet Schelling das Prinzip des Kräftegegensatzes bereits 1797 in seinen ,Ideen zu einer Philsophie der Natur' (s. o. S. 319 Artm. 149) und ein Jahr später in seiner Schrift ,Von der Weltseele. Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus' (1798), SchelW 1/1, S. 399ff. Das Verhältnis des frühen Schelling zu Schleiermacher wäre durchaus noch eine Untersuchung wert. Süskind konzentriert sich auf die Phase 1799 bis 1806, also von der ersten zur zweiten Auflage der Reden. Bereits Schellings Ichschrift (,Vom Ich als Princip der Philosophie' von 1795), die Abhandlung von 1796/97 (, Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre') und seine frühen naturphilosophischen Arbeiten lassen eine eigenständige Beschäftigung mit Spinoza erkennen, auf die Süskind gar nicht eigens eingeht. Hier müßte also Schellings „Spinozismus der Physik" mit Schleiermachers Position aus den Spinozamanuskripten verglichen werden. Was die Ich-Schrift betrifft, ist oben einiges gesagt worden. S. o. Kapitel 1 C, S. 289ff. Zum Spinozismus des frühen Schelling vgl. H.-C. Lucas: „Ich bin indessen Spinozist geworden!". Der junge Schelling zwischen Fichte und Spinoza (2002). Die Bedeutung Spinozas für die naturphilosophischen Ansätze wird darin allerdings nur konstatiert (S. 501). Vgl. auch W. Bartuschat: Uber Spinozismus und menschliche Freiheit beim frühen Schelling (1989). 198 H. Timm: Gott und die Freiheit (1974), S. 278. 199 J. G. Herder: Liebe und Selbstheit (1781), S. 322. Vgl. dazu P. Grove: ,Vereinigungsphilosophie' beim frühen Schleiermacher und bei Herder (2000), S. 331f.

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der liegt die Besonderheit des Individuums. 200 Dieser Sinn des Vereinigungsbegriffs201 ist genau derselbe, der Schleiermacher in der Auseinandersetzung mit Spinoza zum Schlüssel in der Frage nach dem principium individuationis im spinozanischen System wurde. Das Verständnis menschlicher Individualität in den,Reden' folgt, so meine These, dem an Spinoza entwickelten Modell von 1793/94 und muß von daher verstanden werden. Der Begriff des Individuums als „Vereinigungspunkt" entgegengesetzter „Modifikationen" 202 kehrt in den ,Reden' fast wörtlich wieder. Es ist, so Schleiermacher zu Beginn der ersten Rede, ein „unabänderliches Gesez [... ] jedes bestimmte Dasein nur aus zwei entgegengesezten Kräften zusammenzuschmelzen [... ] jedes Ding hat nur dadurch sein bestimmtes Dasein, daß es die beiden Urkräfte der Natur [... ] auf eine eigentümliche Art vereinigt". 203 Das Grundmodell für das Verständnis auch menschlicher Individualität hatte Schleiermacher sich also schon weit vor den ,Reden' angeeignet. Hier kommt das spinozistische Individualitätsverständnis in seiner auf Geistiges angewandten Fassung zum Tragen. Die parallele Auffassung von körperlicher und geistiger Sphäre auch in Bezug auf deren jeweilige Individuationsprinzipien hat sich Schleiermacher in seiner ersten Berliner Zeit anhand von Spinozas Attributenlehre erarbeitet - darin, wie wir gesehen haben, durchaus eigenständig gegenüber Jacobis Spinozaverständnis.204 Was dort angelehnt an der durch Jacobi vermittelten Begrifflichkeit des spinozanischen Systems in der Lehre vom „Entschluß" als einer bestimmten Verbindung von Verstandes- und Willensmomenten als Individuationsprinzip postuliert wird, 205 erscheint in den ,Reden' expliziert in dem in jeder „Seele" auf besondere Weise modifizierten Gegensatz von aufnehmender und produktiver Tätigkeit. 206 Was nun alle Exklusivitäts200 Zum Begriff der Vereinigung in Bezug auf die Form des Individuellen vgl. Reden 6. 9. 101.186f. 201 P. Grove (Deutungen des Subjekts [2004], S. 273-282) zieht im Gebrauch des Vereinigungsbegriffs bei Schleiermacher eine Linie zu Herder und Hemsterhuis. Mir scheint dieser Rekurs auf die „Vereinigungsphilosophie" gerade durch die von Grove bemerkte Differenz, daß es sich bei Schleiermacher nicht um einen Trieb nach Vereinigung, sondern um die Vereinigung zweier entgegengesetzter Triebe handelt (ebd., S. 277), problematisch. 202 Sp 551. Siehe dazu oben S. 171ff, bes. S. 176. 203 Reden 5f. 204 S. o. S. 179ff, besonders S. 185-190. 205 S.o.S. 187f. 206 Vgl. Reden 6: „Jede menschliche Seele [... ] ist nur ein Produkt zweier entgegengesetzter Triebe. Der eine ist das Bestreben alles was sie umgiebt an sich zu ziehen [... ] Der andere ist die Sehnsucht ihr eigenes inneres Selbst von innen heraus immer weiter auszudehnen". Dieses Grundmodell legt Schleiermacher dann auch der Differenzierung von „Erkennen" und „Darstellen" im Brouillon zur Ethik von 1805/06 zu Grunde. Vgl. Brouillon 88.

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aussagen von Schleiermachers Individualitätsbegriff fernhält, ist, daß er die „Vereinigung" der Tätigkeiten, die die individuelle Bestimmtheit ausmachen soll, nicht an dem Vorkommen dieser oder jener besonderen Tätigkeit festmacht, sondern an der Konstellation, in welcher diese Tätigkeiten zueinander stehen. Die individuelle Bestimmtheit ist deren besondere „Mischimg". 207 Diesen Begriff von Individualität preist der Autor der ,Monologen' als seine „höchste Anschauung" (Monologen 40) und dieses Diktum könnte man auch schon für die ,Reden' gelten lassen, denn jene Bestimmung des Individuums ist Schleiermachers Basis zum Verständnis von Menschheit, ja von Geschichte und Religion und gibt so den Schlüssel zu seiner eigentümlichen Universumsvorstellung. Wir sind hier an dem die Religionsschrift organisierenden Zentrum angelangt und es lohnt, den Hintergrund dieses Individualitätsverständnisses aufzuklären. Auf den ersten Blick erscheint der Ausdruck „Mischung" bloß als eine aus der Hochschätzung der Chemie hervorgegangene metaphorische Entlehnimg. Schleiermacher war ein begeisterter Dilletant dieser zu seiner Zeit avantgardistischen Naturwissenschaft und interessierte sich nicht nur für die Einzelheiten und Prinzipien chemikalischer Prozesse, 208 sondern versuchte - ähnlich wie seine frühromantischen Weggenossen 209 - durch Analogiebildungen deren Einsichten auch für die Beschreibung geistiger Prozesse fruchtbar zu machen. 210 Die naturwissenschaftliche Auffassung unterscheidet die chemische „Mischung" vom „Aggregat" durch die Art der Verbundenheit, welche die Elemente darin jeweils eingehen. Im Aggregatszustand sind die Elemente nur äußerlich bei207 Reden 9. 92f. 98; Monologen 40. 57. In gleicher Funktion wie der Mischungsbegriff stehen bei Schleiermacher die Begriffe „Combination" (Reden 93), „Verbindung" (Reden; Fragm. Nr. 336, KGA 1/2, S. 146) und „Gestalt" (Reden 143. 234. 312). M. Schröder (Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums [1996], S. 119f; Das „unendliche Chaos" der Religion [2000], S. 601) spricht von einem „Konstellationsmodell von Individualität". 208 Vgl. Schleiermachers Dokumentation der „chemischen Versammlungen bei Klaproth" und sein Manuskript „Chemie", beide vom Mai/Juni 1800 (KGA 1/3, S. 101-128). Bevor Schleiermacher mit dem angesehenen Chemiker und Apotheker Martin Heinrich Klaproth (1743-1817) bekannt wurde (vgl. KGA 1/3, S. 103 Anm. des Herausgebers), hatte er schon 1797 mit seinem jüngeren Bruder Carl als ausgebildetem Apotheker in Berlin chemische Studien betrieben (vgl. seine Briefe an Charlotte Schleiermacher Nr. 399 vom 18.8.1797, Z. 244-249, KGA V / 2 , S. 163; Nr. 402 vom 27.9.1797, Z. 163-172, KGA V / 2 , S. 173f). 209 Vgl. R Kapitza: Die frühromantische Theorie der Mischung (1968); M. Chaouli: Das Laboratorium der Poesie. Chemie und Poetik bei Friedrich Schlegel (2004), 93f. 210 Vgl. Reden 194: „Wenn ich mich eines Bildes bedienen darf aus der Wißenschaft, der ich am liebsten Ausdrüke abborge in Angelegenheiten der Religion". Schleiermacher spielt in Folge auf die Anziehung negativ und positiv geladener Teilchen an und setzt diesen chemischen Prozeß in Analogie zu einer Gestalt religiöser Interaktion. Vgl. auch Reden 86.97.186. 208. 297 und die Notiz in Leibniz I (1797/98), Nr. 66, KGA 1/2, S. 95.

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einander und können durch physikalisch-mechanische Eingriffe wieder voneinander gesondert werden (vgl. Reden 208). In der Mischung sind sie dagegen eine echte innere Verbindung eingegangen, die nur durch Eingehen neuer chemischer Verbindungen gelöst werden kann. Von einer Mischung kann also nur wiederum zu anderen Mischungen übergegangen werden. 211 Aufgrund dieser Züge des chemischen Mischungsbegriffs erscheint der Ausdruck durchaus auch als Metapher zur Charakterisierung der Struktur menschlicher Individualität geeignet. Der Mischungsbegriff steht, über diese Nähe zu naturwissenschaftlichen Denkmustern hinaus, in Schleiermachers Werdegang aber bereits in seiner ersten Berliner Zeit im Zusammenhang der philosophischen Individuationsproblematik. Die einschlägige Passage ist eine Reformulierung von Spinozas Individuumsbegriff im Manuskript,Kurze Darstellung des spinozistischen Systems', auf die oben bereits hingewiesen worden ist. „Jedes einzelne Ding ist ein Aggregat von verschiedenen Mischungen der unmittelbaren und mittelbaren modorum im Verhältniß zu allen andern ähnlichen Dingen" (KDSp 578). Die Unterscheidung von unmittelbaren und mittelbaren Modi bezieht sich auf die spinozanische Differenz von unendlichen Modifikationen, die aus der Substanz-Attribut-Struktur direkt folgen, und endlichen Modifikationen, welche in jenen unendlichen als Teilmodifikationen und nach Schleiermachers Rekonstruktion insofern im Wesen der Substanz auf vermittelte Weise enthalten sind. Das hier angesprochene Mischungsverhältnis von „unmittelbaren modorum" referiert also - nach Spinozas Attributenlehre - auf das Zugleichsein der Bestimmtheit des Einzeldings als Körper und als Geist. „Aggregat" steht hier für den Zustand relativer Einheit, den Schleiermacher sonst mit „Vereinigung" wiedergegeben hatte. Beide Aspekte können hier ausgeklammert werden. 212 Interessant ist die Stelle für den Individualitätsbegriff der ,Reden' und,Monologen' durch die Charakterisierung des Individuellen als einer „Mischung mittelbarer modorum". Mittelbare Modi sind endliche Modifikationen und deren Mischung steht in der Relation zu „allen andern ähnlichen Dingen", d. h. im Bereich des Ausgedehnten im Verhältnis zur Gesamtheit anderer Körper und im Bereich des Denkens im Verhältnis zur Gesamtheit anderer geistiger Individuen. Relevant für das Verständnis menschlicher Individualität ist der zuletztgenannte Aspekt. Es geht um die Explikation des Individuellen als einer bestimmten Mischung geistiger Modifikationen im Verhältnis zur Totalität des Geisteslebens. Der Mischungsbegriff der frühen Spinozahefte steht in Abweisung eines substantiellen Verständnisses von Einzelheit, wie es Schleiermacher 211 Vgl. P. Kapitza: Die frühromantische Theorie der Mischung (1968). 212 Siehe dazu oben S. 191ff.

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in Leibnizens Mondadenlehre diagnostizierte, für die konsequente Fassung des Individuellen als eines Relationsbegriffes. Wenn Schleiermacher dort konstatiert, das „sogenannte Wesen der Dinge, das wodurch wir ihre Identität bestimen" sei „nur ein Verhältniß" (KDSp 568), so entspricht dem die für Spinozas metaphysisches System grundlegende monistische Substanzauffassung, welcher die singulären Dinge - als selbst nicht wesenhaft substantiell - im Sinne einer ontologischen Inhärenz eingeschrieben sind. Schleiermachers Individualiätsverständnis ist ganz diesem Ansatz verpflichtet. Die an Spinoza herausgearbeitete Strukur ist das Grundmodell für die Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Menschheit in ,Reden' und ,Monologen'. Die dort festgehaltene bloß relationale Identität des Individuums als Verhältniseinheit polarer Modifikationen der einen Substanz versiert hier als „eigne Mischling der Elemente der Menschheit". 213 Der qualitativ verstandene Menschheitsbegriff rückt also analog in die Position der spinozanischen Substanz - deren Modifikationen entsprechen den „Elementen" als den Grundfunktionen des menschlichen Geistes. Das menschliche Individuum als Mischung der letzteren ist keineswegs im metaphysischen Sinne selbständig, sondern nur eine Modifikationsgestalt von Menschheit. Jeder einzelne Mensch ist also in seiner Entwicklung auf die Menschheit als auf die für ihn wie für alle Menschen konstitutive und identische Struktur humaner Grundfunktionen bezogen. Menschheit als solche humane Anlage individuiert sich jedoch im Vollzug derselben durch konkrete menschliche Geistestätigkeiten. Jeder Mensch ist durch den bestimmten Prozeß der Bildung seiner selbst insofern „eigne Mischxmg" humaner Geistestätigkeiten als er einen bestimmten Vereinigungspunkt von geistigen Relationen ausmacht, welcher von anderen solchen durch seine Stellung im Gesamtgefüge der Relationen unterschieden werden kann. Im Blick auf Letzteres erschließt sich ein weiterer Bedeutungsaspekt des Menschheitsbegriffes bei Schleiermacher. Er kommt in der engen Verklammerung des Individualitätsverständnisses mit der Auffassung von Sozialität in den frühromantischen Publikationen Schleiermachers zum Ausdruck.

b. Individualiät und Sozialität Konstituiert sich menschliche Individualität aufgrund einer bestimmten Konstellation und Aufeinanderbezogenheit mentaler Vollzüge und näherhin durch die als Bildung bezeichnete Komplexion integrierender und 213 Monologen 40; Reden 92.143. 234.

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extrapolierender Geistestätigkeiten, so ist deutlich, daß eine solche Individualität nach Schleiermacher nicht solipsistisch gedacht werden kann. Denn woher sollte sie bestimmte geistige Gehalte in sich aufnehmen können und wo wäre der Ort des Aus-sich-Heraussetzens, wenn nicht in der Beziehung zu anderen mental strukturierten Individuen? Schleiermachers Individualitätsbegriff ist aufs Engste verknüpft mit einer Theorie intersubjektiver Kommunikation. Trotz der in dem Attraktions- und Repulsionsmodell herrschenden Analogie zu Naturvorgängen ist klar, daß sich Schleiermacher diese Kommunikation keineswegs nach dem Schema einer quasi mechanischen, äußerlichen Imitation vorstellt. Er hatte ja gerade den Vorzug seines Bildungskonzeptes gegenüber einer einseitigen Erziehungsvorstellung daran festgemacht, daß für Bildung, anstelle einer Fixierung auf bloß äußere Vermittlung von Inhalten und Fertigkeiten, die innere Beteiligung des Sich-Entwickelnden als konstitutiv anzusehen ist. Ihr , Erfolg' beruht auf einem freien214 Sich-zu-eigen-machen 215 des von anderen „mitgeteilten". 2 1 6 Der angeeignete geistige Gehalt wird in diesem Prozeß insofern modifiziert, als er in einem neuen Zusammenhang, nämlich dem der aneignenden Individualität zu stehen kommt (vgl. Monologen 56f). Es gibt in dieser Sicht keine perspektivisch-gleichgültigen, überindividuellen ,Inhalte', weil jeder in Frage kommende Inhalt immer schon im Kontext einer individuellen geistigen Konstellation gedacht, gefühlt oder wahrgenommen wird. Im Aneignen modifiziert sich aber auch das Individuum selbst, indem es eine neue Vorstellung in den Kontext seines bisherigen geistigen Lebens integriert. Die aktive Beteiliglang im Bildungsprozeß und die Rückkoppelung alles geistigen Aufnehmens an eine Veränderung der eigenen geistigen Konstellation lassen Schleiermacher die Entwicklung des individuellen menschlichen Geisteslebens als „Selbstbildung" (Reden 9; Monologen 57) und „eigne Bildung" 2 1 7 verstehen. Dieser Prozeß ist jedoch keineswegs 214 Das Pathos der Freiheit in der eignen Bildung atmen die ,Monologen' auf jeder Seite, aber auch bereits in den ,Reden' ist dieser Zusammenhang explizit. Vgl. bes. Monologen 14.17. 28. 69.104f. 106.108; Reden 103f. Im Zusammenhang der religiösen Bildung betont Schleiermacher die Freiheit des Bildungsprozesses eindringlich. Vgl. Reden 142. Dazu s.u. S. 396. 215 „Aneignen" ist hier geradezu terminus technicus. Vgl. Reden 6.181; Monologen 48. 60. 105.109.136. 216 Zu dem für Schleiermachers Verständnis von intersubjektiver Kommunikation grundlegenden Begriff der Mitteilung vgl. W. Gräb: Predigt als Mitteilung des Glaubens (1988); Braungart, Christine: Mitteilung durch Darstellung. Schleiermachers Verständnis der Heilsvermittlung (1998); C.-D. Osthhövener: Die Christologie der „Reden" (2003), S. 64f. 217 Monologen 52. 69.97. 98.146; vgl. Reden 103. 248.

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eine solipsistisch-reflexive Kreisbewegung, 218 sondern ist wesentlich auf die Kommunikation mit anderen in der Bildung begriffenen Individuen angewiesen. Kurzum: Menschliche Individualität ist nur in einer „Gemeinschaft der Geister" 219 möglich. Individualität und Sozialität weisen aufeinander zurück 2 2 0 Die „Gemeinschaft der Geister" ist der Ort der „intellektuellen Wechselwirkung" 221 zwischen menschlichen Individuen: „Ihr wißt die Art wie jedes einzelne Element der Menschheit in einem Individuo erscheint, hängt davon ab, wie es durch die übrigen begrenzt oder frei gelaßen wird; nur durch diesen algemeinen Streit erlangt jedes in Jedem eine bestimmte Gestalt und Größe, und dieser [sc. Streit] wiederum wird nur durch die Gemeinschaft der Einzelnen [... ] unterhalten." 222 Der Hinweis auf die intersubjektive Interaktion in der menschlichen Gattung erschließt einen zweiten Bedeutungsaspekt von Schleiermachers Menschheitsbegriff. War oben im Zusammenhang der Bezeichnimg von mentalen Grundfunktionen des Menschen auf den qualitativen Sinn des Begriffs Menschheit verwiesen worden, so deckt diese Bedeutung das, was Schleiermacher unter Menschheit versteht, keineswegs ab. Hier kommt ein kollektiver Bedeutungsaspekt ins Spiel. Die Belege in den ,Reden' und ,Monologen' lassen sich diesen beiden Hinsichten mehr oder weniger eindeutig zuteilen. 223 Das bedeutet jedoch nicht, daß Schleiermacher den Ausdruck Menschheit bloß als Homonym mit zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Vielmehr hat diese Doppeldeutigkeit eine konzeptionelle Funktion. Sie verbindet im Begriff der Menschheit zwei Dimensionen des humanen Geisteslebens, die hier vorläufig als dessen qualitative Basis und quantitativer Umfang bezeichnet werden sollen. Die Tragweite dieses Konzeptes wird zu ermessen sein, wenn die kategoriale Struktur des kollektiv verstandenen Menschheitsbegriffs herausgearbeitet ist. Der Menschheitsbegriff bezeichnet hier zunächst einmal ein die Gesamtheit von Wechselwirkungsprozessen des menschlichen Geisteslebens Umgreifendes. Menschheit ist die Sphäre, innerhalb deren geistige Prozesse zu verorten sind. Damit rückt der Menschheitsbegriff in eine 218 Zur Abgrenzung von Schleiermachers „Selbstbildungsindividualismus" zu einem Modell von Reflexionsindividualität vgl. U. Barth: Der ethische Individualitätsgedanke (1994), S. 322ff. 219 Reden 237; Monologen 17. 21. 47. 78. 126. 220 Vgl. K. Nowak: Schleiermacher und die Frühromantik (1986), S. 183. 255. 261 221 Reden 177; vgl. 193; Monologen 47.126; ThgB 170; Gedanken I, Nr. 168, KGA1/2, S. 38. 222 Reden 143. Auf die für die Kontinuierung der Wechselwirkung wichtige historischprozessuale Dimension menschlicher Interaktion wird im nächsten Abschnitt einzugehen sein. Im obigen Zitat ist deshalb Schleiermachers Hinweis auf die Funktion der „Bewegimg des Ganzen" ausgelassen. 223 Vgl. zur kollektiven Bedeutung des Menschheitsbegriffs Reden 8. 10. 18. 93f. 98f. 100. 173. 234. 307f. 309f; Monologen 24. 43. 49f. 57.136. Belege für dessen qualitativen Sinn s. o. Aran. 191 auf S. 331.

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dem Weltbegriff funktional äquivalente Position. „Welt" hat für Schleiermacher weder nur naturphilosophische noch lediglich geistphilosophische Bedeutung, sondern ist primär ein diesen Bereichen gegenüber neutraler Strukturbegriff. So kann er von der „äußern Welt" (Reden 82; Monologen 5) der Natur als der Welt des „Sichtbare[n]" (Reden 87) sprechen und davon die menschlichem Bewußtsein angehörige Sphäre als „geistige" (Reden 307) oder „intellektuelle Welt" (Reden 7) absetzen. Menschheit wird so nicht nur als qualitativer Charakter des Humanen verstanden, sondern vermittels dieses Charakters geht dem Menschen im intersubjektiven Kontakt die Menschheit im Sinne einer geistigen Welt auf. 224 Die Idee der Menschheit in diesem Sinne ist das Resultat dessen, das „innere Leben" 225 des humanen Geistes in seiner Sphäre zu betrachten oder anders gesagt: „das Gemüth [... ] in einer Welt" (Reden 88) aufzufassen. Die Art und Weise der Kommunikation innerhalb der kollektiv aufgefaßten Menschheit als intellektuelle Wechselwirkung, als eine gegenseitige geistige „Affektion" (Reden 96) deckt sich mit der durch den Weltbegriff intendierten Struktur. „Welt", so hatte sich Schleiermacher zwei Jahre vor Abfassung der,Reden' in einem Studienheft notiert, ist „der Inbegrif desjenigen [... ] was sich dynamisch afficirt." 226 In dem Ausdruck „Inbegriff" ist hier ein ganzes Weltbild verdichtet - und dieses trägt, wie noch auszuführen sein wird, deutlich spinozistische Züge. Menschheit fungiert in den frühromantischen Schriften Schleiermachers als ein „Inbegriff" der dynamischen Relationen, welche Menschen als geistige Wesen zueinander unterhalten. Menschheit steht als „Inbegriff" dabei für ein solches Umgreifendes, welches zugleich eine interne relationale Struktur aufweist. Denn es ist das kommunikative Verhältnis zwischen menschlichen Individuen, welches nicht nur diesen selbst jeweils eigene Bestimmtheit ermöglicht, sondern als „Gemeinschaft der Geister" auch die interne Struktur der Menschheit als Welt humaner Geistigkeit ausmacht. 227 Damit wird in dem Konzept der Menschheit eine Kategorie konkretisiert, die grundsätzlicher für dessen Verständnis nicht sein könnte: Die Relation von interagierenden Individuen zur Menschheit versteht Schleiermacher als eine von Teil und Ganzem. Hierzu die einschlägigen Stellen: 224 Diesen Gedanken mythisiert Schleiermacher in einer eigenwilligen Interpretation des biblischen Schöpfungsberichts aus Gen 2f, vgl. Reden 88. 225 Reden 87. 226 Leibniz I, Nr. 68, KGA 1/2, S. 95; vgl. die gleichlautende Formulierung veröffentlicht als Fragment Nr. 335 im Athenäum 1798 (KGA 1/2, S. 145). 227 Vgl. Reden 271: „So wie kein Mensch als Individuum zur Existenz kommen kann ohne zugleich durch denselben Actus auch in eine Welt, in eine bestimmte Ordnung der Dinge und unter einzelne Gegenstände versezt zu werden".

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(a) Jeder Mensch ist „ein freier durch eigene Kraft thätiger Theil des Ganzen" (Reden 71). „Die Existenz eines jeden [sc. Menschen] hat einen [...] Sinn in Beziehung auf das Ganze" (Reden 94). (b) „Ihr selbst seid ein Compendium der Menschheit, Eure Persönlichkeit umfaßt in einem gewißen Sinn die ganze menschliche Natur" (Reden 99). (c) „Oefne dich mir noch einmal, Anschauung des weiten Gebietes der Menschheit, das die bewohnen, die nur sich selbst zu bilden [... ] streben! Oefne dich noch einmal, und laß mich schauen ob mir ein eigner Platz gebührt, ob nicht; [... ] ich erkenne wie Alles ineinander greift ein wahres Ganzes zu bilden [...]. Nur wenn der Mensch [... ] von sich beständig fordert die ganze Menschheit anzuschauen, und jeder andern Darstellung von ihr sich und die seinige entgegen zu sezen, kann er das Bewußtsein seiner Eigenheit erhalten" (Monologen 49f). „In stiller Ruhe, in wechselloser Einfalt führ ich ununterbrochen das Bewußtsein der ganzen Menschheit in mir" (Monologen 36). 228 Nach den angeführten Stellen lassen sich drei Ebenen der TeilGanzes-Struktur an Schleiermachers Menschheitsbegriff unterscheiden, (a) Der einzelne Mensch partizipiert durch seine eigene kommunikative Tätigkeit am Ganzen der dynamischen Wechselwirkungssphäre menschlichen Geisteslebens. Der einzelne Mensch erscheint so als Teil des Ganzen dieser intersubjektiven Interaktion, (b) In einer als vollkommen angenommenen individuellen Durchbildung des Einzelnen sind nicht nur alle Aspekte der Humantität i. S. der menschlichen Natur angelegt, d. h. als Möglichkeit vorhanden, sondern auch nach allen Graden und in allen Konstellationen ihrer verschiedenen Entwicklung wirklich durchlaufen. In dieser virtuellen Position treffen sich der qualitative humanitasGedanke und der kollektive Menschheitsbegriff in einer Person. Der vollkommen Gebildete ist in der Sukzession seiner Bildungsgeschichte „Compendium" der Menschheit. Die Funktion dieser Vollkommenheitsposition ist es, die Bildungsmöglichkeiten nicht nur in der Abstraktheit eines qualitativen Menschheitsbegriffs zu postulieren, sondern als in der konkreten Lebensgeschichte eines Menschen tatsächlich verwirklichbar vorzustellen. 229 (c) Bewußtsein der eigenen Individualität ist nur möglich als Bewußtsein der Partizipation am Ganzen der Menschheit. Insofern 228 Vgl. auch Gedanken I (1797), Nr. 112b. 144, KGA 1/2, S. 29. 33: „112.b Man muß das Bild der ganzen Gesellschaft seyn und doch auch ein Individuum. [... ] 144. Das 112b gesagte kommt daher weil jeder Theil eines Ganzen demselben in Rueksicht der Gattung homogen seyn muß". Die „Gesellschaft" als kleiner Kreis individueller wechselseitiger Mitteilung fungiert hier als Mikrokosmos der Menschheit. Diese Ansicht ist in der ,Theorie des geselligen Betragens' von 1799 durchgeführt. Vgl. dazu B. Oberdorfer: Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit (1995), S. 492-518. 229 Hierin kommt dieser Gedanke mit der Idee des „Weisen" in der philosophischen Ethik' überein. Der „Weise" fungiert als Fiktion der konkreten Erfüllbarkeit der ethischen Forderungen im Lebensprozeß. Vgl. GKS 69.

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die individuelle Eigenart in einer bestimmten Konstellation der tatsächlichen Entwicklung allgemein der menschlichen Gattung zugehöriger geistiger Möglichkeiten besteht, kann deren Bestimmtheit nur in der Begegnung mit anderen Individuen, welche eine andere Ausgestaltung derselben humanen Grundstruktur aufweisen, zu Bewußtsein gelangen. „Nur durch Entgegensezung wird das Einzelne erkannt" (Monologen 51). Die Bestimmtheit und Beziehung jedes einzelnen Momentes in der eigenen Konstellation des Individuums wird so erst durch ein Fremdverstehen anderer Bestimmtheit und Beziehung desselben Momentes an anderen als eigene bewußt. Jedoch kann diese Begegnung auch virtualisiert werden und dadurch ins Infinite gesteigert vorgestellt werden als Bewußtsein der Eigenheit am Bewußtsein aller nur denkbaren andersartigen Gestaltungen des Humanen. So wird das Bewußtsein der Eigenheit am Bewußtsein „der ganzen Menschheit" ein Partizipationsbewußtsein. Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Die intersubjektive Dimension von Schleiermachers frühromantischem Menschheitsbegriffs brachte diesen in eine strukurelle Äquivalenz zum Weltbegriff. Die darin explizierte Struktur macht sich an den Kategorien von Ganzem und Teil fest. Der diesem Konzept zugrundeliegende Ansatz entspringt, so ist nun meine These, einer spinozistischen Sicht auf menschliches Geistesleben. Die entsprechenden Ansichten hatte sich Schleiermacher bereits in der Auseinandersetzung mit Spinoza in der ersten Berliner Zeit angeeignet. Dies betrifft nicht nur die Charakteristika seines Weltbegriffs und die Inanspruchnahme der Teil-Ganzes-Kategorie für die geistige Sphäre, sondern auch die Verschränkimg der qualitativen und der kollektiven Dimension im Begriff der Menschheit. In diesen beiden Punkten soll im Folgenden der Hintergrund für Schleiermachers Menschheitsbegriff in dessen Spinozarezeption aufgezeigt werden. (1) Schleiermacher faßt „Menschheit" in den,Reden' als dynamischen Wechsel Wirkungszusammenhang im geistigen Leben der Menschen auf. Zugleich spricht er von der Menschheit als von einer „intellektuellen Welt", und beides hatte seinen gedanklichen Konvergenzpunkt gefunden, der in einer Notiz aus dem Jahr 1796 zum Ausdruck kommt und in welcher er Welt als „Inbegrif desjenigen [... ] was sich dynamisch afficirt." 230 definiert hatte. Diese Notiz weist ihrerseits zurück auf Schleiermachers Ringen um eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Kosmologie im Kontext seiner Spinozastudien und ist ein Beleg für die Kontinuität des Schleiermacherschen Denkens in diesen Jahren. 1793/94 hatte Schleiermacher gegenüber Leibnizens Monadenlehre die Stärke von Spinozas Ansatz in der Verbindung von universaler Bezogenheit und substantiellem Daseins in einer einheitlichen Weltkonzep230 S.o. Anm. 226 auf S. 340.

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tion gesehen. Die von Lessing im legendären Jacobigespräch im Geiste des Spinozismus anvisierte Idee eines „Ganzen nach Analogie eines organischen Körpers" (Sp 532) versprach dabei eine anschauliche Gestalt der spinozistischen Kosmologie. Denn Spinozas Programm war es, den Monismus der Substanz zugleich mit der internen Dynamik alles Endlichen zu verbinden. Im Kontext der Abweisung eines extramundanen letzten Grundes hat Schleiermacher Spinozas Anliegen dahingehend auf den Punkt gebracht, indem er dessen Fassung des Unbedingten als „ganze[n] Inbegrif des Bedingten" bezeichnete. 231 Dahinter steht Schleiermachers Rekonstruktion der spinozanischen Verklammerung von Unendlichkeits- und Endlichkeitssphäre. Sofern danach alles Endliche als „innerhalb" des Unendlichen angesetzt ist, wird die Bezogenheit des Endlichen aufeinander nicht als eine zwischen selbständigen Entitäten aufgefaßt, deren Beziehungsmöglichkeit erst einmal gezeigt werden müßte, sondern als die zwischen den Teilen eines Ganzen. Keine Bestimmtheit des Einzelnen ist als Teil abtrennbar von der Vernetzung mit den übrigen Teilen im Ganzen und das Ganze umfaßt nichts als die Wirkungen seiner Teile aufeinander. In spinozanischer Diktion ist hier das Verhältnis von endlichen Modifikationen der Gott-Substanz zu deren unendlichen Modifikationen angesprochen. Im unendlichen Modus als Ganzem sind die endlichen Modi als Teile enthalten. Schleiermachers Menschheitsbegriff steht also, insofern in ihm ein Ganzes partikularer Wechselwirkung intendiert ist, in der systematischen Position von Spinozas unendlichen Modi. Näherhin steht Menschheit, insofern darin der Inbegriff geistiger Interaktion gefaßt ist, in der Position des unendlichen Modus des Attributs Cogitatio, d. h. des intellecuts infinitus. Der unendliche Verstand ist nach Spinoza jenes Ganze, woran die einzelnen ideae Teile sind. Und zwar ist dieser Ganzheitsbegriff nicht im Sinne einer kollektiven Unendlichkeit zu denken, die durch infinites Zusammenbringen Zustandekommen würde. Das Ganze ist nicht als ein aus Teilen zusammengesetzes, sondern als ein den Teilen logisch Vorgängiges gedacht. 232 Das Ganze steht für eine konstitutive oder aktuale Unendlichkeit. Teile darin sind nichts als Bestimmtheitsmomente des Ganzen. Dies ist nur die andere Seite zu Schleiermachers Konstruktion eines spinozistischen Indivdiduumsbegriffs, der - wie oben gezeigt - aufs genaueste dem Verständnis menschlicher Indivdualität in den ,Reden' und ,Monologen' entspricht. Es ist die andere Seite dazu, insofern in einer kollektiven Ganzheit im Sinne bloß numerischer Unendlichkeit, worin die Teile als primär gegenüber dem Ganzen gedacht werden, sie gleichförmig lind abzählbar sein müssten. 233 In einem Konzept konstitutiver oder ak231 KDSp 570. Siehe dazu oben S. 262ff, bes. S. 263. 232 S. dazu oben Anm. 303 auf S. 263. 233 Vgl. Reden 239.

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tualer Ganzheit dagegen, welche im Sinne einer geometrischen' Unendlichkeit verstanden werden kann, sind die Teile keiner numerischen Differenzierung fähig, sondern stellen Bestimmtheitsmomente eines Kontinuums dar.234 Dem Verständnis von Individuen als fließende, aufeinander bezogene und darin ihre Bestimmtheit erhaltende Partikularitäten korrespondiert so die Konzeption von Ganzheit als aktualer. Dem Verständnis menschlicher Individualität als einer „Mischung" oder Konstellation in der Verwirklichung humaner Geistesanlagen korrespondiert die Auffassung der Menschheit als einer aktualen Ganzheit, als deren partikulare Bestimmtheitsgestalt jede Individualentwicklung menschlicher Bildung angesehen werden muß. (2) Wir kommen zum zweiten Punkt. Von Schleiermachers Zuordnung von Unendlichem und Endlichem in den Spinozamanuskripten her, kann auch die Verschränkung der qualitativen und der kollektivaktualen Dimension im Menschheitsbegriff der ,Reden' verstanden werden. Dem „Unendlichen" kommt in den frühen Manuskripten im Grunde eine zweifache Bedeutung zu, wenn man auf die Position sieht, welche dieser Begriff in der Rekonstruktion des spinozanischen Systems innehat. Das „Unendliche" steht, wie wir gerade gesehen haben, einerseits für Spinozas unendlichen Modus und zwar als Ausdruck für aktuale unendliche Ganzheit. Andererseits erscheint es in der Position der spinozanischen Substanz als das Unbedingte zum Endlichen als dem Bedingten. Das „Unendliche Ding" ist „das unbedingte, welches nicht außerhalb der Reihe [sc. des Bedingten] sondern nur in dem ganzen Inbegrif derselben zu finden ist" (KDSp 567). Sofern der „Inbegrif" des Bedingten als die aktuale Ganzheit endlicher Wechselwirkungsprozesse zu verstehen ist, heißt dies, daß dieser Ganzheit eine Dimension zukommt, durch welche das in ihr statthabende Verhältnis von Teil und Ganzem allererst konstituiert wird. Das „Unendliche" legt sich also in die beiden Funktionen auseinander, einerseits die Ganzheitssphäre zu den endlichen Einzeldingen als dem Partikularen auszumachen, andererseits den Konstitutionsgrund zu den darin gesetzten Relationen selbst abzugeben. Mit der Verbindung beider Funktionen in einem einzigen Begriff liegt Schleiermacher nahe an der Intention Spinozas. Die Substanz-AttributStruktur verklammert Spinoza auf das Engste mit der Attribut-ModusStruktur. D. h. die in letzterer ausgedrückte Ganzheitssphäre endlich aufeinander wirkender Kausalität ist nicht ohne deren Konstitutionsgrund 234 Ich spreche hier von einer geometrischen Unendlichkeit in Anlehnung an Kants Bestimmung des Raums als unendliches Kontinuum. Geometrische Figuren im Raum sind Bestimmtheitsmodi dieses Kontinuums oder „formale Räume" als Raumquanta (vgl. dazu KrV Β 160-162; U. Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs [1992], S. 433475, bes. 451f). Hier liegt, wie Jacobi m. E. richtig gesehen hat, eine basale Ubereinstimmung zwischen Kant und Spinoza. Zu Jacobis Hinweis s. o. Anm. S. 201.

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in der göttlichen Substanz zu denken. Und umgekehrt ist der Konstitutionsgrund nur insofern konstituierend, als dessen Konstituiertes eigene Wirksamkeit im Ganzen endlicher Kausalität entfaltet. Diese Struktur benennt Spinoza als „immanente Kausalität". 235 Schleiermachers zwiefache Funktionalisierung des Unendlichkeitsbegriffs kann so als ein Reflex von Spinozas Immanenzgedanken verstanden werden. Diese Struktur liegt auch der Verschränkung eines qualitativen und eines kollektiv-aktualen Aspekts im Menschheitsbegriff zugrunde. Die Menschheit tritt als „Genius" (Reden 91.110.125) oder „universelleste[r] Künstler" (Reden 91) in die Position des die mannigfachen individuellen Bildungen menschlichen Geistes Bedingenden. Zugleich macht sie dasjenige Ganze aus, in Relation zu welchem die einzelnen Ausformungen humaner Geistesentwicklung als partikulare Bestimmtheitsmomente erscheinen. Menschheit ist so einerseits als Movens von gegenseitiger humaner Bildung überhaupt vorgestellt und andererseits als das umfassende Ganze dieser Bildung. Bereits im Menschheitsbegriff der ,Reden' und ,Monologen' artikuliert sich so der Immanenzgedanke Spinozas, 236 nämlich in der Form einer Verschränkung von Humanität als konstitutivem Prinzip und als dynamisch-holistischem Zusammenhang geistiger Wechselwirkung. Entsprechend kommt auch dem Individuellen hinsichtlich der Menschheit ein zwiefacher Status zu: „So hat die Existenz eines jeden einen doppelten Sinn in Beziehung auf das Ganze" (Reden 94). In bestimmter Bildung ist jeder Mensch als geistiges Wesen ein Teil der „unendlichen Menschheit" (Reden 10; Monologen 57). Einerseits ist der Einzelne so in das geistige Netzwerk umfassender Wechselwirkung gestellt und gerade in seiner Eigenart von diesem Zusammenhang abhängig, und zwar im Sinne einer ,,thätige[n] Berührung" (Reden 97) mit allen anderen Individuen.237 Insofern aber jedes Individuum in der individuellen Bestimmtheit seiner Bildung abhängig vom Zusammenhang mit anderen Individuen ist, ist es darin zugleich abhängig von der Menschheit als dem Inbegriff des dynamischen Zusammenhangs humanen Geisteslebens. Andererseits hat jedes Individuum in dieser individuellen Bestimmtheit der Bildung aber auch gerade eine unersetzliche Funktion für das Ganze. Aus seiner Relation als Teil zum Ganzen erwächst ihm 235 S. dazu oben Teil I, S. U f f . 236 Dieselbe Struktur wird sich auch als Hintergrund der verschiedenen Aspekte des Universums- bzw. Religionsbegriffs herausstellen. S. dazu unten S. 365ff bzw. S. 381ff. 237 Die Lieblingsmetapher für dieses Wechselwirkungsverhältnis entstammt wiederum der Naturwissenschaft. Es ist die mit „auflösenden und magnetischen Kräften angefüllte Atmosphäre" (Reden 97), in der alles darin Befindliche in Beziehung zu einander gesetzt ist. Dieses Bild wendet Schleiermacher bevorzugt auf die Art geistiger Kommunikation an (vgl. Reden 95.135. 218), weil darin ebenso wie im Magnetfeld Anziehung und Abstoßung stattfindet (vgl. Reden 194).

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eine hervorgehobene Wertschätzung. Jedes menschliche Individuum ist „nothwendiges Ergänzungsstük" (Reden 94) der Menschheit und hat in deren Zusammenhang seine unvertretbare „Stelle" (Reden 92), hat als Individuum seinen „Werth" (Reden 66. 71) im Ganzen der Menschheit. Denn das Individuum ist nicht nur individuiert durch seine Stellenbestimmtheit im Sinne der Raum-Zeit-Koordinate, sondern diese Stellenbestimmtheit ist gleichsam qualitativ gemeint als je besondere Ausgestaltung menschlicher Möglichkeiten, als individuelle Formation in der unendlichen Variabilität geistiger Bildung. Als solche konstituiert jedes menschliche Individuum eine einzigartige, aktuale Konkretion des Humanen. 238 Jedes Individuum ist also einerseits nur im und aus dem geistigen Kontext der ganzen Menschheit zu verstehen und andererseits hat es als aktuale Konkretion seinen unersetzbaren individuellen Wert. Wechselwirkung als unendliche aktive geistige Bezogenheit aller menschlichen Individuen aufeinander und Eigenwert des Individuellen gehören im Konzept der Menschheit zusammen. Beide Seiten spiegeln sich ineinander, wenn Schleiermacher vom Individuum als einer „Darstellung" der Menschheit spricht.239 Dieser Befund ist hier zunächst festzuhalten. Es wird für die Explikation des Universumsbegriffs in seinem Bezug zum Individualitätsverständnis im nächsten Abschnitt dieses Kapitels (2 B) insbesondere darauf ankommen, die relationale Struktur des Darstellungsbegriffs herauszuarbeiten. Vor diesem Hintergrund wird dann auch verständlich werden, warum für Schleiermacher die „Darstellung der Menschheit" zugleich als „Darstellung des Universums" versiert. 240

c. Die historische Dimension der Menschheit In der Unterscheidung von in der Menschheit angelegten Möglichkeiten und deren konkreter aktualer Verwirklichung in menschlichen Individuen, ist bisher ein Aspekt noch außer acht gelassen worden, auf den Schleiermacher gleichwohl großen Wert legt. Die zugrundeliegende Frage ist bereits im Kontext der Charakterisierung des Individuums als „Compendium der Menschheit" angeklungen. Bezieht sich diese Allheit, wenn Menschheit in ihrem Ganzheitsaspekt alle individuellen Konstellationen humaner Geistigkeit in sich faßt, nur auf tatsächlich verwirklichte Indi238 Vgl. Monologen 40: ,,[W]as jezt meine höchste Anschauung ist, [... ] daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße hervorgehen kann." (Hhg. C.E.). 239 Vgl. Reden 8. 26. 92. 99; Monologen 21. 40. 44. 50. 78. 240 S. dazu unten Abschnitt auf S. 351ff.

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viduen oder auch auf alle möglichen? Während die entsprechende Problemlage im spinozanischen System den Interpreten vor beinahe unlösbare Schwierigkeiten stellt,241 verhält es sich bei Schleiermacher eindeutig: Er löst dieses systematische Problem unter Einbeziehung der Dimension der Geschichte - und führt damit einen Grundgedanken Herders fort. Die Aktualisierung des Humanum in menschlicher Bildung vollzieht sich wie in jedem Individuum, so auch im Ganzen der Menschheit als ein zeitlicher Prozeß. Die Betrachtung von Individuen in ihrer konkreten Bestimmtheit abstrahiert also in gewisser Weise von diesem Prozeßcharakter, indem sie deren Eigenart zu einem bestimmten Zeitpunkt wahrzunehmen versucht. 242 Die Entwicklung des einzelnen Menschen in seiner Bildung ist aber ein stets offener Prozeß. 243 Ein Individuum ist zwar zu einem gewissen Zeitpunkt auf eine gewisse Weise in der Verwirklichung humaner Anlagen bestimmt, aber diese Bestimmtheit ist keineswegs eine endgültige Charakterisierung der Eigenart dieses Individuums. Es ist kein Schluß von der gegenwärtigen auf zukünftige Bestimmtheiten möglich. Denn in beiden Fällen wäre ein Essentialismus vorauszusetzen, der eine Präformation dessen enthielte, worauf das Individuum als auf sein Telos sich hinentwickeln oder ethisch gesprochen: dem es zuzustreben hätte. 244 Hier ist ein weiterer Punkt, an welchem das metaphysische Individuationsproblem für das Problem der Individualität in der Bildungsperspektive Relevanz gewinnt. Das metaphysische Individuationsproblem war in seiner geistigen Zuspitzung mit der Frage der Konstitution von Einzelheit im Geistigen überhaupt befaßt. Käme man hier mit Leibniz etwa auf eine monadische Struktur des Substantiellen, so ist klar, daß die aktuale Bestimmtheit von Individuen nur im Rahmen der Möglichkeiten sich bewegen könnte, die ihnen aufgrund ihrer monadisch-individuellen Struktur ohnehin schon substantiell vorgegeben sind. Demgegenüber hat Schleiermacher, wie wir sahen, in seinen frühen Manuskripten gegen eine solche Auffassung vehement Stellung bezogen. 245 Die eigentliche In241 S.o.S.44ff. 242 Vgl. Reden 94: „Hemme ich in Gedanken den Lauf jenes rastlosen Getriebes, wodurch alles menschliche ineinander verschlungen". 243 Im fünften Monolog: „Jugend und Alter" ist diese Überzeugimg kraftvoll ausgesprochen. Vgl. bes. Monologen 144: „Unendlich ist was ich erkennen und besitzen will, und nur in einer unendlichen Reihe des Handelns kann ich mich selbst ganz bestimmen. Von mir soll nie weichen der Geist, der den Menschen vorwärts treibt, und das Verlangen, das nie gesättigt von dem, was gewesen ist, immer Neuem entgegengeht"; 155: „frisch bleibt der Puls des innern Lebens bis an den Tod." 244 Vgl. U. Barth: Der ethische Individualitätsgedanke (1994), S. 322: „Keineswegs darf die relative Determination durch bereits erfolgte Selbstbildung verwechselt werden mit absoluter Determination im Sinne eigener Wesensvorgegebenheit." 245 Siehe dazu oben S. 160ff.

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tention sowohl bei seiner Spinozarekonstruktion als auch bei deren Verschmelzung mit dem Kritizismus Kants ist es gewesen, Individuation als einen nicht schon im Substantiellen bzw. Noumenalen anzusetzenden, sondern als einen der Sphäre der „Modi" nach Spinoza bzw. der Phaenomena nach Kant zugehörigen Vorgang zu verstehen. Ohne also in irgendeiner Form eine Individualsubstanz anzunehmen, fällt Individuation für Schleiermacher in den Bereich endlicher Bestimmtheit, welche aus einem Aufeinanderbezogensein alles Endlichen resultiert. Die Wechselwirkung im Endlichen ist aber ein offener Gesamtprozeß, so daß auch die daraus sich ergebende Bestimmtheit der Individuen immer nur als relativ abgeschlossen, ihrem Grundcharakter aber als zeitlich offen angesehen werden muß. Entsprechend ist die Idee der Menschheit in den ,Reden' konzipiert. Als Inbegriff geistiger Wechselwirkung zwischen sich bildenden Individuen hat die Menschheit den Charakter eines in zeitlicher Sukzession sich mit Bestimmtheit anreichernden offenen Ganzen, welches der Idee nach gleichwohl auch alle noch nicht aktualisierten individuellen Bestimmungen mitenthält. 246 In diesem Sinne verklammert Schleiermacher „Menschheit" und „Geschichte". Die konkrete Aktualisierung der Menschheit in menschlichen Individuen ist ein historischer Prozeß. „Geschichte" ist „Menschheit [... ] in ihrem Werden" (Reden 99). Und wie die Bildung des Einzelnen eine Zunahme an Bestimmtheit im zeitlichen Werden impliziert, so ist auch der historische Prozeß, in welcher Menschheit als ein Ganzes betrachtet sich entwickelt, als ein Bildungsprozeß verstanden, in welchem die geistige Wechselwirkung in der menschlichen Gattung zu einer „fortschreitenden" 247 Herausbildung von individuellem Geistesleben führt. Alles soll in „organische Bildung umgestaltet", soll „eigenes zusammengeseztes, vielfach verschlungenes und erhöhtes Leben" (Reden 103) sein. Diese Richtimg im historischen Verlauf der Menschheit bezeichnet Schleiermacher als den „Geist in dem das Ganze geleitet wird" (Reden 100; vgl. 106), den „Geist [... ] der die Menschheit beseelt" (Monologen 87) oder schlicht den „Weltgeist" (Reden 103. 107. 237). Der letztgenannte Ausdruck ist - wie schon die Verbindung mit dem Weltbegriff nahelegt - nicht auf die Charakterisierung der Teleologie der Menschheit beschränkt, sondern findet sich auch im Zusammenhang der Naturbetrachtung 248 oder ohne ausdrücklichen Bezug auf eine konkrete Sphä-

246 Vgl. Reden 93. 247 Zum Gedanken des Fortschritts in der Menschheit vgl. Reden 99. 103. 106. 248 Vgl. Reden 108; vgl. 86: „Geist der Welt"; 78 „Anschauung der Welt und ihres Geistes". S.o. S. 323-326.

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re. 249 Anders aber als etwa Schellings „Weltseele" 250 steht Schleiermachers „Weltgeist" jedoch nicht ausschließlich für ein die Natur durchwaltendes Prinzip, sondern ausdrücklich auch für ein Bildungsprinzip der humanen Sphäre des Geistes. Die Menschheit erscheint im Einzelmenschen wie im Prozeß ihrer historischen Entwicklung als ein „Werk des ewigen und Alles bildenden Weltgeistes" (Reden 237). Das Subjekt der Bildung ist hier nicht mehr nur der einzelne Mensch in seiner aneignenden und produktiven Tätigkeit, mit welcher er in Wechselwirkung mit anderen menschlichen Individuen steht und dadurch seine eigene Bestimmtheit lind Eigenart herausbildet. Denn dieser menschliche Bildungsprozeß ist mit dem Ausdruck „Weltgeist" - zu dem „Universum" hier durchaus parallel steht (Reden 143) - zugleich in einen metaphysischen Rahmen eingestellt. Wie beides - Bildung als freiheitliche Tat des Menschen und als Werk des Weltgeistes bzw. des Universums - miteinander vereinbar ist bzw. zueinander im Verhältnis steht, diese Frage führt uns zu einem Problem, das als Grundproblem der Universumskonzeption der ,Reden' bezeichnet werden kann. Es ist die eigentümliche Verhältnisbestimmung von Endlichem und Unendlichem, welche im Begriff „Darstellung des Universums" ihre Codierung erhalten hat. Nicht anders als bei der Analyse der Schleiermacherschen religiösen Naturbetrachtung werden wir also bei der auf die Menschheit gerichteten auf dasjenige Grundproblem geführt, das beide Kontexte miteinander verbindet und so die Basis dafür abgibt, daß Schleiermacher beides als Konkretionssphären von Universum zur Debatte zu stellen vermag. Wie sich im Einzelnen der Natur als eingestellt in den durch Gesetze umschriebenen Zusammenhang das Universum darstellt, so ist das menschliche Individuum in seiner „eigentümlichen" 251 geistigen Konstellation im Kontext der humanen Geistesgeschichte nicht nur Darstellung der Menschheit, sondern zugleich auch Darstellung des Universums (Reden 92.99). Hatte sich das nähere Verständnis dieser beiden Konkretionssphären vor dem Hintergrund von Schleiermachers Spinozarezeption erschließen lassen, so steht nun an, die einschlägigen Bestimmungen des Universumsbegriff selbst vor diesem Hintergrund zu dechiffrieren.

249 Vgl. Reden 54. 80.161. 250 Vgl. dazu oben Anm. 197 auf S. 333. 251 Der Begriff des „Eigentümlichen" ist für Schleiermacher ein Synonym für Individualität. Vgl. Reden 94. Zum begriffsgeschichtlichen Hintergrund vgl. G. Plumpe: Eigentum - Eigentümlichkeit (1979).

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B. Die spinozistische Grundstruktur des Universumsbegriffs Wir haben methodisch den in der Schleiermacherforschung unüblichen Weg über die Analyse der Konkretionssphären von Universum in Natur und Menschheit genommen, um uns die von Schleiermacher mit dem Universumsbegriff intendierte Konzeption gleichsam seinem eigenen Methodenideal gemäß von den Phänomenen her zu nähern und daraus einen für diese Phänomene gültigen Begriff aufzustellen, der dann wiederum an weiteren Phänomenen bewährt werden soll. 252 Letzteres findet in gewisser Weise bei der Untersuchung der Theorie religiöser Bildung zur Individualität Anwendung. Freilich wird auch dort wiederum ein Begriff aus Phänomenen erhoben, nämlich der Begriff der Bildung der Religion. Mit Bezug auf den allgemeinen Begriff der Religion liegt jedoch zugleich eine weitere Konkretion vor. Anschauung des Universums wird als Anschauung religiöser Bildimgsphänomene vor Augen geführt. Deren Untersuchving wird als drittes Kapitel diesen Teil beschließen und so die herausgearbeitete Struktur des Universumsbegriffs am konkreten Phänomen religiöser Bildimg aufzuzeigen versuchen. Zuvor steht es aber an, sich dem Universumsbegriff selbst zuzuwenden. In der Abfolge der zweiten Rede gibt Schleiermacher, noch bevor er in das Feld der Konkretionen geht, eine allgemeine Charakterisierung dessen, was er unter Religion versteht. Die Religion „will im Menschen nicht weniger als in allen andern Einzelnen und Endlichen das Unendliche sehen, deßen Abdruk, deßen Darstellung" (Reden 51). „Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen" (Reden 50). „Das Universum ist in einer ununterbrochenen Thätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblik [... ] und so alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion" (Reden 56). In diesen bekannten Spitzensätzen fällt ein Begriff, der für Schleiermachers Verständnis von Religion schlechterdings fundamental ist. In der Kurzformel vom „Anschauen des Universums" fällt er unter den Tisch, ist aber immer mitgemeint. Es geht in der Religion um das Anschauen des Universums in dessen Darstellungen.253 Der Universumsbegriff und folglich auch das, was Schleiermacher unter Anschauen des Universums verstanden wissen will, bleibt ohne eine Explikation des Darstellungsbegriffs völlig im Dunkeln. In einem ersten Schritt (Β 1) wird es also darum gehen, den Darstellungsbegriff, wie ihn Schleiermacher in der Verbindung mit dem Universumsbegriff gebraucht, zu erläutern. 252 Vgl. zu dieser Methodik Reden 241. Dazu ausführlich P. Grove: Deutungen des Subjekts (2004), S. 253-272. 253 Vgl. P. Grove: Deutungen (2004), S. 616.

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In den angeführten Spitzensätzen der zweiten Rede kommt aber auch noch ein weiteres Element zum Tragen. Das Darstellungstheorem wird mit dem Gegensatz von Unendlichem und Endlichem verkoppelt. Dadurch ergeben sich allererst die theologischen Implikationen des Darstellungsbegriffs, wie sie von Schleiermacher in der Darstellung des Universums im Einzelnen vorausgesetzt werden. In zwei Schritten wird zu zeigen sein, wie die Verschränkung der Darstellungsproblematik mit der Frage nach dem Verhältnis von Unendlichem und Endlichem diejenigen kategorialen Implikationen erzeugt, die auf die Hauptbegriffe für das Konzept einer Darstellung des Universums führen: Totalität (B 2) und Individualität (B 3). In beiden Punkten sollen die systematischen Bezüge zu Schleiermachers Spinozarezeption aufgezeigt werden. Die diffizilen Erörterungen zum Individuationsproblem in den frühen Manuskripten spiegeln sich in den,Reden' im Gedanken einer Darstellung des Universums wider.

1. Die spinozistische Fassung des Darstellungsbegriffs Fragen wir nach der Bedeutung des Darstellungsbegriffs, wie ihn Schleiermacher in dem Ausdruck „Darstellung des Universums" gebraucht, so gilt es zunächst, ihn gegenüber verschiedenen in der Debatte befindlichen Varianten abzugrenzen. Wir hatten oben schon erwähnt, daß „Darstellen" auch in Schleiermachers ,Reden' im Zusammenhang des Mitteilungstheorems als Äußern oder als expressives Handeln zu stehen kommt. 254 Hier knüpft Schleiermacher an den Sprachgebrauch der ästhetischen und vor allem poetologischen Debatte seit 1770 an. Darstellen bezieht sich hier vor allen Dingen auf Menschen, die ihre innere Einstellung auch in einem Äußeren intersubjektiv präsentieren. Dies gilt auch für die religiöse Einstellung und deren Äußerung. 255 Subjekt des Darstellungsvollzugs ist hierbei der (religiöse) Mensch. Mit dem Theorem einer Darstellung des Universums hat dies offensichtlich nur den Begriffsausdruck gemein. Sein Sinn erschließt sich nicht von expressiven Handlungsvollzügen. Näher liegt da die Kantische Fassung des Begriffs als einer Versinnlichung eines (empirischen oder mathematischen) Begriffs in der Anschauung. Die darin implizierte Relation von Allgemeinem (Begriff) und Besonderem (Anschauung) scheint prima facie auch für die „Darstellung des Universums" zuzutreffen, insofern das Universum als sich im „Einzelnen" darstellend aufgefaßt wird. Das Universums wäre in dieser Relation gegenüber dem Einzelnen eine diesem als Besonderem übergeordne254 Teil ΠΙ, Kapitel 1 D, S. 305ff. 255 Darauf werde ich noch zu sprechen kommen. S. u. Kapitel 3 B, S. 389.

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te und insofern allgemeinere Größe. Freilich ist genau zu beachten, was für ein Begriff von Allgemeinheit hier zugrunde gelegt wird. Nach Kant werden Begriffe als allgemeine Vorstellungen „dargestellt" in Anschauungen, welche unter den Begriff subsumierbar sind. Die Allgemeinheit der Begriffe ist also eine generelle Allgemeinheit, das Besondere ist ein Fall des Gattungsbegriffs. Anders sieht es bei Schleiermacher aus. Das dem Universum in der Darstellung zugehörige Relat ist keineswegs bloßer Fall von Universum. Schleiermacher grenzt seine religiöse Menschheitsbetrachtung256 beispielsweise gegen alle Versuche ab, Menschen nach einem allgemeinen Begriff der menschlichen Natur oder nach einem praktischen Ideal zu beurteilen. Dies hieße, sie nur nach ihrer Subsumierbarkeit unter diesen allgemeinen Begriff zu verstehen. Dem stellt er seine Ansicht einzelner Menschen als „Darstellung" der Menschheit entgegen. Die Darstellung der Menschheit richtet sich also nicht auf die Subsumierbarkeit unter die Menschheit, so wie umgekehrt „Menschheit" nicht als allgemeiner Begriff erscheint, der aus den empirischen Vorkommen menschlicher Individuen als deren gemeinsame Merkmalskomplexion abstrahiert werden könnte. Die Differenz von Generellem und Speziellem ist für den Darstellungsbegriff nicht konstitutiv. Rekonstruiert man den Darstellungsbegriff vor dem Hintergrund der Spinozamanuskripte, so lassen sich zwei davon ganz verschiedene Charakteristika in Schleiermachers Konzeption von „Darstellung des Universums" auszumachen. Zum einen impliziert die Darstellungsrelation ein Verhältnis von Ganzem und Teil. Und zum anderen wird sie als ein dynamisches Verhältnis gedacht. Beide Momente sind miteinander verschränkt und erst diese Verschränkung macht das Eigentümliche dieser Konzeption von Darstellung aus. a. Gehen wir zunächst auf die erste Charakterisierung der Darstellungsrelation als Ganzes und Teil ein. Daß diese Kategorie für Schleiermachers Universumsbegriff eine Hauptrolle spielt, liegt auf der Hand. 257 Sucht man den Hintergrund für diesen Aspekt des Darstellungsbegriffs, so ist weniger an die poetologische Debatte oder an die mathematisch-geometrische Bedeutung des Darstellungsbegriffs, als vielmehr an eine metaphysische Bedeutung zu denken. Wie bereits erwähnt, erhält der Darstellungsbegriff durch die Übersetzung des lateinischen „exprimere" oder des französischen „exprimer" einen solchen metaphysischen Sinn. Als ontologischer Relationsbegriff begegnet er in Leibnizens Monadologie 258 und ist keineswegs mit dem gleichlautenden 256 Zum Folgenden s. o. S. 328ff. 257 Vgl. Reden 51. 56. 57. 71. 152. 253f. Im Zusammenhang der Menschheitsthematik vgl. Reden 94f. 136. Im Zusammenhang religiöser Bildung vgl. Reden 62. 239. 253. 265. 258 S. o. Teil I, S. 33 und Teil ΠΙ, S. 297f.

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Begriff künstlerischen Ausdrucks in der französischen Geschmacksdebatte zu verwechseln. „Exprimer" bedeutet in diesen metaphysischen Zusammenhängen eine bestimmte Relation zwischen zwei Relaten. So werden „Beziehungen" zwischen den Monaden bzw. ihren Körpern in den Perzeptionen „ausgedrückt" oder „repräsentiert". 259 Besonderes Interesse im Zusammenhang des Universumsbegriffs muß hier das Leibnizsche Theorem auf sich ziehen, wonach ein einzelner Körper insofern das ganze Universum „ausdrückt" (exprimit) als er in seinen bestimmten Relationen Teil des als erfüllt gedachten Ganzen der körperlichen Welt ist. Schleiermacher hat die entsprechenden Leibniz-Stellen im Zuge seiner Jacobi-Lektüre zur Kenntnis genommen. Er hatte jedoch den Verdacht, daß Leibnizens Monaden-Modell individueller Substanzen mit diesem Aspekt der universalen Relationalität eigentlich unvereinbar sei.260 Wie im letzten Teil261 expliziert, nahm Schleiermacher deshalb den „Übergang zum Spinozismus", behielt das ihm einleuchtende Theorem universaler Bezogenheit, aber verwarf den Substanzenindividualismus zugunsten von Spinozas Monismus. Dieser Monismus ist aber der einer erfüllten Einheit. Schleiermacher denkt sich das „Spinozistische Universum" (KDSp 578) mit Lessing als ein „Ganzes nach der Analogie eines organischen Körpers" , d. h. als ein Ganzes aufeinander bezogener „Theile" (Sp 532). Der Darstellungsbegriff gewinnt seine Pointe in diesem systematischen Kontext. Im Partikularen wird das Ganze dargestellt. In Spinozas Begrifflichkeit findet man sich hier im Zusammenhang des Verhältnisses von „unendlichem Modus" und „endlichen Modi". Jener ist die Ganzheit, von der endliche Modi Teile sind. Schleiermacher denkt sich nun das Verhältnis von Substanz und endlichen Modi als das einer „mittelbaren" Inhärenz: Nur dadurch, daß die endlichen Modi Teile des Ganzen, also des unendlichen Modus, sind, inhärieren sie bzw. sind sie „in" der Substanz. Dieses Verhältnis kann auch umgekehrt von der Substanz her expliziert werden und in diesem Zusammenhang fällt dann auch der Darstellungsbegriff: „Die Substanz aber muß beständig [... ] alle möglichen Modifikationen [d. h. die endlichen Modi] von Bewegung und Ruhe [als dem unendlichen Modus unter dem Attribut Extensio], von Vorstellung und Begierde [als dem unendlichen Modus unter dem Attribut Cogitatio] darstellen" (Sp 551, Hhg. C.E.). Die endlichen Modifikationen sind gerade insofern Darstellungen der Substanz, als sie Modifikationen des in den unendlichen Modi gegebenen Inbegriffs aller möglichen Modifikationen der Substanz bilden, d. h. insofern sie Teil dieses Ganzen sind. Der Dar259 S. o. Teil Π, Anm. 74 auf S. 162. 260 Deshalb mußte Leibniz auch zu so komplizierten Konstruktionen wie dem der vorgängigen Harmonie („harmonie preetablie") greifen. 261 S. o. Teil Π, Kap. 2 A, S. 160ff.

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stellungsbegriff hat also die Funktion, den Status der endlichen Modifikationen als partikulare Gestalten des Ganzen unendlicher Modifikationen der Substanz auf den Begriff zu bringen. Die Substanz stellt endliche Modifikationen dar heißt dann so viel wie: diese endlichen Modifikationen sind Teil des Ganzen aller möglichen Modifikationen der Substanz. Daran läßt sich aber ein fundamentaler Aspekt des Darstellungstheorems festmachen: Das Ganze wird im Teil dargestellt heißt: Die Manifestation des Ganzen vollzieht sich nicht anders als in seinen Teilen. Eine Stelle in den ,Reden' mag diesen Gedanken verdeutlichen, die zugleich den zweiten, dynamischen Aspekt des Darstellungsbegriffs ausspricht: „Jede unendliche Kraft, die sich erst in ihren Darstellungen theilt und sondert, offenbart sich auch in eigentümlichen und verschiedenen Gestalten" (Reden 241). Die „Darstellungen" einer Kraft sind deren Manifestation oder Äußerungsform. Die Kraft „offenbart" sich in ihnen und eine Kraft zu denken ohne deren Erscheinung, ist ein sinnloses Unterfangen. 262 Entsprechend heißt es von der „unendlichen ungetheilten Menschheit": „sie suchet in jedem Einzelnen, seht das Dasein eines Jeden an als eine Offenbarung von ihr an Euch" (Reden 91). Die Menschheit manifestiert sich in den individuellen Bildungen humaner Geistigkeit. 263 So manifestiert sich das „Universum" als ein Ganzes in seinen Teilen. Sie sind dessen Darstellungen. b. Die zweite Charakterisierung des Darstellungstheorems zielt auf deren Charakter als einer dynamischen Relation. In den ,Reden' kommt dies durch Formulierungen zum Ausdruck, in denen vom „Handeln des Universums" die Rede ist.264 In der Naturbetrachtung, so hatten wir gesehen, ging es Schleiermacher darum, die ewigen Gesetze der die Körper bildenden Kräfte in allen Begebenheiten zu erblicken. In der religiösen Anschauung des Humanen sollte der „Genius der Menschheit" in allen seinen Werken, der „Bildungstrieb", der die Geschichte durchwaltet, in deren Verläufen entdeckt werden. „Universum" ist gleichsam der „Inbegriff" dieser Struktur. 265 Schleiermacher stellt es sich vor als ein tätiges Prinzip. In einer Notiz, vermutlich noch vor Abfassung der ,Reden', faßt er Universum, Geschichte und natürliche Welt unter diesem Gesichtspunkt zusammen. Die Stelle liest sich wie ein Konzentrat der,Reden': „Das Universum gleicht darin dem Menschen daß die Thätigkeit 262 Hier hat der Darstellungsbegriff durchaus Affinitäten zum Erscheinungsbegriff, wie ihn Schleiermacher später in dem Begriffspaar von Kraft und Erscheinung in der Dialektik' entfalten und in der Glaubenslehre zur Grundlage seines Wesensbegriffs machen wird. Vgl. GKS 68; DialM 1814/15 § 181f, S. 118f; CG 2 § 10. Vgl. dazu die luzide Darstellung von M. Schröder: Kritische Identität (1996), S. 158-169. 263 S. o. S. 327ff. Vgl. G Wenz: Sinn und Geschmack (1999), S. 9.11. 264 Reden 50. 56. 57. 58. 67. 99.119.126.129.130. 265 Vgl. C. Seysen: Die Rezeption des Atheismusstreits (1999), S. 186.

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die Hauptsache ist, die Begebenheit nur das vergängliche Resultat. Der ächte historische Sinn erhebt sich über die Geschichte. Alle Erscheinungen sind nur wie die heiligen Wunder da um die Betrachtung zu lenken auf den Geist der sie spielend hervorbrachte./Wie bei dem Menschen du forschest nach dem was drinnen sich reget,/ Unbeachtend was er äußerlich leidet und thut/ Also auch in der Welt such auf der ewigen Kräfte/ unvergänglich Gesez, würdige hohe Gestalt." 266 Tätigkeit, Handlung, das ist der „Geist" als das Prinzip der Menschheit und des Universums in allen Darstellungen. 267 Darstellung impliziert damit zugleich eine Ursache-Wirkungsrelation. Nichts anderes bedeutet ja die Rede vom Handeln oder vom Tätigsein des Universums. Der „Weltgeist" ist das die Welt durchdringende Prinzip. Alle natürlichen Begebenheiten, alle menschliche bestimmte Bildung ist von diesem Prinzip abhängig. Schleiermacher sieht dieses Tätigsein des Universums aber nicht isoliert, sondern verkoppelt es mit der Struktur von Ganzem und Teil. Darstellung des Universums ist so einerseits Handeln des Universums andererseits dessen Manifestation. Kausalität und Dependenz werden verschränkt mit der Manifestation des Ganzen im Teil. So kann Schleiermacher etwa mit traditionell schöpfungstheologischem Ausdruck feststellen: „Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion" (Reden 57), nicht ohne aber sogleich hinzuzufügen: „es drückt ihre [sc. der Begebenheiten] Beziehimg auf ein unendliches Ganzes aus". c. Die Verschränkimg dieser beiden kategorialen Relationen - von Ganzem und Teil einerseits und Ursache-Wirkung andererseits - ist ein Vorgang, der sein Urbild in Spinozas Theorie immanenter Kausalität besitzt. Die causa immanens ist eine Verschränkung der causa emanens mit der causa activa. Emanierende Kausalität ist Ursächlichkeit des Wesens in Bezug auf seine Eigenschaften und impliziert eine Manifestation des Wesens in den Eigenschaften. Die causa activa ist tätige Ursache ihrer Wirkungen.268 Immanente Kausalität als Verschränkung beider Kausalitätsformen bedeutet eine Manifestation der tätigen Ursache in ihren Wirkungen. Diese Art der Verursachimg sieht Spinoza ausschließlich in der Art der göttlichen Kausalität. Sie ist zufolge der Unendlichkeit und daher Einzigkeit Gottes zugleich die einzige in allen Dingen als in ihren Eigenschaften sich manifestierende tätige Ursache. Spinoza bringt also in seinem Gottesbegriff den Gedanken der immanenten, tätig sich manifestierenden Ursache mit dem Gegensatz von Unendlichkeit und Endlichkeit zusammen. 266 Gedanken m (ca. 1798/99) Nr. 30, KGA1/2, S. 126. 267 Zum Begriff des Geistes in diesem Sinne vgl. Reden 57. 86. 78 („Geist der Welt"); Monologen 87 („Geist der Menschheit"); Reden 255. 260. 281. 304 („Geist der Religion"). 268 S.o. Teil I,S. 16ff.

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ΓΠ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der ,Reden'

Ähnlich ist auch bei Schleiermacher die Verschränkung von Ganzem und Teil mit Tätigkeit und Dependenz im Begriff „Darstellung des Universums" zu verstehen. Nicht nur kann das „Unendliche" notorisch den Platz des Universums in der „Darstellung des Universums" einnehmen. Schleiermacher spricht so von „Darstellung des Unendlichen". Darüber hinaus kommt auch das „Endliche" in diesem Darstellungsverhältnis zu stehen: „in allen [... ] Endlichen das Unendliche sehen, deßen Abdruk, deßen Darstellung" (Reden 51, Hhg. C.E.) und: „alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion" (Reden 56, Hhg. C.E.). Die Begriffe des Unendlichen und des Endlichen sind zunächst für sich genommen noch völlig offen. Schleiermacher kann von „Unendlichkeit" auch im Sinne numerischer Unendlichkeit sprechen (Reden 81f), die sich durch die Zählbarkeit ihrer Elemente auszeichnet. Als Äquivalent zu Universum kommt dieser Unendlichkeitsbegriff aber offenbar nicht in Frage: „das, ich bitte Euch [... ] rechnet mir nicht zur Religion" (Reden 81). 269 Das Korrelat eines numerischen Unendlichkeitsbegriffes ist ein Begriff des Endlichen, der sich durch Abzählbarkeit auszeichnet und also Gleichförmigkeitsbedingungen erfüllen muß. Die Abgrenzung der religiösen Sicht auf das Endliche von dieser numerischen Endlichkeit ist ebenso deutlich: Die Religion „flieht mit Widerwillen die kahle Einförmigkeit" (Reden 63f). 270 Der tiefere Grund dieser Abgrenzung vom numerischen Unendlichkeits- bzw. Endlichkeitsbegriff liegt darin, daß Schleiermacher Unendlichkeit und Endlichkeit mit dem Darstellungstheorem verkoppelt. Dadurch gewinnen beide Begriffe eine für die Religionstheorie entscheidende Näherbestimmung: Das Unendliche wird zur Totalität und das Endliche wird zum Individuum näherbestimmt. 271 Wir wollen uns beides getrennt voneinander vor Augen führen, indem wir diese Verkoppelung mit dem Darstellungstheorem zunächst am Ort des Unendlichkeitsbegriffs (B 2), dann am Ort des Endlichkeitsbegriffs (B 3) rekonstruieren.

2. Darstellung des Universums als Totalität Der Totalitätsgedanke ist im Zusammenhang des religiösen Natur- bzw. Menschheitsverständnisses schon angeklungen. Es gilt nun, seine kategorialen Implikationen und seine Stellung im Zusammenhang des Darstel269 Diese Abgrenzung vom numerischen Unendlichkeitsbegriff findet sich auch schon in den Spinozamanuskripten. Vgl. KDSp 568f. Dazu s. o. Teil Π, S.169ff. 270 Vgl. Reden 53. 92. 239. 273. 310. 271 Vgl. C. Seysen: Rezeption (1999), S. 186.

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lungstheorems aufzuschlüsseln, um ein zentrales Interpretationsproblem der Reden, die Stellung von Menschheit, Natur und Universum zueinander erläutern zu können. Die folgende Rekonstruktion, das sei noch einmal betont, steht unter dem kritischen Vorbehalt, daß wir hier Schleiermachers Aussagen vorerst unter Absehung vom Problem des epistemischen Zugangs nehmen. Die bewußtseinsphilosophische und damit auch kritisch-idealistische Aussageperspektive, die Schleiermacher in seiner Beschreibung der Struktur religiösen Bewußtseins stets einnimmt, soll bis zum nächsten Abschnitt (B 3) zurückgestellt werden. Denn es gilt zunächst, die im intentionalen Relat des Bewußtseins gefaßten Strukturen nach ihren kategorialen Beziehungen zu klären. In diesem Sinne sind die folgenden Ausführungen zur Struktur des Universumsbegriffs zu verstehen. Der Zusammenhang von Darstellungstheorem, Unendlichkeits- und Einheitsgedanke sowie schließlich Totalitätsbegriff soll in drei Schritten erläutert werden. Schleiermachers Universumsbegriff erfährt in dieser Sequenz eine Anreicherung von kategorialen Bestimmungen. a. Im Darstellungsbegriff verbinden sich für Schleiermacher die beiden Momente von sich in ihren Teilen manifestierender Ganzheit und Ursächlichkeit zu dem Gedanken einer sich in ihren Wirkungen handelnd manifestierenden Kraft. Der Gedanke steht zu Spinozas causa immanens durchaus parallel, insofern in beiden ein Partizipationsgedanke mit dem Gedanken einer Wirkursache verbunden ist. Wie Spinozas immanente Kausalität, so hätte Schleiermachers Darstellungsbegriff aber noch gar keine Affinität zur theologischen Thematik, wenn nicht in beiden Fällen der Gedanke des Unendlichen damit verknüpft würde. Spinozas Hauptsatz in Eth. I, prop. 16-18 handelt von der immanenten Kausalität Gottes. Schleiermacher spricht von der Darstellung des Universums. Beides ist generiert durch den Unendlichkeitsgedanken.272 Der Begriff des „Unendlichen" erscheint bereits in Schleiermachers ,Kurzer Darstellung des Spinozistischen Systems' in Verbindimg sowohl mit der Teil-Ganzes-Kategorie als auch mit der Kausalitätsthematik. Das „Unendliche", darin folgt Schleiermacher der Terminologie Jacobis, vertritt hier den spinozanischen Begriff der göttlichen Substanz. Das „Unendliche Ding" ist „das unbedingte, welches nicht außerhalb der Reihe sondern nur in dem ganzen Inbegrif derselben zu finden ist" (KDSp 567). „Inbegrif" steht hier für die Ganzheitsdimension des Unendlichen, 273 Unbedingtheit für die Kausalitätsdimension. Beide sind nur korreliert zu denken. Das Unendliche ist als Unbedingtes nur im Ganzen und im Ganzen nur als Unbedingtes. 272 Zu Spinozas Entwicklung des Theorems immanenter göttlicher Kausalität s. o. Teil I, Kapitel 1 A, S. 14ff. Zur Rolle des Unendlichkeitsgedankens bes. S. 29ff. 273 S.o.Teiln,S.262ff.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

In den,Reden' steht der Begriff des „Unendlichen" dann synonym zu „Universum" und verbindet sich genausogut mit dem Anschauungsbegriff274 wie mit dem Darstellungsbegriff275. Dem Unendlichen wird entsprechend auch hier eine Ganzheitsdimension 276 ebenso zugesprochen wie ein Tätigkeitscharakter.277 b. Die Verbindung des Darstellungstheorems mit dem Unendlichkeitsgedanken hat nun gewichtige einheitstheoretische Konsequenzen. Betrachten wir zunächst die einheitstheoretischen Implikationen des Darstellungstheorems. Im Darstellen verschränken sich Ganzheit und Ursächlichkeit. Nun weist ein Ganzes, das zugleich Ursache ist, durch seine Ursächlichkeit immer eine Einheit auf. Als Ursache wird das Ganze zu einer holistischen Einheit. Dies gilt aber für endliche Ganze genauso wie für unendliche. Ein Ganzes kann endlich sein und doch durch seine Tätigkeit eine Einheit ausmachen. Ein organischer Körper ist beispielsweise von einer solchen Struktur. Wenn nun Schleiermacher das spinozistische Ganze „nach Analogie eines organischen Körpers" als unendliches Ganzes, das zugleich Prinzip ist, vorstellt, so hat das auch Konsequenzen für den Status der an diesem unendlichen Ganzen festzumachenden Einheit. Als unendliche Kraft muß sich ihre Einheit in allen Erscheinungen als in ihren Teilen manifestieren. Die Einheit dieses unendlichen Ganzen bezieht sich nicht auf eine beschränkte Sphäre, neben welcher andere beschränkte Sphären denkbar wären, sondern manifestiert sich, alle Beschränkungen relativierend, an einem unendlichen Ganzen: „unter allen Verkleidungen dasselbe erkennend und nirgends ruhend als in dem Unendlichen und Einen" (Reden 172). 3. Die Verschränkung von Einheit und unendlicher Ganzheit heißt aber „Totalität". Schleiermacher führt diesen wichtigen Begriff im Zusammenhang seiner einheitstheoretischen Stufenfolge religiöser Anschauungen ein. 278 Die höchste Stufe und damit den Vollbegriff von Universum kennzeichnet, daß „das Universums sich als Totalität, als Einheit in der Vielheit, als System darstellt" (Reden 128). Diese Position wird bezeichnenderweise mit Spinoza identifiziert: „Sollte nicht der, der es so anschaut als Eins und Alles, [... ] sollte nicht Spinoza [... ]?" Der Begriff der Totalität ergibt sich aus dieser Passage durch seine Näherbestimmungen einerseits als „Einheit in der Vielheit", andererseits als „Eins und Alles". Die spinozistische Programmformel „Ef καυ παν" ist in den ,Reden' an 274 275 276 277 278

Reden 26. 54. (51: sehen, 138: wahrnehmen). Reden 51. 56. Reden 126. 56.114. Reden 56.138.146. Dieses Stufenschema zieht Schleiermacher in den,Reden' öfters heran: Reden 126-128. 187. 202f. 240. 255f.

2. Das spinozistische Fundament

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vielen Stellen präsent.279 Es geht nicht um Einheit in einer begrenzten Vielheit, sondern um Einheit in der Allheit, d. h. in der unendlichen Vielheit. Dafür steht auch der Systembegriff, den Schleiermacher ausdrücklich mit dem Unendlichkeitsgedanken verbindet.280 Es ist klar, daß Schleiermacher hier das Universum als eine Totalität, als eine Einheit in der unendlichen Vielheit bestimmt. Es ist dabei aber noch nicht gesagt, ob auch jede Totalität zugleich die des Universum sein muß. Von der Analyse der Natur- und Menschheitsbetrachtung legt sich etwas anderes nahe. Die Natur wird nicht anders als die Menschheit als ein unendliches Ganzes vorgestellt, das von einem Prinzip, dem „Weltgeist" oder „Geist der Menschheit" durchwaltet ist. Der Struktur nach liegen hier also auch Totalitätsvorstellungen vor. Gleichwohl unterscheidet Schleiermacher diese vom Universum. Die Passage in den Reden, wo dies besonders deutlich herausgestellt wird, folgt auf die Thematisierung von Natur- und Menschheitsbetrachtung in der zweiten Rede und hat die Absicht, die beiden Sphären in Bezug zueinander wie zum Universum zu klären. Für die Frage nach dem Status des Totalitätsbegriffs in Natur und Menschheit auf der einen, im Universum auf der anderen Seite ist diese Stelle von daher aufschlußreich und soll hier in voller Länge angeführt werden. Paradigma der Unterscheidung ist die Menschheit, welche dem Kontext nach hier als Totalität im sukzessiven Gang der Geschichte verstanden wird. „Wenn die Menschheit selbst etwas bewegliches und bildsames ist, wenn sie sich nicht nur im Einzelnen anders darstellt, sondern auch hie lind da anders wird, fühlt Ihr nicht daß sie dann unmöglich selbst das Universum sein kann? Vielmehr verhält sie sich zu ihm, wie die einzelnen Menschen sich zu ihr verhalten; sie ist nur eine einzelne Form deßselben, Darstellung einer einzigen Modification seiner Elemente, es muß andre solche Formen geben, durch welche sie umgrenzt, und denen sie also entgegengesezt wird. Sie ist nur ein Mittelglied zwischen dem Einzelnen und dem Einen, ein Ruheplatz auf dem Wege zum Unendlichen, und es müßte noch ein höherer Charakter gefunden werden im Menschen als seine Menschheit um ihn und seine Erscheinung unmittelbar aufs Universum zu beziehen." 281 Schleiermacher schließt eine Identifikation von Menschheit und Universum kategorisch aus.282 Wenn das Universum nur „Genius der Menschheit" wäre, so das Argument, könnte es keinen Fortschritt, kein Werden der Menschheit, keine Geschichte geben. An der Perfektibilität aber lasse sich ablesen, daß die Menschheit selbst nur Modifikation sei. 279 280 281 282

Vgl. Reden 51. 64.128. 132.165. Vgl. Reden 59. Reden 104f, Hhg. im Original gesperrt. Vgl. auch Reden 125.131.

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LH. Anschauung des Universums als Leitbegriff der ,Reden'

Das Argument verfängt nicht recht. Denn wie sollte eine Bildbarkeit der Menschheit aussehen, wenn nicht über die Modifikation der Individuen. Daß die Menschheit in der Geschichte anders wird, heißt ja nur, daß der geschichtliche Prozeß ihrer Darstellung im komplexen Beziehungsnetz menschlichen Individuen nicht abgeschlossen, sondern zeitlich entschränkt ist. 283 Dennoch hat die These, die Menschheit sei Modifikation des Universums einen guten Sinn. Dann nämlich, wenn man diese ganze Passage in dem Kontext sieht, in dem sie steht. Schleiermacher hatte zuvor die beiden Konkretionssphären religiöser Anschauung vorgeführt: Natur und Menschheit. Nun hebt er an, dem Mißverständnis vorzubeugen, als würde sich die Idee von Universum in diesen beiden Sphären erschöpfen. Nicht daß uns tatsächlich andere Konkretionen zugänglich wären, aber wenn wir eine von den beiden Sphären mit dem Universum identifizieren, ist eine religiöse Anschauung in der anderen ausgeschlossen. So hat die Passage ihren systematischen Sinn darin, die Bedingung der Einheit beider Sphären zu thematisieren.284 Dies wird im Blick auf eine darin implizierte Erscheinungslehre noch weiter zu interpretieren sein. 285 Bleiben wir zunächst bei den Charakteristika der Darstellungsrelation. In der angesprochenen Passage wird diese von Schleiermacher, ausgehend von der Differenzierung von Universum und Menschheit, in sich noch einmal differenziert. Er macht dabei eine Analogie zwischen zwei Relationen auf, wobei als „Mittelglied" die Menschheit fungiert. Wie diese sich zum Universum verhält, so verhalten sich die einzelnen Menschen zur Menschheit. Das Analogans ist hier, Darstellung zu sein. Daß die einzelnen Menschen in ihrer Individualität als Darstellung der Menschheit aufgefaßt werden können, hatte Schleiermacher ausgiebig beleuchtet, aber was soll es bedeuten, die Menschheit als eine Darstellung des Universums anzusehen? Inwiefern kann sie als „Darstellung einer einzigen Modification seiner Elemente" oder wie es an anderer Stelle heißt: als „eine von den größten Handlungen des Universums" (Reden 99) verstanden werden? Wichtig scheint mir zunächst, daß Schleiermacher den Status der Menschheit herunterstuft und zwar in zwei Hinsichten. Sie ist nicht selbst Universum oder Höchstes, sondern nur dessen Darstellung. Und sie ist nichts als nur Darstellung einer einzigen Modifikation - unter anderen Modifikationen, muß man wohl ergänzen - , nur 283 S. o. S. 346ff. 284 Reden 105: „Nach einer solchen Ahndung von etwas außer und über der Menschheit strebt alle Religion um von dem gemeinschaftlichen und höheren in beiden ergriffen zu werden" (Hhg. C.E.). Diese Pointe scheint mir die Rede von einem „eschatologischen Bezug", den Gunter Wenz in diesem Diktum sieht, zu verdecken. Denn er suggeriert dadurch gleichsam einen dritten Weg zum Unendlichen, an Natur und Menschheit vorbei. Vgl. G. Wenz: Sinn und Geschmack fürs Unendliche (1999), S. 11. 285 Siehe den nächsten Abschnitt in diesem Kapitel, unten S. 369ff.

2. Das spinozistische Fundament

361

eine von den größten Handlungen des Universums, nicht dessen einzige Handlung schlechthin. Beide Herabstufungen lassen sich vor dem Hintergrund von Schleiermachers Spinozadeutung verständlich machen. Einschlägig ist hier Schleiermachers Verständnis der „unendlichen Modi" Spinozas. In den Jugendmanuskripten hatte Schleiermacher im Zusammenhang des Individuationsproblems festgehalten, das spinozistische Einzelding sei ein „Aggregat von verschiedenen Mischungen der unmittelbaren u n d mittelbaren m o d o r u m " (Sp 578). Die unendlichen, oder wie Schleiermacher sagt: die unmittelbaren Modi sind die Totalitäten aller endlichen Modifikationen unter den jeweiligen Attributen der göttlichen Substanz. Die „Mischung" derselben, so hatten wir Schleiermachers Ausdruck interpretiert, 286 kann keine kausale Interdependenz der endlichen Modi unter verschiedenen Attributen bedeuten, sondern reflektiert das Verständnis, daß jedes „Ding" (res) als dasselbe zu betrachten ist, mögen wir es nun als Körper oder als Geist ansehen. Beide Aspekte sind miteinander „verbunden" oder, wie es etwas unschärfer heißt, befinden sich in einer „Mischung". Dies bedeutet also, daß nichts Körper ist, das nicht zugleich als Geist angesehen werden kann und umgekehrt. Mit anderen Worten: Schleiermacher hat die Gleichursprünglichkeit der spinozanischen Attribute ebenso verstanden wie die Strukturisomorphie der in ihren jeweiligen unendlichen Modi enthaltenen endlichen Modi. Diese Momente liegen n u n offenbar der angesprochenen Passage der ,Reden' zugrunde. Daß Menschheit „Darstellung einer einzigen Modification der Elemente des Universums" ist, heißt spinozistisch entschlüsselt: Die Menschheit erscheint hier in der Position des unendlichen Modus. Ein unendlicher Modus ist der Inbegriff oder die Totalität der unendlichen Modifikationen der göttlichen Substanz unter einem Attribut betrachtet. Zugespitzt: er ist die Totalität nur eines einzigen Attributs, denn die göttliche Substanz hat unendlich viele gleichursprüngliche u n d isomorphe Attribute. Der Ausdruck „Modification der Elemente des Universums" hat seine Entsprechung im spinozanischen Attributsbegriff. Er steht für eine zwar dem Universum ursprüngliche, aber nicht exklusive, sondern anderen solchen koordinierte Konstitutionsweise desselben. Wenn die Menschheit in der Geschichte n u n als Darstellung dieser ursprünglichen, aber nicht exklusiven Konstitutionsweise des Universums bezeichnet wird, so heißt das: sie ist eine von mehreren Darstellungszwefsen des Universums. Spinoza führt, u m die Spezifik des Unendlichkeitsbegriffs, wie er im Attributsbegriff einerseits und im Gottesbegriff andererseits unterschieden ist, auf den Begriff zu bringen, die Differenz von „unendlich in seiner 286 S.o.S. 193ff.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der ,Reden'

Gattung (infinitum in suo genere)" und „schlechthin unendlich (absolute infinitus)" ein. 287 Schleiermachers Begriffen von Menschheit und Universum könnte man eine analoge Unterscheidung in Bezug auf den implizierten Totalitätsbegriff zuordnen. Menschheit wäre eine Totalität „in suo genere", denn sie bezieht sich als von einem einheitlichen Prinzip konstituiertes Ganzes nur auf die Sphäre humaner 288 Geistigkeit. Alles, was nicht auf der Ebene möglicher geistiger Vollzüge von Menschen liegt, etwa körperliche Kräfte, kann nicht als Teil der Menschheit verstanden werden. Das Gleiche gilt für die Totalität aller natürlichen Kräfte im Begriff der Natur. Geistige Phänomene sind nicht deren Teil.289 Man könnte hier von untergeordneten Totalitäten sprechen, welche gleichursprünglich und nicht auseinander ableitbar sind. Beides ergibt sich erst in Bezug auf eine höhere Einheit, welche, weil sie ein unendliches Ganzes in sich unendlicher Sphären enthalten muß, als absolute Totalität bezeichnet werden kann. Dies ist die Totalität des Universums. Das Universum müßte seiner Idee nach in sich unendliche Totalität unendlicher Totalitäten sein. Dieser Begriff absoluter Totalität bedeutet absolute Einheit an absolut unendlicher Ganzheit. Absolute Einheit wäre dabei das aktive Prinzip einer sich in den untergeordneten Totalitäten und vermittels dieser in allen ihren Teilen manifestierenden Ganzheit. Wenn die Menschheit als ein „Mittelglied zwischen dem Einzelnen und dem Einen" bezeichnet wird (Reden 105), liegt dem diese Struktur zugrunde. Als untergeordnete Totalität ist die Menschheit zugleich Ganzes in Bezug auf die einzelnen Vollzüge humaner Geistigkeit und Teil in Bezug auf die absolute Totalität des Universums. Insofern „verhält sie sich zu ihm wie die einzelnen Menschen sich zu ihr verhalten" (Reden 104). Das Konstrukt der „mittelbaren Inhärenz" alles Endlichen im Unendlichen, wie Schleiermacher die ontologische Grundrelation des Spinozismus in den Spinozamanuskripten auf den Begriff gebracht hat, findet so in den ,Reden' seine Entsprechung in der einheitstheoretischen Struktur des Universumsbegriffs. 287 Eth. I, def. 6, explicatio. Dazu oben Teil I, S. 49ff, bes. S. 36. 288 In der Beschränkung auf die humane Geisügkeit liegt freilich eine Differenz des Menschheitsbegriffs zu Spinozas Attribut Cogitatio und dem intellectus infinitus als dem entsprechenden unendlichen Modus vor. Schleiermacher faßt nicht Geistigkeit überhaupt, sondern nur menschliche Geistigkeit im Begriff der Menschheit. In einem späteren Gedankenheft von 1802 reflektiert er diese Überlegung: „Ist es nicht anmaßend, daß der Mensch glaubt auch nur als Modification mit Gott unmittelbar zusammenzuhängen. Er ist wol nur Modification des Erdgeistes." (Gedanken V, Nr. 165, KGA 1/3, S. 323f). 289 Die in der philosophischen Ethik grundlegende Polarität von Vernunft und Natur reflektiert diese gegenseitige Unableitbarkeit beider Sphären. Schleiermacher spricht hier vom „Ineinander" bzw. vom „Einssein" von Vernunft und Natur. Vgl. PhE (Einl verm. 1816/17) 532. 542f.

2. Das spinozistische Fundament

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Daß Schleiermacher diesen Gedanken in diesen wenigen Sätzen in den ,Reden' mehr angedeutet als ausgesprochen hat, begründet er damit, daß „dies auch der Punkt [sei] wo ihre [sc. der Religion] Umriße sich dem gemeinen Auge verlieren" (Reden 105). Seinen tieferen Grund hat diese Zurückhaltung darin, daß das Universum als absolute Unendlichkeit und absolute Totalität ein rein spekulativer Gedanke ist. Genau an diesem Punkt setzt nämlich ein kritisches Bewußtsein die Schranke, jenseits derer es seinen Ideen keine Anschauung mehr unterlegen kann. Religion als Anschauung hat so mit der ontologischen Spekulation über die „Natur und Substanz des Ganzen" (Reden 56) nichts zu tun. Doch davon später (Kapitel 2 C). Hier sei noch eine Bemerkung in systematisch-vergleichender Absicht gemacht. Sieht man von dieser Rekonstruktion des Begriffs der Darstellung des Universums zurück auf die Philosophie Spinozas, so hätte der Universumsbegriff seine Entsprechung in einer Verschränkung von absolut unendlicher göttlicher Substanz und dem vermittelten unendlichen Modus, der die reine in den unendlichen Modi aller Attribute isomorphe Struktur enthält.290 Spinoza bezeichnet in einem Brief diesen vermittelten unendlichen Modus als „gleichbleibende Gestalt des ganzen Universums, die, obwohl sie auf unendliche Weisen modifiziert ist, doch immer dieselbe bleibt." 291 Der göttlichen Substanz Spinozas ist der Universumsbegriff der ,Reden' äquivalent, insofern Universum absolute Totalität als absolute Einheit an unendlicher Ganzheit ist. Der „gleichbleibenden Gestalt des ganzen Universums" entspricht Schleiermachers Universumsbegriff, insofern Universum absolute Totalität als absolute Einheit an unendlicher Ganzheit ist. Die „facies totius Universi" ist wie der Universumsbegriff der,Reden' also eine nicht-material gefaßte, sondern als rein formale Struktur sich in aller materialen Ganzheit manifestierende Totalität. Dies ist die Erwägung einer systematischen Parallele. Daß an dieser Stelle bei Spinoza der Universumsbegriff fällt, der ansonsten in seinem Werk nicht sonderlich häufig ist, 292 soll daher nicht etwa bedeuten, daß 290 Anders als im Sprachgebrauch der Rekonstruktion Spinozas durch Jacobi und Schleiermacher, wonach „vermittelte" Modi die durch den unendlichen Modus vermittelten endlichen Modifikationen sind, heißt im System Spinozas der durch die unendlichen Modi (Eth. I, prop. 21) modifizierte unendliche Modus (prop. 22) „vermittelt" (mediante aliqua modificatione, prop. 23, dem). Siehe dazu oben Teil II, Anm. 104 auf S. 172. Zur Interpretation des mittelbaren unendlichen Modus als inhaltsleerer für alle Attribute gültiger Struktur vgl. W. Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen (1992), S. 41f. Gueroult I (1974), S. 314f sieht ihn dagegen als Modus nur der Extensio. 291 „facies totius Universi, quae quamvis infinitis modis variet, manet tarnen semper eadem", Brief an Schuller vom 29.7.1675, Ep. 64, Opera IV, S. 278.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

Schleiermacher den Text dieser Briefstelle bei der Bildung seines Universumsbegriffs vor Augen gehabt hätte. Zur Zeit seiner Spinozalektüre via Jacobi konnte er die Stelle noch nicht kennen, weil Jacobi sie nicht verzeichnet. Bis zu den ,Reden' hat Schleiermacher aber die ,Opera posthuma' gekannt, sie wäre ihm also prinzipiell zugänglich gewesen. Aber er brauchte den Universumsbegriff selbst gar nicht aus Spinoza zu nehmen, er fand ihn bei Leibniz oder in Jacobis Bruno-Auszügen. Zudem war er in der Frühromantik in aller Munde. Viel wichtiger als der Begriffsausdruck ist denn auch das, was Schleiermacher damit verband. Und hier meine ich einige Gründe aufgezeigt zu haben, daß spinozanisch-spinozistischer Einfluß vorliegt. Wenn nun aber Universum absolut-unendliche Totaliät ist, und deshalb absolute Einheit im Universum nie ohne absolut tinendliche Ganzheit zu denken ist und umgekehrt, so kann man sagen, daß der Universumsbegriff der ,Reden' der programmatische Verzicht einer terminologischen Distinktion von Einheitsdimension und Ganzheitsdimension des Unendlichen, von Gottesidee und Weltidee ist. 293 Die sachlichen Äquivalente zu Gottes- und Weltidee lassen sich am Universumsbegriff bzw. an dem mit ihm verbundenen Begriff der Darstellung des Universums auch bereits in der ersten Auflage der,Reden' durchaus festmachen, aber nur - und darin liegt der Anknüpfungspunkt an Spinoza - in deren ursprünglicher Korrelation. Gottesidee und Weltidee trotz terminologischer Distinktion stets als Korrelate zu fassen, daran hält Schleiermacher unerachtet aller Abgrenzungsversuche gegen Spinozismus-Vorwürfe294 über die Revisionen seiner ,Reden' in den nachfolgenden Auflagen 295 und die

292 Spinoza gebraucht den Begriff außer in den Briefen, Ep. 2 (Opera IV, 8). 32 (IV,171). 43 (IV, 223), nur in einer Polemik gegen Descartes, Eth. V, praef. (Opera Π, 280). 293 Vgl. U. Barth: Reden (1998), S. 461; C. Seysen: Die Rezeption des Atheismusstreits (1999), S. 181. 294 Vgl. Reden 3 178-180.198-200, Anm. 3.19 zur 2. Rede, KGA1/12, S. 131f. 145f; Brief an F. S. G. Sack vom Mai/Juni 1801, Nr. 1065, KGA V / 5 , S. 130-132, Z. 63-134. Einen Überblick über die literarischen Orte der Auseinandersetzung Schleiermachers mit Spinoza gibt A. Arndt: Schleiermachers Spinoza (2001). 295 Vgl. Reden 2 165f; Reden 3 178, Anm. 2 zur 2. Rede, KGA 1/12, S. 131: „Was aber den Meisten hier am meisten aufgefallen sein wird, ist dieses, daß das unendliche Sein doch hier nicht das höchste Wesen als Ursache der Welt zu sein scheint, sondern die Welt selbst. Diesen aber gebe ich zu bedenken, daß meiner Überzeugung nach in einem solchen Zustande unmöglich Gott kann nicht mitgesezt sein, und gebe ihnen den Versuch anheim, sich die Welt als ein wahres All und Ganzes vorzustellen ohne Gott." Vgl. ebd., S. 134.144.

2. Das spinozistische Fundament

365

Glaubenslehre 296 bis hin zu den Vorlesungen zur Dialektik 297 fest. Ein spinozistischer Grundimpuls setzt sich also durch sein ganzes Werk fort.

3. Darstellung des Universums als Individualität In dem Gedanken einer Darstellung des Universums verbindet sich eine Teil-Ganzes-Struktur mit einer dynamischen Dimension zu einer komplexen Verhältnisbestimmung. Wir haben gesehen, daß Schleiermacher in dieses Verhältnis die Relation von Unendlichem und Endlichem einzeichnet und haben dies in Hinsicht auf das infinite Relat beleuchtet. Dies ist aber gleichsam nur die eine Seite der Medaille. Die andere, endliche Seite der „Darstellung des Universums" ist für Schleiermachers Religionskonzept mindestens genauso wichtig, ja insofern dem Totalitätsgedanken noch vorgeordnet, weil sie dem endlichen Bewußtsein als Ausgangspunkt dient. Dadurch daß Schleiermacher das Darstellungstheorem mit der Idee des Endlichen verbindet erschließt sich ihm eine Fragestellung, die ihn schon früh umgetrieben hat und ebenfalls eine Konstante in seinem Lebenswerk bleiben wird: Die Frage nach dem Individuum. Im Zusammenhang der Analyse des Menschheitsbegriffs ist schon ausführlich auf den Individualitätsgedanken Schleiermachers und dessen spinozistische Grundstrukturen eingegangen worden. 298 Auch für die Theorie religiöser Bildung, die im nächsten Kapitel thematisch sein soll, wird der Individualitätsbegriff eine wichtige Rolle spielen. 299 Hier will ich diese Thematiken nur insofern heranziehen als aus ihnen etwas für die kategoriale Struktur des Individualitätsbegriffs gewonnen werden kann. 296 In der Glaubenslehre' (CG 1 § 59f; CG 2 § 46) ist dieser Gedanke in dem Lehrstück von der göttlichen Welterhaltung in der Koextensionalität der Bedingtheit durch Gott und durch den Naturzusammenhang ausgedrückt: „In diesem All-Einen des endlichen Seins ist dann der vollkommenste und allgemeinste Naturzusammenhang gesetzt, und wenn wir uns also als dieses schlechthin abhängig fühlen: so fällt beides, die vollkommenste Überzeugung, daß alles in der Gesamtheit des Naturzusammenhangs vollständig bedingt und begründet ist, und die innere Gewißheit der schlechthinnigen Abhängigkeit alles Endlichen von Gott vollkommen zusammen" (CG 2 § 46.2). Vgl. dazu U. Barth: Aufgeklärter Protestantismus (2004), 347. 381. 297 DialM (1814/15) § 219, S. 147 mit den Parallelen in den anderen Vorlesungsmanuskripten: DialM (1811) 14. 38 43f. 47f. (1822) 269; (1828) 306; (1831) 335 und Nachschriften: DialN (1811) 48; (1818/19) 247-249; (1822) 577-579; (1828) 722; (1831) 768f. 772. Vgl. dazu U. Barth: Der Letztbegründungsgang der ,Dialektik' (2004), S. 380-385; J. E. Thiel: God and World in Schleiermachers's ,Dialektik' and ,Glaubenslehre' (1981) und meinen demnächst erscheinenden Beitrag zum Schleiermacher-Kongreß in Berlin (März 2006): „Gott und Welt. Der Spinozismus von Schleiermachers Dialektik". 298 S. o. S 330ff. 299 S. u. S 392ff.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der ,Reden'

„Möchten sie doch mal einsehn, daß man jedes Ding, um es als Element des Ganzen anzuschauen, nothwendig in seiner eigenthümlichen Natur und in seiner höchsten Vollendung muß betrachtet haben. Denn im Universum kann es nur etwas sein durch die Totalität seiner Wirkungen und Verbindungen; auf diese kommt alles an, und um ihrer inne zu werden, muß man eine Sache nicht von einem Punkt außer ihr, sondern von ihrem eigenen Mittelpunkt aus und von allen Seiten in Beziehung auf ihn betrachtet haben, das heißt, in ihrem abgesonderten Dasein, in ihrem eignen Wesen" (Reden 152). Anschauung eines Sachverhalts „im Universum", Auffassung desselben in der „Totalität" seiner „Wirkungen" und „Verbindungen" und Auffassung desselben in seinem „eignen Wesen", seiner „eigenthümlichen Natur" gehören für Schleiermacher untrennbar zusammen. Das Verständnis von Individualität als einer Darstellung des Universums ist so verbunden mit der Frage, welche Verhältnisse ein Individuum charakterisieren und welche Bestimmtheit ihm dadurch zuteil werden kann. Die Frage ist also die nach dem Zusammenhang von Individualität und Relationalität. Schleiermachers Sicht in dieser Frage schließt beides eng aneinander. Das Einzelne wird als Einzelnes bestimmt durch die Relationen, in denen es innerhalb einer Sphäre mit anderen endlichen Dingen steht. Kein Teil kann ohne diejenige „Welt", in welcher er mit anderen Teilen Teil eines unendlichen Ganzen ist, in seiner Einzigkeit verstanden werden. Dies hatte Schleiermacher insbesondere in Bezug auf die Bildung menschlicher Individualität hervorgehoben. Der einzelne Mensch bildet seine Individualität nur aus in der kommunikativen Wechselwirkung mit anderen Menschen, welche so in einen die ganze Menschheit im kollektiven Sinne umfassenden, räumlich und zeitlich unabschließbaren Zusammenhang wechselseitig sich bestimmender Individuen treten. Die Teilnahme an diesem kommunikativen Zusammenhang ist zugleich notwendige Bedingung zur Ausbildung der eigenen Individualität. Das ist gemeint, wenn Schleiermacher vom einzelnen Menschen als von einem Teil des Ganzen der Menschheit spricht. Dieselbe Struktur liegt aber, wie wir gesehen haben, auch in der Bildung der äußeren Natur vor. Individualität zeigte sich dort als nur relativer Vereinigungspunkt der dynamischen Kräfteverhältnisse, in welchem alles Körperliche aufeinander bezogen und mit einander verbunden ist. Der einzelne Körper ist dort viel weniger noch als der einzelne Mensch ein für sich Abgrenzbares, sondern erscheint, wie Schleiermacher treffend in einer Anmerkung zur dritten Auflage der ,Reden' von 1821 formuliert, als „Durchgangspunkt des Ganzen". 300 300 Reden 3 182, Anm. 5 zur 2. Rede, KGA1/12, S. 134.

2. Das spinozistische Fundament

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Was in den Sphären von äußerer Natur und Menschheit konkretisiert ist, ruft Schleiermacher als „Symbol" der „unendlichen und lebendigen Natur" (Reden 53) aus. Der Ausdruck „unendliche und lebendige Natur" ist hier nicht auf die körperliche Natur eingeschränkt, sondern kann als Umschreibung des Universumsbegriffs gelesen werden. Symbol ist das, woran etwas anderes wahrgenommen werden kann. 301 Das, woran also Universum wahrgenommen werden kann, ist „Mannichfaltigkeit und Individualität" (Reden 53). Individualität kann nur in einem Ganzen bestimmt werden. Nur durch die Wechselwirkung von Körpern auf Körper, von Geist zu Geist, nur durch den allgemeinen „Streit endlicher Formen" (Reden 57. 143) kann jedes Ding eine eigene Stelle und Position in dem Relationengefüge, an dem es teilnimmt, erlangen. Nur in einer bestimmten Position kann es Individualität geben. Daß aber Individualität relativ und verschieblich ist, und neue Konstellationen über Leibes- und Denkgrenzen hinweg neue Individualitäten erzeugen können, verweist auf die innere Dynamik, die für die Bestimmtheit als Individuum eine konstitutive Rolle spielt. Die äußere Bedingtheit des Einzelnen durch den Zusammenhang, in welchem es steht, betrifft dabei nur seine materiale Bestimmtheit. Durch die Wechselwirkung erlangt jeder Charakterzug („Element") „in Jedem eine bestimmte Gestalt und Größe" (Reden 143). In seinem Wesen konstituiert wird das Einzelne aber durch diesen Zusammenhang nicht. Die Bedingung für die Teilnahme am Zusammenhang darf nicht mit den Bestimmungen verwechselt werden, welche aus diesem Zusammenhang heraus erfolgen. Allerdings ist Schleiermacher weit entfernt davon, beides voneinander zu trennen. Vielmehr geht er davon aus, daß beides korreliert, d. h. daß die Bestimmtheit aus dem Zusammenhang nur unter der Bedingung der Partizipation an diesem Zusammenhang möglich ist. Das ein einzelnes in seinem Wesen Ausmachende kann nur als solches gesetzt sein, wenn es zugleich als Agens in den Zusammenhang gesetzt ist. Das Einzelne ist so gesetzt als ein bestimmend-bestimmtes. Die Explikation dieses Verständisses gibt uns einen weiteren Einblick in das Konzept der Darstellung des Universums. Beide Aspekte nämlich, das Bestimmtwerden durch anderes im Zusammenhang und das eigene Tätigsein des Einzelnen in diesem Zusammenhang, faßt Schleiermacher in die Relation von Universum und Einzelnem. „So ist Jeder [einzelne] und Jedes [bestimmte Element] in Jedem ein Werk des Universums" (Reden 143). Einerseits wird so die Partizipation am jeweiligen dynamischen Ganzen als das originäre Wirken des Universums aufgefaßt. Anderseits ist - wie es in der Zusammenfassung der vierten Rede zu Beginn der fünften heißt - auch die äußere Bestimmtheit und Konstellation „Werk 301 S. o. S. 306 mit den in Anm. 306 genannten Stellen aus der PhE.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

des ewigen und Alles bildenden Weltgeistes" (Reden 237). Konstitution für das Ganze und Bestimmtheit durch das Ganze gehören für Schleiermacher zusammen. Durch die Verbindimg beider Aspekte wird der Individualitätsbegriff zum endlichen Relat der Darstellung des Universums: Die Darstellung der absolut-unendlichen Totalität des Universums, die in der Religion angeschaut wird, ist dessen Darstellung im Einzelnen als des Teils eines Ganzen: „alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Be-

schränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion" (Reden 56, Hhg. C.E.). Geben wir eine Zusammenfassung dieses Gedankengangs durch eine Rekonstruktion der kategorialen Bestimmungen des Individualitätsbegriffs. Der Begriff der Individualität ergibt sich für Schleiermacher durch eine Anreicherung des Darstellungstheorems mit dem Endlichkeits- und dem Pluralitätsgedanken. Dies läßt sich in drei Schritten skizzieren: a. Hat sich unter dem Aspekt des Unendlichkeitsgedankens die Darstellungsrelation als Totalität, als höchste dynamische Einheit an unendlicher Ganzheit herausgestellt, so treten unter dem Aspekt des Endlichkeitsgedankens die Momente des Teil-Seins und der Abhängigkeit hervor. Manifestiert sich die unendliche Kraft als ganze in ihren Teilen, so zeigt sich an diesen Teilen das Moment des Endlichen darin, daß hier die Manifestation beschränkt ist auf eine nur partikulare Manifestation. Weil das Ganze dem Teil gegenüber logisch vorgängig ist, so ist diese partikulare Manifestation unendlicher Kraft zugleich vom Ganzen abhängig.

Partikulare Manifestation geht so mit dependenter Konstitution als endliche

Wirksamkeit einher. b. Was als partikulare Manifestation und dependente Wirksamkeit endlich ist, kann nicht als eines, sondern nur als vieles vorgestellt werden. Im Begriff des Teils ist immer schon eine Einheitsvorstellung impliziert. Aber diese Einheit des Teils ist, weil sie Einheit eines Partikularen ist, immer endliche Einheit. Als endliche ist sie als anderen endlichen Einheiten koordiniert zu denken. Im Gedanken der Vielheit ist also eine Koordination endlicher Einheiten gedacht. Koordiniert- oder Nebengeordnetsein heißt aber, daß solche endlichen Einheiten abgesehen von der Bestimmtheit ihrer Grenzen, welche sie zu endlichen Einheiten macht, mit anderen endlichen Einheiten in einer gewissen Hinsicht vergleichbar sein müssen. Endlichkeit verlangt eine gemeinsame Grundlage oder einen Horizont, in welchem etwas als endlich angesprochen werden kann. Endlichkeit und Vielheit gehören also insofern zusammen, als Endliches auf eine Sphäre bezogen ist, innerhalb deren es Grenzen aufweist. Mit Spinoza zu reden ist Endliches „in suo genere finit[um]" (Eth. I, def. 2). Innerhalb seiner Sphäre als eines Vergleichshorizontes impliziert Endlichkeit Pluralität. c. Daß nun partikulare Manifestation unendlicher Totalität nicht eine unter sich einförmige oder identische Vielheit, sondern Individualität be-

2. Das spinozistische Fundament

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deutet ist darin begründet, daß diese partikulare Manifestation eine dynamische Komponente an sich trägt. Dadurch erhält die Pluralität des Endlichen nicht nur eine Bestimmtheit in dem durch alle Grenzen konstituierten Relationengefüge, die als - bildlich gesprochen - „lokale" oder Stellenbestimmtheit zu bezeichnen wäre. Durch die dynamische Komponente der partikularen Manifestation des Unendlichen im Endlichen werden die Grenzen des Endlichen nicht nur von dessen jeweiliger Position im Zusammenhang und also von außen, sondern auch von innen durch die im Endlichen sich manifestierende Kraft bestimmt. Diese innere dynamische Bestimmung bringt zur lokalen Bestimmtheit des Vielen eine qualitative Bestimmtheit hinzu. Die Grenzen des Endlichen werden von innen verschoben und zwar wegen der unterschiedlichen Stellenbestimmtheit auf verschiedene Weise. Das Viele verliert dadurch seine Gleichförmigkeit und wird zum Individuellen. Erst diese zweifache Bestimmtheit als lokale und qualitative macht das Endliche zum Individuum.

C. Religion als Anschauung des Universums 1. Darstellung des Universums und menschlicher Geist Wenn wir uns nun dem Begriff religiöser Anschauung zuwenden, unternehmen wir einen Perspektivenwechsel von einer metaphysischen Diskussion des Universumsbegriffs hin zu einer bewußtseinsphilosophischen Betrachtung der Religion. Gleichsam auf halbem Wege liegt der geistmetaphysische Blickwinkel, der zwar den endlichen menschlichen Geist zum Thema macht, aber gleichwohl nicht aus dessen Perspektive selbst, sondern aus einer von außen betrachtenden Beobachterposition menschliches Geistesleben beschreibt. Diese geistmetaphysische Ebene nehmen die Spinozamanuskripte Schleiermachers ein und wir wollen deren Ergebnisse in Bezug auf die Genese von Schleiermachers Anschauungsbegriff hier in Erinnerung rufen 302 und zugleich Anknüpfungspunkte sowohl an die Anschauungsdebatte 303 als auch für die Aufnahme dieser Gedanken in den ,Reden' aufzeigen. Das Folgende bezieht sich also noch nicht auf die religiöse Anschauung, sondern nur auf eine, auch in den ,Reden' anzutreffende spinozistische Metaphysik menschlicher Anschauung. a. In den Spinozamanuskripten hatte Schleiermacher das Kantische Theorem der Unterscheidung von Gegenständen überhaupt in Phaenomena und Noumena mit der spinozanischen Relation von göttlicher Sub302 Ich verweise für das Folgende pauschal auf Teil Π, Kapitel 3, oben S. 228ff. 303 S. o. Kapitel 1, S. 276ff.

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stanz und endlichen Modi verschränkt und parallelisiert. Das Ergebnis dieser transzendental-spinozistischen Ansicht liest sich erkenntnistheoretisch als eine Bestimmung der Anschauung 304 als des mentalen Ortes, an dem ein uns ansonsten völlig unbekanntes Noumenon in Erscheinimg tritt. Damit nimmt Schleiermacher zum einen die in der Schulphilosophie übliche Fassung der Anschauung als mentale Repräsentation konkreter Gegenständlichkeit auf, aber zugleich in deren von Kant restringierten Form, daß uns in der Anschauung nicht Gegenstände an sich, sondern Erscheinungen gegeben sind. Durch seine spinozistische Interpretation gewinnt er der Distinktion von Phaenomena und Noumena aber damit eine absolutheitstheoretische Dimension ab. Was Schelling durch seine Ich-Konzeption als intellektuelle Anschauung etablieren wollte, macht Schleiermacher mit kritisch-idealistischer Tendenz nicht am Ich, sondern am Gegenstand des Bewußtseins fest. Die Pointe ist, daß das Absolute zwar nicht an sich, aber auf mittelbare Weise vorstellbar wird. Der epistemische Modus dieser mittelbaren Vorstellung ist die Anschauung, weil die mittelbare Beziehung auf das noumenale Absolute über den Gegenstandsbezug des menschlichen Bewußtseins hergestellt wird und dieser hängt seinerseits an der Anschauung. In den ,Reden' kommt dies im Gedanken einer „Offenbarung" des Universums „für uns" zum Ausdruck. Das Universum „handelt auf uns" (Reden 56). Das heißt wir haben sinnliche Anschauungen von Gegenständen und durch diese Gegenstände wird uns mittelbar das Universum vorstellbar. Wir sind an diese Vermittlungsfunktion gebunden. Die „Natur und Substanz des Ganzen" ist unserer Anschauung verschlossen. Die Darstellung des Universums geschieht nichtsdestoweniger in unserer Anschauung, weil sie der mentale Ort ist, wo uns Gegenstände als Erscheinung gegeben werden. Die Rede von einem „Handeln des Universums auf uns" hat neben dem oben erwähnten Tätigkeitscharakter des Universums im Einzelnen wie im Ganzen eine kritisch-idealistische Pointe. Schleiermacher setzt hier den Idealismus auf der Ebene des Begriffs sinnlicher Anschauung in Analogie zu den Verhältnissen in der religiösen Anschauung. Wie uns Gegenstände an sich verschlossen sind und nur deren Erscheinung in der sinnlichen Anschauung gegeben ist, so ist uns das Universum an sich verschlossen und - so die These - nur deren Erscheinung als dessen Darstellung im Einzelnen am Ort der sinnlichen Anschauung durch religiöse Anschauung zugänglich. 305 304 Hier wie im Folgenden ist noch nicht von religiöser Anschauung die Rede, sondern von der menschlichen, d.h. zunächst sinnlichen Anschauung überhaupt wie sie von Schleiermacher in einer geistmetaphischen Perspektive charakterisiert wird. 305 Vgl. Reden 55f: „Alles [sc. sinnliche] Anschauen gehet aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden [...], welches dann von dem letzteren seiner Natur gemäß aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird [... ] was Ihr also anschaut

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b. Im Zusammenhang der Frage nach Individuationsprinzipien für die Gegenstände unserer Anschauung hat sich Schleiermacher in den Spinozamanuskripten der Gedanke einer Analogie von spinozistischen Attributen und Kantischen Anschauungsformen ergeben. Die Frage, warum Spinoza der göttlichen Substanz zwar unendliche Attribute zuschreibt, aber nur von Denken und Ausdehnung handelt, beantwortet Schleiermacher durch eine transzendentalphilsophische Deutung des Spinozismus: Uns sind keine anderen Gegenstände außer Körpern und Gedanken vorstellbar. Konsequenterweise müßte Spinoza also seine Attribute auch als Anschauungsformen im Subjekt, nicht aber im Absoluten ansetzen. Schleiermacher hat den Kantischen Gedanken einer Restriktion menschlicher Anschauung auf durch die Sinne vermittelte Anschauungen so verinnerlicht, daß er versucht, einen konsequent kritischidealistischen Spinozismus durch die Subjekivierung der Attribute zu entwerfen. Umgekehrt trägt er dann aber die spinozistische Vermittlungsontologie in die transzendentalphilosophische Relecture ein. Durch die Anschauungsformen werden die Arten, wie uns Gegenstände erscheinen, bezeichnet. Spinozistisch gelesen heißt das, alles was uns in Raum und Zeit erscheinen kann, ist gleichsam eine Modifikation der göttlichen Substanz, welche uns zwar nicht an sich, aber in ihren Modifikationen als Erscheinungen in der Anschauung vorstellbar wird. Raum und Zeit werden so zu Erscheinungsweisen des Absoluten. Die durch sie beschriebenen Kontinua der äußeren und inneren Anschauung werden zu den Sphären der Erscheinung des Absoluten für uns. In den ,Reden' ist dieser Gedanke indirekt durch die Auswahl der Konkretionssphären ausgedrückt. Die Darstellung des Universums ist für uns nur eine Darstellung im menschlichen Geistesleben und in körperlichen Phänomen, d. h. in Menschheit und Natur. 306 Die Diskrepanz zwischen dem Universumsbegriff als absolut-unendlicher Totalität und den untergeordneten Totalitäten von Menschheit und Natur, versiert erkenntniskritisch als Erscheinungslehre. Das Universum stellt sich uns, sofern wir an die Restriktionen des mentalen Orts seiner Erscheinung gebunden sind, nur in denjenigen Sphären dar, in welchen wir Gegenstände überhaupt anschaulich vorstellen können. Der äußere Sinn liefert uns räumliche Anschauung, mithin Anschauimg von ausgedehnten oder körperlichen Phänomenen, der innere Sinn Anschauungen unserer selbst als Vorund wahrnehmt, ist nicht die Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf Euch. [... ] So die Religion; das Universum ist in einer ununterbrochenen Thätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblik. Jede Form die es hervorbringt [... ] ist ein Handeln deßelben auf Uns; [... ] was aber darüber hinaus will, und tiefer hineindringen in die Natur und Substanz des Ganzen ist nicht mehr Religion". 306 Religion als ein humanes Phänomen fällt unter die Menschheit. Siehe dazu das nächste Kapitel, S. 381ff.

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stellender, mithin Anschauungen von geistigen Phänomenen. Natur und geistige Menschheit sind für uns gleichsam die Erscheinungsweisen des Universums. c. Gegenüber einem spinozistisch, aber zugleich als Grenzbegriff verstandenen unendlichen Verstand, der die „ganze Sinnenwelt" zum Gegenstand seines Anschauens hätte, grenzt Schleiermacher im Manuskript ,Spinozismus' das menschliche Anschauungsvermögen insofern ab, als dieses aufgrund unserer beschränkten Fassimgskraft nur einen endlichen Ausschnitt der Sinnenwelt vorstellen kann. 307 Uns erscheint keine „Welt", sondern es erscheinen uns immer nur endliche Gegenstände. Schleiermacher nimmt hier einerseits die Reflexion Kants über den Status eines anschauenden Verstandes oder einer intellektuellen Anschauimg auf. Beides sind in Bezug auf das menschliche Bewußtsein nur „problematische Begriffe" und sie haben also grenzbegrifflichen Status. Andererseits knüpft Schleiermacher auch an die darin enthaltene Restriktion möglicher Gegenstände des menschlichen Anschauens auf eine endliche Mannigfaltigkeit an. Auf der Voraussetzimg von Schleiermachers spinozistischer Interpretation der Noumena-Phaenoma Unterscheidung als Erscheinungsrelation von noumenaler Gott-Substanz und phaenomenalen Modifikationen bedeutet das, daß uns in unsererer Anschauung nicht die ganze Totalität aller Gegenstände einer Erscheinungsweise des Noumenalen vorstellbar wird, sondern nur ein endlicher Teil derselben. Schleiermacher geht aber noch weiter. In den Spinozamanuskripten entwickelt er, daß in dem spinozistisch interpretierten Verhältnis von Noumenon und Erscheinungswelt („die Welt als Noumenon") mit der Erscheinungsrelation zugleich eine Individuationsfunktion gegeben ist. Uns erscheint in der Anschauung mithin nicht nur endliches, sondern uns erscheint Einzelnes. Dieses Einzelne ist in seinem Verhältnis zu dem ihm als Erscheinimg zugrunde liegenden Noumenon eine Individuationsgestalt dieses Noumenon. In den ,Reden' spiegelt sich dies, was die Endlichkeit des Gegenstands unserer Anschauung anbetrifft, in der bekannten Formel, daß wir in religiöser Einstellung das „Universum im Endlichen" (Reden 274; vgl. 51. 284) anschauen. Die Individuationsfunktion in der Erscheinungsrelation wird dahingehend aufgenommen, daß die Darstellung des Universums in Individuen als Gegenstand menschlicher Anschauung firmiert: „in allen [... ] Einzelnen das Unendliche sehen, deßen Abdruk, deßen Darstellung. [... Was] in der unendlichen Natur des Ganzen [... ] alles Einzelne [... ] gilt [... ] im Einzelnen anschauen" (Reden 51). Anschauen ist hier im Sinne eines religiösen Aktes gemeint, daran besteht kein Zweifel. Daß hier aber eine versteckte Beziehung von religiöser Anschauung 307 Sp 526f. Siehe dazu oben Teil II, S. 257ff.

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und sinnlicher Anschauung impliziert ist, die für das Verständnis dessen, was Schleiermacher unter religiöser Anschauung versteht, essentiell ist, soll nun gezeigt werden. 2. Sinnliche und religiöse Anschauung Um aufzuklären, was für ein Bewußtseinsvollzug genau damit gemeint ist, wenn Schleiermacher von der religiösen Anschauung als einer Anschauung des Unendlichen oder des Universums „im Endlichen" spricht, ist man an die Erläuterung der Merkmale von religiöser Anschauimg und religiösem Gefühl in der 2. Rede gewiesen (Reden 55-78). Für unsere Fragestellung ist die erste Bestimmung einschlägig (Reden 55-58). Für diesen beinahe in jedem Beitrag zum frühen Schleiermacher herangezogenen Passus zeichnet sich jedoch noch immer kein Konsens in der Forschung ab. 308 Es gilt zunächst den formalen Gedankenaufbau zu beobachten, den Schleiermacher in dem gesamten, vier Merkmale 309 umfassenden Stück anwendet. Er stellt zur Explikation der religiösen Anschauung diese offenbar in eine Analogie 310 zur „Anschauung", welches, wie unschwer zu erkennen ist, die sinnliche Anschauung indiziert. Bei allen Beschreibungen und Charakterisierungen ist also stets darauf zu achten, auf welcher Seite der Analogie man sich gerade befindet. 311 Dies ist insbesondere in der berühmten Passage zum Verhältnis von Anschauung und Gefühl bzw. von religiöser Anschauung und religiösem Gefühl („Jener erste geheimnißvolle Augenblik" (Reden 73-78) nicht immer ganz leicht zu differenzieren312 und führt zu vorschnellen Identifikationen.313 308 Vgl. das zusammenfassende Schlußvotum von W. Grab zum Schleiermacher-Kongreß 1999 in Halle (Der kulturelle Umbruch zur Moderne [2000], S. 173). 309 Der Text gliedert sich wie folgt: Gegenstand der Anschauung (Reden 55-58), Verhältnis von Anschauungen zueinander (Reden 58-66), Anschauung und Gefühl als Korrelate (Reden 66-71), Anschauung und Gefühl im Verhältnis zur Reflexion (Reden 71-78). 310 Der sprachliche Indikator dafür ist die wiederkehrende Wendung „So die Religion" (Reden 56. 58. 67; KGA1/2, S. 214, Z. 9; S. 215, Z. 7; S. 218, Z. 35). 311 Mustergültig durchgeführt bei P. Grove: Deutungen (2004), S. 290-334. 312 Indikatoren für die Analogie finden sich aber auch hier: „Auch mit dem innersten Schaffen des religiösen Sinnes" (Reden 72, KGA 1/2, S. 221, Z. 10); „bei jeder sinnlichen Wahrnehmimg [... ] und auch in der höheren und göttlichen religiösen Thätigkeit des Gemüths" (Reden 73, KGA 1/2, S. 221, Z. 20. 25). 313 Christian Albrechts These der „Uraffektion" (Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit [1994], S. 126) ist ebenso durch eine mit der Analogie gar nicht zu vereinbarenden Übertragung von Merkmalen der sinnlichen auf die religiöse Anschauung begründet wie Fred Lönkers „Einheitserfahrung" (Religiöses Erleben [1998], S. 61), Joachim Ringlebens „Berührung des Absoluten mit einem Ich" (Die Reden über die Religion [1985], S. 253) oder Gunter Wenz' Bestimmung des religiösen Gefühls als „Ort der Präsenz des transzendenten Grundes" (Sinn und Geschmack fürs Unendliche [1999], S. 23).

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Wenden wir uns nun aber der Charakterisierung der Art des Gegebenseins eines Gegenstands in religiöser Anschauung zu. Im Zuge dieses Nebeneinanderstellens von sinnlicher und religiöser Anschauung macht Schleiermacher zunächst über die sinnliche Anschauung eine positive und eine negative Aussage und zieht per analogiam beide dann für die Charaktisierung religiöser Anschauung heran. Sinnliche Anschauung ist ihrer positiven Charakterisierung nach ein Wahrnehmen des „Handeln[s der Dinge] auf Euch". Negativ gesprochen ist das, was wir in der sinnlichen Anschauung wahrnehmen infolgedessen „nicht die Natur der Dinge" (Reden 56) selbst. Hier gibt Schleiermacher die Prämissen einer kritisch-idealistischen Position wieder. 314 Gegenstände sind uns in Vorstellungen nicht in ihrem An-sich-sein, sondern nur in der Weise gegeben, die unserer, durch die Sinne vermittelten Art des Aufnehmens von Vorstellungen überhaupt entspricht. Gegenstand unserer sinnlichen Anschauung ist - mit Kant gesprochen - „Erscheinimg", nicht „Ding an sich selbst". Unter Berücksichtigung dieser kritischen Negation betrifft also auch die Aussage eines „Handelns der Dinge auf uns" nur den Erscheinungscharakter des Gegenstands und nicht etwa ein vermeintliches An-sich-sein desselben. Dies gilt unabhängig davon, ob man hierin auch einen Hinweis auf den Rezeptivitätscharakter der religiösen Anschauung erblicken möchte. 315 Nim macht Schleiermacher eine analoge Doppelaussage zum religiösen Anschauen, die aber eine komplexere Struktur aufweist. „So die Religion; das Universum ist in einer ununterbrochenen Thätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblik. Jede Form, die es hervorbringt, jedes Wesen dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein giebt [... ] ist ein Handeln deßelben auf uns; und so alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion; was aber darüber hinaus will, und tiefer hineindringen in die Natur und Substanz des Ganzen ist nicht mehr Religion" (Reden 56). Die Entsprechung zur sinnlichen Anschauimg läßt sich ungebrochen nur in der negativen Aussage formulieren: Das Universum ist uns in der religiösen Anschauung nicht in seinem An-sichsein gegeben. Seine „Natur und Substanz" ist uns unzugänglich. Dies ist nichts weniger als die rednerische Inszenierung der Kantischen Destruktion der rationalen Theologie und Kosmologie und der eigentliche Grund, warum Schleiermacher die Religion in jenen berühmten „schneidenden Gegensaz" zu „der" Metaphysik stellt. Das Universum ist uns in der religiösen Anschauimg nur als Erscheinung gegeben. 314 Ob mehr eine Kantische oder Reinholdsche Position getroffen ist, kann hier offen bleiben. P. Grove (Deutungen [2004], S. 285-301) sieht eher Parallelen zu Reinhold. 315 Trotz der Akribie in der Analyse, geht P. Grove auf die negative Aussage, die doch der Zielpunkt des Ganzen ist, gar nicht ein (Deutungen [2004], S. 290-301).

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Die positive Aussage verhält sich hier etwas komplizierter. Das „Handeln deßelben auf uns" hat - wie bei der sinnlichen Anschauung - seine erkenntnistheoretische Pointe darin, einen Hiat anzuzeigen zwischen dem für uns überhaupt Vorstellbaren und einer von uns nur zu denkenden An-sich-Bestimmtheit. Der Bezug jedoch auf unser sinnliches Anschauungsvermögen, der mit jenem „Handeln" gemeint ist, wird nicht unmittelbar mit dem Universum verbunden. Vielmehr tritt eine Zwischenüberlegung ein, die als Schluß aus zwei Prämissen zu analysieren ist: 1) Das Universum stellt sich in allem Endlich-Einzelnen dar („Formen", denen es ein „abgesondertes Dasein giebt"). 2) Endlich-Einzelnes „handelt auf uns". Conclusio: Das Universum handelt in einem jeden endlichen Gegenstand, der auf uns handelt, selbst auf uns. Die zweite Prämisse ist ganz aus der Charakterisierung der sinnlichen Anschauung genommen. Das „Handeln auf uns" bedeutet: Uns sind ausschließlich Erscheinungen in der sinnlichen Anschauung gegeben. Die erste Prämisse ist aus dem Zusammenhang dieser Analogie mit der sinnlichen Anschauung gar nicht zu erschließen. Ihre Annahme ist aber der Grund dafür, daß die Beschreibung der aufnehmenden Funktion für die religiöse Anschauung eine komplexere Struktur ins Auge faßt als für die aufnehmende Funktion der sinnlichen Anschauung. Religiöse Anschauung oder kurz: „Religion" heißt nämlich nun, dieses Endliche, das auf uns handelt, von dem wir mithin eine sinnliche Anschauung haben, „als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen" (Reden 56). Religiöse Anschauung ist also auf die sinnliche Anschauung insofern bezogen, als diese diejenige Vorstellung bereitstellt, die religiöse Anschauung nun in einen Verständnishorizont rückt. Wir haben also zweierlei in der religiösen Anschauung: eine sinnlich vermittelte Vorstellung einerseits und deren Vorstellung als Darstellung des Universums andererseits. Das bedeutet, daß die religiöse Anschauung über die sinnliche Gegebenheit hinausweist. Sie sieht diese als etwas und bringt damit die sinnliche Vorstellung in den Zusammenhang einer anderen Vorstellung, mit der die sinnliche Vorstellung nicht von sich aus bereits assoziiert war. Daraus folgt zweierlei: Zum einen ist die religiöse Anschauung und der ihr zugrunde liegende „Sinn für das Unendliche" kein,sechster Sinn', durch den wir auf das Universum als ein uns Äußeres bezogen wären. Vielmehr bezieht sie sich auf Vorstellungen, die uns vermittelt durch die Sinne ins Bewußtsein treten. Religiöse Anschauung ist also von daher ein inneres Sich-Beziehen auf konkrete eigene Vorstellungen. Dieses Beziehen selbst ist aber nicht sinnlich, sondern ist „geistiger Art", 316 bezieht sich aber auf sinnliche Vorstellungen. Zum anderen ist religiöses 316 P. Grove: Deutungen (2004), S. 296. Das Universum, so kann Schleiermacher in Analogie zur Vermittlung des Gegenstands durch die Sinnesorgane formulieren, „wirkt auf" die „Organe unseres Geistes" (Reden 67).

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ΙΠ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

Anschauen ein aktiver, spontaner Vorgang,317 in welchem die sinnliche Vorstellung eines Gegenstands auf die Vorstellung „Universum" bezogen wird. Schleiermachers Feststellung, daß die Anschauung „etwas einzelnes, abgesondertes" sei, das Verbinden nicht das „Geschäft des Sinnes, sondern des abstrakten Denkens" (Reden 58) sei, widerspricht meiner Interpretation keineswegs, weil damit Schleiermacher das Verbinden von Anschauungen untereinander meint. Dies wird für die sinnliche Anschauung festgestellt und in Analogie dazu behauptet, daß auch die Verbindung von religiösen Anschauungen nicht ein Akt sein kann, der der religiösen Anschauung selbst zukommt, sondern vielmehr bereits „ein Werk der Fantasie" (Reden 61) ist. 318 Das bedeutet aber nicht, daß in der Konstitution des religiösen Anschauens selbst nicht eine Verbindungsleistung stattfände. In diesem Punkt zieht Schleiermacher keine Analogie zur sinnlichen Anschauung heran. „Darstellung" ist die,Kategorie', mit der Schleiermacher näherhin dieses Aufainanderbeziehen der beiden Vorstellungen beschreibt. Dies besagt aber, daß es sich bei der fraglichen mentalen Tätigkeit nicht etwa um einen Vorgang des gegenständlichen Bestimmens handelt, sondern um einen Interpretations- bzw. Deutungsakt. Denn diese sind ihrer formalen Struktur nach dadurch ausgezeichnet, daß in ihnen etwas als etwas bzw. als Zeichen oder eben „Darstellung" von etwas verstanden wird. Religiöse Anschauung ist also eine Deutungstätigkeit.319

3. Religiöse Anschauimg als Tiefenhermeneutik von Individualität Dieses Kapitel abschließend soll Schleiermachers Konzeption der religiösen Anschauimg nun hinsichtlich der Aufbaumomente ihrer Vollzugsstruktur befragt werden. Es legt sich zur Konturierung der Besonderheit von Schleiermachers Religionsverständnis nahe, seinen Begriff religiöser Anschauung mit Kants Begriff der symbolischen Darstellung zu vergleichen. 320 Aus der Debatte um den Anschauungs- bzw. Darstellungsbegriff 317 Ein passives Moment erhält die religiöse Anschauung nur dadurch, daß sie auf die sinnliche Anschauung bezogen ist, die ihrerseits eine passive Komponente hat. 318 Religion schafft also selbst kein „system of intuitions" (J. Lamm: The Living God [1996], S. 59. Siehe dazu unten Anm. 363 auf S. 395. 319 Zur Deutungsstruktur vgl. die einschlägigen Arbeiten von U. Barth, der sie zum zentralen Aufbaumoment seiner Theorie des religiösen Bewußtseins gemacht hat; Was ist Religion? (2003), S. 10; Theoriedimensionen des Religionsbegriffs (2003), S. 72ff; beide Titel im Sammelband: Religion in der Moderne (2003). 320 Vgl. R. Otto: Das Heilige (1917), S. 177: „Das Vermögen, das Schleiermacher hier voraussetzt, ist offenbar verwandt der ,Urteilskraft', die Kant in seiner dritten Kritik analysiert."

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ist uns in den Bestimmungen der ,Kritik der Urteilskraft' eine hier weiterführende Theoriegestalt begegnet. Der Vergleich mit dem kantischen Begriff der symbolischen Darstellung legt sich aus folgendem Grund nahe. Die Struktur religiöser Anschauung zeigte sich als ein Vorstellen von etwas als etwas. Der Gegenstand sinnlicher Anschauung wird als Darstellung des Universums vorgestellt. Ich benutze hier den neutralen Terminus „vorstellen" deshalb, weil er noch indifferent ist gegen eine Unterscheidung, die nun im Blick auf Kant wichtig wird. Diese Struktur religiöser Anschauung entspricht nämlich dem Kantischen Begriff eines Urteils. Denn in einem Urteil wird nach Kant etwas als etwas vorgestellt.321 Kant unterscheidet aber nun Erkenntnisurteil und Reflexionsurteil. Im Erkenntnisurteil wird etwas als etwas bestimmt und zwar gemäß den Kategorien als Denkformen. Im Reflexionsurteil wird dagegen etwas als etwas oder in einer bestimmten Hinsicht reflektiert?22 Dies spiegelt sich in der Unterscheidung wider, welche Kant für den Vollzug von „Darstellung" als Veranschaulichung von Begriffen einführt. Wie oben skizziert,323 entspricht die schematische Darstellung dem bestimmenden Urteil insofern, als darin einem Verstandesbegriff eine ihm adäquate Anschauung verbunden oder ihm „unterlegt" wird. Die symbolische Darstellung, deren Funktion die Veranschaulichung einer Vernunftidee ist, kann auf keine adäquaten Anschauungen zurückgreifen, weil diese sich einer direkten sinnlichen Vergegenständlichung prinzipiell entzieht. Gleichwohl kann einer Vernunftidee - und darauf beruht Kants Verständnis symbolischer Darstellung - aber auf indirekte Weise eine „Realisierung" 324 in der Anschauung verschafft werden. Eine Vernunftidee wird also im Vollzug symbolischer Darstellung indirekt „realisiert", d. h. mit einer sinnlichen Anschauung verbunden. An diesem Punkt zeigt sich eine Parallele zu Schleiermacher. Das Endliche als Darstellung des Universums hinnehmen ist seiner Struktur nach nichts anderes, als über den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung reflektieren und zwar so, daß er als „Darstellung des Universums" vorgestellt wird. In Kantischer Terminologie würde man hier von einer „Realisierung" der Vorstellung des Universums sprechen können. Diese Realisierung der Universumsvorstellung kann aber keine direkte Realisierung sein, weil nach Schleiermacher das Universum in seinem Ansich-sein, in seiner „Natur und Substanz", wie die Interpretation des ein321 Urteil ist die Vorstellung der Verbindung zweier Vorstellungen KrV Β 93f. Vorstellung Α wird in einer bestimmten Hinsicht mit Vorstellung Β verbunden. 322 KdU Einl. cap. IV, Β XXVf. Der Geschmack etwa urteilt über etwas als schön und erzeugt damit keine Erkenntnis des Gegenstands, sondern reflektiert ihn in einer bestimmten Hinsicht, hier nämlich in Bezug auf die Stimmigkeit des Gegenstands für die leichte Aufnahme in die Erkenntnisvermögen. 323 S. o. Kapitel 1 D, S. 301ff. 324 Realität heißt hier soviel wie Sachhaltigkeit.

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schlägigen ersten Merkmals des religiösen Anschauungsbegriffs im letzten Abschnitt ergab, unserer sinnlichen Anschauung verschlossen bleibt. Die Universumsvorstellung kann also in genau dem Sinne als Idee bezeichnet werden, als dem in ihr nur grenzbegrifflich vorgestellten Gegenstand keine adäquate Anschauung unterlegt werden kann. 325 Wenn aber in der religiösen Anschauung dennoch eine Verbindung der Idee des Universums mit einer sinnlichen Vorstellung möglich sein soll, so kann die Realisierung der Idee des Universums durch diese sinnliche Anschauung nur indirekt sein. Soweit sehe ich die Parallele. Schleiermachers religiöse Anschauung ist ihrer mentalen Funktion nach wie Kants symbolische Darstellung eine indirekte Realisierung einer Idee als einer solchen nur gedachten Vorstellung, welche sich einer direkten Veranschaulichung entzieht. Der Unterschied zwischen Kant und Schleiermacher - und durch Bezeichnung desselben hoffe ich, zu einem deutlicheren Verständnis von Schleiermachers Begriff religiöser Anschauung zu gelangen - , liegt m. E. in dem, was jeweils unter „indirekter Realisierung" verstanden wird. Was Kant betrifft, so versteht er, wie oben skizziert, die „indirekte Darstellung" als eine Darstellung „vermittelst einer Analogie" (KdU § 59 Β 256). Im Zuge dieser Analogiebildung hat die Urteilskraft „ein doppeltes Geschäft [zu verrichten], erstlich den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung, und dann zweitens die bloße Regel der Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur Symbol ist, anzuwenden" (ebd.). Die Analogie mit der direkten sinnlichen Anschauung besteht nach der zweitgenannten Funktion darin, daß eine Übereinstimmung nicht im Gegenstand, sondern in der Art der Reflexion über beide Gegenstände gesehen wird: Die symbolische Darstellung kommt mit der schematischen nur der „Regel [des] Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach überein"(ebd., Β 255). Die Analogie liegt also für Kant gar nicht auf der Ebene der Gegenständlichkeit von Vorstellungen, sondern in der Art des mentalen Umgangs mit diesen Gegenständen. Symbolische Darstellung hat den Beziehungsgrund für die aufgestellte Analogie ausschließlich im Subjekt selbst.326 Was nun Schleiermacher angeht, so hatten wir die Indirektheit der Veranschaulichung der Universumsidee zunächst daran festgemacht, daß dem in der Universumsidee Gedachten keine ihm adäquate sinnliche Anschauung unterlegt werden kann. Soweit entspricht Schleierma325 Der Begriff „Idee" soll also, wenn ich ihn hier für Schleiermacher verwende, nicht auch zugleich im Sinne regulativer Prinzipien verstanden sein. 326 Und zwar liegt das Analogans in einer subjektiven Zweckmäßigkeit. Symbolische Darstellung steht so im Dienste der praktischen Vernunft. Vgl. KdU § 59 Β 254. 258-260; KrV Β 384f. Dazu P. Bahr: Darstellung (2004), S. 230. 245. 260. 277. 284. 289.

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eher noch ganz dem Kantischen Ansatz. Das Universum als solches oder „an sich" ist kein möglicher Gegenstand sinnlicher Anschauung. Schleiermachers religiöser Anschauungsbegriff impliziert aber nun, daß die Vorstellung des Universums eine konkrete sinnliche Bedeutung erfährt. Das hieße in Kantischer Terminologie, sie erfährt dennoch eine Realisierung, die dann freilich auch für Schleiermacher als eine indirekte zu bezeichnen wäre. Woran wäre aber dann eine solche Indirektheit der religiösen Anschauung festzumachen? Ich sehe für den Schleiermacher der ,Reden' keinen Hinweis, daß er die Veranschaulichung der Universumsidee wie Kant in einen subjektivitätsstrukturellen Bezugsrahmen stellen würde. Die Indirektheit wird nicht an einer Analogie zu innersubjektiven Tätigkeitsrelationen des vorstellenden Subjektes festgemacht, sondern - und das ist nun zu zeigen sie bezieht sich ohne eine analogische Brechung auf den Gehalt der in Beziehung gebrachten Vorstellungen selbst. Die Indirektheit ist an einer internen Differenzierung des Universumsbegriffs selbst festzumachen. Eine in der religiösen Anschauung auf die Universumsvorstellung bezogene sinnliche Vorstellung kann ihrer Endlichkeit und Gebundenheit an die Art unseres Anschauungsvermögens wegen keine Veranschaulichung oder Versinnlichung327 des nur gedachten Vollbegriffs von Universum sein. Vielmehr entspricht eine sinnliche Vorstellung diesem Vollbegriff nur dadurch und auf indirekte Weise, daß und insofern ihr Gegenstand als eine Darstellung des Universums im Sinne einer endlichen Manifestation desselben verstanden wird. Unter der Idee der endlichen Manifestation des Universums wird die sinnlichanschauliche Vorstellung so zu einer indirekten Realisierung der Universumsidee. Oder anders gesagt: der Gegenstand der sinnlichen Anschauung wird unter der Idee der endlichen Manifestation des Universums als dessen Darstellung verstanden. Die Universumsidee wird also nur insofern veranschaulicht als das endliche Implikat derselben veranschaulicht wird. Was ist aber unter einem endlichen Implikat der Universumsidee zu verstehen? Wir hatten den Universumsbegriff oben nach seinen kategorialen Aufbaumomenten rekonstruiert. Nach dem Gegensatz von Unendlichkeit und Endlichkeit ergab sich für den Darstellungsbegriff auf der Seite der Unendlichkeit die Idee der absolut-unendlichen Totalität und auf der Seite der Endlichkeit die Idee der endlichen Individualität. Das endliche Implikat des Universumsgedankens ist also die Idee der endlichen Individualität. Dessen Vollbegriff die Idee der absolut-unendlichen Totalität. Für Schleiermachers Begriff religiöser Anschauung heißt das nach dem oben Entwickelten: Den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung 327 Dies wäre „Darstellung" im kantischen Sinne.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

unter der Idee endlicher Individualität sehen, heißt ihn als Darstellung des Universums sehen. Die religionsphilosophische Pointe liegt darin, daß die Universumsidee nicht nur nach der Seite der Totalität, sondern auch nach der Seite der Individualität eine Idee ist. Das ergibt sich aus Schleiermachers Bestimmung von Individualität als einer dynamischrelationalen Größe. Erst in der „Totalität seiner Wirkungen und Verbindungen" betrachtet, kann eine Sache „in ihrem eignen Wesen" (Reden 152) verstanden werden. 328 Eine Totalität von Beziehungen kann aber in einer sinnlichen Anschauung nicht vorgestellt werden. 329 Ich sehe endliche Beziehungen und verstehe sie als Teilrelationen eines unendlichen Bezugsrahmens. Individualität ist so in Hinsicht auf die sie konstituierenden dynamischen Beziehungen ein Unendliches im Endlichen. Sie ist die Idee einer endlichen Manifestation der absolut-unendlichen Totalität. Den Status der Idee hat sie mit der Totalität, ihrem unendlichen Komplement in der spinozistischen Universumsidee, gemeinsam. Individualität ist nach Schleiermacher eine religiöse Idee. Das Einzelne in seinem eignen Wesen, in seiner Individualität verstehen heißt, Endliches allererst unter die Idee von Individualiät stellen. Im Kantischen Sinne von „darstellen" könnte man sagen: Die Idee der Individualität wird in der religiösen Anschauung im Endlichen dargestellt. Mittels der Idee der Individualität, die so gleichsam als religiöses Schema fungiert, werden die endlichen Bezüge im Gegenstand sinnlicher Anschauimg in der religiösen Anschauung auf eine Unendlichkeitsdimension hin deutend entschränkt. Der sinnlich erscheinende Gegenstand wird so als Teil eines in letzter Beziehimg absolut-unendlichen Ganzen und Einen verstanden. Die religiöse Anschauung ist ein Verstehen des Endlichen in einer Tiefendimension, die ihm als Gegenstand der sinnlichen Anschauimg noch gar nicht zukommt. Religiöse Anschauung ist Verstehen von Endlichem als Individuellem - ein Verstehen, das nur im Horizont des Unendlichen möglich ist. Die spinozistische Idee von Individualität als endliches Korrelat von Totalität im Universumsgedanken fungiert dabei als Deuteschema. Weil in diesem Individualität und Totalität sich gegenseitig implizieren, ist diese Tiefenhermeneutik des Endlichen als eines Individuellen zugleich dessen Verständnis im universalen Ganzen. „Blike auf das unbegreifliche und unermeßliche Einzelne" (Reden 78) sind zugleich Anschauungen des Einzelnen als einer Darstellung des Universums im Endlichen.

328 Dieses Individualitätsverständnis hatten wir von den frühen Manuskripten aus in die Konzeption der Menschheitsbildung der ,Reden' verfolgt. Es wird seine komplexeste Formulierung im Zusammenhang der Beschreibung religiöser Bildung finden. Dazu das nächste Kapitel, s. u. S. 381ff. 329 Vgl. H. Timm: Gott und die Freiheit (1974), S. 330: „Individuum est ineffabile - wie und weil Gott es ist."

3. Spinozistische Motive in der Theorie religiöser Bildung

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Diese religiöse Individualitätshermeneutik ist eine auf unsere Selbstund Welterfahrung bezogene Sinndeutung. Das religiöse Schema, das dieser Deutung zugrunde liegt, zeigt sich als spinozistische Universumsidee. Anders als Kant, der den Beziehungsgrund symbolischer Darstellung als Analogie mit inner subjektiven Tätigkeitsverhältnissen formuliert, verbleibt Schleiermacher in seiner Theorie religiöser Anschauung bei deren Bezug auf konkrete Selbst- und Welterfahrung. Die Sinndeutung von Erfahrung wird ihrerseits nicht erst durch Entsprechung zu psychologisch aufweisbaren Konstellationen aufgebaut, 330 sondern intendiert ein Tiefenverständnis gerade dieser konkreten Erfahrung mit Hilfe der spinozistisch grundierten Doppelkategorie von Individualität und Totalität in der Idee einer Darstellung des Universums.

3. Spinozistische Motive in der Theorie religiöser Bildung Der methodische Leitgedanke der oben gegebenen Interpretation des Universumsbegriffs war es, sich diesem gleichsam von unten her anzunähern über dessen in den ,Reden' ausgeführte Konkretionen. Natur und Menschheit und in letzterer impliziert: Geschichte waren dabei bereits zu Wort gekommen. Es läßt sich jedoch in Schleiermachers ,Reden' noch eine weitere große Sphäre ausmachen, die zur religiösen Betrachtung sich seiner Meinung nach geradezu aufdrängt. Es ist die Sphäre der Religion selbst. Nachdem nun die Aufbaumomente derselben nach ihren Voraussetzungen erörtert worden sind, soll dieses Kapitel abschließend die in den,Reden' gegebene Theorie religiöser Bildung auf ihre spinozistischen Momente hin untersuchen und auf diese Weise neu zu verstehen versuchen. Die Religion erweist sich in ihrer Genese dabei als ein Feld, das seinerseits im Lichte einer religiösen Deutung verstanden werden kann. Meine These ist in diesem Zusammenhang, daß Schleiermachers besonders in den letzten drei Reden vorgestellte Konzeption religiöser Bildung

330 Der späte Schleiermacher der ,Dialektik' wird genau das zum Programm seines religiösen Gefühlsbegriffs machen. Der spinozistische Immanenzgedanke ist weiter präsent, aber er fungiert dort als Deutekategorie nicht mehr in Bezug auf die Deutung konkreter Erfahrung selbst, sondern in Bezug auf die formale Struktur der Subjektivität, in welche konkrete Erfahrung stets eingebettet ist. Die psychologische Ubergegensätzlichkeit des Gefühls in Bezug auf seine Funktion für Denken und Wollen wird im religiösen Gefühl in einen Für-Bezug eingeholt und so als ontische Repräsentation mit dem Schleiermacher der ,Reden' könnte man sagen: als Darstellung - der Übergegensätzlichkeit des Absoluten gedeutet. Vgl. U. Barth: Der Letztbegründungsgang der ,Dialektik' (2004), S. 375-385, bes. 382.

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bereits eine religiöse Sicht auf das Religiöse als Phänomen 331 voraussetzt. Es gibt durch die drei letzten Reden hindurch eine auf der Textoberfläche nicht sogleich erkennbare Struktur, die genau jene spinozistischen Motive aufweist, die für eine Konkretion jener für das Korrelat der religiösen Anschauung konstitutiven Darstellung des Universums einstehen können. Daß Natur und Menschheit von Schleiermacher als Konkretionen der Darstellung des Universums gedacht sind, dürfte wohl jedem in die Augen stechen, der nur die zweite Rede zur Hand nimmt. Daß auch die Religion eine solche Konkretion ausmacht ist in den letzten drei Reden als dem einschlägigen Textkorpus nicht so auf den ersten Blick zu sehen. Prima facie geht es darin um die Entwicklung der Religion aus einer religiösen Anlage (3. Rede), um deren Vergemeinschaftung (4. Rede) und schließlich um das Verhältnis der Religionsgemeinschaften zueinander (5. Rede). Schleiermacher fügt seiner Wesensbestimmung von Religion (2. Rede) diese Erörterungen an, um deren Verständnis um einen pädagogischen, einen ekklesiologischen und religionsgeschichtlichen Aspekt zu erweitern. Sieht man jedoch auf den inneren Zusammenhang der drei Reden, so läßt sich gleichsam ein durchgehender Subtext unter den in dieser Weise gut abgegrenzten Stoffen ausmachen. Schleiermacher webt in die drei,Reden' einen roten Faden ein, der aus einer ganz bestimmten Perspektive das Thema Bildung und Religion vorantreibt. 332 Dieses Thema ist ein durchgehendes Motiv der Religionsschrift - was von ihrem Titel her nicht wunder nimmt. Der Redner versucht, die Religion den Gebildeten unter den Verächtern derselben als ein mit Bildung kompatibles, der Bildung würdiges und der Bildung fähiges Phänomen aufzuschließen. Mit dem zuletzt genannten Punkt verknüpft sich ein Argumentationsstrang, der einer eigenen Würdigung bedarf und uns auf ein Verständnis führt, inwiefern die Religion selbst als Konkretion einer Darstellung des Universums und so auch als Gegenstand religiöser Anschauung zu stehen kommen kann. Ist die Religion ein der Bildung fähiges Phänomen, d. h. entwickelt sie sich aus einer menschlichen Anlage unter ihr entsprechenden günstigen Bedingungen, so macht sie selbst ein Feld humaner Bildung aus und kann gleichsam in den Fall einer Selbstanwendung treten. Und zwar insofern, als jenes Einrücken in die Perspektive des Universums, das die Charakteristik der religiösen Einstellung ausmacht, sich hier auf die religiöse Einstellung selbst, als spezifischen humanen Bildungsprozeß betrachtet, bezieht. Die im religiösen Bildungsprozeß statthabende Struktur müßte, wenn eine Selbstanwendung der Religion auf Religion möglich 331 Die Kritik Rudolf Ottos (Das Heilige [1917], S. 183), die „Geschichte der Religion" sei als „Objekt der religiösen Divination" bei Schleiermacher „ausgespart", scheint mir daher unbegründet. 332 Vgl. Μ Eckert: Verhältnis (1983), S. 26.

3. Spinozistische Motive in der Theorie religiöser Bildung

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sein soll, auf diejenige Struktur abbildbar sein, welche Schleiermacher unter dem Begriff „Darstellung des Universums" als generelle Charakteristik der Gegenstandssphäre von Religion bestimmt. Der rote Faden, der sich aufgrund dessen durch die letzten drei Reden zieht, verfolgt das Beweisziel, Religion in ihrer Bildung als von einer solchen Struktur auszuweisen, durch welche sie selbst zum Gegenstand religiöser Betrachtung werden kann. Sieht man von der Bestimmung des Wesens des Christentums am Schluß der fünften Rede her auf dieses Ansinnen zurück, so erscheint darin auch ein apologetisches Interesse mitgesetzt. Die Möglichkeit der besonders im Christentum praktizierten Selbstanwendung im Sinne einer religiösen Betrachtung der Religion - soll am pädagogischen, ekklesiologischen und religionsgeschichtlichen Entwicklungsgang der Religion selbst aufgezeigt werden. Im Folgenden soll es nun darauf ankommen, die von Schleiermacher der Religion als eines Bildungsprozesses zugeschriebene Struktur herauszuarbeiten. Die Darstellung folgt der These, daß der religiöse Bildungsprozeß im Grunde als ein Prozeß von Individualisierung im Religiösen verstanden wird. Die Explikation der Bildung religiöser Individualität läßt sich als übergreifendes Thema der letzten drei Reden von Schleiermachers Religionsschrift verstehen. In dieser Zusammenschau verfolge ich einerseits das Bildungsmotiv, das explizit in der dritten Rede thematisch ist, auch durch die folgenden Reden hindurch. Andererseits scheint mir die ausdrücklich erst in der letzten Rede angesprochene Frage der Individuation von Religion bereits in den Bestimmungen der vorigen Reden vorbereitet. Das individualisierende Moment wird allmählich, von Rede zu Rede, angereichert. In der dritten Rede wird unter dem Titel „Bildung zur Religion" die Art und Weise der Entwicklung zur Religion erörtert, wie sie dem einzelnen Menschen für sich betrachtet eigen ist. Die Funktion der intersubjektiven Dimension humanen Lebens für die Spezifizierung des Religiösen ist dann in der darauffolgenden Rede als „Das Gesellige in der Religion" thematisch. Schließlich bringt Schleiermacher in der fünften Rede: „Über die Religionen" die historische Dimension zur Geltung. Damit wird die Frage nach den Faktoren und Kriterien des Individuellen in der Religion an drei aufeinander aufbauenden, den Blickwinkel jeweils erweiternden Aspekten expliziert: Individuelle Zugangsweise, individuelle Art intersubjektiver Vergemeinschaftung und individuelle Stellung in der Geschichte. Die Theorie von Individualität, Sozialität und Geschichtlichkeit im Religiösen, wie sie Schleiermacher in den,Reden' darlegt, läßt sich aufgrund ihrer leitenden Idee als Frucht jenes Grundansatzes verstehen, den er sich in der konstruktiven Auseinandersetzung mit Spinoza um eine Lösung des Individuationsproblems in den 90er Jahren zueigen gemacht hatte. Vor diesem Hintergrund steht die innige Verknüp-

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fung von religiöser Bildung u n d religiöser Individualisierung u n d damit Schleiermachers Credo einer im H u m a n u m verwurzelten Religion.

A. Religiöse Bildung Religion wird von Schleiermacher grundsätzlich dem menschlichen Geistesleben eingeordnet. Religion ist ein „geistiges Phänomen" 3 3 3 u n d damit eine Äußerungsform der Humanität, ein Aspekt der Menschheit. Das bekannte Diktum, daß Religion eine „eigne Provinz im Gemüthe" (Reden 37; vgl. 47. 52) sei, besagt gerade nicht, daß Religion etwas dem menschlichen Bewußtsein heterogenes sei, sondern versteht sich in Abgrenzung zu anderen humanen Geistesfunktionen. Als humanes Phänomen m u ß die Religion aber zugleich auch eine der „Bildung" fähige Äußerung von Humanität sein. 334 Dies hat Konsequenzen für die Beschreibung der Genese von Religion, wie sie Schleiermacher in der dritten Rede vornimmt. Die Religion wird an einer spezifischen humanen „Anlage" und an einem bestimmten „Sinn" als einem psychischen Vermögen festgemacht. Sie entwickelt sich, sofern sie nicht von ungünstigen äußeren Einflüssen daran gehindert wird - das ist der Inhalt der dritten Rede. 335 Es werden dort aber nicht nur die Bedingungen erörtert, unter denen die „Bildung zur Religion" stattfindet. Diese Erörterungen liefern zugleich einen grundlegenden Beitrag zum Konzept einer Spezifizierung u n d Differenzierung in religiösen Dingen. Die dabei vorantreibende Frage ist, inwiefern in diesem Bildungsprozeß sich Religion nicht nur überhaupt ausbildet, sondern sich zugleich jeweils in ihrer besonderen Bestimmtheit ausbildet. Die Intention des Redners bei der Beschreibung religiöser Bildung ist dem Ansatz im Konzept der Menschheit analog. Hatte Schleierma333 Reden 22. Vgl. Reden 23f: „geistige Erscheinung"; 27: „geistigen Stoffe"; 40: „so ist es auch mit geistigen Dingen, und unter ihnen mit der Religion"; 48: „die Religion [... ] in geistigen Dingen"; 268: „geistiges Leben als Dokument seiner religiösen Individualität". 334 Der Bildungsbegriff steht ja bereits im Titel der Schrift. Sie richtet sich an die „Gebildeten unter ihren Verächtern". Unter diesem Blickwinkel könnte man als eines ihrer Ziele fassen, das Verständnis von Bildung, das die Adressaten sich selbst zuschreiben, durch die fünf Reden hindurch zu vertiefen und in einem Sinne zu transformieren, welche der Religion nicht mehr entgegengesetzt ist, sondern umgekehrt Religion und Bildimg in ein selbstverständliches und sich gegenseitig bereicherndes Verhältnis bringt. Vgl. Reden 18-21. 122f. 155. 162. 170. 187. 229f. 235. 244f. 248. 255. 269. 272. 277. Besonders deutlich wird Schleiermacher am Schluß der Darlegungen über das Wesen der Religion in der zweiten Rede: „Ich habe Euch gezeigt was eigentlich Religion ist, habt Ihr irgend etwas darin gefunden was Eurer und der höchsten menschlichen Bildung unwürdig wäre?" (Reden 122). 335 Vgl. Reden 144ff; dazu U. Barth: Reden (1998/2004), S. 469f/284f.

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eher dort zwischen allgemein-menschlichen Anlagen und deren tatsächlicher individueller Entwicklung unter dem Begriff der Bildung unterschieden, 336 so gilt Entsprechendes auch für die Bildung zur Religion. Schleiermacher versteht Religion als eine allgemeine Anlage der menschlichen Gattung. Deren Entfaltung ist aber nicht wiederum eine allgemeine, in allen Menschen identische. Vielmehr ist auch Bildimg zur Religion ein Feld unendlicher individueller Verschiedenheit. Beide Aspekte, die anthropologische Essentialisierung von Religion und die These der individuellen Bestimmtheit der tatsächlichen Erscheinungsform von Religion in der menschlichen Existenz gehören genauestens zusammen. Schleiermacher hat daher ein doppeltes Beweisziel vor Augen: Religion soll als ein allen Menschen prinzipiell möglicher Aspekt des menschlichen Geisteslebens plausibel gemacht werden. Deren Verwirklichung unterliegt jedoch solchen Bedingungen, die ein vollkommen identisches Vorhandensein in mehreren Menschen prinzipiell ausschließen. Bereits auf dieser Ebene gilt Schleiermachers Polemik gegen jede Vorstellung einer „natürlichen Religion", welche eine Gleichförmigkeit des Religiösen nicht auf der Ebene der Anlage, sondern der wirklichen Aktualität postuliert.337 Insofern steht die Auffassung einer natürlichen Religion nicht erst, wie der Kontext dieser Passage in der fünften Rede 338 nahelegen könnte, der „Positivität" 339 geschichtlicher Religionsgemeinschaften entgegen, sondern ist systematisch gesehen das Gegenmodell bereits zu Schleiermachers individuationstheoretischer Unterscheidung von Anlage und expliziter Bildung in Hinsicht auf die Genese von Religion überhaupt. Was heißt aber nun „Anlage" und „Bildung" zur Religion? Unter „Anlage" versteht Schleiermacher eine der menschlichen Gattung zukommende Ausstattung mit der Möglichkeit zur Entwicklung gewisser Fähigkeiten (vgl. Reden 155). Wird Religion nun als auf einer Anlage beruhend beschrieben, 340 so heißt das, die Möglichkeit zur Religion wird als der conditio humana mitgegeben erachtet. Sie ist allen Menschen gemeinsam und insofern (gattungs-)allgemein (vgl. Reden 144. 236. 244). Der humane Ort dieser Anlage ist der „religiöse Sinn", 341 vermöge dessen sich religiöses Bewußtsein ausbildet. Schleiermacher siedelt den re336 S.o. Abschnitt 2 A 2, S. 327ff. 337 Die Anhänger einer „natürlichen Religion" strebten, so Schleiermacher, danach, in ihrer Religion „gleichförmig im Unbestimmten" (Reden 273) zu sein. Die „natürliche Religion ist also auch keine bestimmte Form, keine eigne individuelle Darstellung der Religion" (275f); „Das Wesen der natürlichen Religion besteht ganz eigentlich in der Negation alles Positiven und Charakteristischen in der Religion" (277). 338 Vgl. Reden 243-250. 272-279. 339 Vgl. Reden 242-244. 248. 260. 262. 268. 271. 273. 340 Vgl. Reden 122.134. 136.138. 144.155. 236. 244. 265. 270. 341 Reden 72. 76. 88. 98. 114.118. 121. 144. 160. 179. 195. 218.

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ligiösen Sinn nicht auf einer Ebene mit den Vermögen der empirischen Sinnlichkeit wie Gehör, Gesicht, Geruch usw. an. Der religiöse Sinn bezieht sich vielmehr auf bereits durch die empirischen Sinnesvermögen rezipierte Vorstellungen und macht an deren gegenständlichem Gehalt eine neue, religiöse Dimension aus. Für das Verständnis der Religion als eines Bildungsprozesses ist dies insofern von Belang, als der religiöse Sinn damit an den empirischen Weltumgang des Menschen gebunden ist. Schleiermacher bezeichnet dieses Sicheinstellen einer religiösen Dimension an der empirischen Erfahrungswirklichkeit als den „Weg"342 oder „Übergang in die Religion". 343 Woran also religiöse Erfahrungen gemacht werden und wie sich infolgedessen die religiöse Anlage des Menschen tatsächlich entwickelt, 344 ist an die individuelle Erfahrungswelt des einzelnen Menschen gebunden. Der Ausgangpunkt für den religiösen Sinn ist für den einzelnen Menschen höchst kontingent, nämlich in dem liegend, womit er zu tun hat, was ihn umgiebt und was er folglich zum Gegenstand seiner Betrachtung werden läßt. „Daher ist schon in der Religion jedes einzelnen Menschen, wie sie sich im Laufe seines Lebens bildet, nichts zufälliger als die bestimmte Summe seines religiösen Stoffs" (Reden 252). Religion als spezifische Möglichkeit des menschlichen Geisteslebens gestaltet sich im Prozeß ihrer Entwicklung schon deshalb in einer unübersehbaren Variationsbreite. Der „Stoff" der Religion, der einem Menschen im Laufe seines Lebens als Ansatzpunkt für die Bildung religiöser Ideen dient, ist seinem gegenständlichen Gehalt nach von Mensch zu Mensch verschieden. 342 Reden 164.166f. 206.220f. Schleiermacher spricht auch vom „Finden des Universums": vgl. Reden 114.149.167f. 231. 343 Reden 167; vgl. auch Reden 153. 157. 206. 221. Der hier verwendete Begriff des Übergangs ist strikt von dem Übergangsbegriff der ,Dialektik' zu unterscheiden (dazu vgl. U. Barth: Der Letztbegründungsgang der ,Dialektik' [2004], S. 365-371). Geht es dort um den bewußtseinstheoretischen Ort und die strukturelle Bedingung für den kontinuierlichen Wechsel zwischen Denken und Wollen, so steht der Begriff des Übergangs in den ,Reden' für denjenigen Bildungsprozeß, in welchem nicht-religiöses Bewußtsein eine religiöse Dimension gewinnt. Keineswegs erscheint auch der Begriff des Gefühls laut,Dialektik' Ort und Bedingung des Übergangs - in den ,Reden' etwa schon in dieser Funktion (siehe zum Gefühlsbegriff der ,Reden' oben S. 373). Es wäre unsachgemäß, das elaborierte Konzept der ,Dialektik' an diesem Punkt in die ,Reden' zurückzutragen. Dies scheint mir die Tendenz bei F. W. Graf: Ursprüngliches Gefühl unmittelbarer Koinzidenz des Differenten (1978). Zwar bezieht er sich auf die zweite Auflage der ,Reden' (1806), die werkgenetisch der ersten Dialektikvorlesung (1811) näher steht als die Erstausgabe der Reden, aber auch für die zweite Auflage erscheint Grafs These der Funktionalität der Religion als unmittelbarer Koinzidenz des Differenten zu gewagt. Es geht auch dort nicht um das Verhältnis zwischen Wollen und Denken, für das die Religion eine Übergangsfunktion i. S. „unmittelbarer Koinzidenz" (S. 167. 171f) hätte, sondern um das Verhältnis von Religion einerseits und Handeln bzw. Wissen andererseits (vgl. Reden 2 75-77), wie Graf an anderer Stelle selbst deutlich macht (S. 163-165). 344 Schleiermacher gebraucht hier gern das Bild vom Aufglühen des in allen schlummernden Funkens (Reden 136.142).

3. Spinozistische Motive in der Theorie religiöser Bildung

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Die Variationsbreite des religiösen Lebens hängt aber auch von den kontingenten Bedingtingen der geistigen und insbesondere der religiösen Entwicklung des einzelnen Menschen ab (vgl. Reden 144ff). Denn mit dieser ist eine je unterschiedliche Perspektive auf dieselben Gegenstände verbunden. 3 4 5 Mit dem Hinweis auf die perspektivische Differenz macht Schleiermacher deutlich, daß ihm auch im Bereich religiöser Bildung an einer relationalen Bestimmung von Individualität gelegen ist. Die „stoffliche" Differenzierung wäre wohl noch verstehbar im Sinne eines Aggregationsmodells von Individualität. Im Einzelnen würde sich nach diesem Modell eine unzusammenhängende Ansammlung verschiedenster religiöser Ansichten im Laufe eines Lebens ergeben und deren Gehalt würde die Individualität des Einzelnen in religiöser Hinsicht ausmachen. Hingegen bringt der Verweis auf die Perspektivität auch der religiösen Einstellung des Einzelnen eine Richtung ins Spiel, die verständlich macht, warum der „Übergang in die Religion" als ein solcher Bildungsprozeß 3 4 6 zu fassen ist, in dem sich Religion als eine bestimmte und individuelle „ausbildet". 3 4 7 Jeder traktiert neue Erfahrungsgehalte, bei denen ihm der religiöse Sinn anspricht und er also den Übergang zur Religion findet, aus der Perspektive der bereits gehabten, vergangenen religiösen Momente. Der religiöse Sinn wird also im Laufe des religiösen Lebens gleichsam mitgebildet.348 In der Perspektivität des religiösen Sinns spiegelt sich die geistige Konstellation des gesamten bisherigen religiösen Lebens eines Menschen. Wenn Schleiermacher gleichwohl eine „unbegränzte Freiheit des Sinnes" (Reden 164) und dessen „Allgemeinheit" (Reden 164; Monologen 50f; vgl. ThgesB 138) oder „Universalität" (Reden 186) fordert, so macht dies deutlich, daß er die Perspektivität nicht im Sinne einer Prädetermination neuer Erfahrungen versteht, die gewisse Bereiche ausschließen würde, sondern allenfalls im Sinne einer Disposition, die im Prozeß der religiösen Bildung in ihrer Bestimmtheit angereichert werden kann und sich also im Kern als variabel herausstellt. Der „Stoff" der Religion, dessen Ansichten der Einzelne sich im Laufe seines religiösen Lebens ansammelt, hat also nur insofern eine individuierende Funktion als er für das religiöse Subjekt eine jeweils bestimmte Perspektive des religiösen Sinns vorgibt. Jeder Mensch erwirbt sich durch die Besonderheit dessen, woran sich im Bildungsprozeß seine religiöse Anlage sukzessiv entwickelt, seine individuelle Zugangsweise zur Religion. „Dieses Gefühl muß Jeden begleiten der wirklich Religion hat. Jeder muß sich bewußt sein, [... ] daß es über dieselben Gegenstände, die ihn religiös 345 346 347 348

Vgl. Reden 61f. 251. Vgl. Reden 164. 244f. 248. 260. 269. 272. 311f. Reden 244f. 248. 255. 2721. 279. Vgl. J. Dierken: „Daß eine Religion . . . " (2000), S. 682f.

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affiziren, Ansichten giebt, die eben so fromm sind und doch von den seinigen gänzlich verschieden, und daß aus andern Elementen der Religion Anschauungen und Gefühle ausfließen, für die ihm vielleicht gänzlich der Sinn fehlt" (Reden 62). Das Bewußtsein der eigenen Zugangsweise in der Religion bedarf, das wird in dem eben genannten Zitat bereits deutlich, eines Bewußtseins auch der Andersheit der Zugangsweisen anderer. Wozu einem der Sinn zwar nicht „gänzlich fehlt", aber noch nicht angeregt und bestimmt worden ist, das mag man erst ersehen, wenn der Blick nicht bloß auf die religiöse Entwicklung des Einzelnen hin, sondern auf die intersubjektive Dimension des Religiösen erweitert wird. Diesem Feld widmet sich Schleiermacher vorwiegend in der vierten Rede.

B. Intersubjektive Aspekte religiöser Bildung Der intersubjektive Aspekt, den Schleiermacher mit einer Ekklesiologie religiöser Geselligkeit in der vierten Rede entfaltet, bringt für die Frage nach der Bildung religiöser Individualität eine Erschwerung der Problemlage. Hatte die Betrachtung der religiösen Bildung des Einzelnen die Bestimmtheit seiner religiösen Eigenart an der individuellen Gestaltungsperspektive festgemacht, in welcher mundane Ereignisse und Vorstellungen als „Stoff" der Religion angeeignet werden, so potenziert sich dieser Gesichtspunkt unter den Bedingungen der Intersubjektivität. Denn aus der in der vierten Rede entfalteten Theorie religiöser Mitteilung ergibt sich die Möglichkeit eines intersubjektiven Austausches, in welchem die von einem Menschen religiös angeeigneten Vorstellungen einem anderen so präsentiert werden können, daß dieser dieselben sich auch zu eigen machen kann. Die äußerlich wahrnehmbare Seite des religiösen Bewußtseins regt dabei zu eigener religöser Betrachtung des Mitgeteilten an. Der „Stoff der Religion" beschränkt sich also nicht auf die tatsächlich selbst gemachten Erfahrungen, sondern wird um jene erweitert, die durch expressives Handeln einander mitgeteilt werden. Auch dies ist bei Schleiermacher ein Aspekt von „darstellen". Wie wir oben gezeigt haben, greift er damit einen Strang der vielschichtigen Debattenlage um den Darstellungsbegriff auf. 349 Dieser Vorgang beruht auf Wechselseitigkeit350 des 349 Reden llf. 68. 142. 190. 196. 220. 222. 227; Monologen 19. 24. 27. 47. 48. 49. 98. 118. 119. 122. 129. Siehe zu diesem Aspekt des Darstellungsbegriffs oben S. 305. Synonyme Begriffe für expressives Handeln sind: „darbieten" (Reden 135. 182; Monologen 3. 46.154), „äußern" (Reden 134. 142) „zeigen" (Reden 219. 220) „hinstellen" (Reden lOf. 182. 230; Monologen 48. 49), „ausstellen" (Reden 217; Fragm. Nr. 336, KGA1/2, S. 146). Schleiermacher hat hier offenbar das lateinische „exhibere" als Grundbedeutung vor Augen. In der Christlichen Sitte', Schleiermachers theologischer Ethik, wird dieser Aspekt des Darstellens als eine der Grundrichtungen christlichen Handelns expo-

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Gebens und Nehmens in „Darstellung" und „Anschauung". 351 Die Bezogenheit aufeinander, in welcher „jeder voll eigner Kraft, welche ausströmen will ins Freie, und voll heiliger Begierde alles aufzufaßen und sich anzueignen, was die Andern ihm darbieten mögen" (Reden 181f) ist, ist geradezu das „Princip religiöser Geselligkeit" (Reden 189). 352 Für das Konzept der Bildung religiöser Individualität scheinen mir zwei gegenläufige Aspekte wichtig. Einerseits gibt die Theorie religiöser Kommunikation einen Differenzierungsgesichtspunkt an die Hand, insofern solche Menschen zusammengenommen von anderen unterschieden werden können, welche sich in welchselseitiger Kommunikation ihre religiösen Ansichten mitgeteilt haben. Schleiermacher faßt dies im Begriff einer „Gesellschaft" 353 religiöser Mitteilung. Sie ist ein komplexes Relationengefüge, das sich von den von diesem Kreis noch nicht berührten Menschen unterscheiden läßt. Andererseits sind deren Grenzen jedoch nach innen wie nach außen „fließend" (Reden 185.187. 226). Die Theorie der Mitteilung ist so angelegt, daß sie keine prinzipiellen Limitationen der Mitteilbarkeit vorsieht. Das ist gemeint mit dem „Fließen" der Grenzen einer religiösen Kommunikationssphäre. Zwar erleichtert sich die religiöse Kommunikation bei ähnlichem Erfahrungshorizont, 354 aber, wie die Anlage zur Religion der conditio humana eingeschrieben ist, so findet auch die Mitteilbarkeit des Religiösen erst an den Grenzen der menschlichen Gattung ihre Schranke. Diese Grundbedingung religiöser Intersubjektivität macht in ihrem Erfüllungsmodus zugleich deren Zielbegriff aus. Religiöse Mitteilung basiert ihren Aufbaumomenten nach auf einer gattungsmäßigen Gemeinsamkeit und befindet sich in ihrem tatsächlichen Vollzug in einem Prozeß der Annäherung an

350 351 352 353

354

niert. „Darstellendes Handeln" steht dort im Gegensatz zum „Wirksamen Handeln". Vgl. F. Schleiermacher: Die christliche Sitte, SW1/12; dazu grundlegend H.-J. Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre (1964). Vgl. Reden 179.183f. 193. Zum Anschauen eines Menschen, der etwas darstellt vgl. Reden 234. 237. Vgl. zur Korrelation von Darstellen und Anschauen oben S. 296ff. Zu Schleiermachers Theorie religiöser Kommunikation vgl. W. Grab: Predigt als Mitteilung des Glaubens (1988); C. Braungart: Mitteilung durch Darstellung (1998). Reden 188. Anders als im heutigen Sprachgebrauch steht im 18. Jahrhundert „Gesellschaft" noch für die kleinere soziale Verbindung, „Gemeinschaft" für größere Sozietäten, beispielsweise für die Gesamtheit der Bürger eines Staates. In der Theorie des geselligen Betragens (ThgesB 54, Anm. 3) hebt Schleiermacher „Gemeinschaften (nowovbai)" als Verbindungen zu einem gemeinsamen Zweck von „Gesellschaften (συνονσυαί)" als Sphären der Wechselseitigkeit und Entgegensetzung voneinander ab. In den ,Reden' ist der Wortgebrauch allerdings etwas unschärfer. Hier erscheint „Gemeinschaft" durchaus auch als Wechselwirkungssphäre, wenn freilich auch als umfassende. Vgl. den oben (S. 339) bereits interpretierten Ausdruck „Gemeinschaft der Geister". Die Regel der leichteren Mitteilung bei assoziativer Affinität bezeichnet Schleiermacher als „Gesez der Verwandtschaft" (Reden 156). Vgl. auch Reden 185. 205. 209. 239.

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ΙΠ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der ,Reden'

eine die ganze menschliche Gattung umfassende wechselseitige Durchdringung. Im Zuge dieser fortschreitenden Durchdringung werden die Grenzen der religiösen Persönlichkeit entschränkt und die Einheit des religiösen Bewußtseins in der Menschheit konstituiert: „je mehr sich Jeder dem Andern mittheilt, desto vollkommener werden sie Eins, keiner hat ein Bewußtsein für sich, jeder hat zugleich das des Andern, sie sind nicht mehr nur Menschen, sondern auch Menschheit" (Reden 234). Durch dieses „allgemeine Band des Bewußtseins" (Reden 8; vgl. auch 184. 187) konstituiert sich als intersubjektiv-religiöse Vollkommenheitsposition derjenige „Bund von Brüdern" (Reden 234), der „Kirche" heißt. Schleiermachers Ekklesiologie in den ,Reden' basiert also auf der allgemein-humanen Mitteilbarkeit religiöser Ansichten und bildet die Idee einer die Menschheit insgesamt umspannenden Sphäre wechselseitiger religiöser Kommunikation. In scharfer Polemik gegen die Staatskirche (vgl. Reden 210-218. 224) und in Abhebung überhaupt von jeder institutionellen Makrostruktur („große Verbindung", Reden 192), in welcher das verbindende Prinzip nicht primär religiöse Geselligkeit ist, etabliert Schleiermacher in der vierten Rede daher einen Begriff von „wahrer Kirche" (Reden 191. 200. 203. 206f), welche jene universalen Züge trägt. In diesem Begriff der wahren Kirche bleibt aber dennoch gültig, daß sich religiöse Vergemeinschaftung, weil sie an den Vorgang der Mitteilung gebunden ist, primär im kleinen Kreise vollzieht. Die wahre Kirche bildet so die Idee einer wiederum kommunikativen Verbundenheit all jener „Gesellschaften", in welchen religiöse Kommunikation stattfindet. Der Struktur nach vollzieht sich die Vergemeinschaftung der Religion also in dem Spannungsfeld von relativer Abgeschlossenheit religiöser Interaktionszirkel und deren prinzipieller Offenheit hin auf eine die ganze Menschheit in einem kollektiven Sinne verbindende Kirche als „Gemeinschaft wahrhaft religiöser Gemüther" (Reden 232). Dieser Begriff von Kirche ist explizit nicht konfessionell festgelegt. Es ist hiermit also noch keineswegs die in der fünften Rede proklamierte Durchdringung der Menschheit mit dem Geist des Christentums gemeint. 355 Vielmehr ist der hier exponierte Kirchenbegriff noch diesseits der Unterscheidving geschichtlicher Religionsgemeinschaften anzusetzen. 356 Kirche ist 355 Es wäre ein interessantes Feld, den religiösen Bezug auf Menschheit bei Martin Kahler mit dem frühen Schleiermacher zu vergleichen. Kahler hat stets eine Durchdringung der Menschheit mit dem Geist des Christentums vor Augen. In diesem Sinne spricht er von der „Menschheitsreligion" (Dogmatische Zeitfragen, Bd. 2: Zur Lehre von der Versöhnung [1898], S. 423) oder von der Kirche als der „Menschheit im Keim" (Der Lebendige und seine Bezeugung [1937], S. 79; freundl. Hinweis von Martin Bauspieß). Vgl. zu Kahler: J. Wirsching: Gott in der Geschichte (1973). 356 Damit unterscheidet sich der Kirchenbegriff der ,Reden' signifikant von dem in der Einleitung der ,Glaubenslehre' exponierten Begriff von Kirche als einer „bestimmtefn] und begrenzte[n] Gemeinschaft der Frömmigkeit" (CG 1 § 12, Anm. c; CG 2 § 6).

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hier synonym mit „religiöser Welt" (Reden 187. 261). Als ecclesia (quasi) invisibilis357 et triumphans 358 ist die wahre Kirche die Idee einer die herkömmlichen Grenzen der Religionsgemeinschaften überschreitenden, die Menschheit durch religiöse Interaktion insgesamt umfassenden Gemeinschaft. Die intendierte „Einheit der Kirche" (Reden 226. 238) ist an dieser Stelle also nicht nur ein Plädoyer für eine innerchristliche oder gar innerprotestantische Kirchenverständigung, sondern für eine weltweite interreligiöse Ökumene. Eine solche Kirche kann nach ihrer Idee eines die Menschheit umfassenden religiös-kommunikativen Netzwerkes nur eine sein. „Die Religion haßt die Einsamkeit [...]. Wenn sie sich in Euch entwickelt, wenn Ihr die ersten Spuren ihres Lebens inne werdet, so tretet gleich in die Eine und untheilbare Gemeinschaft der Heiligen, die alle Religionen aufnimmt, und in der allein Jede gedeihn kann" (Reden 312). Freilich ist Schleiermacher dabei weit entfernt von Gleichmacherei. Von der „Einheit der Kirche" setzt er entschieden die „Vielheit der Religionen" (Reden 238f) ab. Denn es kommt ihm darauf an, die individuelle Besonderheit in der Religion als Voraussetzung und Resultat religiöser Kommunikation zu explizieren. Auf der pluralen und zugleich Individualität stiftenden religiösen Kommunikation gründen Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft der Kirche. Die Erweiterung des Blickwinkels auf die intersubjektive Dimension des Religiösen - so kann man zusammenfassend sagen - potenziert nicht nur die individuationstheoretische Relevanz des Materialen der Religion in der Bildung des einzelnen Menschen, sondern bringt ihrerseits mit der Theorie religiöser Geselligkeit die Frage hinzu, wie die Differenzen zwischen verschiedenen religiösen „Gesellschaften" als Kommunikationsforen in Sachen der Religion bestimmt werden können. Deren Grenzen erscheinen fließend und sie werden gleichsam einer,Menschheitskirche' 359 angenähert und damit entschränkt. Es gilt nun, den kollektiven Begriff einer „Einheit der Kirche" auf Eigenheit und Differenz der „Vielheit der Religionen" zu beziehen und dabei nicht nur die einzelnen religiösen Subjekte, sondern insbesondere auch deren Vergemeinschaftungsformen auf intersubjektiver Ebene im Auge zu behalten. Damit ist im Wesentlichen das Programm des ersten Teils der fünften Rede umschrieben. 357 Vgl. Reden 232: „laßt Euch noch einmal hinführen zu der erhabenen Gemeinschaft wahrhaft religiöser Gemüther, die zwar jezt zerstreut und fast unsichtbar ist". 358 Vgl. Reden 191. 359 Schleiermacher hat hier sachlich noch keine spezifisch christliche Universalgemeinschaft, sondern die Idee einer umfassenden Welt der Religionen vor Augen, welche sich durch den unabschließbaren Zusammenhang religiöser Kommunikation entwickelt. Der Begriff „Menschheitskirche" selbst fällt bei Schleiermacherer, soweit ich sehe, nicht. Er stammt m.W. von Kahler. Ich habe ihn aber dort bislang nicht belegen können. Zum ekklesiologischen Bezug auf Menschheit bei Kahler vgl. oben Anm. 355 auf S. 390.

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C. Bildung geschichtlicher Individualität in der Religion In Hinsicht auf die Theorie religiöser Bildung unternimmt die letzte der fünf Reden eine Bündelung der Aspekte. Wenn in ihr „Über die Religionen" gehandelt wird, so verbindet Schleiermacher darin verschiedene Bedeutungsaspekte des Begriffs Religion. Religion bezeichnet sowohl die tinbestimmte humane Anlage, als auch das bestimmte Bewußtsein des einzelnen religiösen Subjekts, sowohl die einzelne Gemeinschaft religiöser Kommmunikation, als auch die Idee einer unendlichen Wechselwirkungssphäre religiöser Kommunikation. Alle diese Aspekte des Religionsbegriffs werden nun in einer einzigen Problemstellung verdichtet. Was Schleiermacher in den Spinozamanuskripten als „die große Frage" vor Augen stand, wird hier erstmals vor der literarischen Öffentlichkeit ausgebreitet. Den jungen Lehramtskandidaten trieb die metaphysische Frage um, „wes Ursprungs [... ] die Idee von einem Individuo" (KDSp 574) sei. Der Potsdamer Prediger hatte die Lösungsintuition bis in die Theorie der Religion hineingebracht. In der Frage, worin die Religion ihr „Princip sich zu individualisiren" (Reden 241) habe, findet er gleichsam einen Brennpunkt seiner religionstheoretischen Einsichten. Die folgenden Ausführungen sollen dieses sich in Form einer Kriteriologie religiöser Individualität verdichtende religionstheoretische Syndrom auf dessen spinozistische Implikationen untersuchen. Vier Aspekte scheinen mir wesentlich. 1. Die von Schleiermacher favorisierte Art, die „Eigenthümlichkeit" in religiösen Vollzügen zu bestimmen, läßt sich sowohl in der Anwendung auf die Religion des einzelnen Menschen als auch in Hinsicht auf deren Sozialgestalt auf jene in der Spinozarezeption erreichten Bestimmungen von Individualität abbilden. 2. Ein zweiter Aspekt ergibt sich aus dem Verhältnis von so bestimmter Individualität zum projektierten ekklesiologischen Inbegriff von Religion. 3. Beides geht in das religionstheoretisch-metaphysische Gesamtkonzept einer Individuation der Religion zu Religionen ein, welche strukturlogisch dem Modell der spinozanischen Metaphysik folgt. 4. Schließlich ist die Funktion der historischen Dimension nicht nur für Schleiermachers Bestimmimg individual- und sozioreligiöser Eigenheit, sondern insbesondere in dem Gegensatz von Ewigkeit und Geschichte zu bedenken. Schleiermacher scheint hier eine Würdigung der (Religions-)Geschichte sub specie aeternitatis vor Augen zu stehen.

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1. Die Bestimmung religiöser Individualität Analog zur Bestimmung der Individualität des Einzelnen in der Menschheit überhaupt 360 setzt sich Schleiermacher auch bei der Bestimmung religiöser Eigentümlichkeit in zwiefacher Hinsicht von einem gängigen Individualitätsverständnis ab. Dazu eine Vorbemerkung. Die „Elemente" der Religion, die auf unterschiedliche Weise verortet, qualifiziert oder einander zugeordnet werden, sind in allen auch in den abgelehnten Modellen „Anschauungen des Universums". Die Frage nach der Individualität in der Religion setzt also die grundständige Bestimmung der Religion bereits voraus. Wir verwenden „Anschauving des Universums" in der Folge lediglich nach dieser formalen Seite als Aufbaumoment individualisierter Religion, ohne an dieser Stelle dessen Struktur näher zu erörtern. Wir begeben uns hier also gleichsam auf eine Metadiskussion, in welcher die Grundakte der Religion als Data genommen werden. Schleiermachers These ist nun, daß es zur Bestimmimg von Individualität weder hinreicht, die einzelnen Akte der Religion quantitativ noch sie qualitativ voneinander zu sondern. Ersteres liegt einem Subtraktionsmodell zugrunde, letzteres einem Verfahren dihairetischbegrifflicher Einteilung. Nach dem Subtraktionsmodell wäre das Unterscheidende gerade das, was einem einzelnen zukommt, abzüglich all dessen, was er mit anderen gemeinsam hat. Auf die Religion bezogen hieße das, nur solche Anschauungen des Universums machten die Individualität eines religiösen Subjekts aus, die diesem exklusiv zukommen. Dem stehen die in der dritten und vierten Rede entwickelten Theorien religiöser Bildung bzw. religiöser Kommunikation entgegen. Nach ersterer wäre Individualität als subtraktiv gedacht etwas bloß Zufälliges, nach letzterer führt sich dieses Modell selbst ad absurdum. Die verschiedenen Anschauungen des Universums, die ein Mensch sich im Laufe seines Lebens als „Stoff" der Religion aneignet, sollten ja den kontingenten Bedingungen der materiellen wie geistigen Umwelt des einzelnen unterworfen sein. Demnach wäre die Bestimmung der Individualität in der Religion, folgte man dem Subtraktionsmodell, nicht etwas dem einzelnen Subjekt seinem Wesen nach Zukommendes, sondern nur eine Bestimmtheit, die von außen her an es herangetragen ist. Stellt man darüber hinaus die Möglichkeit einer intersubjektiven Mitteilung religiöser Anschauungen in Rechnung, so erscheint eine Exklusivität bestimmter Anschauungen ihrem Gehalt nach unmöglich. Jede religiöse Individualität wäre jedenfalls nur in dem einzigen Moment des Für-sich-Habens einer religiösen Anschauung gesetzt und mit der Äußerung und Mitteilung derselben passe. Aber selbst 360 S.o.S.330ff.

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diese Möglichkeit wäre nach Schleiermacher nur eine Abstraktion, da ihm Inneres und Äußerung zwei gleichursprüngliche Momente nur eines Vorgangs sind. Die Zufälligkeit des inhaltlichen Aspektes der angeeigneten religiösen Erfahrung und deren Kommunizierbarkeit schließen ein quantitativ-stoffliches Kriterium für die Individualität aus. Was die qualitative Sonderung der Elemente der Religion in dem Verfahren begrifflicher Einteilung betrifft, so greift Schleiermacher hier auf ein methodisches Gegenargument zurück. Dihairetisch eingeteilt werden kann nur auf dem Grund eines Gemeinsamen, von dem jeweils die differentia specifica abgehoben wird. Man kommt mit diesem Verfahren also zwar in immer feinere Distinktionen des Allgemeinen, aber niemals zur Bestimmtheit von Einzelnem (Reden 255f). 361 Zudem kann Schleiermacher auf den Status solcher Einteilungsgesichtspunkte verweisen, den er bereits am Schluß der zweiten Rede erörtert hatte. Die ordnende Differenzierung der religiösen Anschauung in Fetischismus, Polytheismus und Monotheismus, die sich an dem darin ausgedrückten Einheitsverständnis orientiert, mag religionsgeschichtlich legitim sein. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hierbei um nachträgliche Reflexionen auf religiöse Anschauungen handelt, nicht aber um Bestimmungen derselben selbst. Dasselbe gilt nach Schleiermacher auch für die Unterscheidung von pantheistischen und theistischen Vorstellungen. Sie steht auf einer reflexiven Metastufe zum religiösen Vollzug, fällt also im Grunde in den Bereich der Theologie, nicht der Religion. 362 Hier ist festzuhalten, daß Schleiermacher weder solche begriffliche Einteilungen noch quantitative Exklusivitätsbehauptungen als geeignet ansieht, hinreichende Kriterien von Individualität abzugeben. Individualität kann nicht an etwas dem religiösen Subjekt Zufälligem und von außen Herangetragenen, sondern muß an einer ihm wesentlichen Bestimmung festgemacht werden. Außerdem ist sie bereits auf der Ebene des religiösen Bewußtseins selbst zu verorten und kann nicht durch reflexive Bestimmungen desselben ersetzt werden. 361 Hier ist in den ,Reden' im Grunde das Argument präfiguriert, das Schleiermachers grundlegende Unterscheidung von Begriffs- und Urteilsform in der ,Dialektik' motiviert. Begriffe beziehen sich auf das Allgemeine, Urteile gehen auf einzelne Fakta. Vgl. DialM § 180-182 (1814/15), 118f; § 166.194 (1814/15), 108.130f. 362 Diese Intention steht wohl hinter der durch das Druckfehlerverzeichnis noch in der ersten Auflage von Schleiermacher selbst revidierten Sprachregelung, nach der Pantheismus und Theismus nicht mehr als „einzelne Anschauungen", sondern als „Anschauungsarten" herausgestellt werden. Letztere sind Qualifikationen des Denkens, also der nachträglichen reflexiven Einteilung von religiösen Phänomenen. Vgl. Reden 124. Diese Präzisierung hatte sich ihm aus der individuationstheoretischen Fragestellung bei der Abfassung der fünften Rede ergeben. Vgl. Reden 255-259. Vgl. P. Grove: Deutungen des Subjekts (2004), S. 355-358.

3. Spinozistische Motive in der Theorie religiöser Bildung

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Beide Forderungen sieht Schleiermacher nur in einem strikt relationalen Individualitätsverständnis erfüllt. Die Bestimmtheit eines religiösen Individuums bemißt sich demzufolge an dem Verhältnis, in welchem seine religiösen Anschauungen zueinander stehen. Diese Relation ergibt sich aber aus den dargelegten Gründen nicht schon aus dem Gehalt der religiösen Anschauungen selbst. Denn die religiöse Betrachtung geistiger oder natürlicher Phänomene folgt nicht einfach der Ordnung oder Kausalität, in welcher diese selbst miteinander verbunden sind. Aus der religiösen Betrachtung einer natürlichen Kraft beispielsweise folgt keineswegs notwendig ebenso die religiöse Betrachtung ihrer Erscheinungen. Dies mag zwar auch nicht ausgeschlossen sein, aber die religiöse Betrachtung kann sich auch ohne Probleme in direktem Anschluß ganz anderen Dingen hingeben, die nach ihrer natürlichen oder geistigen Gehaltlichkeit mit der vorigen in keinem direkten Zusammenhang stehen. „Zum Wesen der Religion haben wir es gerechnet daß es keinen bestimmten innern Zusammenhang zwischen den verschiedenen Anschauungen und Gefühlen vom Universum giebt, daß Jedes einzelne für sich besteht und durch tausend zufällige Combinationen auf Jedes andre führen kann" (Reden 251f; vgl. 58f). Das ist gemeint, wenn Schleiermacher sich dagegen verwehrt, ein „System von Anschauungen" (Reden 59f) aufzustellen. Er wehrt sich damit keineswegs gegen eine „systematische Religion" (Reden 202. 286. 291), welche gerade auf die Möglichkeit eines allseitigen Beziehens religiöser Anschauungen aufeinander angewiesen ist, sondern grenzt sich von Versuchen ab, diese Beziehungen vom Gehalt der Anschauungen her abzuleiten.363 Mit diesem relationalen Aspekt wird für die Bestimmung von religiöser Individualität zugleich ein genetisches (Reden 266) oder sukzessives Moment 364 entscheidend, das die Integration der historischen Dimension in die Individuationskonzeption ermöglicht. Denn die Verbindung unter den religiösen Anschauungen kann, da sie nicht aus dem Gehalt dersel363 Reden 253. Diese Unterscheidung scheint mir J. Lamm: Living God (1996) in ihrer Studie zu verwischen. Ihre Rekonstruktion gerät dadurch in eine gewisse systematische Schieflage, wenn sie Schleiermachers Religionsverständnis der ,Reden' als ein „system of intuitions" beschreibt. Weder „organic monism" (S. 63ff) noch „complete determinism" (S. 68ff) verdanken sich aber - wie die Autorin behauptet - einem durch die Religion erschlossenen System von Anschauungen. Beide Begriffe wären als Rekonstruktionen der Struktur von Universum im Sinne einer Anschauung des Universums als System angebracht, nicht aber in der Position einer Relation religiöser Anschauungen zueinander. 364 Schon für die ,Reden' gilt das für den Gefühlsbegriff der ,Dialektik' dann so wichtige sukzessive Verständnis von Leben. Vgl. DialM 1822, 266: „Betrachten wir das Leben als Reihe". Die zeitliche Distinktheit von „Momenten" (Reden 263. 265. 282), die aber stets als in einer „Reihe" (Reden 265-267) verbunden verstanden werden, macht es Schleiermacher möglich, einzelne „Augenblicke" (Reden 73. 264-266) zu betrachten, ohne sie jedoch aus ihrem Zusammenhang der Entwicklung zu isolieren.

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ben erwächst, nur in den Akten der religiösen Subjektivität liegen. Die sogenannte „Centraianschauung" (Reden 260), auf die alle anderen bezogen werden, konstituiert sich darum in einem geschichtlichen Sinne als „Fundamentalanschauung" (Reden 265). „Daß ichs kurz sage: ein Individuum der Religion, wie wir es suchen, kann nicht anders zu Stande gebracht werden, als dadurch, daß irgend eine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkühr [... ] zum Centraipunkt der ganzen Religion gemacht, und Alles darin auf sie bezogen wird" (Reden 259f). Daß Schleiermacher hier die „freie Willkühr" 365 zum Agens der Konstitution des zentralen Bezugspunktes macht, drückt seine Überzeugung aus, daß es nicht etwa die besondere Qualität einer religiösen Anschauung ist, die sie geeignet macht zur Zentralanschauung, sondern allein deren Inanspruchnahme durch das religiöse Subjekt.366 Die eigentliche Pointe von Schleiermachers Individualiätsverständnis in Sachen der Religion ist daher eine bildungstheoretische und geschichtsphilosophische. Der religiöse Bezugspunkt, in dessen Licht das gesamte religiöse Leben eines Individuums der Religion erscheint, wird an den geschichtlichen Prozeß der Bildung von Religion in gerade diesem Individuum rückgebunden. Religiöse Individualität besteht dabei aber auch nicht in der zentralen Anschauung selbst, die intersubjektives Gemeingut sein und von Schleiermacher dann auch im zweiten Teil der fünften Rede als „Geist" etwa der verschiedenen Weltreligionen herausgearbeitet wird (Reden 285ff). Vielmehr besteht Individualität in dem jeweils durch diese Zentralanschauung geprägten komplexen Relationengefüge der Gesamtheit religiöser Anschauungen oder des gesamten „religiösen Lebens" (Reden 266) eines religiösen Subjektes. In diesem Sinne ist das Individuum ein „geschloßenes Ganze" (Reden 268; vgl. 265), weil darin eine bestimmte religiöse Anschauung auf alle anderen bezogen wird und deren Beziehimg aufeinander somit allererst konstituiert. Ohne ein solches „Princip der Beziehung" (Reden 249) könnte gar nicht von einem „religiösen Leben" als von einer abgrenzbaren Einheit gesprochen werden. Die Zentralanschauung zusammengenommen mit ihrer Funktion als Basis der Beziehbarkeit 365 Dieses auch als „Fantasie" bezeichnete Vermögen ist hier nicht im Sinne von bloßer Einbildung gemeint, sondern als Vermögen freier „Zusammenstellung und Verbindung" (Reden 60f). Die Fantasie konstituiert nicht die Inhalte im Sinne eines Fingierens, sondern bezieht gegebene Anschauungen aufeinander. Vgl. zum Begriff der Phantasie: S. Vietta: Der Phantasiebegriff der Frühromantik und seine Voraussetzungen in der Aufklärung (1983); ders.: Literarische Phantasie (1986), bes. 242-248. 366 In diesem Kontext schlägt Schleiermacher eine Rehabilitierung und Neubestimmung des Begriffes der Häresie vor, um das Subjektiv-Willkürliche in der Entstehung einer bestimmten Religion hervorzuheben (Reden 261). Vgl. zur Bedeutung des subjektiven „Wählens" (griech. αιρεισθαι) Reden 141f. 221. Zum Diktum vgl. E. Jüngel: ,Häresis ein Wort das wieder zu Ehren gebracht werden sollte'. Schleiermacher als Ökumeniker (2000).

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aller weiteren religiösen Akte aufeinander macht jene oben bereits angedeutete individuelle Perspektive 367 aus, in welcher das religiöse Subjekt neue Gestalten religiöser Betrachtung aneignet und äußert. Von hieraus kann nun Schleiermacher fortschreiten, auch das Besondere geschichtlicher Religionsgemeinschaften zu bestimmen. Der methodische Leitgedanke ist dabei, statt mittels eines Abstraktionsverfahrens den Bestand religiöser Anschauungen zu vergleichen, vielmehr eine rein funktionale Betrachtung anzuwenden. Eine Religionsgemeinschaft ist genau dann als ein Individuum anzusehen, wenn deren Angehörige eine bestimmte religiöse Anschauung als Zentralanschauung gemeinsam haben. Für die einzelnen Subjekte besteht innerhalb dieser Religionsgemeinschaft also eine strukturelle Identität hinsichtlich der Funktionalität einer gewissen „Grundanschauung" (Reden 281. 283) oder „Grundidee" (Reden 301), wie Schleiermacher den zentralen Bezugspunkt auch nennen kann. Weder heißt das, daß dieselbe Anschauung nicht von Angehörigen anderer Religionen geteilt werden könnte - sie können sie haben, aber sobald sie sie als Grundidee ihrer Religion verstehen, gehen sie in die erste Religionsgemeinschaft über.368 Noch bedeutet dies, daß innerhalb einer Religionsgemeinschaft alle denselben religiösen Kosmos von Anschauungen haben müßten. Sie teilen nur die Grundidee und zwar in ihrer Funktion, alle übrigen Anschauungen miteinander zu vernetzen. Die Zentralanschauung ist für einen jeden gleichsam der archimedische Punkt seines religiösen Lebens. Aber wohin er von da aus schaut - welche religiösen Betrachtungen er in der Perspektive der Grundidee anstellt ist ihm überlassen und macht seine „religiöse Persönlichkeit" (Reden 268) als die Individualität der Religion des einzelnen Menschen aus. 369 367 Schleiermacher spricht von verschiedenen „Ansichten" (Reden 249), in welcher jede religiöse Anschauung gesehen werden kann. Vgl. in diesem Sinne auch Reden 62. 251. 260. 263. „Ansicht" kann in den ,Reden' jedoch auch als Synonym zu „Anschauung" stehen (Reden 178. 252. 263. 267). 368 Vgl. Reden 304: „wer dieselbe Anschauung [sc. die Grundanschauung Christi] in seiner Religion zum Grunde legt, ist ein Christ". 369 Die von M. Schröder (Das ,unendliche Chaos' der Religion [2000], S. 602-604) diagnostizierte methodische Unstimmigkeit in der Religionstheorie der ,Reden' scheint mir diesem Umstand geschuldet. Die konsequente Ablösung von allem Historischem im hermeneutischen Prozeß der Auffindung der Zentralanschauung einer Religionsgemeinschaft ist nach Schleiermacher die notwendige Abstraktion von der Bestimmtheit, welche die übrigen religiösen Anschauungen im Lichte der Zentralanschauung darin erhalten, und in diesem Sinne im Grunde eine Abstraktion von der Individualität der einzelnen religiösen Subjekte. Dies gilt auch für die Person Jesu. Von seinen menschlichen Qualitäten ist ebenso abzusehen (Reden 301) wie von der Historizität seiner religiösen Wirkung vermittels des Bewußtseins seiner Modell- und Stifterfunktion. Im Blick auf die religiöse Grundidee ist von all dem abzusehen, „wenn nur der Geist, das Princip woraus sich seine [sc. Christi] Religion in ihm und Andern entwikelte nicht gelästert wird" (Reden 304). Die Erwähnung des „Faktums" des Auftretens Jesu mag ein Proprium christlicher Äußerungen sein - die damit diesen Äußerungen verliehene

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Seiner Grundstruktur nach ist dieses vorgestellte Modell von Individualität, wie es Schleiermacher in der fünften Rede sowohl bei der Bestimmung der „religiösen Persönlichkeit" eines Menschen als auch des „Geistes" einer religiösen Gemeinschaft zugrunde legt, dem Mischungsmodell spinozistischer Provenienz in drei Hinsichten verpflichtet. Der erste Punkt betrifft Schleiermachers Reserve gegenüber dem Verständnis religiöser Individualität als elementarer Exklusivität, worin der Einzelne etwas habe, woran den anderen prinzipiell mangelt. Diese Abgrenzung spiegelt seine frühe spinozistische Grundeinsicht, daß die Annahme einer substantiellen Selbständigkeit von Individuen, welche zu einer ausschließenden Entgegensetzung derselben führt, die Sphäre endlicher Einzelheit nicht erschließt. Vielmehr ist zwischen den Individuen eine stete Interaktion und dadurch eine Verschieblichkeit der Grenzen des Individuellen innerhalb der Endlichkeitssphäre auszumachen. Der als Grundhypothese Spinozas von Schleiermacher in seinen frühen Studien rekonstruierte „Fluß der endlichen Dinge" wird in rebus religionis also als die Ablehnung eines Substraktions- und Exklusionsparadigmas fortgeschrieben. Damit hängt direkt ein zweiter Punkt zusammen. Individualität kann nicht am materialen Gehalt selbst festgemacht werden, sondern muß in der Relation gesucht werden, in welcher sich dieser Gehalt formiert. Ist jedoch von einem unabschließbaren Relationengefüge im Sinne des Flusses aller endlichen Dinge auszugehen, so muß das relationale Modell auf eine Bestimmung des Besonderen abzielen, die zugleich dessen Verbindung mit dem allgemeinen Zusammenhang berücksichtigt. Konkret heißt das, daß individuell nur sein kann, was im Kontext des allgemeinen Relationengefüges zugleich eine gewisse Binnenrelation aufweist. In den Spinozamanuskripten hatte Schleiermacher dies, wie oben gezeigt, an der Figur der „Vereinigimg von Gegensätzen" festgemacht. Um zugleich auszudrücken, daß es sich nicht um sich kontradiktorisch ausschließende Gegensätze handelt, sprach er näherhin von der Vereinigung entgegengesetzter „Modifikationen" - mit allen darin enthaltenen spinozistischen Implikationen. Im Begriff der „Vereinigung" liegt die angesprochene Funktion, eine interne Beziehung aufzubauen. Als Beziehung von Modifikationen verweist sie in jedem ihrer Elemente zugleich auf einen allgemeinen Zusammenhang. Individuell ist, was, in diesem all„eigene Farbe" (Reden 283) zählt aufgrund des unmittelbaren methodischen Kontextes aber eher zu „dem, was Allen, die eine bestimmte Religion bekennen, gemeinschaftlich ist". Das Faktum oder die Historizität des Lebens Jesu fungiert - jedenfalls in den Reden - nicht als Individuationsprinzip des Christentums. In den,Reden' fehlt jedoch der Ansatz zu einer christlichen Geschichtsphilosophie nicht (Reden 307-310). Gegenüber der,Glaubenslehre' vertreten die ,Reden' allerdings noch eine weit offenere, pluralistischere Konzeption. Vgl. dazu unten S. 405.

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gemeinen Zusammenhang stehend, zugleich eine besondere interne Relation von Elementen aufweist. Dieses Mischungsmodell erfährt nun - drittens - am Orte der Theorie religiöser Bildung eine konkrete Gestalt und zugleich eine gewisse Präzisierung. Denn vom Grundmodell, das Schleiermacher in den Spinozamanuskripten exponiert hat, das die Individuation in der geistigen Sphäre an einer bestimmten Vereinigung entgegengesetzter Gemütsrichtungen festgemacht hatte, bis zur Frage der Individualität in religiösen Dingen vollzieht sich eine Komplexitätssteigerung. Ging es dort um die metaphysische Frage der Individuation des Geisteslebens in einzelne geistige Aktionen, so steht hier das Problem einer Individuation gleichsam höherer Stufe zur Debatte. Es geht nämlich um die Bestimmung nicht mehr einzelner Geistesmomente, sondern komplexer geistiger Konstellationen. Die Präzisierimg, die Schleiermacher deshalb einzuführen genötigt ist, betrifft genau die Bewältigung der Individualitätsfrage im Horizont dieser gesteigerten Komplexität. Für die Frage der Individuation der einzelnen Geistesmomente genügt der Aufweis entgegengesetzter basaler Richtungen des Geistes, deren graduelle Realisierung auf den gewünschten Individuationspunkt führt und die so als Individuationsprinzipien fungieren. Auch bei komplexen Konstellationen ist dieses Individuationsmodell in allen Punkten vorausgesetzt, denn die einzelnen Elemente sind ja nichts anderes als solche graduelle Realisierungen der entgegengesetzten Richtungen. Auch die Religion hatte sich als ein Aspekt humaner Bildimg in der Polarität von Aneignen und Aus-sich-herausbilden gezeigt. Gleichwohl reicht dies nicht hin, um einen Begriff von Individualität zu entwerfen, welcher die Relationierung solcher Momente bereits zur Voraussetzung hat. Deshalb fügt Schleiermacher noch eine entscheidende Bestimmung hinzu und diese macht das Individuationsprinzip im engeren Sinne aus. Sofern die Heuristik des Individuellen daran hängt, im allgemeinen Konnex von Relationen diejenige Konstellation auszumachen, die zugleich eine Binnenrelation von Elementen aufweist, kommt es in erster Linie darauf an, das Prinzip dieser Binnenrelation zu finden. Mit der These von der Individuationsfunktion der Zentralanschauung für die Religion nimmt Schleiermacher genau eine solche Struktur in Anspruch. Religiöse Individualität konstituiert sich allererst durch die Stiftung einer Binnenrelation durch ein gleichsam den ganzen geistigen Raum der religiösen Persönlichkeit beleuchtenden Grundimpuls. Die religiöse Individualität findet entsprechend erst dort ihre Grenze, wo die Kraft der Grundanschauung endet, eine solche Binnenrelation zu stiften. Diese Grenze erscheint nun nicht vollständig an die Grenze leiblicher Einheit gebunden. Sofern eine Grundanschauimg im einzelnen Subjekt immer schon in einer vorhandenen bestimmten geistigen Konstellati-

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on auftritt und sich daraus ihre Perspektivität entwickelt, mag man diese Leibbindung wohl annehmen, jedoch verschwimmen nach Schleiermachers kühnem Entwurf auf geistigem und also auch auf religiösem Gebiet die Demarkationslinien des herkömmlichen Persönlichkeitsbegriffs zugunsten einer verschieblichen Bestimmung von Individualität. Deshalb ist vor dem Hintergrund dieses Individualitätsverständnisses nun ein Blick auf die Struktur religiöser Intersubjektivität zu werfen.

2. Die relationale Struktur religiöser Sozialität Bei der Bestimmung der Struktur religiöser Individualität ist schon hervorgehoben worden, daß diese sich in einem Zugleich von allseitigem, durch Kommunikation ermöglichten Im-Verhältnis-Stehen und dem Aufbau einer Binnenrelation vollzieht. Nun soll es darum gehen, den Zusammenhang zwischen kommunikativer Unabschließbarkeit und individueller Bestimmbarkeit in der Religion auf seine relationale Struktur hin zu untersuchen. Soll das Verhältnis von religiöser Individualität und Sozialität bestimmt werden, so ist es in Schleiermachers Verständnis wichtig zu sehen, daß das eine der in Frage stehenden Relate wirklich ein Individuum der Religion ist. Individuen im strengen Sinne lassen sich nicht unter ein Allgemeines subsumieren, ohne daß von ihrer konkreten Bestimmtheit abstrahiert werden müßte. Sie kommen also auf diese Weise als Individuen gar nicht in den Blick. Damit ist eine wichtige Abgrenzimg verbunden. Es geht Schleiermacher nicht um die Verhältnisbestimmung „gleichförmiger" Elemente, wenn er unter dem Titel: „Ueber das Gesellige in der Religion" die soziale Dimension des Religiösen thematisiert. Es geht ihm nicht um das, was in der theologischen Aufklärung die „natürliche Religion" geheißen hat, welche als in allen Menschen strukturgleich angenommen wird. In der Vorstellung der natürlichen Religion wäre eine Verhältnisbestimmung von Einzelnem in der Religion und deren Begriff nach dem Verfahren einer Subsumption zu eruieren. Es ginge in der sozialen Dimension lediglich um eine Addition von Vorkommen zu einer Summe gleichförmiger Fälle. Diese bloß numerische Relationsbestimmung sieht Schleiermacher als völlig untauglich an, die wahren Verhältnisse religiöser Intersubjektivität theoretisch zu erfassen. Ihm schwebt vielmehr ein Modell der Partizipation vor, das sowohl die religiöse Individualität als solche würdigt als auch deren Zusammenhang mit anderen Individuen angemessen auf den Begriff bringt. Ein religiöses Individuum partizipiert am Gesamtzusammenhang religiöser Kommunikation, den Schleiermacher im Begriff der „wahren Kirche" als erfüllte Einheit faßt. Die relationale Struktur religiöser Sozialität

3. Spinozistische Motive in der Theorie religiöser Bildung

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bringt er infolgedessen mit der Kategorie von Teil und Ganzem zum Ausdruck. Die wahre Kirche wird als Integral unaustauschbarer Individuen verstanden. Partizipation als Individuum und Integrität in einem Ganzen bilden so die zwei Seiten der ekklesiologischen Grundrelation. Schleiermachers spinozistische Grundeinsicht seiner ersten Berliner Zeit bildet, so meine These, auch für seine Theorie religiöser Intersubjektivität das Strukturmodell. Und zwar kommt hier jene Verhältnisbestimmung von Einzeldingen und Weltbegriff zum Tragen, die in der spinozanischen Terminologie als Relation endlicher und unendlicher Modi firmiert. In den Spinozamanuskripten hatte Schleiermacher, wie wir gesehen haben, 370 energisch gegen Moses Mendelssohns Interpretation der spinozanischen Figur der unendlichen Modi opponiert. Mendelssohn hatte diese als ein „collectivum" oder als „Zusammen" endlicher Modifikationen beschrieben und dieses Verständnis kam Schleiermacher „sehr gegen den Geist des Spinoza" vor (Sp 535). Dagegen versteht Schleiermacher mit Jacobi und Lessing den unendlichen Modus bei Spinoza als ein organisches Ganzes, das als Integral seiner Teile, der endlichen Modi, zugleich einen dynamischen Zusammenhang darstellt. Das Ganze „nach Analogie eines organischen Körpers" zu fassen war Lessings Hypothese einer „Seele des Alls". Schleiermacher nimmt dies auf in seiner dynamischen und integrativen Kosmologie. Welt ist ihm „Inbegriff dessen, was sich dynamisch afficirt" (Leibniz I, Nr. 68, KGA 1/2, S. 95). Das so gefaßte Ganze einer Welt geht jeder einzelnen Bestimmung logisch voran. In diesem spinozistischen Sinne ist auch das Dictum der ,Reden' zu verstehen, das „Endliche" - und dies ist hier im starken Sinne des individuellendlichen zu lesen - bestehe „nur durch die Bestimmung seiner Gränzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden mäßen (Reden 213). Der spinozanische Grundsatz omnis determinatio est negatio steht hier im Hintergrund.371 Bestimmung (determinatio) geht von einem positiven Begriff unendlicher Bestimmbarkeit aus, an dem jede Begrenzung ein Negatives ist und innerhalb dessen jede Grenze auch nur in einer Verweisung auf unendliche Möglichkeiten anderer Bestimmbarkeit steht. „Nur so kann es [sc. das endlich-individuelle] innerhalb die370 S.o.Teiln,S.262f. 371 Es ist m.E. dieser spinozanische Begriff der Negation, nicht der dialektisch hochstufige Hegeische Begriff der Negation, der hier von Schleiermacher zugrundegelegt wird, wie Joachim Ringleben suggeriert. Nicht das Hervorgehen aus dem Nichts (J. Ringleben: Die Reden über die Religion [1985], S. 240. 254. 256) ,sondern die Teilhabe an der Totalität ist mit jener Begrenzung des Endlichen gemeint. Das Endliche wird als Bestimmtes nicht vom Unendlichem als dem bestimmungslosen begrenzt (J. Ringleben: Schleiermachers Reden [2000], S. 427), sondern wird Endliches erst dadurch, daß es am Positivum der Totalität des Bestimmbaren als Besonderes partizipiert. Ringlebens Interpretation der ,Reden' lebt an dieser Stelle wie auch an vielen anderen Punkten von einer Hegelianisierung Schleiermachers.

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ser Gränzen selbst unendlich sein und eigen gebildet werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begrifs" (Reden 53). Diese Struktur gilt nun auch für die religiöse Sozialität. Jede individuelle Bestimmtheit einer religiösen Persönlichkeit steht in einem unendlichen Verweisungszusammenhang zu möglichen anderen religiösen Individualisierungen, der durch die kommunikative Mitteilung religiöser Eigenart aktualisiert wird. Die Religion des Einzelnen „wird in so fern bestimmt [...], daß sie zu einem in Rüksicht des unendlichen Ganzen völlig geschloßenen Individuum gehört, aber doch nur als ein imbestimmtes Bruchstük deßselben [sc. Ganzen], denn nur mit mehreren vereint kann es [sc. das Individuum] das Ganze darstellen" (Reden 265). Die Permeabilität der Grenzen des Individuellen garantiert so dessen Schwebecharakter zwischen individueller Bestimmtheit und intersubjektiver Verweisung auf unendliche Bestimmbarkeit im Ganzen religiöser Möglichkeiten. Die relationale Struktur von Teil und Ganzem wird nun von Schleiermacher als ein Darstellungsverhältnis beschrieben. Die religiösen Individuen stellen das Ganze der Religion dar. Diese merkwürdige Aussage wird erst verständlich, wenn man die Gesamtanlage von Individualität, Ganzem der Religion und deren Einheit ins Auge faßt. Wir hatten uns mit den ersten beiden Aspekten bisher gesondert befaßt. Nun gilt es, beide nicht nur in ihrem Verhältnis zueinander, sondern in ihrer Funktion in dem metaphysischen Gesamtkonzept zu sehen, das Schleiermacher in der fünften Rede durch die Fokussierung auf die Frage der Individuation in der Religion bündelt. Wir kommen mithin zum Herzstück dieser als Subtext der,Reden' latent-offenen Theorie der religiösen Bildung und Individualisierung.

3. Die metaphysische Struktur religiöser Individuation Wie oben aufgezeigt, läßt sich die im ersten Teil von Spinozas ,Ethica ordine geometrico demonstrata' exponierte Metaphysik als reine Strukturtheorie verstehen, die zwar auf die Explikation menschlicher Körperlichkeit und Geistigkeit hin ausgelegt ist, der Intention nach aber die Struktur und die Beziehungen von Realität überhaupt, abgesehen von ihrer materialen Qualität, zum Thema macht. Die strukturellen Kategorien von substantia, attributum u n d endlichem wie u n e n d l i c h e m modus gelten der

Explikation von res überhaupt. Diese Strukturen werden also als gültig angesehen für alles, was Realität oder Sachhaltigkeit beansprucht. 372 372 S. o. Teil I, S 48ff.

3. Spinozistische Motive in der Theorie religiöser Bildung

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Dies sei nur vorweg bemerkt, wenn nun der Versuch unternommen werden soll, die verschiedenen Aspekte von Schleiermachers Religionsbegriff anhand des spinozanischen Strukturmodells zu rekonstruieren. Daß wir uns mit der Religion in der Sphäre des Attributs Cogitatio als etwas Geistigem befinden, kann dabei als vorausgesetzt gelten. An dieser Stelle ist nur die relationale Struktur von substantia bzw. Deus unter diesem Attribut des Denkens und dessen modi von Interesse. Die These ist, daß Schleiermachers Theorie individueller religiöser Bildung nach dem Vorbild der spinozanischen Verhältnisbestimmung von göttlicher Substanz lind endlichen Modifikationen konzipiert ist. Der genetische Ort der konstruktiven Aneignung liegt wiederum in den frühen Spinozastudien Schleiermachers und insbesondere in der dort entworfenen dreistelligen Rekonstruktion dieses Verhältnisses als „mittelbare Inhärenz". 373 In Schleiermachers Spinozaverständnis partizipieren endliche Modifikationen der Substanz am Integrum des unendlichen Modus, dem die Ambiguität zukommt, als Totalität gleichursprünglich mit der Substanz, als Modus aber von ihr abkünftig zu sein. Den unendlichen Modus sieht Schleiermacher deshalb wegen seiner metaphysischen Vermittlungsfunktion als Schlüssel zu einer spinozistischen Lösung des Individuationsproblems. Mittelbare Inhärenz heißt so Teilhabe endlicher Individuen am Ganzen des tinendlichen Modus und zugleich Manifestation der Einheitsdimension des Ganzen in den einzelnen endlichen Modifikationen. Das mit dem Inhärenzbegriff ausgedrückte In-einem-anderen-Sein der endlichen Individua wird im Sinne der Theorie der „immanenten Kausalität" als gleichursprüngliche Manifestation von Einheit und Wirkmächtigkeit expliziert. Sofern es als eigene Kraft wirkmächtig ist, hat das Individuum teil am unendlichen Kausalzusammenhang. Sofern sich in dieser Wirkmächtigkeit die Einheit göttlicher Kausalitätskonstitution zur Erscheinung bringt, ist darin zugleich eine Beziehung zur Einheit göttlicher Substanz gesetzt. Die Mittelbarkeit der Inhärenzbeziehung zerlegt sich also in eine doppelte Betrachtung der Individuen, einerseits in Bezug auf deren Position im umfassenden Kausalnexus, andererseits hinsichtlich deren Essenz als causa efficiens überhaupt. Die darin gesetzten drei Positionen von endlichem Modus, unendlichem Modus und göttlicher Substanz bzw. Individualität, Ganzheit und Einheit sind in ihrer charakteristischen Relationsstruktur auch als Grundmomente von Schleiermachers Theorie der Individualisierving von Religion in den ,Reden' auszumachen. Als individuell bestimmte wird Religiosität auf ein Ganzes der Religion bezogen. Der in der Mitteilungs- und Geselligkeitstheorie konzipierte umfassende Zusammenhang bildet die Sphäre religiöser Wechselwirkung, an welcher der einzelne partizipiert. 373 S.o.Teiln,S.222ff.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

Hiermit entwirft Schleiermacher im Begriff der „wahren Kirche" gleichsam einen unendlichen Modus religiöser Bildung, in welchem jede individuelle Gestalt von Religion als ein ergänzender Teil eines durchgängig vernetzten Zusammenhangs zu stehen kommt. Diese Totalitätssphäre der Religion kann Schleiermacher auch als „ganze Religion" (Reden 188. 249. 260) bezeichnen. Zugleich etabliert er mit der „tinendliche[n] religiösefn] Anlage" (Reden 265. 248) einen Begriff von Religion, der eine Dimension ursprünglicher Einheit von Religion impliziert. Diese Einheit liegt in der Bildungsqualität von Religion überhaupt. Religion, um wirklich zu werden, geht aus einer humanen Disposition gleichsam als aus ihrer ersten Ursache hervor. Mag die Disposition zwar eine allen Menschen mitgegebene anthropologische Konstante sein, in ihrem wirklichen Vorkommen vollzieht sich Religion nicht anders als in der Weise individueller Bestimmtheit. Zwischen der Idee einer „Religion überhaupt" (Reden 282), die die anthropologische Basis von Religion einheitstheoretisch ausdeutet, und der Vielfalt individueller religiöser Bildungen wird von Schleiermacher so eine Relation aufgemacht, innerhalb deren eine Funktion der Individuation von Religion zu verorten ist. Die Bestimmung dieses Verhältnisses scheint mir Schleiermacher in Form der Aneignung des oben skizzierten Strukturmodells zu vollziehen. „Religion" kommt hier auf der Seite des konstituierenden Relats in einer der göttlichen Substanz im spinozanischen System analogen Position zu stehen. Deren Individuationsgestalten entsprechen den endlichen Modi als individueller Modifikationen. Das Charakteristische dieses Verhältnisses, wie es Schleiermacher in seinen Spinozamanuskripten am Modell mittelbarer Inhärenz konzipiert hatte, zeigt sich so in der Durchführung seiner religiösen Bildungstheorie als zugrundeliegende Struktur. Wie ein Individuum überhaupt nur insofern der göttlichen Substanz inhäriert, als es zugleich im bestimmten Zusammenhang aller Modifikationen steht, so ist individuelle Religion auch nur insofern eine Bildung der Religion überhaupt, als sie als Teil der „ganzen Religion" zugleich in diesem Zusammenhang bestimmte Religion ist. Die Uneindeutigkeit des Ausdrucks „Bildung der Religion" als Genetivus subjectivus oder Genetivus objectivus bzw. die Doppeldeutigkeit des Bildungsbegriffs als nomen actionis und nomen acti hat daher programmatischen Charakter. Religion bildet sich individuell aus, d.h. die unendliche religiöse Anlage wird bestimmte Wirklichkeit. Und: Religion wird gebildet, sie erhält ihre individuelle Bestimmtheit in dem auf Gegenseitigkeit beruhenden Zusammenhang religiöser Kommunikation. An dieser Stelle werden wir gleichsam von selbst auf den Darstellungsbegriff geführt, wie ihn Schleiermacher für seine religiöse Bildungstheorie exponiert. Der Darstellungsbegriff wird hier in derselben doppelten Be-

3. Spinozistische Motive in der Theorie religiöser Bildung

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ziehung 374 verwendet und zeichnet so die spinozistische Grundstruktur religiöser Bildungstheorie nach. Religion als Anlage stellt sich in den Individuen dar (Reden 248). Das Subjekt des Darstellens, die unendliche Religion, wird hier gleichsam die immanente Ursache aller individuellen Modifikationen von Religion. Und zugleich wird die ganze Religion durch die invididuellen Formen dargestellt (Reden 260f). Religion als Objekt des Darstellens ist zugleich der Bezugsrahmen, innerhalb dessen die Bestimmung der Religion zur individuellen Religion allein möglich ist. Der Bildungsbegriff zeigt sich hier als ein Medium der Explikation des Darstellungsbegriffs. Wie die Erörterung humaner Bildimg am Begriff der Menschheit auf die Explikation des Begriffs einer Darstellung der Menschheit zulief, 375 so ist der Begriff der Darstellung der Religion in dem hier dargelegten Sinne auch der Zielpunkt der Theorie religiöser Bildung. Dessen Grundsinn scheint eine Verschränkung zweier scheinbar gegenläufiger Momente zu sein. Darstellung der Religion impliziert Individuation und Partizipation, Manifestation von Einheit am bestimmt Individuellen und dessen Teilhabe an einem Ganzen.

4. Geschichte und Ewigkeitsaspekt der Religion Am Leitfaden des Darstellungsbegriff läßt sich in Schleiermachers religiöser Bildungstheorie noch ein Aspekt ausmachen, der den spinozistischen Hintergrund auf eine sprechende Weise anschaulich zu machen vermag. Das Darstellungsverhältnis von Religion und einzelnen Religionen hatte sich bildungstheoretisch als ein Übergang der allgemeinhumanen Anlage zur Religion in ein bestimmtes religiöses Bewußtsein explizieren lassen. Das interne Beziehungsprinzip eines bestimmten religiösen Bewußtseins resultiert dabei aus dem jeweiligen geschichtlichmomenthaften Aufkeimen von Religion in einer bestimmten geistigen Konstellation. An diesen Moment bleibt das religiöse Subjekt historisch rückgebunden: Seine Zentralanschauung ist zugleich seine Fundamentalanschauung. Die historische Dimension, die Schleiermacher hier für die Genese des individuellen Charakters des religiösen Lebens eines einzelnen Menschen namhaft macht, kommt auf einer strukturellen Ebene auch grundsätzlich in Betracht. Der Übergang in die Religion vollzieht sich nämlich als eine modaltheoretische Transformation. Aus dem Status der bloßen Möglichkeit, in welchem die Religion noch als humane Anlage überhaupt steht, geht die Religion als individuelle über in den Status 374 S.o.S. 351-356. 375 S. o. S. 327ff.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

wirklicher Bestimmtheit. Aus der unendlichen Bestimmbarkeit der religiösen Anlage ergibt sich die endliche wirkliche Bestimmtheit individueller Religion. Dies deutet Schleiermacher nun so aus, daß mit der modalen Transformation zugleich ein Übergang der Religion gesetzt ist aus der Ewigkeit in die Zeitlichkeit. Die unendliche Bestimmbarkeit der religiösen Anlage ist nicht berührt von historischen Konstellationen geistigen Lebens. Nur in ihren tatsächlichen Aktualisierungen steht sie unter den Bedingungen der Zeitlichkeit und der historisch kontingenten geistigen Situation des einzelnen Menschen wie der Gesamtlage der Menschheit. Für das als Bildungsprozeß explizierte Darstellungsverhältnis von Religion und Religionen ergibt sich so eine weitere Pointe. Aus der ewigen Religion als Anlage gehen die individuellen Formationen zeitlich bestimmter Religiosität hervor und zwar historisch sukzessive. 376 Hierin liegt die metaphysische Basis für Schleiermacher Verständnis der Geschichte und insonderheit der Religionsgeschichte als eines fortschreitenden dynamischen Prozesses. Sofern nämlich die „ganze Religion" nicht nur als das Integral der zu einem bestimmten Zeitpunkt aktualisierten Religionsgestalten verstanden wird, sondern als Totalität der individuellen Gestaltungsmöglichkeiten überhaupt, so ergibt sich in der Darstellungsrelation von Religion und Religionen ein Bezug von Ewigkeit und Zeitlichkeit, der vermittels der historischen Dimension ein darin enthaltenes fundamentales Problem zu explizieren sucht. Das Problem steckt in der schon die Scholastik umtreibenden Frage, ob die Individuen auf der Ebene der Essenz präformiert seien oder ob von Individuen im eigentlichen Sinne erst auf der Ebene der Existenz zu sprechen sei. 377 Schleiermacher würde klar für die zweite Möglichkeit optieren. Individuen sind immer zeitliche, bestimmte, existierende Gestalten. 378 Allerdings stellt sich das Problem in etwas variierter Form für ihn dann in der Frage nach dem Status der Totalität, an welcher die Individuen partizipieren. Die einschlägigen Stellen in der fünften Rede las376 Trutz Rendtorff macht diesen Aspekt für die Grundlegung seiner theologischen Ethik stark. Vgl. Ethik ( 2 1990), Bd. 1, S. 94. 377 Der sogenannte,Averroistische Streit' zwischen Thomas von Aquin und Angehörigen der Pariser Artistenfakultät im 13. Jahrhundert läßt sich auch unter diesem Aspekt lesen. Der Streit um die Einheit bzw. Vielheit der intellektuellen Seelenfunktion (intellectus possibilis) ist im Kern ein Streit um die Essentialität des Individuellen. Was Spinoza betrifft, so ist die Forschung keineswegs einig, ob die im unendlichen Modus gesetzten res inexistentes zwingend als singulare Essenzen verstanden werden müssen, oder ob Spinoza dadurch, daß er von nicht-existierenden Modi spricht, eine positive Setzung individueller Essenzen gerade vermeiden wollte. Ich tendiere zu letzterer Lesart. Siehe dazu oben Teil I, S. 44ff. 378 Vgl. aber die Stelle aus der fünften Rede, die eine Individualität des Möglichen vorauszusetzen scheint: „Unzählige Gestalten der Religion sind möglich; und wenn es nothwendig ist, daß Jede zu irgend einer Zeit wirklich werde" (Reden 310).

3. Spinozistische Motive in der Theorie religiöser Bildung

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sen es offen, ob die „ganze Religion" eine Totalität nur auf der zeitlichexistentiellen Ebene oder bereits auf der ewig-essentiellen Ebene bezeichnet. Es heißt dort: die ganze Religion „kann unmöglich anders existiren als wenn alle diese verschiedne Ansichten jeder Anschauung [... ] wirklich gegeben werden" (Reden 249). Und: „Nur in der Totalität aller nach dieser Construction möglichen Formen kann die ganze Religion wirklich gegeben werden, und sie wird also nur in einer unendlichen Succeßion kommender und wieder vergehender Gestalten dargestellt" (Reden 260). Allerdings liegt in dem zuletzt genannten Zitat bereits ein Hinweis, in welche Richtung Schleiermacher tendiert. Die ewige Religion wird dargestellt nur in zeitlich-geschichtlicher Sukzession. D. h. die Individuation bringt zugleich eine Vergeschichtlichung mit sich. Der Unendlichkeit des Ewigen kann in der Zeit nur eine sukzessive Annäherung an die Totalität religiöser Individuation entsprechen. Die ewige Religion gerät so in der Perspektive der Zeitlichkeit in eine historische Dimension. Umgekehrt ist nach diesem Konzept aber auch die individuelle, in der Zeit nur gegebene Religion in der Perspektive der ewigen Religion als eine Manifestation derselben in der Geschichte zu verstehen. Schleiermachers Deutung der Religionsgeschichte rückt so jede individuelle Religion, sofern sie nämlich ein Teil der sukzessiven Darstellung der ganzen Religion in der Geschichte ist, unter einen Ewigkeitsaspekt. Schleiermachers Fortschreibung spinozanischer Grundgedanken gipfelt also in der fünften Rede in einer Deutung der Individualität in der Religionsgeschichte sub specie aeternitatis. Die besondere Pointe dieser religiösen Perspektive auf die Religion liegt darin, daß die damit verbundene Heiligung des einzelnen religiösen Individuums in der Geschichte nicht nach dessen tatsächlicher Ausformung, sondern nach dem Möglichkeitssinn in ihm liegender Anknüpfungspunkte in einem historisch-gedachten Ganzen von Religion geschieht. Individuelle Religion wird so sub specie aeternitatis als dynamisch sich entwickelndes religiöses Leben in der Offenheit unendlicher Gestaltungsmöglichkeiten verstanden. Am Orte der Theorie religiöser Bildung führt Schleiermacher so vor, was ihm als Struktur der Darstellung des Universums im Allgemeinen vor Augen steht. Das Einzelne sub specie universi anschauen heißt, es als bestimmte, in dem Zusammenhang seiner wirklichen und möglichen Beziehungen sich individuierende Manifestation des absoluten Grundes verstehen, der in diesem Verständnis selbst zwischen Transzendenz und Immanenz in der Schwebe gehalten wird - oder wie Schleiermacher sich in der Dialektikvorlesung von 1831 ausdrückt: „Das religiöse Interesse ist den transzendenten Grund wie als Lebensquell so auch als Leben zu fassen." (DialM 1831,336).

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4. Zusammenfassung Will man die Stellung dessen, was Schleiermacher in den Reden unter Religion versteht, im Spannungsfeld von metaphysischer Position und erkenntniskritischem Ansatz einordnen, so ist eine einheitliche Linie auf den ersten Blick nicht auszumachen. Manche Formulierung scheint einem Primat metaphysischer Setzung Vorschub zu leisten, etwa die Rede von einem „ursprünglichen Handeln des Universums" oder von dessen „Darstellung". Diese in der Tat für sein Religionsverständnis entscheidenden Theoreme habe ich von Schleiermachers Anknüpfung an Spinoza her verständlich zu machen gesucht. Jedoch bedeutet diese Anknüpfung keineswegs eine erkenntnistheoretisch naive Redeweise vom „Unendlichen" bzw. vom „Universum", als wären uns diese, wenn auch in einer besonderen Art von Erfahrung, irgendwie als Gegenstände unseres Bewußtseinslebens gegeben. Im Gegenteil. In den frühen Spinozamanuskripten dokumentiert sich, wie wir gesehen haben, gerade die im Grundansatz übernommene Position eines kritischen Idealismus, von der her Schleiermacher Spinoza zu verstehen und weiterzubilden versucht. Tillichs These von Schleiermachers Denken als einer „großen Synthese" 379 von Kant und Spinoza kann ich im Rückblick auf die hier vorgelegte Abhandlung nur zustimmen. Kant steht in dieser Synthese für die stete erkenntniskritische Reflexion aller etwaigen substanzontologischen besonders aber ontotheologischen Aussagen. Daran geht Schleiermacher, wie sich in den Jugendmanuskripten deutlich gezeigt hat, auch nicht in Anknüpfung an Spinoza vorbei. Vielmehr treibt die Anknüpfung an Kant Schleiermacher dazu, eine erkenntniskritische Tendenz auch in der konsequenten Ausgestaltung des Spinozismus selbst zu erblicken; eine Tendenz, die mit den eigenen Intentionen Spinozas - mutatis mutandis durchaus kompatibel ist. 380 Darüberhinaus hat Schleiermacher an diesem Grundsatz, wie in den vorangehenden Ausführungen deutlich wurde, auch in den ,Reden' festgehalten. Wenn er dort einen „höheren Realismus" proklamiert, meint er ja gerade nicht jenen naiven Realismus, dem gegenüber sich der „gerundete Idealismus" seiner Meinimg nach zu Recht überlegen sieht (Reden 55). Vielmehr begibt er sich in eine Position, die angemessen nur aus eben jener Synthese von Kant und Spinoza verständlich werden kann. Der Universumsbegriff, der für das Erbe Spinozas steht, bringt in den Anschauungsbegriff eine ganz eigene Qualifikation hinein. Der „höhere Realismus" (Reden 54) und damit die von Schleiermacher der Re379 P. Tillich: Religion des konkreten Geistes. Friedrich Schleiermacher (1968), S. 9. 380 Denn man sollte stets im Auge behalten werden, daß Spinoza selbst in der Alternative von Idealismus und Realismus eine ambivalente Stellung einnimmt. Vgl. M. Walther: Metaphysik (1971), 99. Siehe dazu oben Teil I, Kap. 4, S. 134ff.

4. Zusammenfassung

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ligion zugedachte Ausrichtung in der Frage nach metaphysischer und erkermtniskritisch-subjektiver Perspektive läßt sich gerade an der Verhältnisbestimmung beider Begriffe ablesen. Wir haben gesehen, daß Schleiermacher in den ,Reden' durchweg eine an die kritischen Grenzen der menschlichen Subjektivität gebundene Theorie der Religion entfaltet. Er sieht Religion als eine Tätigkeit menschlicher Geistigkeit. Unter dieser Klammer sind alle erkenntniskritisch scheinbar naiven und in diesem Sinne als metaphysisch zu bezeichnenden Aussagen zu lesen. Da meine eigene Interpretation, die gerade die metaphysischen Anleihen Schleiermachers von Spinoza für ein Verständnis der Religionstheorie der,Reden' stark zu machen sucht, in besonderer Weise davon betroffen ist, ungewollt dem Mißverständnis Nahrung zu geben, es handele sich in Schleiermachers ,Reden' im Grunde um eine Universumsmetaphysik, welche im Religionsbegriff lediglich deren subjektiven Reflex thematisiere, will ich in dieser Zusammenfassung diese Frage eigens noch einmal aufgreifen und deutlich dazu Stellung nehmen. Zunächst ist Schleiermachers Rede von der Religion als einer humanen „Anlage" daraufhin zu befragen, ob hier nicht unter der Hand in die Religionstheorie metaphysische Annahmen eingehen. Die Antwort auf diese Frage wird uns dann zu dem basaleren Problem führen, wie sich im Begriff des Anschauens des Universums metaphysische und erkenntniskritisch-subjektive Perspektive einander zuordnen lassen. An beiden Punkten wird zugleich die Nähe und Differenz zu Spinozas Konzept der scientia intuitiva erkennbar werden. a. Was den ersten Punkt betrifft, so hatten wir in unserer im dritten Teil dieser Arbeit vorgetragenen Interpretation381 das Verhältnis von „Anlage zur Religion" und individueller „Bildung zur Religion", wie es Schleiermacher insbesondere in den letzten drei Reden der frühen Religionsschrift entfaltet, als Ausdruck einer Selbstthematisierung der religiösen Einstellung hinsichtlich ihres eigenen Entstehungsprozesses verstanden. Dies ließ sich gerade durch den Aufweis der spinozistischen Individuationsmetaphysik im Zusammenhang der Theorie religiöser Bildung plausibel machen. Schleiermacher zeichnet in das Verhältnis von allgemeiner, nur möglicher Anlage zur Religion und besonderer, wirklicher Religion unter dem Begriff der Bildung gerade jene Individuationsrelation ein, welche gekoppelt an eine Erscheinungsrelation wirkliche Religionen als individuelle Ausprägungen und Erscheinungen, d. h. als „Darstellung" der allgemeinen humanen Anlage zur Religion sehen läßt. Nicht also, als ob Schleiermachers Theorie der Bildung zur Religion der eigentlichen Religionstheorie fremd wäre oder ihr gar voranzugehen hätte, ist sie vielmehr selbst Ausdruck religiösen Verständnisses. Neben Natur und 381 S. o.Teil ΠΙ, Kapitel 3 auf S. 381ff.

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der ,Reden'

Menschheit fungiert sie als weiteres Paradigma für eine Konkretion einer Anschauung des Universums im Einzelnen. Die Theorie religiöser Bildimg steht dafür ein, wie in der individuellen Religion die ewige Religion angeschaut werden kann oder anders gesagt: wie religiöse Individualität durch ihre Kontextrelationen im Zusammenhang religiöser Kommunikation als Teil eines Ganzen verstanden werden kann, dessen Einheit, die „ewige Religion", als der Konstitutionsgrund aller einzelnen religiösen Erscheinimg aufgefaßt wird. Anders als Spinoza die Möglichkeit seiner höchsten Erkenntnisart entwickelt Schleiermacher seine These von der humanen Möglichkeit von Religion nicht im Rahmen einer Metaphysik des menschlichen Geistes. Die Anlage zur Religion kann nicht als notwendiges Implikat der menschlichen Natur ausgewiesen werden, sondern erweist sich bei näherem Hinsehen als ein Aufbaumoment für eine religiöse, nicht für eine metaphysische Thematisierung der Genese von Religion. Diese Thematisierung ist gleichsam eine intrareligiöse ,Reflexion' im Sinne eines Zurückblickens auf die eigene Genesis aus der Perspektive der religiösen Einstellung. Die dabei ausgemachten Strukturen sind deshalb nicht als dieser religiösen Selbstbetrachtung vorgängig anzusehen, sondern ergeben sich allererst aus und in dieser Selbstbetrachtung. Analoges gilt für die religiöse Betrachtung von Menschheit und Natur. Deren Strukturen werden aus der Perspektive religiöser Betrachtung heraus formuliert und sind dieser keineswegs vorgängig. Beispielsweise menschliche Individualität als Darstellung der ewigen Menschheit zu verstehen, ist keine vorgegebene metaphysische Struktur, sondern verdankt sich der auf die humane Sphäre gerichteten religiösen Betrachtung. Individualität zeigte sich für Schleiermacher als eine religiöse Idee. Die Frage, ob die Rede von „Anlage" und „Bildimg" metaphysische Annahmen voraussetzt, kann also auf diese Weise nicht beantwortet werden. Erweist sich nämlich die von Schleiermacher vorgestellte Struktur religiöser Bildung als das Produkt religiöser Betrachtung, so kann man nicht davon sprechen, hier seien dieser vorgängige metaphysische Konzepte am Werk. Vielmehr muß die Frage weitergegeben werden und an die Aufbaumomente nicht der religiösen Bildimg, sondern an die der religiösen Betrachtung selbst gestellt werden. Die tiefergehende Frage lautet daher, ob und inwieweit nach Schleiermachers Konzeption in den als Anschauen des Universums gefaßten religiösen Vollzug selbst metaphysische Prämissen eingehen. Wir sind damit beim zweiten Punkt. b. Das Ergebnis dieses Teils im Blick auf die Frage nach dem Stellenwert metaphysischer Theoreme für Schleiermachers Religionskonzept soll nun in die in der Einleitung bereits genannte Forschungdebatte eingezeichnet werden. Ich sehe zwei Grundtypen der Interpretation von „Anschauung des Universums". Ein erster Interpretationsansatz besteht dar-

4. Zusammenfassung

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in, Religion als eine spezifische Erlebnisweise zu verstehen, in welcher das Transzendente und näherhin „die Totalität" erfahrbar wird. Gunther Wenz etwa spricht von einer „Totalitätswahrnehmung" bzw. einem „Totalitätsgefühl", 382 Christian Albrecht von einer religiösen „Uraffektio n " 383 Hierher gehört auch Fred Lönkers von Hölderlin entlehnte Formel der „Totalempfindung", die seine Reden-Interpretation steuert. 384 Eine Variante dieses Ansatzes bietet Joachim Ringleben, der die Religion nach Schleiermacher zwar als einen spontanen Akt beschreibt, aber diese Spontaneität des religiösen Subjektes als den nur momenthaften subjektiven Reflex einer Bewegung des Ganzen auffaßt, welche jenem Akt zugrundeliegt. So sei es die „Selbstoffenbarung" des Universums, worauf die subjektive Erfahrung von Einheit beruhe. In dieser Erfahrung von Einheit wiederum falle ein „Sich-Abstoßen von der Endlichkeit" 385 und ein Partikularaspekt der progressiven Manifestation von Totalität zusammen. Allen bisher angeführten Interpreten ist gemeinsam, daß für Schleiermachers Religionsbegriff eine vorgängige Struktur von „Totalität" als Basis der Religion vorausgesetzt wird. Religion erscheint dann als die Teilnahme eines menschlichen Subjektes an dieser übersubjektiven Struktur in einer den üblichen Formen der empirischen Wahrnehmung nicht vergleichlichen und zwischen oder neben diese tretenden Erfahrung. Der Wert, den alle genannten Autoren auf das Augenblickhafte des religiösen Erlebens legen, ist darin begründet, daß sie diese außerordentliche Erfahrung nur als die empirische intermittierend annehmen. Eine eigentliche Beziehung von religiöser und empirischer Erfahrung besteht nach dieser Interpretation im Grunde nicht.

382 G. Wenz: Sinn und Geschmack fürs Unendliche (1999), S. 50. 42. Vgl. auch ebd., S. 12: „Ureindruck"; S. 39: „im Gefühl wahrgenommenen unendlichen Grund alles Seienden". 383 C. Albrecht: Schleiermachers Theorie der Frömmigkeit (1994), S. 126. 384 F. Lönker: Religiöses Erleben (1998), S. 60. 385 J. Ringleben: Die Reden über die Religion (1985), S. 245. Ringleben hat insgesamt die Tendenz, an Hegel gewonnene Einsichten in die ,Reden' zu implementieren. Den Aspekt, daß sich das Subjekt in der Religion von seiner eigenen Endlichkeit „abstoße", deutet Ringleben dann darauf hin, daß in der Religion das Unendliche nur als „Selbstunterscheidung" des Endlichen (S. 244. 251. 254) gefaßt werde. Der „Selbstvergegenwärtigung des Unendlichen" (S. 245), die in einem späteren Aufsatz als „Selbstanschauung des Unendlichen im Endlichen" (Schleiermacher und der frühe Hegel [2000], S. 431) spekulativ weitergeführt wird, korrespondiere im menschlichen Subjekt, das eigentlich nur Ort der Aktivität des Unendlichen ist, ein Setzen und Überschreiten von Grenzen, ein perennierendes Abwechseln von Bestimmungen der Reflexion, welche aber gerade jene Anschauung des Unendlichen nicht zu leisten im Stande sei. Vom Hegeischen Typenschema her fällt dann Ringlebens Urteil über Schleiermacher, sein Religionsbegriff verbleibe im Setzen „schlechter Unendlichkeit" (ebd., S. 438. 441-443).

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

Der entgegengesetzte Interpretationstypus geht anhand der von Schleiermacher als „Formel für die Religion" exponierten Struktur religiösen Bewußtseins davon aus, daß Religion in einem bloßen Erleben und Rezeptionsakt nicht aufgeht, und versucht daher, die einseitige Betonung der Aktivität des Universums, welche im ersten Typus mit einem Passivitätsgestus auf Seiten der menschlichen Subjektivität einhergeht, zu vermeiden lind durch die Herausarbeitimg eines aktivischen Momentes in der Religion zu ergänzen. Anlaß bieten Schleiermachers Formulierungen, in der Religion werde Einzelnes als Darstellung des Universums verstanden. Eine solche Aussagenstruktur, etwas als etwas verstehen, trifft sicherlich, legt man die Kantische Begrifflichkeit zugrunde, auf jedes Urteil zu. Aber im Falle des Universums ist eine begrifflich bestimmende Urteilsfunktion unmöglich, weil Universum selbst kein empirischer Begriff ist, sondern, wie wir gesehen haben, einen Grenzbegriff oder eine Idee darstellt, auf welche Bezug zu nehmen das humane Bewußtsein in einen Modus versetzt, der nicht mehr der der begrifflichen, kategorialen Bestimmung von Gegenständen ist. Der in dieser Interpretationsrichtung favorisierte Ausdruck für diesen kognitiven Modus ist der der „Deutung". Er hat den Vorzug, das Sinnstiftungspotential eines solchen Aktes hervorzuheben ohne eine Konnotation begrifflicher oder prädikativer Bestimmung mit sich zu führen. Außerdem wird mit dem Begriff der Deutung der aktivische Charakter des religiösen Bewußtseins betont. Vertreten wird das Konzept von Ulrich Barth 386 und im Anschluß an ihn findet es sich dann in einigen neueren Beiträgen. 387 Vor dem Hintergrund dieser Interpretationsalternative möchte ich nun in fünf Thesen meinen eigenen Ansatz zur Interpretation von Schleiermachers Religionsbegriff anzugeben versuchen. (1) Meine Interpretation von Schleiermachers Formel „Anschauen des Universum" war methodisch von einer Analyse der von ihm angegebenen Konkretionen ausgegangen. Gerade hier, hinsichtlich der Bildungsgesetze der körperlichen Natur, der Individualitätsbildung in der Menschheit und auf einer Metaebene wiederum in der Genesis der religiösen Individualität als eines humanen Bildungsprozesses konnten Strukturen nachgewiesen werden, die die Applikation eines spinozistischen Grundmodells konzentriert auf die Frage nach der Individuation auch für 386 Programmatisch an Schleiermacher entwickelt, vertritt Barth diesen Ansatz bereits in der Dissertation: Christentum und Selbstbewußtsein (1983). In der Hallenser Antrittsvorlesung: Was ist Religion? (1996/2003) präsentiert er einen eigenen deutungstheoretischen Ansatz der Religionsphilosophie und führt seine Position in Bezug auf Schleiermacher dann in Aufsätzen zu den ,Reden', zur Glaubenslehre' und zur ,Dialektik' durch (Aufgeklärter Protestantismus [2004], S. 259-389). 387 Vgl. J. Stolzenberg: Weltinterpretation um 1800 (2000); M. Schröder: Das „unendliche Chaos" der Religion (2000), bes. S. 592; C. Seysen: Die Rezeption des Atheismusstreits bei F. Schleiermacher (1999); P. Grove: Deutungen des Subjekts (2004).

4. Zusammenfassung

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die ,Reden' plausibel werden ließ. Die Verbindung der spinozanischen Verschränkung von Einheit und Unendlichkeit im Absolutheitsgedanken mit der Frage nach einem Prinzip der Differenzierung von Einzelnem in den Spinozamanuskripten erhält in den,Reden' die Gestalt einer Verbindung des Universumsbegriffs mit der Frage nach dessen individualisierender „Darstellung". Das Einzelne in Natur, Menschheit und Religion gerät deshalb in den Fokus religionsvalenten Weltverstehens, weil es als Ort der Darstellung des Universums im Endlichen in Betracht kommt. Und zwar insofern, als es als Einzelnes in einem Ganzheitskontext zu stehen kommt, dessen Grund- und Konstitutionsprinzip zugleich dessen Einheit ausmacht. Der „Geist der Welt", der „Genius der Menschheit" als deren Bildungsprinzip und die „ewige Religion" stehen am Ort der Konkretionen für diese Einheitsdimension im Universumsbegriff. Wäre dies alles, was es zu Schleiermachers Religionsbegriff zu sagen gäbe, wäre dieser in der Tat als eine Universumsmetaphysik im Sinne einer spinozistischen Individuationsmetaphysik zu bezeichnen. (2) Die besondere Dynamik des Gedankengangs bereits in Schleiermachers früher Spinozadeutung ergab sich daraus, daß er Spinozas philosophischen Grundansatz als nicht nur kompatibel, sondern aus dessen eigener Logik heraus als anschlußfähig an eine idealistische Perspektive sah. Das Resultat, daß er durch die beiderseitige Korrektur und Anreicherung von Spinoza und Kant auf doppelte Weise vorantreibt, ist eine Auszeichnung des mentalen Repräsentationsvermögens des Menschen als des Ortes, an dem jene Individuation als Modifikation des spinozistisch als Absolutum verstandenen Noumenalen zur Vielheit einzelner Phänomene in humaner Perspektive zu lozieren ist. In den ,Reden' wird diese Perspektive dahingehend aufgenommen, daß das für die Religion entscheidende Datum die „Art" wird „wie das Universum sich Euch in Euren Anschauungen darstellt" (Reden 68). Die Darstellung des Universums ist als dessen Seinsweise also nicht an und für sich, sondern in einem Für-Bezug auf die Gegenstände anschaulicher Vorstellung religionstheoretisch relevant. Die Darstellung des Universums im Einzelnen ereignet sich für uns Menschen nirgend anders als gerade in den Gegenständen unserer Anschauimg. NatürlichKörperliche und human-geistige Individualitäts- und Totalitätsverhältnisse kommen nur deshalb als Konkretion des Universum zum Tragen, weil sie Gegenstände unserer mentalen Repräsentation sein können. Aber wir sind hier noch nicht bei dem Begriff religiöser Anschauung. Jene mentale Repräsentation, welche als Ort der Darstellung des Universums im Einzelnen ihrer Gegenstände fungiert, ist die sinnliche Anschauung. Daß der sinnlichen Anschauung eine solche Funktion zuzuweisen ist, Ort der individuierenden Erscheinung von Universum zu sein, ist das Resultat einer religiösen Betrachtung, aber nicht schon eine Beschreibimg

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ΠΙ. Anschauung des Universums als Leitbegriff der,Reden'

des Aktes solcher religiöser Betrachtung selbst. An dieser Stelle greift jene oben zuerst genannte Interpretationsrichtung zu kurz, wenn sie das Aufscheinen des Unendlichen im endlichen Bewußtsein bereits als - rezeptiv gefärbten - religiösen Grundakt identifiziert. Die Religion wäre so nur ein subjektives Epiphänomen einer davon gänzlich unabhängigen Universumsaktivität.388 Nicht um religiös zu sein, wohl aber um sich und andere als religiös zu verstehen, macht sich diese Interpretation von einer hochspekulativen Basis abhängig. Zugleich mißachtet sie, daß der Ort der Darstellung des Universums im mentalen Leben des Menschen nicht schon jene gesuchte Anschauung des Universums ist, sondern schlicht die sinnlich-vermittelte empirische Anschauung des Menschen. (3) In den ,Reden' ergibt sich so durch die analogisierende Einführung der religiösen Anschauung im Hinblick auf die sinnliche Anschauung eine Stufung im Anschauungsbegriff, die für die Auffassung des religiösen Grundaktes von entscheidender Bedeutung ist. Die religiöse Anschauung bezieht sich, das ist der Kern des Arguments, ihrerseits auf den Gegenstand der sinnlichen Anschauung und macht daran eine mit dieser sinnlichen Anschauung selbst noch nicht gegebene Dimension fest. Diese Dimension beinhaltet nichts anderes als das Verstehen jenes Gegenstandes sinnlicher Anschauung als ein Individuuum und damit - aufgrund der Korrelation von Individualität und Totalität - als eine individuelle Darstellung des Universums. Es bedarf also eines eigenen Bewußtseinsaktes dafür, den Gegenstand sinnlicher Anschauung allererst als Darstellung des Universums zu verstehen. Dieser Bewußtseinsakt ist, und darin folge ich der oben genannten zweiten Interpretationsrichtung, als ein Akt der Deutung zu verstehen. Anschauen des Universums heißt so, Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung als Darstellungen des Universums zu deuten. Das religiöse Anschauen steht also gegenüber dem sinnlichen auf einer Metaebene, indem es sich auf dessen Gegenstände zu beziehen vermag. Religiöses Anschauen erweist sich so als eine innermentale Operation, als eine besondere Qualifikation von ihr vorgegebenen Vorstellungen. (4) Religiöse Deutungsakte, in welchen Gegenstände der Erfahrung in den mentalen Horizont gesetzt werden, Darstellung des Universums zu sein, weisen durch diesen Bezug ein quasi-rationales Element auf. Ich sage quasi-rational, weil zwar mit dem Darstellungsbegriff eine Relationsaussage verbunden ist, aber als bloßer Grenzbegriff das Universum sich unserem begrifflichen Bestimmen entzieht. Religiöse Deutung ist daher unprädikativ, aber dennoch nicht gänzlich irrational. Ihr liegt mit der Struktur der Darstellung des Universums im Einzelnen ein Schema zu grun388 Vgl. J. Ringleben: Schleiermachers Reden (2000), S. 429. Dazu auch oben Anm. refRinglebenl auf S. 411.

4. Zusammenfassung

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de, das im Vollzug wirklichen Deutens mit Gegenständen unserer Erfahrung verbunden wird. Das dem innermentalen Beziehen von Vorstellungen im Falle der religiösen Deutung zugrunde liegende Deuteschema ist nach Schleiermacher die Strukturidee des Universums als Idee eines solchen umfassenden Ganzen, dessen konstituierendes Prinzip zugleich auch das jedes im interpartikularen Bezug sich individuell bestimmenden Teils und so die Einheitsdimension sowohl des Ganzen als auch aller Teile ausmacht. Die Aufnahme spinozanischer Grundgedanken, die für die Merkmale dieser Universumskonzeption werkgenetisch und systematisch entscheidend geworden sind, fungieren so statt als Prämissen einer spekulativen Metaphysik als allgemeinste Schemata für einen Deuteprozeß, der keinen Anspruch auf Erkenntnis, wohl aber auf individuelle Sinnstiftung macht. Die im Begriff der Darstellung des Universums im Einzelnen zusammengedrängte Idee ist das allgemeinste Schema der religiösen Sinndeutung und in diesem Sinne „höchste Formel der Religion". Empirisch angereichert erscheint diese Idee dann in konkreteren Deuteschemata als organische Einheit der Natur in der Wechselbestimmung individueller Mischungen attrahierender und repulsierende Kräfte oder als Darstellung der Menschheit in der historischen Wechselwirkungssphäre humaner Individualitätsbildung oder schließlich als Erscheinung der ewigen unendlichen Religion im religiösen Kommunikationszusammenhang geschichtlicher Ausformung religiöser Individualität. (5) Ebensowenig wie bloße Erfahrung für sich genommen sind solche Deuteschemata für sich genommen schon hinreichend zur Konstitution eines religiösen Aktes. Religion entsteht erst durch das Zusammenspiel beider Komponenten, durch die aktuale Deutung von Erfahrung mithilfe solcher Deuteschemata. Der Erfahrungsbezug garantiert dabei, daß Religion immer eine unübertragbare, auf ein einzelnes menschliches Subjekt bezogene mentale Tätigkeit bleibt. Religion als religiöse Anschauung im Sinne solcher erfahrungsgesättigter Deutungsakte verstanden ist „einzeln", d. h. im intersubjektiven Bezug nicht austauschbar und dadurch auch unverwechselbar. Umgekehrt sichert die Komponente der in der Religion in Anspruch genommenen Schemata die Möglichkeit von intersubjektivem Verstehen und damit letztlich von Kommunikation und Mitteilung in Sachen der Religion. Daß weder Erfahrung noch Deuteschemata feststehende Größen sind, sondern sich im wechselseitigen Bezug entwickeln, hat Schleiermacher in seiner Theorie religiöser Bildung eindrucksvoll vor Augen geführt.

Schluß Religion ist uns heute als ein Phänomen lebensweltlicher Erfahrung bewußt. 1 Zwischen Unsicherheit, Zurückhaltung aber auch Neugier der sogenannten Religionslosen auf der einen Seite und Standpunkttreue und formelhaftem Bekennertum auf der anderen Seite eröffnet sich ein weites Feld religiöser Erfahrung, unterschiedlichster religiöser Praktiken, Einstellungen und Selbstverständnisse.2 In dieser Lage läßt sich Religion nicht mehr ohne weiteres an den lehrmäßigen Äußerungen ihrer verfaßten Großinstitutionen festmachen. Das Signum des modernen Menschen, seine Individualität, steht gerade auch in Fragen der Religion seiner institutionellen Bevormundung entgegen. Die Dynamik aktueller religiöser Entwicklungen ebenso wie die Individualisierung verflüssigt übergreifende Konsensbildungen. So gehören Vergemeinschaftungsphänomene wohl zum Charakter des Religiösen hinzu, treffen aber nicht dessen primären Ursprungsort. An den neuzeitlichen Freiheitsrechten etwa läßt sich diese Bindung an die Individualität ablesen. Gewissens- und Religionsfreiheit werden als persönliche Bürgerrechte formuliert.3 In dieselbe Richtung einer Zurücknahme normativer Elemente im Religionsverständnis weist auch die religionswissenschaftliche bzw. religionsgeschichtliche Einsicht, daß Religion als Phänomen humaner Kultur sich nicht auf deren abendländische Gestaltungsformen beschränkt. Die in unserer Hemisphäre dominante Gottesvorstellung wird so im Rahmen eines Zugangsverständnisses methodologisch herabgestuft. Religion geht nicht in ihren theistischen Explikationsgestalten auf.4 Das Wesentliche religiöser Erfahrung hängt nicht notwendig mit dem Vorkommen bestimm1 Vgl. F. Wagner: Was ist Religion? ( 2 1991), S. 456ff. 2 Vgl. W. James: Die Vielfalt der religiösen Erfahrung (1997); E. Herms u.a.: Art. Erfahrung, TRE10 (1982), S. 83ff. Zum Begriff religiöser Erfahrung vgl. auch meinen Versuch einer Zusammenfassung in: Art. Erfahrung, TRT 5 (2006). 3 Vgl. zur Individualisierung und Pluralisierung von Religion Μ Schröder: Das „unendliche Chaos" der Religion (2000), bes. S. 585-589. 4 In der Religionswissenschaft setzte sich diese Einsicht mit der Einbeziehung besonders der östlichen nichttheistischen Religionen durch. Vgl. H. G. Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne (1997). In der analytischen Religionsphilosophie Nordamerikas wird diese Einsicht jedoch weitgehend ignoriert. Vgl. den Überblick bei I. U. Dalferth: Analytische Religionsphilosophie (1988).

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ter hochstufiger Reflexionsmodelle zusammen, sondern zeigt sich anthropologisch fundiert, als ein im Humanum wurzelndes kulturelles Allgemeingut der Menschheit.5 In den genannten Punkten - Erfahrungscharakter, Bindung der Religion an das individuelle Subjekt und Aufweis als eines Grundaktes menschlicher Kultur - hat Schleiermacher durch seine, Reden' Epoche gemacht. Was uns heute schon beinahe selbstverständlich erscheint, war vor 200 Jahren Anlaß heftigster Auseinandersetzungen. Eine an der Erfahrung des Einzelnen orientierte Religionsauffassung, die die Leitnorm der überlieferten Kirchenlehre für theologisch obsolet erklärt und darüber hinaus die theistische Gottesvorstellung weiter zu relativieren wagt, war im Preußen des ausgehenden 18. Jahrhunderts durchaus innovativ. Den Repräsentanten orthodoxer Kirchenlehre gegenüber und auf der anderen Seite den Vertretern einer allgemeingültigen, moralischen Vernunftreligion, sah sich Schleiermacher ebenso zur Rechenschaft über seine neue Ansicht verpflichtet wie gegenüber den Obrigkeiten, die im Zusammenhang der brisanten Vorgänge um Fichtes Entlassimg in der „Atheisterey" ohnehin die Grundfesten des Gemeinlebens gefährdet sahen.6 Die innere Schwäche seiner Debattengegner hat Schleiermacher zeitdiagnostisch scharfsichtig erfaßt und rhetorisch scharfzüngig ins Werk gesetzt. Aber seine Kritik stünde auf tönernen Füßen, wenn sie nicht von der Idee eines neuen Verständnisses von Religion gesteuert wäre. Schleiermachers Ursprungsintuition war, Religion an einem „Sinn fürs Unendliche" festzumachen. In lebensweltlichen Bezügen stehend, gibt es offenbar einen Antrieb im Menschen, über die engen Grenzen der eigenen Erfahrungswelt hinauszustreben und darin eine tiefere Dimension aufzusuchen, die über den bloßen Erkenntniswert und Handlungssinn hinausgeht. Die Formel eines „Sinns fürs Unendliche" scheint heute wieder passend für die Beschreibung religiöser Vollzüge,7 weil sie einerseits niederschwellig operiert und all jene nur vage oder uneigentlich artikulierten Bedürfnisse moderner Subjektivität aufzugreifen erlaubt, die sich in unkonventionellen, zum Teil privatistischen oder subkulturellen Kontexten abspielen. Andererseits läßt sich damit aber auch der unserer europäischen Kultur tief eingeprägte Sinn für eine Tiefendimension des Ästhetischen erschließen. Naturerlebnisse8 und Kunstbetrachtung leben von ihrer verbalen Unausdrücklichkeit. Deren Grundakte finden sich 5 Vgl. A. Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940). 6 Vgl. dazu den Sammelband von K. M. Kodalle u. M. Ohst (Hg.): Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren (1999), sowie den Quellenband von W. Röhr (Hg.): Appellation an das Publikum. Dokumente zum Atheismusstreit um Fichte, Forberg, Niethammer. Jena 1798/99 (1987). 7 Vgl. W. Grab: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft (2002). 8 Vgl. J. Lauster: Naturerlebnisse als Gotteserfahrung? (2004).

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nicht in gedanklichen Überzeugungen, sondern liegen vielmehr hauptsächlich im Bereich von Stimmungen, Ergriffenheitsmomenten oder Erlebnissen von „Stimmigkeit". 9 Der religiöse „Sinn fürs Unendliche" entzündet sich an solchen Erlebnissen als an Medien und schwingt sich auf, in ihnen über sie hinweg zu gelangen. Die von Schleiermacher religiös gewendete frühromantische Aufwallung von „unendlicher Sehnsucht", „Andeutung" und „Ahndung" will so auf das anthropologische Potential aufmerksam machen, über die Schranke eigener Erfahrung hinausgreifen zu können oder eine Überwindving dieser Schranken wenigstens ,mentar zu antizipieren. In diesem Charakter des Unendlichkeitssinns als einer Übersteigungsintention oder Transzendierungstendenz liegt gleichwohl ein Problem. Als endliches Subjekt das im Ausdruck „Unendliches" implizierte Absolute auch nur intendieren zu wollen, steht nach der grundstürzenden Kritik Immanuel Kants im Verdacht, eine metaphysisch aufgeladene rationale Theologie im Gewände einer religionstheoretischen Neukonzeption zu erschleichen. Und umgekehrt muß an ein solches Konzept die Frage ergehen, ob das in jenem „Sinn" intendierte „Unendliche" etwas Reales darstellt oder - mit Kant zu sprechen - „nur" den Charakter eines regulativen Prinzips für das damit befaßte Subjekt haben kann. Die religionsphänomenologisch prima facie einleuchtende Verortung von Religion in einem Unendlichkeitssinn birgt bei Lichte besehen tiefgreifende Theorieprobleme und zwar solche metaphysischer und erkenntnistheoretischer Art. Absicht und Ziel meiner Untersuchung war es zu zeigen, daß Schleiermacher diese Probleme gesehen und bearbeitet hat und daß die spezifische Fassung des Religionsbegriffs in den ,Reden' vor dem Hintergrund des spinozistischen Lösungsansatzes für jene metaphysischen und erkenntnistheoretischen Probleme seine Kontur erhalten hat. Um Kants Verdikt zu entgehen, ist ein solches Verständnis des Absoluten gefragt, das mit einem erkenntniskritischen Ansatz kompatibel erscheint. Und umgekehrt bedarf es einer solchen Form von Erkenntnistheorie, in deren Rahmen eine Theorie des Absoluten einen sinnvollen Platz erhält. Um beides hat Schleiermacher in den frühen Studien zu Spinoza mit der ihm eigenen Verbindung von systematischer Wucht und Akribie im Detail gerungen. Er versuchte, die Stärken metaphysischer und erkenntniskritischer Perspektivität in einem einzigen Ansatz zu vereinen und fand ihn in einer Synthese von Spinoza und Kant. Diese Theorieverbindung dokumentieren die Spinozamanuskripte. Die Frage nach dem Absoluten mit einem erkenntniskritischen Ansatz zu vereinigen, war die Leitdevise. Das Resultat ist eine Theorie, nach der auf 9 Vgl. Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften VE, (1970), S. 300.

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der einen Seite die erkenntniskritische Einsicht einer Unbegreiflichkeit und Unanschaulichkeit des Absoluten dazu zwingt, ein Absolutes nur als Grenzbegriff zuzulassen. Die metaphysische Grundstruktur einer spinozistischen Ontologie leuchtete Schleiermacher insbesondere im Blick auf den Entwurf eines überzeugenden Individuationsverständnises ein. Beides miteinander verschränkend ergab sich ihm ein zwar nur grenzbegrifflich gefaßtes Absolutes, dessen Erscheinungen uns jedoch in unseren sinnlichen Vorstellungen gegeben sind. Das einzelne der sinnlichen Anschauung ist unter diesen Prämissen als Modifikation oder Individuation eines der spinozanischen Gott-Substanz anverwandelten Noumenon Spinozisticum zu denken. Diese Theoriesynthese von Spinoza und Kant ist in den,Reden' überall vorausgesetzt. Allerdings nicht auf die Weise, daß sie hier nochmals entfaltet würde. Vielmehr wird in den ,Reden' unter der Bezeichnung Religion gerade derjenige lebensweltliche Akt vor Augen geführt, in welchem das in jener Theoriesynthese nach seinen Voraussetzungen rational explizierte Wirklichkeitsverständnis als menschliches Bewußtsein vollzogen wird. Beziehung der endlichen Gegenstände des menschlichen Bewußtseins auf das Unendliche ist die Funktion der Religion. Die Plausibilität dieser Beschreibung hängt einerseits an einer Explikation des Unendlichkeitsbegriffs und andererseits an einer Auffassung endlichen Bewußtseins. Beide müssen jene „Beziehung" als möglich erscheinen lassen. Die Formel „Anschauen des Universums" erfüllt nun für Schleiermacher genau diese doppelte Bedingung. Sie ist die religionstheoretisch gewendete Synthese von Spinoza und Kant. Sie gibt die Beschreibung ab für das bewußte Beziehen endlicher Erfahrung auf eine Unendlichkeitsdimension hin. Die in den Spinozamanuskripten geleistete kritisch-idealistische Wendung einer aus Spinoza gewonnenen Individuationsmetaphysik, nach der sich die unendliche Substanz nicht nur im Endlichen überhaupt, sondern geradezu in den endlichen Gegenständen der sinnlichen Anschauung des Menschen manifestiert, wird in den ,Reden' vorausgesetzt. Insbesondere die kategorialen Probleme des Universumsbegriffs konnten vor diesem Hintergrund entschlüsselt werden. Mit der Theorie religiöser Anschauung versucht Schleiermacher nun, die geistmetaphysische These eines sich im Vorstellungsgegenstand individuierenden Noumenon in Richtung einer bewußtseinstheoretischen Perspektive zu präzisieren. Das religiöse Anschauen besteht gerade in dem bewußten Akt, Erfahrungsgegenstände als individuelle Manifestationen oder „Darstellungen des Universums" zu verstehen. Schleiermachers Religionsbegriff kommt so im Kern mit der Konzeption der höchsten Erkenntnisart, der scientia intuitiva bei Spinoza überein. Der beiden gemeinsame Grundcharakter ist das humane Bewußtsein des innersten Grundes des Endlich-Individuellen als eines universalen

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Prinzips. Was aber mit dem Theorem der immanenten Kausalität bei Spinoza als ontologischer Hauptsatz eingeführt und in der Konzeption der scientia intuitiva als mentale Gewißheit in der adäquaten Vorstellung von Identität in der Differenz aus einer geistphilosophischen Perspektive expliziert wird, erhält bei Schleiermacher die Form eines Bezugshorizontes religiöser Endlichkeitshermeneutik. Das religiöse Anschauen steht bei Schleiermacher deutlich auf einer anderen Ebene als das sinnliche und ist in gewisser Weise ein Anschauen ,höherer Ordnung'. Ihm ist eine hermeneutische Dimension eigen. In religiöser Einstellung wird ein Verständnis der endlichen Erfahrung unter der Idee des Universums entwickelt. Religiöse Erfahrung setzt lebensweltliche Erfahrung nicht außer Kraft, sondern stellt sie in einen Horizont, in welchem die erfahrungsimmanenten Beziehungen auf eine höhere Einheit hin transzendiert werden. Die „allgemeinste und höchste Formel der Religion" findet Schleiermacher in einer Verbindung des Anschauungsbegriffs mit dem des Universums, weil in der Idee des Universums die immanenten Beziehungen der Erfahrung als absolute Totalität und die daran manifeste Einheit als höchste Einheit verstanden wird. Ausgangspunkt religiöser Endlichkeitsdeutung ist jedoch nicht die Idee der Totalität, sondern die der Individualität. Individualität ist für Schleiermacher eine religiöse Idee. Das Einzelne in seiner Individualiät läßt sich im Grunde nicht empirisch beobachten. Individualität ist das Produkt einer Deutung, in welcher wir endliche Vorstellungen auf eine Unendlichkeitsdimension hin verstehen. Denn nur unter der Idee unendlicher, bestimmter Bezüge ist Endliches als individuell verstanden. Schleiermacher entwickelt seine Theorie der Religion als eine Tiefenhermeneutik des Endlichen als eines Individuellen. Das Individuelle ist nicht an diesen oder jenen Merkmalen festzumachen, sondern ist im letzten und eigentlichen Sinne eine religiöse Sinndeutung. Der Universumsbegriff steht für die in religiösen Akten vollzogene Intention und Ausrichtung auf Individualität als der Idee endlicher Partizipation am Ganzen und Einen. Erfahrung wird darin auf eine an ihr sich manifestierende Ganzheits- und Einheitsdimension deutend bezogen. Der Universumsbegriff vertritt in Schleiermachers Religionskonzeption somit die Stelle eines Deutungsschemas. Solche Schemata sind für den Vollzug von Religion konstitutiv. Denn nicht alle Akte, in denen humane Erfahrungen gedeutet werden, sind per se religiös, sondern nur solche, deren Deuteschemata religiöse Valenz haben. Diese religiöse Valenz bezieht sich aber nicht auf die bestimmte Gestalt oder Herkunft der Deuteschemata. Vielmehr könnte man sagen, religiöse Deutungsakte sind solche, die sich eines formal invarianten und als solches in allen religiösen Akten anzutreffenden Deutungsschemas bedienen. Der Universumsbegriff ist die Schleiermachersche Fassung einer solchen Form reli-

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giöser Deutungsschemata. Noch vor aller inhaltlichen Bestimmtheit faßt Schleiermacher die allgemeine Form religiöser Deutung darin, einzelne Erfahrungen als partizipierend an einem größeren strukturell zusammenhängenden Ganzen und als Manifestationen letzter Einheit zu verstehen. Der inhaltliche Aspekt religiösen Verstehens ergibt sich dann zum einen aus dem konkret-erfahrenen Erlebnis, das allererst zur Deutung ansteht, und zum anderen aus der Spezifizierung der Deutungsschemata selbst. Naturhaft-körperliche Erlebnisse, um bei den Konkretionen Schleiermachers zu bleiben, bedürfen eines anderen Deutungsrahmens als geistig-geschichtliche Vollzüge. Die Konkretheit der nach Deutung verlangenden Erfahrung und die Spezifik des Deutungsschemas sind in religiöser Erfahrung in einem stetigen Ausgleichs- und Abstimmungsprozeß. Analog zu der Äußerung Tillichs, die in der Religion gegebenen Antworten müßten der Lebenssituation der jeweiligen Menschen gleichsam als der implizit gestellten Frage entsprechen, könnte man im Anschluß an Schleiermacher von einer Korrelation von spezifischer Erfahrung und Ausgestaltung eines religiösen Deutungsschemas sprechen. Dieser Abgleichungsprozeß wird von der Dynamik und Komplexität menschlicher Erfahrung bestimmt. Schleiermacher macht dies deutlich, indem er sich in die zeitgenössische Debatte um ein Natur- und Geschichtsverständnis hineinbegibt, um in diesen Sphären Leitverständnisse religiöser Deutung exemplarisch vor Augen zu führen. Er ist sich dabei in vollem Umfang bewußt, daß es keine für alle Menschen von vornherein verbindlichen bzw. für alle Situationen tauglichen Schemata geben kann. Nicht nur die religiösen Akte selbst, sondern auch die Gestalt der Deutungsmuster ist gebunden an das individuelle religiöse Subjekt. Daß der „religiöse Sinn" selbst einem Bildungsprozeß unterliegt, heißt nichts anderes, als daß sich jedes menschliche Individuum im Laufe seines Lebens oder genauer gesagt: im Laufe seines religiösen Lebens ein Repertoire religiöser Deutungsschemata zu eigen macht. Durch die besondere Konstellation der Facetten und Schwerpunkte in diesen Verständnis-Strukturen bildet sich religiöse Individualität. Das Großartige an Schleiermachers Konzept, das mir auch in der aktuellen Debatte bemerkenswert erscheint, ist, daß er mit Hilfe des spinozistischen Konzepts religiöser Anschauung des Universums auf diese Weise nicht etwa einen Rückfall in vorkritische theologische Metaphysik inauguriert, sondern die spinozanischen Gedanken so zu aktualisieren weiß, daß er die Subjektivität des religiösen Vollzugs und die Individualität von dessen inhaltlicher Konkretion dadurch allererst zur vollen Geltung zu bringt. Auf der anderen Seite ist Religion - um dies noch einmal hervorzuheben - im Anschluß an Schleiermacher nicht als beliebiges Sich-selbst-

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Verstehen zu betrachten, sondern weist trotz ihrer Bindung an das Individuum gewisse ,kategoriale' Aufbaumomente hinsichtlich der in ihr implizierten Deutungsschemata auf. Charakteristischerweise stellt Schleiermacher innerhalb der,Reden' sein eigenes Religionskonzept noch einmal in eine geltungslogische Metabetrachtung. Der spinozistisch explizierte Begriff des Universums wird zwar als allgemeine Form religiöser Deutungsschemata angenommen und besteht darin, Erfahrung nach der Seite ihrer Partizipation an einem größeren Ganzen und als Manifestation von Einheit im Veränderlichen zu deuten. Durch die Rückwendung und Selbstanwendung dieses Schemas auf die Gestaltung religiöser Vollzüge relativiert sich aber das religiöse Verstehen hinsichtlich der in ihm implizierten konkretisierten Verständnishorizonte selbst. In letzter Tiefe religiöser Selbstthematisierung müßte daher auch der Universumsbegriff selbst und also auch der spinozistisch gebildete Begriff der Religion als Anschauung des Universums als nur ein, wenn auch sehr allgemeiner, Ausdruck religiöser Lebenshermeneutik im mannigfachen Chor religiöser Deutungsmuster erscheinen. Selbstrelativierung ohne Beliebigkeit und dabei zugleich das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit der ganzen religiösen Sphäre als eines großen Begegnungsraums gegenseitiger Anregung zu immer neuer, der Komplexität des Lebens antwortender Lebensdeutimg - diese Aspekte von Schleiermachers frühem Religionsbegriff könnten in der gegenwärtigen Diskussion um den Pluralismus des Religiösen weiterhin eine produktive Rolle spielen. „Wenn die Religion sich in Euch entwickelt, wenn Ihr die ersten Spuren ihres Lebens inne werdet, so tretet gleich ein in die Eine und untheilbare Gemeinschaft der Heiligen, die alle Religionen aufnimmt und in der allein Jede gedeihn kann." (Reden 312)

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Namenregister Abbt, Thomas, 280 Adorno, Theodor W., 418 Adriaanse, Hendrik J., 1 Albrecht, Christian, 7, 274, 275, 373, 411 Alquie, Ferdinand, 112 Amann, Francis, 9,112,122,124 Anselm von Canterbury, 33 Appuhn, Charles, 95 Aristoteles, 32, 66, 86 Arndt, Andreas, 364 Bürger, Gottfried Α., 300,301,309 Bürgersdijck, Franco, 15 Büttner, Stefan, 215,219 Bacon, Francis, 76 Baensch, Otto, 95 Baeumler, Alfred, 276,280,281, 285, 298300 Bahr, Petra, 276, 279,281,285, 297,299, 301303,305, 311,316, 378 Barth, Ulrich, 1-4, 6,178,272-275,288, 295, 330,331, 339,344,347,364,365,376,381, 384,386,412 Bartuschat, Wolfgang, 4,10,14,15, 21, 22, 25-28, 34,46,56-59, 61, 70, 79, 82, 83,85, 86,91-93,95,99,102,112,114,116,118, 119,125,129,134,135,137,333,363 Baum, Günther, 153 Baumgarten, Alexander G., 276,277, 279281,285-287,297, 298, 301, 304,305,308, 309 Bauspieß, Martin, 390 Bayle, Pierre, 217 Bennett, Jonathan, 102,122 Berlin, 140 Birkner, Hans-Joachim, 389 Blackwell, Albert, 144 Bodmer, Johann }., 299 Bollacher, Martin, 6 Bormann, Alexander von, 280-282, 286, 287, 299,300,311 Brachmann, Jens, 328 Braungart, Christine, 338,389 Breitinger, Johann J., 299 Brinckmann, Gustav von, 140-142 Bruno, Giordano, 140,158,173-177, 223, 321,364 Camerer, Theodor, 3 , 1 5 , 2 5 Canone, Eugenio, 175

Carr, Spencer, 109,117 Chaouli, Michael, 335 Christ, Kurt, 150 Clairmont, Heinrich, 156 Claudius, Matthias, 279 Cramer, Konrad, 6,10, 26,27,30,31, 67,119, 134,273,315 Dahlhaus, Carl, 1 Dalferth, Ingolf U., 416 de Dijn, Herman, 9 Deleuze, Gilles, 32,33,86,89 Descartes, Rene, 14, 33, 35, 36, 50-52, 54, 61-70, 74,86,216,287 Di Vona, Piero, 107 Dierken, Jörg, 273,387 Dilthey, Wilhelm, 1 , 3 , 5 - 7 , 1 4 2 , 1 4 3 , 1 4 5 147,183,229,272,274, 315,317 Dobbek, Wilhelm, 330 Donagan, Alan, 74,112 Ebeling, Gerhard, 274 Eberhard, Johann Α., 5, 301, 303 Eck, Samuel, 146,147 Eckert, Michael, 7, 382 Eisler, Rudolf, 301 Ellsiepen, Christof, 24,121,125,134, 265, 365,416 Engelhardt, Dietrich von, 319 Engstier, Achim, 49,121-123,126 Eschenmayer, Carl Α., 319 Förster, Eckart, 6,109, 315 Fichte, Johann G., 272, 276,277,289, 290, 293,301, 311,333,417 Fischer, Hermann, 328 Frost, Ursula, 331 Garrett, Don, 34,46, 70 Garve, Christian, 287 Gasche, Rudolphe, 301, 302 Gedike, Friedrich, 140 Gehlen, Arnold, 417 Gelles, Siegfried, 3 Gerhardt, C. I., 34 Gewirth, Alan, 64, 65 Goethe, Johann W. von, 6,109,315, 333 Gräb, Wilhelm, 338, 373,389,417

446

Namenregister

Grove, Peter, 5,156,188,201, 219, 230,235, 238, 251,272-275, 313,333,334,350, 373375,394,412 Gueroult, Martial, 4 , 1 0 , 1 2 , 1 5 - 1 7 , 1 9 , 2 5 28,32,36,51,52, 58, 60,68, 70, 76, 79, 82, 85,86, 88,94,95, 99-101,106-108,112, 114,117,118,121, 363 Hölderlin, Friedrich, 7, 411 Hafner, Bernhard J., 301 Heereboord, Adrian, 15-17 Hegel, Georg W. F., 291,401 Helfer, Martha B„ 297,301 Hemsterhuis, Frans, 152,182,186-188, 220, 221, 334 Henrich, Dieter, 5 Heraklit, 168,175,223,321 Herder, Johann G., 140,156, 328, 330, 331, 333,334,347 Herms, Ellert, 5,143,147-150,153,188, 272, 332,416 Herrnhut, 145,146 Hirsch, Emanuel, 3,143,272,327 Hobbes, Thomas, 76 Hubbeling, Hubertus G., 9 Hudde, Johann, 33,34,39,45 Humboldt, Wilhelm von, 328,330-332 Hume, David, 140 Iber, Christian, 290 Jüngel, Eberhard, 396 Jacobi, Friedrich H., 4, 6 , 2 1 , 5 4 , 1 0 2 , 1 4 0 142,146,147,149-162,164-177,179-199, 201, 202, 211, 215-218, 220, 221, 223-225, 230,232-234, 237,242,243, 246-249, 251, 253,254,257-259, 262-264, 272, 321, 334, 343,344,353,357, 363,364,401 James, William, 416 Jantzen, Jörg, 319 Jaquet, Chantal, 107,108 Jelles, Jarig, 169 Jellinek, Georg, 6 Jesus von Nazareth, 397, 398 Jungmann, Albert, 6 Kahler, Martin, 390, 391 Kant, Immanuel, 1,2, 7,140-143,145,151, 153,154,156,157,159,201-222, 229-243, 245,250,252-254,257,258,266,276-278, 282,283,286,288-291,293, 294,301-308, 310-312,319,331,344,348, 351,352, 369372,374,376-381, 408,412,413,418, 419 Kapitza, Peter, 317, 335, 336

Kippenberg, Hans G., 416 Klaproth, Martin H., 335 Kleist, Heinrich von, 311 Klopstock, Friedrich G., 297, 300, 309 Kodalle, Klaus M., 417 Kong, Byung-Hye, 304 Kreimendahl, Lothar, 121 Kuhn, Johannes von, 106,107 Lönker, Fred, 7, 274, 373, 411 Lamm, Julia Α., 4,144,145,149, 156,188190, 273, 274, 376, 395 Lange, Dietz, 2, 274 Lauster, Jörg, 417 Leibniz, Gottfried W„ 30, 33, 34, 70, 91,141, 142,151,154,157,159-166,168-170, 183, 194,201, 205,217, 222, 223, 245, 281,283, 284, 297, 298,301, 319,322, 323, 331, 335, 337, 340, 342,347, 352,353, 364,401 Lessing, Gotthold E., 164, 285,328,343, 353 Lloyd, Genevieve, 46,112 Lucas, Hans-Christian, 290,333 Macherey, Pierre, 58,107,131,132 Mahnke, Detlef, 61,63, 65,68 Marion, Jean-Luc, 62 Mark, Thomas C., 32,33 Matheron, Alexandre, 99,100,109 Meckenstock, Günter, 4,142,143,179,210, 215,242,273 Meier, Georg F., 279, 281, 308 Mendelssohn, Moses, 4,140,141,150, 217, 234,263,401 Meyer, E. R., 146 Mignini, Filippo, 107 Mollenhauer, Klaus, 328 Moreau, Pierre F., 112 Mulert, Hermann, 143 Natterer, Paul, 303 Nikolaus von Kues, 175,177,223 Novalis (Hardenberg, Friedrich von), 311 Nowak, Kurt, 8,143,151, 274,315,339 Oberdorfer, Bernd, 341 Ohst, Martin, 156,417 Osthövener, Claus-Dieter, 312, 338 Otto, Rudolf, 376,382 Owren, Heidi, 331 Perler, Dominik, 64, 65 Plumpe, Gerhard, 349 Quapp, Erwin H„ 143,146,147

Namenregister Rod, Wolfgang, 9, 69 Röhr, Werner, 417 Rehberg, August W., 219 Reinhold, Karl L., 235, 238, 311, 333, 374 Rendtorff, Trutz, 406 Resewitz, Martin, 279,282, 286, 287, 299, 300,308,309 Ringleben, Joachim, 8, 373, 401,411, 414 Rousset, Bernard, 71 Süskind, Hermann, 143, 293,319,333 Sack, Friedrich S. G., 364 Sanchez Estop, Juan D., 61 Sandkaulen, Birgit, 153, 291 Schürmann, Eva, 156 Schütt, Hans-Peter, 21 Schelling, Friedrich J., 3,6,40,276, 277,289296,307-309,315, 317-319,333,349, 370 Schlegel, Friedrich, 141,272 Schleiermacher, Carl, 335 Schleiermacher, Charlotte, 335 Schleiermacher, Friedrich, 46, 52,54, 67, 78, 102,125,134,140-415 Schleyermacher, Johann G. Α., 140, 201 Schlobitten, 140 Schmid, Carl C. E„ 243 Schmidt, Paul W., 3 Schmidt, Wolfgang, 10 Schnepf, Robert, 24,30, 36,51, 66, 89,151 Scholtz, Gunter, 3,272 Schröder, Markus, 332,335, 354, 397, 412, 416 Schrijvers, Michael, 122 Schulze, Gottlob E., 239,311 Seibert, Dorette, 146 Seysen, Christian, 241,274, 354,356,412

447

Spangenberg, August G., 147 Spinoza, Baruch de, passim Stein, Ludwig, 34 Stoa, 86 Stolzenberg, Jürgen, 274, 277, 301, 412 Teerstegen, Gerhard, 323 Thiel, John E„ 365 Thomas von Aquin, 406 Tillich, Paul, 3, 5, 408, 421 Tilliette, Xavier, 290 Timm, Hermann, 6,135,186, 221, 333, 380 Tschirnhaus, Ehrenfried W. von, 15, 30, 68, 198 Velthuysen, Lambert von, 177 Vietta, Silvio, 396 Wagner, Falk, 1, 416 Walther, Manfred, 120, 408 Wenz, Gunther, 7, 275, 354, 360, 373, 411 Wiehl, Reiner, 122 Wilson, Margaret D., 30, 58, 76, 82, 83, 92, 112 Winkler, Michael, 328 Wirsching, Johannes, 390 Wisbert, Rainer, 331 Wolff, Christian, 6,151,154,276-281,283, 284,286,287, 298,299, 302,304,308,310, 331 Wolfson, Henry Α., 112 Yovel, Yirmiyahu, 77 Zellner, Harold, 58 Zinzendorf, Nikolaus L. von, 146

Sachregister Ableitung, 99,105 Absolutes, 28,137,218, 220, 228, 267 Erscheinung, 269, 270 Erscheinungsweise, 269 Grenzbegriff, 251 kein Individuum, 170, 267 Vermitteltheit, 270 weltimmanent, 268 welttranszendent, 268 Abstraktion, 280, 281, 299 Adäquatheit, 12,14,55,62,68-73, 76-78,92, 95,137,139 intuitiven Erkennens, 94-99 Ästhetik, 276,417 Genie-, 280 Affekt, 118,126 körperlicher, 121,122 mentaler, 121,122 passiver, 128 und Idee, 89,122,123 Affektenlehre Spinozas, 121-126 Affektion, 74,75, 77,86, 89,97,116, 278 körperliche, 122 Affektionen der Attribute, 41 Aggregat, 191,196, 322,335, 387 bestimmter Modi, 177 endlicher Dinge, 263 substantielles, 161,164 Akosmismus, 273 Aktivität, 116,121,133 reine, 129 Allgemeinheit Gattung, 385 generelle, 352 amor, 122,125 Dei intellectualis, 14,42, 56,112,121-122, 126-134,291 Amphibolie, 206 Analogie, 212, 304 der indirekten Darstellung, 378 sinnliche u. religiöse Anschauung, 373376 Anlage, 337,385,410 menschliche, 330,385 religiöse, 8,382,384-387, 389,392,404406,409,410 Annäherung, 407 Anschaubarkeit des Noumenon, 242

des Unendlichen, 262 unendliche mittelbare, 262 unendliche mittelbare, 255 vermittelte des Absoluten, 256 von Noumena, 238 Anschauen deutliches, 284 Anschauung, 159,180,199, 208, 228, 276 = Vorstellung, 247, 250, 307 absolutheitstheoretisch, 277, 289-296 der Welt, 326,348 des Unendlichen, 232, 258,288 Limitation, 267 des Universums, 212, 229, 254, 272-275, 277,293,369-381,410 Aktivität, 273,274,312,376 in dessen Darstellungen, 350 Passivität, 273, 274, 312, 376 eines Individuums, 286 Fassungskraft, 265 formale, 209, 210 formale Struktur, 265 Formen der Α., 159, 206, 208, 215-218, 266, 371 Fundamentalanschauung, 396, 405 Grundanschauung, 397 höherer Ordnung, 420 innere, 304 intellektuale, 292-295,308, 309 intellektuelle, 236,260, 276, 277,288-295, 308,370 Kontinuum, 210, 215, 227 korrespondierende, 302, 303, 311 Limitation, 261 Mitte von Erleben und Reflexion, 274 religiöse, 229,231,274, 275,282,289, 295, 296,308,312,314,370, 373-381 Konkretionen, 275,314 Verstehen von Endlichem als Individuellem, 380 Restriktion, 282,288 sinnliche, 230,231, 235,236,241,242, 245, 251, 252, 274,277,282, 283, 289, 292, 294, 301, 308, 309,312,314,370, 373-376 System, 395 und Begriff, 302 und Darstellung, 277, 278, 296-307, 309 und Erkennen, 277 und Erscheinung, 231-235,370

Sachregister Anschauung (Forts.) und Gefühl, 146 und Individuation, 231 unmittelbare, 287 Zentralanschauung, 396, 397, 399,405 Anschauungsart, 394 menschliche, 265 Anschauungsweisen, 264,265 Anthropologie, 328 Anthropomorphismus, 264 apophantisch, 106 Apperzeption, 162,298 Approximation, 120 Atheismus, 221,417 Atheismusstreit, 417 Atmosphäre, 345 Attraktion und Repulsion, 319, 321, 333, 338 Attribut, 14, 32, 35, 37, 50, 94 Attribute, 30,48, 49,101-103,142, 266 Subjektivierung, 371 Attributenlehre, 13, 53, 90,182,183, 262-264 Aufklärung, 327, 328 Aufmerksamkeit, 64 Augenblick, 395 Ausdruck, 42,193,304,305, 310 Art, 194 der Substanz, 223 individuierter, 226 mittelbarer, 226 höchster Einheit, 270 paralleler, 194, 264 Ausdrücken, 32-34, 50,192, 297,353 = exprimere, 298 Äußern, 298 Begierde, 127,249 Begleiten, 180,182 Begleitung, 159, 247 Begreifen, 153 Begriff, 199, 278,280,292 empirischer, 302 und Anschauung, 302 unmittelbarer, 149,186,187, 225 Beispiel, 285, 299,302,303 der 4. Proportionalen, 11,99-100,109110 Bestimmtheit, 43 endliche, 46 Existenz, 93 von innen, 82 Bestimmung, individuelle, 222 Bewegung Kontinuum, 223

449

und Ruhe, 81-83,85-87,158,171-174, 176,177,189,193,223,353 Bewegungsverhältnisse, 74, 85 Bewußtsein, 156 endliches, 258 fließendes, 242, 244 menschliches, 136 religiöses, 270,307 unbeschränktes, 256 unendliches, 258 unmittelbares, 152 Bild, 303 der Einbildungskraft, 279, 298, 299 Bildung chemische, 322 der Religion, 404 des religiösen Sinns, 387 eigne, 338 innere, 330 menschliche, 331,349 menschlicher Individualität, 179, 366 offener Prozeß, 347, 348 Prinzip geistiger Entwicklung, 332 religiöse, 350, 365,381^15 Selbstbildung, 338 und Menschheit, 307, 322, 327-349 Werk des Weltgeistes, 349 zeitlicher Prozeß, 347 zur Religion, 275,322,383,385 causa activa, 16,17, 355 adaequata, 18,113,126,128,129 efficiens, 16, 22,29,180,181,403 emanativa, 17 emanens, 16,355 finalis, 180,182 formalis, 113 immanens, 15, 355 rerum, 29-31, 33, 34, 37, 38, 41-43, 47, 53, 93,103,104,110, 291, 296 sive ratio, 59 sui, 29-35,37-43, 47,53,93,103,104,108, 110,131,291, 292,295, 296,309 Grenzbegriff, 40,103 transiens, 15 Chemie, 317-320, 322,323, 335 Christentum, 383 Geist, 390 Individuationsprinzip, 398 Cogitatio, 50,179 cognitio, 58 causae, 75 intuitiva, 11,120,138, 278, 279, 286,304

450

Sachregister

cognitio (Forts.) reflexiva, 57, 60, 72,73, 82,98,128 sensitiva, 285,286 symbolica, 278,279,304 coincidentia oppositorum, 175,177 commercium, 93 commune et proprium, 84, 85 conatus, 47,120,127 creatio ex nihilo, 23 darstellendes Handeln, 297, 305-307, 309, 351 Darstellung, 278,351-357 = exprimere, 193,197,298,352 Äußern, 300 anschaubar machen, 300 der Menschheit, 346, 349,352 der religiösen Anlage, 409 der Religion in Religionen, 405, 406 des Ganzen im Partikularen, 353 des Undarstellbaren, 311 des Universums, 296, 297, 314, 346, 349, 350,355-357, 360,367 als Individualität, 365-369 als Totalität, 356-365 für uns, 371, 413 Idee, 381 im Einzelnen, 351, 372 im Endlichen, 372 indirekte, 379 dynamische Relation, 352, 354 einer Kraft, 354 eines Gefühls, 306 Exemplifikation, 302,303 exhibere, 299,300,302 für uns, 235 Ganzes und Teil, 352, 402 Hypotypose, 302 indirekte, 304, 378 kausale Relation, 355 Konstruktion, 302, 303, 310 logische, 304 mathematische, 303 Mimesis, 301, 309 Prinzip, 325 Realisierung, 303, 306 indirekte, 307, 310, 377, 378 schematische, 310,377,378 symbolische, 304,310,376-378 und Anschauung, 277, 278,296-307,309 und Erkennen, 334 und Symbol, 305, 306 und Vorstellung, 194-196

Versinnlichung, 187, 303, 304, 310, 311, 351,379 von Gesetzen, 321,324,325 Darstellungsweise des Universums, 361 Dauer, 20, 92,93,113,233, 234,291 Deduktion, 62 cartesisch, 66-68 der Kategorien, 206, 207 deduktiv, 106 Demonstration, 151 Dependenz, 268 und Manifestation, 325, 326, 355, 368 Determinismus, 151 omnis determinatio est negatio, 401 vollkommener, 190 Deuteschema religiöses, 415 Deutung, 274,376,381,412, 420,422 religiöse, 414, 420 unprädikativ, 414 und Erleben, 274 von Erfahrung, 415 Deutungsschema, 380 religiöses, 420, 421 Differenz, 41-43,165 Differenzierung, 77, 79,82, 95,210 Binnend., 80 reflexive, 84 Dihairese, 393, 394 Ding, 184,193,198, 264,290,361 überhaupt, 264 an sich, 203, 211, 213, 232, 259, 374 endliches, 19 unendliches, 212, 216,357 Veränderung, 195 Dinge besondere, 41 nicht-existierende, 44 Diskursivität, 9,10, 282, 284, 287 Dogmatismus, 239,294 Effektivität, 104 Ehrfurcht, 316 Eigenschaften = Attribute, 182,186,198,215,217,227 = proprietates, 36, 37, 40 gemeinsame, 81, 86, 87,107 spezifische, 100 Einbildungskraft, 207,227,244, 277,278, 286,300, 301,308 = imaginatio, 100 produktive, 301 Synthesis, 208-210, 303 synthetische, 299

Sachregister Einfachheit, 35, 38,103 Einheit, 357 äußere, 196 absolute, 291,294,295,362-364 abstrakte, 263, 325 am Ganzen, 325,358 der Kirche, 391 der Religion, 404 des Mannigfaltigen, 259 dynamische, 323, 324 einfache, 320 endliche, 368 erfüllte, 263, 324, 325, 353,400 generelle, 324, 325 generische, 291 höchste, 270,420 höhere, 269, 317,362,420 holistische, 358 in der Vielheit, 326, 358 innere, 196 Kategorie, 241 kollektive, 262 leere, 119,263 numerische, 291 substantiale, 53 synthetische, 263 und Vielheit, 175,406 Eins und Alles, 358 Einzigkeit der Substanz, 52 Gottes, 31,169,170 Ekklesiologie, 390,392 Empfindung, 278 Empirismus, 288 Endliches, 7,14,28,142, 213 als Individuelles, 356 einzelnes, 171 Faktizität, 25 und Unendliches, 349 Endlichkeit, 14,15,18 Ganzes, 270 Prinzipien, 223 ens perfectissimum, 33, 36, 51, 52 perfectum, 36,50 Entschluß, 189-191, 334 Erdgeist, 318, 362 Erfahrung, 133 religiöse, 326,416 Erkennen begriffliches, 249,253 Erkenntnis adäquate, 78-90,98,248

451

anschauende, 276,278-282, 284-287,289, 298-300, 308,309, 311 des Unendlichen, 248 figürliche, 278, 279, 282, 284 Gottes, 11, 94,111,119 Grenzen, 246 inadäquate, 74-78, 97, 248 intuitive, 9, 44, 89-139 Fortschreiten, 111,118,121 von Dingen, 113,116,118 reflexive, 79,82,98 symbolische, 280 zeichenhafte, 281,282, 286 Erkenntnisart dritte, 9, 88-139 erste, 9, 74^78 zweite, 9, 80-89 Erkenntnisvermögen, 285 untere und obere, 284 Erleben religiöses, 274,312,411,412 rezeptives, 274 und Deuten, 274 Erscheinung, 206, 211,230, 232-235, 244, 245,269 als Individuation, 372 des Absoluten, 269 einer Kraft, 354 Inbegriff, 208, 241 Objektivität, 234 Prinzip, 269 Reihe, 234 Welt, 259, 261 Erscheinungen, 203, 205, 208,213, 266 Erscheinungsweise, 266 des Absoluten, 268,269,371 des Universums, 372 Erziehung, 328, 329 esse formale, 56 Essenz, 10,15, 24,25,40 aktuale, 20 Bestimmtheit, 23 Definition, 18, 47,114 der Dinge, 18,19, 23,100,102 der Einzeldinge, 14,138 der Gattung, 44, 45,117 des eigenen Körpers, 114,118 endliche, 22 formale, 57,102,124 Gottes, 11,22,42,92,94,95,98,102,104 individuelle, 44-48,117,406 objektive, 57,102,124,182 spezifische, 117

452

Sachregister

Essenz (Forts.) Totalität, 47 von Individuen, 119 Ethik, 2, 317 Evidenz, 63,68 Ewigkeit, 24,35,38,47,94,103,107 des Geistes, 114 Partizipation, 133,134 und Zeitlichkeit, 406 Existenz, 15,19, 22, 25,43 aktuale, 92 Dauer, 93 endlicher Dinge, 46,98 Gottes, 18,31, 33 Limitation, 39 notwendige, 34,35,37, 39, 50,52,293 qua Essenz, 103,104 von Dingen, 18,24,97 exprimere, 32,192,194,195,198,264, 298, 352 Extensio, 50,166,179 Fassungskraft, 66,67,257,265, 372 der Anschauung, 261 Fatalismus, 150,151 Fluß der Dinge, 168,223,245, 389 Folge, 233,234 Idee, 105 logische, 182 rationale, 81, 89 von Erscheinungen, 233, 258 folgen (sequi), 30, 35, 36, 53, 87, 93,114,129 formaliter, 182 objective, 182 unendlich, 101 Fortschritt, 359 Freiheit, 7,121,134, 249,338 Gottes, 134 Freude, 127,133 Friede, innerer, 112,129,133 Funktion, regulative, 293, 294 Ganzes, 316 = Inbegriff, 262 absolutes, 318 der Ausdehnung, 174 der Endlichkeit, 270 der Erscheinungen, 260 der Menschheit, 340, 341 der Religion, 402 Einheit, 325 im Teil wie im G., 79-81, 83, 84, 87, 95 Individuum, 396 Manifestation, 354

offenes, 348 organisches, 165, 323,401 Prinzip, 269 und Einzelnes, 270 und Teil, 95,132,165,166,210, 214,269, 270, 325,353,355,401, 402 unendliches, 265, 358, 359 von Modifikationen, 262,263, 323 Welt, 325 Ganzheit absolut unendliche, 362, 364 aktuale, 344 unendliche, 363 Gattung, 51, 85,170,249, 267,341, 352 Allgemeinheit, 385 der Erkenntnis, 10,13, 86 endlich in seiner G., 19 Essenz, 44, 45,117 Exemplar, 45, 51,52,119 menschliche, 117, 328, 339, 342, 385, 389, 390 unendlich in seiner G., 36,362 Gefühl, 274, 395 des Seins, 149,186,187,189, 225 ontologisch, 186 Gegensätze, 175 Gegenstandsbezug, unmittelbarer, 307 Geist, 150, 355 der Menschheit, 355 der Religion, 355 der Welt, 321,324-326, 355 menschlicher, 74, 80, 82, 90, 97,132, 225, 246 Prinzip der Menschheit, 355 Prinzip des Universums, 355 Geistmetaphysik, 136, 369 Gemeinsamkeit, spezifische, 81,83, 85, 88, 89 Gemeinschaft, 306, 339,389 der Frömmigkeit, 390 der Geister, 339,340, 389 der Heiligen, 391 der Kirche, 391 der Sinnenwelt, 328 religiöse, 390-392, 398 Genie, 276, 277, 280, 281, 304, 308 Geometrie, 99 Geschichte, 327, 329, 335, 346, 347, 354, 355, 359, 381, 383 = Menschheit im Werden, 348 der Menschheit, 328,330, 360,361 der Religion, 382, 392 Metaphysik der G., 331 und Ewigkeit, 392, 405-407

Sachregister Geschmack, 276,281 Gesellschaft, 276, 341, 389 Mikrokosmos der Menschheit, 341 Gesetze, 209, 324 Bewegung, 317 biologische, 318 chemische, 318,319,321, 324 der Natur, 153, 316, 317 dynamische, 317, 321 mechanische, 317 organische, 317 Perturbationen, 317, 318 Gesetzmäßigkeit, 208 Gewißheit, 62,63,65,68,287,420 Glaube, 189,233 Gleichförmigkeit, 328, 356, 400 religiöse, 385 Gott Idee, 240 personaler, 273 theistisch, 417 und Welt, 364, 365 Grund Idee, 105 Satz vom zureichenden, 154,158,167, 168,174, 239 transzendenter, 407 und Folge, 104 Grundfunktion, 105 Häresie, 396 Handlung actio, 126,128 reine, 127 Hen kai Pan, 290,291, 358 Hermeneutik, 327 der Individualität, 376 religiöse der Endlichkeit, 420 religiöse Lebenshermeneutik, 422 Heuristik des Individuellen, 399 Humanum, 85 Ich absolute Selbsthabe, 309 absolutes, 291,294,309 = unbedingbares, 290, 292 empirisches, 292 Idee, 240 individuiertes, 243 Idealismus, 237 gerundeter, 408 kritischer, 7,179,180, 211,216,218,220, 227,229,230,232,234, 235,238-241, 245, 252-256, 258,265,370,408

453

der Erscheinung, 230-233, 235, 237, 240,245,254,258, 282 oder Realismus, 233, 408 spinozistischer, 245 der Erscheinung, 245, 246, 254 transzendentaler, 204, 220, 230,237,245, 293, 333 Ideation, 56 Idee = Vorstellung, 246 ästhetische, 304,310, 311 adäquate, 73 begleitende, 128,130,131 der Idee, 57,71, 73, 80,82, 95-97,101, 115,128,129 der Vernunft, 293,304,311,377 der Welt, 364 des Universums, 378, 420 indirekte Realisierung, 379 deutliche, 72, 73 einzelne, 225 endlicher Individualität, 379 Gottes, 83, 364 inadäquate, 74-78 klare, 72, 73 Modus des Denkens, 177 religiöse, 380, 410, 420 und Affekt, 89,122,123 und Ideatum, 48,57,69, 76,92,93,102, 104, 224, 246 undeutliche, 77 verstümmelte, 71 verworrene, 72 Identität, 27,41-43, 93 absolute, 108,132 der Grundfunktion, 105 des Selbst, 243 in der Differenz, 29,37,47,103,104,115, 134,138, 248, 420 relative, 106 und Differenz, 130,132, 261 Wirkung u. Ursache, 104 imaginatio, 12, 74,97,120,121,128,248, 292 Immanenz, 7, 8,26,133,139,345 d. Unendlichen im Endlichen, 249, 268 Gottes, 27 und Transzendenz, 268, 407 In-Sein, 26, 27 Inadäquatheit, 74-78, 80,91, 92 Inbegriff = Ganzes, 262, 263, 357 der Bildung = Universum, 354 der Erscheinungen, 208, 241 der Religion, 392

454

Sachregister

Inbegriff (Forts.) des Bedingten, 263,343,357 des Endlichen, 262-264 dynamischer Affektion, 323, 340, 342, 401 kollektiver, 263 Individualisierung, religiöse, 384,402 Individualität, 5,142,146,204,307,314,327, 366,416 = religiöse Idee, 380, 410, 420 Aggregat, 387 Bestimmtheit, 367 Bildung, 179, 366 Deutungsprodukt, 420 endliche, 320 Idee, 379, 380 ethische, 178 Exklusivität, 332 im schlechten Sinne, 320 Konfiguration, 332 Konstellation, 335,337,342,344,399 Kriterien, 394 Mischung, 332, 335,337, 344 Partizipation am Ganzen der Menschheit, 341 Perspektive, 387,397 Reflexion, 339 relationale, 320, 395 relative, 367 religiöse, 350,393-400, 407,410,421 Selbstbildung, 339 Subtraktion, 393 Tiefenhermeneutik, 376, 420 und Sozialität, 337 und Totalität, 351, 381 verschiebliche, 367 Wesen, 367 Individuation, 140-271, 327,347, 351 als Erscheinung, 372 der Erscheinung, 228 geistige, 191 geistiger Konstellationen, 399 Grund, 268 in der Anschauung, 231 in der Religion, 402 körperliche, 191 objektive, 205 subjektive, 205 und Partizipation, 405 Individuationsprinzip, 5,156,157,170-172, 177,179,189,197, 200,205, 212,215, 219, 220,222,223, 229,325, 371,398 Attribute, 220 der Erscheinung, 241, 242 Formen der Anschauung, 269

subjektives, 207 von Körpern, 223 Individuum, 74, 75, 84,124,175,191,196, 223,267, 271,282,286,320,322, 334,365 absolutes, 165,166,168,170 als relative Einheit, 178 als Schein, 178 als Vereinigungspunkt, 176,177 Bestimmtheit, 321, 325, 345 Darstellung der Menschheit, 346, 352 der Religion, 396 endliches, 166,171, 195, 201, 319 Essenz, 119 est ineffabile, 380 Ganzes, 396 höherer Ordnung, 85 Konkretion des Humanen, 346 Relation, 336 relatives, 319 religiöses, 402 Schein, 214 und Welt, 271 vollständig bestimmt, 281 von innen bestimmt, 369 Wert, 346 Inhärenz, 32,143,144, 403 d. Endlichen im Unendlichen, 158 gestufte, 189,214,222 kausale, 27 mittelbare, 172,177,184,189, 200, 214, 222-227, 260,271, 353, 362, 403, 404 ontologische, 325, 337 Innen-Außen, 329 intellectus infinitus, 49, 56,59, 82, 83,124,131,133, 187,260,264,343,362 possibilis, 406 Intellekt, 282 Intellektion, 121,128 Intellektualitat, 130, 295 Intersubjektivität, religiöse, 400 Intuition, 62 adäquate, 96,115,137,138 und Deduktion, 10 intuitiv, 105,106 und diskursiv, 10, 282 Intuitus cartesisch, 14, 62-68, 70,287 involvere, 75-77,91-93, 95

Sachregister Kategorie, 283,303 der Kausalität, 239 Einheit, 241 Individualität u. Totalität, 381 Teil und Ganzes, 401 Kategorien, 206-209, 214,239,243, 269 metaphysische, 222 Tafel, 291 Kausalität, 239 göttliche, 15,16,93,138,355 immanente, 15,17,23,25,28,43, 93,103, 107,115,117,130,132,133,269,345,355, 357 Gottes, 13,14,17,90,135,224,268, 296 Kategorie, 239 Prinzip, 296 transeunte, 23,27 unendliche der Substanz, 197 Kirche, 329, 390 Einheit, 391 Menschheitskirche, 391 religiöse Welt, 391 Staatskirche, 390 universale, 310 wahre, 390,391,400,401,404 klar, 71-73,116 extensiv, 281, 285, 286 intensiv, 281 nicht deutlich, 285 nicht klar, 77 sinnlich-klar, 280, 284 und deutlich, 63-65, 70, 73, 79,95,280, 283,288 Körper, 81,177 äußere, 96 eigener, 96 einfachste, 84 komplexe, 84 menschlicher, 74 organischer, 164,358 Teilk., 85 Kommunikation, 306,338-340,345,366, 400,415 religiöse, 306,389-393,400,404,410, 415 wechselseitige, 389,390 Kongruenz, 210 Konkretes = Individuelles, 281,282 Kontingenz, 21 unserer Anschauungsart, 237 Kontinuum, 206,207,209,210, 227,344 der Anschauung, 215,227 der Bewegung, 223 zeitliches, 244

455

Kosmotheismus, 273 Kraft, 193 chemische, 323 produktive, 22 und Darstellungen, 354 und Erscheinung, 354 unendliche, 358 Kunstbetrachtung, 417 Leben, 164, 166, 395 erhöhtes, 348 geistiges, 294,332, 333, 339 höherer Ordnung, 323 inneres, 340, 347 organisches, 323 Polarität, 333 religiöses, 396,407,421 Selbstorganisation, 318 transzendenter Grund, 407 Leib, 196 Liebe, 122,125,129-131, 249,291 Definition, 130 Gottes, 131 intellektuelle, 130 zu Gott, 126 Limitation, 39 Lust und Unlust, 190 Möglichkeit, 217 der Religion, 405 für uns, 217 logische, 217 reale, 217 Macht, 22 Manifestation, 53,108,119,129,132,138, 139 d. ewigen Religion in d. Geschichte, 407 der Menschheit, 354 der Ursache in Wirkungen, 355 des absoluten Grundes, 407 des Ganzen in seinen Teilen, 354 des Universums, 354 Idee, 379 des Wesens in Eigenschaften, 355 partikulare, 368,369 und Dependenz, 325, 326, 355, 368 von Einheit, 403 am Individuum, 405 Mannigfaltiges, 258 Masse, substantielle, 174 Materialismus, 181,183 Materie, 150 unvorstellbare, 199 Mathematik, 99,235,278, 279,301,303

456

Sachregister

Mechanismus, 150,153,154,180 körperlicher, 159 Mensch, 327-328 Menschheit, 270,315, 327-349 Darstellung, 346,349,352 Darstellung des Universums, 360 geistiges Wesen, 329 humane Anlage, 337 im Werden = Geschichte, 348,359 kollektive, 339-342 Kompendium, 341,346 Modifikation des Universums, 359 offenes Ganzes, 348 Perfektibilität, 359 Prinzip, 355 qualitative, 331, 340-342 Teleologie, 348 und Natur, 267, 314,359, 360,367, 371, 381 unendliche, 354 untergeordnete Totalität, 362 Welt, 342 Metaphysik, 1,2,134-139,154, 374,410 der Individuation, 413 des Universums, 413 implizite, 313 Mischung, 178, 271,332,335-337,346, 361, 398, 399,415 chemische, 335,336 geistiger Modifikationen, 336 innere Verbindung, 336 mittelbarer Modi, 336 unmittelbarer Modi, 191, 361 Mitteilung, 338 religiöse, 388, 389, 415 Modi, 48 der Cogitatio, 101 des Anschauens, 265 des Seins, 267 endliche, 172,222 mittelbare, 172 unendliche, 81, 211,215,222,361 unmittelbare, 172 vermittelte, 172 Modifikation, 28,138 der Elemente des Universums, 359 der Freude, 133 der Individuen, 360 der Zentralmonade, 163 endliche, 119 individuelle, 108 Modifikationen Ganzes von M., 262, 263 unendlicher Modi, 189

Modus, 94,132, 265 der Cogitatio, 115 endlicher, 132,190 göttlicher Kausalität, 104 unendlicher, 48, 59, 85,117,132,172, 343 unvermittelter, 83 unmittelbarer, 158 Monade, 159,160,298, 353 Totalmonade, 323 wachende/schlafende, 161,162 Zentralmonade, 163,165,323 Monadologie, 297, 352 Monotheismus, 394 Moral, 1 Mystik, 320 Nachahmung, 277,299, 301,309, 329 Natur, 224 = Essenz, 42 äußere, 315 Absolutheit, 270 belebte/unbelebte, 318 Dinge der N., 155 eigentümliche, 366 Erlebnis, 417 göttliche, 30 Gottes, 182 Inbegriff der Erscheinungen, 208 körperliche, 319 organisches Ganzes, 323 und Menschheit, 267, 314, 359, 360, 367, 371, 381 und Vernunft, 267,362 untergeordnete Totalität, 362 Zusammenhang, 154, 321 natura naturans/naturata, 189, 224 Negation, 401 Nichtvorstellbarkeit unmittelbare des Absoluten, 189,199, 200,251-253,255 notiones communes, 79,81,83,85, 86,107, 118 Notwendigkeit, 20,21,24,25,30, 66,114, 217, 317 Noumena, 202-205, 211, 213, 214, 217-220, 230,236-244,369 Welt der N., 213 Noumenales, 204, 205, 220, 227, 230, 231, 234, 238-241,243-245, 253, 254, 267

Sachregister Noumenon, 203-205, 211,218, 220,227,228, 231,236, 238,240-242,244,253,254,256, 259,260, 266 Erscheinung, 227 individuiert, 241 Welt als N., 204, 239-242, 326, 372 Objekt, 290,291 Objektivierung, 83,101 Ökumene interreligiöse, 391 Offenbaren, 198, 225 Offenbarung, 306 der Menschheit, 354 des Universums, 370 einer Kraft, 354 Ontologie, 14 Ordnung der Modi, 102 der Natur, 46,93 gleichbleibende, 317 höhere, 323 ideelle u. reelle, 55 kausale, 54, 59 ordo geometricus, 88, 89 Organ, 221 organisch, 317 Panentheismus, 28, 29 Pantheismus, 28,29,394 Pantheismusstreit, 4 Parallelismus, 48,54,183,189,191,193 intrakogitativer, 60,101 Spinozas mit Kant, 217 Paralogismus, 204 der Psychologie, 243 Partizipation, 367 am Ewigen, 133,134 und Individuation, 405 perfectio, 33 Perfektibilität, 120 Persönlichkeit, religiöse, 390, 397, 398 Person, 143, 242 Personalität, 142 Perzeption, 64,162,298,353 Phaenomena, 202-205,211, 213, 214,217220,228,230,231,236, 239,260,369 Phaenomenales, 240 Phantasie, 376,396 Physik, 74,81,158, 333 und Ethik, 317 Pluralismus des Religiösen, 422 Pluralität, 368 Poesie, 299

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Naturpoesie, 316 potentia, 113,124 agendi, 123,126,127 cogitandi, 127 Präsenz Gottes, 28 Prinzip des Seins, 268 des Wissens, 294, 295 eines Ganzen, 269 Prinzipien, 65 Priorität, 213 kausale, 213 logische, 213 Produktivität, 22,24 göttliche, 14,93 Prinzip, 24 Proprietät, 84, 86, 89,118 Psychologie, 186, 277 empirische, 276 quatenus, 28,106-108,119,132 ratio, 9,12,14, 80-89, 107,118,120,137, 248, 292 analogon rationis, 285, 286 Rationalismus, 151,154, 288 Raum formaler, 344 Raum und Zeit, 144,206,208, 209, 214,215, 218,219,227, 228,232, 235, 236,238,244, 245, 266,269, 371 als Kontinua, 207,209, 210 Idealität, 234, 235 Individuationsprinzipien, 212 Stellenbestimmtheit, 206 Raum, formaler, 207 Reales und Ideales, 267 Realismus höherer, 408 naiver, 408 unkritischer, 234 Realität, 36, 40,101, 281, 291 absolute, 291 objektive, 301,302 unendliche der Substanz, 198 Reaütätsbewußtsein unmittelbares, 148,149,151 Referenz, 76,96 Reflexion, 2, 73,378 Reflexivität, 9 Regelhaftigkeit, 84 Regress, infiniter, 92

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Sachregister

Reihe, 66 von Erscheinungen, 234, 261 Zeit, 243 Religion, 1,2, 7,145, 212,293, 295,310,329, 375,381,384,392 überhaupt, 404 absolute, 1 als Konkretion des Universums, 410 Anschauung des Universums, 369-381 Einheit, 404 ekklesiologischer Inbegriff, 392 ewige, 407, 410 Funktion, 419 ganze, 404, 405 Ganzes, 402 individuelle, 404 Konkretionen d. R., 275, 350 lebensweltlicher Akt, 419 natürliche, 385, 400 positive, 329,385 systematische, 395 und Theologie, 394 Vielheit, 391 Vorhof, 315 Zugangsweise, 388 Religionsgemeinschaft, 382,397 Religionsgeschichte, 406, 407 Repräsentation, 32,56, 77,124,159,162,187, 297,353 des Körpers, 78 einer Vernunftidee, 305 mentale, 117,123,183,188,194,197, 246, 248 mittelbare, 254 ontische, 194,195 ontologisch, 186 Perzeption, 162 sinnliche, 285, 298 Teil-, 79 vis repraesentativa, 283 res, 58, 79,197, 224, 264, 361, 402 actu existens, 94 essentia, 111 finita, 19 particularis, 41 simplicissimae, 65 Restriktion, 218, 220,235,237,239, 243,246 menschlicher Anschauung, 282, 288, 294, 372 Rezeptivität, 374 der Organe, 221 sinnliche, 288 Reziprozität, 130

Sachhaltigkeit, 36,40,310, 377,402 Schöpfung, 23 Schein, 234 Schema, 303,380 religiöses, 380, 381, 414 Schluß, 87, 88 Schranke der Erfahrung, 232 scientia intuitiva, 5,9,10,12,26, 61,248, 292, 296,419 Seele, 196, 225 des Alls, 166 menschliche, 246 Persönlichkeit, 243 zweite, 78,246-248, 251 Sein = Substanz, 186 ewiges, 291 Selbstanwendung der Religion auf Religion, 382 Selbstbetrachtung, religiöse, 410 Selbstbewußtsein, 152, 204 Selbsterkenntnis, 77,111,112,115,118 intuitive, 116 Selbstzufriedenheit, 130,134 Simultanität, 284 Sinn äußerer, 244,266, 371 fürs Unendliche, 8, 311, 375,417 innerer, 243, 244, 266, 371 religiöser, 385, 421 gebildet, 387 Sinne, 308 Sinnenwelt, 212,234, 259-261, 263,268,372 Sinnlichkeit, 232,235-237,268, 269,277, 282, 283,288,295,302, 310,316,330, 386 Formen, 269 Sozialität, 327, 329, 337,339,383,400 religiöse, 400-402 spinozanisch, 3 Spinozismus der Physik, 333 kritischer, 314 spinozistisch, 3 Stoff der Religion, 386 Streben, 20,47,120,121,123,127,128 Strukturisomorphie, 13,48,54, 90,101-104, 129, 225 Ideen u. Ideata, 55 sub specie aeternitatis, 107,108, 111, 113, 116,120,130,132, 392,407 sub specie universi, 407 Subjektivität, 134,135,138

Sachregister Substantialität, 30 Substanz, 31-33, 37,41,101,169 an sich, 238 Definition, 35, 36 denkende/ausgedehnte, 192 göttliche, 103,291 Grenzbegriff, 253 im Raum, 238 Plural, 51 Suisuffizienz, 52 Sukzession, 155,395,407 von Verdeutlichungen, 284 Syllogismus, 66, 68 Prosyllogismus, 154 Symbol, 304-306,311 der lebendigen Natur, 367 symbolisierendes Handeln, 306 Synthese Spinoza und Kant, 408, 418, 419 Synthesis der Einbildungskraft, 303 System, 359 von Anschauungen, 395 Teil der Totalität, 260 des unendlichen Verstandes, 133 eines Ganzen, 119, 343, 345 organischer, 164 und Ganzes, 132,133,162,269,340, 353, 402 Teilbarkeit der Substanz, 170,173,174,177 physische, 161,203 Teilhabe, 401,403,405 Theismus, 394,417 transzendenter, 7 Tiere, 86 Totalität, 120,314,356-365 absolut unendliche, 364,371 Idee, 379 absolute, 362, 363 der Essenz, 44 des Geisteslebens, 336 des Universums, 362 Einheit in der Vielheit, 326, 358 Einheit u. unendliche Ganzheit, 358 formale Struktur, 363 Realität, 52 und Individualität, 326, 351, 381 untergeordnete, 362, 371 veränderlicher Zustände, 174 von Modifikationen, 174 vorgängig, 411

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Transzendentalphilosophie, 159,187, 204, 211, 212,243 Transzendenz und Immanenz, 407 Trauer, 127 Übereinstimmung, 55 Übergang Affekt, 126,131 Ewigkeit Zeitlichkeit, 406 in die Religion, 386, 405 von Denken und Wollen, 386 überschwenglich, 293 Unanschaubarkeit des Unendlichen, 250 Unbedingtes, 152,153, 290 als Objekt, 291 als Subjekt, 291 Inbegriff des Bedingten, 343 Unendliches, 7,18,101,142,171,213,262, 344,357 als Totalität, 171,356 und Endliches, 184, 349 Unendlichkeit, 30, 35, 38, 357 absolute, 132, 363 aktuale, 343 geometrische, 344 numerische, 343, 356 Ungegenständlichkeit des Absoluten, 7 Universalien, 79 Universalität, 5 Universum, 5,160,162,163,165,166,180, 221,228,271,275,277,307,309, 311,313, 316,349,353,363,364 absolut-unendliche Totalität, 364,371 als Erscheinung gegeben, 374 an sich, 374, 377,379 Deuteschema, 420 Einheit und Ganzheit, 364 facies totius universi, 363 Form religiöser Deutungsschemata, 421, 422 Formel, 318 Grenzbegriff, 414 Handeln des U., 274, 354, 355,370 Idee, 360,363,378,420 indirekte Realisierung, 379 Inbegriff der Bildung, 354 Konkretionen, 275, 314,371,381 tätiges Prinzip, 354 Unmittelbarkeit, 9, 251 des Bewußtseins, 148,152 Unteilbarkeit, 35, 38,103

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Sachregister

Unvorstellbarkeit der Substanz, 226,252 des Unendlichen, 249 Unwandelbarkeit, 317 Ursächlichkeit göttliche, 22 Ursache äußere, 23 formale, 113 immanente, 16 Urteil, 190 bestimmendes, 377 Erkenntnisurteil, 377 Reflexionsurteil, 377 Urteilskraft, 301 Veränderung, 209, 210, 237 Vereinigung, 175,178,333, 334 polarer Kräfte, 320 Vereinigungspunkt, 176 entgegengesetzter Kräfte, 324 entgegengesetzter Modifikationen, 176, 189,196,223,334 geistiger Relationen, 337 relativer, 223,228,320,321,366 Vergegenständlichung des Absoluten, 7 Vergemeinschaftung individuelle Art, 383 religiöse, 382 Vermitteltheit, 148 Vermittlung, 253 von Unendlichem u. Endlichem, 171 Vernunft, 288 = ratio, 86 Adäquatheit, 139 und Natur, 267, 362 Verstand abstrahierender, 318 anschauender, 236,288,293,308, 372 empirischer Gebrauch, 327 endlicher, 189 göttlicher, 49, 236 göttlicher als Urbild, 286 Kritik, 301 und Einbildungskraft, 208 und Sinnlichkeit, 208,277, 283,284,288, 310 und Wille, 172,188-190,193, 225,334 unendlicher, 107,124,133,188, 261, 264266, 268,343 als virtueller Standpunkt, 256, 258 Grenzbegriff, 257,261, 268, 372 Verstandesbegriff, 303, 310, 377

Verstehen, 269, 270, 380, 413 Erfahrung als Darstellung des Universums, 419 etwas als etwas, 376, 412 Verweis, 76, 77, 91, 93-98 Vielheit der Religionen, 391 einförmige, 368 individuelle, 368 unendliche, 30, 359 Vollkommenheit, 33-37,40,50,126,133,287 Steigerung, 127 Vorstellbarkeit, 253 der Attribute, 218, 255 des Absoluten, 199 mittelbare, 200, 370 des Unendlichen, 189 mittelbare, 200,226-228, 253,255 unendliche, 253,256 Vorstellung, 74,194, 235, 247, 307 = Anschauung, 247, 250 anschauliche, 280 bildliche, 279 diskursive, 282 etwas als etwas, 377 intuitive, 282 sinnliche, 298 zeichenhafte, 280 Vorstellungskraft, 283 Vorstellungsvermögen, 235 Wahrheit, 69, 94 ästhetische, 285 adaequatio, 68 convenientia, 68 Kohärenz, 55 Korrespondenz, 49,55,71 Kriterium, 70 ontologische, 137 Wahrnehmung, 151,152 Wechselbeziehung, 222 Wechselwirkung, 319-321, 339,345, 346, 349, 367,389,415 dynamische, 325, 341, 342 endliche, 344, 348 geistige, 345,348 intellektuelle, 339,340 körperliche, 367 kommunikative, 366 partikulare, 343 religiöse, 392, 403

Sachregister Weise, 341 = sapiens, 112 Welt, 162,322, 326 als Noumenon, 204, 239-242, 326, 372 der Erscheinungen, 259, 261 durchdrungen vom Weltgeist, 355 von Gott, 323 Erhaltung, 365 Ganzes, 325 Geist der Welt, 321,324-326 geistige, 270,340 Absolutheit, 270 Idee, 240 Inbegriff dynamischer Affektion, 323, 340,342,401 intellektuelle, 340 körperliche, 269, 270 Menschheit, 342 religiöse = Kirche, 391

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religiöser Begriff, 325 und Absolutes, 268 und Gott, 364,365 und Individuum, 271 Weltgeist, 326, 348, 349, 355 = Universum, 349 Weltseele, 164 Wesen, 35 reales, 36 Wirklichkeit, 217 Wissenschaft, 62,145 Zahl, 51,99,100,109,119,169,170,173,316, 356 Zeichen, 277-281, 284,304,308,376 und Bezeichnetes, 279 Zeit, 187,244,284,291 Zusammenhang, 20 alles Endlichen, 21 Zweck, 180