Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit: Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799 [Reprint 2020 ed.] 3110145952, 9783110145953

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Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit: Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799 [Reprint 2020 ed.]
 3110145952, 9783110145953

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Bernd

Oberdorfer

Geselligkeit und Realisierung von Sıttlichkeit

DE

Theologische Bibliothek Töpelmann

Herausgegeben von OÖ. Bayer : W. Härle - H.-P. Müller

Band 69

Walter de Gruyter : Berlin - New York 1995

Bernd Oberdorfer

Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit Die Theorieentwicklung Friedrich Schleiermachers bis 1799

Walter de Gruyter - Berlin - New York 1995

& Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Teutsche Bibliothek — CIP-Fimbeitsaufnahme

Überdorter, Bernd:

Geselligkeit und Realisierung von Sittlichkeit ; die Theorieenrwicklung Friedrich Schleiermachers

bis 179% / Bernd

Oberdorfer.

— Berlin

;

New York : de Gruyter, 1995 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 69) Zugl.: München, Unm., Piss., 1993

ISBN 3-11-014595-2 NF: GT

ISSN 0934-2575 © Copyright 1995 by Wälter de Gruyter & Co, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und

strafbar.

Das

gilt insbesondere

für Vervielfälügungen,

Übersetzungen,

verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbFl, Berlin

Mikıo-

Meinen fernen Töchtern

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 1993 von der EvangelischTheologischen Fakultät der Ludwig-Maximiltans-Universität München als Dissertation angenommen worden. Sie wurde für den Druck leicht überarbeitet. Ich habe vielfältigen Anlaß zu danken. Herr Prof. Dr. Jan Rohls hat das Entstehen der Arbeit mit wachem Interesse und steter, völlig unkomplizierter, herzlicher Gesprächsbereitschaft begleitet; er hat auch das Erstgutachten erstellt. Herr Prof. Dr. Trutz

Rendtorff hat freundlicherweise das Zweitreferat übernommen. Herr Prof. Dr. Gunther Wenz bot mir als seinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter an der Universität Augsburg die denkbar besten Arbeitsbedingungen; sein Vertrauen

und

seinen

freundschaftlichen

Umgang

empfand

ich

immer

als

Glücksfall im Wissenschaftsbetrieb. Herr Prof. Dr. Dr. Michael Welker hat fast seit Beginn meines Studiums meinen theologischen Weg in vielfältiger Weise gefördert. Er hat mich ın meinem Interesse am jungen Schleiermacher bestärkt und das Wachsen der Arbeit mit Anteilnahme verfolgt. Allen Genannten danke ich von Herzen. Sehr dankbar

bin

ich den

Herausgebern

der Theologischen

Bibliothek

Töpelmann für die Aufnahme in diese Reihe und dem Verlag Walter de Gruyter für die freundliche Betreuung. Die wirklichen Mühen des Korrekturlesens haben auf sich genommen die Heidelberger Kollegin Dr. Sıgrıd Brandt und dıe Augsburger Studentischen

Hilfskräfte Claudia Dunckern, Angela Nüsseler und Stefan Dieter. Ich danke ıhnen herzlich. Kurt Zauner hat mich in Fragen des Schleiermacherschen Lateins beraten. Auch Dr. Alexander Keyserlingk danke ich für seine Hilfe. Der Freistaat Bayern hat mir durch großzügige Stipendien eine finanziell sorgenfreie Studien- und Promotionszeit ermöglicht. Stellvertretend sei hierfür den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Stipendienreferats der

Universität München Dank gesagt. Gewidmet ist das Buch zwei jungen Nachfahrinnen Schleiermachers. Augsburg, ım September 1994

Bernd Oberdorfer

Inhaltsverzeichnis WOLWOLL

eenaneessnnenennnnnenneneneneennsnsntsnenernenennsntessnnnanenseensenssssennnsnenenenn vo

Einführung .................2.2022022s2ssnaneensnennenannenneonnnnnnneneenennnnnnennnenennnnen een l ERSTER TEIL: FREUNDSCHAFT............nescserenssnennensensnunnenrn anne nenn 23 Erstes Kapitel: Fragilität und Kontinuierung: Ansätze zur Formierung von Theorie in den Anmerkungen zur Freundschaftslehre des Aristoteles ...............c nn. 25 Einleitung ...........--.erzsusssssennnennnanennnnnnnnunnanmennnnnnnnnnnnnnnnnn nenne nennen er anenn 25 1.

Empfindung, Pflicht und Freundschaft (Anmerkung 1 und 2)............. 28

1.1.

Wohltätigkeit als reine Pflicht..............2..22ccsesacssensessnneseennneeee een 28

1.2.

Die zwei Faktoren der Freundschaft ......zussserssenenenn onen en nenn ren nn 31

1.2.1.

Wahrnehmung irreduzibler Ändersheit ..................:2es220cssenseeneennen 31

1.2.2.

Kritik und Korrektur von Verhalten und Einstellungen .................... 35

2,

Konfigurationen der Freundschaftstheonie ............02222202222204 Rene 42

2.1

Vollkommenheit und Vervollkommnung: Die Ambivalenz der ethischen Perspektive ...........e222220ssusneserenensaneenennanen nennen nennen 42

2.2.

Resonanzsensibilität und Selbstachtung...........-.4z20r22res Hessens nn e nenn 45

2.3,

Kommunikation von eigener und fremder Individualität und von sittlichen Urteilen: Die drei Gestalten sozialer Resonanz .................. 51

2.4.

Komplexitätssteigerung der Theorie ...........uzssr2useseneeneeneneeenn ern 59

2.4.1.

Überschreitung reiner Zweierverhältnisse ............ccneeneeeeeennen 59

2.4.2.

Temporalisierung und Wechselseitigkeit ...............2er2204sneessees een 62

2,5.

Das entfaltete Konzept der Freundschaft .................24@42200sennen nennen 66

2.6.

Leistungsfähigkeit und Aporien der Konzeption.............-..rsrsrsee ren 70

2.6.1.

Individualisierung und Sozialisierung............e22useeersenenseneeneenenenen 70

2.6.2.

Der theoretische Status unmittelbarer Selbstreferenz .......................70

2.6.3.

Die Herkunft des Tugendwissens............202esssensereeseensneeeensennen nenn 72

2.6.4.

Die Ausbreitung von Freundschaftsverhältnissen..........................-- 14

X

Inhaltsverzeichnis

2.6.5.

Freundschaft - und die Sphäre realisierter Sittlichkeit ..................... 76

3.

Homogenität, Differenz - und Temporalisierung .............2:.cscseeerenn 78

3.1

Charakter ........22222422044enennennsnae nennen nannnanssere een erneenaer ren tere ren 79

3.2.

Temperament..........uessesensenseessensneneeunennnnnnnnnnnnnnnneennnnnnennne anne 83

3.3.

Empfindung ...........:er22222222eereennaenssnereenunn nn nnnnnnur nun nn nn nn nenn 84

3.4.

Verstand ........e22encsenseessuneessnnnnenneneennnnennnnnesnnnnnnennnsennn nennen nen 85

4.

Egalisierungsdynamik: Gesellschaftsstrukturelle Ausstrahlungen der Freundschaft .....................ssu22220s0eenennannnnannnnnnnnnnnensnannen 87

4.1

| 2)

4.2

Familie ........2ccoocsceeenneseenenennnunossnnnenenenaenennennonnnnnnnennensnneanne ann 91

4.3

Herrschaft .............200s0ssessensesensenernnnnenuseneneneennsnsnensnersnenen nen 92

5.

Abschattungen des Aristotelismus ............22es20seoseeneennenene nen nnnnn nen 94

1

89

Zweites Kapitel: Johann August Eberhards Sittenlehre und Vorstellungstheorie ...................... 98 Einleitung. ....essuz2seesssenesessunssesnnenanasnnannnanannnenannennnnnnnennnnnnnnanannenanenne 98 1,

Pflicht zur (Selbst-}Vervollkommnung: Eberhards »Sittenlehre

der Vernunft« ...............- Üeuusuesseeessnesessersensesennssssernnsersnerereeeen 101 1.1.

Die Ethik im Kanon der praktischen Wissenschaften ..................... 101

1.2.

Glückseligkeit und Vollkommenheit...................z2s2sss22s0 ser

k.3.

Der Zusammenhang des ersten moralischen Grundsatzes und der Bestimmung der Wesensnatur des Menschen und der übrigen Dinge...............zssssssensereeeennennseensnannennun ner sn een nennen 106

1.3.1

Der Grundsatz der Selbstvervollkommnung ...........2.:22222sessenres een 106

1.3.2.

Selbstvervollkommnung und Ältruismus ...........22usesssensesnnennennnnn 107

1.3.3.

Selbstvervollkommnung und Gottesverehrung ............2.222sssunneeenn. 109

104

1.4.

Vollkommenheit und Vollkommenheitswissen ..........2....2cecrernenn 111

1.5.

Freundschaft als Konkretion der allgemeinen Menschenliebe ........... 120

2.

Eberhards vorstellungsthevoretische Auflösung und Rekonstruktion der Differenz von Empfinden und Denken..................-ser20sssrnn er 124

2.1.

Vorstellung als ‘Indifferenzpunkt' von Denken und Empfinden ........ 124

2.2.

Denken und Empfinden als Vorstellungsarten................us0ensscnne. 125

2.3.

Übergänge .......ccccacceaaaeeanennnnnenenennnnnnnn nennen nennen nennen 128

2.4

Induktion und Deduktion im Spektrum der Vorstellungen ................ 133

2.5

Charakter und Charakterbildung ............2s2220220e2 een eeneneen sense 139

Inhaltsverzeichnis

XI

Drittes Kapitel: Geselliger Realismus und anthropologische Universalität: Grenzbestimmungen und Grenzüberschreitungen der sozialtheoretischen Ausgangskonstellation ..............22222200esaneeeesneennnnnennnnnennnnenennnnn esse nen nnnen 148 Einleitung ............-222u0escnneneeessenesnnnenuesenennnnenurerennneneser een Lersannenennenne 148 1.

Konvention und Authentizität: Geselligkeitstheoretische Rekonstruktion des Begriffs des Naiven.................z2220220s0sennennn 151

1.1,

Unerwartete Simplizität: »Naiv« als soziales Relationsurteil ............ 151

1.2.

Überraschende Authentizität: Der naive Charakter .............200..00.... 152

1.3.

Naivität und Kultur...........2.22essessaeseessseenesesseesennunenennnnareneeneen 156

2.

Selbstverständigung und Selbstmitteilung: Probleme der sprachlich vermittelten Kommunikation in der Abhandlung »Ueber den Styl«..........20022sensenseesnssennnnnnnnnnnnnnnnennnnnnnnenn nen 158

2.1.

Das Problem der Kommunikation ..........-.2--4s2sH@ne ernennen nennen 159

2.2.

Stilistik als methodische Kontrolle und Förderung kommunikativer Vollzüge .......2ccerssseseneeseeneenennseee Menssnunsssnsnensnessnnenssunnnenneenn 163

3.

Krisis der Ordnungsgewißheit und biographische Integration: »An Ceciliex ......esensenssenenssenennnennnnerneeneennunsnerennenensnnennnsens nennen 167

3.1,

Dissonanz in freundschaftlicher Geselligkeit ...............0.sme ers ren 168

3.2,

Die Krisis der Ordnungsinstanzen ...........z2ssess0cessensennessennenennennn 171

4,

Freundschaft und Liebe zur Gattung: Die Weihnachtspredigt 1791... 181

ZWEITER TEIL: SITTLICHKETT ..................0.20222222sseseeseeeeennanerneenenen 187 Einleitung .................22essuscssenseseeneeenennnennnnneensnnnnnennnnonnnen ernennen ennen nn 189 Viertes Kapitel:

Kontingente Realisierung von Sittlichkeit: Schleiermachers Beschäftigung mit Kant .......................22.r.000..0: nern Keenkneserseneseeseen 193 Einleitung ............cccccaeeeneeneenasenennnenansnnenn ernennen nee er ennnerereerennernen nennen 193

1.

Die Neubestimmung des Verhältnisses von Tugend und Glückseligkeit in der Schrift »Ueber das höchste Gut« .................... 194

1.1.

Die Beurteilung von Schulphilosophie und Aristoteles und die Bedeutung Kants ...................20220s2essenasenaneeneenneneeennnn 194

1.2.

Kulturtistorische Rekonstruktion des Glückseligkeitsbegriffs und Nachweis von dessen systematischer Inkonsistenz................... 20]

Xu

Inhaltsverzeichnis

Der Vernunftbegriff des höchsten Gutes und das reine Sittengesetz ... 204 Die Funktion der Glückseligkeit für das Dominantwerden reinvernünftig konstituierter Verhaltensorientierungen in der Einzelpsyche............2e:sssensusnssesensunosenennenennnnsne rennen nenn 207 Systematisch-kritische Rekonstruktion der Geschichte des Begriffs des höchsten Gutes...........2:22.22202usseesneneeeenanaeeeneenen seen 209 Kants Inkonsequenz..........zusseneunssaensnesessnsnensnnnnerenenenenn nenne son 210 Der Gang durch die »Annalen der Philosophie« ........................... 213 Erträge der historischen Rekonstruktion...................222022202snns2 ee 218 Verdeutlichung des systematischen Ansatzes ............2220cssnessneeneenn 218 Schleiermachers ethikgeschichtliche Urteile im Vergleich zu Eberhards »Allgemeine(r) Geschichte der Philosophie« .................. 220 Die ethikgeschichtliche Beurteilung des Christentums im Zusammenhang der frühen Äußerungen Schleiermachers zur Religion .......zuees22ooosenenneereseeesnaseenerereneneeene nor a euren er aneen 224 Vorstellungstheoretische Rekonstruktion der »EntstehungsGeschichte der Tugend«: Das »Freiheitsgespräch« ................. 228 Fünftes Kapitel: Kausalkontinuum - Zurechnung - Intentionalität:

Die Schrift »Über die Freibeit«.......................eeeenenseenennnenen 244 Einleitung.............2.22220e@2ssessnsenesennnnnnennennnennnnennennennennnnenenennennnne nenn 244 1.

Vorstellungstheoretische Rekonstruktion der Fähigkeit zu Situationstranszendenz ..............2s22ssenseesensenenennenneenannneennennnn nen 248

1.1.

Situationstranszendenz als anthropologische Konstante................... 250

1.2.

Vorstellungstheoretische Implikate der moralischen Verbindlichkeit ..............0044esessenssesnerennnunennnnnn ernennen essen nnenn 254

1.3.

Das Begehrungsvermögen als Instanz der Individualisıerung ........... 260 Der Wert der Person als Summe von Verhaltensbeurteilungen ......... 262 Unparteiische Verhaltensbeurteilung und Interesse am konkreten Anderen ...........2zsusssesessensnnnesenennnenennennneennensunnenensansnnennnnnnnenn 265 Selbstintransparenz und Selbstbestimmung: Das »Freiheitsgefühl« .... 275 Historische Rekonstruktion ............-2uessesessnnennenennnennnnee nennen 279 Determinismus, Indifferentismus, Fatalismus .................02ccccccca... 280

5.2.

Ein neues Stadium der Kant-Rezeption? ....................2220snseneeennnn 288 Freiheit im differenzierten Kontinuum der Welt

Inhaltsverzeichnis

XII

T.

Geselligkeit ...........usssssensesseeseeensensessneneanenennnnuensnennan nennen 303

8.

Individualisierung und Weltregierung .....................222220200s ss

306

DRITTER TEIL: LEBENSSPHÄREN...................nennneeensnsneenseennn 313 Sechstes Kapitel: Realistische Selbstverhältnisse und Phänomenologie der Lebenssphären:

Die Abhandlung »Über den Werth des Lebens« .......ccemeessncseenaneeenenereennn 315 Einleitung ..........re22censensenssenenensnnnsnennnnensnnnnnnsnnnnsnnnnnnserennsnesrennes rennen 315 1,

Die Genese realistischer Selbstverhältnisse...........-..40. 40449 ee HR 320

1.t.

Temporalität .........2222220222eesenesnesnenesnnennesnnnnnneenenenne rennen nenn 320

1.2.

Die synthetisch-reduktive (selektive) Konstitution von Identität........ 324

1.3.

Abstraktion von Gegenwartsinteressen als methodische Bedingung ... 328

1.4.

Probleme der Entwicklung eines Begriffs von der »Bestimmung des Menschen«..............2002s22esssnaeeseneeseennnneeneneren 332

1.5,

Tugend und Glückseligkeit als »doppeltes Ziel meines Daseyns« ...... 335

1.6.

Resignitative Perspektivenverkürzung: Die »Regeln des Verstandes fürs Leben« ........sczussesescorsenseoeosasseneusnnnnusnunennne 339

1.7.

Intimität und Konvention ..............-:.-.2sessessessensensonssenssensnnsnenn 345

2.

Phänomenologie von Lebenssphären .................z.22220s2ssnnenseen nenn 348

2.1.

Arten und Objekttypen der Empfindung ..............222200scseeoeeenne ern 351

2.2.

Die Ambiguität der Objekterfahrung.................2220220s2sseeeeeeenennnn 358

2.3.

Unverfügbarkeit und Verantwortung...................zessssenssssennecenenn 362

2.4.

Gesellschaftliche Differenzen.......................2-222022sessseeseenreeeeen 365

2.4.1.

Sinnliche Eindrücke und Naturbeherrschung...........4022-20sccnaeee nn 366

2.4.2.

Politische Macht ................2222eescessesseenneazeeenensnesenenese ren en

367

2.4.3.

Reichtum und Ehre ............0essersusenseenenanenusnernnnsnensnnenenne ren 369

2.4.4.

Qualitative Differenzierung und quantitative Nivellierung .............. 370

2.5.

Differenzen der individuellen Vermögen und ihrer Entfaltung und Ausbildung ................-..22202sns0sseeenensenenennnnne nenn eneneennenenn 374

2.5.1.

Gesundheit ...........c.ceeseccsssssesnsensensnnnnusnuenenennannnennannenannennen 3753

2.5.2,

Begleitumstände............sersessanssenereeeeenus rer nenne ran nne er enne rn nnn nenn 376

2.5.3.

Bildung ..............cceccescceaeeeaeesennenanensnssnennesonennsenensn anne rennen 377

2.6.

Relativierung der europäischen Verstandesbikdung ..............:........ 380

XIV

Inhaltsverzeichnis

2,7,

Harmonisierung der Lebenschancen als immanente Apokatastasis

3.

Rückblick ..............2222s42u4s0ennennnnne nennen nennen nennen ernennen

Siebentes Kapitel: Historie und Recht als Faktoren von Selbstwahrnehmung und bestimmungsorientierter Existenz...........4-22ssessessessenenennennentaennenneneann Einleitung..............2.220220esssnesesnsnnnnannnnnsnnnnnnnnnnennnnensnnnensnenesernennnn 1.

Geschichtliche Integration der Selbsterfassung: »Über den Geschichtsunterricht«..........2220424404080snsannennesennneanen nase nen

1.1.

Historie als Rekonstruktion der Genese »dessen, was ist« ..........

1.2.

Stetigkeit des Geschichtskontinuums und perspektivische Selektion gegenwartsrelevanter Ereignisse..............24202ssnsnenen

1.3.

Hinführung zu selbständiger Selbstorientierung ......................

2.

Staat, Recht - und bestimmungsgemäße individuelle Existenz: Die Abhandlung »Philosophia politica Platonis et Aristotelis« .....

2.1.

Die 'Historisierung' der Klassiker ............-...42@0ssenssceenenenenenn

2.2,

Die Begründung des Staats auf das Recht und die Ausdifferenzierung von Staat und individueller anthropologischer Bestimmung .

2.3.

Darstellung und Beurteilung von Platon und Aristoteles ............

2.3.1.

Platon: Die Tyrannis der Tugend

2.3.2.

Aristoteles .....ccoocceeeeesseeannseenennennsse rennen nun ne nennen near eren

CET

EETEerTERE

VIERTER TEIL: METAPHYSIK DES ENDLICHEN

TE

EEE

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.....................0....

Achtes Kapitel: Phänomenalität von Individualität, kulturelle Determination und unmittelbares Realitätsbewußtsein: Schleiermachers Jacobi- und Spinoza-Studien .............-44442HHHH Henn rennen nme nn nennen nn nenn Einleitung..............0222002cssessensesennennensnenenennuneennnnnnnnnennnnennnnn nennen 1.

Geschichtlichkeit der Vernunft, unmittelbares Selbst- und Objektivitätsbewußtsein und vorreflexive Gottes- und Freiheitsgewißheit: Die Jacobi1-Exzerpte .............220cssssnnenenenn

1.1.

Geschichtlich-kulturelle Determination als anthropologisches

AXIOM euaeeneensuasennunsanennnnnentnnnnnansernnnnttnnnneesennnet rennen 1.2.

Ursprüngliche Abhängigkeit und wesentliche Freiheit...............

1.3.

Vorreflexive Selbst- und Objektivitätsgewißheit .....c.scsesereneerene

inhaltsverzeichnis

2.

Der »Fluß der endlichen Dinge« .................zzz220222eseranneeennnee nenne

2.1.

Radikale Phänomenalisierung der Einzeldinge.............-..----.r.20.

2.2.

Personalität und Selbstbewußtsein............222rssrsenrenseanenereeeer een

2.3.

Metaphysik des Endlichen ...........--.-.ersur0en0snssnnnenennnnnenn nennen

3.

Inhärenz des Endlichen im Unendlichen: Der Neuansatz der Theologie als Funktion der Kosmologie..............z..erersnrereneres

3.1.

Rekapitulation von Schleiermachers bisheriger Kritik der Theologie und von seinen Versuchen eines Neueinsatzes...........

3.2.

Spinozas Kritik eines persönlichen, extramundanen Gottes .............

3.3,

Jacobis nicht-theistischer Theismus .................022sssesssesseeenenen nen

FÜNFTER TEIL: GESELLIGKEIT..........................nneeennenensnen Einleitung ...............22222202s0sseenenensenenenneseneneneennnennennnnnsner nassen seen een Neuntes Kapitel: Selbst-Bildung und Gestaltung der sozialen Welt: Die Entwürfe, Fragmente und Gedankenhefte 1796-99 ...........uuusuessnensenensnenennnennnnnennnenen l.

Intersubjektivität und Recht................2scsessseennsnaenesnenennnner nennen

1.1.

Soziale Verbindlichkeit von Selbstfestlegungen: Die Texte zur Vertragstheorie..........222sssessensenennennennunesnenennenennennennnnn nennen

1.2.

Probleme der Legitimation politischer Herrschaft.........................

1.3.

Staat und Privatsphäre ........uzesressnsesnunsenensennenesnnrnunsornnnsn rennen

2.

Ethik und Sozialität................2.2susssnseeseeneensenensennenennnnsnenensnnnn

3.

'Menschenkunde' ..............20cssssssssensosseenenennnennnnnnenennenannean san

Zehntes Kapitel: Geselligkeit: Individualität und Öffentlichkeit ...............-..2.02n20n00eneeeereneen 1.

Kritik der unmittelbaren Selbstexpression ..............22r2202s@20 essen

2.

Die Sozialform der freien Geselligkeit ...............2urssseesnseensneneen

3,

Theorie des geselligen Betragens .............4rersssessnenereneneennane nern

4.

Rückblick...................0.22220220sssseessnnenenenennnnnsnennnnennennen nennen

5.

Zwischen Konvention und Authentizität: Anstand und Schamhaftiekeit ................22uessseneesasannsessnnnenesnerannnesnnner rennen

5.1.

Habitualisierte Sittlichkeit...................02022020000 ses nenennannnen nennen

5.2.

Authentische Selbstzurücknahme .................22202220ssnessseennasnennaen

AVI

Inhaltsverzeichnis

SECHSTER TEIL: AUSBLICK ...................202222442040 nen nnennnen nen nennen sonen >19 Elftes Kapitel: Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung im Universum: Ausblick auf »Reden«, »Monologen« und »Vertraute Briefex................ 20.00. 521 Einleitung.........2ussessessesenesensenseneneennennensersennennenernenseneneesnsesnneensne nenn 521 1.

Partikulare Realisierungen der individuell-sozialen Bestimmung des Menschen ............... Kansnnennesesnnensnssnsnnsnennennsneenssansnanenannnen 523

2.

Singularität und Relationierung .................uzususnseeeseneeeeeeneeeenennn 531

2,1.

Evolutionäre Rekonstruktion.............zessnseneseneenneenennnnannnnnnnnnnn 532

2.2.

Moment und Kontinuierung................2222222s0esseneeennennnnenenn anne 536

2.3.

Individualisierung und Vergesellung .....................ccsesssssenssneaen 539

2.4.

Autonomisierung und Vernetzung ..........eesueescenseanansennenennsaenenenn 543

2.5.

Liebe als Prinzip des universalen Zusammenhangs ....................... 546

3,

Interaktion und Institutionen .........ussereeesseseneeneessnnennene een ne nennen 548

ANHANG

........220esessusessnessnssnnennuennnnnnnenennennennnennnnnnenenennnen nennen nnnn 553

Verzeichnis der für Werktitel verwendeten Abkürzungen ........................... 555 Literaturverzeichnis ..........-24s40@ssssnneeneneneernnnennnnerenennenennnnnnen nennen nennen 556 Namensregister ..........zucsssssnssesnenennsneennnenenneneennn Kennunsenuunsnennnenerenennn 368

Einführung Die Wahrnehmung Schleiermachers in der Theologie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend abgelöst von den Problemstellungen, die mit der scharfen Kritik der Dialektischen Theologie der zwanziger Jahre an Schleiermachers vermeintlich die Gottheit Gottes schon methodisch verdunkelndem und den Glauben zu einer Möglichkeit der natürlichen Welt verfälschendem Anthropozentrismus gegeben war. Nicht nur ist deutlich geworden, daß eine solche Deutungsperspektive dem Ansatz und der Differenziertheit

vermag.

von

Das

Schleiermachers

Denken

selbst nicht gerecht

neue Interesse an Schleiermacher

gegenwartsbezogen

begründet

mit den

zu werden

wird vielmehr

Anforderungen

an

durchaus

Theologie

und

Kirche ın der modernen westlichen, pluralistischen Gesellschaft der Nachkriegszeit; Schleiermacher erscheint dabei als ein Denker, der auf der einen

durch

Seite die moderne

autoritär

Befreiung

normsetzende

des Einzelnen

Instanzen

und

aus der Bevormundung

Institutionen

auch

für die

Religion theoretisch erfaßt hat, dessen Werk auf der anderen Seite aber die

Interferenzen von Religion und Kultur sowie die Funktion der Kirche als Institution in Interdependenz mit anderen Institutionen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft präziser zu beschreiben erlaubt, als es mit einem theo-

zentrisch hierarchisierten Diastasen-Modell möglich ist. Merkwürdigerweise ist die gängige Schletermacherrezeption auch in diesem Problemkontext sehr stark am Leitbild des /ndividuums orientiert geblieben!. Sie betont mithin den genannten ersten Aspekt und liest die kulturelle, sozialtheoretische Dimension allenfalls als Konsequenz aus der vermeintlich ursprünglichen Einsicht in die religiös radikalisierte, alle innerweltlichen Relationen relativierende Individualität des Einzelmenschen. In der Schleiermacher-Forschung bildet sich dieses Gefälle ab in dem bevorzugten Interesse, Schleiermachers Denken individualitätstheoretisch, ge-

fühlstheoretisch, subjektivitätstheoretisch zu erschließen. Dabei ist nicht die

l

So endet etwa Th. Lehnerers Schleiermacher-Beitrag {mit dem Titel »Religiöse Individualität«) ın dem von F.W. Graf herausgegebenen Sammelband »Profile des neuzeitlıchen Protestantismus« (Band I, Gütersloh 1990, 173 - 201, hier: 193} mit dem Resümee, es sei »die übergreifende Intention« von Schleiermachers Denken, »dem Individuum absoluten Wert beizumessen«.

2

Einführung

Berechtigung derartiger Untersuchungen (nicht notwendig

damit verbundene)

problematisch?,

Anspruch,

sondern nur der

hier ser die grundlegende

und maßgebende Struktur für Schleiermachers Theoriebildung überhaupt gefunden. Denn dann müssen Sozialtheorie, Geseliigkeitstheorie, Ethik (im Schleiermacherschen

Sinn einer umfassenden

Kultur-

und

Geschichtstheo-

rie) einer als basal herausgearbeiteten, abgeschlossenen Denkfigur als wenngleich notwendige Folge-Aspekte gleichsam nachträglich zugeordnet und angegliedert werden.

Eine solche Schleiermacher-Rezeption erreicht aber weder (a) die Komplexität des Denkens des reifen Schleiermacher, noch entspricht sie (b) den Dokumenten der Genese von Schleiermachers Denken vor seinen ersten Publikationen, welche Dokumente erst seit 1984 in den Bänden [/l und 1/2

der Kritischen Gesamtausgabe vollständig zugänglich sind?. Sie arbeitet zudem (c) mit stark reduktiven Parametern zur Erfassung der Entstehungsgeschichte der Neuzeit, blendet etwa sozialstrukturelle Veränderungen und Veränderungen der reflexiven Thematisierung sozialer Verhältnisse als relevante Faktoren auch für neuzeitliche Theoriebildung aus. (a) Das Theoriegefüge des reifen Schleiermacher läßt sich keineswegs

einlinig aus seiner Theorie des unmittelbaren Selbstbewußtseins als des den Einzelnen

aus seinen

innerweltlichen

(vermittelten;

Bezügen

herausindivi-

dualisierenden »Gefühlfs) schlechthinniger Abhängigkeit«* entfalten. Dem widerspricht nicht nur die allgemeine Einsicht, daß Schleiermacher wissenschaftliche Zuordnungsprobleme

die

irreduzibel

doppelte

nicht durch Hierarchisierung

Perspektive

der

löst?. Schon

Religionskonzeption

in

den

»Reden«, die die strikt individuelle und auch zeitlich momenthaft-singuläre

Universumsanschauung notwendig verbindet mit der Gemeinschaftsbildung

2

Vel. nur K. Cramer: Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins. In: D. Lange (Hg.): Friedrich Schleiermacher 1768 - 1834. Theologe - Philosoph - Pädagoge. Göttingen 1985, 129 - 162; J. Rohls: Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Zu Schleiermachers Religionstheorie in der »Glaubenslehre-. In: K.-V. Selge (Hg.): Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Teilband 1. Berlin - New York 1985, 221 - 252; U. Barth: Christentum und Selbstbewußtsein. Göttingen 1983. Beide Bände herausgegeben von G. Meckenstock und erschienen Berlin - New York 1984: 1/1 Jugendschriften 1787 - 1796; 1/2 Schriften aus der Berliner Zeıt 1796 - 1799.

4

Der christliche Glaube, 2. Auflage, $ 4 (dort allerdings »schlechthinnigefs] Abhängigkeitsgefühl«; die zitierte Version erst $ 5,2).

3

Vgl. dazu M. Welker: F.D.E. Schleiermächer: Universalisierung von Humanität. In: J. Speck {Hg.): Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit II. Göttingen 1983, 9 - 45, hier: 14.

Einführung

3

durch wechselseitige Mitteilung solcher Anschauungen® und die dabei sogar die

Gewinnung

personaler

Kontinuität

in den

Zusammenhang

selbstseli-

gierter Anschlüsse an eigene und fremde Universumsanschauungen stellt, zudem die 'Selbst-Findung’ empirisch-biographisch ım sozial verfaßten Lebensprozeß des Einzelnen verortet, zeigt vielmehr an, daß Schleiermachers Individualitätskonzeption seibst mıt der Relation 'entweltlichtes' Individuum - Universum nicht hinreichend bestimmt werden kann, und auf-

grund der biographisch-genetischen Verortung auch nıcht mit dem bloßen abstrakt-formalen Hinweis auf die 'Relationalität' der Struktur Individualität. Dies wird bestätigt durch die innere Architektur der »Glaubenslehre«, die nicht nur (worauf Schleiermacher selbst hinwies’), sehr viel stärker von der Christologie her entworfen ist, als es der Ausgang von den

»Lehnsätzen« aus anderen Wissenschaften anzunehmen nahelegt, sondern die ebenso - durch die kirchliche Lozierung der Glaubenslehre, durch die starke Betonung des »Gesamtlebens« in der Beschreibung des »frommen Selbstbewußtseins« sowohl im Stand der Sünde als auch ım Stand der Gnade, mithin durch die hohe Beachtung sozialer Vermittlungs- und Bildungsprozesse - die Bestimmung des Glaubens als »unmittelbares Selbstbe-

wußtsein« sehr vıel deutlicher ın dıe Behandlung sozialer Vollzüge und geschichtlich-evolutionärer Prozesse integriert, als es die isolierte Betrachtung der $$ 3 und 4 der Glaubenslehre suggeriert; diese Paragraphen sind im übrigen

Betrachtet von

Lehnsätze aus der Ethik, die den Begriff der Kirche erheben®,

man

darüber

Schleiermachers

Hermeneutik

hinaus

Dialektik

als Theorie

den kommunikationstheoretischen und

erkennt,

interpersonalen

und

daß

Ansatz

Schleiermacher

interkulturellen

seine

Verstehens

entwirft, so ergibt sich ein im weitesten Sinne sozialtheoretisches Leitinteresse, das sich in allen Dimensionen der Theoriebildung artikuliert. Da

Schleiermacher dıe Zrhik als umfassende Theorie der sozialen Handlungssphären, als "Kulturtheorie', konzipiert und da ın der Ethik sowohl die Wissenschaft selbst als auch die anderen (in den verschiedenen Wissenschaften wiederum erfaßten) sozialen Handlungsfelder - Geselligkeit, Staat, Ökonomie - thematisch werden, kann man sie durchaus zwar nicht als

Vgl. Welker,

Universalisierung,

19.

Vgl. das zweite Sendschreiben an Lücke,

SW

ders 605f. und 611. Neu veröffentlicht in: KGA 8

1/2, 605

- 653,

hıer: 605

- 611, beson-

1/10, 337 - 394, hier: 337 - 344,

Vgl. Der christliche Glaube, 7. Auflage Berlin 1960, $ 2,2 und $ 3.

4

Einführung

basale, aber doch als integrativste und deshalb zentrale Bezugsgröße von Schleiermachers reifem Denken ansehen?. (b) Bereits ein oberflächlicher Überblick über den Textbestand der »Jugendschriften« (KGA

Y/l) und der »Schriften und Entwürfe« der Berliner

Zeit bis zum Erscheinen der »Reden« (vgl. KGA 1/2) belegt jedoch, daß auch Schleiermachers Anfänge weder quantitativ überwiegend noch zeitlich ursprünglich durch die Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen bzw. wissenschaftstheoretischen Fragestellungen!® oder mit moralphilosophischen Grundlegungsproblemen!! gekennzeichnet sind. Von der allerersten überlieferten Arbeit, den Anmerkungen zur Freundschaftslehre des Aristoteles (KGA //1, 1 - 43), spannt sich ein Bogen zu dem unmittelbar vor den »Re-

den« verfaßten und publizierten »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« (KGA 1/2, 163 - 184); dieser Bogen symbolisiert eine Kontinuität des Interesses an der Erfassung der Konstitution von und der kommunikativen Prozesse in spezifischen, noch näher zu bestimmenden Sozialformen, ein Interesse, das sowohl in den zwischen diesen Arbeiten entstandenen Texten immer wıeder in vielfältigen Facetten aufscheint, wie es auch ın den »Reden« in der Beschreibung der (wahren) Kirche als der Kommunikationsgemeinschaft religiöser Anschauungen erneut begegnet. Dieses ursprüng-

liche und kontinuierliche sozialtheoretische Interesse ist in der Erforschung 9

So im übrigen schon E. Hirsch: Geschichte der neuem evangelischen Theologie. IV. 4. Auflage Gütersloh

10

Bd.

1968, 555.

Diesen Eindruck erwecken besonders die beiden parallel entstandenen Arbeiten zum Wissenschaftsverständnis des jungen Schleiermacher: F. Weber: Schleiermachers Wiıssenschaftsbegniff. Eine Studie aufgrund seiner frühesten Abhandlungen. Gütersloh 1973, E. Herms: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaf-

ten bei Schleiermacher. Gütersloh 1974. Herms abstrahiert allerdings methodisch vom materialen Duktus der Texte, beansprucht also gar nicht, ein Bild, eın facettenreiches Profil der Theorieentwicklung des jungen Schleiermacher geben zu wollen. - Implizit entsteht ein solcher Eindruck

freilich nahezu

zwangsläufig

dort,

wo die Auseinander-

setzung mit Kant als der entscheidende Aspekt von Schleiermachers Frühwerk aufgefaßt wird, also in weiten Teilen der Sekundärliteratur. Eine Ausnahme ıst hier G. Meckenstock: Deterministische Ethik und knıtische Theologie. Die Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant und Spinoza 1789 - 1794. Berlin - New York 1988, der den Kant der «Kritik der praktischen Wernunft« als wichtigsten Bezugspunkt wählt. Dazu weiter die folgende Anmerkung. ll

Meckenstock erreicht den Eindruck der Dominanz einer Grundlegungsorientierung nur durch die Eliminierung mehrerer Texte aus dem Untersuchungsgegenstand, was er ganz zirkulär damit begründet, diese » Ausarbeitungen« hätten »vom sachlichen Gewicht her eher margınalen Charakter«, da sıe die »materiale Ethik« nicht ın Richtung auf die »Prinzipienfrage«, die »Grundlegungsproblematik von Sıttlichkeit« verließen (22) und daher nichts beitrügen zur Erhellung von »Schieiermachers argumentative(im) Beitrag zu den neuzeitlichen Konstitutionsfragen« (21).

Einführung

5

von Schleiermachers Frühwerk bisher weitgehend unbeachtet geblieben; jedenfalls wurde es in seiner Bedeutung für 'Grundentscheidungen' seiner Theorieentwicklung kaum erkannt. Dies entspricht genauestens der mangelnden Rezeption der reifen Ethik, deren Schlüsselstellung für Schleiermachers Denken durch jenen Befund doch ihrerseits bestätigt wird. (c) Dabei ermöglicht die Einsicht in die elementare sozialtheoretische Orientierung Schleiermachers,

sein Denken

und dessen Genese im Zusam-

menhang umfassenderer Konzeptionen der neuzeitlichen Umformungsprozesse zu rekonstruieren,

als es die Konzentration

auf dıe Vergewisserung

des Wissens im Selbstvollzug des Subjekts vermag. Soziologisch läßt sıch diese Umformung etwa als gesellschaftsevolutionärer Übergang aus einer stratifizierten in eine funktional differenzierte Gesellschaftsform beschreiben und für verschiedene Teilbereiche verfolgen.

Vor diesem Hintergrund

wird Schleiermachers Frühwerk in seiner sozıaltheoretischen Imprägnierung lesbar als Reflexion (oder vorsichtiger: als Reflex) gesellschaftsstruktureller Entwicklungen und als Arbeit an Theorieformen, die diesen Entwicklungen sowohl

entsprechen

als auch

sie begrifflich

zu erfassen

erlauben

und

da-

durch ihrerseits verstärken. Dies ıst dıe (vorerst noch ganz vage) Ausgangsunterstellung der vorliegenden Untersuchung zum Frühwerk Friedrich Schleiermachers. Diese Unterstellung verdankt sich neben Beobachtungen am Hauptwerk vor allem Wahrnehmungen am Frühwerk selbst. Sıe konkretisiert sich zu einer differenzierten /nterpretationsthese und Untersuchungsperspektive in der Analyse der frühesten überlieferten theoretischen Arbeit Schleiermachers selbst, den bereits genannten Anmerkungen zur Freundschaftstheorie des Aristoteles (Nikomachische

Ethik,

Bücher

VII

und

IX).

Dieser Text offenbart

eine bereits sehr komplexe Konzeption der Kommunikation und Gemeinschaftsbildung, wobei in dieser Gestalt von Sozialität /ndividualität einerseits respektiert und gefördert wird, andererseits eben dadurch allererst die Bedingungen ihrer Realisierung und Entfaltung erfährt; umgekehrt konstituiert und kontinuiert sich dıe Sozialform der Freundschaft allererst in den Vollzügen der Kommunikation von Individualität. Individualität wird also

beı Schleiermacher bereits ursprünglich ım Zusammenhang der Beschreibung einer Sozialform thematisch, in der sıe sıch entfalten kann und ohne dıe sie unentwickelt bleibt bzw. wieder verkümmert und dıe umgekehrt nur in diesen Entfaltungsprozessen besteht. Entsprechendes gilt von der Ethik: Sıttlichkeit kommt hier zur Sprache im Zusammenhang von individuellen und sozialen Instanzen ıhrer Förderung

eben Freundschaft),

(moralisches Gefühl,

also nicht unter dem

Religion und

Aspekt ihrer Begründung

und

6

Einführung

nicht unter Abstraktion von den Vollzügen der konkreten Ausführung

Handlungsimpulsen, die immer in sozialen Bezügen

steht, soziale Bedin-

gungen und Umstände zu berücksichtigen hat. Diese ıntern bereits sehr anspruchsvolle Konzeption

erwartete Tiefendimension

durch

von

eine

un-

die sozialgeschichtliche Bedeutung

gewinnt

des

Phänomens und der Semantik der Freundschaft für den Übergang von der ständischen zur bürgerlichen bzw. von der stratifizierten zur funktionsdifferenzierten Gesellschaft. Schon 1936 hat der Germanist Wolfdietrich Rasch gezeigt, daß Freundschaftspraxis und Freundschaftssemantik ım 18, Jahrhundert eine Anfangsgestalt des Aufbaus neuer sozialer Verbindlichkeit nach dem Zusammenbruch der Plausibilität ontologischer Wirklichkeitsvergewisserungen und über Herkunft gesteuerter sozialer Hierarchisierungen darstellen, wobei Motive der Aufklärung (allgemeine Gleichheit aller Menschen,

Menschenwürde

Pietismus

jedes

(wechselseitige

Exemplars

Mitteilung

der

Gattung

individueller

Mensch)

und

des

Glaubenserfahrungen)

zusammenfließen!?. Die Sozialform der Freundschaft - und deren reflexıve Verstärkung durch literarisch-idealisierende Darstellung und Theorie - ıst, bezogen auf das Deutschland des 18. Jahrhunderts, eine spezifische Entwicklungsstufe in der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist Ferment der Entwicklung und zugleich erste partikulare Realıisierungsgestalt. Sıe ıst Surrogat gegenwärtiger und zugleich Modell zukünftiger Gesellschaftsgestaltung. Gerade ihre gegenwärtige Margınahtät verschafft ihr den Freiraum, sıch nach eigenen Gesetzen zu stabilisieren und so erst expansionsfähig zu werden. Sie ist mithin gerade als Rückzugssphäre Gesellschaftsmodell. Von der Mitgestaltung der polirischen Verhältnisse war das Bürgertum, obgleich wirtschaftlich eine aufstrebende und unentbehrliche Macht, aufgrund des absolutısti-

schen Regıerungssystems und der ständischen gesellschaftlichen Gliederung weitgehend ausgeschlossen. Nicht zufällig ist Freundschaft als Alternative zur höfisch-konventionellen

12

Lebensform

das

Thema

der

literarischen

Öffentlichkeit,

y gl. dazu und zum folgenden W. Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung ım deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Halle 1936, besonders I - 111; femer F. Tenbruck: Freundschaft. Ein Beitrag zur Soziologie der persönlichen Beziehungen. In: Ders.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne. Opladen 1989, 227 - 250, W. Mauser: Geselligkeit. In: K. Eibl (Hg.): Entwicklungsschwellen ım 18. Jahrhundert. Hamburg 1989 (= Aufklärung, Heft 4/1), 5 - 36; N. Luhmann: Wie ist soziale Ordnung möglich? In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik.

Band

Codierung

von Intimität. Frankfurt {M)

Aufklärung,

2.

Frankfurt

Absolutismus

(M)

und

1981,

195

- 285;

Ders.:

Liebe

als

Passıon.

Zur

1982, besonders 97 - 106; R. Grimminger:

bürgerliche

Individuen.

Über

den

notwendigen

Zusammenhang von Literatur, Gesellschaft und Staat in der Geschichte des 18. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1689 - 1789. München deutschen Literatur vom

- Wien 1980 (= Ders. |Hg.]: Hansers Sozialgeschichte 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Band 3}.

der

Einführung

7

jener Kommunikationssphäre der Gebildeten, die das Bürgertum zu etablieren begonnen hatte und die es dominiertel?. Die literarische Öffentlichkeit ist selbst schon eine Konkretionsgestalt jener ın ihr postulierten Sonderöffentlichkeit der Freundschaft, in der differente Achtungskniterien gelten sollten: Sein statt Schein, Authentizität des Menschseins an sich statt Identität qua Standeszugehörgkeit, Kommunikatıon als Seibstexpression statt konventionsgebundener Konversation!#. Der Anspruch auf Geltung dieser Achtungskriterien ist freilich nicht auf die partikulare Gegenöffentlichkeit beschränkt; daß sie ın den herrschenden Kreisen von Hof und Adel nicht gelten, spricht gegen diese, Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft und Expansionsdynamık des Gegenmodells gehören zusammen. Nun sind ebenso wie die faktische Etablierung einer partikularen "Gegengesellschaft’ sowohl die darin postulierten Leitonentierungen als auch der Anspruch, nur aus einer so orientierten Partikularformation und mithin nur aufgrund von intersubjektiv dergestalt stabilisierten Plausibilitäten könne neu tragfähige gesamtgesellschaftliche Ordnung entstehen, Reflex eines ideengeschichtlichen Paradıgmenwechsels, der in allen sozialen Bereichen als Plausibilitätsverlust von als übergeordnet gesetzten, als unbefragbar und konsensunabhängig gültig geltenden, 'ontologischen' Sinnzusammenhängen erkennbar und virulent wird und nach Alternatıven der Vergewisserung und der Ördnungsbildung suchen läßt. Hatten ın den Naturwissenschaften Beobachtungen und Berechnungen eine philosophisch deduktive Astronomie und Kosmologie nicht nur in Einzelerkenntnissen erschüttert, sondern geradezu als Methode ersetzt, so war ın der Philosophie Descartes’ rationalıstische Rekonstruktion der philosophischen Inhalte über die unbedingte Selbstgewißheit des denkenden Ich nur der erste Schritt einer Knitik erfahrungsunabhängiger Existenzversicherungen, der selbst wiederum als ontologısch kritisiert und empıristisch überboten werden konnte, Wichtiger - bzw.: unmittelbarer wichtig - für die gesellschaftsstrukturelle und sozialtheoretische Entwicklung des 18. Jahrhunderts wurde freilich die Destruktion der Plausibilität des kirchlichen Dogmas und deren Ersetzung durch die je individuelle Selbstvergewisserung in der unmittelbaren Gottesbeziehung im Pierismus sowie der Entzug der Legitimation für eine starr ständisch strukturierte Gesellschaftsordnung in der Aufklärung. Beide Entwicklungen forcieren freilich zunächst eine Isolierung des Einzelnen, eine Atomisierung der vorfindlichen Gesellschaft. Der Pietismus löst die christliche Glaubensgewißheit von der Zugehörigkeit zur verfaßten 'Heilsanstalt" Kırche, dıe Aufklärung abstrahiert den Bezugsranmen der Existenz der Einzelnen hin auf die Gartung, die Menschheit, die sıch in den einzelnen Exemplaren, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung

als

Menschen

an

sich

betrachtet,

realisiert.

In

beiden

Gestalten

verliert

dıe

vorgegebene gesellschaftliche (staatliche und kirchliche) Ordnung wenigstens dem Anspruch nach ihre prägende Wirkung auf den Einzelnen ın seiner Selbstbeschreibung. Problematisch wird dann, wıe Sozialıtät theoretisch begründet und vor allem praktisch gelebt wird. Die ımmer noch verpflichtende Teilnahme an gegebenen Sozialformen wırd als Entfremdung erfahren. Diese Erfahrung wird ım

13

Zur Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit vgl. J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied 1962. Vgl. aber die einschränkende Bemerkung bei Mauser, Geselligkeit, 18 (Anm. 29).

14 Vgl. ähnlıch Mauser, Gesetligkeit, 25: »Gleichheit statt Rangabstufung, Freiwilligkeit statt Anordnung, Verdienstbewußtsein statt Gratifikation, Vernünftigkeit statt Willkür, Vertrauen statt Angst, Empathie statt Affekt.«

8

Einführung englischen Puritanismus in gewisser Weise radıkalisiert und prinzipialısiert: keine irdische Bindung darf als nicht-entfremdet gedacht und als sie selbst anderen vorgezogen werden; das Liebesgebot gilt universal und vergleichgültigt eben deshalb alle konkreten Sozıalverhältnisse, Der deutsche Pietismus geht diesen Weg nicht. Sozialität kann er aber nicht mehr als Integration in ein festgefügtes Ganzes fassen; sie muß vielmehr aus Einzelkommunikationen religiöser Erfahrungen und Bekenntnisse emergieren. Ihr Bestand wird abhängig vom Fortdauem und von der Ausbreitung solcher Kommunikationen. Der Glaubensindividualismus laßt aber dıe Begründung

der Geselligkeit labil bleiben; deren »verbindende(s) Prinztp« ist ja »gerade das, was ım Grunde den einen vom andern trennt, die private Gottesbeziehung, die er mitbringt«15 . Sozialität hat hier die Aufgabe der wechselseitigen Förderung und Stabilisierung religiöser Individualität, wovon die Notwendigkeit - abgesehen vom Liebesgebot - ın der faktischen (und auch hamartiologısch begründbaren) Unmöglichkeit solitären Durchhaltens der Gottesbeziehung gesehen wird. Das Interesse an der Kommunikation persönlicher Glaubenserfahrungen trägt freilich, wıe gerade Zinzendorf erkannte, den Keim der Verweltlichung in sıch. Das Interesse an individuellen Giaubenserfahrungen erweitert sich leicht zum Bedürfnis der Mitteilung von Erfahrungen überhaupt. Zinzendorf versuchte diese von ıhm und anderen als Gefahr! diagnostizierte Tendenz durch die Bildung einer dauerhaften, auf (über religiöse Kommunikation laufenden) personalen Bindungen beruhenden Sondergemeinschaft aufzuhalten. Das gelang ihm zwar »durch straffe Organisatıon und Disziplin und durch Ausbildung kultischer Sonderformen«!?. Aber auch abgesehen von der Frage, wieweit selbst diese Strukturbildungen für das ındıviduelle religiöse Bewußtsein äußerlich und kontingent bleiben mußten, war die Brüudergemeinde eine (für Schleiermacher immerhin höchst bedeutsame) Ausnahmeerscheinung. Der Sog hin auf aus der Kommunikation von Individuen emergierende profane Sozialformen

wurde nämlich verstärkt dadurch, daß die Entwicklung in der Aufklärung ebendahin konvergierte. Durch ihren Rekurs auf Natur und Vernunft hatte sie den Einzelnen für unabhängig von Konfession, Religion und Stand erklärt. Die Betrachtung des Menschen als Mensch-an-sich involvierte einen - stoische Gedanken aufgreifenden Zug ıns Kosmopolitische einerseits, andererseits eine Erklärung von Sozialität, die

induktiv von

den

Bedürfnissen der Einzelwesen

ausgeht.

Gesellschaftliche und

staatliche Ordnung beruhen auf dem Postulat eines Vertrags, d.h. auf der Annahme einer freiwilligen Zustimmung freier Menschen zu einem Zusammenschluß, der gegebenenfalls zugunsten längerfristigen Vorteils auch Rechtsverzicht ımplızıert. Die Position Hobbes', ım Naturzustand keine positive soziale Verbindlichkeit anzunehmen, sondern nur die unmittelbare Selbstdurchsetzung aller Einzelnen gegeneinander, erlaubte zwar, mit nicht-metaphysischen Gründen den Zwangscharakter, die Objektivität und Institutionalität staatlicher Ordnung zu behaupten, aber ebendies behinderte ihre Rezeption in einer Entwicklungslinie, dıe hinlief auf die Kultivierung kommunikativ verfaßter Individualität und Sozualität!®. Sehr viel wirksamer,

15

Rasch, Freundschaft, 60, mit Blick auf die Brüdergemeinde.

16

Vgl. Rasch, Freundschaft, 59.

17 Eid. 18

Vgl. etwa H.W. Arndt: Einleitung zu Christian Wolff: Vermünftige Gedancken von dem gesellschafftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen (Deutsche Politik}. Gesammelte Werke. I. Abteilung. Band 5. Hildesheim - New York

Einführung vor allem in Deutschland, wurden Theorien, die schon anthropologisch-ursprünglich einen sozialen Trieb postulierten, ohne dessen Realisierung der Einzelne seiner Bestimmung als Mensch nicht entspricht, also etwa die Naturrechtskonzeptionen von

Grotius und besonders von Pufendorfl?. Freilich: auch wenn man die auf Leibniz zurückgehende und von Wolff übernommene Vorstellung hınzunımmt, Liebe ın eminentem Sinn ser die Lust, die man »an der Vollkommenheit, dem Wohl oder Glück des geliebten Gegenstandes+ empfindet20, ist die hohe Bedeutung von partikularer, individueller Freundschaft auch für die Ethik der Aufklärung noch nicht hinreichend erklärt. Das entscheidende Verbindungsglied findet sich bei dem im 18. Jahrhundert ın Deutschland stark rezipierten Shaftesbury. Freundschaft ist für ihn das herausragende Paradigma einer ım Gegensatz zum Christentum nicht-transzendenten Ethik, einer Haltung, dıe die Beziehung zum andem nicht um des eigenen und sei es jenseitigen - Vorteils willen sucht, sondern um seiner selbst willen, einer Diesseitigkeit, dıe die konkreten interpersonalen Relationen nicht zugunsten eines allgemeinen Wohlwollens nivelliert. Zwar geht es auch Shaftesbury nıcht primär um die Wahrnehmung der kontingent-einmaltgen Individualität; aber in der konkreten Freundschaft und nur in ıhr realisiert sıch die allgemeine Menschenliebe, in der dıe Tugend besteht21. Hier zeigt sich die Doppelfunktion der Freundschaft, als exem-

plarische Sozialform zugleich Realisierung und Defizienz anzuzeigen, als partikulare Realisierung über sich selbst hinaus zu verweisen. Die Tendenz, einer im strikten Jenseitsbezug begründeten Entwertung der in 'diesseitiger' Sozualität zu fındenden Erfüllung, einer Entdifferenzierung gegenwärtig-konkreter Lebensverhältnisse gegenzusteuern, freilich unter anderen Differenzierungskriterien als die noch dominante statısch-hierarchische Gesellschaftsgliederung, - dıese Tendenz hatte im

deutschen Bürgertum des 18. Jahrhunderts solche Plausibilität gewonnen, daß auch eine chnstliche Antıkritik der Christentumsknitik Shaftesburys nicht die Bedeutung von weltlichen Bindungen und Beziehungen schlechthin leugnen konnte; sie mußte vielmehr so verfahren, das} sie deren Anerkennung und Pflege als genuin christlich interpretierte?2. Die prononcierte Diesseitigkeit ließ freilich, nicht anders als schon im Renaissancehumanismus, Deutungsmuster und Deskriptionssemantiken eher in der griechischen (und römischen) Antike suchen. Besonders bot sich dafür der klassısche Text antıker Freundschaftstheorie an, dıe Bücher VIII und IX der Nıkomachi-

schen Ethik des Aristoteles??.

1975, (V - LD, XV, Wolff ausübten.

19

der darauf hinweist,

daß Hobbes

und Spınoza kaum

Einfluß auf

Zu Pufendorf vgl. Ueberweg, Philosophiegeschichte III, 344: »Seine Naturrechtsauffassung ist im wesentlichen durch Grotius und Hobbes bestimmt, ındem er von jenem das Prinzip der Geselligkeit, von diesem Jas des individuellen Interesses übernimmt und durch den Satz vereinigt, daß die Geselligkeit im Interesse eines jeden einzelnen liegex.

20 G.W.

Leibniz:

Neue Abhandlungen

{PhB 69), 152. Zitiert nach Rasch,

über den menschlichen

Freundschaft, 66.

21

Vgl. Rasch, Freundschaft, 74 und besonders 78.

22

Vgl. Rasch, Freundschaft, 73f.

23

Vgl. Rasch,

Freundschaft,

3.

Verstand.

Leipzig

1915

10

Einführung

Dieser Hintergrund erlaubt es, die Aristoteles-Anmerkungen in einem sehr weitreichenden Kontext zu interpretieren, was einerseits die Analyse differenziert, andererseits die Tragweite der herausgearbeiteten Konzeption erhöht: Schleiermacher nımmt hier teıl an der Bewegung der Neubeschreibung und Neubegründung sozialer Verbindlichkeit, aber damit ipso facto

auch an dem Prozeß der Neugewinnung von Instanzen und Methoden theoretischer und praktischer Wahrheitsvergewisserung. Das heißt aber, daß die sog. 'Grundiegungsfragen' ausweislich von Schleiermachers Texten selbst und ıhrer sozialgeschichtlichen Verortung gar nicht unabhängig von den sozıialtheoretischen (und d.h. gesellschaftstheoretischen und kommunikationstheoretischen) Beschreibungen und Konzeptionen behandelt werden kön-

nen. Die Ausgangsthese

für dıe Untersuchung lautet dann:

In der sozialtheo-

retischen Ausgangskonfiguration der Aristoteles-Anmerkungen manifestiert sich

ein

elementares

sozialtheoretisches

Leitinteresse

der

Theoriebildung

Schleiermachers; diese Konfiguration ist freilich nicht nur selbst eine erste reflexive Erfassung der gesellschaftsevolutionären Entwicklungsdynamik, eben deshalb müssen vielmehr alle frühen Theorieversuche auf sie bezogen werden, so daß deutlich wird, inwiefern sie sie widerspiegeln, ren, an sie anschließen, angelagerte Probleme bearbeiten etc.

weiterfüh-

Der Untersuchung stellt sich damit eine doppelte Aufgabe: Sie rekonstruiert zum einen die Theorieentwicklung des jungen Schleiermacher bis zu den »Reden« nach Maßgabe des sozialtheoretischen Leitinteresses der Erfas-

sung realer Intersubjektivität, und zwar so, daß sie gewissermaßen die Geschichte‘ der sozıaltheoretischen Ausgangskonfiguration als der ersten Konkretion jenes Leitinteresses bis zu dem geselligkeitstheoretischen »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« (und mit einem Ausblick

auf die Hauptschriften

der

'frühromantıschen'

Phase)

verfolgt.

Sie sieht

Schleiermacher mithin beschäftigt mit der Beschreibung mehrstelliger sozialer Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse, mit den Problemen der

Perspektivendifferenz und der 'Abgleichung' mehrerer Perspektiven, mit der Untersuchung der Auswirkungen sozialer Resonanz auf die individuelle Selbstwahrnehmung und die 'Bildung' des Selbsts, mit der Differenzierung öffentlicher und privater, rechtlicher, moralischer und intim-biographischer

Wahrnehmungskriterien, mit den Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen selbstbildungsförderlicher Sozialformen etc. und sucht die Genese von Schleiermachers diesbezüglicher Beschreibungskompetenz zu erhellen. Ein so bestimmtes Leitinteresse bedingt ohnehin bereits eine komplexe Theorieanlage, ın der vielfältige, weder aufeinander abbıldbare noch eınfachhın einem gemeinsamen Grund zuzuführende Sachaspekte auf ein ein-

Einführung

ll

heitliches Leitproblem bezogen sind. Trifft es nun zu, daß alle Sachdimensionen von Schleiermachers Theoriebildung jedenfalls nicht ohne Zusammenhang mit der in der genannten Weise spezifisch geprägten Dimension des Sozialen verstanden werden können, so muß - und hier setzt die zweite

Aufgabe an - das die Theorieentwicklung vorantreibende Leitproblem so abstrakt und zugleich elementar formuliert werden, daß es auf der einen Seite auf die sozialtheoretische Ausgangskonfiguration bezogen bleibt, auf der anderen

Seite aber in den Bearbeitungen

vorstellungstheoretischer und

ontologischer 'Grundlegungsfragen' identifiziert werden kann. Durchaus im Erkenntniszusammenhang der Freundschaftstheorie bietet sich hierfür die Formel 'Moment und Kontinuierung' an. Sie integriert das sozialtheoretische Problem der stabilen Gemeinschaftsbildung angesichts gesteigerter Individualisierung, transzendiert dıe Ebene des Sozialen aber und vermag

das Problem des Wirklichwerdens situationsübergreifender sittlicher Orientierung in den als Sequenz momenthafter Vorstellungen verstandenen Vollzügen der menschlichen Psyche ebenso zu erfassen wie das ontologische Problem der Kontinuität und Identität von zusammengesetztem Seienden in einer als zeitliche Abfolge räumlicher, je momenthafter Agglomerationen

von Elementareinheiten bestimmten Welt. Diese abstraktere Problemstellung wird bei Schleiermacher selbst zuerst greifbar in der Schrift »Über die Freiheit«24, vor allem aber in den $pinoza und Jacobi interpretierenden Texten2. In der vorliegenden Arbeit ist sie hingegen in der begrifflichen Fassung des sozialtheoretischen Leitproblems durchgängig präsent und bildet so eine zweite, gewissermaßen subkutane Matrix für den Aufweis der inneren Konsistenz von Schleiermachers Theorieentwicklung.

Der

gewählte

Ansatz

bedingt

verschiedene

Vorentscheidungen,

Be-

schränkungen und Ausgrenzungen für das Vorgehen:

a) Die Arbeit identifiziert das Leitproblem konkretisiert in einer ersten, bereits

sehr

komplexen

Konfiguration

in

den

Aristoteles-Anmerkungen.

Seine Wahrnehmung ıst mithin gekoppelt an die Textinterpretation. Das Leitproblem ist also nicht gieichsam rein, vollständig und unwandelbar vorgegeben; es muß in der "Geschichte' der Ausgangskonfiguration, in den spezifischen Konkretionen, die diese in den verschiedenen Texten annimmt, in den Erweiterungen, Differenzierungen, Relationierungen, internen Verschiebungen, die sie erfährt, in der Anlagerung anderer Themen verfolgt werden. Das erfordert ein gewissermaßen induktives Vorgehen, das das Eigenprofil der jeweiligen Texte konzis herausarbeitet, um die Vielfalt der 24

Vgl. dazu unten Kap. 5, 6.

25

Ygl. unten Kap. 8.

12

Einführung

Aspekte und Nuancen zu erfassen und daran die Entfaltungen und Veränderungen der Ausgangskonfiguration zu identifizieren und festzuhalten. Die Arbeit schreitet deshalb in Interpretationen von Einzeltexten voran. Sie hält

dabei immer die drei Faktoren oder Ebenen der Textinterpretation, der sozialtheoretischen Ausgangskonfiguration und des Leitproblems kopräsent. Nur so kann die Fülle der Texte und Aspekte eingeholt werden,

ohne daß

diese in disparateste Vielheit auseinanderfallen? oder einem nur äußerlichen Strukturierungsprinzip unterworfen werden. b) Zur Interpretation herangezogen werden weitgehend nur Schleiermachers frühe theoretische »Schriften und Entwürfe«27, nur ausnahmsweise

die Predigren?8, der Briefwechsel nur zur zusätzlichen Erläuterung. Dies bringt mit sich eine Lücke für Schleiermachers Landsberger Zeit zwischen

1794 und 1796, wo keine theoretischen Schriften, sondern nur Predigten?? und Briefe überliefert sind. Es begründet sich aber aus dem Interesse, eine

Theoriekonfiguration in ihrer Entwicklung zu rekonstruieren®®. c) Die Sequenz

der ausführlich

interpretierten

Texte endet

mit dem

»Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«. Die zeitlich kaum

später

entstandenen und sachlich für die gewählte Arbeitsperspektive höchst ergiebigen Reden »Über die Religion« werden (zusammen

mit den »Vertrautefn]

Briefe[n] über Friedrich Schlegels Lucinde« und den »Monologen«) ın einem systematisch orientierten Schlußteil erfaßt, der aus der Interpretation des Frühwerks Linien in das 'frühromantische' Werk Schleiermachers zu ziehen und so die Erforschung des Frühwerks für dessen Deutung fruchtbar zu machen versucht. Die historisch-biographiısch etwas willkürliche Ab26

Ein Eindruck, den Dilthey von Schleiermachers Frühwerk gewann, vgi. Leben Schleiermachers, 318: »wıe unbehauene, ungeordnete Bausteine zum späteren Aufbau seiner Gedanken«.

27

Aus KGA 1/1 werden ausdrücklich nicht erfaßt nur das theoretisch unergiebige »Exzerpt aus Aristoteles: Metaphysik (mit Übersetzungen und Anmerkungen)« von 1789 (165 - 175), die zwischen 1790 und 1792 entstandene »Notiz zur Erkenntnis der Freiheit« (213 - 215), die der großen Schrift »Über die Freiheit« inhaltlich nichts hinzufügt, sowie die vermutlich 1793 verfaßte, rein philologische »Abhandlung und textkritische Erörterung von Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 2, 86-93« (473 - 485). Aus KGA 1/2 werden von den Texten vor den »Reden« ausgelassen nur die kurzen Notizen »Zum Armenwesen« (157 - 161), wohl von 1798; vgl. dazu ausführlich dıe

Historische Einführung des Bandherausgebers G. Meckenstock, XXXVHI -L. 28

Vgl. vor allem unten Kap. 3, 4., aber auch Kap. 6, 3.

29 Vgl. SW 11/7, 203 - 380. 30

Für die Predigten ıst außerdem entlastend zu verweisen auf die Arbeit von ©. MeierDörken: Die Theologie der frühen Predigten Schlesermachers. Berlin - New York 1988

(Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 45).

Einführung grenzung verdankt sich zum

einen dem

13

sachlichen Bogen von der Freund-

schaftstheorie zur Geselligkeitstheorie, zum anderen dem Interesse, die Theonieentwicklung Schleiermachers vor den »Reden« nicht als bloße Hinführung zu diesen, sondern aus sich selber zu erschließen, schließlich der forschungsgeschichtlichen Situation, daß es zu Schleiermachers Anfängen bislang vergleichsweise wenige, für die frühromantische Phase - und das

heißt namentlich die »Reden«?! - fast unüberschaubar viele Forschungsbeiträge gibt. Das Schlußkapıtel hat denn auch dıe Funktion, dıe Erträge der eher 'esoterischen' Frühwerksforschung ın diesen Hauptstrom der Schleiermacherrezeption einfließen zu lassen und dadurch die Anknüpfung an den

‘bekannten’ Schleiermacher zu erleichtern??. d) Da es darum geht, Schleiermachers eigene Theorieentwicklung möglichst präzise und differenziert zu rekonstruieren, werden interne Bezüge zwischen

den

Texten

Schleiermachers

bevorzugt

vor äußeren

Diese Prioristerung der internen Bezüge verstärkt Untersuchungen: je differenzierter und elaborierter desto stärker reagiert sie auf ıhre eigenen Probleme. auch die sehr frühen Texte (KGA 1/1) intensiver und als die Texte der Jahre 1796 - 1799 (KGA 1/2): Nach stigung der Leitkonfiguration ist eine gezieltere Behandlung der Texte möglıch.

Einflüssen.

sich ım Verlauf der die Konzeption wird, Entsprechend werden umfänglicher traktiert einer gewissen Verfeund stärker geraffte

Die Frage nach äußeren Einflüssen stellt sich mothin am dringlichsten für die ersten Anfänge von Schleiermachers Theorieentwicklung. Deshalb (und auch aufgrund der Entstehungsumstände und des literarischen Charakters der Aristoteles-Anmerkungen?3) gilt der Theorie von Johann August Eberhard, Schleiermachers philosophischem Lehrer in Halle, besonderes Augenmerk %. Denn nur dadurch kann präzıse beschrieben werden, wie (und nicht nur pauschal postuliert werden, daß) die Beschäftigung mit Kant bereits mit sehr stark geprägten Theorıevoraussetzungen erfolgt. Während ın der Literatur bisher weitgehend die Auseinandersetzung mit Kant faktisch als das theoretische Initialerlebnis Schleiermachers erscheint3>, wird die Kant-Rezeption hier von der hochelaborierten Konfiguration der Arıstoteles-

31

Für die »Monologen« und dıe » Vertrauten Briefe« sieht es schon etwas anders aus!

32

Sachlich hätte sich auch eine Weiterführung bıs zu den »Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sıttenlehre« von 1803 (SW IIl/1, 1 - 344) oder bis Zur ersten Ethik-Vorlesung von 1805/06 (Brouillon zur Ethik, Hamburg 1984) angeboten; dies wäre aber nur bei einem den Texten gegenüber sehr viel abstrakteren Vorgehen ın Gestalt kontinuierlicher Textinterpretation zu leisten gewesen,

33

Vgl. dazu unten dıe Einleitung zu Kap. 1.

34

Vel. unten Kap. ?.

35

Die große Ausnahme ist E. Herms, der Eberhard ausführlich behandelt: Herkunft, 44 -

78.

14

Einführung Anmerkungen her an den Texten selbst untersucht; angesichts der Differenziertheit von Schleiermachers Äußerungen ist ein eigenes Kapitel zu Kant selbst unnötig. Ausführlicher eigenständig zu diskutieren ist außerdem der Einfluß Friedrich Heinrich

Jacobıs;

wegen

der

sehr schmalen

Quellenbasis

und

des

Charakters

der

Jacobi und Spinoza betreffenden Texte?0 muß dabei verstärkt auf Jacobis eigene Werke zurückgegriffen werden. Nicht eigenständig, sondern nur punktuell ım Duktus der Schleiermacherinterpretation thematisiert werden hingegen theoretische Einflüsse für die Zeit seit 1796, etwa Friedrich Schlegel.

e) Die Einheit der Fragestellung und dıe Konzentration auf die Enfwick-

fung einer elaborierten Konzeption legen den Schwerpunkt der Untersuchung eo ıpso auf dıe Kohärenz und dıe Kontinuität gerade in biographıschen Brüchen und theoretischen Umbrüchen: Die Ausgangskonfiguration und das Leitinteresse sollen auch in neuen, veränderten Konstellationen reidentifiziert werden.

Die Arbeit gliedert sich ın sechs Teile: Teil I arbeitet zunächst aus den machers

Arıstoteles- Anmerkungen

freundschaftstheoretische Konzeption

Schleier-

heraus und entwickelt dabei

den Zusammenhang der für dıe Interpretation von Schleiermachers Frühwerk leitenden Aspekte (Kap. 1). Ein ausführlicher Vergleich mit Eberhards Ethik und Vorstellungstheorie (Kap. 2) belegt die Eigenständigkeit von Schleiermachers Leitinteresse, zugleich aber die Präsenz vielfältiger schulphilosophischer

Theoriemotive

in der

Ausformung

der

Konzeption;

damit wird die Basıs für die Wahrnehmung der Ausstrahlung jener Konzeption ın Schleiermachers weiteren frühen »Schriften und Entwürfen« verbreitert. Kap. 3 zeigt diese Ausstrahlung an vier sehr frühen Texten auf (»Über das Naive«, »Ueber den Styl«, »An Cecilie«, die Weihnachtspredigt von 1791 über die allgemeine Menschenliebe), entdeckt dabei erste Erwei-

terungen,

Differenzierungen,

reflexive Selbstthematisierungen und Selbst-

beschränkungen der Ausgangskonfiguration; eben dies (ineins mit der deut-

lıch sichtbaren Orientierung an dem sozialtheoretischen Leitinteresse) stabilisiert rekursiv ihre Beanspruchung als Ausgangskonfiguration.

Teil II behandelt die im engeren Umkreis der Beschäftigung mit Kant entstandenen (wenngleich darin nicht aufgehenden) Schriften »Ueber das höchste Gut« (Kap. 4, 1.), »Freiheitsgespräch« (Kap. 4, 2.) und »Über die Freiheit« (Kap. 5). Dabei wırd deutlich, daß Schleiermacher Kants ethisches Grundinteresse der Reinigung der Verhaltensorientierung von allen

empirischen Motiven

36

übernimmt und sogar radikaler durchzuhalten bean-

Vgl. dazu unten Kap. 38.

Einführung

15

sprucht als Kant selbst, daß er aber Kants Konzept des intelligiblen Subjekts kritisiertt um willen einer realistischen Theorie des durchwegs empirisch

bestimmten, in vielfältigen äußeren und inneren Abhängigkeiten und Wechselwirkungen stehenden menschlichen Willens. Das Problem der Moralphilosophie ıst dann auf der einen Seite das Dominantwerden reinvernünftig konstituierter Verhaltensorientierung

in einem

so dem

Ensemble

der Nei-

gungen und Außeneinflüsse ausgesetzten Willen, auf der anderen Seite die Möglichkeit moralıscher Selbst- und Fremdzurechnung von dergestalt nur teilweise selbstbestimmten Handlungen auf die handelnden Personen, auf der doch sowohl die Möglichkeit der Verantwortungsübernahme für eigenes Verhalten als auch dıe Legitimität staatlıch-Juridischer Sanktionen

(Strafen)

beruht. Schleiermacher entwickelt dazu eine psychologische Theorie, die dıe Ausrichtung des Ensembles der Seelenkräfte an dem vernünftig bestimmten moralischen Gefühl als beständig gegebene Möglichkeit zu rekonstruieren erlaubt (hier gewinnt die aus der Verhaltensorientierung elımınierte Glückseligkeit eine wichtige Funktion),

sowie eine deterministische

Konzeption der Wirklichkeit als umfassendes Kausalkontinuum, die eine Zurechnung vergangenen Verhaltens auf gegenwärtige Personen allererst denkbar macht. Diese Betonung des Endlichen, Konkreten, Interdependenten spiegelt die freundschaftstheoretisch explizierte Anthropologie der Aristoteles-Anmerkungen wider; sie bewahrt zudem bungsstrukturen von Eberhards Vorstellungstheorie.

Motive

und Beschrei-

Teil II liest die große Abhandlung »Über den Werth des Lebens« als erste umfassende positive Entfaltung und Darstellung von Schleiermachers sozialtheoretischer Konzeption der Koemergenz,

Interdependenz und wech-

selseitigen Verstärkung von Individualität und Sozialität. Schleiermacher bündelt hier Konsequenzen aus seinen bisher gewonnenen Einsichten: Er geht aus von der (in der großen Freiheitsschrift am Problem der Zurechnung aufgebrochenen) Frage nach der Gewinnung realistischer Wahrnehmungs- und Beurteilungskriterien der individuellen Biographie, entwickelt dabei einen Begriff von der »Bestimmung des Menschen«, der neben der Tugend

auch

Glückseligkeit

als zwar

untergeordnetes,

aber

konstitutives

Moment enthält (Kap. 6, 1.), und entfaltet sodann unter der Leitfrage der Zuträglichkeit verschiedener Lebensumstände für eine bestimmungsgemäße Lebensführung

eine

umfassende

'Phänomenologie

von

Lebenssphären',

wobei er die enge wechselseitige Verzahnung von äußeren Lebensverhältnissen und von Bildung und Entfaltung individueller Fertigkeiten eindring-

lich demonstriert (Kap. 6, 2.). Die kleine Schrift »Über den Geschichtsunterricht«

Faktoren

(Kap.

7,

1.) fügt den

für die Selbstwahrnehmung

die transindividuelle Geschichte des eigenen

Volkes

relevanten

und

sogar

16

Einführung

Kulturkreises hinzu; der lateinisch verfaßte kritische Aufsatz »Philosophia politica Platonis

et Aristotelis«

(Kap.

7, 2,) untersucht

die Funktion

des

Staates für eine der menschlichen Bestimmung angemessene individuelle Lebensführung. Beide Texte lassen sıch daher zwanglos den Leitfragen von

»Über den Werth des Lebens« zuordnen. Teil IV (Kap. 8) untersucht die der Beschäftigung mit Spinoza und Jacobi gewidmeten Schriften aus den Jahren 1793/94 (»Spinozismus«; »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«; »Ueber dasjenige in Jacobis Briefen und Realismus was den Spinoza nicht betrift, und besonders über seine eigene Philosophie«). Sıe sind sicherlich der umstrittenste Bereich in der Forschung zu Schleiermachers Jugendwerk, was auch an ihrem schwer faßbaren Charakter als Mischung von unkommentierten

Exzerpten,

theorierekonstruierenden Kommentaren und sachorientierten Erörterungen und in bezug auf Jacobi jedenfalls an ihrer Kürze liegt; es sind hier ferner wichtige Weichenstellungen für Schleiermachers 'frühromantisches' Werk zu beobachten. Im Gefälle der vorliegenden Untersuchungen ıst an diesen Schriften besonders die radıkale Phänomenalisierung von Individualität von Bedeutung; ihr korrespondiert eine Metaphysik des »Flusses der endlichen Dinge«, die dem Einzelnen als Einzelnem Substantialität abspricht. Mit der daran angelagerten Konzeption der Inhärenz des Endlichen im Unendlichen

setzt zudem Schleiermachers nicht-theistische Neubegründung der Religion ein. Teil V zeigt an den Texten aus der Berliner Zeit der Jahre 1796 bis Anfang 1799, den Gedankenheften, den Notizen zur Vertragslehre, den Athenäums-Fragmenten und zuletzt und vor allem dem »Versuch einer

Theorie des geselligen Betragens«, die Schleiermachers Theorieentwicklung gerade in seiner 'frühromantischen' Phase leitende Dimension der Erfassung

des

Sozialen

auf.

Am

Anfang

stehen

rechts-

und

staatstheoretische

Überlegungen (Kap. 9, 1.), mit denen Schleiermacher Ansätze aufgreift, die in seiner Abhandlung zur antiken Politik (vgl. Kap. 7, 2.) dokumentiert sind. Dieses Interesse trıtt im Sommer 1797 (im übrigen der Zeitpunkt der Begegnung mit Friedrich Schlegel) zurück und macht Platz für Notate zur Neukonstitution der Ethik im Zeichen des Zusammenhangs von individueller Selbst-Entfaltung und Weltgestaltung, zur Kritik konventioneller Gesellıgkeit und zu Aspekten einer wahrhaft »guten Lebensart«; dies geht sukzes-

sive über in Ansätze zur Etablierung einer Theorie der freien Geselligkeit als einer Sozialform, in der die ungehinderte Entfaltung gebildeter Individuen konvergiert mit der Entstehung einer spezifischen Gestalt von Gesellschaft, mithin die Pflege der Individualität weder die Gesellschaft atomiısiert

noch umgekehrt der Zwang zur Anpassung an die Normen des konventio-

Einführung

17

nellen Beisammenseins die Individualitäten absorbiert (Kap. 10, 1. und 2.). Systematisiert erscheinen diese Ansätze in dem »Versuch einer Theorie des gesejligen

Betragens«

(Kap.

10,

3.).

Hier

reproduziert

Schleiermacher

gewissermaßen seine am Leitbild der intimen Sozialform der Freundschaft gewonnene Ausgangskonfiguration unter Örentierung an dem neuen Paradigma der in sich komplexeren, an der Schnittstelle von Privatheit und Öffentlichkeit angesiedelten Sozialform der »freien Geselligkeit«. Teil VI schließlich identifiziert die dergestalt am Jugendwerk aufgewie-

sene sozialtheoretische Leitkonfiguration an Schleiermachers 'frühromantischem Hauptwerk', den Reden »Über die Religion«, den »Monologen« und den

»Vertraute(n)

Briefe(n)

über

Friedrich

Schlegels

Lucinde«s,

dies aber

anhand der beiden oben genannten 'Matrices': der Aufgabe der Darstellung partikularer Realısierungsformen der ındıviduell-sozialen Bestimmung des Menschen

(Kap.

11, 1.), und der abstrakten Fassung des Leitproblems von

Schleiermachers Theorieentwicklung als des Zusammenhanges von Singularıtät und Reiationierung (Kap. 11, 2.). Die bisherige Forschung zu Schleiermachers Jugendwerk hat sich weitgehend auf die hier in den Teilen II und IV behandelten Texten konzentriert;

dies entspricht der oben konstatierten

Ausrichtung auf erkenntnistheoreti-

sche,

moralphilosophische

fragen.

wıssenschaftstheoretische

oder

Grundlegungs-

Die vorliegende Arbeit betritt deshalb ın Teil I nahezu vollstän-

dig?’, in Teil III weitgehend Neuland?3; auch Teil V konnte in Kap. 9 nur auf wenige Vorarbeiten zurückgreifen??. Die erweiterte Perspektive und die 37

Nur »An Cecilie« ist durch G. Meckenstock eingehender analysiert worden (vgl. Deterministische Ethik, 132 - 147). Zu den anderen Texten Schleiermachers gibt es noch keine Literatur. Zu Eberhard gibt es, abgesehen von den wichtigen Abschnitten bei Herms (vgl. Herkunfi, 44 - 78), keine neuere Untersuchung.

38

Die umfängliche Schrift »Über den Wert des Lebens« wird hier erstmals ins Zentrum des Interesses gerückt; sie wurde bislang meist als Vorstufe zu den Monologen abgehandelt (wozu ıhre Teil-Publikation ım Anhang der Edition der »Monologen« in der Philosophischen Bibliothek durch H. Mujert [Hamburg 1902 u.ö.) verleitet haben mag). Die Abhandlung »Über den Geschichtsunterricht« hat erst vor kurzem Beachtung gefunden (K. Nowak: Theorie der Geschichte. Schleiermachers Abhandlung »Über den Geschichtsunterricht« von 1793. In: G. Meckenstock; J. Ringleben [Hg.]: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, Festschrift für H.-]. Birkner. Berlin - New

York

1991, 419 - 439). Der Vergleich der Platonischen und Aristo-

telischen Staatsphilosophie wird hier erstmals interpretiert. 39

Allerdings sınd hier neben dem aufschlußreichen Vortrag von G. Meckenstock über »Schleiermachers naturrechtliche Überlegungen zur Vertragslehre (1796/97)« (in: k.-V. Selge [Hg.]: Schleiermacher-Kongreß, Bd. 1, Berlin - New York 1985, 139 - 151) die kenntnisreichen literatur- und sozialhistorischen Ausführungen von K. Nowak in der

18

Einführung

veränderte Gewichtung verändern freilich auch Wahrnehmung urteilung der Kant- und der Jacobi/Spinoza-Rezeption.

und

Be-

Unterscheidet man die Literatur zum jungen Schleiermacher nach dem Kritenum eines eher biographischen bzw. epochengeschichtlichen oder eines eher immanenttheorierekonstruierenden Ansatzes, so ıst die vorliegende Monographie zusammen mit den Arbeiten von Herms und Meckenstock eindeutig dem zweiten Typus zuzuordnen. Vorbild für die biographisch-epochengeschichtliche Deutung ıst Diltheys Forschungsklassiker »Leben Schleiermachers« (Bd. 1, Berlin 1870,40, dem die Schleiermacher betreffenden Partien der zeitgleich entstandenen großen Untersuchung von Rudolf Haym,

Die Romantische

Schule (Berlin

1870),

zur Seite zu stel-

len sind. In der neueren Forschung kann die Untersuchung von Albert Blackwell, Schleiermacher’s Early Philosophy of Life. Determinism, Freedom, and Phantasy, Harvard 1982, durchaus ın die Nachfolge Diltheys gestellt werden?]. Blackwell interpretiert Schleiermachers Entwicklung bis 1804 unter stetern biographischen Bezug anhand der (freilich nicht exklusiv verstandenen) Sequenz der zentralen Onentierungsbegriffe »Determinism« (für die Zeit von 1789 bis 1795), »Freedom« (von

1796 bis 1799) und »Phantasy« (von 1800 bis 1804)42, wobei er sich für die frühe-

ste Zeit nahezu ausschließlich auf die Kant-Rezeption konzentriert. Dasselbe gilt für die »Schleiermäachers Wissenschaftsbegriff«e in zeitlicher Beschränkung auf die »frühesten Abhandlungen« herausarbeitende Studie von Fritz Weber (Gütersloh 1973), sıe erfaßt freilich trotz ausdrücklicher Hervorhebung der Vernetzung von Denken und Leben (vgl. 9f.) sehr viel weniger biographische Momente als Blackwell, ıst stärker systematisch orientiert. Mit der weıten lıteraturhistorıschen Perspektive Hayms ıst hingegen vergleichbar die Anlage der Monographie von Kurt Nowak, Schleiermacher und die Frühromantik (Göttingen 1986), die ihren Schwerpunkt auf Schleiermachers Berliner Jahren als Charite-Prediger hat und dabei den geistesgeschichtlichen Kontext umfassend erhellt, die aber knapp auch Schleiermachers Jugendwerk behandelt (vgl. 70 - 92). Nowak ıst der einzige der bisher genannten und der noch zu nennenden Autoren, der jedenfalls für den frühromantıschen Schleiermacher die sozıaltheoretischen Ansätze ausführlich und zusammenMonographie »Schleiermacher und die Frühromantik« (Göttingen 1986) zu nennen. Der »such einer Theorie des menschlichen Betragens« (vgl. unten Kap. 10) ist hingegen bereits mehrfach interpretiert worden. Vgl. W. Hinrichs: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit und ihre Bedeutung für die Pädagogık. Weinheim 1965; M. Rıemer: Bıldung und Christentum. Der Bildungsgedanke Schleiermachers. Göttingen 1989, bes.

30 - 42, sowie die Ausführungen von M. Welker, Universalisierung, 15 - 19.

40

41 42

Vgl. dort (3. Auflage, Berlin 1970, XXXIII) den vielzitierten Vergleich von Schleiermacher und Kant: »Die Philosophie Kants kann völlıg verstanden werden ohne nähere Beschäftigung mit seiner Person und seinem Leben; Schleiermachers Bedeutung, seine Weltansicht und seine Werke bedürfen zu ıhrem gründlichen Verständnis bıographıscher Darsteliung«. So urteilt auch G. Meckenstock;

vgl. Deternunsstische Ethik, 7.

Nach Blackwell (vgl. a.a.0., 3} nehmen die Interferenzen von Theorie und Biographie ım Verlauf dıeser 'Epochen' arı Bedeutung zu: Für den zurückgezogen philosophischen Grundfragen auslotenden Studenten und Hauslehrer sind sie weniger wichtig als für den vom Salonieben und dem Umgang mit den 'frühromantischen‘ Literatenkreis inspirierten Charıte-Prediger.

Einführung

19

hängend darstellt (vgl. 263 - 288). In Hınblick auf das Jugendwerk streift er die Dimension des Sozialen freilich nur und konzentriert sich auf die «Arbeiten über das höchste Gut und die Freiheit« (73 - 78) sowie die »Spinoza- und Jacobi-Studien« (84 - 92); allerdings nimmt er, anders als üblich, die »Betrachtungen über den Wert des Lebens« (78 - 92) als eigenständig zu behandelnden Text wahr, und zudem skizziert er Schleiermachers frühes Wirken als »Kanzelredner« (82 - 84). Die beiden unter Abstraktion biographischer Bezüge systematisch interessierten Monographien zu Schleiermachers Frühwerk, die Werke von Herms und Meckenstock, gehen in gewisser Hinsicht gegensätzlich vor: Herms abstrahiert bewußt vom Duktus der Texte, um die Entwicklung von Schleiermachers Wissen(schaft)slehre konsistent zu rekonstruieren, in dieser sieht er dee Einheit von Schleiermachers

Theorie verbürgt. Bei der Frage nach der »Herkunft« von Schleiermachers Wissenschaftssystermatik beschäftigt sich Herms als einziger eingehend mit Eberhard und arbeitet subtil Schleiermachers komplexe Vermittlung schulphilosophischer und kantischer Motive heraus. Allerdings entsteht durch Herms' Vorgehen der unzutreffende Eindruck einer erkenntnistheoretischen Pointierung von Schleiermachers früher Theoneentwicklung selbst43. Zudem führt sein wissenstheoretisches Interesse Herms dazu, die spärlichen Dokumente von Schleiermachers Jacobı-Rezeption mit der Bedeutung

scheidung

als Indizien

für eine

eines unmittelbaren

Selbst- und Weltbewußtsein,

Meckenstock

zentrale

Einsicht

Selbstbewußtseins

vom

Schletermachers,

die

Uhnter-

vermittelt-gegenständlichen

zu überfrachten.

hingegen

beansprucht,

mit

der

Konzentration

auf

die

»Auseinandersetzung (...) mit Kant und Spinoza« und mit den sachlichen Schwerpunkten »Deterministische Ethik und kritische Theologie« ein Untersuchungsraster

zu besitzen, das es ihm ermöglicht, das Profil von Schleiermachers frühem Denken sichtbar zu machen. Er geht dabeı so vor, daß er den Argumentationsgang der nach seiner Einschätzung wichtigsten frühen »Schriften und Entwürfe« Schleiermachers bis 1794 konzise rekonstruiert. Sein Leitinteresse bei Textauswahl und Untersuchungsperspektive ıst es, Schleiermachers »argumentativen Beitrag zu den neuzaeitlichen Konstitutionsfragen« (21) zu erhellen. Da er diese Grundlegungsfragen transzendentaltheoretisch

faßt,

ıst ihm einerseits daran

gelegen,

den

Einfluß

Kanıs

deutlich höher zu veranschlagen als bislang üblıch; andererseits ıst ihm damit das Kriterium der Selektion relevanter Texte gegeben: Arbeiten, die nach Meckenstock auf der 'materialen‘ Ebene verbleiben und nicht zu Begründungsfragen durchstoßen, werden ausgeschieden. Sieht man ab von der Verschiebung des Interesses von der Differenz zu Kant hin auf eine fundamentale Übereinstimmung mit Kant, so bleibt Meckenstock den Schwerpunktsetzungen der bisherigen Schleiermacher-Forschung in Hinblick auf Textauswahl wie auf Theorieeinflüsse verpflichtet: Von den völlig neu edierten Texten findet neben den Notizen zu Kants »Kritik der praktischen Ver-

nunft« und dem ebenfalls der Kant-Rezeption zugeordneten »Freiheitsgespräch« nur »An Cecilie« eingehende Beachtung; die Frage der Bedeutung der Schulphilosophie wird nicht aufgrund der veränderten Quellenbasıs neu aufgerollt.

Die vorliegende Untersuchung verfolgt die Theorieentwicklung eines bestimmten Denkers in einer bestimmten Zeit. Sie ist insofern Aistorisch angelegt. Dazu steht nicht notwendig im Widerspruch, daß die herausgearbeitete 43

Ausgangskonfiguration

So auch Meckenstock,

(ohne

Deterministische Ethik,

ihren 15.

historisch-rekonstruktiven

20

Einführung

Anspruch einzubüßen) so gefaßt ist, daß sie transparent wird hin auf Fragestellungen gegenwärtiger Theoriebildung. Trifft es nämlich zu, daß diese Ausgangskonfiguration aus der Beschäftigung mit Aristoteles erwachsen ist und deshalb jedenfalls in gebrochener Weise "aristotelische' Momente angenommen hat, daß sie zudem auch der Auseinandersetzung mit Kant zugrunde lag und dabei nicht völlig 'kantianisiert' wurde, sondern umgekehrt dıe Kant-Rezeption beeinflußte, dann kann man sagen, daß Schleiermacher idealtypisch 'aristotelische' und idealtypisch "kantische' Motive und Momente in einem höchst eigenständigen Konzept zusammenfügt. Eben diese "Zwischenlage' zwischen Theorien 'aristotelischen' und "kantischen' Typs ermöglicht nun aber, das Denken des jungen Schleiermacher als eigenständigen Beitrag in der gegenwärtigen ethischen und sozialphilosophi-

schen Diskussionslage zu verorten, wenn diese geprägt ıst von der Spannung und den Wermittlungsversuchen zwischen einem nachliberalen, 'aristotelischen’ Gemeinwohl-Denken®* und einem "kantianischen' formalen

»Prozeduralismus«®3, Dieser Gegenwartsbezug wird in den folgenden Untersuchungen nicht selbst entfaltet, sondern durchgängig vorausgesetzt. Eine solche systematische Entfaltung der These

von

Schleiermachers

»nachkantısche(m)

Arıstotelismus«

vollzieht

hingegen

Michael Moxter in seiner wichtigen Arbeit »Güterbegriff und Handlungstheorie="”, Diese Arbeit ist keine Monographie zur Entwicklung des jungen Schleiermacher, sondern eine systematische Untersuchung zu dessen reifer Ethik. Sie untersucht freilich in einem ersten Kapitel die »Worbereitung der güterethischen Option ın den

Jugendschriften Schleiermachers« (18; Überschrift). Da Moxter seine grundlegende These, bei Schleiermachers entfalteter Güterethik handele es sıch wie hei Hegels Rechtsphilosophie »um eine Theorie des objektiven Geistes {in Schleiermachers Sprache: des 'sittlıchen Seins'), dıe solche "Objektvationen' thematisiert, die von sozial verfaßten Subjekten hervorgebracht, aber auch vorgefunden werden« (2}, mit der Aussage verbindet, »der Gedanke, Kant 'korrigieren' zu wollen, indem man die ın vernünftigen Handlungen immer schon vorausgesetzte Intersubjektivität in den Mittelpunkt einer Ethik stellt, [sei] im Grunde ein genuin Schleiermacherscher

44

Vgl. besonders A. Maclntyre: After VWirtue. Notre Dame der Tugend.

45

Frankfurt (M}

1981. Deutsch:

Ge-

Der Verlust

1987.

Zu dieser Unterscheidung vgl. J. von Soosten: Zur theologischen Rezeption von Jürgen Habermas’ «Theorie des kommunikativen Handelns«. In: ZEE 34 (1990), 129 - 143, hier: 139. Die analoge, freilich sehr viel allgemeinere Unterscheidung zwischen eıner »eudämonistischein)« bzw. »utilitaristische(n)« »Klugheitsmoral« und einer »universalistischen Sollensethik« als Horizont gegenwärtiger Ethik findet sich bei R. Spaemann: Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik. Stuttgart 1989, 10.

46 Michael Moxter: Güterbegriff und Handlungstheorie. Eine Studie zur Ethik Friedrich Schleiermachers. Kampen (Niederlande) 1992. Das Zitat: 16.

Einführung

21

danke« (ebd.), konzentnert er sıch bei den Jugendschriften auf dıe Kant-Kritik#7. Dabei arbeitet er auf der einen Seite heraus, dafj diese Kritik tatsächliche immanente Probleme der Kantischen Philosophie aufzeigt; auf der anderen Seite bezieht er die Kant-Kritik auf Schleiermachers etgenes Leitinteresse, einen Begriff des Handelns zu entwickeln, der Willensbestimmung nicht ın einem ıntelligiblen (absoluten und unbedingten) Jenseits verortet, sondern

im Kontinuum der sozial verfaßten Welt er-

folgen sieht. Schleiermacher habe so »das Paradigma eines einsamen Akteurs, der einer Welt von Objekten Bestimmungen mittels absoluter Anfänge von Kausalreihen gibt, als ein für das Begreifen menschlicher Handlungen ungeeignetes Modell zurückgewiesen« (45f.);, er habe stattdessen »dıe Pluralität der menschlichen Subjekte und ihre handelnden Bezugnahmen aufeinander zu Grundphänomenen erklärt« (46). Bleibt Moxter daher zwar bezüglich der Textauswahl#® im Rahmen der bisherigen Forschung, so ist sein Ansatz doch offen für die sozialtheoretischen Untersuchungen von Schleiermachers Frühwerk, die die vorliegende Arbeit unternimmt. Explizit behandelt Moxter die geselligkeitstheoretische resp. kommunikationstheoretische Grundierung von Schleiermachers Theorieentwicklung - hinsichtlich der sozialtheoretischen Deskriptionsleistung und hinsichtlich der Bedeutung dieser Lettorientierung für die Genese von Schleiermachers Theorteprofil - allerdings nıcht.

Die hier vorgelegten Untersuchungen

sind im Grenzbereich von Philoso-

phie, Sozialtheorie und (in geringerem

Maße) Religionstheorie angesiedelt.

Sie behandeln kaum im engeren Sinne theologische Fragestellungen. Dies entspricht den ın den Briefen und den »Schriften und Entwürfen« dokumentierten Interessen des jungen Schleiermacher selbst, der dıe (dogmatischkirchliche und philosophische) Theologie unter erklärter Geringschätzung®? unbearbeitet ließ und sich ın der literarischen Produktion philosophischen wıe geselligkeitstheoretischen Problemen zuwandte,

ohne freilich das Relı-

gionsthema jemals aus den Augen zu verlieren, das in den »Reden« denn auch keineswegs völlig unvorbereitet in den Mittelpunkt des Interesses tritt. Die Erhellung der kommunikationstheoretischen Leitkonfiguration der Entwicklung von Schleiermachers frühem Denken hat deshalb zunächst die theologiegeschichtliche Bedeutung, den Weg Schleiermachers zu den »Reden« unter einem bestimmten, sehr integrativen Aspekt zu rekonstruieren und damit umgekehrt zur stärkeren Wahrnehmung und präziseren Deutung

des

Zusammenhanges

von

Religion

und

Kommunikation

bzw.

4] Allerdings behandelt er knapp, aber präzise Eberhards Vorstellungstheorie; vgl. 36 38. 48 Er identifiziert zudem noch das »Thema« der »Denkbarkeit von Handlungen« in der Jacobi-Rezeption; vgl. 49 - 52. 49

Vgl. etwa KGA

V/l,

178: »theologischer Wust«,

»eine ekelhafte Bekanntschaft“ (Brief

128 vom 9.12.1789, Z. 299-301), oder 193: die »theologischen Subtilitäten (...), die ich von Herzen - verlache« (Brief 123 vom 3.2.1790, Z. 111f.).

22

Einführung

Religion und Gemeinschaftsbildung in den »Reden« beizutragen?®. Dieser Zusammenhang benennt dann auch einen möglichen Ort gegenwärtiger systematisch-theologischer Anknüpfung an die vorliegenden Interpretatio-

nen: die Ekklesiologie sowohl unter dem Binnenaspekt der Bestimmung der Kirche als Sozialform des Glaubens in ihrer Konstitution und Genese und in ihrem Verhältnis zur Individualität der Glaubenden als auch unter dem kir-

chensoziologischen Aspekt der Kirche als Institution in der modernen Gesellschaft.

50 Dabei werden die »Reden« allerdings nicht als Telos und auch nicht als Sachkriterium des Frühwerkes verwendet, sondern als eine, wenngleich hervorgehobene Station einer Entwicklung.

Erster Teıl

Freundschaft

Erstes Kapitel

Fragilität und Kontinuierung: Ansätze zur Formierung von Theorie in den Anmerkungen zur Freundschaftslehre des Aristoteles

Einleitung Der Behauptung, an den Anmerkungen zur Freundschaftslehre des Aristoteles lasse sich die Ausgangskonfiguration der Theorieentwicklung Schleiermachers, die erste Konkretionsgestalt des diese Entwicklung treibenden sozialtheoretischen Leitinteresses herausarbeiten!, begegnen

Einwände,

die

die Eigenständigkeit dieses Textes betreffen. So könnte der sozial- und literaturhistorische

18. Jahrhundert, belegen,

Hintergrund,

die Bedeutung

den ganz konventionellen

des

Freundschaftsthemas

im

Charakter der Anmerkungen

so daß sıe für Schlerermacher selbst wenig aussagekräftig wären.

Vor allem aber scheinen Entstehungsumstände und literarische Gestalt es zu verbieten, den Text für Schleiermacher zu beanspruchen. War Schleiermachers ausdrücklicher Anspruch doch nur, ın einer Vorlesung über »Philosophische Moral« mündlich vorgetragene Kommentare seines Hallenser philosophischen Lehrers Johann August Eberhard zur Freundschaftslehre der Nikomachischen Ethik? niederzuschreiben und in einen kontinuierlichen

literarischen Zusammenhang

zu bringen?, und markierte er die auf Eber-

hard zurückgehenden Partien sogar graphisch (vgl. 42,3f.), gab zudem den Text (oder die bereits vollendeten Teile) Eberhard zur begutachtenden Lektüre (vgl. 42,5 und besonders 43,4-6). Beschränkte sich die Beteiligung

Schteiermachers an der Entstehung des Textes deshalb nicht auf die Funktion eines Sekretärs? Doch sprechen zunächst einige konkrete Umstände gegen eine solche Bewertung. Nirgends wird ersichtlich, daß SchleiermaVgl. oben dıe Einführung. 2

Vgl. genauer die Einleitung zu KGA V/1, XXXTIf. Vgl.

KGA

1/1, 42,2-5.

- Zitate aus diesem

Zeilenangabe ım Text selbst belegt.

Band

werden

fortan nur

mit Seiten- und

26

I. Freundschaft - Kap. 1. Arıstoteles-Anmerkungen

cher die Anmerkungen als Auftragsarbeit Eberhards zu dessen Gebrauch verfaßt hat. Sie blieben in Schleiermachers Besitz bzw. kehrten dorthin zurück.

Nirgends

distanziert

sıch

Schleiermacher

zudem

von

Eberhard;

noch nach seinem Weggang aus Halle zeigt er brennendes Interesse an Informationen über von diesem geäußerte »Gedanken«*. Es ist deshalb auch nicht mit einer reservierten Haltung $chleiermachers zu seinem eigenen Text zu rechnen. Wenn

nicht schon die mehrfache Verwendung

des Perso-

nalpronomens der ersten Person im Text selbst”, so deutet doch die Energie, mit der Schlesermacher auch über seine Hallenser Zeit hinaus das Projekt der Übersetzung® und Kommentierung der Nikomachischen Ethik weiterbetrieb”, darauf hin, daß er die Beschäftigung mit Aristoteles als eine eigenständige betrachtete. Diese Beschäftigung ist zudem auch keineswegs rein philologisch oder philosophiehistorisch orientiert, die Anmerkungen

zur

AÄristotelischen

einem

Freundschaftstheorie

sind

vielmehr

eher

'"Traktat über die Freundschaft’, die sich »ihre Themen

Studien

zu

von Aristo-

teles geben lassen«®. Mehr

noch

»Anmerkungen« nehmen.

sprechen

hermeneutische

als seibständige

Erwägungen

Arbeit Schleiermachers

dafür,

die

in Anspruch

zu

Für eine nicht im strengen Sinne historisch-biographisch, sondern

problem- und sachorientiert vorgehende Untersuchung des Entwicklungsganges eines Autors ist nicht die Originalität der einzelnen Arbeiten - d.h.

4

Vgl. den Brief an Brinckmann vom 22.7.1789; KGA 298).

V’/1,

141

(Brief 119, Z. 296-

Vgl. z.B. 7,32 (»Mir scheint«); ähnlich 14,30 (»meines Erachtens«). Die - nach der Kommentiening entstandene (vgl. KGA

1/1, XXXVIL

- XL)!

- Überset-

zung von NE VIII und IX ıst abgedruckt ın KGA 1/1, 45 - 80. - 1790 erschien im übrigen auch im Dritten Band von Eberhards »Philosopbischem Magazin« (217 - 235; 304 332) ein »Versuch einer deutschen Uebersetzung des achten Buches der Ethik des Arıstoteles« (von H. Dellbrück) .

Zum

Plan weiterer Beschäftigung

mit der Nikomachischen

Ethik vgl.

den

Brief an

Brinckmann vom 27.5.1789: »(...) die Aristotelische Theorie von der Gerechtigkeit [sc. NE Buch V] zu bearbeiten und zugleich meine Gedanken darüber aufzusezen«, KGA V/l, 119 (Brief 114, Z. 45f.). Vgl. den Briefan Brinckmann vom 22.7.1789, welchem Schleiermacher einen {nicht überlieferten) »kleinen Aufsaz (...) über das Verhältnıß der Aristotelischen Theorie von den Pflichten zu der unseren [Ansicht darüber]beigibt, den er »Eberharden in meinem Namen zu Füßen zu legen« bittet, KGA V/l, 141 (Brief 119, Z. 291-293). - Das Vorhaben, eine kommentierte Übersetzung der ganzen Nikomachischen Ethik zu veröffentlichen, gab Schleiermacher vermutlich aufgrund des Erscheinens von D. Jenischs gleichartigem Projekt (Danzig 1791) auf; vgl. KGA Lt, XAXAIX. 8

So zurecht Meckenstock, Deterministische Ethik, 22.

Einleitung

27

deren Unterscheidung von anderen Konzeptionen, von auf sie einwirkenden Einflüssen etc. - das primäre Untersuchungskriterium, sondern deren immanente "Theoriequalität‘ selbst. Insofern wäre selbst mit dem Nachweis fast völliger Abhängigkeit der »Anmerkungen« von Eberhard deren Bedeutungslosigkeit für die Theorieentwicklung Schleiermachers noch nicht erwiesen. Sollte sich der Text selber als theoretisch ergiebig herausstellen, so wird es eine zweitrangige (wenn auch keineswegs belanglose) Frage, ob man dıe Theoriequalität schon Eberhard zurechnet und Schleiermacher dann als hochbegabten Rezipienten ansıeht, oder ob man annimmt, daß Schleier-

macher selbst in der Rezeption die Aussagen seines Lehrers variiert, differenziert, bereichert, in neue Kontexte stellt etc. Beide {ohnehin nur bei mechanıschem Abschreiben völlıg geschiedenen) Aspekte, Rezeption und Variation, können als eigene Leistung des Rezıpierenden beansprucht wer-

den. Freilich macht dies die Untersuchung des Eberhardischen Hintergrundes

der Arıstoteles-Anmerkungen nicht unnötig. Und dies nicht nur aus dem Grund, daß der Gegenstand der Rezeption für die Einsicht in deren Selektivität durch

die Erkenntnis

dessen,

was

sie ausschließt,

Informationswert

hat, sondern auch, weil die Struktur des Seligierten selbst durch die 'Herkunftstheorie' stärker geprägt ıst, als an der Oberfläche (und auch dem Autor selbst) sichtbar ist. Deshalb soll ın einem zweiten Kapitel dıe Bedeu-

tung des Freundschaftsthemas in Eberhards »Sittenlehre der Vernunft« untersucht und überhaupt Eberhards ethische und vorstellungstheoretische Konzeption unter der Perspektive dargestellt werden, ob sie die Komplexität von Schleiermachers frühem Ansatz erreicht bzw. inwiefern sich ın diesem Ansatz Eberhardische Momente und Motive wiederfinden.

Auf der anderen Seite gewinnt die Konzeption der Aristoteles-Anmerkungen aufgrund von deren Charakter Sıgnıfıkanz für Schleiermachers Denkentwicklung allererst dann, wenn sich zeigen läßt, daß diese Konzeption in anderen Texten Schleiermachers präsent ist, daß er an ihr und mit ihr weiterarbeitet, daß sie ein integrales Moment in den verschiedenen Bereichen seiner Theoriebildung darstellt. Eben dies soll in einem dritten Kapite] bereits an sehr frühen Arbeiten Schleiermachers nachgewiesen werden.

28

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

I. Empfindung, Pflicht und Freundschaft {Anmerkung 1 und 2)

l.1. Wohltätigkeit als reine Pflicht »(U)nser Herz«, so setzen Schleiermachers Anmerkungen zur Freundschaftstheorie der Nikomachischen Ethik ein (3,1), stimme einerseits der

Behauptung des Aristoteles zu, Wohltätigkeit gewinne Dignität proportional zu der Empfindung der Nähe zu ihrem Gegenstand, entfalte sich deshalb in

ihrer »preiswürdigsten Form dem Freunde gegenüber«?; andererseits wisse es, »daß die Wohlthätigkeit viel zu sehr unsre Pflicht sei« (3,2f.), als daß

sie nur ın Abhängigkeit von den nicht in sich selbst kontinuierlichen und auf das Angenehme tendierenden Empfindungen betätigt werden dürfte. Das impliziert eine Unabhängigkeit der Wohltätigkeit von Sympathie oder

Hochachtung für denjenigen, dem man wohltut. Kriterium ist vielmehr dessen Bedürftigkeit (vgl. 3,7)!0. Das Verhältnis der Pflicht zu Bedürftigkeit und Empfindung variiert jedoch bei den »verschiedene(n) Arten von Wolthätigkeit«

(3,9).

Schleiermacher

rechnet

mit

dem

Fall,

daß

die

Mit-

gliedschaft in der bürgerlichen Gesellschaft einigen Vorteile, anderen aber Benachteiligungen einträgt, die ihnen »als Menschen schlechtweg« (3,15) nicht zukämen. Zwar bleibt unklar, wonach sich dies Menschsein-an-sich!!

bestimmt und ob es eine ideale Sozialität einschließt!2, so daß die faktische Ungleichheit sich nur einer faktisch deformierten Gesellschaft verdanktel?,

9

NE 1155a von Mir.

8f.

in der Übersetzung

F. Dirlmeiers,

Stuttgart

1969,

213;

Hervorhebung

10 Zu »Bedürftigkeit« vgl. Eberhard, Sittenlehre der Vernunft [fortan zitiert als SdV], $ 183 (S. 225). Il

vVgi. dazu auch H.W. Arndt: Einleitung zu Chr. Wolff: Gesammelte Werke. 1. Abteilung. Bd. 4. Hildesheim - New York 1976, XIII: »Norm naturgemäßer Befindlichkeit«, »menschliche(r) Normalzustand()«, »mittlere() Proportionale«.

12

Zum Problem der Unterscheidung und Zuordnung von Naturzustand und gesellschaftlichem Zustand bei Eberhard vgl. unten Kap. 2, 1.1.

13

Auch die Aussage, derjenige habe am meisten Anspruch auf Unterstützung, »deßen Unglük am meisten aus der Natur der bürgerlichen Einrichtung herrührt« (3,25f.; Hervorhebung von mir), bringt keine letzte Klarheit, insofern mit «bürgerliche() Einrichtung« die gegenwärtige deformierte Gesellschaft gemeint sein könnte, für die Ungleichheit und Entfremdung konstitutiv sind. Näher liegt allerdings die Deutung, daß jede Gestalt von Sozialität nur abstrakt Gleichheit der beteiligten Personen ermöglicht, faktısch sich aber ımmer eine zeitliche (diachrone) und räumliche (synchrone) Streuung von Steigerung und Minderung von »Gütern« (3,11) und »Glükseligkeiten« {3,12} ergibt.

Dieser Gedanke

ist interessant, insofern

hier eine dynamisierte,

ın permanenten

1. Empfindung, Pflicht und Freundschaft

29

deutlich ıst aber, daß aus den soziogenen Vorteilen eine Pflicht zum Ausgleich an die soziogen Eingeschränkten entspringt, und zwar vor allem deshalb, weil die entstandene Ungleichheit Kontingent ist. D.h., sie kann

allenfalls partiell dem Begünstigten als Verdienst und dem Benachteiligten als Schuld zugerechnet werden. Viel stärker bringt die Anschauung der Benachteiligten dem Begünstigten die Übermacht der Umstände zu Bewußtsein, so daß ihr »Schiksai()« (3,18) auch ihn hätte treffen können

und bei

veränderten Umständen noch treffen könnte. Die Einsicht in die als schicksalhaft erfahrene und chiffrierte Nichtsteuerbarkeit der sozialen Prozesse bei gleichzeitiger (derzeitig Lebensqualität steigernder, potentiell aber auch mindernder) Betroffenheit dadurch nötıgt schon deshalb zu tätiger Solidarität mit den Bedürftigen, weil man sie ın ähnlicher Situation selber erwarten

und wünschen würde. Dieser - ja durchaus an Selbsterhaltungsinteressen orientierte - Zukunftshorizont wird aber durch die Empfindung nicht eingeholt. Denn zwar wird sie jener Ausgleichsforderung im abstrakt Allgemeinen zustimmen; im konkreten Einzelmoment kann sie ıhr jedoch nıcht kontinuierlich

entsprechen,

ındem

einmal

die Pflicht

ın der

Empfindung

faktisch nicht durchgängig dominiert!*, zum andern aber die Empfindung überhaupt durch die Alltäglichkeit der Ungleichheitssituation so desensibilisıert und abgestumpft ıst (vgl. 3,30-32), daß sıe diese gar nıcht mehr wahrnimmt. Hier ist deshalb allein die Pflicht selbst wahrnehmungs- und handlungsleitend (vgl. 3,19). Die Empfindung wird auch durch die Resonanz wohltätiger Handlungen nicht kontinuierlich genug restimuliert, um zur Fortsetzung solcher Handlungen »anzureizen« (3,37). Denn die Wir-

kung einzelner Wohltaten bzw. der Wohitaten Einzelner vermag den Status der

Benachteiligten

erzeugt

deshalb

Realität

(vgl.

nur

4,2-5).

nur punktuell

ephemere,

und

vorübergehend

nur

kurzfristig

Eine dauerhafte

zu verbessern,

resonanzfähige

Zustandsverbesserung,

sıe

soziale

eine stabile,

als Resultat des Handelns gewußte und dergestalt anımierend auf den Einrelativem

(vgl.

3,16:

»einen

Theil des Ueberflußes«;

Hervorhebung

von

mir)

Interes-

senausgleich zwischen beteiligten Einzelnen oder Gruppen je neu sich austarierende Gesellschaft sichtbar würde, in der die Vorstellung des Menschseins-an-sich nur noch

eine Art regulative Idee zur Quantifizierung des zu fordernden und zu leistenden Ausgleichs darstelite. Freilich muß diese Konzeption mit der starken Behauptung der Autosuffizienz und Autarkie des »Glüklichen« (4,27; vgl. unten 2.1.;, das Problem schon NE IX 9: 1169b 3ff.) sowie mit der Hervorhebung der Freundschaft als nıchtentfremdeter Sozialform ausgeglichen werden. Vgl. unten 4. 14 vpt. 3,28-30: Es gibt konkrete Anwendungen der allgemeinen Maxime sozialen Ausgleichs, »welche den Entscheidungen der Empfindung grade zuwider laufen« (3,29f.). D.h., es gibt Situationen, in denen dıe Empfindung dıe geforderte Hilfeleistung verweigert.

30

I. Freundschaft - Kap. I. Aristoteles-Anmerkungen

zelnen rückwirkende

Sozialsphäre entsteht nur,

sofern viele Einzelne sich

an deren Aufbau beteiligen, so daß dıe Resultate der Einzelhandlungen sich gegenseitig abstützen und so im sozialen Feld erhalten bleiben.

Die Pflichterfüllung des Einzelnen darf in der Tat weder von der gleichzeitigen Pflichterfüllung Anderer noch von faktischer Wirkung bzw. Resonanz abhängig gemacht werden.

Zur Bestimmung

der Wohltätigkeit gehört

aber, daß dıe Pflicht dazu »besser« (4,19) erfüllt wird, wenn sie zur Etablierung

dauerhafter,

'objektiver’

sozialer

Realität

beiträgt.

Schleiermacher

erwähnt allerdings nicht, daß dann zur individuellen Wohltätigkeit auch dıe Herstellung von Bedingungen sozialer Kooperation gehören würde. Stattdessen faßt er die »erweiterte() Wolthätigkeit« (4,24) ganz vom Einzelnen

her, der gehalten sei, mittels kontinuierlicher Zuwendung »einen ganzen Gegenstand des sittlichen Misvergnügens aus (s)einem Kreis der Gesellschaft«

hinwegzunehmen

(4,19f.).

Schleiermachers

entscheidende

Pointe

dabei ist freilich, daß durch solche dauerhafte Versittlichung eines Teiles der sozialen Sphäre keineswegs »die geselligen Empfindungen in einem höhern Grade genährt werden« (4,25, Hervorhebung von mir). Die Erfüllung

der Pflicht zu sozialem

Ausgleich kann durchaus zusammenbestehen

einem Desinteresse an der Person des Andern, ja geradezu

mit

mit einer funk-

tionalen, instrumentellen Betrachtung und Behandlung des Andern. Er wird nicht als er selbst wahrgenommen, sondern als Objekt einer über ıhn souverän verfügenden Tätigkeit!?, deren Zweck als sittliche Tätigkeit die Ver-

anschaulichung der »Vollkommenheit in den einzelnen Theilen des Weltganzen« (4,16f.) und damit die »Verherrlichung Gottes« (4,14) ist!®. Allerdings ist der Mensch ein weit weniger gut formbares Objekt als die »Naturdinge«

(5,5),

so

daß

die

thn

verdinglichend-gestaltende

Tätigkeit

besonders wenig Erfolg verspricht (vgl. 5, 1-5). 15

Vel. 4,28-32: »Derjenige, welcher sıch so weit herabläßt der Glüksschöpfer eines andren zu seyn, handelt dabeı nach seinem eignen Willen, und der Klient widerstrebt

ihm

gemeiniglich eben so wenig als die todte Natur der Hand desjenigen, der sie zu einem schönen Kunstwerk umbilden will.« 16

v gl. Eberhard, SdV, $ 1,3 (S. 2f.): »Wenn wir hier aus der natürlichen Theologie annehmen, daß dıe Verherrlichung Gottes oder dıe Religion der letzte Zweck der Schöpfung sey, der ohne die Glückseligkeit der vernünftigen Geschöpfe nicht erreicht werden kann: so sind die guten freyen Handlungen sowohl Mittel zur Verherrlichung Gottes als zur Glückseligkeit der vernünftigen Geschöpfe.« Vgl. ebenso SdV, $ 87. - Zur Finalısierung der Schöpfung auf Verherrlichung Gottes hin als zentrales Element der Schöpfungslehre der altprotestantischen Orthodoxie vgl. F.W. Graf: Von der creatio ex nihilo zur »Bewahrung der Schöpfung«. Dogmatische Erwägungen zur Frage nach einer möglichen ethischen Relevanz der Schöpfungslehre. In: ZThK 87 (1990), 206 - 223, hier: 21 1f.

1. Empfindung, Pflicht und Freundschaft

3]

1.2. Die zwei Faktoren der Freundschaft Fragt man nach der näheren Bestimmung des so neigungsfrei pflichtorientiert Handelnden, so zeigt sich eine Unausgeglichenheit zwischen der

Ausgangssituation einer nicht auf eigener Tätigkeit beruhenden Selbständigkeit, die als kontingente und mithin reversibie das Bewußtsein zumindest potentieller Bedürftigkeit einschließt, und der betonten Autarkie und Autosuffizienz des

"Wohltäters’,

der der sozialen

Resonanz

nicht bedarf,

der,

Menschen und Dingwelt egalisierend, in seiner Umwelt niemand seinesgleichen erblickt oder als solchen behandelt. Natürlich läßt sich behaupten, dıe Wahrung kontingenter Selbständigkeit verlange keineswegs, auf irreduzibler Wechselseitigkeit beruhende Sozialbeziehungen zu suchen, sie lege vielmehr gerade eine egozentrische Instrumentalisierung der sozialen Umwelt nahe. Doch nıcht nur wırd dıe Realıstik solcher Haltung durch dıe Voraussetzung der Nichtsteuerbarkeit des sozialen Prozesses dementiert; sie steht auch als pflichtwidrig und immoraliısch außerhalb des Horizontes der, Verhaltensorientierung intendierenden, Überlegungen. Der Solipsismus der Pflichterfüllung zielt ja eben richt auf pure Selbsterhaltung, sondern auf Realisierung einer transsubjektiven, zeitresistenten sozialen Sphäre.

Zwei Faktoren bedingen nach Schleiermächer, daß auch der »Glükliche« (5,9) ein »Bedürfniß« (5,7) hat nach Beziehungen gerade zu nicht-instrumentalisierbaren, nicht auf ihre Nützlichkeit zu reduzierenden bzw. ihre

Funktionalität allererst durch ihre Unabhängigkeit gewinnenden Anderen!’?. Beide Faktoren entspringen individualpsychologischen und sozialtheoretischen Einwänden gegen eine Anthropologie der reinen Pflicht, begründen aber zwei verschiedene Funktionen von »Freundschaft«.

1.2.1. Wahrnehmung irreduzibler Andersheit

Der Solıpsiısmus auch der sozialen Pflichterfüllung führt zu innerer Verarmung. Schleiermacher sagt nicht, daß vom Aspekt der Pflicht her die Autarkie des 'Glücklichen’ nicht suffizient wäre, er führt nur eine psychologisch notwendige (»muß«,

5,11) Tendenz zum

Überdruß des Solitären an

sich selbst an, die das »Verlangen« mit stch bringt, die »Sphäre« des »eignen Kreis(es)« zu »erweitern« (5,9-12), bzw. genauer: das »System fder] eignen Ideen« zu transzendieren (5,8). 17

Dies geschieht in jener Form

von Wobhltä-

Zur inneraufklärerischen Spannung zwischen »mitleidiger(r) Menschenliebe« und ökonomischem

Nützlichkeitsdenken

lische Dialektik der Aufklärung+).

vgl.

R.

Grimminger,

Aufklärung,

20

(»ınnermora-

32

I. Freundschaft - Kap. I. Aristoteles- Anmerkungen

tigkeit, deren eigentlicher Zweck die Erweckung »gesellige(r) Empfindungen« (4,25 u.ö.} ist. Im Gegensatz zur solipsistischen Wohltätigkeit der Pflicht, die Resonanzen definitorisch ausblendet bzw. nur als sekundäres Steigerungsmoment anerkennt, ist sie geradezu Instrument der Suche,

Attraktion und Erhaltung resonanzfähiger 'Objekte'1®. Bedingung dafür, daß die Resonanz nicht wieder nur Echo des Eigenen ist, daß es mithin zu wirklicher Selbsttranszendenz kommt, ist die relative Intransparenz und Unberechenbarkeit des Andern,

seine Unverfügbarkeit und Selbständigkeit

jedenfalls gegenüber dem ihn als Anderen Suchenden. Während die Wohltätigkeit der Pflicht den Andern nach eigenem (wenn auch an allgemeinen Grundsätzen orientiertem) Willen behandelt (vgl. 4,29f.), sucht die Wohltä-

tigkeit der Kommunikation Impulse mit Neuigkeitswert!9, Überraschungseffekte, Wahrnehmung sich erschließender Fremdheit. Das erfordert, daß der Andere je komplexer erscheint, als momentan erwartbar und kontrol-

lierbar?0, Vorausgesetzt ist dabei allerdings immer eine Gleichheit (vel. 5,15) mit dem Anderen hinsichtlich des Grades der Komplexität, da Unterlegenheit sich gerade in Berechenbarkeit, Transparenz und Instru-

mentalisierbarkeit äußert (bzw, srilisiert Instrumentalisierung ihren Gegenstand als unterlegen,

als weniger komplex)

und Überlegenheit des Andern

ihn das Interesse an der Kommunikation verlieren ließe?!. Der Gedanke der bereichernden Wahrnehmung irreduzibler Andersheit ist überdies nicht prımär auf die ethisch unqualifizierte Wahrnehmung beliebiger, faktischer, kontingenter Individualität bezogen; immer ıst gedacht an sittliche Gleich-

heit im Sinne von Höchstwürdigkeit?2. Denn nur dann ist es sittlich plausibel, die eigenen »Kräfte nach den Ideen anderer zu ihrem Besten würken«

18 19

Auch die Pflicht motiviert zur Suche nach nun gerade ihr entsprechenden Objekten, vgl. oben 1.1. Vgl. dazu auch Eberhard, SdV,

$ 9 Anm.

2 ($. 10): Vergnügen der Sinne »werden

durch die Neuheit verstärkt und durch die Gewohnheit geschwächt«. Deshalb gilt Eberhard Enthaltsamkeit als »ein Mittel zur Vermehrung der angenehmen und Verminderung der unangenehmen Empfindungen«. Vgl. auch $ 154 Anm. 4 (5. 183) und $ 158 Anm. I ($. 187), sowie $ 159 Anm. 3 (S. 189). 20

Deshalb auch kann »Zuneigung nannt werden.

gegen

leblose Dinge« (7,31) nicht Freundschaft ge-

Vgl. Schleiermachers Anmerkung

8 (7,11

- 9,29), besonders die mut zu-

nehmender Komplexität der Objekte der Zuneigung sich steigernde Nähe zur Freundschaft. 21

Vgl.

schon

Aristoteles,

der empfiehlt,

dem

Freund

keine

solche

Vollkommenheit

zu

wünschen, die sein Wesen verändert und durch seine so entstandene Überlegenheit Freundschaft unmöglich macht: NE 1159a 5-11 (Arıstoteles denkt an Vergöttlichung).

22 Vgl. aber unten 3. zu Schleiermachers Anmerkung 19 (19,9 - 24,23).

l. Empfindung, Pflicht und Freundschaft zu lassen

(5,16f.,

Hervorhebung

von

mir;

vgl.

33

ebenso

6,38).

Nur

dann

leuchtet im übrigen auch ein, warum Schleiermacher dieses Verhalten als Form von Wohltätigkeit bezeichnet. Sich dergestalt »den Gedanken eines andern Wesens unter(zu)ordnen« (5,13), verlangt ein Vertrauen in die ethi-

sche Qualifikation der Verhaltensgrundsätze

des Andern.

Schleiermacher

klärt hier nicht, ob dieses Vertrauen sich auf die Person des Andern bezieht und die Sittlichkeit von dessen einzelnen »Gedanken« von da her pauschal konzediert, oder ob er im »Glükliche(n)« einen prinzipiell beschränkten Satz

material sıttlicher Ideen und zugleich dıe formale Fähigkeit, die begegnenden Ideen anderer als sittlich oder nicht-sittlich zu qualifizieren, annimmt. Hier scheint auch der Grund für sein Schwanken zwischen den Bezeichnun-

gen Selbsttranszendierung und Selbsterweiterung für diesen Vorgang zu liegen (vgl. 5,8 mit 5,9-12): Während der Einzelne im pauschalen Vertrauen tatsächlich auf kontinuierliche Kontrolle der Vermittelbarkeit seiner am Andern orientierten Handlungen mit seinem ihm bisher bekannten Selbst verzichtet (Selbsttranszendenz), erweitert im zweiten die Kommunikation nur den Schatz gewußter sittlicher Ideen und Verhaltensmöglichkeiten, ggf.

auch die Kenntnis von Lebenssphären, ohne daß Diskontinuitäten der Selbstwahrnehmung in den Blick träten. Beide Möglichkeiten gleichen sich zwar faktısch stark aneinander an, insofern auch Diskontinuitäten nachträglich in ein Kontinuum der Selbsterfahrung redintegriert werden und umgekehrt auch Bereichserweiterung Entwicklung und mithin Veränderung bedeutet;

sıe erlauben aber sehr verschiedene Gewichtungen

ım Verhältnis

von Gleichheit und Differenz in der Freundschaft und deshalb sehr unterschiedliche Deutungen

des Grades der Wahrnehmung

von

Individualität in

diesem frühen Text. Jedenfalls evoziert die Unterordnung unter die Gedanken Anderer eine doppelte Resonanz: Die Wahrnehmung der /deen Anderer, die sıch mit den eigenen »vermischen« (5,18) bzw.

rekter Synonymität Reize« zu (5,18f.)

mung

und

der Effizienz

»Glükseligkeit«

- wie Schleiermacher in nicht ganz kor-

sagt - 'verbinden’

(5,19)

(vgl. ebd.)??,

spielt »völlig neue

führt zu innerer Selbstbereicherung;

der eigenen, Anderer

die (Selbstbestimmung

fördernden Tätigkeit macht

die Wahrneh-

implizierende!) umgekehrt

die

Förderlichkeit solcher Kooperation auch für die eigene Glückseligkeit deutlich und

läßt deshalb

den

Wunsch

wach

werden,

daß andere

ın analoger

Weise an deren Steigerung sich beteiligen (vgl. 5,20). Dies ist freilich nur dann eine schlüssige Herleitung der zentralen Kategorie der Wechselseitig23 „Verbindung« impliziert die Möglichkeit bleibenden Differenzbewußtseins, 'Vermischung’ nicht.

34

I. Freundschaft - Kap. I. Aristoteles-Anmerkungen

keir2*, wenn es nicht beliebig ist, wer die Entfaltung der eigenen »Glükseligkeit«

fördert,

d.h.

wenn

nicht nur oder

nicht primär

die

sittliche

Würdigkeit des Andern im allgemeinen, sondern auch oder besonders die spezifische individuelle Ausprägung dieser Sittlichkeit bzw. sogar die gemeinsame Geschichte? darüber entscheiden, ob die Unterstützung

gewünscht wird; andernfalls hätte die erfolgreiche Tätigkeit für den Andern nur erwiesen, daß es hilfreich ist, von irgendjemandem mit hinreichender sittlicher Qualıfıkation unterstützt zu werden. Immerhin legt die Genese der zweiten Form der Resonanz aus der ersten es nahe, daß dıe Förderung der

eigenen Vollkommenheit qua Kooperation gerade von demjenigen erwartet wird,

dessen

Wahrnehmung

bereits

innere

Bereicherung

bewirkt

hat.

Zudem liegt es in der Logik des Gedankens der 'Selbst-Steigerung mittels Altruismus’26,

daß es dem

Andern

doch

zugute kommt,

wenn

ihm

selber

solcher Altruismus ermöglicht wird. Die Selbst-Steigerung besteht mithin 1) in der Wahrnehmung fremder Ideen, 2) ın der Ermöglichung eigener sittl:cher Handlungen, 3) in wiederum deren Wahrnehmung?”, 4) in der Förderung fremden Handelns zum eigenen Wohl - was 5) zur Selbststeigerung des so handelnden Andern führt und die Attraktivität erneuter Wahrnehmung seiner Ideen erhöht usw. Dem Prozeß der 'Selbststeigerung durch Selbsttranszendenz', sobald er angestoßen ıst durch die (freilich theoretisch noch ungeklärte) Wahrnehmung hinreichender Komplexität des Andern, wohnt also selbst die Tendenz auf Wechselseitigkeit inne, die ıhrerseits den Prozeß kontinuiert und intensiviert. Der Prozeß der Selbsttranszendenz läuft

über Rezeptivität und Handeln und szabilisiert sich selbst, indem er Rezeptivität und Handeln so auf bestimmte Andere bündelt, daß diesen ein Prozeß

der Selbsttranszendenz ermöglicht wird, in welchem sie Rezeptivität und Handeln auf den hin konzentrieren, der sich selbst auf sie hin überschritten 24

25 26

Vgl. dazu auch Schleiermachers Anmerkung 8 (7,11 - 9,29). - Vgl. allgemein Mauser, Geselligkeit, 19: »Ehe Gleichheit eine gesellschaftliche Legitimationskategorie und eine politische Forderung geworden war, hatte sie im Verhaltensschnifttum das Prinzip der Gegenseitigkeit begründet«. Vgl. unten 2.3. unter (c). Übrigens ein Gedanke, der sich schon bei Arıstoteles findet, allerdings ın starker Analogie zum Verhältnis von Schöpfer {Künstler} und Werk (vgl. NE 1168a 1-9) sowie

unter Priorisierung des Handelns vor dem Erleiden (vgl. NE 1168a 9-27).

27 Vgl. auch NE 1168a 9f.14f. Vgl. ebenfalls Eberhard, SdV, $ 14 Anm. 1 ($. 17}: Der »höchste Grad« des Vergnügens wird »in den sen«. »Denn ın diesen können sich alle übrigen finden.« Anm. 2 (ebd.): Schon Arıstoteles (NE daß wir einen Gegenstand lieben, wegen der hervorbringen«.

Handlungen der Quellen [sc. des IX 7) habe »sehr Vollkommenheit,

Wohlthätigkeit genosWergnügens] vereinigt scharfsinnig bemerkt, die wir selbst in ıhm

1. Empfindung, Pflicht und Freundschaft

35

hatte. Die Steigerung eigener Empfindungs- und Handlungsmöglichkeiten durch Wahrnehmung

und Förderung des Ändern wird ihrerseits kontinuiert

und potenziert durch die Sphäre der Wechselseitigkeit, in der ebendies auch für den Andern gilt. Diese Sphäre trägt, erhält und reproduziert also jene Prozesse, aus denen sie selbst hervorgegangen ist. Insofern das Prozesse der Erhaltung und Steigerung, nicht aber der Schaffung von eigener und fremder Empfindungs- und Handlungsfähigkeit sind, kann Schleiermacher daran festhalten, daß eine solche auf Wechselseitigkeit beruhende Konzeption von »Geselligkeit« bzw. von »freundschaftlichen Verbindungen« (5,22) einer Anthropologie entspricht, in welcher »der Mensch (...) immer als ein freies, eignen Maxımen folgendes, aber dennoch bedürftiges Wesen vorgestellt und behandelt wird« (5,23-25). Geselligkeit steigert Freiheit, ındem

sie die Möglichkeiten, sie zu betätigen, und die Betätigungsbedingungen kontinuiert und reproduziert. Sie kann Freiheit nicht schaffen - baut vielmehr auf ihr auf -, sondern nur die Bedingungen ihres Auftretens sichern, Davon allerdings bleibt die Freiheit abhängig.

1.2.2. Kritik und Korrektur von Verhalten und Einstellungen War bisher von der Freundschaft als einem Medium wechselseitiger Steigerung einer unabhängig davon als frei im Sinne von sittlich konstituierten Individualität die Rede,

so wird die Sittlichkeit solcher Individualität selbst

problematisch, wenn man die Faktizität psychischer Binnenverhältnisse und sozialer Relationen und deren Interdependenzen in den Blick nimmt. Dabei offenbart sıch die »Zerbrechlichkeit menschlicher Tugend« (37,24f.) als der

zweite Faktor, der eine Bedürftigkeit nach Freundschaft begründet. Denn keineswegs dominiert das "moralische Gefühl' jeden Einzelmoment ın der Psyche, so daß kurzlebige und hochgradig beeinflußbare Empfindungen

(Neigungen)

nicht verhaltensbestimmend werden

könnten?®.

Keineswegs

auch sind die sozialen Verhältnisse in der Regel so, daß sie eine vorhandene moralische Handlungsorientierung Einzelner verstärkten oder aber dazu beıtrügen, daß das moralische Gefühl in den Einzelnen an Dominanz zunimmt. Hier gewinnt nun Freundschaft die Funktion der Kritik und Korrektur von

28 Vgl. Eberhard, AThDE, 134f.: »(...) was die Ausübung der Tugend für Hindernisse in den Menschen finde, und wie man derselben zu Hülfe kommen müsse, wenn man ihre Grundsätze gegen die tiefliegenden Triebe der Selbsterhaltung, und der Sınnenlust durchsetzen will. So sehr ıhre Grundsätze unserer ursprünglichen Form eingedrückt seyn mögen; so kostet es doch erst die Mühe uns durch den Nebel der sinnlichen Eindrücke Licht zu verschaffen, um in ıhrem Sonnenscheine wandeln zu können.«

36

I. Freundschaft - Kap. 1. Arıstoteles-Anmerkungen

Verhalten

und

Einstellungen.

komplementär (5,26f.),

in

die

die als solche,

Genauer

Reihe

jener

d.h.

indem

muß

man

sagen:

Freundschaft

ȟbersinnlichen sie den

tritt

Empfindungen«2?

momenthaften

Zeithorizont

sınnlicher Empfindungen übergreifen, Verhaltensorientierung und -kontinulerung ermöglichen sollen, aber faktisch eben jeweils ohne einander nicht können.

Diese drei Instanzen?® - neben der Freundschaft das morali-

sche Gefühl und die Religion - verhindern in den verschiedenen Lebensepochen

auf jeweils verschiedene Weise

der Operation

und

der Koopera-

tion, daß die Lebensführung auf dem Niveau der Kindheit stehenbleibt bzw.

dahin zurückfällt. Kindheir?! wird hier verwendet als Paradigma eines Lebens

ohne

gewußte

Selbststeuerung:

Das

Kind

ist nur

zu

momenianer

Orientierung fähig, es vermag den Horizont der Einzelhandlung nicht zu transzendieren

und kann deshalb

mehrere

Handlungen

nicht so zu Reihen

verknüpfen, daß spätere als Folgen von früheren wahrnehmbar werden und deshalb als zu erstrebende oder zu vermeidende bereits die Bestimmung gegenwärtigen Handelns beeinflussen. Nicht nur fehlt dem Kind die Fähig-

keit zu solcher Reihenbildung, sondern auch dıe dabei vorausgesetzte Fähigkeit der sittlichen Qualifikation von Einzelhandlungen und Handlungssequenzen anhand von »Grundsäze(n)« (5,35). Verhaltenssteuerung erfolgt beim Kind deshalb nicht allein rein auf den Moment bezogen, sondern auch vermittels selbst momentaner Kriterien: der sinnlichen Empfindungen »Schmerz«

(5,34) oder »Vergnügen«

(5,35).

Der Wille,

auf Kinder einzu-

wirken, kann deshalb nicht an deren Einsicht in die höhere Sachkompetenz Erwachsener appellieren, sondern muß sich diesen Bedingungen anpassen und bedient sich dazu sinnlicher Konditionierungen:

der »Gewalt«

(6,1) ın

Gestalt von Strafe und Belohnung. In der Adoleszenz?? entsteht mit der Fähigkeit der Synthetisierung von Handlungen die Fähigkeit der Maximenbildung. Deren sittliche Qualifikation wird ermöglicht und deren Realisierung wird gefördert durch die nun gegebene gewußte Präsenz jener drei »feineren« (6,5), d.h. übersinnlichen,

mithin weniger ephemeren »Gefühle()« (ebd.). Diese sind freilich jeweils von beschränkter und ggf. sogar pervertierter Wirkung. Rücken Religion 29 Der Terminus »übersinnlich« auch bei Eberhard; vgl. SdV, $ 118 Anm. 3 (s. 129): »übersinnliche() Begriffe«.

30 Schleiermacher

kritisiert

(5,30-32),

dafl Aristoteles für diese Funktion

allein

die

Freundschaft nenne.

31 Diese Lebensepoche fehlt bei Aristoteles; vgl. NE 1155a 12-15. 32

Die Entwicklung des moralischen Bewußtseins in der Adoleszenz hat Schleiermacher ausführlich entfaltet in der fıktiven Brieffolge »An Cecilie«. Vgl. dazu unten Kap. 3, 3.

1. Empfindung, Pflicht und Freundschaft

37

und Moral in ihrer »die stürmischen Empfindungen des Jünglings« (6,6f.) mäßigenden und lenkenden Funktion kaum unterscheidbar zusammen

(ohne

daß diese Funktion für die Religion expliziert würde), so differieren sie hinsichtlich ıhrer Beschränktheit: Die Religion bleibt im strikten Sinne je

individuelle Empfindung??.

Als solche entzieht sie das von ihr initiierte

Handeln der sozialen Bewährung, sie kann mithin Wirklichkeitsverlust herbeiführen und sogar legitimieren und Fehlorientierungen fördern und

stabilisieren (vgl. 6,6-9)34. Das sirtliche Gefühl dagegen ist nur »in der ruhigen Stunde der Ueberlegung« (6,10) wirksam. Die Zeit der Überlegung ist aber nur eine Unterbrechung des Flusses von Rezeptions- und Handlungsnötigungen, in dem die moralische Reflexion leicht »überhört« wird (6,11)?5. Das kann dann dazu führen, daß das Verhalten »nach und nach« (ebd.) an Selbststeuerung verliert und von momentanen Nötigungen allein bestimmt wird. Die Perspektive auf eine solche Entwicklung mag schließlich entmutigen im Blick auf die Tragfähigkeit der »neuerworbenen Grundsäze« (6,12). Das Gegebensein von Freunden vermindert die Risiken, dıe dıe anderen Steuerungsinstanzen durch ihre Eigenart (also nicht - oder nicht allein - durch

ihre Schwäche!)

mit sich bringen,

und stärkt dadurch

deren Wirkung. Freunde vermitteln den Außenkontakt, den die Religion nicht bieten kann, und ermöglichen so die Kontrolle der Sittlichkeit religiös bestimmter Handlungen.

Das könnte auch das sittliche Gefühl des Einzel-

nen leisten, wenn es sich im Moment

konkreten Handlungsvollzugs von

diesem distanzieren könnte. Freunde erhöhen dagegen die Wahrscheinlichkeit der Gleichzeitigkeit von Handlung und ethischer Reflexion, indem es

unwahrscheinlich ist, daß bei zweien die »Neigungen und Leidenschaften (...) ımmer zu gleicher Zeit (...) gereizt« werden und ungebändigt zur Tat drängen (6,14f.) oder die »Vernunft (...) zur nemlichen Stunde eingeschläfert wırd« (6,15f.). Freunde repräsentieren so die Möglichkeit sittlicher

Handlungsorientierung in einem Moment, da der Solitäre diese Möglichkeit nıcht hat oder aufgrund vorhergehender Schwächung nicht mehr hat. Freundschaft ıst mithin eine zusätzliche Absicherung gegen das Schwächerwerden moralischer Antriebe und ein Mittel gegen deren bereits eingetre-

33

Auch dies bleibt unerörtert.

34 Dan Religion damit auch gegen soziogene Deformationen ımmunisieren kann, sieht Schleiermacher hier nicht. 35

Zur Zeit der Überlegung

vgl. Eberhard,

SdV,

$ 100 Anm.

2 (35. 105), auch $ 3 (S. 3),

sowie AThDE, 128: Menschen handeln gegen erkannte Grundsätze, da Empfindungen den Willen bewegen können, »ehe wir ihr [sc. der Empfindung] das langsamer würkende Medium der Veberlegung entgegen setzen können.«

38

]. Freundschaft - Kap. I. Aristoteles-Anmerkungen

tene Resignation. Sie steigert insgesamt die Realisierungswahrscheinlichkeit moralıscher Verhaltenssteuerungen. Freilich handelt es sıch um eıne rela-

tive Steigerung, da die Einschränkung der Potenz des sittlichen Gefühls ja für alle Beteiligten gilt. Hierin liegt auch eine Limitation der Bedeutung der Freundschaft: Ohne die - wiederum kontingente - Orientierung an Sittlichkeit ist Freundschaft höchst anfällig für wechselseitige Irrleitung. Deshalb ist es durchaus nicht ausgemacht, daß eine Vermehrung von freundschaftlichen Verbindungen,

gen,

weil

Individuen

diese selbst,

dıe Bildung eines Nerzes von Freundschaftsbeziehun-

nıcht

notwendig

wirklich

reiner

vernunftgesteuert

die sittliche Handlungsfähigkeit

sind

als die

der Einzelnen

erhöht.36 Beim Erwachsenenalter fehlen auffälligerweise alle Hinweise auf die In-

suffizienz der einzelnen übersinnlichen Empfindungen unabhängig von den anderen. Änders als in der Adoleszenz, wo die Orientierungsinstanzen mäßigend, eindämmend, Irrwege und Fehlprägungen verhindernd wirkten, steht jetzt die Fähigkeit des Erwachsenen, sıttlich zu handeln, außer Zweifel. Alles Interesse gilt der Erweiterung der Sphäre realisierter Sittlichkeit. Dem sind dıe »übersinnlichen Empfindungen« in je spezifischer Weise zugeordnet. Die Religion verleiht erhöhte Tarkraft. Das sittliche Gefühl vermehrt das Wissen möglicher sittlicher Handlungen, und zwar ohne Restriktion auf situativ-konkrete Realisierbarkeit; denn dieses Wissen impliziert umgekehrt einen Realisierungsimpuls, »auch wirklich zu handeln, und zwar so viel zu handeln als nur immer möglich ist« (6,25f.) - wodurch eine Dynamik entsteht, die »Einschränkungen (der) Lage« (6,23) zu transzendieren. Freundschaft erhöht nun die Realisierungschancen selbst solcher vom sittli-

chen Gefühl vorgestellten Handlungen, die auch durch mithilfe der Religion erhöhte individuelle Kraft nicht ausgeführt werden können. Die »Verbindung mit ähnlich gesinnten Wesen« (6,26f.) soll »durch gemeinschaftliche Kräfte

ein weiteres Feld

für sıttliche Handlungen

(...) eröfnen«

(6,271.).

Dies kann auch geschehen durch Beseitigung von »Hindernißen (...), welche auf der Bahn der moralischen Thätigkeit unvermeidlich aufstoßen« (6,29f.). Ethisch qualifizierte Geselligkeit erweitert mithin den Bereich der

Realisierbarkeit sittlicher Handlungen, indem etwa Einer fähig ist zu einer 36

Nicht behandelt werden von Schleiermacher die Rückwirkungen qualifizierter Sozialbeziehungen auf die Religion. Da er Religion einerseits nur aufgrund ihrer Funktion für die Verhaltensorientierung thematisiert, andererseits strikt individualisiert, scheinen direkte soziale Resonanzen auf die Religion unmöglich zu sein. Freundschaft kann dann nicht mehr leisten als die Eindämmung eines schädlichen Einflusses der Religion auf das Handeln. Inwiefern diese Korrektur religiös bestimmten Handelns dıe Religion selbst verändert, bleibt unklar.

l. Empfindung, Pflicht und Freundschaft

39

bestimmten ‘schönen Tat’ (vgl. 6,22), aber ein diese verhinderndes Hindernıs nicht selbst wegschaffen kann, ein anderer ındes eben dazu befähigt ıst,

aber nıcht zur dann möglichen Handlung. Es läßt sich dann auch der Fall denken, daß das Wissen einer sıttlichen Handlung und der eigenen Unfähigkeit dazu zur Suche nach einem Ändern animiert, der sie ausführen kann.

Offenkundig geht das Gefälle der Argumentation hier nicht seitige Vervollkommnung von Individuen, sondern auf die Handlungen und auf die Etablierung eines Feldes, in dem möglich st. Daß das Handeln selbst sittliche Vervollkommnung des pliziert bzw.

seine Vollkommenheit

ausdrückt,

auf die wechselRealisierung von solches Handeln Handelnden im-

und daß deshalb auch die

Beteiligung am Aufbau einer solchen Handlungssphäre als sittliche Pflicht des Einzelnen erscheinen kann, bleibt dabei unbestritten. Daß diese Sphäre

freilich ın gewisser Weise unabhängig wird vom Handeln des je Einzelnen, ja sogar dessen Handlungsunfähigkeit zu substituieren vermag, wird deutlich bei der Behandlung des Greisenalters. Die »übersinnlichen Empfindungen« dienen hier der Bewältigung schwindender äußerer Handlungsfähigkeit (vgl. 6,31f.). Religion relativiert die gegenwärtige, durch Handlungszwang charakterisierte Welt, indem sıe eine zukünftige »bessre() Welt« (6,33)

appräsentiert?’, deren Realisierung sich eben nicht eigenem Handeln verdankt?®, Entsprechend »gedenkt« das moralische Gefühl jetzt anders als beim Erwachsenen durchaus der »Einschränkungen (der) Lage« (6,23) und verzichtet auf unrealistische Handlungsaufforderungen. Es vermittelt vielmehr das »Bewußtseyn (...) persönlichen Werthes« (6,35), das wohl dadurch über den Zwang zur Untätigkeit hinwegtrösten soll, daß es die in den

vergangenen

Zeiten der Tatkraft gezeigte Tugend erinnert und bestätigt,

37

In dieser Appräsentationsfunktion entsprechen sich Religion beim Greis und Moral beim Erwachsenen. - Der Terminus »appräsentieren« wird hier wie im folgenden unspezifisch verwendet im Sinne von 'vergegenwärtigen', "der Wahrnehmung (und zwar eigener wie fremder Wahrnehmung) zugänglich machen’. Es ist mithin weder Husserls noch Luhrnanns Prägung des Begriffs vorausgesetzt (vgl. N. Luhmann: Funktion der Religion. Frankfurt [M] 1977, 22, besonders Anm. 28). Den Hinweis darauf verdanke ich Sıgrid Brandt.

38

Daß die welttranszendierende Funktion der Religion gerade ım Kontext des Handlungsbegriffs, und zwar als dessen Relativierung, erscheint, ist ein wichtiges Indiz für ein Bewußtsein dafür, daß Religion nicht ın ihrer handlungsmotivierenden Funktion aufgeht. - Diese das Handeln überschreitende Dimension kennzeichnet noch in der »Glaubenslehre« Schleiermachers Beschreibung der eschatologischen »Zukunft«, auf welche nämlich » - weil ganz jenseit aller menschlichen Dinge liegend - unsere Tiütigkeit gar keinen Einfluß ausüben kann« (3 157,2, Hervorhebung von mir). Vgl. dazu E. Herms: Schleiermachers Eschatologie nach der zweiten Auflage der »Glaubenslehre«.

In: ThZ 46 (1990), 97 - 123, besondess 112f.

40

l. Freundschaft - Kap. I. Arıstoteles-Anmerkungen

und veranlaßt darüber hinaus nur noch »innere Handlungen

zur Berichti-

gung [der] inneren Verhältniße« (6,36f.; Hervorhebungen von mir). Gleichwohl hebt solcher Trost zwar vielleicht die Fixierung der Selbstwahrnehmung und Selbstachtung auf aktuelles eigenes Handeln auf, aber nicht das Interesse an der durch das Handeln vieler aufgebauten sozialen

Sphäre realısierter Sittlichkeit. Denn den Tugendhaften bedrückt dıe Vorstellung,

daß

mit seiner schwindenden

Tatkraft auch

die Resultate seines

Handelns, nämlich der durch seine Förderung Anderer entstandene soziale Resonanzbereich,

»nach

und nach« (6,38)

verschwinden

könnte,

weil sich

die Prinzipien dieses Handelns’? in diesem Bereich nicht erhalten. Allein die Gegenwart von Schülern und Freunden, von denen er »fühlt daß sie den

Grund seiner Denkungs(-) und Sıinnesart mit ihm gemein haben« (7,3f.), vergewissert den Greis der bleibenden, ja im Gegenzug zur Abnahme der individuellen Kraft sogar sich ausbreitenden Wirkung seiner Tätigkeit schon

in der Gegenwart und gibt ihm Anlaß zur Hoffnung einer dauerhaften Prägung der Welt durch seinen »Geist« noch weit über den physischen Tod hinaus®®, Der Trost, den Freundschaft vermittelt, liegt also in der Wahrnehmung, daß die Prinzipien des eigenen Handelns so in das eigene Handeln

eingegangen

sind,

daß

dieses eine Sozıalsphäre

erzeugt

hat,

ın der

diese Prinzipien ihrerseits fortgepflanzt und befolgt werden, was dann die eigene Untätigkeit jedenfalls unter dem Aspekt der Realisierung von Sittlichkeit erträglich macht. Es handelt sıch hier in gewissem Sinne um eine ungleichzeitige Wechselseitigkeit, insofern dıe Entstehung dieser Sozialsphäre sich einseitig der Tätigkeit des 'Lehrers’ verdankt, während in dessen Alter die ehemaligen Schüler auf den jetzt Untätigen einseitig zurückwirken. Die zweite Funktion der Freundschaft, so ließe sich zusammenfassen, besteht in der Durchsetzung (Adoleszenz), Steigerung (Mannesalter) und Reproduktion (Greisenalter) von sittlicher Homogenität und vollzieht sıch

als wechselseitige Kontrolle und Korrektur von Handlungen und Einstellungen auf Sittlichkeit hin; intendiertes Resultat ist die Etablierung einer sozialen Sphäre realisierter Sittlichkeit. Erstaunlicherweise tritt bei dieser Funktion die Instabilität faktıscher Individualität realistischer in den Blick als bei der ersten Funktion, der Wahrnehmung und Förderung von irreduzibler Andersheit. Denn während bei der Darstellung dieser die Gefahr ei-

ner gleichsam pointillistischen Diffusion der Individualität ın die reine Faktızıtät nur durch die bloße Voraussetzung einer sıttlichen Prägung der 39

Vgl. 6,38 dıe Rede vom »System, welches er zu ıhrem Besten befolgte«.

40 Vgl. 7,7: »in künftigen Generationen«.

l. Empfindung, Pflicht und Freundschaft

al

Freunde (eher verdeckt als) gebannt werden konnte und die Andersheit des Anderm deshalb unterbestimmt blieb, wird hier die Kontingenz und Labilität von Individualitätskonfigurationen um so deutlicher wahrgenommen, als sie

ja das Ausgangsproblem darstellt, das Freundschaft allererst nötig macht. Diese Kontingenz erscheint zunächst chiffriert als reine Infantilität, dann ın der überbordenden Leidenschaft des Heranwachsenden, in der Hemmung sittlicher Tätigkeit beim Mann, in der Tristesse der Handlungsunfähigkeit beim Greis. Und sıe erscheint vor allem als ın einem Prozeß zunehmender sittlicher Steuerungsfähigkeit zu eliminierend, wenn auch als nie völlig eliminierbar, was gerade die Beschreibung der spezifischen Wirkungen bzw. Wirkungsgrenzen der einzelnen transsubjektiven »übersinnlichen« Orientierungen durch das ganze Leben hindurch (und darüber hinaus) eindrücklich belegt. Trotz dieser Einschränkung kann man, vielleicht etwas überpointiert, sagen: Die zweite Funktion der Freundschaft begegnet der ın der ersten Funktion

(zwar de facto verschleiert, implizit aber durchaus) gegebe-

nen Tendenz auf Enssittlichung von Individualität durch Wahrnehmung reiner Faktizität mit einer Tendenz auf Entindividualisierung von Sittlichkeit durch

Hinwirken

auf Homogenität.

Nicht umsonst

kommen

im

Blick auf

das Interesse an Realisierung von Sittlichkeit die korrigierende Funktion der Freundschaft und die Wohltätigkeit aus Pflicht überein®!. Nicht umsonst auch unterscheidet sich das beim Greisenalter beschriebene Lehrer-Schüler-

Verhältnis zwar darin deutlich von der verobjektivierenden, den Ändern mithin als minderwürdig behandelnden, als Mittel gebrauchenden Wohltätigkeit der Pflicht*2, daß es die sukzessive Aufhebung des Dignitätsgefälles, eine fortschreitende Verselbständigung des Schülers und die Herausbildung von Wechselseitigkeit selbst ıntendiert, hat aber damit gemeinsam, daß es die Andern nach eigenem Plane formt#3.

41 vgl. oben 1.1. 42

Vgl. oben ebd.

43 Vgr. 4,30 mit 7,3f. Zu ähnlichen Problemen in Zusammenhang mit dem Eltem-KindVerhältnis vgl. unten 4.2.

42

I. Freundschaft - Kap. I. Aristoteles-Anmerkungen

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie Die sehr ausführliche Behandlung der zwei ersten Aristoteles-Anmerkungen hatte dıe Funktion eines Problemaufrisses, mittels dessen die Fragestellung des Textes und die Fragerichtung der Interpretation expliziert werden sollten. Die herausgearbeitete Doppelfunktion der Freundschaft bildet die Grundfigur, deren analytischer Präzisierung ım folgenden die anderen Anmerkungen

zugeordnet werden.

Die Untersuchung wird mithin nıcht mehr

der Textsequenz folgen.

2.1. Vollkommenheit und Vervollkommnung:

Die Ambivalenz der

ethischen Perspektive Wie gezeigt**, setzt Schleiermacher einerseits »sittliche() Vollkommenheit« (14,10f.; vgl. 17,34)% als Bedingung der Befähigung zu Wohltätigkeit und vor allem zu sittlicher Freundschaft voraus, andererseits betont er die faktı-

sche Bedürftigkeit gerade des als vollkommen Vorgestellten. Einerseits soll der Vollkommene fähig sein, andere Vollkommene als solche zu erkennen“, andererseits geschieht dies eben zu dem Zweck, mit diesen Anderen zu wechselseitiger Verhaltenskritik in Kontakt zu treten. Dem Wissen eige-

ner und fremder Vollkommenheit korrespondiert mithin ipso facto die An-

erkenntnis eigener und fremder Vervollkommnungsbedürftigkeit#’. Spannung

läßt sich auf mehrfache Weise deuten:

Einmal

kann

man

Diese sagen,

Vollkommenheit (im Sinne von Tugendhaftigkeit) bedeute zunächst nichts

44 Vgl. oben 1.2.1. und 1.2.2. 45 Zum Begriff der Vollkommenheit bei Christian Wolff vgl. die Einleitung von H.W. Arndt ın Wolffs Gesammelte Werke, I. Abteilung: Deutsche Schriften. Band 4: Vernünfftige Gedancken (3) [Deutsche Ethik]. Hildesheim - New York 1976, S. VEI und besonders IX, Anm. 17 (auch zu Leibniz), und ff.! Zum Verhältnis von Vollkommenheit und Vervollkommnung vgl. ebd., IXX. - Vgl. auch Eberhard, SdV, $ 17: Das Wesen der menschlichen Glückseligkeit besteht ın »fortschreitende(fr) Yollkommenheit«, wie die Erfahrung lehrt. Denn »weder der unveränderliche Besitz gewisser Vollkommenheiten ohne weiteres Bestreben, noch das Bestreben ohne Besitz und Genuß kann mit der Glückseligkeit bestehen.« Vgl. genauer unten Kap. 2, 1.2. und 1.3.1. 46

Vgl. 17,34: »nur der vollkomne soll unsre Vollkommenheit anerkennen.«

47

Vgl. diese Konstellation aber schon NE 1172a 12 (Dirlmeier, 270: »gegenseitige(] Vervollkommnung«; Schleiermacher, 80,29, übersetzt freilich »Befördenung [der] Tugend«).

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

43

anderes als das Wissen der Tugend*®, das allererst ein Differenzbewußtsein zwischen faktischen (gerade auch eigenen!) Zuständen und der zu realisierenden Tugend ermögliche und eine Dynamik auf Vervollkommnung hin

initiiere#®, Dann wäre der zum Freunde Geeignete an seinem Wissen der Tugend ıneins mit der verhaltensprägenden Kraft seines Differenzbewußtseins zu erkennen. Der '"Vollkommene‘ unterschiede sich vom Nicht-Tu-

gendhaften nicht primär durch Wissen von der Tugend nie so sozialen Umständen überlagert Wissen der Tugend erkennen lichkeit anerkennen

kann.

sein Verhalten, sondern dadurch, daß weit von den momentanen psychischen ist, daß er nicht wenigstens an anderen und ihre Kritik als Appräsentation der

Nimmt

man

nun als Quelle dieses Wissens

sein und das Sittund

seiner Identifizierbarkeit eine anthropologisch ursprüngliche Konstitution an?, muß man freilich zusätzlich die Faktoren angeben, die dazu führen, daß /aktisch nicht jeder dieses Wissen hat und es auch nicht über seine Wahrnehmung an anderen wıedererinnert, d.h., man muß den Tugendhaften vom Nicht-Tugendhaften gewissermaßen quantitativ unterscheiden nach Maßgabe der faktischen Rezeptionsfähigkeit für ethisches Wissen. Auch die Reduktion des Begriffs der Vollkommenheit auf das Wissen von dieser, verbunden mit einer Realisierungsdynamik, entgeht also nıcht der Spannung, die zwischen Apriorität und Faktizität in der Argumentation besteht. Jedenfalls kann, wenn man zugesteht, daß das prinzipiell allen Menschen eigene Wissen der Tugend faktisch nur in eınem Teil der Menschheit - und auch ın diesem nicht immer - präsent ist, dieses Wissen kaum mehr so inhaltlich bestimmt werden, daß es allgemeine und unbedingte Evidenz gewinnt - steht doch sowohl die Bestimmung als auch deren Rezeption selbst unter der Bedingung der Unvollkommenheit. Umgekehrt hängt natürlich die Einsicht in die Defizienz als Defizienz an dem Gegebensein eines Maßstabs der Vollkommenheit. Ohne solchen Maßstab könnte ja auch die sittlichkeitsfördernde Funktion der Freundschaft gar nicht aus selber moralischen

Gründen von Vergnügens- oder Nutzen-orientierten Freundschaftsformen! 48

Zum Verhältnis von Tugend und Einsicht, von schlechtem Handeln und Mangel an Einsicht - ım Sinne der »ıntellektualistischen Moraltheorien der antiken Philosophievgl. Chr. Wolff: Ges. Werke, 1. Abteilung, Bd. IV, $. XIV (Einleitung von H.W. Arndt).

49

Zur Vervollkommnungsdynamik vgl. Eberhard, SdV, $ 127 Anm. 2 ($. 140) über die englische moral-sense-Philosophie: der moral sense empfindet die Sittlichkeit von Handlungen und einen Trieb zu solchen Handlungen und ein Wohlgefallen daran (jeweils bei eigenen und fremden Handlungen).

50 Vgl. unten 2.6.3. 51

so die Kategorien des Aristoteles, vgl. NE

1155b

19.

44

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

abgehoben werden, geschweige daß destabslisierende, deformierende Wirkungen von 'Freundschaft' überhaupt identifiziert werden könnten. Deutlich ist das Interesse Schleiermachers, beide Bestimmungen - die ursprüngliche Vollkommenheit und die faktische Unvollkommenheit - festzuhalten,

und zwär um der wechselseitigen Begrenzung der diesen Bestimmungen innewohnenden Tendenz der Negation der jeweils anderen willen: Beansprucht reine Sittlichkeit nämlich Unabhängigkeit von gegebener Realisierbarkeit, so funktionalisiert reine Faktizität allgemeine Orientierungen und depotenziert

sie zu partikularen,

aus der jeweiligen

Realitätskonstellation

emergierten, mithin potentiell disponiblen>2, Man kann die Spannung freilich auch anders deuten, indem man das ursprünglich-bedingte

Wissen

Suche und Wahrnehmung,

der

Vollkommenheit

als

Formel

nicht

der

sondern der Zuschreibung von Vollkommenheit

in faktıscher Unvollkommenheit auffaßt. Man kann dann plausibler die kontextunabhängtge Genese und die zugleich kontextfunktionale Verwendung

des Tugendwissens betonen: Die Vollkommenheitszuschreibung an Ändere stiftet diejenige Realität, auf deren Rückwirkung der 'Stifter' - zur Steigerung der eigenen Vollkommenheit und zur Korrektur der eigenen Unvollkommenheit - angewiesen ist. Die Frage der Erkennbarkeit der Tugend am Andern hätte sich damit insofern beantwortet, als sie sich nicht stellte: Tugendfreundschaft wäre eine 'selbstselektive'?? Sozialform, die sich ihre Elemente - Kommunikationen

von allgemeinen Orientierungen - selbst her-

vorbringt. Die Unterscheidung der Tugendhaften von den Nicht-Tugendhaften wäre nicht analytisch-notwendig, sondern synthetisch-kontingent und ließe deshalb Übergänge offen, ja führte sie selbst herbei. Denn der Zuschreibung selber wäre so versittlichende Kraft - zugeschrieben, sie wäre selbst schon Vollzug jener Sozialform, die sie erst erzeugt. Freilich erfor-

derte solche Zuschreibung auf der Seite dessen, dem zugeschrieben wird, Einsicht und Einverständnis in die verwendete allgemeine Bestimmung von Tugend und/oder Vertrauen in die Person des Zuschreibenden, das ein Handeln nach dessen Ideen erlaubte?*. Diese Erfordernisse sind unverfüg-

bar, wenn anders gerade die sittliche Freundschaft der Unabhängigkeit der Beteiligten voneinander bedarf und der eine nicht einseitig des andern »Glüksschöpfer« (4,29) zu sein beanspruchen soll. Deshalb fragt sich auch, ob Zuschreibung so völlig auf Beobachtung verzichten kann und nicht vielmehr mindestens Rezeptionswahrscheinlichkeiten abschätzen muß. Damit 52

Vgl. unten 3.1.

53

Zum Ausdruck vel. N. Luhmann: Liebe als Passion. Frankfurt (M) 1982, 208.

34

Vgl. oben 1.2.1.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie aber

bleibt

die

Frage

der

Präsenz,

Virulenz

und

45

Kommunikation

all-

gemeiner Orientierungen in partikular-fragilen Individuen erhalten>>,

und

ebenso umgekehrt die Frage nach der Bedeutung der Wahrnehmung

parti-

kular- fragmentarischer Individualität für Freundschaft.

2.2. Resonanzsensibilität und Selbstachtung Interpretiert man die Spannung zwischen Vollkommenheit und Vervollkommnungsbedürftigkeit von der Annahme eines ursprünglichen Wissens der Tugend her, so muß neben der Fähigkeit, dieses Wissen an anderen zu erkennen, und als deren Ermöglichungsbedingung auch das Wissen dieses

Wissens selbst gegeben sein. Deutet man sie hingegen mittels eines Konzepts von Zuschreibung, so muß die Vollkommenheitszuschreibung an andere einhergehen mit einer Selbst-Zuschreibung von Vollkommenheit®. Welche Funktion hat nun das Wissen vom Wissen der Ändern für das eigene Wissen, dıe Fremdzuschreibung für dıe Selbstzuschreibung? Schleıermachers Anmerkung

18 (17,31

- 19,7) über die Funktion der Ehre auch

für den 'Tugendhaften' erlaubt es, das bereits Erörterte zu präzisieren?’. Schleiermacher sagt nicht, der Einzelne sei in seiner Selbstwahrnehmung und Selbstachtung prinzipiell und krıterienlos von sozialer Resonanz, von »Ehre« abhängig. Im Gegenteil krıtisiert er, daß ın der Gegenwart »von Jugend auf« zur Orientierung an bloßer »Meinung« (18,38f.} erzogen werde.

Andererseits kann die Fähigkeit des Einzelnen zur Distanzierung von kontingenten sozialen Nötigungen nicht so verstanden werden, als sei der Einzelne - sofern mit Tugendwissen ausgestattet - auf soziale Bestätigung

schlechterdings nicht angewiesen. Vielmehr steigert ja gerade das Wissen von der Tugend das Bewußtsein der eigenen Vervollkommnungsbedürftig55

Vgl. dazu ausführlich unten Teil II.

56

Dies gilt freilich wiederum nur dann, wenn das materiale Wissen von Vollkommenheit selbst Yollkommenheit impliziert. Denn andemfalls ließe sich durchaus der Fall denken, daß ein 'Unvollkommener‘

Anderen

'Vollkommenheit‘

zuschriebe - zum

Zwecke

der eigenen Vervollkommnung qua Resonanz. 57

Zum Begriff der Ehre vgl. Chr. Wolff: Deutsche Ethik, $ 590 (vgl. dıe Einleitung von H.W.

Arndt,

XXI).

Vgl. auch Eberhard, SdV $ 183 (S. 222 - 224), besonders Anm.

1

(5. 223): »Wessen Achtung sollen wir aber begehren? Nur der guten. - Die Ehre setzt

also Begriffe von wahren Guten voraus, und darf nur ein untergeordneter Bewegungsgrund unserer Handlungen gers und die Principien der Theil. Halle 1784, 1 - 28, nicht als Bewegungsgrund,

seyn.« - Vgl. ferner Eberhard: Ueber die Freyheit des BürRegierungsformen. In: Ders.: Vermischte Schriften. Erster hier: 12ff. (Ehre und Tugend, Furcht und Tugend, Ehre sonder als Unterstützung der Tugend).

46

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

keit und vermittelt sowohl

als auch

setzt ın Bewegung

ein Kriterienraster

zur Suche tugendförderlicher Kommunikationen. Dieses Kriterienraster ermöglıicht dıe Selektion jener sozialen Beziehungen, deren Resonanz diejenigen Ausprägungen der Selbstwahrnehmung und Selbstachtung stabilisiert, kontinuiert und - vermittels der Elimination von Gegenkräften - steigert, die

jene Selektion bestimmt und bewirkt hatten. In Schleiermachers Worten entspricht dies der Unterscheidung »wahrer« von »falscher Ehre« (17,32). Sucht jene das Urteil Urteilsfähiger (vgl. 17,32f.) und setzt sich darum gleichsam objektiver Kritik aus, so »weidet« diese »ihre Eitelkeit auch an

dem Urtheil 18,1)5®, und einstimmung. sonanz dazu

derer die eben keine zuverläßigen Richter sind« (17,36 erstrebt nicht Kritik, sondern unqualifiziert bestärkende ÜberSchleiermacher sieht deutlich, daß beide Formen sozialer Redienen, »gute Meinung von sich selbst durch das Urtheil an-

derer zu befestigen« (18,2f.). D.h., jede Form ınnerer Selbstwahrnehmung

und Orientierung sucht exakt die sozialen Kontakte, die sie als sie selbst zu erhalten erlauben. Die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Ehre, zwischen Selbstbestätigung aufgrund von »Wahrheit« (18,2) und aufgrund von »Täuschung« (ebd.; vgl. 17,36: »Selbsttäuschung«) verdankt sich einer Position, die sich selbst bereits als die 'wahre' qualifiziert hat. Diese Zirkularıtät bleibt unbefriedigend, die Unterscheidung rein dezisionistisch, die

Pluralität sozialer Resonanzen untereinander unvergleichbar, wenn nicht ein Maß angegeben werden kann, das die Auswahl der 'richtigen' Zirkularität ermöglicht, ohne selbst zirkulär strukturiert zu sein. Es wird unten zu zei-

gen sein, wie Schleiermacher Zeit bzw. Dauer als dieses Maß einzuführen

versucht59. Doch zunächst ist zu klären, wie Schleiermacher den Übergang aus »ursprüngliche(r) Selbstliebe« (18,13) in soziale Rekursivität, aus individueller Selbstreferenz ın Rezeption sozialer Resonanz denkt. Wenig ist

damit gewonnen, daß er für diesen Übergang gleichsam anthropologisch einen »Trieb nach Ehre« (18,4) postuliert. Dieses Postulat verankert nur das

Bedürfnis nach sozialer Stabilisierung der Selbstachtung quasi-realistisch in der Psyche des Einzelnen. Ungleich weiter führt die Reflexion, daß jener Trieb sich nicht von selbst Geltung verschafft. »Wie können wir aber diesen Trieb befriedigen? wie werden wir die Menschen dahin bringen unsre Vollkommenheiten anzuerkennen?« (18,6-8; Hervorhebungen von mir). Offenkundig kommt die Ehre, die als Resonanz der eigenen Vollkommenheit das Wissen der realisierten Vollkommenheit »befestig(t)« (18,3), ındem sıe des-

sen soziale Kontrolle ermöglicht, und vermittels sozialer Anerkennung zur 58

Zur erforderlichen Urteilskompetenz vgl. auch NE 1094b 27f.

59

Vel. unten 3.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

47

Fortsetzung und Steigerung der Äußerung eigener Vollkommenheit anreizt, nicht schon allein durch das Vollkommensein

selbst (und auch nicht durch

deren nicht auf diejenigen, deren Ehrerbietung man sucht, bezogenen Äußerungen)

zustande.

Der

'Besitz’ von »Vollkommenheiten«

ist zwar notwen-

dige, aber nicht »hinlänglich(e)« (18,8f,) Bedingung dafür, daß sie von anderen (anderen Vollkommenen!) auch gewürdigt werden. Die pure Wahrnehmung nur vorhandener Vollkommenheit hinterläßt »keinen bleibenden Eindruk« (18,9., Hervorhebung von mir). Das Ziel, kontinuierliche, Aner-

kennung kommunizıerende und ınsofern Resonanz bildende »Aufmerksamkeit« (18,10) hervorzurufen, wird nur erreicht, indem man die eigenen »Vollkommenheiten«, statt ste nur "an sich' zu haben, gezielt einsetzt: indem

man

sie äußert als Handeln

zum »Wohl«

(18,12) eben derer, deren

Verehrung man erstrebt60. »Wir müßen (...) unsere Vollkommenheiten in eine genaue Verbindung mit ıhrem Wohl sezen, wır müßen ıhnen nüzlich, wir müßen ihnen gefällig werden« (18,10-13, Hervorhebungen von mir). Wie in Anmerkung 161 ist der Einzelne also genötigt, aus der eigenen »Sphäre« (5,11) herauszutreten, zum Besten anderer zu handeln. Doch während dies dort mit der Endlichkeit hermetischer Innerlichkeit und dem

Überdruß an rein immanenter Reflexivität motiviert wird und somit als Suche nach Kommunikation mit wenn auch 'gleichgesinnten' Anderen zum Zwecke

interner Selbst-Anreicherung erfolgt, so ıntendiert das altruistische

Handeln hier, soziale Beachtung und daraus folgend artikuliert rückgespiegelte Achtung für dıe eigene sittliche Vollkommenheit zu erzeugen. Im Vergleich zu der oben®2 gegebenen Beschreibung des Prozesses der 'SelbstSteigerung

mittels

Altruissmus’

haben

sıch

Reihenfolge

und

Schwerpunkt

verschoben: Prozeßinitiierend ist nicht die Wahrnehmung der Beschränktheit der eigenen Sphäre und die damit korrespondierende Wahrnehmung von

diese

Beschränktheit

entgrenzenden

fremden

Ideen,

sondern

das

Be-

dürfnis der - durchaus als autosuffizient gedachten - »ursprünglichen Selbsiliebe« (18,13) nach externer Bestätigung Ihrer eigenen Perspektive auf

sich selbst. Die reflexive Wahrnehmung eigener sittlicher Handlungen®3 ist auch nur Nebenprodukt, das zur Steigerung der Selbstachtung nicht unmit-

60

Vgl. NE

1155b 34: Freundschaftliches Wohlwollen zeichnet sich dadurch aus, daß es

für den Adressaten erkennbar ıst und mithin zu Wechseiseirigkeit anregt.

61 vol. oben 1.2.1. 62

Vgl. unter 1.2.1.

63 Vgl. oben 1.2.1. bei und mit Anm. 27.

48

I. Freundschaft - Kap. 1. Arıstoteles-Anmerkungen

telbar beiträgt6*. Die eigenen sittlichen Handlungen erscheinen deshalb in weit stärkerem Maße als reines Mittel zum Zweck der Erlangung sozialer Achtung, und deshalb gilt diese Achtung eben nicht primär diesen Handlungen selbst, sondern der ihnen zugrundeliegenden ursprünglichen Vollkommenheit. Die Kommunikation ist mithin Wechselseitigkeit spielt eine Rolle nur noch

nicht mehr selbst Zweck, als Realisierungsbedingung

eines ihr äußerlichen Zieles. Dazu paßt zwar, daß die Achtung intendierenden Handlungen zum Wohle anderer als diesen »nüzlich« und »gefällig« (18,12f.) charakterisiert werden und damit exakt jene Verhaltensortentierungen der andern evozieren, auf denen nach Aristoteles die uneigentlichen

Freundschaftsverhältnisse beruhen, nämlich Eigennutz und Vergnügen®. Aber zugleich wird unklar, wie man ein solches, instrumentalisiertes und instrumentalisierendes Handeln noch als selber sittlich ansehen, wie man es

von purer Schmeichelei und Geltungssucht unterscheiden kann, Eine solche Unterscheidung ist nur dann möglich, wenn das Handeln der sittlichen Vervollkommnung eben derjenigen gilt, deren Vollkommenheit sie zu

qualifiziertem Urteil befähigt und die ihnen sich verdankende Ehre deshalb allererst relevant macht, d.h., wenn die Andern als solche angesehen werden, die auf keine anderen als auf sirtliche Handlungen mit Ehrerbietung reagieren.

In dieser Formulierung

der oben66 dargestellten zweiten Funktion

nähert

sich die Beschreibung

der Freundschaft an, nämlich

der wechselseitigen Versittlichung mittels Verhaltenskritik und Verhaltenskorrektur. Nur ist jetzt die Wechselseitigkeit asymmerrisch., Der die Sittlichkeit des Andern fördernden Handlung korrespondiert ein Urteil über den so Handelnden (und gegebenenfalls über die Handlung selbst). Dadurch

scheint sich auch hier der Schwerpunkt zu verlagern: von der Etablierung

einer Sphäre realisierter Sittlichkeit6” auf die Qualifikation des Handelnden qua Fremdbeurteilung und auf die Bestärkung der Selbstbeurteilung des Handelnden durch Wahrnehmung dieser Fremdbeurteilung. Man kann geradezu

von

einer

Tendenz

auf

Re-Individualisierung

der

versittlichenden

64 Schleiermachers Argumentation hat allerdings die Schwäche, daß sie die öffentliche Sichtbarkeit beliebiger sıttlicher Handlungen nicht als möglichen Grund öffentlicher Achtung benennt, sondern nur die aus sittlichem Handeln gegen bestimmte Andere von diesen artikulierte Achtung als seibstachtungssteigernd zu kennen scheint. Andemfalls wäre ja denkbar, daß eben diese bestimmten Handlungen bei Unberetligren Achtung und deren Artikulation hervorrufen.

65 Vgl. NE 115626 -b 6. 66 Vgl. 1.2.2. 67 Vgl. oben 1.2.2.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

49

Funktion der Freundschaft im Medium von Zuschreibungen sprechen, freilich nur ım Blick auf denjenigen, der Ehre sucht und empfängt. So sind die beiden Funktionen der Freundschaft hier stärker verschränkt

als in den oben63 behandelten Textpartien.

Einerseits sind sie dadurch

schwerer erkennbar und unterscheidbar, andererseits wird der Eindruck aufgehoben, es handele sich um zwei verschiedene Formen von Freund-

schaft. Allerdings erreicht die Darstellung nıcht dıe für die Beschreibung der Funktionsverschränkung

für Freundschaft mentalisierung

nötige Dichte:

konstitutiven

sittlichen

Mit der Unterbestimmung

der

Wechselseitigkeit geht einher eine Instru-

Handelns

und

eine

Instrumentalisierung

irredu-

zibler Fremdreferenzen zugunsten der Stabilisierung von Selbstreferenz, was zwar nicht die Aufhebung jener Irreduzibilität (denn das Postulat der Andersheit des Ehre erweisenden Andern ıst funktionsnotwendig dafür, daß dıe Fremdreferenz als selbstreferenzsteigernd erfahren wird), wohl aber den

Verzicht auf deren konkrete Wahrnehmung impliziert. Der Gewinn, den der Abschnitt bringt, liegt umgekehrt darın, daß er die über die soziale Resonanz der Ehre vermittelte Erhaltung

und Steigerung der Selbstwahrneh-

mung als Kontinuierung von Selbst-Achzung und diese als irreduzibel soziales Phänomen erfaßt, und daß er diese Kontinuierung als unverfügbar sich dem urteilenden Zuspruch Anderer sich verdankend und zugleich als über eigenes Handeln zu provozierend beschreibt. Dieser letzte Aspekt wird ex negativo deutlicher durch die im Text fol-

gende Kritik des Erkaufens von Ehrbezeugungen psychologisch

erklärt

als

Resultat

einer

(18,16 - 19,4). Es wird

Gewöhnung

an

Selbsttäuschung

(man muß sich ja, um erkaufte Ehre vor sich selbst als Ehre und somit als Stabilisierung der Selbstachtung empfinden zu können, die Tatsache, daß sie erkauft ist, verbergen)

oder aber als Resultat der Verzweiflung

daran,

sich wirkliche Ehre durch gemeinnützige Taten erwerben zu können, mithin als eine Art Zynismus (18,19-21). »Ein Staat der den Handel mit Ehrenzeichen zu einem

Erwerbzweig

macht« (18,21f.),

fördert »auf eine unverant-

wortliche Weise« (18,22f,.) solche Haltungen. Er schadet sich aber damit mittelfristig selbst, »indem er dadurch ausgezeichnete Handlungen des Patriotismus und der Menschenliebe verhindert, wodurch sonst mancher seınen Trieb nach Ehre gestillt haben würde, welcher jezt aus Trägheit die

mißverstandne Sättigung desseiben erkauft« (18,24-27). Diese Reflexion erlaubt es, der Frage der Unterscheidung von wahrer und falscher Ehre ein weiteres Kriterium hinzuzufügen. Wahre Ehre ist nämlıch jetzt zusätzlich dadurch charakterisiert, daß sie bestimmte Handlungen honoriert und eben 68

Unter

1.2.

50

I. Freundschaft - Kap. |. Arıstoteles-Anmerkungen

durch das antizipierte Wissen

solcher Honorierung

selbst hervorruft?.

Falsche Ehre beruht hingegen auf der Anerkennung von Surrogaten solcher Handlungen: von Geld und Macht. Solche Anerkennung ist entweder

erzwungen, oder sıe verdankt sıch einer Selbsttäuschung auch der die Anerkennung Aussprechenden. Der Staat hat - schon ım Interesse seiner Selbsterhaltung - die Aufgabe, derartige Zwangs- oder Illusionsverhältnisse zu

verhindern, da sie handlungslähmend wirken ’®., Die Instrumentalisierung des sittlichen Handelns und der irreduziblen Fremdreferenzen auf Stabilisterung der Selbstachtung hin ist somit ihrerseits noch einmal umgriffen vom Interesse an der Realisierung von Sittlichkeit. Der »Durst nach Ehre« animiert »zu geselligen und gemeinnüzigen Handlungen« (18,13-15), der »Trieb« der Steigerung von Selbstachtung er-

weitert mittelbar die soziale Handlungssphäre realisierter Sittlichkeit, das Bedürfnis nach Anerkennung wirkt selbst versittiichend. Deshalb tritt nach dem Willen und der Weltordnung des »Schöpfer(s)« (18,15) - neben die reine Pflichtorientierung sittlichen Wohltuns’! eine (sofern sie handlungsleitend ıst) legitime Orientierung an sozial stabilisierter Selbstachtung,

an über soziale Resonanz laufender Selbstreferenz.?’2

69

Diese Formulierung sucht Schleiermachers Engführung auf solche Handlungen zu vermeiden, die sıch auf jene beziehen, deren Anerkennung man sucht. Vgl. oben Anm. 64.

70

Unter Orientierung an der handlungsprovozierenden Funktion ließe sıch nach Schleiermacher das Erkaufen von Ehrenzeichen dann rechtfertigen, wenn Arıstoteles recht damit hätte, »daß die meisten Menschen das geehrt werden nur suchen als ein Zeichen guter Gesinnungen und um der Hofnung ihres Beistandes und ıhrer Unterstüzung desto sicherer zu seyn« (18,30-32; vgl. 56,7-10: NE 1159a 18-21). Dann wäre das Kaufen von Ehrenzeichen (Adelsbrief, Ordensband;

vgl.

13,33f.) kein Substirur für gemeinnüt-

ziges Handeln, sondern eine Art Zusarzversicherung: man investiert gleichsam in Zuneigung, man erwirbt sıch Zuneigung für »unvorhergesehene()} Fälle()« (18,35), man tauscht gleichsam jerze Geld für zukünftige Zuneigung, nämlich für Situationen, ın denen man sich Zuneigung weder kaufen noch selbsttätig erwerben könnte (etwa ım Sinne von Lk 16,19: »Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn €s damit zu Ende ıst, sıe euch aufnehmen ın dıe ewigen Hütten«). Eın solches Verständnis verlangt aber eine innere Stabilität der Handlungsorientierung, die Schleiermacher in seiner Gegenwart angesichts allgemeiner Verwechslung der äußeren Scheins mit dem inneren Sein für nicht gegeben hält (vgl.

18,37 - 19,4).

Al

Vgl. oben 1.1.

T2

Leider bricht der überlieferte Text dieser Anmerkung an der Stelle ab, wo Schleiermacher die Ehrliebe als »gesellige Empfindung, sofern sıe den Menschen an andere anknüpft«, zu behandeln anfängt (19,5f.). So fehlt der nach Schleiermachers eigener Einschätzung »interessanteste Theil« der Anmerkung (43,11); Schleiermacher vermutet, ihn verloren zu haben (vgl. 43, 11f.).

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

51

2.3. Kommunikation von eigener und fremder Individualität und von sittlichen Urteilen:

Die drei Gestalten sozialer Resonanz

Daß Ehre die versittlichende re’3, stimmt nur insofern, als Selbstwahrnehmung Einzelner ziale Anerkennung läuft auch

Funktion der Freundschaft re-ındivıdualisiesie eine selbst schon an Sittlichkeit orientierte stabilisiert und intensiviert. Ebenso wie soSelbst-Achtung über Tugendwissen, soziale

Anerkennung ist Kommunikation

einer Anwendung des Tugendwissens auf

einen bestimmten Einzelnen in einer bestimmten Situation, der als Kriterıum seiner Selbstwahrnehmung selbst das Tugendwissen akzeptiert. Es scheint, als müsse man die Behauptung einer Verschränkung zweier Funk-

tionen der Freundschaft’* dahingehend verschärfen, daß im Hinblick auf soziale Anerkennung die je konkrete Individualität keine Rolle spielt, außer als Indikator der je realisierten Sittlichkeit am kontingenten Ort eines Einzelmenschen. Man könnte geneigt sein, Jene als erste Funktion der

Freundschaft apostrophierte Wahrnehmung der irreduziblen Andersheit?> überhaupt zu reduzieren Schleiermacher ohnehin

zu einem unselbständigen Nebeneffekt der von zur Hauptaufgabe von Freundschaft erklärten

Kontroll- und Korrekturfunktion (vgl. 11,10-12). Doch gerade die Nötigung, am Ort des Einzelnen Sittlichkeit von Kontingenz zu unterscheiden,

impliziert bereits die Wahrnehmung

dieser Kontingenz, in der Sittlichkeit

sich realisiert oder noch nicht realisiert hat. Dies heißt freilich noch nıcht,

daß die Kommunikation von kontingenter Individualität selbst zum Freundschaftszweck gemacht wäre. Andererseits legt das Konzept der Selbsterweiterung durch Wahrnehmung der Ideen anderer’© eben diesen Gedanken nahe. Anders als ın den bisher behandelten Partien, wo jenes Konzept selber wieder sehr stark ethisch und handlungsorientiert gefaßt ist, gibt es Text-Passagen,

ın denen

dıe wechselseitige Kommunikation

von

Gefühlen

und Selbststilisierungen eigenständiger thematisch wird. Die sittlichkeitsfördernde Funktion der Freundschaft beschränkt sich nicht auf eine Kritik des Verhaltens, sondern setzt das Handeln in eine Be-

ziehung zur konkreten Person des Handelnden, Genau dies unterscheidet ja den Freund von anderen, die Handlung 'ohne Ansehen der Person' allein anhand von Recht oder Moral wägenden Beurteilungs- und Sanktıonsinstan-

73 Vgl. oben 2.2. 74

Vgl. oben 2.2. und schon 1.2.

75

Vgl. oben 1.2.1.

76

vgl. ebd.

52

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles- Anmerkungen

zen. Deshalb kann der Freund in ihn selber sozial destabilisierende Konflıktlagen mit der öffentlichen Meinung geraten, wenn sein Freund sichtbarer moralgesetzwidriger Handlungen wegen gesellschaftlich geächtet oder gar gerichtlich bestraft wird.

Denn anders als Gesellschaft und Justiz kann

ein Freund nicht abstrahieren von den Umständen und von den Moriven selbst öffentlich sanktionierter Handlungen. Geht die Gesellschaft (zu der auch jene dem

Delinquenten

näherstehenden

»gute[n],

rechtliche[n]

Men-

schen« gehören, »deren Hauptstärke aber eben nicht in feinen Gefühlen und Urtheilen liegt«, 36,35f.) mit einem gewissen »moralischen Pedantismus« (37,1) an die Handlung heran, rubriziert sie kasuistisch (vgl. 37,3) und entscheidet dann nach der Schwere des Falles, in welchem Maße sie sıch von dem so Handelnden distanziert bzw. an der Verbindung mit ihm festhält

(Leitfrage: »wie rief ist er gefallen?«, 37,11, vgl. 37,2), so orientiert sich der Freund an der Frage: »wie ist er gefallen?« (37,12). Das heißt nicht, daß nicht auch diese Perspektive zu einer Distanzierung, zu einer Beendigung der Freundschaft nötigen könnte, Aber darüber entscheidet nicht die Wahrnehmung der Handlung, sondern die Untersuchung, ob die immoralische Handlung eine innere Immoralität indiziert. Trennung erfolgt freilich erst, wenn diese innere Immoralität sich als habituell, als irreversibel geworden erweist. Denn das impliziert eine Veränderung der Person selbst?’.

Gerade die sittlichkeitsfördernde Funktion der Freundschaft setzt also die Fähigkeit zu Introspektion ın den Anderen voraus. Genauer muß man sagen,

daß ein Freund

kehrt muß,

wer

geradezu definiert ist durch

Freundschaft

will,

sich

diese Fähigkeit.

solcher Introspektion

Umge-

aussetzen

wollen. Der Kompetenz des Andern, vom Äußeren auf das Innere rückzuschließen, muß die Bereitschaft des Einen korrespondieren, sein Inneres

dem Andern aufzuschließen. Allerdings ıst die Introspektion nicht schlechterdings angewiesen auf solche Selbst-»Mittheilung der Seele« (11,3). Vielmehr sieht Schleiermacher durchaus, daß Selbstbeschreibungen immer

schon Selbststilisierungen sind und deshalb selbst der Außen-Innen-Differenz der freundschaftlichen Introspektion unterliegen’®. Die versittlichende Funktion der Freundschaft steht und fällt ja gerade damit, daß der Andere unabhängig ist von der momentanen Selbstwahrnehmung und -beschreibung des Einen,

daß er sıch aber als Freund

nıcht bloß am person- und situati-

onsunabhängıgen Kriterienraster des Sittengesetzes orıentiert, sondern eben zugleich an der kontingenten Situation der kontingenten Person. Deshalb [2]

Vel. 37,16:

»dann freilich ist er nicht mehr derselbe Mensch (,) wie Arıstoteles es aus-

drückt«. Vgl. NE 1165b 22, ferner 1159a 10. 78

Vgl. dazu auch unten Kap. 10, I.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

93

muß auch erörtert werden, ob Freundschaft durch räumliche Trennung gefährdet ist (Anmerkung

13:

I1,1 - 12,7). Denn zwar räumt Schleiermacher

ein, daß ım Vergleich zur Zeit des Aristoteles in der Moderne die Möglichkeiten »Öftere(r)

Mittheilung der Seele an einen Abwesenden«

(11,3) weit

verbessert sind und daß deshalb das Informationsdefizit, das nach Aristote-

les zum Verschwinden der Freundschaft führt”?, nicht mehr auftreten muß. Gleichwohl hemmt Abwesenheit den Effekt von Freundschaft. Denn der abwesende Freund hat kein von den Selbstmitteilungen des Freundes unabhängiges und dennoch auf die Person des Freundes (und zwar in deren momentaner Befindlichkeit) bezogenes Kriterium mehr, diese Selbstmitteilun-

gen zu beurteilen. Er kann sich nicht an unmittelbarer eigener Beobachtung orıentieren, sondern

allenfalls an vergangener Erfahrung

mıt dem

Freund.

Je länger und intensiver diese Erfahrung denn auch war, desto eher bleibt dıe Freundschaft auch über räumliche Distanz funktionstüchtig (vgl. 11,2532). Selbstbeschreibungen sind freilich nur ein eminenter, weil besonders viele Einzelerfahrungen integrierender und prägender Fall der Kontrollbedürftigkeit. Ein Freund zeichnet sich nämlich auch dadurch aus, daß er über generalisierende Verhaltenszuschreibungen und über die Zuschreibung von

auffälligen Handlungen hinaus auch ephemere, dem oberflächlichen Blick unauffällige Verhaltensweisen des Freundes wahrnehmen, in eine Beziehung zu dessen Person setzen und mit dieser Beziehung dem Freund rückkommunizieren kann. Diese gleichsam alltägliche Verhaltensspiegelung, die auf bestimmte »kleine Handlungen« (11,19) allererst aufmerksam macht, die mithin gerade das dem Handelnden selbst Unauffällige und Unbewußte erfaßt, das dieser deshalb auch ım Brief nicht mitteilen und der Kritik aussetzen kann, ist durch Abwesenheit völlig unmöglich gemacht. Das hat Folgen nicht nur für den Einen, auf Korrektur Angewiesenen, dessen im-

moralische Entwicklungen nun nicht mehr in der Wurzel gestoppt werden, sondern sich entfalten können, sondern auch für den Ändern, der die gerade durch Akkumulation von alitäglıchen Erfahrungen geprägte Entwicklung des Freundes nicht mehr mitverfolgen kann und deshalb nach und nach

seine Urteilssicherheit im Blick auf diesen verliert. Nun könnte es freilich so erscheinen, als erübrige sıch angesichts der Fähigkeit

des

Freundes,

den

Freund

besser

zu verstehen

als dieser

sich

selbst, eine - Authentizität behauptende - Selbstexpression dem Freunde gegenüber, insofern diese vom Freund wiederum unter dem Schema der Differenz von Äußerung und Innerlichkeit beobachtet wird. Warum besteht Freundschaft

nicht bloß

79 Vgl. NE 1157b 11-13.

ın der wechselseitigen

Kommunikation

von

Ver-

54

I. Freundschaft - Kap. I. Aristoteles-Anmerkungen

haltensbeobachtungen,

verbunden

mit deren ethischer Beurteilung

und be-

gründeten Vermutungen über die Relevanz des beobachteten Verhaltens für die sittlich-personale Entwicklung des so Handelnden? Aufschlüsse darüber vermitteln in Anmerkung 25 die Ausführungen über durch Geheimnisse verursachte Freundschaftsprobleme (28,27 - 31,13). Schleiermacher scheint hier nicht zu unterscheiden zwischen der Verheimlichung von Wissen und Gefühlen, die die Freundschaft selbst betreffen, und der durch freund-

schaftsexterne soziale Bindungen gegebenen Schweigepflicht. Kritertum der Relevanz von Geheimnissen für die Freundschaft ist das Maß der Auswirkung des Verheimlichten (und des selber verheimlichten Akts des Verheim-

lichens) auf Handtungen und wahrnehmbare, kommunizierte Einstellungen. D.h.: freundschaftsgefährdend werden Geheimnisse erst, wenn sie Ursache bestimmter Verhaltensweisen sind. Daß diese sich ihm unbekannten Ursachen verdanken, bemerkt der Freund daran, daß seine Beobachtungen ıhn zu Rückschlüssen auf die Person des Freundes nötigen, die nicht überein-

stimmen mit seinem bisherigen Bild dieser Person bzw. die überhaupt nicht mehr zu einem vollständigen und konsistenten »Bild« (31,1) vereint werden können. Wie aber erkennt der Freund, daß es sıch dabei nicht allein um Defizite seiner eigenen Wahrnehmungsfähigkeit, sondern um wirkliche und

gewußte Inkonsistenz des Ändern handelt? Daran, daß bei Kommunikation seiner Verhalten auf Person rückschließenden Urteile keine Konsistenz wiederherstellende Berichtigung oder Zusatzinformation durch den Beurteilten selbst mehr erfolgt. Bei »öftere(m) irren im Urtheil« (31,2) - wobei unklar ist, ob der Irrtum des Einzelurteils Jeweils durch die scheiternde Integration in ein Gesamtbild oder durch die explizite Rückkommunikation des Beur-

teilten oder durch beides offenbar wird - wird der Freund »sich uns nach und nach als eın übelzusammenhängendes Wesen denk(en), auf welches er seine Liebe nicht concentriren kann, weil er es nicht aus einem Punkt umfassen kann« (31,3-5). Damit fallen natürlich entscheidende Funktions-

bedingungen der Freundschaft dahin: Die Beobachtung hat kein auf die individuelle Person zentriertes Kriterium mehr, der Beobachter kann dem Beobachteten deshalb auch kein als Einheit der Zuschreibungen Konstituiertes Bild seiner selbst mehr kommunizieren und zur Orientierung seiner Selbstwahrnehmung zur Verfügung stellen, der Beobachtete weiß jetzt gewissermaßen mehr von sıch als der Beobachter und kann die Wahrnehmung

von Außenperspektiven auf sıch nicht mehr zur Selbstkorrektur Selbststabilisierung verwenden, Minimalbedingung zur Bewahrung Freundschaft

den

formalen

trotz nicht aufhebbarer

Geheimnischarakter

des

Geheimnisse

ıst deshalb,

Verheimlichten

dem

und von

zumindest

Freunde

zu

offenbaren (vgl. 29,10-19). Dadurch versichert man ihn der eigenen inne-

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

ren Konsistenz und appelliert an sein Vertrauen®®,

55

die Behauptung

für

Wirklichkeit zu nehmen. Diese Ausführungen verdeutlichen die Konzeption von Freundschaft in mehrfacher Hinsicht. (a) Einmal explizieren sie den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Beobachtung und Selbstbeschreibung differenzierter, als es bisher geschah. Denn einerseits arbeitet Beobachtung mit Differenzschemata, die die Beobachtung von Selbstexpressionen mit umfassen, das macht ja gerade die Funktionalität der Kommunikation solcher Beobachtungen für den Beobachteten aus, der sıch andernfalls ja mit seiner Selbstwahrnehmung

zufrie-

den geben könnte, aber eben an deren Unsicherheit keine Genüge findet. Andererseits bedürfen die kommunizierten Beobachtungen ihrerseits der kontrollierenden Rezeption durch den Beobachteten selbst: Er muß sich ‘erkannt’ oder verkannt wissen und eben dies dem Beobachter rückkommu-

nızıeren. Das heißt freilich nicht, daß dıe Rezeption über die Stichhaltigkeit der Beobachtung entscheidet. Der Beobachter kann Ja die Reaktıon des Beobachteten selbst wieder unter dem Aspekt der Außen-Innen-Differenz un-

tersuchen und zum Ergebnis kommen, daß die Zurückweisung der Beobachtung durch den Beobachteten auf Selbsttäuschung beruht und insofern jene

Fehlhaltungen

Kommunikation

stabilisiert

der

rückkommunizierte

und

Beobachtung Zurückweisung

noch

gedient

steigert,

hatte.

als Information

deren

Korrektur

Allerdings über

den

muß

die

er dıe

Anderen

in

den Fundus seiner Erfahrungen mit diesem integrieren, wenn er in seinen Beobachtungen weiterhin Anhalt an der Entwicklung des Freundes behalten will - was ja Voraussetzung für fortdauernde Freundschaft ist, insofern es wertende Zurechnung konkreter Handlungen auf konkrete Person ermöglicht. Deshalb gefährdet die beidseitig gewußte Differenz von Selbstwahr-

nehmung beider,

und wohl

Beobachtung

zwar nicht notwendig

aber die Freundschaft,

indem

den

Realitätsanspruch

diese auf der wechselseitigen

Zuschreibung der Kompetenz zutreffender Verhaltensbeobachtung

und auf

der beidseitigen Bereitschaft zur Verhaltens- oder Einstellungskorrektur aufgrund der Mitteilung solcher Beobachtungen beruht. (b) Ein weiterer Punkt ist die Orientierung sowohl der Selbstwahrneh-

mung als auch der Beobachtung an der Einheit der Person. Indiz für das Vorhandensein verheimlichter Geheimnisse ist für den Beobachter ja gerade, daß er seine Verhaltensbeobachtungen nicht in einen konsistenten, auf eine bestimmte

Person

80 Vgl. auch oben 1.2.1.

focussierten

Zusammenhang

bringen

kann.

Umge-

56

l. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

kehrt bemüht sich der Geheimnisträger, dem darüber ırrıtierten Freund den

Eindruck faktisch gegebener, wenngleich nicht im einzelnen kommunizierbarer innerer Konsistenz zu vermitteln. Dieser Versuch, sich dem Freund erwartbar, berechenbar, in den Handlungsmotiven wahrnehmbar zu erhalten (und mithin sich selbst den Freund!), kann freilich auch bei bestem Willen

und größtem Vertrauens-'"Vorschuß' Freundschaft nur vorübergehend stabilisıeren, da die für Freundschaft konstitutive detaillierte Kenntnis des Inne-

ren des werden Inneren die für jeweils

Freundes nicht auf Dauer durch pauschale Zuschreibungen ersetzt kann, ohne die Fähigkeit zum Vergleich der Handlungen mit dem nachhaltig zu vermindern. Schwer entscheidbar ist dıe Frage, ob Beobachtung und Selbstbeschreibung verwendete Form 'Einheit' ein bereits kommunikationsfunktionales Konstrukt ist zur Integration

von Selbst- und Fremdbeobachtungen, Selbst- und Fremdbeschreibungen, Selbst- und Fremdzurechnungen sowie zur Bündelung von Handlungsmoti-

vierungen auf konkrete Handlungen hin, oder ob Schleiermacher gleichsam hinter solchen 'Konstrukten' eine Art ontisches Substrat personaler Einheit annımmt. Die Möglichkeit der Divergenz der Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung und der Einheit der Beobachtung von außen, die Notwendigkeit einer Sensibilität der Selbstwahrnehmung für die Wahrnehmung von Fremdbeobachtungen, die Nötigung zu einer - Selbstveränderung

implizierenden - Abstimmung von eigener und externer Perspektive auf sich selbst, dıes alles sind starke 'konstruktivistische' Züge der Theorie, in denen 'Einheit der Person‘ als Funktionsmoment von Selbststeuerung und Fremdwahrnehmung erscheint. Dem steht entgegen die Annahme eines

ursprünglichen Selbstverhältnisses (»ursprüngliche Selbstliebe«)®1, die Forderung der Unabhängigkeit von der »Meinung«®2, das Festhalten an der aristotelischen Konzeption der Autarkie des »Vollkommenen«®3. Es scheint sich hier eine Spannung zwischen zwei Konzeptionen zu manifestieren, die Schleiermacher freilich theoretisch nıcht zu fassen oder gar zu übergreifen

vermag. Darauf wird zurückzukommen seins*, (c) Ein dritter Aspekt,

der an der Behandlung

der Geheimnisse

klarer

hervortritt, wirft vielleicht auch ein Licht auf die Frage der Bedeutung und Verwendung personaler Einheit; nämlıch der Aspekt der Evolution. Denn offenkundig wırken Geheimnisse am möglichen Beginn einer Freundschaft

8] Vgl. oben 2.2. und unten 2.6.2. 82

Dies könnte allerdings auch als Divergenz von Selbst- und Fremdzuschreibungen von Einheit unter Priorisierung der Selbstzuschreibung beschrieben werden.

83 Ygl. oben 2.1. 84

Vg]. unten 2.6.3.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

37

ungleich restriktiver, als wenn diese bereits etabliert ist. Am

Anfang der

Bekanntschaft steht (im Falle der Tugendfreundschaft) neben der zur Kon-

taktaufnahme anreizenden

Sympathie?

wechselseitige Wahrnehmung

nichts als eine wie immer vage

der Tugendhaftigkeit bzw.

des Tugendwis-

sens inclusive der wahrnehmbaren Intention, sich daran zu orientieren®®. Die Beobachtung des Andern kann noch nicht aus einem Fundus von Erfahrungen mit diesem schöpfen, sie muß diesen Fundus vielmehr allererst aufbauen. Sie wird sich deshalb einerseits stärker am abstrakten Sittengesetz orientieren (und sich insofern von anderen, externen Beobachtungen nur dann unterscheiden, wenn diese nicht Sittlichkeit als Kriterium wählen,

sondern etwa Lustgewinn oder eigenen Vorteil - was aber z.B. für juristische

Perspektiven

nicht

zutrifft),

andererseits

bleibt

sie noch

in hohem

Maße abhängig von den Selbstbeschreibungen des Andern, und zwar nicht einmal primär aus Mangel aus Erfahrung, sondern weil der Blick der Freundschaft als solcher Vertrauen in die Aufrichtigkeit der Selbstexpression des angehenden Freundes voraussetzen muß. Der Fundus von Erfahrungen mit dem Anderen speichert deshalb besonders dessen Selbstkundgaben,

Selbstdeutungen,

Bekenntnisse.

Diese

prägen

das

»Bild«

des

Freundes anfangs wohl stärker als seine Handlungen, bzw. sie strukturieren die Wahrnehmung und Deutung seiner Handlungen stärker als andere Beobachtungsschemata.

Wenn

deshalb ın dieser Phase der Andere

seine Selbst-

preisgabe erkennbar restringiert oder wenn sich der Beobachtung im oben?’ beschriebenen Sinne kein kohärentes Bild des Anderen darbietet, wird - da

der Beobachter ja noch nicht das Korrektiv vergangener Erfahrungen und vergangener Wahrnehmung

der 'Einheit'

des Anderen

hat und

in die Ge-

genwart fortschreiben kann - die Freundschaft sich schnell auflösen bzw. gar nicht eigentlich beginnen. Umgekehrt kann, wenn die Freundschaft »durch dıe genauste gegenseitige Bekanntschaft gleichsam den Stempel der langen Dauer erhalten« (11,30f.) hat, die Entwicklung des Freundes sogar

bei räumlicher

Trennung

gewissermaßen

hochgerechnet

werden,

so daß

man den Freund bei der Wiederbegegnung so vorfindet, wıe man ıhn erwartet (vgl. 11,35f.). Bei weniger guter Kenntnis führt die Wiederbegegnung hingegen zu Überraschung, Irritation und »unentschloßene(m) Mißtrauen()« (12,7). Mag an dieser Stelle zwar die Entwicklung eines Men-

schen ungebührlich zu bruchloser, bei ıntimer Kenntnis wahrnehmungsfrei prognostizierbarer Linearität hochstilistert sein - deutlich ıst, daß die Ge85

Vgl. unten Anm.

86

Vgl. oben 2.1.

87 Vol. 2.3.

104.

58

J. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles- Anmerkungen

schichte der Freundschaft den Freunden sukzessive reichere und differenziertere Bilder voneinander vermitteit, dıe sie von der je gegenwärtigen Erfahrung des Andern unterscheiden, ja geradezu gegen die gegenwärtige

Erfahrung ins Spiel bringen können, indem sie sie als Beurteilungskriterium gegenwärtiger Handlungen und Äußerungen des Anderen verwenden und diesem als solche kommunizieren. Freunde sind einander dergestalt nicht nur Repräsentanten

der Tugend,

sondern

auch

Repräsentanten

eines (auf-

grund der Freundschaftsgeschichte Authentizität beanspruchenden) Bildes der eigenen Biographie oder genauer: der in der Biographie sich auskristallisterenden Individualität. Die

Konzeption

der Freundschaft

stellt sıch jetzt dar als Zusammenhang

dreier Kommunikationsfunktionen: Freunde kommunizieren einander Bilder der eigenen Individualität und der Individualität des Freundes und Tugendwissen. In seiner Selbstoffenbarung legt der Einzelne einerseits die Voraussetzungen

Handeln im andererseits ermöglicht Andersheit

(Motive)

seines

Handelns

offen,

damit

der

Andere

dieses

Kontext der Entwicklung des Handelnden beurteilen kann; läßt er damıt den Ändern an seinen »Ideen« teilhaben und ihm selbstbereichernde und -erweiternde Wahrnehmung von und dadurch Anschlüsse für zugleich altmistische und

selbststeigernde Handlungen®®.

Die Kommunikation

der Individualität des

Freundes appräsentiert diesem ein soziales und gleichwohl intimes Bild seiner eigenen Biographie, bietet ıhm damit stärkere Perspektiven auf mögliche Kontinuität und Homogenität der eigenen Person im Blick auf deren zeitliche Erstreckung, welche Perspektiven er entweder in seine Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung integrieren oder modifizieren

oder aber abweiısen kann. Sıe erleichtert und steuert mithin seine Selbstwahrnehmung und die Kontinuität seiner personalen Selbstreferenz. Die Kommunikation von Tugendwissen schließlich vermittelt situationsunabhängige

Kriterien

der Beurteilung

sowohl

der Sıttlichkeit von

Hand-

lungen als auch der sittlichen Wahrheit jener kommunizierten Beurteilungen selbst; sie wirkt damit verhaltenskritisch im Blick auf die Vergangenheit, verhaltenskorrigierend, -normierend und -anımiıerend ım Blick auf Gegen-

wart und Zukunft.

88 Vgl. oben 1.2.1.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

59

2.4. Komplexitätssteigerung der Theorie Nicht nur hinsichtlich der Interdependenzen Funktionen

hat

die

Darstellung

von

und Kopräsenzen

Schleiermachers

dieser drei

Darstellung

bisher

jedoch mit Vereinfachungen gearbeitet: Sie hat 1} die Wechselseitigkeit der Äußerungen der Freundschaft in ihren drei Funktionen weitgehend ausgeblendet, die aber gerade für die von Schleiermacher intendierte eminente Form von Freundschaft konstitutiv ist, insofern diese die Gleichwertigkeit der Freunde notwendig impliziert. Sıe hat 2) die Temporalisierung der Freundschaftsverhältnisse nicht hinreichend in den Blick genommen und

sich bisher stärker auf die Darstellung des Einzelmomentes konzentriert als auf die Erfassung von Verbindungen so differenziert strukturierter Einzelmomente zu Geschichte(n). Schließlich hat sıe 3) Freundschaftsverhältnisse

fast durchgängig als Beziehungen zwischen zwei Personen beschrieben und dadurch abstrahiert von den Problemen, die daraus entstehen, daß diese jeweils ın vielstelligen sozialen, darunter auch und gerade freundschaftlichen Kontexten stehen. Diese Vereinfachungen sind nur zum Teil auf Schleiermacher selbst zurückzuführen. Zur Erhellung der Komplexität von Schleiermachers früher Theorie müssen sıe deshalb aufgehoben werden. Eine

differenziertere Erfassung der Freundschaftstheorie kann dabei einerseits aufbauen auf Schleiermachers Text, muß aber andererseits ımplızıte Theorieoperationen explizieren und Einzelerkenntnisse auf andere Kontexte übertragen und untereinander verknüpfen.

2.4.1. Überschreitung reiner Zweierverhältnisse Am deutlichsten tritt der dritte Aspekt bei Schleiermacher selbst zu Tage. In Anmerkung 25 behandelt er unter dem Titel der Eifersucht die der Freundschaft innewohnenden Tendenzen, sich einerseits zu reinen Zweierverhältnissen zurückzubilden, andererseits aber zugleich diese Beschrän-

kung zu transzendieren (27,17 - 28,26). Eifersucht entspringt dem Wunsch nach Einmaligkeit und ÄAusschließlichkeit der Beziehung zum Freund. Mag dieser Wunsch, für den Freund »das einzige Wesen von Bedeutung seyn« zu wollen, auch eine »überspannte() Idee« sein (27,18-20), so ist es dennoch nur natürlıch, den Gedanken fernhalten zu wollen, man seı nur der (vorerst)

letzte in einer Reihe vorangegangener oder der (gerade) erste in einer Reihe zukünftiger gleichartiger freundschaftlicher Beziehungen des Anderen (vgl. 27,20-25).

Eifersucht ist demnach

digkeit der freundschaftlichen

Zweifel an der Singularität und Bestän-

Empfindungen

des Anderen.

Der Versuch

60

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

freilich, diese Singularıtät dadurch selber herbeizuführen, daß man den Freund an anderen freundschaftlichen Beziehungen hindert, stört die Freundschaft selbst. Denn die mit Verhaltensforderungen verbundene

Kommunikation der Eifersucht verändert das Verhalten des Freundes. Nicht daß er seinen Umgang mit anderen einstellt, er wird ihn (oder seinen vertraulichen Charakter) aber verheimlichen (vgl. 27,30-32). Das wirkt ın doppelter Weise negativ auf den Eıfersüchtigen zurück: Einmal nımmt er -

in der oben®? beschriebenen Weise - den Freund nur noch verzerrt und d.h. tendenziell nicht mehr ais Freund wahr; zum anderen »beraubt« (27,33) er

sich selbst der Bereicherung, die er aus der Mitteilung des die ihm widerfahrenen Freuden hätte gewinnen können Aspekt vgl. 27,33-35). Gerade der Wunsch, den Andern haben zu wollen, vermindert mithin paradoxerweise die

Freundes über (zum zweiten ganz für sich Wahrnehmung

seiner Andersheit, insofern sie »ihn? in Absicht seiner Gefühle [sc. gegen Dritte] ın einer steten Abhängigkeit erhalten wıll« (28,17f.}. Hıer zeigt sich

eine radikalere Kritik der Instrumentalisierung Anderer und eine umfassendere Konzeption der freundschaftskonstitutiven Eigenständigkeit der Freunde, als in den oben?! dargestellten Eingangspartien. Denn diese Eigenständigkeit beschränkt sich nıcht auf die ethische Urteilsfähigkeit dem

Freund kontexte sierung, Sphären nicht

gegenüber, sondern sie schließt eine Unabhängigkeit der Lebensein. Es ist deshalb eine besonders subtile Form der Instrumentalidem Freund im Namen der Singularität der Freundschaft andere von Emphase und Tätigkeit verwehren zu wollen. So ist Eifersucht

nur

widrig. zumutet,

de

facto

freundschaftsstörend,

sondern

in

sich

Sie ist darüber hinaus manifest unsittlich, wenn seinen

»Sinn

für

sittliche

Vollkommenheit«

freundschafts-

sie dem (28,21)

Freund - dessen

Wahrnehmung oder Zuschreibung?? ja im übrigen Grund des Anknüpfens der Freundschaft sein soll - auf vom Eifersüchtigen bestimmte Wahrnehmungsbereiche einzuschränken und richt überall dort tätig zu werden, wo er könnte (vgl. 28,21-23). Ein gewisses Verständnis kann »ein kleiner Anstrich von Eifersucht« (27,35f.) allenfalls am Anfang einer Freundschaft

beanspruchen, insofern man da nicht völlig davon abstrahieren der Andere bereits in einem Netz von Beziehungen steht, und sicher sein kann, ob er all und genau das bei dem neuen Freund nicht bei anderen, was der ıhm geben wıll. Kaum verzeihlich ıst 89

Vgl. oben 2.3.

90 28,17 syntaktisch falsch: »ihm«. al

Vel.1.

2

Vel. unten 2.5.

kann, daß man nicht sucht und Eifersucht

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie allerdings nach einer gewissen

Dauer der Freundschaft;

61 dann indiziert sie

nur noch mangelndes Selbstvertrauen und Selbstwertbewußtsein (vgl. 28,11-15), wenn nıcht gar »egoistische Intoleranz, welche allein die Quelle der geselligen Freuden für einen andern seyn« will (28,15f.); beides Formen der Se/bstzentrierung, die Freundschaft am Ende zerstört. Verhaltensmaxıme zur Erhaltung der Freundschaft (bzw. ihrer Funktion der Selbst-

Erweiterung)

ist deshalb

umgekehrt,

den

Andern

in der Vielfalt seiner

Lebensbezüge zu erhalten, um so an dieser Vielfalt zu partizipteren. Die Eifersucht soll unterdrückt, und durch die Kommunikation von Anteil-

nahme

»an

allen

seinen

Freuden«

(28,7f.)

dem

Freund

zugleich

der

Anspruch auf Sıngularität der Freundschaft und die Bejahung seiner unver-

fügbaren freundschaftsexternen freundschaftlichen Beziehungen signalisiert werden (vgl. 28,5-10). Leider führt zipation an dem »neuen Gut()«, das gen »gefunden hat« (28,25), nur in Freundes mit den Anderen besteht,

Schleiermacher nicht aus, ob die Partider Freund in diesen anderen Beziehunder Wahrnehmung der Erfahrungen des oder ob sie die Ermöglichung unmittel-

baren eigenen Kontakts zu diesen einschließt. Mit anderen Worten: Bestehen die einzelnen Freundschaftsbeziehungen

mit zwei Beteiligten gleichsam

je nebeneinander und erfahren von einander nur über Informationen innerhalb der Einzelfreundschaft, oder gehört es zur Freundschaft, auch mit Freunden des Freundes ın Verbindung zu treten, so daß aus der Vielzahl von Einzelkommunikationen eine intern vernetzte soziale Kommunikationssphäre entsteht? Jedenfalls spricht Schleiermachers Darstellung die soziale

Einbindung des Eifersüchtigen selbst nicht an, ebenso wenig wie die Frage, was für Erfahrungen oder Handlungsmöglichkeiten er dem Anderen vermittelt; auch der Aufbau von komplexen Gruppen-Verhältnissen wird nicht

thematisch.

Hier scheint die Konzeption der Freundschaft noch keine ad-

äquate Theorie gefunden zu haben; sie tendiert zwar zu einer Überwindung

rein zweistelliger Relationen, hat aber noch nicht in Jeder Hinsicht hinreichende

Mittel, die so entstehenden

mehrstelligen

Verhältnisse angemessen

darzustellen. Die Vielfalt der Lebensbezüge des Freundes erscheint als Expansionsbereich der Freundschaft. Gerade Schleiermachers Interesse an

der Etablierung

von Sphären

realisierter Sittlichkeit?3 legt freilich den

Versuch nahe, die Pluralisierung und Vernetzung von Freundschaftsverhält-

nissen als Ausbreitung und Förderung der personalen Bedingungen der Realisıerung von Sittlichkeit zu beschreiben.

93 Vgl. oben 1.1. und 1.2.2.

62

1. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

2.4.2. Temporalisierung und Wechselseitigkeit Die Temporalisierung der Freundschaftskonzeption läßt sich kaum unabhängig vom Aspekt der Wechselseitigkeitbetrachten. Denn Wechselseitigkeit ist einerseits Resultat, andererseits aber Dynamisierungsprinzip der EntwickJung der Freundschaft. Man kann den evolutionären Aspekt geradezu als 'Genese komplexer Wechselseitigkeit' beschreiben. Sobald nämlich die Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung sich nicht mehr allein dem solitären Vergleichen der Wahrnehmung des eigenen Handelns mit der eigenen Einsicht in das vernünftige Sittengesetz verdankt, und sobald das eigene Handeln nicht mehr nur auf die Realisierung von Sittlichkeit, sondern auch auf personale Resonanz abzielt, werden Selbstwahrnehmung und Handlungsorientierung abhängig von nur bedingt verfügbaren Handlungen Anderer - genauer: derer, deren Resonanz sie suchen - und sind angewiesen auf deren Wahrnehmung, um daran reaktiv eigenes Handeln anschließen und die Selbstbeschreibung daran orientieren zu können. Wenn dies für alle Beteiligten gilt, daß sie sich in einer für sie selber nicht kontingenten Offenheit für das kontingente Verhalten der jeweils Anderen halten müssen, dann sehen sie sich in einen Prozeß involviert, den kein einzelner Beteiligter (und auch nicht ihre Gesamtheit) noch selbst vollständig beherrschen, von dem er sich aber auch nicht ohne weiteres distanzieren kann, insofern er sich in seiner Selbstwahrnehmung davon abhängig gemacht hat; die Beteiligten müssen deshalb nicht nur einander, sondern auch das emergente Resultat ihrer gemeinsamen Geschichte je neu beobachten und beachten. Daß dies freilich für alle Beteiligten gilt, ist selber bereits Resultat jenes Prozesses. Denn die Selektion der Beteiligten antizipiert implizit ein Wissen, dessen Wahrheit sich in dem Prozeß allererst bewähren muß, nämlich das Wissen von der Würdigkeit der Ausgewählten, als Kriterium der Selbstorientierung des Auswählenden zu dienen. Die primäre Selektion muß mithin nicht wechselseitig erfolgen, sie muß aber Wechselseitigkeit antizipieren und intendieren - und sie muß Kontrollen einbauen, die die Bewährung oder Enttäuschung der Antizipation wahrnehmen lassen und gegebenenfalls den Abbruch der Beziehung (als Beendigung schädlicher Abhängigkeit) ermöglichen. In Anmerkung 11 (9,30 - 10,20) behandelt Schleiermacher Probleme der primären Selektion im Rahmen einer scharfen Kritikder »Freundschaftlichkeit« (9,30). Diese wird von Aristoteles als »nur ein leichtes und geschwin-

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

63

des Begehren der Freundschaft, aber noch nicht sie selbst« definiert?*. Freundschaftlichkeit sucht entweder die Antizipation Anderer so zu täuschen, daß diese den Schein von Anteilnahme schon für diese selbst halten

und daraufhin auf die Kontrolle ihrer Antizipation verzichten, oder sie täuscht sich selbst in der eigenen Antizipation bzw. verzichtet auf deren Kontrolle; all dies jeweils im Interesse schneller Vertraulichkeit. Ist der erste Fall »ein Fehler des Charakters überhaupt« (9,31), indem hier bewußt

Emphase vorgespiegelt wırd, so fehlt ım zweiten dıe Urteilskraft und im dritten Festigkeit des Herzens. Denn das »dringende() Bedürfniß nach Mittheilung« (10,4) sucht sich beliebige Adressaten, wenn einerseits das Fehlen der »so nothwendigen Unterstüzung der Menschenkenntniß« (10,6) Vertrauensseligkeit bewirkt (vgl. 10,6-11), andererseits mangelndes Vertrauen in

die Möglichkeit wahrer Freundschaft ein geduldiges Warten auf geeignete Adressaten der Selbstmittejlung als sinnlos erscheinen läßt (vgl. 10,11-20, bes. 16). Deutlich ist, daß auch »Freundschaftlichkeit« ein Selektionskriterium zur

Erzeugung von Wechselseitigkeit besitzt und verwendet. Dieses unterscheidet sich aber nach Schleiermacher darin von der sittlich verantworteten Suche nach Resonanz, daß es keine sifuationsexterne und situationenübergreifende Perspektive in die Selektion einzubringen vermag, sondern dıe Auswahl am unmittelbaren Nutzen oder Vergnügen orientiert, ohne Rücksicht darauf, ob dıe Freundschaft auch das Ende ıhrer Nützlichkeit überste-

hen bzw. wenigstens je neue Nutzaspekte hervorbringen könne.” 94

50 51,19f. Schleiermachers Übersetzung von NE 1157b 31f. Vgl. beı Dirlmeier (219): »der Wunsch nach Freundschaft entsteht rasch, die Freundschaft aber nicht.«

95

Für die Kritik der »Freundschaftlichkeit« knüpft Schleiermacher stärker als in anderen Textpassagen an Positionen des Aristoteles an. Mit zweı Gründen betont dieser die Seltenheit von vollkommener - im Sinne von: auf der wechselseitigen Anerkennung der Tugend beruhenden - Freundschaft: Es gibt wenige Menschen, die selber so tugendorientiert sind, daß} sie die Beziehung zu anderen Tugendhaften suchen, und vor allem: sie haben sich erst nach einer Zeit »gegenseilige(n) 25f.; Dirlmeier 218) »als liebenswert erwiesen« (NE

sie sınd nicht auf den ersten Blick als solche zu Schleiermacher ıst bei Aristoteles freilich »Wesensart« (1156b 10 ın der etwas freien, aber zidentien - vgl. 1156b I1 - gut herausarbeitenden

Vertraut-werden(s)« (NE 1156b 1156b 29; BDirlmeier 219), d.h.,

erkennen. Unproblematischer als die prinzipielle Erkennbarkeit den Gegensatz zur Erkenntnis der Übersetzung von Dirlmeier, 218)

mithin die Orientierung daran - wobei zu beachten ist, daß das 'Wesen’

bei der Akund

sıch in der Tu-

gend repräsentiert, so daß einerseits nur eine Orientierung an Tugend nıcht-akzidentelle Sozialbeziehungen hervorbringt, andererseits auf den kontingenten Nutzen bezogene 'Freundschaften' nicht zum 'Wesen' hindurchdringen können und deshalb auch nicht dauerhaft sind. Freilich macht das Substanz-Akzidens-Schema es unmöglich, die Genese von (Tugend-)Freundschaft als Entwicklung der Freunde selbst zu beschreiben,

64

l. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

Schleiermachers Ablehnung der »Freundschaftlichkeit« impliziert freilich nicht, daß das Anknüpfen wahrer Freundschaft allein anhand der Wahrnehmung der sittlichen Würdigkeit des Andern erfolgt. Die Kontaktauf-

nahme mit Anderen kann durchaus zunächst von reiner Sympathie geleitet sein. Kritisiert wird vielmehr nur, wenn diese Sympathie auf eine antizipierende Zuschreibung von Sittlichkeit verzichtet oder aber umgekehrt zwar sehr schnell zu solcher Zuschreibung

bereit ıst, aber nicht mehr

zur Kon-

trolle von deren Stichhaltigkeit im Verlauf der Entwicklung der Freundschaft. Eine solche Kontrolle setzt eine gewisse Dauer, eine Akkumulation von Episoden, in bestimmter Hinsicht mithin eine Phase teleologisch unkontrollierten Fließens der Freundschaft voraus. »Es scheint sonderbar, aber es ist doch rıchtig, daß eine Verbindung lange gedauert haben kann, und doch der

ernsthaften Ueberlegung nicht Stich hält: In wie fern ist nun die Absicht derselben

erreicht

worden«

(34,10-13).

Kriterium

der

Bilanzierung

der

Freundschaft ist also der Zweck, auf den hin sie eingegangen wurde. Ging dieser Zweck mit einer (einseitigen oder wechselseitigen) Instrumentalisierung der Anderen einher, d.h., intendierte die Kontaktaufnahme nicht prımär die Wahrnehmung unverfügbarer Anderer, sondern eigenen Nutzen und eigenes Vergnügen, dann muß ebenso wie die freundschaftlichen Akte selbst auch die Bilanz ohne Rücksicht auf die Person der Anderen gezogen werden, ja selbst ohne deren Wissen (vgl. 35,10f.), denn Schleiermacher

nımmt an, daß gerade solche Formen der Freundschaft dıe Fiktion eigentlichen

Interesses an der Person erwecken

und aufrechterhalten

müssen,

um

ihren Zweck zu erreichen. Die fingierte Wechselseitigkeit ist in Wahrheit wechselseitige Einseitigkeit, und verbirgt ebendies. Im Gegensatz dazu ist bei wahrer Freundschaft die wechselseitige Kommunikation der Beurteilung der Geschichte der Freundschaft ein Moment dieser selbst, und zwar im Blick auf alle zwei (bzw. drei) funktionalen Komponenten: Die (Zahl und Intensität wertende) Erinnerung der Stunden wechselseitiger »warme(r) Ergießungen des Herzens« (35,12) und die wechselseitige Offenbarung dieser

Wertung sind selbst bereits wieder sowohl Selbstoffenbarung als auch Vermittlung neuer Bilder der Individualität des Andern, und die beurteilende Betrachtung der gemeinsam vermiedenen »Fehler« (35,13), der gemeinsam vollbrachten »schönen Handlungen« (35,14), der gemeinsam berichtigten »Urtheile« (ebd.) sowie der gemeinsam gefaßten »Vorsäze« (35,15) und die

wechselseitige Mitteilung dieser Beurteilung sind selbst bereits wieder vernämlich als Übernahme antizipierender Zuschreibungen und diese verifizierende Orientierung daran. Der wesentlich Yollkommene wird nicht vollkommen, verlöre er seine Yollkommenheit, wäre er nıcht mehr.

er ist es, und

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

haltenskorrigierende

und

-orientierende

Akte.

65

Die reflexive

Form

der ge-

meinsamen und wechselseitigen kritischen Vergegenwärtigung der Geschichte der Freundschaft indiziert mithin bereits als solche einen hohen Grad der Funktionserfüllung der Freundschaft. Die Freunde sind nun fähig, ihre Kompetenz der Wahrnehmung und Förderung irreduzibler Andersheit einerseits, der Steigerung der Realisierungschancen von Sittlichkeit andererseits als durch die Freundschaft selbst gesteigert wahrzunehmen; die wechselseitige Appräsentation der Genese von Wechselseitigkeit stabilisiert, kontinuiert und fördert Wechselseitigkeit. In gewisser Weise kulminiert in dieser vergewissernden Evokation der eigenen Geschichte die Freundschaft seibst. Dies zeigt sıch auch darın, daß

sich hier sowohl Nähe als auch Differenz zu anderen, uneigentlichen Formen der Freundschaft offenbart. Denn in der Reflexion erweist sich auch das Angenehme und das Nützliche der vergangenen Episoden der Freundschaft, und die Reflexion schließt selber angenehme und nützliche Aspekte ein. »Aber das sittlich angenehme hat keine Launen und keinen Eigenwillen, und das sittlich nüzliche ist nicht eigennüzig und hat weder Neid noch Betrügereien« (35,17-19). D.h., die Orientierung an Sittlichkeit verringert einerseits

gleichsam

von

außen

die

Labilität,

die

der

Orientierung

am

Wohlgefälligen eignet, und kontrolliert dıe Tendenz zur Selbstzentrierung, indem sie der Neigung entgegenwirkt, nur das 'für mich" Ängenehme und Nützliche zu suchen und dies zum Beurteilungskriterium des eigenen Handelns zu machen; andererseits 'reformiert' sie die Nutz- und Vergnügensorientierung gewissermaßen von innen, indem sie sich selbst als Gegenstand von Lust und Nutzen vorstellt. Diese 'Läuterung' der Nutz- und Vergnügensorientierung verändert auch die Reaktion auf die Resultate der Reflexıon der Effektivität der Freundschaft,

sogar wenn

sıch ungleiche Vorteile

herausstellen. Solche Ungleichheit wird auf ungleiche Verdienste der Personen rückgerechnet, die Bindung an Sittlichkeit erlaubt aber gerade richt, daß der 'Bessere' (vgl. 35,20) in seinem Gut-Sein zur Ruhe kommt bzw,

der 'weniger Gute’ sich auf die Umstände beruft. Gerade das Wissen eines höheren Grades erreichter Vollkommenheit impliziert die Nötigung, diese nach außen,

zur Vervollkommnung

animiert die Wahrnehmung »Nacheiferung« (35,21).

96

Änderer,

geringerer

wirken zu lassen; umgekehrt

Vollkommenheit

zu

verehrender

Ein ähnlicher Gedanke begegnet im »Freiheitsgespräch«; vgl. unten Kap. 4, 2.

66

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

2.5. Das entfaltete Konzept der Freundschaft Unter Bezug auf diese "Entschränkungen' kann Schleiermachers Darstellung der Prozesse und Effekte der Freundschaft jetzt als einheitliches Konzept beschrieben werden. Der Untersuchung hatten sich drei Funktionen der Freundschaft ergeben: Wahrnehmung

irreduzibler

Andersheit,

Verhaltenskritik,

-korrektur

und

-motivatıon sowie Vermittlung von Bildern der Individualität des je Anderen. Dem entsprechen am Ort des Einzelnen je bestimmte Selbstwahrnehmungen, dıe das Ungenügen solitärer Existenz offenkundig machen: die

Wahrnehmung der Verarmung der inneren Bilder, die zu Selbst-Überdruß führt?’, die Wahrnehmung der eigenen Vervollkommnungsbedürftigkeit, d.h. der Unfähigkeit zu dauernder und vollständiger Umsetzung sittlicher

Verhaltensorientierungen in konkretes sittliches Handeln?®, sowie die daran anschließende Wahrnehmung der Labilität der Selbst-Achtung??. Diese Beobachtung eigener Defizienz in mehrerer Hinsicht bewirkt Resonanzsensibilität, initiiert eine Suchbewegung auf resonanzfähige "Objekte' hin!®., Insofern Selbstbeobachtung und Erwartungen an Freundschaft miteinander korrelieren (und sich in gewisser Weise einander und beide sıch der Zumu-

tung von Sıttlichkeit verdanken),

erfolgt die Suche nicht kriterienlos auf

beliebige Resonanz hin!®l. Es kann auch nicht ein Kriterium von den beiden anderen abstrahiert die Auswahl freundschaftlicher Sozıalkontakte begründen. Wenngleich nämlich eine Dominanz des Aspektes der Orientierung an Sittlichkeit unverkennbar ist, so muß dennoch die Kommunikation von

Verhaltensbeurteilungen

noch

nicht notwendig

mit Freundschaft

ver-

bunden sein!®2, Umgekehrt kann zwar emergente Sympathie die konkrete Kontaktaufnahme

katalysieren,

aber sie muß

zumindest

die antizipierende

Zuschreibung der sittlichen Würdigkeit des Anderen involvieren!03, wenn anders gerade die Flüchtigkeit von vergnügensabhängigen Sozialbeziehungen vermieden werden soll. Freundschaftskatalysierend kann freilich auch 97

Vgl. oben 1.2.1.

98 Vgl. oben 1.2.2.

99 Vgl. oben 2.2. 100 yz1. oben 1.2.1.

[Ol Genau dies kritisiert Schleiermacher als Abhängigkeit von der »Meinung«; vgl. oben 2.2. 102 vg.

schon oben

son.

103 vgl, oben 2.4.2.

1.1. die Ausführungen zur Wohltätigkeit ohne Interesse an der Per-

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

67

wirken die Wahrnehmung gleichsam vorgängiger Resonanz, d.h. des zuvorkommenden Interesses anderer an Kontaktaufnahme, an welchem Interesse (und an Art und Inhalt der Kontaktaufnahme) man Anhalt für Sittlichkeits-

zuschreibung meint finden zu können. Überhaupt setzt das Sich-Einlassen auf freundschaftliche Beziehungen die Annahme einer Syrnmetrie der Selbstwahrnehmungen und einer Gemeinsamkeit des Kriterienschemas für Freundschaft und die Annahme des Vorhandenseins dieser Annahme selbst bei den Andern voraus!P4. Das an- oder wahrgenommene wechselseitige Interesse muß jedoch,

wenn

ziert und intensiviert werden.

es nicht gleichsam

latent bleiben

soll, verifi-

Dies geschieht dadurch, daß die »Aufmerk-

samkeit«105 des Andern, die durch den Eindruck bloßer Wahrnehmung nur vorübergehend zu fixieren ist, kontinuiert und verstärkt wird, indem man ihm selbst gesteigerte Aufmerksamkeit zuwendet - in Gestalt von Handeln nach seinen Ideen, zu seinem Besten!06. Damit ist der Zirkel purer Zuschreibungen, Annahmen und Erwartungen durchbrochen; im Handeln objektiviert sich das Interesse, macht sich faßbar, nötigt zu Reaktionen, an denen dıe Erwartungen geprüft, gegebenenfalls modifiziert oder auch abge-

brochen werden können. Diese Reaktionen des Ändern orientieren sich an seinen ursprünglichen Zuschreibungen, Annahmen und Erwartungen

aufgrund primärer Wahrnehmung und an den zusätzlichen Informationen durch das explizite Handeln, insofern dieses über seinen Gehalt hinaus Achtung, und d.h. Vollkommenheitszuschreibung kommuniziert sowie in seinem Gehalt Rückschlüsse auf die "Vollkommenbheit' des Handelnden und mithin eine Kontrolle der Erwartungen an ihn ermöglicht. Das Handeln enthält also ımplizit Aussagen über die Individualität des Anderen und erlaubt diesem zugleich Konkretisierungen seiner Annahmen über dıe Individualität

des Handelnden. Diese Aussagen (ebenso wie die Annahmen des Anderen) verdanken sich einer Mischung von eigenen Wahrnehmungen und

[04

gbei können

folgenschwere Mißverständnisse entstehen (vgl. 31,13

- 32,16).

Denn es

kann durchaus sein, dafl der Eine prımär Interesse an der Kommunikation von Gefühlen, an der Wahrnehmung fremder Individualität hat (31,21: »Sympathie«), während der Andere ın der konkreten Freundschaft vor allem den Austausch von Verhaltensbeurteilungen sucht (31,22f.: » Vertraulichkeir«). In der Zeit erster Emphase wird die Bereitschaft groß sein, sich dem Interesse des je Anderen anzupassen und das eigene zurückzustellen - wenn denn dıe Interessendifferenz überhaupt wahrgenommen wird, Später kann dıes zu Enttäuschung, wenn nicht gar zum Sich-getäuscht-Fühlen führen. 105 ygı. oben 2.2. 106 vgl. oben unter 1.2.1.

68

l. Freundschaft - Kap. I. Arıstoteles-Anmerkungen

Zuschreibungen und kommunizierten Selbstbeschreibungen des Andern!07, wenn anders die Funktion der Freundschaft sich nıcht beschränken soll auf

unparteiische Beurteilung von Handlungen!08. Die erwähnte freundschaftskatalysierende anderem auch

Bedeutung 'vorgängiger Resonanz’ besteht also unter in wahrnehmbaren Selbstexpressionen, die den eigenen

Wahrnehmungen

und Zuschreibungen

schon vorderhand zusätzlichen An-

halt geben. Das Handeln zu seinem Besten baut so bereits auf einer gewissen Kenntnis (der Selbstbeschreibungen) des Ändern auf, welche Kenntnis

auch die Rezeption seiner Reaktıon auf das Handeln bestimmt. Der Andere kann reagieren, indem er die Handlung als solche oder in bezug auf sein Bild des Handelnden

kommentiert,

oder indem er eine daraufhin varıierte

Selbstexpression oder eigene Handlungen anschließt. In allen diesen Fällen hat die Reaktion Konsequenzen für den 'Ersten': für die Wahrnehmung seiner Ausgangshandlung, für die Selbstwahrnehmung, für die Wahrnehmung der Urteilskompetenz des Andern und - vermittelt über die Beurteilung von

dessen Handlung - für die Wahrnehmung des Ändern selbst. Dabei enthält auch die Handlung des Anderen Informationen über seine Wahrnehmung des Einen, sie kann ja etwa Vorbehalte signalisieren, sich umgekehrt dessen »Ideen« zu unterstellen, oder Mißverständnisse über dessen Intentionen

offenbaren. Sıe kann natürlich auch den Einen in seiner Vollkommenheitszuschreibung an den Anderen desavouieren. Andererseits kann die zurückgespielte Verhaltenskritik den ‘Einen’ in seiner Seibstwahrnehmung treffen, ihn zur Umstellung von Vollkommenheitsselbstzuschreibung auf Wahrnehmung

der

eigenen

Vervollkommnungsbedürftigkeit

nötigen.

All

diese

Varianten indizieren einen starken Einfluß, der Urteil und Verhalten des je Anderen zugebilligt wird. Diese Beeinflußbarkeit verdankt sich der Unterstellung der Selbständigkeit des Andern, genauer der Annahme, daß dieser zur Distanznahme sowohl von Intentionen des Selbständigkeit Unterstellenden als auch den eigenen oder denen Dritter fähig ist (was noch nicht heißt,

daß angenommen wird, er könne diese Fähigkeit jederzeit aktivieren!®P). Deshalb gehört es zu den Maxımen der Freundschaft, den Anderen nicht zum

Instrument

der Erfüllung

eigener Wünsche

zu machen,

sondern

ihn

umgekehrt gerade in seiner Ändersheit zu fördern und zu erhalten. Die Wahrung bleibender Differenz ist mithin auch Kriterium der Beurteilung des freundschaftlichen Verhaltens. Dabei ist im übrigen, wie die Ausführungen

107 vgl. oben 2.3. 108 vgl. oben 2.3. Daß sie sich nicht darauf beschränkt, ıst im übrigen Bedingung dafür, daß sıe überhaupt erfüllt werden kann.

109 vgl. oben 1.2.2.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

69

über Eifersucht gezeigt haben!!0, eingeschlossen die Selbstzurücknahme, dıe Forderung an den Freund aufzugeben, er müsse auf andere freundschaftliche Beziehungen zugunsten der einen Freundschaft verzichten, Vielmehr gehört zur irreduziblen Ändersheit des Ändern auch die uneinhol-

bare Vielfalt seiner Lebenskontexte, an denen zu partizipieren seinerseits den Effekt der Freundschaft erhöhtl!!. In einer gewissen Phase des Anlaufens von Freundschaft ist es noch leichter möglich, auf Enttäuschungen der eigenen Erwartungen, auf ausbleibende oder Fehler der Vollkommenheitszuschreibung anzeigende Resonanz,

auf

fenlende

Kooperationsbereitschaft

etc.

mit

dem

Abbruch

der

Beziehung zu antworten. Doch mit jeder bestätigenden Erfahrung, mit jeder Zuschreibungen und Handeln bestärkenden Resonanz, mit jeder Wahrnehmung von an eigenes Handeln anschließendem Handeln Anderer etablieren und stabilisieren sıch Strukturen von Wechselseitigkeit, ın welchen die Be-

teiligten Kontinuierung ihrer Selbstachtung, Reproduktion ihrer Handlungsfähigkeit und reflexive Readjustierung ihrer Moralität gerade voneinander erwarten, Nicht nur akkumulieren Freunde Beobachtungen des Verhaltens, der Einstellungen, der Selbstbeschreibungen des je Anderen ın seinen differenten Lebenskontexten, sondern es baut sich auch ein Fundus von Erfah-

rungen miteinander auf, der das Wahrnehmungssensonum so stark intimisiert, daß in der Freundschaft kommunizierte Wahrnehmungen aufgrund der ın ıhnen appräsentierten Freundschaftsgeschichte eine Tiefenschärfe und einen Glaubwürdigkeitskredit erhalten, die diese Freundschaft für die

Selbstwahrnehmung Freundschaft

und

Selbststeuerung

ıst der herausgehobene

nahezu

Fall, ın dem

unersetzbar

machen!!?.

durch mehrfache

wech-

selseitige (und in dieser Wechselseitigkeit aufeinander aufbauende)

Bestä-

tigung und Bewährung von Erwartungen, Wahrnehmungen und Zuschreibungen an Personen bewährte Erwartungen nicht nur im Blick auf diese, sondern auch im Blick auf ihre Relationen entstehen, so daß die Kontinuie-

rung dieser Relationen selber Handlungszweck wird, wenn jene Zuschreibungen und Erwartungen, denen sich die primäre Kontaktaufnahme verdankt, bewahrt und fortgeschrieben werden sollen!!3. Die 110ygaı. oben 2.4.1.

Ill vet, oben ebd. 12 Entsprechend aufwendig wırd der Weg

zur Trennung (35,31

- 39,30) und die dieser

folgende Betrübnis (40,24 - 41,15) behandelt.

113 Als theoretische Alternative ist immer jenes interesselose Wohltun präsent zu halten, das seine Selbstverpflichtungen nicht auf Personen bündelt und schon gar nicht auf die Erbaltung und Pfiege von Relationen zu diesen, geschweige denn unter dem Anspruch

70

l. Freundschaft - Kap. I. Aristoteles-Anmerkungen

Kontinuierung von Wechselseitigkeit reproduziert mithin die Bedingungen von deren eigener Genesell4, ohne allerdings diese Bedingungen selbst schaffen zu können!15,

2.6. Leistungsfähigkeit und Aporien der Konzeption

2.6.1. Individualisierung und Sozialisierung Offenkundig ist eine Stärke von Schleiermachers früher Freundschaftstheorie: Die Selbsttranszendierung durch Unterordnung unter die »Ideen« Ande-

rer führt nicht zu einer Selbstpreisgabe zugunsten eines - wie auch immer sittlich gedachten - Kollektivs, die Selbsterweiterung durch Partizipation an

den Lebenssphären Anderer nıcht zu einer Diffusion des Selbst in ein wogendes Meer von Geselligkeit. Vielmehr stabilisiert und steigert Freundschaft zugleich

die Integration

in Kontexte

sozialer Kommunikation

(was

natürlich auch heißt: die Abhängigkeit von diesen) und die Unverfügbarkeit, Unmanipulierbarkeit, Irreduzibilität je einmaliger Individualität. Freundschaft sozialisiert und individualisiert. Gerade die soziale Zuschreibung von Individualität, die Kommunikation von Bildern personaler Einzigkeit erhöht die Chancen von deren Selbstwahrnehmung (im Doppelsinn von Rezeption und Realisierung), indem sie einerseits innerpsychischen

Diffusionstendenzen der Einheitswahrnehmung externen Gegenhalt bietet und indem sie andererseits soziale Anerkennungsräume für Individualität schafft. Umgekehrt macht Freundschaft Individualität resonanzsensibel, befreit von der Illusion unmittelbarer Autosuffizienz einerseits, von fatalistisch-indifferenter Betrachtung der sozialen Außenwelt andererseits. In dieser Doppelfunktion stabilisiert sich ıhrerseits Freundschaft selbst als spezifische Form sozialer Realität.

2.6.2. Der theoretische Status unmittelbarer Selbstreferenz Problematisch an dieser Konzeption ist, daß nicht klar wird, wie sie die vorausgesetzte, von Sozıalıtät unabhängige »ursprüngliche Selbstliebe« und der Erwartung, diese Relationen selbst könnten rückwirkend dıe eigene Selbstachtung oder moralische Handlungsfähigkeit stärken. Vgl. oben 1.1. 1l4ygı. oben 1.2.1.

115yg1. ebd.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

A

(18,13) anders denn als selber Resultat von Zuschreibung fassen kann.

Die

Zuschreibung von Individualität schlösse dann das Wissen einer Differenz des zugeschriebenen Bildes der Individualität von dieser selbst ein, welches mitkommunizierte Differenzwissen gerade den Respekt vor der Unverfügbarkeit des Anderen signalisierte. Unmittelbare Selbstreferenz wäre dann

ein in der Sozialtheorie impliziertes, aber von ihr nicht eingeholtes, sondern als Realitätssubstrat externalisiertes Postulat, dessen Verifikation der je unmittelbaren Selbstreferenz selbst überlassen bleibt. Andererseits ıst es jedoch für die Freundschaft nach Schleiermacher konstitutiv, daß der Freund

vom Verhalten des Freundes auf dessen Inneres rückschließen kann!16. Zwar bildet sich diese Fähigkeit erst im Verlauf einer Geschichte von Erfahrungen mit dem Freund heraus, d.h. einer Geschichte solcher Rückschlüsse und ıhrer Bewährungen

und Korrekturen,

und betätigt sich in der

Freundschaft darin, diese Geschichte dem Freund zu appräsentieren!!7; aber auch so muß der Freund dies erfahrungsgesättigte Bild seiner selbst als authentisches

Korrektiv

seiner

momentanen

Selbstwahrnehmung

überneh-

men können. Wie aber kann er das, wenn die Kommunikation des Bildes selbst

dessen

Authentizität

relativiert,

eine

Differenz

zwischen

Bild

und

Wahrheit an den Abgebildeten mitübermittelt und ihn verweist an seine eigene, von der momentanen Selbstwahrnehmung offenbar unterschiedene ursprüngliche Selbstbeziehung? Es scheint, daß nicht beide von der Theorie der momentanen Selbstwahrnehmung zur Orientierung angebotenen Instanzen zugleich

Geltung

beanspruchen

können:

Enrweder

orientiert der

Eın-

zeine sich an den sozial vermittelten und über Tugendwissen kontrollierten Bildern seiner selbst, dann muß seine unmittelbare Selbstwahrnehmung als funktionslos oder als nicht bewußt bzw. gar nıcht ıns Bewußtsein zu heben gedacht werden; oder aber letztes Kriterium der Seldstorientierung ist das

unmitteibare Selbstverhältnis, dann wird dıe eminente Bedeutung fraglıch, dıe Schleiermacher kommunizierten Bildern von Individualität zubilligt, und mithin die Funktion der Freundschaft überhaupt. Man muß dann auch nach dem Starus dieses unmittelbaren Selbstverhältnisses fragen. Jedenfalls muß es seinen Charakter als Wissen phasenweise verlieren können, ohne selbst aufzuhören, denn im Moment der Kommunikation von Fremdbeschreibungen muß es diesen Charakter, um deren Kriterium sein zu kön-

nen, wieder annehmen können, die Fremdbeschreibungen regen deshalb gewissermaßen die Anamnese des ursprünglichen Selbstwissens an. Schleiermachers Konzeption scheint insgesamt eher dieser zweiren Seite der l löygt. oben 2.3.

17 vgi, ebd,

72

l. Freundschaft - Kap. 1. Arıstoteles-Anmerkungen

Alternative zuzuneigen, wenngleich sie durch die starke Betonung der Labilität von Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung nach deren sozialer Reanimation und Stabilisierung

und der Bedürftiigkeit wichtige Aspekte der

ersten einholen kann.

2.6.3. Die Herkunft des Tugendwissens Dies zeigt sich noch deutlicher an einem weiteren Problem der Theorie, das

dem ersten sich strukturanalog erweist, nämlich der ungeklärten Herkunft des Tugendwissens. Man könnte ja vermuten, es ließe sich dıe Frage der Transparenz der Fremdzuschreibungen von Individualität auf das unmittelbare Selbstverhältnis hin dadurch erhellen, daß man auf beiden Seiten eın identisches Wissen von sittlicher Vollkommenheit als gemeinsames situatl-

onsunabhängiges Kriterium der Beurteilung eigener und fremder Handlungen und Einstellungen annimmt, das dann auch wechselseitig als Kriterium der Orientierung eigenen Handelns und eigener Selbststilisierung vorausge-

setzt werden könnte. Man hätte dann in einem gemeinsamen Bezug auf Allgemeinheit gewissermaßen ein allgemeines Medium, ın dem Selbst- und Fremdbeobachtungen, Selbst- und Fremdbeschreibungen etc. formuliert, kommuniziert und aufeinander abgestimmt werden könnten. Eın solches gleichsam natural voraussetzbares Medium scheint Eberhard im Sittengesetz der Vernunft für gegeben und dieses im moralischen Gefühl des Einzelnen einerseits, in den positiven Gesetzen von Staat und Religion andererseits für

präsent oder jedenfalls für präsentierbar zu halten!!®, Doch wurde Schleiermachers

Konzeption

ja gerade

angestoßen

von

dem

Problem

der nicht

durchgängigen Evidenz und Autorität des Vollkommenheits- und Tugendwissens im Einzelnen und in der gesellschaftlichen Kommunikation bzw. von der Wahrnehmung der nicht durchgängigen faktischen Orientierung an diesem wenn auch anerkannten Wissen. In solcher doppelten Gebrochenheit der Präsenz des Allgemeinheitsbezugs ist ein Konsens über die vernünftige Bestimmung auszusetzen.

des Menschen und seines Handelns nun aber eben nicht vorAuch der Versuch, vermittels eines Gedankens der sozial ver-

mittelten Anamnese dıe Ursprünglichkeit des Tugendwissens festzuhalten, kann nicht erklären, warum dieses Tugendwissen bei einigen (wieder) ins

Bewußtsein tritt, bei anderen aber nicht!!?, Die Suche 'resonanzfähiger'

1187u Eberhard vgl. unten Kap. 2, besonders 1.3. 119 vgl, oben 2.1.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

73

Objektel20 muß deshalb ausgehen von der Möglichkeit faktischen Dissenses sowohl

hinsichtlich

der materialen

Orientierung (als des Mediums auch hinsichtlich der konkreten

Definition

der allgemeinen

sittlichen

wechselseitiger Verhaltensbeurteilung) als Anwendung dieses Maßstabs ın der Beur-

teilung von einzelnen Handlungen bzw. von deren Stellung in der Geschichte der Vervollkommnung des Handelnden, Die Selbstbeurteilung kann mithin ein anderes Kriterium verwenden als die Beurteilung durch Andere,

und sie kann eın identisches Kriterium anders auf konkrete Hand-

lungen und Prozesse beziehen als jene. Andererseits kann auch faktischer Konsens nicht als solcher schon über die Sittlichkeit des Beurteilungskriteriums vergewissern, kann er doch Resultat ein- oder wechselseitiger Fehllei-

tung sein. Es spricht deshalb einiges dafür, daß sich Schleiermachers Konzeption

nur dann

konsistent rekonstruieren

läßt, wenn

man

annimmt,

das

Medium der wechselseitigen Verhaltensbeurteilung, nämlich ein Konsens über die Kriterien der Beurteilung, ein allgemeine Geltung beanspruchendes Konzept der Bestimmung des Menschen, bilde sich allererst im Prozeß der Freundschaft, werde aber zugleich an deren (und zum Zwecke von deren) Anfang im Modus antizipierender Zuschreibung vorausgesetzt!?l. Dabei wäre

es gleichgültig,

ob jener

Prozeß

mit einer

Selbstzuschreibung

von

eigenem Tugendwissen anhebt, die dann in der Kommunikation zu bewähren und auszubreiten

ıst, oder mit einer Selbstzuschreibung der Wahrneh-

mung von fremdem Tugendwissen, womit dann ineins mit dem Kriterium für Selbstorientierung und Selbstbeschreibung vertrauenswürdige Träger externer Verhaltensbeurteilung gefunden wären (welches Vertrauen sich gleichwohl zu bewähren hätte). Beidemal wäre die Annahme anthropolo-

gisch-ursprünglichen

und allgemeinen Tugendwissens!?2 Katalysator und

Legitimierungsgrund wissens.

Beidemal

der

konkreten

erschiene

Zuschreibung

Freundschaft

als jene

bestimmten Sozialform,

Tugendın

der

Tugendwissen erweckt, geprägt, intern kommuniziert und zur externen Ausbreitung disponiert wird. Freundschaft als partikulare Sphäre emergıerenden Tugendwissens und der Orientierung daran strahlte dann den Anspruch

auf allgemeine Geltung ihres internen

mithin auf Expansion freilich in hohem 120 yg1. oben

Maße

Beurteilungsmediums

ihrer Sphäre selbst aus!23. Rekonstruktion;

und

Diese Deutung bleibt

Schleiermacher selbst scheint die

1.2.1.

121 Vgl. oben 2.4.2. 122 vgl. oben ?.1. sowie 2.6.3.

123 m Gegensatz dazu schreibt interesseloses Wohltun dem Andern gerade nicht Tugendwissen zu, sondern seine Unwissenheit fest.

74

l. Freundschaft - Kap. I. Aristoteles-Anmerkungen

Probleme,

die sich aus der Kopräsenz

von

Elementen

evolutionärer

und

Vernunft-Konzepte sowie bei der konsequenten Anwendung der Theorie der Vervollkommnungsbedürftigkeit auch auf das Wissen der Vollkommenheit selbst ergeben, nicht immer hinreichend scharf zu erfassen: die zusammen-

geschauten

Theoreme

werden

nicht

ın jeder

Hinsicht

zur

konsistenten

Theorie.

2.6.4. Die Ausbreitung von Freundschaftsverhältnissen An der Frage der Expansıon der Freundschaftssphäre läßt sıch eine weitere

Schwäche der Konzeption aufzeigen. Nicht von ungefähr kehrte die Untersuchung immer wieder zur Darstellung von Ego-Alter- oder Ich-Du-Beziehungen

zurück.

Denn

trotz

gegenteiliger

Emphasel2?

bleibt

die

Sicht

beschränkt auf freundschaftliche Binnenräume und Binnenperspektiven. Zwar impliziert die Wahrnehmung der Individualität des Anderen auch die Wahrnehmung seiner sozialen Lebenssphäre, und es soli dem Freund gerade auch um die Förderung der Vielfalt der freundschaftsexternen Lebensbezüge des Freundes zu tun sein, zum Zwecke der Partizipation an diesen125,. Aber es ist unerörtert, ob oder wie der Einzelne seine verschiedenen

Freundschaftsbeziehungen!?6 untereinander vernetzen soll, und ob oder wie dıe einzelnen Freundschaftsbeziehungen mehrerer Einzelner sich zu einem System der Freundschaft zusammenfügen. Die Intimität der Einzelbeziehungen, die erforderte lange Dauer des Vertrautwerdens immerhin läßt Kapazitätsschranken der Einzelnen und Grenzen der Transponierbarkeit der indıvidualisierenden Effekte einer bestimmten Freundschaft auf andere vermuten, die eine Vernetzung von Freundschaften oder verschiedenen Gruppen von Freunden über ein von den je Einzelnen überschaubares Maß

hinaus unwahrscheinlich und unrealistisch zu machen scheinen. Sıeht man einmal ab von gleichsam subkutan Sozialıtät prägenden Wirkungen

der auf

124vgi. oben 2.4.1. 125 Vgl. oben ebd. 126£3 ist an sich bereits bemerkenswert, daß Schleiermacher eine Mehrzahl gleichzeitiger gleichrangiger Freundschaftsverhälinisse für möglich und sogar für wünschenswert zu halten scheint. Die Theorie zentriert sıch also nicht um das Paradigma der einen, einzigen Freundschaft zu genau einem oder einer idealen Anderen. Daß es Schleiermacher andererseits, anders als etwa Gleim (vpl. dazu Rasch, a.a.O.,

191), nıcht um eine mög-

lichst große Agglomeration einer Vielzahl nahezu voraussetzungsloser freundschaftlicher Kontakte geht, braucht angesichts der Behandlung der »Freundschaftlichkeit« (vgl. oben 2.4.2.) kaum eigens hervorgehoben zu werden.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

75

der Förderung von Individualität aufbauenden Freundschaft (etwa in Gestalt der Etablierung von bestimmten

Leitbildern für Interaktion),

so lassen sich

allein über die versittlichenden (Tugendwissen vermittelnden und die Realısierungschancen sittlicher Intentionen erhöhenden) Funktionen der Freundschaft umfassendere Zusammenschlüsse denken, in denen freilich die

Intimität der

Verhaltensbeobachtung

und

-korrektur

auf der

Ebene

der

Einzelbeziehung verbleibt und nur das dadurch entstehende deutlichere Wissen sittlicher Handlungsorientierung sowie die erweiterte Handlungs-

fähigkeit in die größere Sozialform eingeht. Unerörtert bleibt in diesem Zusammenhang ebenso, inwiefern das selbstachtungssteigernde Resonanz (»Ehre«) intendierende Handeln zum Besten Anderer aufgrund seiner öffentlichen Sichtbarkeit nicht etwa nur die Resonanz dieser Anderen selbst, sondern auch die Dritter auslösen kann, dıe gar

keinen unmittelbaren Nutzen aus diesem Handeln ziehen!??, Dabei sind zu unterscheiden die Wahrnehmung der sittlichen Würdigkeit des Handelnden (anhand der Beurteilung seiner Handlung) als Grund für die Zuschreibung von Urteilskompetenz in bezug auf die Handlungen auch des wahrnehmenden Dritten, dıe Wahrnehmung der Resonanz der Handlung als Motiv,

solche Resonanz selber zum Handlungszweck zu machen, und die Wahrnehmung der emergierenden Sphäre von Wechseiseitigkeit als Vorbild attraktiver Sozialität, das zum Anschluß an die wahrgenommene Freundschaft oder zur Kontaktaufnahme mit einem der daran Beteiligten oder aber

zum Aufbau analoger Freundschaftsbeziehungen animiert. Mit einem solchen Gedanken einer nicht explizit intendierten Expansion von Freundschaft wäre einerseits das Verhältnis von Beobachtung und Zuschreibung

beim Anknüpfen von Freundschaft präziser zu bestimmen!?®, andererseits dıe Kopräsenz

von

nichttransponierbaren

(individualisierenden}

und

trans-

ponierbaren (sittlichkeitsfördernden) Wirkungen von Freundschaft so zu fassen, daß ein Netz von Freundschaftsbeziehungen gedacht werden kann, in dem die einzelnen Freundschaften nicht beliebig interdependent sind, aber miteinander verbunden sınd durch das Bewußtsein der Gleichheit der Form, durch Kommunikation sittlicher Orientierungen und durch Kooperationen zum Zwecke von deren Realisierung,

127 vgl. oben Anm. 64 und 69.

128y21. oben 2.3. unter (a).

76

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

2.6.5. Freundschaft - und die Sphäre realisierter Sittlichkeit Das

letzte

hier

anzuschneidende

(aber

vielleicht

das

schwerwiegendste)

Problem der Konzeption ist die Frage, in welchem Verhältnis die Ausbreitung einer Sphäre von Einzelrealisierungen der Sozialform Freundschaft steht zu dem ethischen Gebot der Veranschaulichung der Vollkommenheit der Welt durch Vervollkommnung von jeweils zugänglichen Teilen der

Welt129, mithin zu dem allgemeinen Handlungszweck der Versittlichung der Welt, der Etablierung einer Sphäre realisierter Sittlichkeit. Die Schwierigkeit liegt darin, daß die 'Elementarteile' der Sozialform Freundschaft Personen sind, die 'Elementarteile' der Realisierungssphäre von Sittlichkeit aber Handlungen. Denn für die Ästhetik einer Harmonie der Welt spielt es prima facie keine Rolle, wer Welt-Teile handelnd wieder ın die Schöpfungsharmonie

eingepaßt

hat; entscheidend

ist das Resultat.

Deutlich

ist,

daß dıe Sphäre realisierter Sittlichkeit einen weiteren Umfang hat als der Bereich gelebter Freundschaft, ıst doch jenes vervollkommnende Handeln auch ohne

der

Interesse an personaler Wechselseitigkeit

freundschaftswidrigen

Gestalt

der

möglich,

Depersonalisierung

ja sogar

Anderer

in

zum

Objekt oder Instrument der Vervollkommnung!3®, Ebenso offenkundig ist umgekehrt, daß eine zentrale Funktion der Freundschaft in der Steigerung

sittlicher Handlungsfähigkeit, in der Erhöhung der Realisierungswahrscheinlichkeit sittlicher Orientierungen, nicht zuletzt in der Vermehrung von zum

sittlichen Handeln disponierten Personen besteht!?1,

Andererseits

ist die Individualität kommunizierende Funktion der Freundschaft mit den Kategorien der Realisierung von Sittlichkeit nicht hinreichend, allenfalls als untergeordnetes Moment der Versittlichungsfunktion zu erfassen. Ist nun

die Hervorbringung personaler Wechselseitigkeit selber sittliches Postulat? Die Betonung der Förderlichkeit der Freundschaft für die Versittlichung legt das nahe. Aber ergibt sıch nıcht der Widerspruch, daß die freundschaftswidrige Objektivierung oder Instrumentalisierung Anderer zugleich pflichtigemäß und immoralisch ıst? Läßt sich dieser Widerspruch durch die Annahme auflösen, daß es im Begriff der Pflicht der Vervollkommnung

129 v1. oben 1.1. 130 vgl. oben ebd. 131 vgl. U. Steinvorth: Freiheitstheorien in der Philosophie der Neuzeit. Darmstadt 1987, 189: »Maxımierung von Handlungsfreiheiten«. Dazu dıent, «daß jeder erstens ın möglichst vielen Situationen und Bereichen möglichst viele Handlungsmöglichkeiten hat, zweitens sie erkennt und drittens sie in relevanten Situationen erwägt und aus ıhnen wählte.

2. Konfigurationen der Freundschaftstheorie

77

liegt, jeden Gegenstand der ihm innewohnendem Bestimmung - und mithin Menschen sittlicher Handlungsfähigkeit entgegenzuführen, daß aber dabei die Erzeugung von Wechselseitigkeit nicht selber Pflicht ist? Dafür spricht, daß Wechselseitigkeit ja gar nicht vollständig im Verfügungsbereich eigenen Handelns liegt, daß Resonanz deshalb einerseits nicht einklagbar ist, ihr Ausbleiben andererseits aber auch nicht (bzw. nicht unbedingt) dem Reso-

nanzsuchenden

als

Verfehlung

zugerechnet

werden

kann.

Freundschaft

wäre dann insofern eine besondere und zugleich paradigmatische Sozialform, als sie den ethischen Diskurs von Handlungsonentierungen sprengt und die Wahrnehmung von Kontingenz, Einmaligkeit, Unverfügbarkeit,

von Relatıonalität und Zeitlichkeit initiiert. Freundschaft transzendierte so eine normative Pflichtethik hin auf eine deskriptive Sozialtheorie - mit freilich normativen Implikationen. Denn man muß präzisieren: Weil Freundschaft die Doppelfunktion der wechselseitigen Verhaltenskontrolle und der wechselseitigen

Wahrnehmung

und

Kommunikation

eigener

und

fremder

Individualität hat, überlagern sıch in der Freundschaftstheorie deskriptive und normatıve Bestimmtheitsmatrices,

Bestimmung

konkreter

liefert die normative

die nur zusammen

Freundschaftskonstellationen

Matrix

ineins mit Wissen

eine vollständige

ermöglichen,

Dabei

über sittliche Handlungen

und Kriterien für die Beurteilung von Handlungen auch funktionale Definitionen der Bestimmung

(im Doppelsinn von Wesenserfassung und Destina-

tıon) des Menschen und der Welt. Die deskriptive Matrix liefert ineins mit Sequenzen von Einzelbeobachtungen auch deren Zurechnung auf Individuen.

Die

Theorie

beobachtungen) dem

kann

deshalb

mit

erfaßter

Kontingenz

(Einzel-

und mit zwei Rastern von deren Strukturierung arbeiten:

situationsunabhängigen

des Tugendwissens,

dem

situationsbezogenen

(wenn auch nicht im strengen Sinne situationsabhängigen) der Zurechnung auf Individuen. Deshalb gewinnt die freundschaftliche Kommunikation von Verhaltensbeobachtungen, Verhaltensnormen und Bildern der Individualıtät einen zugleich situationserhellenden und situationstranszendierenden Charakter;

sie fixiert den Anderen,

zu dynamisieren,

indem

um damit ipso facto seine Entwicklung

sie ihm die Wahrnehmung

falscher Fixierungen

ermöglicht und Perspektiven zu deren Aufhebung vermittelt!32. Ungeklärt bleibt freilich auch in dieser differenzierten Konzeption der Integration normativer und deskriptiver Aspekte das Verhältnis zwischen konkreter Individualıtät und Wesensbestimmung des Menschen. Wächst mit einer Annäherung des Einzelnen an seine Gattungsbestimmung auch seine Einzigkeit, 132Zu dieser dynamisierten Realistik der Wirklichkeitserfassung »Freiheitsgespräch« (dazu unten Kap. 4, ?2.).

vgl.

auch

das

78

l. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

oder geht sie umgekehrt in normgerechter Homogenität unter!33? Dieselbe Frage stellt sich im übrigen auch hinsichtlich der konkret-partikularen Realisierungen der Sozialform Freundschaft. Die Darstellung,

Rekonstruktion und Diskussion der frühen Freundschafts-

theorie Schleiermachers ist damit im wesentlichen abgeschlossen.

Um

das

Profil der Konzeption schärfer herauszuarbeiten, gilt es nun zu untersuchen,

inwiefern sie sich an Aristoteles’ Sıcht der Freundschaft orientiert, wie sie mithin Aristoteles rezipiert, moduliert, auch negiert!3%, Doch zuvor sollen zur Vorbereitung dieses Schrittes über die Textimmanenz hinaus noch zwei stärker auf Textreferate bezogene Überlegungsgänge erfolgen. Einmal soll die soeben angedeutete Verbindung der Frage nach der Theorieform mit dem Problem des Verhältnisses von Homogenität und Differenz vertieft

werden unter Rekurs auf Schleiermachers Behandlung des Verhältnisses von Gleichheit und

Schleiermachers Sozialform,

Ungleichheit in der Freundschaft (3.). Zum

Ausführungen

zu

sondern als Ferment

Freundschaft

nicht

anderen sollen

als eigenständige

von Verhaltensdispositionen

ın verschie-

denen vorgegebenen Sozıalformen gesellschaftstrukturelle und sozıaltheoretische Ausstrahlungen des Freundschaftsthemas verdeutlichen (4.).

3. Homogenität, Differenz - und Temporalisierung »Aus Gleichheit oder Aehnlichkeit also entsteht jene freundschaftliche Sympathie, vornemlich aber aus der Aehnlichkeit guter sittlicher Gesinnungen; nur tugendhafte Seelen, welche ın sich selbst beständig sind, können es auch gegen andre seyn.« In diesem Satz des Aristoteles!35 findet Schleiermacher

den

»Schlüßel«

(19,9)

zur Beantwortung

der Frage,

warum

nach

Aristoteles Freundschaft »nur unter tugendhaften statt finden kann« (19,11). Schleiermacher nimmt dabei freilich eine folgenschwere Umkehrung der Fragerichtung vor. Konstitutives Merkmal der Freundschaft ist für ıhn nämlich nicht die Tugend als solche, sondern dıe Dauerhaftigkeit und Stetigkeit wechselseitiger Zuwendung; dıese Kontinuität verdankt sich wiederum der inneren Stetigkeit der beteiligten Einzelnen, dıe ıhrerseits über die Orientierung an der Tugend zu erreichen ist. Das Tugendwissen ıst

133 Vgl. dazu auch oben 1.2.2. 134ygl, unten 5.

135 NE 11596 2-5, in Schleiermachers Übersetzung 56,29-32.

3. Homogenität, Differenz - und Temporalisierung

79

mithin funktional der Kontinuierung personinterner und interpersonaler Selbstfestlegungen, der Sicherung der Erwartbarkeit von Einstellungen und Verhaltensweisen zugeordnet. Schleiermachers kritische Ausgangsfrage ist nun konsequenterweise, ob diese kontinuierende Funktion tatsächlich nur

von der Tugend erfüllt werden kann (vgl. 19,13). Gibt es nicht auch andere ‘Instanzen’, die interne und externe Beständigkeit zu gewähren vermögen? Muß deshalb nicht entweder eine Mehrzahl von Freundschaftsformen ethisch zugelassen werden, von denen die sıch an Tugend orıentierende nur eine ıst, oder zumindest - wenn an der konstitutiven Bedeutung der Tugend festgehalten werden soll - ein Zusammenwirken mehrerer Instanzen wenn auch unterschiedlicher Reichweite bei der Kontinulerung psychischer Verhältnisse und sozialer Relationen?136 Tatsächlich untersucht Schleiermacher mehrere kopräsente Formen der Generalisierung psychischer Dispositionen und Verhaltensorientierungen (man könnte auch hier von einander überla-

gernden Bestimmtheitsmatrices reden!?”} in Hinblick auf ihre jeweilige Kontinuierungskraft und in Hinblick auf Konflikte, die sich einerseits beı der inneren Strukturierung und inhaltlichen Orientierung auf der jeweiligen Generalisierungsebene selbst, andererseits angesichts verschiedener Stärke und unterschiedlicher Ausrichtung zwischen den einzelnen Matrices ergeben.

3.1. Charakter

Außer Zweifel steht, daß ohne Charakter Freundschaft im Sinne von verläßlıcher, dauerhafter, wechselseitiger Beziehung unmöglich ıst. Denn Charakter ist formal definiert als die Fähigkeit, nach »Grundsäze(n)« (19,22) zu handeln, die »praktische(n) Urtheile (...) Maxımen« (19,26) unterzuordnen. 136Dje Fragestellung ist zu unterscheiden von dem Arıstotelischen Schema von Eigennutz-, Vergnügens- und Tugendorientierung als den drei Formen von Freundschaft, wovon nur die letzte als wahre zu bezeichnen ist und im übrigen die beiden anderen als (freilich

nicht

unmittelbar

anzustrebende)

Nebeneffekte

ıntegriert

(vgl.

NE

IX,3-5;

1156a 6 - 1157a 36). Denn wenn Verstetigung und Erzeugung von Verläßlichkeit den eigentlichen Effekt und das eigentliche Kriterium von Freundschaft darstellen, dann gewinnen alle Instanzen der Verhaltensgeneralisierung und Förderung der Reproduzierbarkeit von Einstellungen und Handlungen Funktionswert für Freundschaft ım "eigentlichen Sinn. Schleiermacher betont deshalb durchaus zurecht, die »übrıgens so viel bestrittene, belachte und beschwärmte Frage: was für eine Beschaffenheit der Seele, und was für ein Verhältniß der Seelen untereinander zur wahren Freundschaft gehöre« (19,17-19), seı »von Arıstoteles lange nıcht hinlänglich beantwortet()« worden (19,16f.).

137 vg, oben 2,6.5.

80

I. Freundschaft - Kap. 1. Arıstoteles-Anmerkungen

Ohne irgend eine Form solcher Selbststeuerung (die mindestens die Wahrnehmung kontinuierlicher Eigeninteressen impliziert) wird die Handlungsorientierung »ein Spiel anderer oder auch des Zufalls« (19,27). Dann sind

»keine festen Gefühle« (19,27f.) mehr möglich. Denn zwar mag ein einzelnes Gefühl »fest in sich selbst seyn« (19,28), aber es kann sich in der Zeit nicht als es selbst (19,30: »sich selbst gleich seyn«) kontinuieren, insofern

seine »Verbindung mit andern« Gefühlen »keiner innern Regel unterworfen ist« (19,29f,). Mithin gibt es auch keine Sich-selbst-Gleichheit von Zuneigungsgefühlen durch die Zeit, der Andere kann sich »nicht auf die Wırkungen seiner Liebe zu ihm verlaßen« (19,31f.). Ohne Erwartungssicherheit (19,32: »Voraussehung seiner Handlungen«) jedoch fehlt auch der Anreiz zu »vollständige(r) Bekanntschaft« (19,34), antizipierende Zuschreibun-

gen!38 erscheinen als zu riskant (19,34: »kein sicheres Zutrauen«), »ein einziger Augenblik« kann ja »alles umgestalten« (19,33). Ist dann aber die einzige wirklich

Kontinuität sichernde Alternative die

pure Orientierung an Tugend? Können Freunde sich nicht auch bei und mit nıchtmoralischen Grundsätzen wechselseitig stabilisieren und fördern? Ist für Freundschaft die Gleichheit der Grundsätze nicht wichtiger als deren Moralität? Schleiermacher diskutiert dies anhand von »zwei Fälle(n)«

(19,36): Bestimmt einen Charakter statt der »Grundsaz der harmonischen Befriedigung damit die Labilität der Selbstbindung noch einzelne Neigung hängt dann nämlich von

neigungsresistenten Tugend der aller Neigungen« (20,2), so ist nicht wirklich überwunden. Die den »Umständefn) eines jeden

Augenbliks« (20,4) ab, sie wırd je neu daran beurteilt, ob sie die Harmonie

der momentan gegenwärtigen Neigungen fördert oder stört. Durch die so geforderte Interdependenz der Neigungen ıst deren Kontinuität freilich zugleich erleichtert und erschwert: erleichtert, weil die Beendigung der Einzelneigung die Readjustierung aller Binnenverhältnisse nach sich zöge und deshalb nicht ohne weiteres riskiert wird; erschwert, weil jede Veränderung anderer Neigungen die einzelne Neigung gefährdet, insofern auch sie primär der Erhaltung des Gleichgewichts des Ganzen dienstbar ıst. Die Relation zum Freund ist dieser Funktion untergeordnet; sie wird nicht um ihrer selbst willen erhalten. Die Freundschaft beruht so nicht »auf einem der Würde des Freundes gemäßen

innern Grund« (20,15f.), sıe unterschei-

det sich fast nur noch durch das subjektive Wohlwollen von bewußter Instrumentalisierung anderer zu egoistischen Zwecken. Genau dieses (gegebenenfalls wechselseitige} Wohlwollen, verbunden mit der Wahrnehmung relativer Stabilität, verschleiert freilich den Freunden selbst und 138 vgl. oben 2.4.2.

3. Homogenität, Differenz - und Temporalisierung

81

untereinander sowie »dem größten Theil der Welt« (20,21) die innere Brüchigkeit solcher Beziehungen, die sıch erst einem ethisch kompetenten Beobachter - einem »Gemüth welches den moralischen Gesichtspunkt gefaßt

hat« (21,22)139 - erschließt. Wenngleich eine solche Freundschaft also sowohl den Beteiligten als auch der durchschnittlichen Öffentlichkeit als ef-

fektiv und attraktiv und sogar als klug erscheint, insofern sie Emphase mit Selbsterhaltung

zu

kontrolliertem

Engagement

verbindet,

nötigt dıe dafür

konstitutive Gleichheit der Grundsätze nicht zu so starken Selbstfestlegungen (und deren wechselseitiger Kommunikation), daß die Bindung auch Phasen der Dysfunktionalität des Anderen übersteht. Die Orientierung an harmonischer Entfaltung der eigenen Neigungen legitimiert ja geradezu den

Verzicht

auf unbedingte

Selbstbindung

an

unverfügbar

Anderes;

sie

bleibt insofern rein selbstbezogen. Nun könnte man meinen, daß Schleiermacher nichts anderes übrigbleibt,

als die durchgängige Tugendbestimmtheit aller Beteiligten zur notwendigen Bedingung dauerhafter freundschaftlicher Verbindungen zu erklären, mithin ganz die aristotelische Position zu übernehmen, Das widerspräche aber

nicht nur seinem Anspruch,

über Aristoteles hinauszugehen!#®,

sondern

überhaupt seinem Ansatz bei der faktischen Defizienz und Differenz konkreter Personen. Diesen Ansatz verschärft er freilich in seinem zweiten Fallbeispiel sogar noch, indem er behauptet, nicht völlige Übereinstimmung

hinsichtlich der Moralität der Verhaltensbestimmung insgesamt sei erforderlich zu dauerhafter Freundschaft,

vernunftgemäßen,

d.h.

sondern nur die Gemeinsamkeit eines

neigungsunabhängigen,

d.h.

sıtuationsinvarıablen,

d.h. tugendhaften »oberste(n) Grundsaz(es)« (20,37), selbst wenn die Betei-

ligten diesen Grundsatz über untereinander richr kohärente und miteinander nicht kompatible »Maximen« (20,36) realisieren und mithin keineswegs einen tugendhaften Charakter zeigen. Schleiermacher demonstriert das an dem (von Schillers »Räubern« inspirierten?) Fall, daß jemand, der an der Befriedigung seiner gesellschaftlich erzeugten Bedürfnisse durch die Gesell-

schaft selbst gehindert wird, darangeht, den von ıhm subjektiv zurecht als ungerecht wahrgenommenen »bürgerlichen Zustand()« (20,27) bzw. das 139 Die Formulierung

ıst bemerkenswert,

insofern sıe die Annahme einer Art Sprung’,

ei-

nes irreversiblen qualitativen Übergangs auf den sittlichen Standpunkt nahelegt, ein Gedanke, der der Betonung der Labilität der innerpsychischen Verhältnisse und gewis-

sen evolutionären Pointen der Argumentation auffällig kontrastiert. Vgl. aber den eben angeführten (20,15f.},

Ausdruck der ebenfalls

»auf einem der Würde ein

gleichsam

standes vorauszusetzen scheint. 140 yg1, oben Anm.

136.

des Freundes gemäßen

habituelles

Verständnis

ınnerm Grund«

des moralischen

Selb-

82

l. Freundschaft - Kap. 1. Arıstoteles-Anmerkungen

Eigentum als dessen einigendes »Band« (ebd.) »so viel an ihm ist zu zerstören« (20,28, Hervorhebung von mir), und sich dazu mit anderen ähnlich

Gesinnten zusammentut. Der »oberste Grundsaz« - nämlich das Prinzip der iustitia dıstributiva und des Rechts auf Ausgleich bei unverschuldetem Schaden

- ist

»moralisch

und

sicher«

(20,38);

die

daraus

abgeleitete

Ver-

haltensmaxıme - Destruktion statt Duldung oder Reform - offenkundig immoralisch; »wahre« (20,34) Freundschaft gleichwohl möglich. Hier drängt eindeutig das Freundschaftskriterium der Dauer das Programm wechselseitiger Versittiichung in den Hintergrund. Dauer setzt nur die Neigungsindifferenz basaler Prinzipien des Handelns voraus, und Freundschaft nur den Konsens über diese Prinzipien. Sıe ist deshalb schon vor einer wechselseitigen Zuschreibung von Tugendhaftigkeit oder Tugendorientierung bzw. auch bei objektiv irrtümlicher Zuschreibung möglich. Wechselseitige Versittlichung ist dann ersetzbares Funktionsmoment des basalen Vorgangs der wechselseitigen Verstetigung. Es sieht nicht so aus, als habe sich Schleiermacher über diese Inkonsi-

stenz seiner Konzeption Rechenschaft abgelegt. Deutlich ist sein Interesse, einerseits rein situationsbezogene ÖOrientierungen völlig ohne Allgemeinheitsbezug zu vermeiden (erster Fall), andererseits nıcht mehr als Minimalbedingungen für Homogenität festzuschreiben, um so einen möglichst

großen

Spielraum

für

freundschaftsinterne

(zweiter Fall). Diese Minimalbedingungen

Differenzen

offenzuhalten

scheint er für gegeben zu halten

bei einer 'grundsätzlichen’ Orientierung an Tugendwissen, auch ohne deren konkrete Virulenz. Damit kann er zwar die vielfältigen Erfahrungen der Stabilität nicht durchgängig tugendgeleiteter Freundschaften theoretisch einholen, aber nur um den Preis des weitgehenden Verzichts auf die Freundschaftsfunktion der handlungsleitenden Appräsentation situationsunabhängigen Tugendwissens.

Allerdings fügt Schleiermacher dem Fallbeispiel, das es nahelegt, formale Gleichheit des Charakters als Bedingung für Freundschaft anzunehmen,

»Einschränkungen«

(21,1)

hinzu.

Freundschaft

erfordert

»das

nemliche Ziel, dıe nemliche Straße und die nemliche Merhode den Weg zu kürzen und zu erleichtern« (21,5, Hervorhebungen von mır). Entsprechend muß die Gleichheit des Charakters über den Konsens des obersten Grund-

satzes hinaus auch »übereinstimmende Hauptmaximen, und gleiche Ideen über die moralischen Hülfsmittel des Lebens« (21,3f.; Hervorhebungen von mir) umfassen. Dies ist freilich nur dann kein Widerspruch zu dem Fallbeispiel, wenn die Betonung auf 'Übereinstimmung' liegt und die Begriffe »Hauptmaximen« und »moralische Hülfsmittel« zichr inhaltlich (von einem apriorischen Tugendwissen her) bestimmt sınd, besagt dann jedoch nur

3. Homogenität, Differenz - und Temporalisierung

83

noch, daß Freundschaft über ıdeellen Grundkonsens hinaus auch gewisse operative Gemeinsamkeiten verlangt.

3.2. Temperament Schleiermachers Versuch einer Temporalisierung von Ethik, einer Transformation der Zeitenthobenheit von Tugend

in Dauer scheitert also daran,

daß es sehr feste, auch wechselseitige Verhaltensfestiegungen (Charaktere) gibt, die nicht tugendhaft sind. Zeit hat in sich selbst kein Kriterium, das zwischen verschiedenen Formen der Stabilisierung von Verhältnissen und Beziehungen bei gleicher Dauerhaftigkeit zu unterscheiden und zu entscheiden erlaubt.

Besser gelingt Schleiermacher die Integration sittlicher Orien-

tterungen zum Zwecke der Kontinuierung von Freundschaft hingegen im Falle der in sich weniger stabilen Bestimmtheitsmatrix Temperament (21,8 -

22,28). Temperament wird definiert als Weise der Rezeption von Außeneindrücken und deren Beziehung auf das »Begehrungsvermögen« (21,15f.), freilich nicht im Sinne einer Individualisierung von Rezeption und Reaktion, sondern gerade durch deren Typisierung und Bündelung. Gleichwohl

nimmt Temperament eine Art Zwischenlage ein zwischen der Allgemeinheit der Tugend und der Singularität der Einzelempfindung. Indem Temperament Einzelempfindungen zu Typen bündelt, erleichtert es einerseits die Selbst- und Fremdzuschreibung einer Vielzahl von Einzelempfindungen auf bestimmte Individuen und andererseits dıe Erfassung einer Vielzahl von Individuen in Hinblick auf gemeinsame Typenzugehörigkeit. Einer groben Individualisierung korrespondiert eine grobe soziale Rubrizierung. Man sollte meinen, daß die Übereinstimmung im Temperament freundschaftliche Annäherung fördert. Doch führt die Wahrnehmung von Temperamentsgleichheit zwar vielleicht zu schneller Vertrautheit (vgl. 21,12f.: »[...)] daß die Identität des Temperamentes

sehr oft der erste Entstehungsgrund

der

Freundschaft sei«), bietet aber keine tragfähıge Basis für dauerhafte Freundschaft. Denn das Temperament bleibt seiner Herkunft aus der ungeläuterten

Einzelempfindung verhaftet, in gewisser Weise steigert die Bündelung noch die desintegrative Potenz der Empfindungen, indem sie diese unkontrolliert homogenisiert und damit ın ıhrer Wirkung verstärkt, so daß Gegensteuerung schwerer wird. Bei Temperamentsgleichheit fällt zudem noch die Möglichkeit wechselseitiger Gegensteuerung fort. Gilt deshalb schon dem Einzelnen der »Einfluß und die Stärke seines Temperaments immer als ein wegzuräumendes Hınderniß« (21,23f.), so soll auch Freundschaft der Eindämmung der Macht des Temperamentes dienen. Es soll derjenige als

84

I. Freundschaft - Kap.

I. Arıstoteles-Anmerkungen

Freund gesucht werden, der fähig ist, das »sittliche() Gefühl gegen das pathologische [zu] unterstüzen« (21,27f.). Dazu ist es von Vorteil, wenn die Freunde nıcht durch dieselben Eindrücke so emotionalisiert werden, daß sie

ım selben Moment nicht in Distanz zu ihrer Emphase treten können. Da sich Typisierungen der Beeindruckbarkeit und der emotionalen Verarbeitung von Eindrücken nicht völlig vermeiden lassen und umgekehrt ja auch nicht jede wahrnehmbare Evidenz der Beschreibung entbehren, empfehlen sich für Freundschaft

hinsichtlich des Temperaments

komplementäre

Kon-

stellationen, ın denen der eine auf jene Typen von Eindrücken nicht reagiert, dıe den anderen an vernünftiger Selbststeuerung hindern,

so daß die

Temperamente einander wechselseitig neutralisieren. Schleiermacher erläutert das anhand von Kombinationen unter den vier "klassischen Temperamenten (vgl. 22,9-28).

3.3. Empfindung Gleichheit der Empfindungen ist freundschaftsfördernd nur auf der Ebene der Einzelempfindungen bzw. einzelner Rezeptionsformen von Empfindungen (22,28 - 23,20).

Denn diese können - anders als Temperament,

das als

Hypostasıerung von Neigungen gerade (relative) Allgemeinheit beansprucht - nıcht ın Konkurrenz treten zu den allgemeinen Orientierungen der Sittlichkeit, da sıe zu flüchtig sind, als daß sıe nıcht selber der je neuen Re-

produktion bedürften.

Eben dazu trägt die Übereinstimmung der Emp-

findung und deren Kommunikation bei, indem die Empfindung durch gemeinsame Erinnerung sozial verstärkt appräsentiert bleibt und mithin ın gewisser Hinsicht der Flüchtigkeit enthoben wird. Das gilt freilich nur insofern, als »sie [sc. die Empfindungen] kein System ausmachen« (22,32), und solange »sıe sich selbst [nicht] zum Gesez machen wollen« (22,31). Damit nämlich wäre gerade der Vorzug der Einzelempfindung verspielt, ihre fehlende Zeitstabilität und Interdependenz, die sittlich risikoloses Sicheinlassen

auf Erfahrungen

von Singularität ermöglichen!#!.

Unter diesem

Aspekt

müßte allerdings deutlicher gemacht werden, als dies Schleiermacher tut, daß auf der Ebene der Einzelempfindung die Kommunikation richtidentischer Empfindungen für Freundschaft mindestens so wichtig ist wıe die Wahrnehmung der Harmonie des Empfindens. Impliziert diese eine

141 Und die alternative Möglichkeit einer unmittelbaren Emergenz sittlicher Örientierungen aus kontingenten Konstellationen schließt Schleiermacher ja aus. Vgl. oben 3.1.

3. Homogenität, Differenz - und Temporalisierung

85

Stabilisierung der Selbstwahrnehmung!#, so jene die Selbsterweiterung durch Wahrnehmung irreduzibler Andersheit!#. Schleiermacher deutet das hier nur an, indem

als »das

erste

(23,18-20),

er bei Gefühls- (und Gefühlsbeurteilungs-) Differenzen

Erforderniß«

die »Fähigkeit

des

Nachernpfindens«

bei welcher der »Geist der Beobachtung«

nennt

mit einer »feineren

Fantasıe« verbunden ıst (23,22). Diese Fähigkeit muß proportional zu den Gefühlsdifferenzen wachsen.

3,4, Verstand

Während Charakter und Temperament eher auf Allgemeinheit bezogene Bestimmtheitsmatrices darstellen, scheint neben der Empfindung auch dem Verstand eher indıvidualisierende Bedeutung zuzukommen.

Das überrascht,

gilt der Verstand als Vermögen des Urteilens doch als eine von Kontingenz abstrahierende Instanz. Individualisierend wirkt nach Schleiermacher freilich nicht die formale Fähigkeit, sondern deren Anwendungsbereich, das jeweilige »Feld des Urtheilens« (23,25). Ein dergestalt analytisch hinreichend strukturiertes Feld des Wissens, ein so spezifiziert gewußter eigener Lebensraum ist Voraussetzung der passiven Freundschaftsfähigkeit, insofern »ein schwachkopfiger Mensch«, dem die Fähigkeit zu solcher reflexer Binnenstrukturierung und zur Expansion seiner Wissenssphäre abgeht, »zu wenig Umfang [hat], als daß sich das Leben eines Freundes damit beschäftigen könnte in seiner Seele umher zu wandern« (24,1-3). Der Besitz des Verstandesvermögens selbst ıst hingegen zugleich Bedingung akriver Freundschaftsfähigkeit, indem es ermöglicht, an der Wissenssphäre Anderer

zu partizipieren. Der »Fähigkeit des Nachempfindens« (23,19f., im Original »Nachempftindens« gesperrt) muß mithin eine Fähigkeit des Nach-denkens (vgl. 23,24) korrelieren. Je größer sie ist, desto stärkere Divergenzen der materialen Wissenssphären kann Freundschaft integrieren. Dabei muß die Fähigkeit bei den Freunden gleich stark entwickelt sein (vgl. 23,30-32), wenn nicht der Verstandesstärkere einerseits sich entweder durch Rücksichtnahme auf den Schwächeren ın der Ausdehnung und Spezialisierung

seines Wissens behindert fühlen oder aber ohne solche Rücksicht sich dem Anderen entziehen, andererseits das Interesse an dem begrenzten Horizont

142 gt. oben 2.2.

143 Vgl. oben 1.2.1.

86

I. Freundschaft - Kap. I. Anıstoteles-Anmerkungen

des Anderen verlieren soll!44,. Allerdings sieht sich Schleiermacher genötigt, vor einer isolierten

»Verstandeskultur«

(23,33)

zu warnen,

die sich

nicht eine Beziehung zu »andern Theilfen) der menschlichen Seele« (23,36f.) setzt!9. Er scheint damit!45 ein von der individuellen (auch Selbst-)Erfahrung abgekoppeltes "objektives' (nicht-praktisches) Wissen zu meinen, wodurch ein einheitlicher »Gesichtspunkt« (23,38f.) der Synthese

aller Handlungen unmöglich wird. Ein solches Einheitssubstrat ist aber die »erste()

Forderung

welche

die Freundschaft

macht«

(23,37f.),

indem

ste

zumindest als Postulat für Zuschreibungen Bedingung der Möglichkeit des freundschaftlichen Rückschlusses von Handlungen ıst.

Schleiermacher war ausgegangen von dem Konstituens von Freundschaft.

Problem der Kontinuitär als

Indem er dıe Frage transponiert von der Be-

stimmung zeitenthobener Qualitäten (Tugendhaftigkeit) zur Aufgabe der Kontinuierung in der Zeit, relativiert er ihre Bindung an Sittlichkeit. Homogenität sittlicher Orientierung bleibt nicht das einzige Kriterium für die Erhaltung von Freundschaft. Es gibt mehrere kopräsente Instanzen,

mehrere

aufeinander

Homogenität,

gelagerte

Konsens,

'Bestimmtheitsmatrices',

Identität etc. auch

formal

innerhalb

nicht einmal

deren

unbedingt

einen Primat für Kontinuierung beanspruchen können. Vielmehr wird Freundschaft kontinuiert in einem differenzierten Zusammen-Sichereignen von Homogenisierung und Singularisierung, Konsens und bleibender Differenz, Kommunikation von Identität und irreduzibler Andersheit. Die Wahrnehmung von Kontingenz kann durch den darin vermittelten Neuigkeitswert

die Fortführung einer Beziehung ebenso motivieren wie der Konsens hinsichtlich

basaler

Handlungsorientierung,

wenn

auch

- bezogen

auf

die

Einzelwahrnehmung - nicht mit derselben Reichweite. Schleiermacher tendiert sogar dazu, Homogenität - wenn er sie nıcht gar überhaupt als freundschaftsschädlich anspricht (wie beim Temperament) - auf die Steigerung der Integrationsfähigkeit für Divergenzen (beim Verstand und selbst beim Charakter) oder auch auf die Erhaltung von Singulanität hin (bei der Einzel-

empfindung)

zu funktionalisieren.

Umgekehrt

sichern

Differenzen,

wenn

144 Djes gilt jedoch nur deshalb, weil die Fähigkeit zur Etablierung und Ausdehnung eınes »Feld(es)

des

Urtheilens«

(23,25)

mit der Fähigkeit

des Nach-denkens

so zusammen-

hängt, daß eine Verbessening der einen eıne Verbesserung der anderen zur Folge hat. Andernfalls wäre ja auch der Fall denkbar, daß der verstandesmäßig Stärkere einen Freund hat mit einem entlegeneren Wissensgebiet. 145 Diese Warnung begegnet schon bei Eberhard.

Vgl. AThDE

169 - 172 und dazu unten

Kap. 2, 1.2.

146 Eine völlig überzeugende Rekonstruktion der sehr kurzen und dunklen Stelle ist kaum möglich.

4. Egalisierungsdynamik

87

sie denn so die basale Reproduktion wechselseitiger Zuneigung anreizen, auch das Fortbestehen der Freundschaftsfunktion

chung,

d.h.

Tugendwissen

der

Orientierung

an

einem

wechselseitiger Versittli-

gemeinsamen

und

identischen

(wovon die Identität allerdings selbst eine je werdende,

sich

über je neue Differenzen vermittelnde ist!®7). Es ist deshalb nur konsequent, wenn Schleiermacher die Anmerkung in einem Lob der Ungleichheiten enden läßt (24,7-23), dıe auf allen beschriebenen Ebenen »das schönste Spiel der Freundschaft« (24,12) geben, und zwar in Gestalt wechselseitiger Aneignung, der aber nie der 'Stoff', d.h. neue Ungleichheiten, ausgehen soll (24,19-23)148,

4. Egalisierungsdynamik: Gesellschaftsstrukturelle Ausstrahlungen der Freundschaft Bisher war von Freundschaft weitgehend nur als eigenständiger Sozıalform die Rede, ın der Gleichgesinnte unabhängig von ihrem sozialen Status und

ihrer Standeszugehörigkeit zusammenkommen

zum

gleichsam Zwecke

»als Menschen

wechselseitiger

schlechtweg«

(3,15)

Verhaltenskontrolle

und

zur wechselseitigen Wahrnehmung und Kommunikation eigener und fremder Individualität.

Für dıe Darstellung hatte diese Abstraktion von den nur

begrenzt verfügbaren Vorstrukturierungen der sozialen Handlungssphäre den Vorzug, daß sie basale Theorieoperationen Schleiermachers auf einem verhältnismäßig übersichtlichen Feld zu untersuchen erlaubt, das aber dennoch hinreichend komplex ist, um reduktionistische Beschreibungen zu verhindern und umgekehrt die Entwicklung komplexerer Theoriemittel zu katalysieren. Nun deuten schon das Selbstverständnis der Freundschaft, diejenige Sozialform zu sein, die die Realisierung der menschlichen Bestimmung am

ehesten befördert, und mehr noch ihr dezidiert erhisches Interesse auf einen Anspruch hin, der den engen und sozıal marginalen {wenngleich dıe 'veröffentlichte'

Meinung

prägenden,

genauer:

bildenden)

Bereich

von

Freizeitzirkeln überschreitet. Ein soiches Transzendieren war bereits in der l4’vgl. oben 2.6.3.

148 Auch Eberhard kennt ein 'Lob der Abwechslung’: vgl. SdV $ 8 und $ 17 sowie AThDE, 104, wo und unmerklichen

Grund vieler blickt.

er die Feinheit der Empfindung als »Fertigkeit (...), die kleineren Verschiedenheiten lebbaft zu empfinden«, bestimmt und darın den

Verschiedenheit

unter den

»Gemüthscharakter(en)

der

Menschen«

er-

88

l. Freundschaft - Kap. I. Arıstoteles-Anmerkungen

Behandlung der Freundschaftsfunktion der Verhaltenskontrolle impliziert, wenn anders sich diese nicht nur auf freundschaftsinterne Handlungen, son-

dern auf das Verhalten überhaupt bezieht!#?. Das heißt, daß die freundschaftsinternen Beurteilungskriterien und Handlungsorientierungen auch auf die freundschaftsexternen Relationen der Freunde angewandt werden. Das schließt wiederum ein, daß auch die Leitbilder freundschaftlicher Kommunikation - Wechselseitigkeit, Gleichheit, Koemergenz der Förderung von

Individualität und von Relationalität - in freundschaftsexterne Kontexte eingetragen werden (können). Freundschaft ist mithin eine ideale Sozialform, dıe in doppelter Weise partikular realisiert ıst: Sie ist in sich permanent vervollkommnungsbedürftig, und sie tendiert hin auf Expansion des Geltungsbereichs ihrer Prinzipien.

Freilich kann die - wenn man so sagen darf - 'Imprägnierung' gesellschaftlich vorgeprägter Institutionen wie Ehe, Familie und politische Herrschaft mit Freundschaft nicht ın jeder Hinsicht der Genese und Ausbreitung der spezifischen Sozialform des Freundeskreises analog verlaufen. Kann der Freundeskreis

in

- wie

auch

immer

fiktiver

- Voraussetzungslosigkeit

Gleichheit der sittlichen Würdigkeit antizipierend zuschreiben

und damit

cum grano salis auch erzeugen!?®, so hat die Bemühung um Freundschaft ım Raum der Gesellschaft mit festgeprägten Differenzen des Ranges (König - Untertan), der Stellung (Mann - Frau) und der Entwicklung (Eltern - Kinder) zu rechnen, von denen nicht ohne weiteres zugunsten pu-

rer wechselseitiger Menschenliebe abstrahiert werden

kann.

Diese Diffe-

renzen unterscheiden sıch von den auch innerhalb von nıcht-hierarchisierten

Freundschaftskreisen 14,28 - 15,9 sowie

möglichen

Differenzen

der

Vollkommenheit

(vgl.

17,25-30). Denn während diese zu ihrer eigenen Über-

windung anreizen, indem sie den 'Vollkommeneren’ Felder versittlichender (und

mithin

kommenen baren

(vgl.

selber

sittlicher)

Tätigkeit aufzeigen

und

den

weniger

ıhre Defizienz und Möglichkeiten zu deren Aufhebung 15,15-23),

so daß

auch

ın dieser

Hinsicht

der

Voll-

offen-

Prozeß

der

Freundschaft die freundschaftskonstitutive Wechselseitigkeit (in allen zwei bzw.

drei Funktionen)

scher und unmöglich,

allererst schafft,

ist etwa im

Verhältnis

von

Herr-

Untertan die Wechselseitigkeit der Verhaltenskritik strukturell im

Verhältnis von

Eltern und Kindern

zumindest

für die Zeit

bis zu deren Mündigkeit. Wo und wie wirkt nun das 'Prinzip Freundschaft’ in solchen intransigenten Verhältnissen? Welche Prozesse löst es darin aus? Wie beeinflußt es ihre Beschreibung und Beurteilung? 149 vg1. oben Anm. 64 und 69.

150 Vg1. oben 2.4.2.

4. Egalisierungsdynamik

89

Es ıst zunächst wichtig zu bemerken, daß Schleiermacher mit der doppelten Verwendung des Freundschaftsbegriffs in bezug auf Interaktionsverhältnisse und in bezug auf Gesellschaftsstruktur deutlich den Arıstotelischen Ansatz der Freundschaftstheorie aufgreift. Im Unterschied zu Aristoteles freilich untersucht Schleiermacher Freundschaft nicht als Einheitsprinzip eines Gemeinwesens überhaupt (so daß man pAilia auch als harmonische und tugendgemäße Einrichtung und Ausrichtung einer ganzen Polis paraphrasieren könntel5!), sondern er beschreibt die Einwirkungen der Normen von Freundschaft ın die Interaktionen von Funktionsträgern - und zwar ın den elementaren

Sphären

von Staat, Ehe und

Familie.

Er reduziert damit

soziale Prozesse auf Kommunikationen zwischen einzelnen Personen in bestimmten sozialen Rollen. Das spiegelt auf der einen Seite die Erweiterung der Freundschaftsfunktionen um die Wahrnehmung und Kommunikation von Individualität wıder, dıe zwar dıe Tugendorlentierung keineswegs In den Hintergrund drängt (sie bleibt zumindest nominell ja Hauptfunktion vgl.

11,10-12),

aber

doch

in einen

relativierenden,

d.h.

auf Individuen

zentrierenden Kontext stellt. Auf der anderen Seite verhindert es die Darstellung komplexerer gesellschaftlicher Phänomene, die mit personalistischen Kategorien allein nicht mehr erfaßt werden können. Doch trotz dieses offenkundigen sozialtheoretischen Mangels ıst es möglich, gesellschaftsstrukturelle und -theoretische Veränderungen an solchen Elementarkonstel-

lationen als an Paradigmen festzuhalten. Am deutlichsten lassen sich dıe Funktionsweise der Expansion des Prinzips 'Freundschaft'

und deren gesellschaftsstrukturellen Aspekte an der Be-

handlung der Ehe studieren; eine gleichsam natürliche Variante der Emergenz von Wechselseitigkeit wırd am

Beispiel der Familie offenkundig;

die

Problematik der personalistischen Reduktion zeigt sıch am klarsten bei der Frage der Herrschaft. Die Darstellung soll deshalb in dieser Reihenfolge erfolgen, die sıch von der in Schleiermachers Anmerkung 16 (13,14 - 17,30) unterscheidet.

4.1.

Ehe

Schleiermacher zögert, Aristoteles’ Charakterisierung der Ehe als ungleiche

Verbindung zu übernehmen (vgl.

151 vgl. NE 1155a 22-28. 152 Vgl. NE 1158b 13.17,

14,16-18152). Denn im Gegensatz zur

90

I. Freundschaft - Kap. I. Aristoteles-Anmerkungen

Meinung des Aristoteles!53 scheint die Frau »beinahe« denselben »Grund zu lieben« (14,14) zu haben wie der Mann.

Die bei Aristoteles mit einem un-

terschiedlichen Grad der Vollkommenheit des Wesens von Mann und Frau begründete Differenz auch der Relationen wird bei Schleiermacher reformuliert zu einer Ungleichheit hinsichtlich der »Summe der Rechte und Pflichten« (14,16), wobei »Summe« ausweislich des Kontextes sowohl graduelle als auch qualitative (funktionale) Differenz umfaßt.

ferenzen (14,26)

können machen,

die

Ehe

zu

»eine(r)

dann nämlich,

wenn

der

»wahre

Auch diese Dif-

ungleichsten

Verbindungen«

Freundschaft«

(14,25)

fehlt.

Fehlt sie nicht, depotenziert sie die graduellen Differenzen (»Ungleichheit der Rechte«,

schäfte«,

14,23f.) und läßt nur funktionale übrig (»Ungleichheit der Ge-

14,24). Schleiermacher beschreibt diesen Vorgang in der staats-

theoretischen

Begrifflichkeit der Gewaltenteilung:

Seibst

wenn

der

Mann

»überall die gesezgebende Gewalt [hätte] und die Frau nur einen Theil der executiven« (14,18f.), erfordert die freundschaftskonstitutive Norm der Wahrnehmung und Förderung von irreduzibler Andersheit und des Ver-

zichts auf Instrumentalisierung, daß dıe "Gesetzgebung' nicht ohne Rat und Zustimmung

der Frau zustande kommt,

so daß als besondere

Aufgabe des

Mannes de facto nur die öffentliche 'Verkündigung' des gemeinsam verantworteten Beschlusses übrig bleibt. 'Freundschaft' setzt mithin ın der Ehe eine Dynamik auf Enthierarchisierung und Egalisierung hin ın Gange, die freilich keine Uniformität zum Ziele hat, sondern Funktionsdifferenzierung. Allerdings vollzieht sich diese Entwicklung gleichsam subkutan, im privaten Binnenraum der Beziehung, ohne deren äußere Formen zu verändern formal bleibt ja der Mann der Bestimmende - und ohne verbindliche (rechtsförmige) zu reflektieren.

öffentliche Festschreibungen der veränderten Verhältnisse Der Widerspruch, der bei der Sozialform Freundschaft auf

die zwei Bereiche der entfremdeten bürgerlichen Tätigkeit und des 'eigentlichen' Lebens im Freundeskreis verteilt war, fällt ın der Ehe innerhalb eines Bereichs an, indem

innerlich)

überwunden

Gleichheit übergeht.

153 vgl. NE 11586 18f.

wird

die äußere Ungleichheit innerlich (aber zur

und

allein

für dıe Beteiligten

erkennbar

ın

4. Egalisierungsdynamik 4.2.

91

Familie

Beim Verhältnis zwischen Eltern und Kindern!® ist der Übergang von Ungleichheit in Gleichheit, von Abhängigkeit in Mündigkeit und Selbständigkeit umgekehrt sogar gesellschaftlich erwünscht. Er ist aber nicht ohne Risiko

für den

Bestand

der Beziehung.

Schleiermacher

geht bei

der Be-

schreibung der ursprünglichen - dem Verhältnis des Schöpfers zu seinem Werk analogisierten (vgl. 13,23-25) - Ungleichheit darın über Aristoteles hinaus, daß er das Verhältnis nicht pauschal als Illustration der Beziehungen

zwischen Älteren und Jüngeren verwendet, sondern zwischen dem Verhältnis der Mutter zum Kind und dem des Vaters spezifiziert (umgekehrt übrı-

gens nicht): Während die Mutter schon mit dem neugeborenen Kind eine (Leidens-}Geschichte verbindet (vgl. 13,25f.), erscheint es dem Vater »als ein Nichts, aus dem er etwas zu machen hat« (13,29); ist es ihr ein

»Gegenstand

ihrer Sorgen

(,) ihrer Bemühungen,

ihrer Beschäftigungen,

ihres Nachdenkens, ihrer Fantasıen« (13,27f.), so sieht er »seine Seele (...), welche er nach und nach entwikeln und bilden soll« (13,30f.). Sofern dieses Interesse an Bildung freundschaftsgesteuert ist, muß es die sukzessive Auf-

hebung der »Ohnmacht« (13,32) des Kindes intendieren sowie dessen irreduzible Andersheit respektieren. Das Risiko liegt nun darin, daß bei der gewünschten

Selbstbemächtigung

des

Kindes

mit

dem

Abnehmen

der

Abhängigkeit von den Eltern sich auch die Qualität des Verhältnisses zu ihnen ändert - aus unbedingter Ohnmacht wırd reflexe »Dankbarkeit« (14,1) - und daß mıt der Freigabe der Entwicklung nunmehr »Willenscollisionen« (14,2) auftreten können. Damit ist die »wenigstens nach Aristoteles’ Regel« (14,3) konstitutive Proportionalität der Liebe zur Würdigkeit des Geliebten nicht mehr gewahrt, denn während die Liebe der Eltern zu den

Kindern aufgrund der Wahrnehmung von deren entstehender »Moralität« (14,6) noch wächst, wird »die Empfindung des Kindes« gegen die Eltern »getheilt

und

herabgestimt«

(14,4f.),

der Vollkommenere

liebt dann

den

Unvollkommeneren stärker als der Unvollkommenere den Vollkommeneren. Soll die Disproportionalität nıcht zu völliger Entfremdung führen, müssen die Eltern ein der äquivalentes und zugleich

physischen Abhängigkeit der frühen Kindheit der Entwicklung des Kindes angemessenes

Medium der Bindung anbieten: Sie müssen dem Kind »das Anschaun der sittlichen

Vollkommenheit

seiner

Eltern«

(14,10)

ermöglichen.

Hier

erfordert also das Interesse eine Anpassung der Selbstorientierung an das für dessen Entwicklung nunmehr relevante Medium der Kommunikation 154 Bei Aristoteles: » Vater und Sohn« (NE 11585 12).

92

I. Freundschaft - Kap. 1. Aristoteles-Anmerkungen

nämlich Moralität - und mithin Anstrengungen der Selbstvervollkommnung

und Selbstversittlichung. Diese Selbstanpassung ist allerdings in der Hinsicht eine vorgängige, daß sie dıe Entwicklung des Kindes zugleich prognostiziert und katalysıert, indem sıe dıe keimende Moralität als zukünftig dominantes Medium für Wechseiseitigkeit ausmacht und durch die Resonanz des eigenen Vorbildes fördert. Insofern bleibt die Initiative auf Seiten

der Eltern, es erhält sich eine gewisse Ungleichheit, die aber deutlich auf Egalisierung hın ıinstrumentalisiert ıst. Indem sıch dıe für dıe Ungleichheit verantwortliche Differenz der »Erfahrung« und der »Besizungen des Geistes« (15,12f.) mit den Jahren relativiert, nähert sich das Generationen-

verhältnis - anders als bei der Ehe auch äußerlich - der »reinste(n) Freundschaft« (17,10).

4.3. Herrschaft

Ein solches Emanzipationsprogramm!®3 ist für das Verhältnis von Vorgesetztem

und

Untergebenem

ım

bürgerlichen

(gesellschaftlich-staatlichen)

Leben undenkbar. Hier ist Freundschaft nur bei strikter Trennung öffentlichem und privatem Bereich möglich: Weder darf die Gleichheit Freundschaftsbeziehung in dıe formal-hierarchischen Verhältnisse des rufs eingetragen werden, noch »bürgerliche Uebermacht« (15,33) in

von der Bedie

Freundschaft. Die große Schwierigkeit, diese Bereichstrennung durchzuhalten, macht solche Freundschaften jedoch »selten« (15,35). Dies impliziert

allerdings eine Kritik an derartigen stark hierarchisierten gesellschaftlichen Strukturen. Daß etwa ein König »der Freundschaft desto mehr fähig [ist], je weniger er König ist«, dient »zum neuen Beweis daß dieser Stand in der Form, wie man ihn gemeiniglich unter uns antrift, der Natur wirklich entgegen ist« (16,2-4). Das Problem ist dabei dies, daß der König »zwei Personen vorstellt, die er weder mit einander vermischen, noch von einander trennen« (16,9f,.) darf, dal aber die "bürgerliche Person‘ als König die Ent-

faltung der 'privaten' Person als Mensch an sıch verhindert, indem einerseits die politische Funktion die für humane Sozialbeziehungen (d.h. für Freundschaft) unentbehrliche Aufrichtigkeit in bestimmten Fällen verbietet156, indem andererseits Andere ihre Interessen an dem Funktionsträger

als Interessen an dem Menschen chiffrieren, was zu wissen den König zu 155 Für

eine ausführliche

(und

über

den

Einzelfall

hinaus interessante)

Problems beı Kant vgl. Manfred Sommer: Identität ım Übergang. ım Übergang: Kant. Frankfurt (M) 1988, 14 - 89.

156 Vgl. oben 2.3.

Darstellung

des

In: Ders.: Ilentität

4, Egalisierungsdynamık

beständigem Mißtrauen gegen Zuneigungsbekundungen

93

nötigt (vgl.

16,23-

28). Deutlich ist die Präferenz, die Schleiermacher der (Selbst-) Beschreibung als Mensch gegenüber der (Selbst-)Beschreibung als Funktionsträger einräumt. Stärker als bei der Ehe drängt diese Präferenz hier zu Verände-

rungen auch der äußeren »Form« (16,3) von Hierarchien. Es kommt freilich zu keiner konkreten Erörterung einer der »Natur« (16,4) wirklich gemäßen Gestalt von Unterordnungsverhältnissen,; Schleiermacher beläßt es bei dem Hinweis auf das wenn auch unverfügbare Glück, wenn in sehr hohen Rän-

gen sehr nahe amtliche Beziehung und Freundschaft zusammenfallen (vgl. 16,31 - 17,2 unter Bezug auf die Freundschaft zwischen Heinrich von Navarra und »dem ersten Diener seines Staats« - 16,33f. -, dem Herzog von Sully), und der Erwartung, daß beı den Untertanen neben die Ehrfurcht vor dem König auch ein »Gefühl von Zutraulichkeit« (17,18 mit Bezug auf Friedrich II. von Preußen) treten werde, das eine gewisse Wechselseitigkeit

ermöglicht. Diese eher hilflosen 'Lösungsangebote' ıllustrieren, daß Schleiermacher in bezug auf den Bereich politischer Hierarchien am meisten Schwierigkeiten hat, die Ungleichheit in Gleichrangigkeit und Wechselseitigkeit transformierende Wirkung von "Freundschaft" aufzuzeigen. Das liegt

zum einen daran, daß öffentliche Rangdifferenzen in weit weniger hohem Maße durch subjektive Einstellungen und intersubjektive Übereinkünfte der unmittelbar Beteiligten variiert werden können als Unterschiede innerhalb der relativ privaten Institutionen Ehe und Familie, insofern sie weıt stärker durch

öffentliche

Funktion

Zuschreibungen,

durch

objektive

Beschreibungen

und Status definiert sind. Das macht es - zum

anderen

von

- auch

fraglıch, inwieweit "Freundschaft" überhaupt fähig ist, solche 'harten', transsubjektiven sozialen Gegebenheiten zu durchdringen und unmittelbar umzugestalten. Jedenfalls gelingt es nicht, dıe Bestimmtheit und Verfaßtheit sozialer Rollen, Funktionen und Hierarchien von der Anthropologie der

Freundschaftstheorie her zu erfassen. Daran scheitert der Anspruch, dıe auf den Prinzipien wechselseitiger Tugendorientierung und von Selbst- und Fremdbeschreibung als Individuum beruhende Freundschaft als exemplarische Sozialform darzustellen. Die Trennung der Bereiche ist daher letztlich nur konsequent, wenngleich sıe nıcht ohne Melancholie konstatiert wird (vgl. 16,27f.: »das traurige Loos was den Regenten der Erde gefallen ist«).

94

I. Freundschaft - Kap. 1. Arıstoteles-Anmerkungen

5. Abschattungen des Aristotelismus Wenngleich Schleiermachers Aristoteles--Anmerkungen weder bioße philologische Kommentare zu einem Werk der antiken Moralphilosophie dar-

stellen noch umgekehrt die Konzeption des Aristoteles als solche zu aktualisieren

beanspruchen,

sondern

ım

»Verständnisrahmen«

der »Hallesche{n)

Schulphilosophie (Eberhard)«157 unter Anknüpfung an Aussagen aus NE VIII und IX Probleme des sozialen Phänomens Freundschaft behandeln und dabeı ein Konzept der Freundschaft mit normativen Implikationen entwickeln, ıst es dennoch sinnvoll zu fragen, inwieweit die Problemerfassung

und die Konzeptualisierung explizit und implizit, in Konsens wie in Dissens, geprägt sind von der Beschäftigung eben mit Aristoteles. Pointierter gefragt: Gibt es Momente in der herausgearbeiteten Ausgangskonfiguration von Schleiermachers Theorieentwicklung, die eine Art 'Aristotelismus' in sıch tragen? Dies würde nämlich bedeuten, daß, wenn sich diese Ausgangskonfiguration als Leitperspektive auch in der Interpretation von Schleier-

machers Frühwerk insgesamt bewähren sollte, 'aristotelische' Strukturmomente auch für Schleiermachers Kant-Verständnis leitend wären und sich umgekehrt auch ın Schleiermachers Adaptionen Kantischer Argumente durchhielten. Damit fände die These Michael Moxters von einem »nachkantischen Aristotelismus« der reifen Ethik Schleiermachers!38 starken Anhalt bereits an den frühesten »Schriften und Entwürfen«,

einen

Zunächst fallen die Differenzen zu Arıstoteles auf. (1) Während bei Aristoteles wahre Freundschaft weitgehend eindimensıonal auf Tugend bezogen ist, gewinnt bei Schleiermacher der Aspekt der Wahrnehmung und Kommunikation ırreduzibler Ändersheit die Bedeutung einer zweiten Funktion der Freundschaft, die mit der Funktion der wechsel-

seitigen sittlichen Stabilisierung und Vervollkommnung in einem konstitutiven Zusammenhang steht. In verschiedenen, nicht vollständig und in jeder Hinsicht untereinander konsistent zu machenden Beschreibungen entfaltet Schleiermacher ein Freundschaftskonzept im Spannungsfeld von Intimisierung und Verallgemeinerung. Dabei ıst die Freundschaftsrelation sehr viel

stärker herausgelöst aus dem Normen- und Erwartungsgefüge gesellschaftiicher Konventionalität,; die mit diesem enormen Freiheitsgewinn eo ipso verbundene Gefahr einer erratischen Abschottung der Freunde gegen soziale Außenbezüge und gesellschaftliche Fremdwahrnehmungen wird kontrolliert durch das Versittlichungsinteresse. Umgekehrt wird dieses 157 Meckenstock, Deterministische Ethik, 22. 158 vgl. Moxter, Güterbegriff,

16.

5. Abschattungen des Arıstotelismus

geschützt

gegen

die

ihm

innewohnende

Tendenz

der

95

Vergleichgültigung

aller menschlichen Beziehungen, indem es rückgebunden wird an die Wahrnehmung konkreter Individualität. (2) Mit dieser vorsichtigen Ablösung des Freundschaftskonzepts von der reinen Tugendorientierung hängt zusammen, daß Schleiermacher Tugend nıcht mehr als einziges und nicht mehr notwendig als hinreichendes Kriterum wahrer Freundschaft verwenden kann. In einer nicht unproblematischen Weisel39 versucht Schleiermacher deshalb, der Freundschaft das ele-

mentarere und dadurch universalere Kriterium der Dauerhaftigkeit zu unterlegen,

mit dem

sowohl Tugendfreundschaft als auch andere Formen

fe-

ster wechselseitiger Bindung als Gestalten wahrer Freundschaft rekonstrutert werden können. Aristoteles muß diese anderen Formen der uneigentlichen Freundschaft zuordnen. In dieser Akzentverschiebung artikuliert sich auch die neue Betonung der »geselligen Eimpfindungen« (4,25; Hervorhebung von mir). (3) Ist Freundschaft nicht mehr bloßes Steigerungsmoment individueller

Versittlichung und gesellschaftlicher Vervollkommnung, so kann sie auch nicht mehr ungebrochen als Keimzelle der (Polis-)Gesellschaft aufgefaßt werden,

die

bei

Aristoteles

dergestalt

als

Groß-Freundschaft

zu

denken

ist!60, Bei Schleiermacher ist Freundschaft vielmehr eine konkretpartikulare Sozialform, die freilich in dem Sinne paradigmatisch ıst für die Geseilschaft insgesamt, daß in ihr diejenigen Wahrnehmungskriterien und Beurteilungsstandards bereits in Geltung stehen, die in abgestufter und den jeweiligen Kontexten angemessener Weise in allen Bereichen der Gesellschaft gelten sollen.

(4) Diese zunächst aussagekräftiger, wenn

etwas

spitzfindig anmutende

Unterscheidung

wird

man sieht, daß Aristoteles das Verhältnis von Ehe-

gatten zueinander, von Eltern und Kindern und von Herrscher und Untertan als Formen der Freundschaft behandelt, während sie bei Schleiermacher als eigenständige soziale Relationen bzw. Institutionen erscheinen, beı denen untersucht wird, ob, wie und welchem Maße sie nach den Standards der

Freundschaft umgeformt werden können!®!, Dadurch ist eine differenziertere Wahrnehmung

der sozialen Wirklichkeit bereits ım Ansatz angelegt,

während sie bei Aristoteles erst über die »Politik« eingeholt werden muß1®2. 159 ygı, oben }. 160 za tia als Terminus der Polis: NE 1155a 22-28. Vgl. dazu oben 4. 161 Vel. oben 4. 162 vgl, dazu Schleiermachers spätere luzide Kritik an einem Bruch zwischen der Ethik und der Politik des Arıstoteles ın PPA. Vgl. unten Kap. 7, 2.

96

I. Freundschaft - Kap. 1. Arıstoteles-Anmerkungen

(5) Auch in bezug auf die Funktionsbeschreibung der Freundschaft selbst erreicht Schleiermacher eine höhere Komplexität als Aristoteles, indem er die Freundschaft ın ihrer funktionalen Verbindung mit Sittengefühl und Religion als den anderen »übersinnlichen« Instanzen der Förderung der Lebensgestaltung erfaßt und anders als Aristoteles nicht nur die unterschied-

lichen Funktionen und Wirkungen der Freundschaft in den verschiedenen Lebensaltern beschreibt, sondern die lebensalterspezifischen Formationen des differenzierten Funktionszusammenhanges von Freundschaft, Sitten-

gefühl und Religion in den Blick nımmt und vergleicht. Die genannten Differenzen treten aber allererst auf als Konsequenzen einer elementaren Übereinstimmung, die in ihren Auswirkungen auf Schlei-

ermachers Theorieanlage kaum zu überschätzen ist: Der Ausgang vom komplexen sozialen Phänomen der Freundschaft ım Kontext der Aristotelischen

Ethik

nötigt Schleiermacher

dazu,

bei allem

individuellen

Handeln

und aller Verhaltensorientierung den Gesellschaftsbezug zu berücksichtigen, und er hindert daran, das Problem (und die Beschreibung der Vollzüge) der Handlungsrealisierung aus der ethischen Fragestellung oder jedenfalls aus den für die ethische Fragestellung relevanten Faktoren auszuprenzen. Diese grundlegende Prägung bestimmt, wıe zu zeigen sein wird, nicht nur Schleiermachers Kant-Rezeption!63; sie läßt sich in ihrer für Schleiermacher spe-

zifischen

kommunikations-

und geselligkeitstheoretischen

Entfaltung viel-

mehr am gesamten Frühwerk aufweisen!64, Man kann deshalb, auch wenn Schleiermacher

kein

ausdrücklicher

Anhänger

des

Aristoteles

war

noch

163 yg1. unten Teil II. - Dies gılt unerachtet der harschen Krıtik an der Arıstotelischen Ethik als empıiristisches und deshalb ın sıch haltloses System in hG (vgl. unten Kap. 4, 1.1.). Denn, abgesehen von Schleiermachers später sehr viel ausgewogenerem Urteil über Arıstoteles

(vgl. dazu

Moxter,

Güterbegriff,

26 - 29,

bes.

29,

und

61),

geht es

hier nicht um den Nachweis direkter oder bewußt gesuchter Anknüpfung oder Abhängigkeit, sondern um eine elementare Prägung der Theorieanlage jenseits auch aller expliziten Selbstkommentierungen und Selbstverortungen. 164 Für das kommunikations- und geselligkeitstheöretische Leitinteresse vgl. etwa gleich ÜdN und ÜdS {vgl. unten Kap. 3, 1. und 2.) sowie den späteren »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« (vgl. unten Kap. 10). Für dıe Integration von Intention und Ausführung ın den Handlungs-Begriff vgl. die «Notizen und Entwürfe zur Vertragslehre« (vgl. unten Kap. 9, 1.1.). Für das interesse an Staats- und Gesellschaftstheorie vgl. den »Vergleich der Platonischen und Arıstotelischen Polıtik« (vgl. unten Kap. 7, 2.). - In diesen Texten erscheinen aber nur Aspekte des herausgearbeiteten theorieprägenden Leitkonzepts gleichsam an der materialen Oberfläche expliziter Themenbehandlung. In der vorliegenden Untersuchung wird hingegen dıe umfassendere These vertreten, dafl dıeses Leitkonzept die Art der Behandlung aller Themenbestände

und deren Vernerzung bestimmt. Insofern ıst die Anführung einzelner Beleg-Texte mißverständlich.

5. Abschattungen des Aristotelismus

97

jemals wurde, durchaus von aristotelischen Momenten oder Motiven in seınem Denken sprechen, die er freilich ın höchst eigenständiger Perspektive und unter charakteristischer Verbindung mit anderen Motiven und Einflüs-

sen ın ein komplexes Ganzes hinein entfaltete.

Zweites Kapitel Johann August Eberhards Sıttenlehre und Vorstellungstheorie

Einleitung Schieiermachers

Anmerkungen

zur

Freundschaftstheorıe

des

Arıstoteles

wurden hier interpretiert als eine differenzierte Konzeption elementarer Sozialbeziehung, die als privat-intime weder die äußerliche Verbindung zweier oder mehrerer davon in ihrem Wesen unberührter und unabhängig davon vollständiger Individuen (Subjekte) darstellt noch gleichsam linear hochgerechnet werden kann auf komplexere gesellschaftliche Zusammen-

hänge, die aber veränderte Wahrnehmungen von Individualität und Sozialität reflektiert und produziert und insofern auch auf individuelle Selbstbeschreibungen und auf normative Konzepte von Gesellschaft ausstrahlt. Die mit dıeser Interpretation gewonnenen

Aufschlüsse

über ein zentrales

Aus-

gangsproblem der Theorieentwicklung Schleiermachers und dessen Fassung sowie über eine frühe Ausprägung von Argumentations- und Konzeptualisierungsformen müssen sich freilich einerseits im weiteren Verlauf der Interpretation der Jugendschriften als für Schleiermachers Denken tatsächlich charakteristisch und bestimmend erweisen. Andererseits lehnt sich Schleiermacher in den Arıstoteles-Anmerkungen explizit ın seinem Anspruch und faktisch durch eine Fülle von Quası-Zitaten so stark an Eberhard an, daß oben! bereits begründet werden mußte, warum die Aristoteles-Anmerkungen überhaupt als Text Schleiermachers beansprucht werden. Um deshalb für die Herausarbeitung von Schleiermachers Eigenprofil nicht völlig auf den vorlaufend-rekursiven Vergleich mit seinen späteren Texten angewiesen zu sein, der immer in der Gefahr steht, spätere Positionen in die frühen Arbeiten einzutragen, ıst es nötig, zunächst das Freundschaftsthema in Eber-

hards Werk selbst zu orten und sowohl seine Stellung in dessen Theorie als auch die Weise seiner Darstellung zu erhellen. Da Schleiermachers Auf-

1

Vgl. Kap.

1, Einleitung.

Einleitung

99

zeichnungen wahrscheinlich im Zusammenhang mit einer Vorlesung hards zur »Ethica() philosophicas? entstanden sind, deren 'Textbuch' hards »Sittenlehre der Vernunft« (Verbesserte Auflage Berlin 1786) muß dabei Eberhards Konzept der Ethik insgesamt ins Auge gefaßt

EberEberwar?, wer-

den®. Doch nicht nur im Material-Thematischen und auf der relativ abstrakten und weitflächigen konzeptionellen Ebene, sondern auch gleichsam ım Mikroskopischen, in der argumentativen Feinstruktur, in basalen erkenntnistheoretischen und ontologischen Annahmen lassen sich durch die Behandlung Eberhards präzisierende, erweiternde oder kontrastierende Einsichten erwarten. Hier ist einschlägig besonders Eberhards erkenntnistheoretisches und anthropologisches Hauptwerk »Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens« (Berlin 1776). Der Bezug auf Eberhard steht zugleich im Zusammenhang mit der Behandlung

von

Schleiermachers

Texten

»Ueber

das

höchste

Gut«,

»Freiheitsgespräch« und »Ueber die Freiheit«”. Diese Texte repräsentieren nämlich Schleiermachers Auseinandersetzung mit seiner philosophischen Herkunft aus Anlaß und unter dem Einfluß der Beschäftigung mit Kant. Sıe

unterscheiden sıch von den Aristoteles-Anmerkungen auch insofern, als Schleiermacher hier die Arbeit an materialen Themenbeständen der Ethik im Medium des Vergleichs und der Prüfung der Leistungsfähigkeit verschiedener Theorieprogramme als ganzer vollzieht. Ebendies macht es notwendig, die Rekonstruktion der material sozialitheoretischen Konzeption der Freundschaftstheorie zu transzendieren hin auf ihr Verhältnis zu dem ıhr nächsten elaborierten Theorieprogramm, dem Eberhards. Hier bündeln sich mehrere Fragen. Einmal ist zu klären, inwiefern Schleiermacher Grundannahmen Eberhards übernimmt, variiert oder auch implizit abstößt. Zum andern muß die Frage beantwortet werden, inwieweit Schleiermachers Kri-

tik an einer sich auf die Begriffe von Glückseligkeit und Vollkommenheit gründenden Ethik6 Eberhard trifft oder auch nur treffen soll. Verschiedene

2

Vgl. Herms, Herkunft, 282: Sommer 1788 und Winter 1789. Vgl. ebd. Das heißt freilich nicht, daß nur ggf. sıchtbar verschiebungen der Aristoteles-Anmerkungen für Schleiermachers Entwicklung bedeutsam nen nur solche Differenzen unmitreibar auf Zurechnung von Konvergenzen bedarf es des machers. Vgl. unten Teil Il.

6

Vel. unten Kap. 4, 1.1.

werdende Differenzen oder Perspektivengegenüber der Eberhardschen Ethik als wahrgenommen werden; allerdings könSchleiermacher zugerechnet werden: Zur Vergleichs mit anderen Texten Schleier-

100

l. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

Antworten auf diese beiden Fragen bedingen unterschiedliche Gewichtungen im Blick auf das dritte Problem: ob und in welchem Maße nämlich die 'Kritik' der Schulphilosophie eine Revision von in den Aristoteles-Anmerkungen gegebenenfalis noch vorausgesetzten Positionen mit sich führt. Denn lassen sich etwa die Aristoteles-Anmerkungen als weitgehend Eberhard sıch verdankend dechiffrieren und kritisiert Schleiermacher zugleich später tatsächlich Eberhard, dann könnte das einen fundamentalen Wandel der Theorie

ındızıeren,

der dıe

Bedeutung

der

Arıstoteles-Anmerkungen

stark einschränken würde. Gilt aber auch nur eine dıeser beiden Prämissen nicht, so lassen sich möglicherweise selbst bei weitreichenden Veränderun-

gen der Perspektive, der Konzeption oder der Semantik sehr starke ÄKontinuitäten namhaft machen. Die These, die hier vertreten werden soll, ıst dıe folgende:

Das Problem

der Darstellung von Freundschaftsverhältnissen erfordert notwendig eine höhere Theoriekomplexität, als Eberhard sıe in der »Sittenlehre der Vernunft« vorgegeben hat, indem die dort grundlegende Perspektive individueller Pflicht mindestens in ihrer Verdoppelung bzw. ın mindestens doppelter Verschränkung untersucht werden muß. Insofern ıst die Freundschaftstheorie mehr als ein Anwendungsfall der Sıttenlehre;

sıe ıst vielmehr eine

sich selbst tragende Konstruktion, in der durchwegs mehrere Perspektiven kopräsent gehalten und in ihren Beziehungen dargestellt werden müssen. Daß Schleiermacher dieser Logik der Sache entspricht, heißt freilich noch

nicht, daß er damit bereits das Theorieniveau Eberhards an sich überstiegen hätte. Es läßt sıch zeigen, daß er mit Darstejlungsmitteln arbeitet, dıe sich zwar nicht ın Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«, wohl aber in seiner

Grundschrift »Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens« finden. Schleiermacher vernetzt gewissermaßen Elemente von Eberhards Sittenlehre und seiner Vorstellungstheorie.

l. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

10]

I, Pflicht zur (Selbst-)Vervollkommnung: Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

l.1. Die Ethik im Kanon der praktischen Wissenschaften Bedient man gegenwärtiger Konzept eines folge Kants

sich des bereits genannten’ Schemas der Charakterisierung Ethik-Entwürfe, nach dem in der heutigen Diskussion »das ıntersubjektivitätstheoretischen Prozeduralismus in der Nachdem Entwurf einer aristotelisch inspirierten teleologischen

Gemeinschaftsethik gegenübersteht«®, so scheint sich Eberhards »Sittenlehre der Vernunft« eher der zweiten Position zuordnen zu lassen, mit freilich

wichtigen Einschränkungen. Denn zwar orientiert sich seine Ethik ohne Zweifel an einem »Bild des gelungenen Lebens«?, an einem materialen Wissen der idealen Bestimmung des Menschen und der Welt (vgl. SdV $ 23, S. 25 und $ 29, S. 30), aber er setzt dieses Wissen als allgemeingül-

tig und ratıonaler Einsicht offenstehend und deshalb vermittels "Aufklärung kommunizierbar voraus!®. Eben deshalb ist seine Perspektive nicht die der Lebensregeln einer konkreten 'Polis’, sondern die der allgemeinen je individuellen Pflicht. Schon aufgrund dieser eher oberflächlichen Beobachtung läßt sıch mithin zeigen, wie stark gebrochen

Eberhard wenn

auch zentrale

Motive der Arıstotelischen Ethik übernimmt. Freilich gehört zu den übernommenen

Elementen

auch

der Ethik in Unterscheidung

die Selbstbeschränkung

von dem

des Aufgabenbereichs

der »Politik«.

Kritisiert Eberhard

zwar, daß die Staats- und Gesellschaftstheorie seiner Zeit weiterhin dogmatisch die Aristotelischen Schemata der Staatsformen auf konkrete gegenwärtige Staatsgebilde anwendet, ohne umgekehrt aus der Beobachtung der

konkreten Verhältnisse Beschreibungskategorien zu entwickeln!!, so lehnt 7

Vgl. oben die Einführung.

8

5. von Soosten: Zur theologischen Rezeption von Jürgen Habermas’ kommunikativen Handelns«. In: ZEE 34 (1990), 129-143, hier: 139.

?

T.Rendtorff: Ethik. Band 1. 2. Auflage Stuttgart etc. 1990, 157.

»Theorie

des

10 vgl. $ 29, S. 30. Unterstellt wird dabei nicht, daß die »innere Sittlichkeit« einer Handlung

a priorı

»jedem

Verstand

einleuchte«.

Vielmehr

kann

das

Verhältnis

einer

Einzelhandiung »zu der Natur des Menschen und der übrigen Dinge« »von der ausgebildeten und recht gebrauchten menschlichen Vernunft (...) erkannt werden«. Die Ausbildung der Vernunft (und des ıhr zugeordneten moralischen Sinnes) ist dann Pflicht gegen sich selbst (vgl. $$ 54f., S. 34 - 56) wıe gegen Ändere (vgl. $ 188, 5. 233). 11

Vgl.:

Ueber dıe Freiheit des Bürgers und die Principien der Regierungsformen.

Ders.: Vermischte Schriften. Erster Theil. Haile 1784, 1 - 28, hier: 3.

In:

102

Il. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

er sich immerhin darin formal an Arıstoteles an, daß er die £rhik

keines-

wegs als Sozıaltheorie entfaltet. Diese wissenschaftssystematische Aufgabenteilung ist zu beachten, will man nicht zu Unrecht Eberhards Theorie als ganzer individualistische Engführung unterstellen und will man nicht in der

Ethik Einsichten suchen (und vermissen), die per definitionem dort gar nicht gefunden werden können. Im Kanon der »praktischen Philosophie« bestimmt Eberhard die »Sittenlehre« oder »Ethick« nämlich als »Wissenschaft der »unvollkommnen

Naturgesetze (...) im Stande der Natur« und

unterscheidet sie damit einerseits vom Naturrecht als der »Wissenschaft der vollkommnen Naturgesetze« und andererseits von »Oekonomik« und »Politik« (oder »Staatsklugheit«) als den Wissenschaften der unvollkommenen Naturgesetze

»im

gesellschaftlichen

Zustande«

(alle

Zitate

SdV

8 116,

S. 124). Beide Unterscheidungen vermögen nun freilich irreführende Assozıatıonen zu wecken und sind deshalb an Eberhards Sprachgebrauch zu präzisieren.

»Vollkommen«

ist eine Verbindlichkeit nämlich

erst dann,

wenn

sie nicht nur dem »inneren« Naturgesetz, d.h. der wesentlichen Bestimmung des Menschen entspricht, sondern zu dieser Entsprechung eine »äußere Verbindlichkeit« ın Gestalt positiver (d.h, entweder staatlich-bürgerlicher oder auf Gottes Willen zurückgeführter) Gesetze »hinzukömmt« (vgl. SdV 8 65, S. 67f.). D.h.: unvollkommen sind die Gesetze der Ethik nur in Hin-

blick darauf, daß ihre Geltung nicht über äußeren Zwang durchgesetzt werden kann (vgl. SdV ebd.). Hierin spiegelt sıch die seit Christian Thomasius üblich gewordene Ausdifferenzierung von Moral und Recht. Das wird noch deutlicher angesichts der zweiten Unterscheidung, der zwischen natürlichem

und gesellschaftlichem Zustand. der

Stand

S. 116).

der

Natur

Auch

vor

Eberhard lehnt die Position Hobbes’

sei ein Stand

und

Rechtsverhältnisse (von vgl. SdV $ 113, S. 121

unabhängig

zügelloser

von

Freiheit

der

(vgl.

Etablierung

SdV

ab,

8 110,

bürgerlicher

Eberhard als fundierender »Vertrag« bezeichnet, [dort falsch »Vortrag«]) gıbt es Verbindlichkeiten,

wenn anders der 'natürliche‘ Mensch nicht in tierischem Zustand gedacht werden soll. Ebenso wenig soll der Naturzustand jedoch mit Rousseau als ideale Realisierung des Wesens des Menschen von der Gesellschaft als defi-

zitärer Existenzform abgehoben werden. Durch zwei Operationen versucht Eberhard, den Naturbegriff zwischen diesen beiden Extremen zu verorten. Zum

einen unterscheidet er verschiedene Verwendungen

des Naturbegriffs,

je nachdem dieser dem bürgerlichen oder überhaupt dem gesellschaftlichen Zustand entgegengesetzt wird (vgl. SdV $ 113, S. 120f.). Nur im zweiten Fall schließt der Naturbegriff Sozialität schlechthin aus!?. Im ersten Fail 12 Was

Eberhard

aber eigentümlicherweise

nıcht hindert,

nicht nur Einzelne,

sondern

l. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

103

kann man dagegen durchaus von einem natürlichen gesellschaftlichen Zustand mit entsprechenden Verbindlichkeiten sprechen. Zum andern nimmt er an, daß es natürliche Vermögen,

Bedürfnisse und Genüsse gibt, die nur

in der Gesellschaft oder in der Gesellschaft besser entfaltet bzw. befriedigt werden

können

(vgl.

SdV

$ 111,

S. 119),

so daß die Vergesellschaftung

weder phylo- noch ontogenetisch ein Gang in die Fremde, sondern naturgemäß

ıst, ja im

Grunde

sogar

naturgemäßer

als der unbedingte

Natur-

zustand, der deshalb im übrigen keineswegs mit dem theologischen status integritatis identifiziert werden

darf (vgl.

SdV

$ 115,

S. 122).

Auf diese

Weise kann Eberhard die Entwicklung vom unbedingten Naturzustand über den natürlichen gesellschaftlichen und den natürlichen (d.h. allen Bürgern zukommenden) bürgerlichen bis hin zum besonderen bürgerlichen Zustand (vgl. SdV $ 112, S. 129) als abgestuften Übergang zu wachsender Konkretion, Bestimmtheit und Einschränkung beschreiben, wobei die Verbindlich-

keit zu den jeweiligen Pflichten zunimmt, deren Geltungsbereich aber abnımmt. Zugleich kann er die Dynamik dieser Entwicklung als naturgemäß und insofern als Pflicht bestimmen. Dabei ıst aber wichtig zu sehen, daß Eberhard die einzelnen Stufen der Entwicklung

nicht als abzustoßende und

zu überwindende beschränkte Momente einer stetig aufwärts strebenden Bewegung auffaßt. Vielmehr wachsen dem 'a-sozialen' Naturzustand und den darin

gegebenen

Verbindlichkeiten

nur gleichsam

zusätzliche Bestim-

mungen zu, die die ursprünglichen Verbindlichkeiten nicht außer Geltung setzen, sondern ım Gegenteil nur verstärken und ergänzen. Insofern bleibt der Bürger 'Naturwesen', und Eberhard merkt sogar an, daß auch ın der bürgerlichen Gesellschaft Umstände eintreten können, wo Menschen handeln müssen, als befänden sie sich im unbedingten Stande der Natur (vgl. SdV $ 115, S. 122). Umgekehrt ist damit klar, daß es keinen Bruch, keine Diskontinuität geben kann zwischen dem Menschen als Naturwesen und als

Kulturwesen; auch der präkulturelle Mensch kann nicht als aller impliziten Verbindlichkeiten ledig gedacht werden, die für das bürgerliche Leben ex-

plizit konstitutiv sind. Ethik ist unter diesen

Voraussetzungen

diejenige

praktische

Wissen-

schaft, die die allgemeinsten Bestimmungen des Wesens und der Natur des Menschen erfaßt und daraus Verhaltensorientierungen ableitet, dıe für alle

Menschen unter allen Umständen und Zuständen gelten. Allerdings bezieht sich die Ethik - und das erst unterscheidet sie vom Naturrecht - auf kontingente, d.h, auf faktisch unvollkommene Menschen, die ıhre Anlagen nicht ganze Gesellschaften in dem so postulierten »unbedingte(n) Stand der Natur« zu erblicken, vgl. SdV $ 114, 5. 121.

104

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

immer und nicht vollständig realisieren, und zwar unter faktisch eingeschränkten Bedingungen. Die Bestimmungen der Ethik sind deshalb zwar umfassend, aber gleichwohl unvollkommen im Vergleich zum Naturrecht

und abstrakt im Vergleich zu den 'Spezialwissenschaften' Ökonomik und Politik. Unter Voraussetzung dieser Einteilung der Handlungswissenschaften eignet sıch nun ın der Tat am ehesten die Ethik zur Erfassung des Phä-

nomens Freundschaft, da Freundschaft einerseits keine besondere gesellschaftliche Funktionalität aufweist und deshalb auch ın den Gesellschaftsund Staatswissenschaften keinen Platz findet (Freundschaft bildet sich, wie

gezeigt, ja oft quer zu den spezifischen sozialen Differenzierungsformen) und andererseits auch keine kodifizier- und einklagbare Rechtsform ist, mithin auch keinen Gegenstand des Naturrechts darstellt. Es wird sıch freilich an Eberhards eigener Behandlung des Freundschaftsthemas zeigen!?,

daß er die Zwischenstellung zwischen Individual- und Gesellschaftstheorie, die diesem gleichwohl eignet und die dıe Perspektive individueller Verhaltensorientierung ins unbestimmt Gesellschaftliche zu transzendieren nötigt, nicht hinreichend deutlich wahrnimmt. Doch zuvor sind die strukturierenden Grundzüge von Eberhards Sittenlehre zu entwickeln.

1.2. Glückseligkeit und Vollkommenheit Eberhard

bestimmt

die Ethik als die Wissenschaft

der Kunstregeln

der

Glückseligkeit (vgl. SdV & 1,8. 1), d.h. als »Inbegriff« (ebd.) der Orientierung über die Mittel, wıe der Mensch durch sein Handeln zur Erlangung

seiner eigenen Glückseligkeit beitragen kann. In dieser Glückseligkeit liegt die wesensmäßige Bestimmung des Menschen, sie fällt deshalb zusammen mit seiner Vollkommenheit (vgl. SdV $ 3, S. 3). Die Qualifizierung der Ethik als Kunstlehre 'gelingenden Lebens’ bedeutet keineswegs ihre Herabminderung als Wissenschaft; im Gegenteil dıent sie damit in einem emi-

nenten Maße dem Endzweck der Philosophie überhaupt, »den Menschen gut und glückselig zu machen« (SdV $ 1, S. 2). Eberhard sieht sıch hier ganz in der antiken, speziell aristotelischen Tradition (vgl. ebd.), wie er auch

keinen Widerspruch zur »natürlichen Theologie« zu erkennen vermag, die zwar »dıe Verherrlichung Gottes oder die Religion« als den »letzte(n) Zweck der Schöpfung« ansieht, der aber doch »ohne die Glückseligkeit der vernünftigen Geschöpfe nıcht erreicht werden kann«, so daß das Streben

13

Vgl. unten 1.5.

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

105

nach eigener Glückseligkeit ipso facto der Verherrlichung Gottes dient (ebd., S. 2f.). Glückseligkeit ihrerseits wird definiert als Zustand, worin jemand »wahres Vergnügen ununterbrochen genießt« (SdV $ 3, S. 3). Wahr ist ein Vergnügen dann, wenn es sich der »Empfindung wahrer Vollkommenheit«

verdankt

(ebd.).

Vergnügens kann

Kriterium

der

Wahrheit

und der Dauerhaftigkeit

freilich nicht sein Charakter a/s Vergnügen

eines

sein; es gibt

ja auch scheinbare und flüchtige Vergnügen. Nicht die Intensität und Extensıon (vgl. SdV 8 6, S. 6), sondern erst die externe Instanz der Vernunft gibt Auskunft über deren wahren Wert (vgl. SdV 84, 5.5). Damit ıst nun

jedoch noch kein Urteil über Wertabstufungen unter den verschiedenen Arten von Vergnügen mitgesetzt, etwa dergestalt, daß intellektueller Genuß sinnlicher Freude vorzuziehen wäre, Eberhard arbeitet vielmehr das Profil der einzelnen Vergnügensarten heraus, die allererst in ihrer tunlichsten Kopräsenz und Zusammenstimmung den höchsten Grad von Glückseligkeit zu erreichen erlauben (vgl. SdV $ 8, S. 8). Die Vernunft scheidet auf jeder

Ebene nach Maßgabe des ihr eigenen Wissens von Vollkommenheit wahre von falschen Vergnügen, wobei nicht ausdrücklich erörtert wird, ob sie sich dabei auch an der Kompatibilität der Ebenen orientiert. Es entsteht so jedenfalls das interessante (fast modern-'ganzheitlich' anmutende) Konzept

der

Kopräsenz

und

Interferenz

kategorial

differenter

anthropologischer

'Bestimmtheitsmatrices'1%, die nur zusammen ein vollständiges Bild von Wirklichkeit und Bestimmung des Menschen ergeben.

Dem

Vergnügen der

Sinne fällt dabei die Aufgabe der permanenten Irritation und Bereicherung durch neue Eindrücke zu (vgl. $9, S. 9f.), während die Vergnügen des Geschmackes ım Kontrast dazu »Continuität«, »Ordnung«, »Ebenmaaß()«, »Schönheit« und Erhabenheit vermitteln ($ 10, S. 10; Hervorhebungen von mir). Das Denken wiederum erweckt Vergnügen des Verstandes nicht erst aufgrund der »Größe, Wichtigkeit« und des ınneren »Zusammenhang(es)« (SdV $ 11, S. 11) seiner Gegenstände, sondern schon durch seinen eigenen

Vollzug als Streben nach klarer und deutlicher Erkenntnis, Vergnügen des Herzens schließlich verdanken sich der Wahrnehmung eigener oder fremder sittlicher Vollkommenheit. Erst im abgestimmten Verhältnis von Varıatıon und Strukturierung von Sinnesdaten, rationaler Reflexivität, Moralität und

Sozialität realisiert der Mensch also sein Wesen. Daraus folgt Jedoch, da die menschliche Rezeptivitätskapazität begrenzt ist und mithin die bevorzupte Pflege einer Anlage die Einschränkung aller anderen nach sich zieht, daß keine Anlage zu der ihr immanenten 'absoluten' Vollkommenheit aus14

Zum Begriff vgl. oben Kap. 1,3.

106

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

gebildet werden kann oder besser soll, sondern nur soweit, als sie in konkreter Situation die harmonische Entfaltung auch der anderen fördert oder

zumindest nicht blockiert!?. Kriterium der Handlungsorientierung für den konkreten Einzeinen in eingeschränkter Lage ist demnach

nicht (oder nicht

unmittelbar) das Ideal des allseits Perfekten, sondern die unter gegebenen Verhältnissen erreichbare gleichmäßige relatıve Realisierung aller Anlagen. Rationalistisch kann diese Konzeption jedenfalls nicht in dem Sinne genannt werden, daß sie eine einseitige Verstandeskultur propagierte!®, sondern allenfalls dergestalt, daß sie der Vernunft eine Kompetenz der Einsicht in das Wesen der einzelnen Änlagen und in ihr je förderliches Mischungsverhältnis zuschreibt. Schon dies macht es freilich äußerst fraglich, ob Eberhards Ethik trotz der fundamentalen Stellung des Glückseligkeitsbegriffs als

eudämonistisch im pejorativen Sinne gelten kann!?. 1.3. Der Zusammenhang des ersten moralischen Grundsatzes und der Bestimmung der Wesensnatur des Menschen und der übrigen Dinge

1.3.1. Der Grundsatz der Selbstvervollkommnung Eberhard

kann

Glückseligkeit als Handlungsziel

fassen,

indem

er sie mit

der Vollkommenheit identifiziert, nun aber nicht mit einem allgemeinen unerreichbaren Ideal, sondern mit der bei eingeschränkten angeborenen Fähigkeiten, bei teilweise widriger Umwelt und deren Rückwirkung auf die Ausbildung

von

an sich durchaus gegebenen

Fähigkeiten

konkret erreich-

baren individuellen Vollkommenheit, Diese Differenz ist keine kontingente, unter fıktiven idealen Bedingungen dahınfallende Einschränkung, sondern sie gehört ın den Begriff des Menschen als endlicher Geist (vgl. SdV $ 16, S. 18). Das erhellt aus Eberhards Behandlung des »böchsten Gutes« (SdV &$ 15f.), wo der »unveränderliche() Genu(ß) aller möglichen unbegränzten Vollkommenheiten« die Glückseligkeit Gorres ausmacht, während bei endli-

chen Geistern schon die »Empfindung eines ungehinderten Fortgangs zu immer größerer Vollkommenheit« (SdV $ 15, S. 17) Glückseligkeit mit sich 15

Vgl, dazu ausführlich AThDE 169 - 173, 180, 194; zum {aristotelischen!) Plädoyer für das Mittelmaß vgl. SAY $ 161, $. 192

16

Dagegen polemisiert Eberhard vielmehr, vgl. AThDE

17

Ähnlich urteilen Herms, lehre. Band 1. München ist sich selbst genug!«

169 - 172.

Herkunft, 65, und G. Wenz: Geschichte der Versöhnungs1984, 193: «Yon Eudämonismus also keine $pur, die Moral

l. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

107

führt. Gott bildet demnach den Inbegriff aller Vollkommenheiten, während beim

Menschen

noch

einmal

unterschieden

wird

zwischen

der gattungs-

mäßig erreichbaren (wenngleich eingeschränkten) höchsten Vollkommenheit und der unter kontingenten Umständen noch möglichen, je individuellen relativen Vollkommenheit (vgl. SdV 8 16, S. 18). Es wird dabei jedoch nicht ganz klar, ob die '"Gattungsvollkommenheit' tatsächlich als faktisch erreichbar gedacht wird!® oder ob sie doch als generalisierte Idealbeschreibung gelungenen Menschseins fungiert, die nur um der Zurechenbarkeit von Handlungen willen als erreichbar angenommen wird, während sie de

facto den Status einer regulativen Idee hat. Nur unter der Bedingung der Erreichbarkeit läßt sich nach Eberhards Überzeugung jedenfalls Vollkommenheit zur sittlichen Forderung erheben (vgl. 8 56, S. 57); nur dann ıst es

möglich, Glückseligkeit in der Gegenwart zu erlangen. Dabei ıst von entscheidender Bedeutung gerade für den Vergleich mit Kant und mit Schleiermachers späterer Kritik des Eindringens von Glückseligkeits-

orientierungen in die Sittenlehrel?, daß Glückseligkeit bei Eberhard in keiner Weise als Folge oder gar Lohn sittlichen Verhaltens erscheint, sondern als dessen Implikat. Es gibt kein Handlungsziel Glückseligkeit, das nıcht

schon mit der Orientierung an Vollkommenheit mitgesetzt wäre. Deshalb ist Vollkommenbeit der eigentlich grundlegende Begriff in Eberhards Ethik, und ganz konsequent lautet »der erste moralische Grundsatz, oder das höchste moralische Gesetz« ($ 44, S. 42), aus dem sich alle anderen morali-

schen Sätze müssen ableiten lassen: »suche durch deine freyen Handlungen dich vollkommener immer den höchsten chen kannst« (ebd., vollkommner« (SdV

zu machen, und zwar aufs möglıchste (...), und suche Grad der Vollkommenheit zu erreichen, den du erreiS. 41f.), oder kürzer: »mache dich und deinen Zustand $& 60, S. 62)!

1.3.2. Selbstvervollkommnung und Altruismus

Der Anspruch des Grundsatzes der Selbstvervollkommnung auf Fundamentalität und universale Geltung (vgl. auch SdV 8 52, S. 53) führt von 18

Vgl. die vorsichtige Äußerung SdV $ 96, S. 99f.: »Der Tugendhafte würde also alle gute Fertigkeiten des Menschen im höchsten Grade besitzen müssen. Wır nennen aber schon denjenigen so, der diesem Ideal am nächsten kömt, und der insonderheit dıe Tugenden besitzt, die den übrigen Fertigkeiten dasjenige Gleichgewicht geben, wodurch sıe Tugenden bleiben.« - Zur Erreichbarkeit des anvisierten Zweckes als Kriterium der Wahrheit eines natürlıchen moralischen Gesetzes vgl. SdV 8 62, S. 64.

19 Vgl. unten Kap. 4, 1. (besonders 1.2. - 1.4.).

108

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

selbst zu der Frage, ob und ınwieweit er andere Verbindlichkeiten anerkennen kann als dıe der unmittelbaren Selbsterhaltung, ob und inwieweit er mithin aus sich selber heraus Mittel bereitstellt, die die Selbstvervollkomm-

nung

von

der

doch

im

Blick auf Hobbes

abgelehnten

eigenmächtigen

Selbstdurchsetzung zu unterscheiden erlauben. Wie vermag Eberhard also -

entsprechend der traditionellen Einteilung der Objekte der Pflicht, die er selbst verwendet?0 - zunächst Pflichten gegen andere Menschen und dann auch Pflichten gegen Gott als norwendig aus dem Prinzip der Selbstvervoll-

kommnung abzuleiten? Für die sozialen Pflichten gibt Eberhard dabei zwei Antworten: in der »Sittenlehre der Vernunft« mit dem Anspruch von Stringenz und Plausibilität des Prinzips auch in dieser Hinsicht, im »Philosophischen Magazin«2! - in Reaktion auf kantianische Kritik - unter noch einmal verallgemeinernder Korrektur des Grundsatzes. In der »Sittenlehre der Vernunft« findet Eberhard (mit Baumgarten) den

vernünftigen Grund für die notwendige Verbindung von Selbstvervollkommnung und Fremdvervollkommnung bei primärer Orientierung an ersterer darin, »daß, wenn der Mensch sich als Mittel vollkommner macht, er sich eben dadurch als Zweck vollkommner mache« (SdV $ 45, $. 43). Hier sind Selbstvervollkommnung und Altruismus unmittelbarer verbunden als in der Wolffschen Begründung, »daß ın der menschlichen Gesellschaft der Theil durch das Ganze verbessert werde« (ebd.), die aber als nachgeordnetes Argument durchaus verwendet wird, insofern sie sich bestimmten

evidenten

Erfahrungen

verdankt,

einzelnen durch seine Mitmenschen

nämlich

»daß die Vollkommenheit

des

(...) befördert« werden kann (ebd.), so

daß die Sorge um deren Vollkommenheit mittelbar positiv auf die eigene zurückwirkt,

und

daß

viele, ja »die

mehresten

menschlichen

Werke

nur

durch Vereinigung Mehrerer zu einem beträchtlichen Grade der Voilkommenheit gebracht werden« können (ebd.). Verschiedene »Anlagen und Kräfte des Geistes und Leibes« des Einzelnen (ebd., $. 44) entfalten sich mithin allererst in der Gesellschaft, die zu fördern deshalb wiederum den Einzel-

nen fördert. Eberhard ist also durchaus fähig, die selbststeigernde Wirkung von sozialer Resonanz und Kooperation sowie von der Wahrnehmung der Sittlichkeit der eigenen altruistischen Handlungen zu erfassen??. Das ändert jedoch

20

Vgl. die Einteilung des zweiten Teils von SdV (ab $ 128, S. 141), der die materıalen Pflichten enthält.

21

Ueber den höchsten Grundsatz in den Moral. In: Philosophisches Magazın. Band. Halle 1791, Drittes Stück (1791), 366 - 372.

22

Vel. oben Kap.

1, 1.2.1. und 2.2.

Vierter

\, Eberhards »Sıttenlehre der Vernunft«

nichts

daran,

daß

er

ın

festhält, alle »angenehmen

srritierender

Eindeutigkeit

Empfindungen

109

an

der

der Freundschaft,

Behauptung der Dankbar-

keit u.s.w. oder des Vergnügens an fremder Glückseligkeit« ließen sıch »in den Trieb nach eigner Glückseligkeit auflösen« (SdV & 52, S. 52f.). Ohne die Differenzierung, die noch die »Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens« gemacht hatte, nämlich daß es Empfindungen gebe, die das Wohl

Anderer unmittelbar, das eigene aber nur mittelbar zum

Gegenstand

haben (Vgl. AThDE S. 46), gilt uneingeschränkt der Satz: »Wir begehren die Glückseligkeit anderer um unseres eigenen Vergnügens, und also um unserer eignen Glückseligkeit willen« (SdV $ 52, S. 53). Gegen dıe Kritik, daß der Grundsatz der Selbstvervollkommnung

nicht

allgemein genug sei, die geselligen Pflichten als ursprünglich zu erweisen, erklärt Eberhard sich freilich in dem genannten Artikel seines »Philosophischen Magazins« dazu bereit, die Formulierung des ersten moralischen Grundsatzes dahingehend zu verändern, daß dieser die Pflichten der Selbstund der Fremdvervollkommnung als gleichursprünglich aus sıch entläßt. Der Grundsatz lautet nun schlicht: »Wirke Vollkommenheit«!23 Konsequen-

zen dieser Veränderung des Grundsatzes für dıe Anlage der Sıttenlehre Eberhard allerdings nicht bedacht; er verstamd sie vielmehr nur als deutlichung seines Ansatzes?*. Deutlicher macht diese Formulierung in Tat die Abhängigkeit des Eberhardschen Konzepts der Ethik von einer versalen Theorie der Weit und des Seins Menschen und der übrigen Dinge« (SdV

hat Verder uni-

überhaupt, die »dıe Natur des 829, S.30; 837, 5. 36) er-

schließt; sie hätte Eberhard aber dazu führen können, dıe Relevanz komplexerer sozialtheoretischer Argumentätionen

für dıe Ethik selbst zu erkennen

und so den betont individualzentrierten Ansatz zu transzendieren.

1.3.3. Selbstvervollkommnung und Gottesverehrung Ungleich aufwendiger als im Blick auf die geselligen Pflichten gerät Eber-

hard der Nachweis, daß auch die Pflichten Selbstvervollkommnung impliziert sind, und auf die der Ethik vorgegebene Wissenschaft betreffenden Gegenstandes, in diesem Falle

gegen Got: im Grundsatz der ungleich stärker greift er hier der Erfassung des Wesens des also auf die narürliche Theolo-

23

Philosophisches Magazin IY’3, 368.

24

Vgl. Philosophisches Magazin [V/3, 369. Dabeı beruft er sich wiederum auf Baumgarten, der bereits »das höchste Gesetz der vernünftigen Selbstliebe nebst dem höchsten Gesetz der geselligen Pflichten dem absolut-ersten Gesetze der Vollkommenheit untergeordnet« habe.

110

l. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

gie, zurück. Die Schwierigkeiten vergrößern sich noch dadurch, daß Eberhard um der Allgemeingültigkeit der moralischen Gesetze willen daran fest-

halten muß, daß die Verbindlichkeit der Pflichten gegen sich selbst und gegen Andere unabhängig vom Glauben an Gott erkannt werden könne (vgl. SdV $ 47 Anm.1,

S. 46). Da er jedoch die Gottesverehrung als ratio-

nal einsehbare Pflicht begreift, kann er andererseits auch keine materiale Vollständigkeit der religionslos zu erkennenden

Gesetze zugeben.

Freilich

begnügt er sich nicht damit, die sozusagen auf festem Grund stehenden individuellen und sozialen Pflichten zu ergänzen um eine Reihe von religiösen

Bestimmungen,

von

denen

sie nicht berührt

werden;

er behauptet

vielmehr, daß der »Gottesleugner« auch im Blick auf die Vervollkommnung seiner selbst und Anderer nur einen unzureichenden Minimalbestand an Forderungen wahrnehmen könne, insofern er sich nur am näheren, nicht aber am »entferntern Nutzen seiner freyen zu orientieren vermöge?>. Außerdem wird chen Handlungen dadurch verstärkt, daß offenbaren Willen Gottes eine zusätzliche & 131, S. 146). Insofern kann man sagen,

Handlungen« (SdV 8 48, S. 47) die Verbindlichkeit aller sittlisie durch ihre Begründung im Motivation erfahren (vgl. SdV daß die areligiöse Geltung sittli-

cher Grundsätze für Eberhard letztlich nur eine Absicherung der Möglichkeit universaler sittlicher Zurechnung und der anthropologischen Fundierung der Ethik darstellt; denn erst durch die Religion gelangt der Mensch zu einer vollen Erfassung seiner selbst, seiner Pflichten samt deren Realısierungsbedingungen; dergestalt, als Faktor der Steigerung des Realisierungsbereichs und der Realisierungschancen sıttlicher Orientierungen, ist die Gottesverehrung selber Pflicht und Implikat des Gebots der Selbstvervollkommnung. Umgekehrt ist jede Vervollkommnung, jede sittliche Entfaltung eigener Anlagen ıpso facto Gottesdienst, ıst jede Erkenntnis des

Wesens des Menschen und der übrigen Dinge ipso facto Gotteserkenntnis (vgl. SdV $ 133, S. 150f.)2°, wobei nicht ausgeschlossen ist, daß es auch explizite

Offenbarungen

des göttlichen

Willens gibt, die den

immanenten

Beweggründen zu bestimmten Handlungen noch extern-religiöse hinzufügen und damit gleichsam das 'Reich der Natur' »in dem Lichte« des "Reiches der Gnade' erscheinen lassen (SdV 850, S. 4927). Unklar ist jedoch, ob

25

Deutlich ist hier die Bedeutung fernporaler Perspektiven für die Konzeption.

26 Vgl. auch AThDE 230: Der Gottesgedanke ist der deutlichste Gedanke, »von dem wir in allem deutlichen Denken etwas vorstellen«. Der Gottesgedanke wird aber nur »stufenweise In uns; so wie stufenweise die Summe unserer deutlichen Vorstellungen zunimmi«.

27

Die Terminologie stammt offenkundig von Leibniz.

. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

111

man diese religiöse Umdeutung des Sınnes konkreter Handlungen - Eberhard denkt an unangenehme Handlungen, die ım Lichte der Religion den

positiven Sinn einer asketischen Übung oder Prüfung erhalten (vgl. ebd) legitimerweise noch als Verstärkung der natürlichen Verbindlichkeit bezeichnen kann. Wichtiger scheint freilich die Funktion dieser Überlegung, der Behauptung der Kırchenlehre,

über explizite Willensäußerungen

Gottes

zu verfügen, einen Platz im System der rationalen Sittenlehre zugestehen zu können, und zwar an nicht-fundamentaler Stelle. Erwiesen ist damit nicht mehr, aber auch nicht weniger - und für Eberhards Auditorium, angehende

Geistliche?®, wichtig genug! - die Kompatibilität dieses Teiles der Kirchenlehre mit einer nicht aus dieser selbst, sondern aus der Evidenz der vernünftigen Wesenserkenntnis begründeten Ethik. Insgesamt ist das Problem der Vermittlung von Selbstvervollkommnung und Gottesverehrung eın anderes als das der Verbindung von Selbst- und

Fremdvervollkommnung, insofern Gott seiner Natur gemäß nicht unter die zu vervollkommnenden Gegenstände fällt. Er ist mithin nur in uneigentlichem Sinn als Objekt der Pflicht anzusprechen (vgl. SdV 887, S. 87). Deshalb läßt sıch die strikte Rückbindung der Gottesverehrung an die Selbstentfaltung der Bestimmung des verehrenden Einzelnen ım Rahmen einer auf Aandlungsorientierung abzielenden Erkik nur um den Preis der Umdeutung dieses Theorieprogramms selbst als unstatthafte Funktionalisierung Gottes für die Selbstverwirklichung kritisieren, wird sie doch auf dem Gottesbegriff selber begründet, und wird dieser doch auf die Erkenntnis der Wirklichkeit als ganzer bezogen. Insofern ist der primäre Bezugspunkt der religiösen Thematik in Eberhards Ethik weniger die materiale Handlungsanleitung zur Gottesverehrung (wenngleich dıe Behandlung der »Pflichten gegen Gott« den ersten und ausführlichsten Teil der materialen Sıttenlehre ausmacht [SdV S. 142 - 185]) als vielmehr die Konstitution des Handlungs-

orientierung allererst ermöglichenden Wissens von Wesen und Natur des Menschen und der übrigen Dinge, mithin die Gegebenheitsweise und der Inhalt des Vollkommenheitswissens.

1.4. Vollkommenheit

Eine

Ethik,

die

als normative

und Vollkommenheitswissen

Handlungstheorie

auf einer

Beschreibung

'gelingenden Lebens’ im Rahmen einer Beschreibung von Wirklichkeit überhaupt aufruht, muß, wenn sie nicht auf Allgemeingültigkeit verzichten

28

Vgl. SdV, unpaginierte Einleitung, letzte Seite.

112

Il. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

will, einerseits die Allgemeingültigkeit jener basalen

Beschreibungen

be-

haupten und begründen, andererseits aber /akrischen Dissens in bezug auf die Erhebbarkeit solcher allgemeinen Beschreibungen, in bezug auf deren

konkrete Gestalt und in bezug auf daraus abzuleitende Handlungsorientierungen erklären können. Die zweise Aufgabe löst Eberhard, indem er sowohl

interkulturelle als auch

innerhalb einer Kultur zwischen

einzelnen

Individuen oder Gruppen gegebene Differenzen der Bestimmungen von Sittlichkeit auf unterschiedliche Grade der Entwicklung von Rationalität zurückführt.

Mit fortschreitender Aufklärung werden

gung eben die moralischen

Standards allgemeine

nach seiner Überzeu-

Evidenz gewinnen,

die

jetzt nur von den ausgebildetsten Individuen elaborierter Kulturen aus Einsicht vertreten werden (vgl. SdV $8 28f., S. 29f.). Größere Schwierigkeit

hat Eberhard dagegen mit der ersten Aufgabe, die in der Behandlung der zweiten schon als gelöst vorausgesetzt ist. Im Verlauf des ersten Teils der »Sittenlehre der Vernunft« erwägt er mehrere in der Tradition vorgegebene Möglichkeiten der Gewinnung allgemeiner Evidenz und versucht deren Wahrheitsmomente in ein Konzept empirisch illustrierter und psychologisch abgestützter Rationalität aufzuheben. Schon

ım

»Vorbericht«

erörtert

er

seine

Methode,

mit

der

er

bean-

sprucht, die größere Nähe zu den Phänomenen und zum »Erfahrungsschatz« der durchschnittlichen Bildung bei den »Sittenlehrer(n) andrer Nationen« (er meint damit wohl französische und englisch-schottische Ethiker) zu verbinden mit der »tiefsinnige(n) Gründlichkeit« und synthetischen Kraft der deutschen Schulphilosophie. Dabei soll sıch im Ausgang von den konkreten

Empfindungen zunächst analytısch deren »Unzulänglichkeit« in Hinblick auf die Beurteilung ihrer eigenen Sittlichkeit erweisen, woraufhin in einem synthetisch-deduktiven Arbeitsgang die »höhern Gründe der Moral«, d.h.

rationale Bestimmungen der Moralität aufgesucht werden sollen, die schließlich in einem dritten Schritt in die Empfindung 'zurückgebracht'

werden müssen zum Zwecke konkreter Handlungsorientierung??. Freilich vermag Eberhard nicht deutlich zu machen, inwiefern der induktiv-analytische Schritt, der doch wohl als ein Prozeß der Abstraktion von den Einzelempfindungen sich vollzieht, für die apriorische, d.h. von spezifischer Erfahrung unabhängige Konstitution moralischen Wissens von notwendiger

Bedeutung ist. Es scheint, als erschöpfe diese sich in der Benennung und Systematisierung,

Typisierung

und

Formalisierung

eines

reichen

empiri-

schen Materialbestands und eben ın dem gleichsam apagogischen Nachweis 29 vgl. dazı auch AThDE 232 die Bemerkung, »dal wenn [die] Gedanken sollen Entschließungen werden: sıe wieder ın Empfindungen zurück gebracht werden müssen«.

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

113

der normativen Insuffizienz aller solcher induktiven Systematisierungen, so daß damit nıcht mehr als die Möglichkeit einer mittelbaren Verifikation rationaler ethischer Sätze durch eine große Menge von Einzelerfahrungen

und ein ebenso mittelbares Argument für die Notwendigkeit einer rationalen Sittenlehre gewonnen wäre. Zumindest der ıllustrative Gehalt der empirischen Betrachtung ließe sich jedoch ohne weiteres auch ım dritten Schritt der Applikation der Sittengesetze auf konkrete Situationen einholen. Dagegen soll der empfindungsinterne Insuffizienznachweis sicherlich die auf einer universal geltenden Wesensbeschreibung fundierte Ethik abschirmen gegen empiristische, individuelle und kulturelle evolutionäre Veränderungen berücksichtigende Moraltheorien, die auf solche Wesensbeschreibungen bzw. auf den Anspruch von deren Allgemeinheit meinen verzichten zu können oder (aufgrund epistemologischer Bedenken oder auch aufgrund der Wahrnehmung faktisch unaufhebbaren Dissenses) zu müssen.

Ein

ähnliches

Interesse

leitet

auch

Eberhards

Behandlung

des

»moralischen Sinnes« (SdV 88 51-56, 85. 50 - 58) und des Gewissens (SdV 88 67-82, S. 69 - 81, bes. 8$ 70-72 und 8I1f.). Er legt größten Wert auf die Feststellung, daß mit dem moralischen Sinn keine Instanz gegeben sei, dıe

unabhängig vom Gericht der Vernunft über die Sittlichkeit von Handlungen zu urteilen vermöchte (vgl. SdV $ 69, S. 71). Der moralische Sinn ist keine eigenständige und ursprüngliche "Provinz der Seele‘, sondern nur eine besondere Vergegenwärtigungsweise der Urteile der Vernunft, Verdanken

sich diese nämlich einem vollständigen Syllogismus, wo den Öbersatz das Sittengesetz, den Untersatz die konkrete Handlung, dıe Konklusion das Ur-

teil über die Sittlichkeit dieser Handlung (und des Handelnden) bildet (vgl. SdV

869,

S. 70), die dann deutlich

- wenn

auch aufgrund

der Umständ-

lichkeit des Schlusses nicht lebhaft?0 - vorgestellt wird, so appräsentiert der moralische Sinn die Sittlichkeit der Handlung umgekehrt zwar schnell und klar und lebhaft (vgl. SAV 8 51, S. 50f.), aber nicht deutlich. Er hat deshalb die wichtige Funktion der sittlichen Orientierung ın durchschnittlichen Alltagssituationen, wo gar keine Zeit ist zu expliziter und ausführlicher

sittlicher Reflexion. Ebenso ist er die Fähigkeit, sich in neuen und unübersichtlichen Situationen und unter Zeitdruck durch intuitive Anwendung der Beurteilungen bekannter Handlungen ethisch zurecht zu finden. Er setzt mithin Erfahrungen rationaler sittlicher Verhaltensbestimmung voraus, Dar-

aus folgt, daß er nicht angeboren sein kann, sondern durch stete Übung des sittlichen Urteilsvermögens allererst erworben und beständig geübt, korrigiert und erweitert werden muß. Das heißt aber zugleich, daß er nicht bei 30

Vgl. zur abnehmenden Lebhaftigkeit bei steigender Deutlichkeit AThDE 77 u.ö.

114

l. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

allen Menschen in gleicher Stärke und gleicher Ausprägung vorausgesetzt werden darf, sondern daß er nur in je individueller Gestalt existiert. Deshalb kann sein Urteil an sich weder subjektive Gewißheit noch gar intersubjektive Verbindlichkeit begründen bzw. genauer: die ihm gegebenenfalls innewohnende Gewißheit und Verbindlichkeit ist eine abgeleitete von Gnaden der Allgemeingültigkeit des in ıhm appräsentierten moralischen WisSENS. Analog gilt dasselbe auch vom Gewissen, das sıch vom moralischen Sinn darin unterscheidet, daß dieser sich tendenziell eher auf die Fähigkeit der Beurteilung der Handlungen Anderer bezieht (weshalb etwa auch Wohlwollen

darunter

fällt;

vgl.

SdV

$$ 5If.,

S.51

strikten Sinne Selbsrbeurteilung ist (vgl. SdV »Selbstbeurtheilung«

vgl.

auch

$ 160,

- 53),

während

jenes

im

$ 70, S. 72; zum Terminus

S. 190).

Genauer

rechnet

sich

die

Person im Gewissen die Sıttlichkeit oder Unsittlichkeit einer Handlung, die durch den oben beschriebenen Vernunftschluß (oder durch dessen implizite Form,

den

moralischen

$ınn) erhoben

wurde,

selbst zu.

Insofern

freilich

die Conclusio dieses Vernunftschlusses selber sich bereits nicht nur auf die Handlung, sondern auch auf den Handelnden Gewissen selber als eın solcher Vernunftschluß

beziehen kann, kann das bezeichnet werden, sofern

dieser ein Urteil über Handeln und Person des Urteilenden selbst intendiert (vgl. SAdV 8 70, S. 72). Wıe jede Zurechnung setzt dann auch das Gewissen Erkenntnis der Sittlichkeit an sich voraus (vgl. ebd., $. 71), anstatt sie

allererst zu konstituieren. Allerdings verfügt das Gewissen über einen besonders großen Bereich sowohl möglicher zu beurteilender Handlungen als auch anzuwendender Gesetze, da im Gewissensurteil als dem inneren Ge-

richt oder inneren Richterstuhl des Menschen nicht nur die äußeren Handlungen nach äußeren Kriterien, sondern auch die inneren Handlungen (d.h.:

nicht sozıal wahrnehmbare

Intentionen,

inneren (d.h. auf solche Handlungen

können.

Neigungen,

Diese größere Intimität und zugleich

das Gewissensurteil

von

allen

Gedanken

etc.) nach

bezogenen) Gesetzen beurteilt werden

anderen

sozialen

Universalität unterscheidet Beurteilungsinstanzen,

so

daß dem forum conscientiae ın eminentem Maße der Titel des forum rationis zukommt (vgl. SdV 8 81, S. 81), Eberhard es sogar aufgrund seiner Allgemeinheit und Unabhängigkeit mit dem forum divinum gleichsetzen kann (vgl. SdV $ 82, S. 81). Dies paßt Jedoch nur unter der Bedingung zu der Forderung nach Pflege und Berichtigung des Gewissens (vgl. SdV s8 162f., S. 194f.), daß jede rationale Erkenntnis ıpso facto Gotteserkennt-

nis ist?! und daß es deshalb Pflicht jedes Menschen ist, durch möglichst 31 Vgl. oben 1.3.3.

l. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

große Erweiterung,

Stärkung

und

Differenzierung

115

des Erkenntnisvermö-

gens - und das heißt nach dem Gesagten: besonders durch dıe Anwendung jenes Vermögens auf sich selbst im Gewissensurteil - die Kenntnis Gottes zu vermehren. Der rationale Zuschnitt der Beschreibung des Gewissens

ebenso wie die Möglichkeit eines irrenden Gewissens (vgl. SdV $$ 7If., S. 73) deutet ındes darauf hin, daß das Gewissen selbst als forum divinum nicht sein Wahrheitskriterium in sich selber hat, sondern auf einem objektiven Wissen beruht und sıch daran auszurichten hat.

Dieses objektive Wissen darf sich in seiner Geltung freilich auch nicht allein

in den

positiven

einer bestimmten oben

gezeigt??,

Gesetzen,

sei es eines bestimmten

Religion, gründen. Spezifikationen

und

Staates,

sei es

Diese sind vielmehr ihrerseits, wie Expressionen

des

einen

universalen

Naturgesetzes der Vernunft, die zwar auf der Ebene der subjektiven Handlungsmotivarion dessen Verbindlichkeit und auf der Ebene sozialer Ethosbildung dessen Kommunikabiılität erhöhen, die aber zu keinen dem Vernunftgesetz widersprechenden Handlungsbeurteilungen kommen dürfen, so daß sie in diesem ihr Ärizerium finden. Nur aufgrund ihrer konkretisierenden,

objektivierenden,

intersubjektive

Verständigung

ermöglichenden

und

deshalb die Realisierungschancen von Sittlichkeit steigernden Funktion, mithin auf vermittelte Weise, sind sıe selber notwendig und können Ver-

bindlichkeit beanspruchen??. Daß dies so ıst, daß also 'hinter' allen positiven Bestimmungen bürgerli-

cher oder religiöser Gesetzgebung eın jeden jeweiligen Geltungsbereich transzendierendes allgemeines Naturgesetz, eine anthropologisch fundamentale universale innere Sittlichkeit steht oder besser stehen muß (vgl. SdV 8 25, S. 26), begründet Eberhard nun interessanterweise nicht etwa apriorisch-deduktiv, sondern funktional zu den Bedürfnissen von Staaten und Gesellschaften (vgl. dazu und zum folgenden SdV $ 27, S. 28). Denn ohne die Annahme einer solchen mit dem Menschsein selbst und unabhän-

gig von allen sozialen Konkretionen, ja von allen Objektivierungen und Versprachlichungen und deshalb unabhängig selbst vom subjektiven Wissen gegebenen und insofern auch kontrafaktisch zusprechbaren inneren Sittlich-

keit könnte es kein Naturrecht als quasi-kodifizierte Form solcher allgemeinen Verbindlichkeit geben. Ohne Naturrecht aber gäbe es kein Völkerrecht, es wären also keine Rechtsverhältnisse zwischen Staaten unterschiedlicher 32

Vgl. oben 1.1. und 1.3.3.

33

Deshalb kritisiert Eberhard Shaftesbury, der äußere Sittlichkeit ganz verworfen habe. »Alleın sıe müssen beyde [sc. äußere und innere Sittlichkeit] mit einander verbunden werden«

(SdV

$ 26, S. 28).

116

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

Rechtsordnung

möglich.

Ohne Naturrecht gälten bürgerliche Gesetze nur

für die Bürger des Staates, der sie erlassen hat; eine Jurisdiktion über Aus-

länder ließe sich nach Eberhards Meinung dann nicht mehr begründen?®. Wichtiger ist freilich, daß ohne Naturrecht - besser spräche man hier von natürlicher Verbindlichkeit - auch innerstaatlich kein weiterer Bereich kon-

ventionell-impliziter oder unterhalb des iustitiablen Niveaus expliziter Moralität von der positiv-juridischen Legalität im engen Sinne abgehoben werden könnte, so daß eine gesellschaftliche Ordnung nur durch durchgängige Juridisierung der Lebensverhältnisse ın Verbindung mit einem strikten, machtgeschützten Rechtspositivismus aufrechtzuerhalten wäre.

All diese Überlegungen plausibilisieren sicherlich das Bedürfnis nach einer allgemeinen, von allen partikularen Bestimmtheiten jeder kontingenten Situation unabhängigen bzw. diesen vorgeordneten Instanz der Handlungsbeurteilung

und Verhaltensorientierung und darin eingeschlossen

nach einer universalen,

rationaler Verifikation einsichtigen

von

des

Wesen

und

Natur

Menschen

und

der

übrigen

Beschreibung

Dinge,

und

sie

erhellen durchaus, wıe Eberhard die Ansprüche alternativer Fundierungsversuche der Ethik - gerade weil sie zum Teil (etwa im Fall der moralsense-Theorie)

zwar

bereits

auf

eine

Plausibilitätskrise

rationaler

Ethik

reagieren, aber dennoch weiterhin universale Geltung anstreben - zu kritisieren vermag und zugleich das, worın er deren Stärke erblickt, in sein eigenes Konzept zu integrieren versucht3S. Ste erweisen aber noch nicht die Möglichkeit eines solchen Konzeptes und ersetzen nicht seine Durchführung. Wie konstituiert sich also nach Eberhard das Wissen von der Vollkommenheit

und

Bestimmung

des Menschen

in Verbindung

mit rationaler

Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit überhaupt? Hier zeigt sich nun allerdings, daß die Bestimmung der »wesentliche(n) Vollkommenheit des Menschen« (SdV $& 22, S. 23) in sehr viel engerer Bezıehung auf die Empirie erfolgt, als der Anspruch auf rationale Einsichtig-

keit verrät. Denn daß diese wesentliche Vollkommenheit des Menschen »ın der Abzweckung seiner Fähigkeiten und Kräfte zur Glückseligkeit« besteht (ebd.), läßt sich nach Eberhard aufgrund der »menschliche(n} Schwachheit nicht aus Begriffen herleiten« (ebd., S. 23f.), der Mensch muß dies viel-

mehr »aus der Erfahrung kennen lernen« (ebd., S. 24). Diese macht nämlich evident, daß der Mensch mit solchen Vermögen des Körpers, der

34

Ein Argument, das nıcht einleuchtet, läßt sich doch der Geltungsbereich eines bürgerlıchen Rechtssystems statt auf das Staatsvolk auch auf das Staatsgebiet beziehen.

35

Zugleich erlauben sie die Erstellung einer Art Ahnenreihe. $. 27f.

Vgl. besonders SdV $ 26,

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

117

Begehrungskraft und der Erkenntniskraft ausgestattet ist, die ıhn in voll hinreichendem Maße zur physischen Selbsterhaltung und Reproduktion befähigen, ihn schon gewissermaßen naturaliter zum Guten hinneigen und ihm schließlich auch die reflexe Einsicht ın das wahre Gute (und mithin dessen

freie Wahl) ermöglichen?®. Selbst wenn man diese Behauptungen als Erfahrungsevidenz akzeptiert, bleibt die damit "erwiesene' Definition der Vollkommenheit in mehrfacher Hinsicht mit schweren Unklarheiten und Inkonsistenzen belastet. Beachtet man zunächst, daß Eberhard Glückseligkeit als Zustand bestimmt, worın jemand ein als Empfindung wahrer Vollkommenheit wahres Vergnügen ununterbrochen genießt (vgl. SdV 83, $S. 3), bzw. als den Genuß einer »fortschreitenden«, d.h. die Differenz von bereits

erreichter und noch ausstehender Voilkommenheit genußsteigernd integrierenden

Vollkommenheit

wesentlichen

(vgl.

$ 17, S. 20),

Vollkommenheit

Wesentliche

Vollkommenheit

des

so gewinnt die Definition

Menschen

besteht dann

zirkulären

in der Anlage

der

Charakter.

zum

Genuß

der

Vollkommenheit. Diese ursprüngliche Vollkommenheit »zufällig«, d.h. in den konkreten einzelnen Handlungen zu realisieren, dıe einzelnen Fähigkeiten in förderlichem Zusammenhang zu entfalten, zu üben, zu steigern, bildet dann

die »Bestimmung

des Menschen«

(SdV

$ 23, S. 25).

Von

ent-

scheidender Bedeutung für die Ethik wird deshalb in der Tat die empirische Psychologie, dıe dıe einzelnen Fähigkeiten der Seele aufsucht, analysiert und systematisiert, ıhre innere Einheit und ıhr Verhältnis untereinander erhelit und dadurch aufzeigt, wıe durch die einseitige Ausbildung einer Fähigkeit andere verkümmern und wie umgekehrt durch das beständige Bemühen um ein Gleichgewicht aller Fähigkeiten die höchste Summe reali-

sierter Fähigkeiten erreicht werden

kann. Dies wiederum interpretiert die

Vernunft als die beste Erfüllung der menschlichen Bestimmung.

Die empiri-

sche Psychologie (die noch zu erweitern wäre zu einer empirischen Anthropologie, die dann auch die physischen und sozialen Bedingungen und Bedingtheiten

konkreter

Existenz

enthielte)

liefert

mithin

dıe

materiale

Bestimmtheit der wesentlichen Vollkommenheit. Sie liefert auch selbst die Begründung ihrer eigenen Rationalität, insofern ja wie gezeigt zu den empirisch ablesbaren Fähigkeiten des Menschen auch die der rationalen Einsicht in das wahre Gute (d.h. in die wesentliche Vollkommenheit des Menschen) gehört, dessen Teil sıe selbst ist und als dessen Teil sıe sıch selbst erkennt.

36

Daß der Mensch sich von Natur aus dem Guten - freilich dem für ihn Guten, ihm subjektiv als gut Erscheinenden - hinneigt, ıst schon ein Gedanke des Aristoteles. Vgl. NE 1094a,

118

l. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

Fberhards

Stringenz

Rationalitätsanspruch

und

Rationalität

und

fällt somit

mit der Plausibilität einer empirischen

menschlichen Vermögen,

die Annahme

steht

von und

deren

mit

der

inneren

Beschreibung

der

die die Fähigkeit zu rationaler Einsicht, und d.h.

Sachhaltigkeit einschließt.

Allgemeingültigkeit

mag

Das Bedürfnis

die Zustimmung

nach

zu dieser

Be-

schreibung erleichtern, vermag sie jedoch nicht zu erzwingen. Mehr noch: Der Begriff der ursprünglichen menschlichen Vollkommenheit, der das Wissen

von

dieser

Vollkommenheit

enthält,

ıst nach

Eberhards

Aussage

weder selbst aus reiner Vernunft deduzierbar, noch ıst er dergestalt empıirisch allgemein, daß er an jedem Exemplar der Gattung Mensch zu jeder Zeit aufgefunden

werden könnte.

Denn zumindest das explizite Wissen der

eigenen ursprünglichen Vollkommenheit und mithin der eigenen Bestimmung ist offenkundig nicht allgemein verbreitet, wie Eberhard ja selbst durch Hinweise auf Differenzen

der Sittlichkeit verschiedener

Völker,

auf

Dissens der Philosophenschulen hinsichtlich der Erfassung von Wesen und Bestimmung des Menschen und daraus folgender Handlungsziele, auf die Möglichkeit irrenden Gewissens und überhaupt auf die faktische Schwäche des menschlichen Geistes eindrucksvoll belegt. Da zur wesentlichen Voll-

kommenheit aber die Anlage zu ihrer Erkenntnis hinzugehört, für diese Erkenntnis jedoch umgekehrt die Erkenntnis jener Anlage vorausgesetzt werden muß, ist das Fehlen reflexen Wissens der Vollkommenheit einerseits eine defizitäre Form dieser selbst, und andererseits wird dadurch dıe Möglichkeit der »zufälligen« Realisierung von Vollkommenheit, d.h. der

Selbstvervollkommnung problematisch. Für unseren Zusammenhang heißt das, daß der Begriff der Vollkommenheit nicht an beliebigen Individuen abgelesen werden kann, sondern nur an solchen (oder auch: durch solche in ihrer

Selbsterfahrung),

die

eın

Vollkommenheitswissen

bereits

erlangt

haben. Die Selektion der empirischen Realität wesentlicher menschlicher Vollkommenheit setzt mithin deren Begriff bereits voraus, obwohl dieser doch aufgrund der entsprechenden empirischen Realität allererst erhoben werden soll. Die Aufklärung, vermittels deren die Menschen zum reflexen Wissen ihrer eigenen Bestimmung und zu einem darauf abgestimmten Leben geführt werden sollen, orientiert sıch dann an bestimmten Selbsterfahrungen und Selbstbeschreibungen, deren Normativität in einem unge-

klärtten und bis auf weiteres widersprüchlichen Verhältnis zu ıhrer Empirizität steht. Dieser Widerspruch liegt letztlich darin begründet, daß Eberhard ein Konzept endlicher Erkenntnis vertritt, das er nicht mit seinem Verständnis der durchgängigen rationalen Transparenz der Wirklichkeit zu vereinen vermag. Es gelingt ihm nicht zu zeigen, inwiefern der ınduktivempirische und der deduktive Erkenntnisgang in nicht-zirkulärer Weise auf-

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

einander angewiesen gewonnen,

obwohl

119

sind. Sein Vollkommenheitsbegriff ist rein deduktiv nach seiner eigenen Theorie dıe menschliche

Erkennt-

niskraft zu völliger Unabhängigkeit von der Empirie gar nicht fähig ist (vgl. AThDE 10%.; 114f.). Umgekehrt kann die Empirie zugestandenermaßen die Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit des Vollkommenheitswissens gar nicht erweisen, auf die Eberhard aber aus den geschilderten funktionalen Gründen nicht verzichten zu können glaubt. Dieser angesichts von Eberhards Anspruch und Selbstverständnis aller-

dings fatale Befund darf freilich nicht dazu führen, in Überschätzung von Begründungsfragen

die Leistungsfähigkeit der Theorie nun pauschal abzu-

werten??. Stellt man nämlich die Frage nach der Konstitution jener empirischen Beschreibung der menschlichen Anlagen zurück und akzeptiert ihre Gültigkeit pragmatısch - was angesichts der als faktısch letztlich funktional

auf die

universale

Zurechenbarkeit

von

Handlungen

und

auf die

rechterhaltung gesellschaftlicher und zwischenstaatlicher Ordnung

Auf-

bezogen

herausgearbeiteten Begründung von Eberhards Rationalitätsanspruch kein ganz abwegiges Verfahren sein dürfte -, so bleibt doch eine ın sıch sehr differenzierte,

reich instrumentierte und integrationsfähige Theorie

menschli-

cher Handlungsorientierung, die ın ihrem materialen Vollzug das Problem der Beschränktheit

subjektiven

Erhellung der Bedingungen

Wissens

mitreflektiert,

ebenso

wie

ihr die

und die Förderung kontingenter Realisierung

von Sittlichkeit im Kontext eines Theorems der Vervollkommnung der Welt

als Verherrlichung Gottes zum entscheidenden Thema wird. Vervollkommnung oder Realisierung von Vollkommenheit läßt sich hier fassen als möglichst reiche Entfaltung des im Wesen des Handelnden selbst und der Objekte seines Handelns Angelegten. Dem liegt einerseits das - schulphilosophische (und auf Leibniz zurückgehende) - Konzept einer Steigerung der

Realität (Vollkommenheit) durch Realisierung einer möglichst großen Fülle von Möglichem aller Seinsstufen zugrunde, das gerade ın Eberhards Ideal der 'ganzheitlichen' Förderung aller menschlichen Fähigkeiten in deren Abwechslung und Zusammenspiel sich niedergeschlagen hat; andererseits lassen sich Implikationen nicht übersehen, die verständlich machen,

Eberhard

immer wieder die Nähe zu Aristoteles betont.

Denn

warum

Eberhards

Wirklichkeitsverständnis hat deutlich eine entelechisch-teleologische Struktur, indem jedem einzeinen Seienden eine wesentliche Bestimmung inne37

Dies gilt Rezeption cher trotz und) der

zumal bei einem primären ımmer selektiv verfährt. Es und unabhängig von seiner Schulphilosophie Elemente

Interesse an der Rezeption dieser Theorie, da ıst deshalb durchaus denkbar, dal) SchleierrnaKritik am Rationalıtätsverständnis (Arıstoteles’ und Denkformen der Theorie Eberhards über-

nommen,

beibehalten und weıtergeführt hat.

120

1. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

wohnt,

die es im Verlauf seines Werdens

partikulare

Zwecke

sind

wiederum

zu entfalten, zu realisieren hat;

aufeinander

bezogen

durch

ihren

gemeinsamen Bezug auf höherstufige Zwecke, alle Zwecke konvergieren schließlich im zweckhaften Zusammenhang des Wirklichkeitsganzen. Die-

ser seinerseits wird schöpfungstheologisch (oder besser: naturtheologisch) begründet. Menschliches Handeln darf freilich nicht in Analogie zum alternativelosen Selbstvollzug der Entelechie in der Natur gedacht werden; im Gegenteil setzt die Ethik als Theorie freier Handlungen

(vgl. SdV

$$ If.;

$$ 23f.) dıe Möglıchkeit des Verfehlens des Zweckes und mithin dıe Notwendigkeit der Erkenntnis und des Bejahens und Wählens des Zweckgemäßen und als solchen Guten ausdrücklich voraus. Man muß deshalb von einer kulturellen Entelechie sprechen, in der das Erreichen des Zweckes explizit

Aufgabe ıst. Während deshalb bei den 'unbeseelten Dingen‘ menschliches Handeln zur Entfaltung von deren innerem Wesen unnötig ist (was die Beseitigung von äußeren Hindernissen dieser Entfaltung einerseits, die Verwendung der so sich selbst realisierenden Wesen zur Realisierung des eigenen Zweckes nicht aus-, sondern einschließt), ist es beim Menschen nicht so selbstverständlich, daß er von sich aus faktisch-kontingent seiner Bestimmung gemäß handelt und lebt, als daß es nicht der wechselseitigen kommunikativen Förderung des Wissens und der Realisierung der menschlichen Bestimmung bedürfte. Verbindet man dies nun noch ausdrücklich mit der

genannten schulmäßigen Definition von Vollkommenheit als Besitz der Anlage zu einer Vielzahl von Fähigkeiten und als Auftrag zu deren harmonischer Realisierung?®, dann heißt das, daß der Mensch eben zur extensiven

und harmonischen Entfaltung seiner physischen, psychischen und intellektuellen Fähigkeiten der Unterstützung durch Andere bedarf, und daß solche Unterstützung umgekehrt Implikat der Forderung nach Förderung der Vollkommenheit in sich und anderem ist, in welcher Förderung die »zufätlige« Vollkommenheit geradezu besteht.

1,5. Freundschaft als Konkretion der allgemeinen Menschenliebe

Erst mit diesen Überlegungen machers

Anmerkungen

zur

ist das Niveau erreicht, auf dem

Aristotelischen

Freundschaftstheorie

Schleieransetzen.

Man kann freilich nicht sagen, daß Eberhards eigene Behandlung des Freundschaftsthemas in der »Sıttenlehre der Vernunft« einen entsprechenden 38

Genau hier greift im übrigen Eberhards Übernahme von Aristoteles‘ Bestimmung der Tugend als der anzustrebenden Mitte zwischen zwei Exiremen des Verhaltens (vgl. SdV & 157, 5. 186).

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

Differenzierungsgrad

erreicht.

Er

behandelt

121

Freundschaft

unter

den

»Pflichten gegen andere Menschen« (so die Überschrift des IH. Hauptstückes des zweiten Teiles der »Sittenlehre der Vernunft«,

S. 225) als eine

der Formen, worin der Pflicht, »von unserer Menschenliebe Zeichen zu geben«, Genüge getan wird (SdV $ 184, S. 226ff.). Dabei kann er Freundschaft nur graduell von allgemeiner Philanthropie unterscheiden, und zwar als »besondre« von der »allgemeine(n)«. Da diese bereits als das »Vergnügen an den Vollkommenheiten des Freundes« und als die »Neigung sie zu vermehren«, insofern aber als »vernünftige«, d.h. von Leidenschaften unverzerrte Form der Liebe beschrieben ist, kann Freundschaft im engeren Sinne nur noch als deren Intensivierung und Konkretisierung gefaßt wer-

den, wenn sie nicht gar - von Eberhard nicht erwähnt - als leidenschaftsbetonte Depravationsform der Menschenliebe erscheinen soll, Schleiermachers grundlegende Differenzierung zwischen allgemeinem Wohlwollen und

Wohltun einerseits, das nun in der Tat Pflicht ist und deshalb von $Sympathie unabhängig sein muß, und der Freundschaft als der wechselseitigen Freude an der ırreduziblen Besonderheit konkreter Anderer, deren Ergründung und Kommunikation, verbunden mit wechselseitiger Versittlichung, andererseits ist in diesem Kontext gar nıcht denkbar. Was bei Schleı-

ermacher eine qualitative Differenz bildet, ist bei Eberhard nur eine quantitative. Besteht Freundschaft bei Schleiermacher in einem komplexen Ineinanderwirken von drei Funktionen - der wechselseitigen Kommunikation von eigener und von fremder Individualität sowie der wechselseitigen

Förderung von Sittlichkeit?? -, so bei Eberhard nur in der effektiveren Wahrnehmung einer, nämlich der versittlichenden Funktion. Der Einwand, daß in dieser - wie doch gezeigt - die Wahrnehmung und Entfaltung aller Eigenschaften und Fähigkeiten des Anderen ımplizıt enthalten seı, ıst nıcht

zureichend, gewinnt Schleiermachers Theorie ihre Komplexität und Dichte doch allererst ın der Darstellung jener wechselseitigen konkreten Prozesse, die Eberhard ausspart, und verspielt Eberhard durch dieses Aussparen die

Theoriemittel, die eine Differenzierung zwischen Philanthropie und Freundschaft ermöglichten. Zwar spricht Eberhard die von Schleiermacher behandelten Fragekomplexe »besonderer« Freundschaft durchaus an - äußere Umstände

(Ungleichheit des Standes,

Eifersucht etc.) können

verhindern,

daß »persönliche Vorzüge« freundschaftsbildend wirken, deshalb ist »eine gewisse Gleichheit des Standes« erforderlich, aber keineswegs »eine gar zu große Gleichheit und Aehnlichkeit der Lebensart, der Gemüthsgaben und ihrer Richtung«, grundlegend ist vielmehr nur »Aehnlichkeit guter Gesin39

Vgl. oben Kap. 1, besonders 2.5.

122

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

nungen«, wie denn auch die »Pflichten der Freundschaft (...) moralisch möglich seyn« müssen, »also der Frömmigkeit, der vernünftigen Selbstliebe, der Gerechtigkeit und allgemeinen Menschenliebe so wie der Klugheit gemäß«. Das bleiben jedoch - zumal ganz konventionelle - Erwähnungen, die nur die marginale Bedeutung des Freundschaftsthemas für Eberhards

Sıttenlehre dokumentieren

und

auch

ın keiner Weise

interne Intimität zu erfassen erlauben, die nach

die freundschafts-

Schleiermacher selbst und

gerade bei prımärer Orientierung an Sittlichkeit die spezifische Bedeutung der Freundschaft ausmacht. Es läßt sıch daher die These formulieren, daß Schleiermacher zwar aus-

geht von Eberhards dürren Ausführungen zur Freundschaft und daß er auch nichts anderes intendiert, als diese im Medium

einer Interpretation der un-

gleich reicheren und differenzierteren Freundschaftstheorie des Aristoteles zu explizieren®®, daß ihn aber die Selbstläufigkeit des Themas in seiner vom

Zeitgeist geprägten

Gestalt*!

dazu

nötigt,

gleichsam

unter der Hand

die Verengung der Freundschaft auf Stärkung der konventionellen Moral aufzubrechen und vorsichtig zu öffnen hin auf die soziale Wahrnehmung

und Förderung konkreter Individualität. Sicherlich ist, wie gezeigt??, eine solche Öffnung

faktisch angelegt in Eberhards Bestimmung sittlicher Voll-

kommenheit als möglichst reicher und in sich differenzierter Entfaltung aller menschlichen Fähigkeiten unter dem Kriterium von deren harmonischer Zusammenstimmung - wodurch die Förderung eben dieser harmonischen Komplexität in sıch und Anderen zur sittlichen Aufgabe wird - sowie in Eberhards Unterscheidung der (wenn auch als erreichbar gedachten) ab-

strakten Gattungsvollkommenheit des Menschen

und der jedem Einzelnen

aufgrund seiner je besonders eingeschränkten und ausgeprägten Änlagen und aufgrund der je eigenen Geschichte (einschließlich der mit dieser gegebenen, unverschuldet oder schuldhaft erfolgten, möglicherweise irre-

versiblen Deformationen und Schwächungen dieser Anlagen) spezifischen Vollkommenheit. Man könnte also diese beiden Aussagen ohne Zweifel dahingehend kombinieren, daß die sittliche Aufgabe auch ın Eberhards Verständnis in der Förderung spezifischer Komplexität unter Orientierung an deren konkreter Wahrnehmung im Horizont der normativen Gattungsvoll-

40 Auch dies im übrigen ein durchaus konventionelles Verfahren. Vgl. nur die kommentierte Übersetzung der ganzen Nikomachischen Ethik durch D. Jenisch, deren Veröffentlichung (Danzig 1791) Schleiermacher wohl von der Weiterführung des gleichen Projektes abbrachte (vgl. Einleitung KGA //I, XXATIX).

41

Vgl. oben die Einführung.

42 Vgl. oben 1.4.

1. Eberhards »Sittenlehre der Vernunft«

kommenheit

besteht,

und daß

hier der Freundschaft

123

eine herausgehobene

Funktion zufällt. Doch dies zeigt nur, daß mit den Theoriemitteln Eberhards ein Konzept sozial differenzierter, stabilisierter und gesteigerter Individualität entwickelt

werden

konnte,

es sieht aber nicht so aus,

als habe

Fberhard nun gerade diese Linie seiner Theorie mit besonderer Energie verfolgt. Umgekehrt bedeutet die Tatsache, daß Schleiermacher dies tat, für die Erhellung der Genese seines Denkens nicht weniger, als daß das Motiv der Koemergenz und Interdependenz von Individualität und Sozualität schon

seine frühesten Versuche bewegte. Der komplexe Individualitätsgedanke verdankt sich mithin nicht erst »der Romantik«, wie gemeinhin pauschal angenommen wird, sondern wurzelt bereits in einer Nebenlinie der spätaufklärerischen

Gestalt

der deutschen

während seines Studiums

dıe

Schleiermacher

in Halle intensiv rezipierte*?.

Schulphilosophie,

Ebenso ist die

Transformation der Ethik von einer normativen Pflichtethik auf eine deskriptive Güterethik, wıe sie Schleiermachers reife Vorlesungen kennzeichnet,

schon

am

Anfang

seines Denkweges,

in der Verschiebung

des

Interesses von der Deduktion von Handlungsorientierungen hin auf dıe Beschreibung konkreter mehrstelliger sozialer Relationen und Handlungs realisierungen, ansatzweise zu beobachten.

Es erscheint deshalb Denkentwicklung

nicht mehr

unvorsichtig,

Schleiermachers

von der an den Ärıstoteles-Anmerkungen

frühe

herausgearbei-

teten Struktur her zu rekonstruieren und deren Differenzierung, Modulatıon und Kritik sowie die Ausdehnung des Phänomenbereiches, auf den sie angewandt wird, zu untersuchen. Doch zuvor soll dıe Basıs für diese Rekonstruktion noch dadurch erweitert werden, daß an Eberhards Worstellungstheorie elementare Prozesse der Differenzierung und der Übergänge

zwischen Denken und Empfinden sowie deren gemeinsame Fundierung im Vorstellungsbegriff erhoben werden. Dies ıst auch deshalb erforderlich, weil diese Vorstellungstheorie in Schleiermachers Denken deutlichere und

feinere Spuren hinterlassen hat, als oberflächlich erkennbar ist.

43

Daß Schleiermacher diese Linie aufgriff, hat sicherlich auch Herrenhutische Hintergründe. Dies hat (ausgehend von den »Reden« und den Monologen) schon gesehen S. Eck: Über die Herkunft des Individualitätsgedankes bei Schleiermacher. Gießen 1908, besonders 26 - 59.

124

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

2. Eberhards vorstellungstheoretische Auflösung und Rekonstruktion der Differenz von Empfinden und Denken

2.1. Vorstellung als 'Indifferenzpunkt' von Denken und Empfinden Die Philosophie hat nach Eberhard lange Zeit in einseitiger Verachtung der »untern Seelenkräftex (AThDE 7) zugunsten des Intellekts einen faktischen

Dualısmus ın die Psychologie und Anthropologie hıneingetragen, der mit der Forderung der möglichst vollständigen Befreiung des Verstandes und des Willens von den Empfindungen und Leidenschaften, die als »der Herrschaft des Körpers« unterworfen galten (AThDE 6), zu ethisch unverant-

wortlicher (»abentheuerliche[r]j«, ebd.) Weltverneinung in Mystik und Askese geführt haben. Erst dıe Entdeckung eines Bereiches der Wirklichkeitswahrnehmung, in dem die Empfindung den von den Gegenständen hervorgerufenen Sinnesdaten Qualitäten hinzufügt, die den Gegenständen 'an sich‘ nicht zukommen, nämlich Farben, sowie die Entdeckung der »innige(n) Vereinigung der schönen Künste mit den moralischen Wissen-

schaften« (AThDE 10) hätten das Bewußtsein dafür geweckt, daß zwischen dem Bereich rationaler Einsicht (in dem auch die sittliche Orientierung angesiedelt war) und der als dunkel, verworren und gefährlich erfahrenen Sphäre des Gefühls ein nicht nur negativ besetzter und insofern möglichst zu eliminierender, sondern ein Konstitutiver Zusammenhang besteht, der als Interferenz und wechselseitige Abhängigkeit anzusprechen ist. Inteliekt und

Willen bedürfen mithin für ıhren eigenen Vollzug der Empfindung, ebenso wie umgekehrt. Mit diesem Befund und Empfindens« ein.

setzt Eberhards »Allgemeine Theorie des Denkens Eberhards Interesse gilt dabei vor allem der Ent-

wicklung einer einheitlichen Theorie der psychischen Wirklichkeitskonstitution überhaupt. Denn die faktische wechselseitige Beeinflussung von Denkkraft und Empfindungskraft erfordert seiner Ansicht nach als deren Möglichkeitsbedingung die Annahme einer fundamentalen Gemeinsamkeit beider,

einer ursprünglichen

Grundkraft

der Seele (vgl.

AThDE

17), dıe

sich sowohl als Denken wie auch als Empfinden äußern kann. Die Behauptung der Einheit und Einfachheit dieser »Urkraft« (ebd.) verdankt sich aber

keineswegs allein diesem Rückschluß. Eberhard argumentiert vielmehr zusätzlich von der Einheit und Einfachheit der Seele her: Wenn die Seele einfach ist, muß es auch eine innere Einheit ihrer Kraft geben. Die Seele muß aber als einfach und durch die Zeit mit sich identisch gedacht werden, wenn dıe Annahme eines sich durchhaltenden /chs, einer sich im Wechsel der

2. Eberhards Vorstellungstheone

Zeiten kontinuierlich erhaltenden Diese Annahme ist jedoch durch

125

Person nıcht aufgegeben werden soll. das empirische Gefühl der Einheit und

Selbigkeit der Seele erzwungen, das alle Bewußtseinsakte begleitet und als die je unseren kennzeichnet. In diesem »Bewußtseyn der Stätigkeit in unsern Vorstellungen« anerkennt die Seele »ihre numerische Identität« und vergewissert sich ıhrer Fortdauer als »dasselbige Ich oder moralische Indivi-

duum« (AThDE 26). Denken und Empfinden sind beides Vorstellungen. Eberhard findet die Grundkraft, die die Einheit der Seele ausmacht**, daher in dem »Bestreben Vorstellungen zu haben« (AThDE 33; Hervorhebung von mir). Aus diesem 'Indifferenzpunkt' müssen sich nun die verschiedenen Seelenvermögen (1)

als dessen Derivate, als spezifische Ausformungen des Grundvermögens ableiten und (2) als solche untereinander unterscheiden lassen. Diese Ableitung spezifischer Seelenvermögen muß sich schließlich (3) als vollständige Beschreibung aller Seelenvermögen erweisen, bzw. es muß gezeigt werden, daß damit alle Arten von Vorstellungen erfaßt werden können. Da

Eberhard nur Denken und Empfinden als elementare Vorstellungsarten nennt, stellt sich für ihn diese Aufgabe so, daß er alle anderen Vorstellungsarten als Modifikationen dieser beiden muß darstellen können.

2.2. Denken und Empfinden als Vorstellungsarten Eberhard löst diese Aufgaben

durch eine Reihe von Distinktionen.

Für die

erste greift er zunächst die Unterscheidung von verworrenen und deutlichen Vorstellungen auf und ordnet das Denken diesen, das Empfinden jenen zu@S, Diese Unterscheidung koppelt er mit der anderen zwischen der Integration einer unüberblickbaren Mannigfaltıgkeit zu einer akkumulatıven

44

Daß; Identität und Substantialität eines Seienden auf einer diesem innewohnenden Kraft beruht, ıst ein Gedanke, der auf Leibniz zurückgeht.

45

Diese Unterscheidung erscheint nirgends unabhängig von den anderen Distinktionen. Sıe kann aber erschlossen werden über das umgekehri-proportionale Korrelationsverhältnis von Lebhaftigkeit und Deutlichkeit (vgl. AThDE 77), da dıe Lebhaftigkeit von der nicht-distinkten Komplexion einer möglichst großen Fülle von Vorstellungen zu einem Totaleindruck abhängt (vgl. AThDE 45). Das Verständnis wird freilich noch dadurch erschwert, daß Eberhard zusätzlich das Begriffspaar dunkel - klar einführt, wobeı Dunkelheit das gestalt- und leblose «Chaos« (AThDE 72), Klarheit hingegen dıe gesteigerte Lebhaftigkeit in der nicht-distinkten Vorstellungstotalität zu bedeuten scheint. Verworrenheit wäre dann gewissermaßen der Oberbegriff einer Vorstellungsart, als deren höchste Intensität dıe Klarheit zu gelten hätte. Zu Eberhards inkonsısten-

ter Verwendung des Klarheils-Begriffs vgl. aber unten 2.3., Anm. 57.

126

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

Einheit, wie sie in der Empfindung gegeben ist (vgl. etwa AThDE 122), und einer Einheit durch Abstraktion von der Mannigfaltigkeit der Phänomene, wie sie das Denken erzeugt. Darin ist implizit schon enthalten die weitere Unterscheidung nach Maßgabe der Beziehung von »Partialperceptionen« auf dıe jeweilige Totalvorstellung sowie nach Maßgabe der Konstitution und Funktion der Teile im Blick auf das Ganze. Die Mannig-

faltıgkeit einzelner Empfindungen bildet nämlich ım ungeordneten und Nacheinander einen Totaleindruck (vgl. AThDE

58), der nur aufgrund

der individuellen spezifischen (aber gattungsmäßig bedingten)

Einschrän-

kung der Vorstellungskapazität als Einheit erscheint (vgl. AThDE

58-60).

Im Denken

hingegen

»ıineinander vorgestellt«

Neben-

53 sowie

wird die Pluralität der Einzelvorstellungen

(AThDE

58), d.h.

als kontinuierlicher Ordnungs-

zusammenhang, in dem die einzelnen Elemente anders als beim Empfinden nıcht ais (akzidentelle?) »Theile« eines zufälligen und unstrukturierten Ganzen, sondern als konstitutive »Merkmahle« einer ın sich durchgegliederten und transparenten Ganzheit fungieren (ebd.). Eberhard läßt keinen Zweifel daran, daß er die rationale Einsicht in die Wirklichkeit als lückenlosen Ordnungszusammenhang für deren adäquate Erfassung hält. Dies

führt nur deshalb nicht zu einer Geringschätzung der konfusen Empfindungstotalität, da diese ın Hinblick auf ıhr Verhältnis zur Zeit und ın Hinblick auf den Grad der /nrensität der Vorstellung charakteristische Vorzüge gegenüber der gedanklichen Einheit besitzt. Bedarf es zur rationalen

Durchdringung der Wirklichkeit nämlich der Muße im doppelten Sinne Zurückgezogenheit von Alltagsgeschäftigkeit und Alltagslärm und freien Zeit zum Nachdenken, so appräsentiert dıe Empfindungstotalität übergroße Mannigfaltigkeit von Vorstellungen gleichsam im Nu; dies aber in besonderer Lebhaftigkeit, während die rationale Analyse zwar

der der eine nun die

Einzelheiten

eben

entfaltet

und

ın ihrem

Zusammenhang

offenlegt,

aber

damit der Unmittelbarkeit andringender Eindrucksvielfalt verlustig geht®”. 46

Vgl. AThDE 58: »In der Welt sind alle Theile auf das vollkommenste untereinander verknüpft. Das Mannigfaltige also, das durch die verwirrte Vorstellung, als Eins vorgestellt wird,

ist ein Continuum,

wovon

unser

Körper und

seine Veränderungen

das

nächste Medium sind, wodurch wir die übrige Welt anschauen, und das Mannigfaltige in derselben

vorstellen.

- Vgl.

Kants

Kritik

an

Eberhards

Satz,

daß

»alle endliche

Dinge in einem beständigen Flusse sind«: »woher weiß er [sc. Eberhard] dieses a priori von allen endlichen Dingen und nicht bloß von Erscheinungen zu sagen?« (Ueber eine Entdeckung, nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll. 2. Auflage Königsberg 1791, 27 [Weischedel, Bd. 5, 3121). 47

Analog argumentiert Eberhard in der »Sittenlehre der Vernunft« in Hinblick auf das Verhältnis des »moralischen Gefühls« zur rationalen Einsicht in das Wesen des Menschen und der übrigen Dinge. Vgl. oben 1.4.

2. Eberhards Vorstellungstheorie

Die

Behandlung

der zweiten

Aufgabe

fügt dem

127

bisher

Dargestellten

entscheidende Aspekte hinzu. Eberhard bezieht sıch hıer zunächst auf die Bestimmung des Modus des Verhältnisses der Vorstellungen zum vorstel-

lenden Subjekt, sodann aber auf den Grad der Wahrnehmung dieser Differenzierung zwischen Vorstellungssubjekt und Vorstellungsgegenstand. Denn indem zum einen im Denken aufgrund des ın ıhm erzeugten vollständigen Ordnungszusammenhanges die Selektivität der momentan verfolgten Gedanken, ihr Auswahlcharakter mitgewußt wird, kann es als sich der eigenen »Willkühr« verdankend und deshalb als Tätigkeit aufgefaßt werden. Dies ist zugleich der Grund des menschlichen Freiheitsbewußtseins, da im Denken das Gegebensein oder Gegeben-gewesen-Sein anderer Möglichkeiten immer mitappräsentiert ist, die konkret vollzogene Selektion aber dem denkenden

Subjekt als kontingente eigene Leistung zugerechnet wird?8, Empfindungen werden dagegen als passiv empfangen und ınsofern als unwillkürlich und nur bedingt steuerbar und kontrollierbar erfahren (vgl. AThDE 38f.). Und während zum andern schließlich im Denken die Differenz von Denkendem und

Gedachtem

mitgesetzt

ıst, diffundiert beim

Empfinden

- wie bei der

Farbwahrnehmung offenbar - die Grenze zwischen Subjekt und Objekt (vgl. AThDE 48). | Eberhard verfügt also über ein reiches Raster zur Erfassung der Differenz der Vorstellungsarten Denken und Empfinden. Bedenkt man, daß nach der »Sittenlehre der Vernunft« »die beste Abwechslung« sinnlich-körperlicher, ästhetischer, intellektueller und moralisch-sozialer Vergnügen (angenehmer Vorstellungen) zur Glückseligkeit gehört (SdV $ 8, S. 8)4%, so läßt sich dıes Jetzt genauer explizieren als das anthropologisch notwendige {und des-

halb sittlich zu fördernde) Zusammenbestehen von Tätigkeits- und Empfänglichkeitsbewußtsein, von Selbstausgrenzung eines Subjekts aus dem freı wogenden Meer der Empfindungen und indifferenter Diffusion in dieses, von abstraktiver Deutlichkeit und lebhafter, pluraler Verworrenheit, von Strukturierung und unübersichtlicher Mannigfaltigkeit. Zugleich wird durch

48

Vel. AThDE 35, auch 164ff. Das ändert freilich nichts daran, dal das Denken den Seinszusammenhang selbst, ın dem alles nach dem Prinzip des zureichenden Grundes geschieht, als notwendig anerkennt. Das Problem, das darın liegt, dal) dann auch der Denkakt selbst als notwendig erfolgend gedacht werden muß, sucht Eberhard in einer durchaus

ınkonsistenten

Weise

zu lösen,

ındem

er das

Bewußtsein

der Freiheit einer

Handlung nun auf einmal auf unvollständige Kenntnis aller »Theile« dieser Handlung zurückführt (vgl. AThDE 36f.). Dann müßte jedoch im Denken selbst die Annahme der Selbsttätigkeit des denkenden Subjektes als Abstraktion, wenn nıcht gar als Illusıon mitgewußt sein - was kaum ohne Selbstwiderspruch möglich sein dürfte.

49 Vgl. oben 1.2.

128

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

die Auflistung der Unterscheidungskriterien bereits dıe Interdependenz von Denken und Empfinden in Ansätzen erkennbar. Denn ist einerseits Denken bestimmt als Tätigkeit, die von einer gegebenen Mannigfaltigkeit der Emp-

findungen durch Abstraktion allgemeinere Formen, Strukturen abhebt?, so ist es eben dadurch vom Gegebensein der Empfindungen abhängig. Umgekehrt könnten Empfindungen nicht als Empfindungen eines bestimmten Empfindenden begriffen werden, wenn nicht das Denken die Unterscheidung innerer von äußeren Vorstellungen und damit die 'Herausscheidung'

eines Subjektes von Tätigkeit und Empfinden ermöglichen würde>!.

2.3. Übergänge Schon die Bestimmung des Denkens als Abstraktionstätigkeit aus der Mannigfaltigkeit der Empfindungen lenkt indes den Blick zurück auf das Initialproblem und Darstellungsziel der Vorstellungstheorie Eberhards: das Problem

der

Übergänge

der Empfindung

in Denken

und des Denkens

in

Empfindung. Bedingung der Möglichkeit solches Transfers, dessen Faktızität nach Eberhards Überzeugung unbestreitbar ist, ist wie gezeigt die kategoriale Gleichheit von Denken und Empfinden als Vorstellungsarten. Wie können also verworrene Vorstellungen deutlich werden, wie deutliche verworren? Oder genauer {in Hinblick auf den momenthaften, aktualen Cha-

rakter von Vorstellungen): wie können lebhaft-verworrene Vorstellungen deutliche nach sich ziehen, wie umgekehrt aus deutlichen verworrene fol50 Vgl. Herms, Herkunft, 83. SI

Es ist dabei allerdings zu klären, ob das alle Vorstellungen begleitende Bewußtsein der »Stätigkeit« eines vorstellenden Subjektes als sich abstrahierendem Denken verdankend tatsächlich hinreichend bestimmt ist. Zumindest ıst unklar, ob das Denken nur einen ın jedem psychischen Vorgang implizit gegebenen Sachverhalt analytisch erhellt, der dann als solcher freilich unabhängig vom Denken bestünde, oder ob ın diesem faktıschunmittelbaren Selbstbewußtsein immer schon gleichsam implizit Denken mitgesetzt ıst, so daf} kein psychischer Vorgang zureichend beschrieben wäre ohne die Erfassung einer ihm selbst immanenten Abstraktivität. Es scheint eine der Grundaporien eıner nur sekundären kategorialen Differenzierung von Denken und Empfinden zu sein, daß es auf diese Frage keine eindeutige Antwort gıbt. Denn einerseits geht Eberhard zwar aus von einer gegebenen Mannıgfaltigkeit von Vorstellungen, aus der sich das Subjekt qua Denken selber ausdifferenziert; andererseits soll das Denken jedoch als Abstraktionsprozeß analytisch vorgehen, es muß dann aber im vorgegebenen 'Material' sich selbst und anderes - als gegeben erkennen. Die Annahme der Einheit der Grundkraft nötıgt Eberhard immerhin

zu der Aussage,

daß ın keinem

Moment

eine der beiden elementa-

ren Ausprägungen der Grundkraft völlig verschwunden sein kann, wie immer dominant die je andere sein mag (AThDE 57; hier mit der faktischen Begrenztheit der Grundkraft begründet).

2. Eberhards Vorstellungstheorie

129

gen? Für die Erklärung der ersten Transformationsrichtung ist dabei das Verhältnis zur Mannigfaltigkeit ın den Vorstellungen entscheidend, bei der zweiten dagegen das zu deren Lebhaftigkeit. Bemerkenswerterweise behält Eberhard die Einheit-konstituierende

Funktion im Bewußtsein nicht allein dem Denken vor?2. Man kann deshalb nicht pauschal sagen, der Übergang vom

Empfinden

ins Denken

vollziehe

sich als Transformation von Mannigfaltigkeit in Einheit. Besser spricht man von der Überführung einer durch die (gegebenenfalls unter Dominanz einer »Hauptempfindung« - AThDE 118 - erfolgende) Zusammenballung und Konfusion einer disparaten Vielfalt von Empfindungen erzwungenen subjektiv-scheinhaften Einheitsempfindung in eine distinkte, artikulierte und insofern kommunizierbare Einheitserkenntnis. Die Einheit der Empfindung sieht so aus, daß bei starker innerer Erregung (die immer mit angenehmer oder unangenehmer

noch

Tönung verbunden

ıst, vgl. AThDE

78) dıe Seele nur

sich selbst empfindet, gleichsam von sich selbst benommen ist (vgl.

AThDE 116). Doch dieser Zustand ist instabil. Die Seele kann sich darın und deshalb auch den Zustand selber nicht bewahren. Ein »Theil« (AThDE 116) des aufgrund seiner unmittelbaren Totalität »blendenden Anblickes (...) schwindet« alsbald »ın Dunkelheit weg und läßt nur noch der allmählı-

gen Abwechslung einiger einzelner Ideen Platz« (AThDE 117). Sind diese übrigbleibenden »Ideen« mit den »Hauptideen«, d.h. mit den den Charakter der Totalempfindung dominierenden und prägenden Einzelempfindungen »gleichartig« und behalten sie zugleich aufgrund des Wechsels des Appräsentationsmodus den »Reitz der Neuheit«, so »beschäftigen« sie die Seele weiterhin, allerdings »um desto angenehmer«, da dıe Vorstellung ihren bedrängenden

und totalisierenden Charakter verloren hat und nunmehr

im

Medium der Reflexion erfaßt werden kann. Der »wieder freyathmende Mensch«, dessen »dunkle Sehnsucht, von der Anstrengung [se. der Anstrengung der Seele inmitten der mitreißenden - angenehmen oder unange-

nehmen - Totalempfindung] (...) abgespannt zu werden«, erfüllt ist, Kann jetzt Gefallen daran finden, die vergangene Empfindung in ihren Teilen und in ıhrem distinkten Zusammenhang

zu analysieren (alle Belege dieses Ab-

schnittes: AThDE 117). Dies geschieht im Medium der Sprache. Rationale Reflexion impliziert also eine Versprachlichung von Empfindung. Denn Denken ist nach Eberhard symbolische Erkenntnis, im Empfinden ist die Erkenntnis hingegen anschauend, weshalb beim Denken die Vorstellung des Zeichens klarer ıst als dıe der Sache, beim Empfinden aber umgekehrt (vgl. AThDE 113f.). Die Versprachlichung der Empfindung bringt mit sıch 52 Das geht auch aus AThDE 75 - 77 hervor.

130

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

die Möglichkeit (und verdankt sich in gewissem Maße bereits dem Bedürfnis), die Empfindung anderen mitzuteilen (vgl. AThRDE 117). Dabei bleibt freilich die Distanz zur konkreten (unmittelbaren; Empfindung zugleich Er-

möglichungsbedingung und Preis der Kommunikabilität. Die Reflexion kommt gleichsam immer zu spät, die Konkretheit der vergangenen Empfindung bleibt dem,

der empfunden

hat, selbst auf ewig verschlossen>?,

und

weit mehr noch denen, denen er seine Empfindung - d.h.: seine Beschreibung jener Empfindung - kommuniziert. Am Problem der Mitteilung von Empfindungen

läßt sich auch die Dar-

stellung des Überganges von Denken in Empfinden ansetzen. Denn eine solche Mitteilung wäre sinnlos, wären nicht an bestimmte sprachliche Ausdrücke bestimmte Empfindungsmöglichkeiten ankristallısiert, die es erwartbar machen, daß die Verwendung eben dieses Ausdrucks eben jene Empfindung evoziert. Zwar ist die konkrete Ausformung dieses Zusammenhanges immer Resultat einer je individuellen Geschichte der »Vergesellschaftung [= Verbindung] der Ideen« (AThDE 110), so daß ein Begriff bei keinen zwei Menschen dieselben Konnotationen erweckt, und ebenso ist umgekehrt der lexikalische Bedeutungsgehalt eines Wortes so allgemein, daß es keine individuelle Empfindung ganz treffen kann; dies relativiert den

Zusammenhang aber nur, hebt ihn Vorgänge innerhalb einer einzelnen

nicht auf. Das gilt schon für die Seele: Das Denken stößt auf eine

»Partialidee«, »dıe auf einmahl eine beträchtliche Menge einzelner Vorstellungen erweckt«, so daß die daraus zusammenfließende Empfindung »nunmehro das Feld der Seele allein einnimmt« und »beherrscht« (AThDE

110), solange bis die Intensität der Totalempfindung sich wiederum soweit abgeklärt hat, daß aus der Konglomeration von Empfindungen eine eine gewisse Klarheit gewonnen hat und deshalb das Denken

zu genauerer Ana-

lyse reiz >4. Die Kenntnis der Funktion solcher Partialideen als »Mittelidee« (AThDE 111) zwischen Denken und Empfinden ist nun aber ebenso wichtig für die sprachliche Kommunikation. Eberhard empfiehlt sie daher besonders Dichtern

und

Rednern,

die über Sprache emotionale

oder gar handlungs-

53

Vel. AThDE 140f. Eberhard begründet damit, warum der Mitteilung von angeblich ım Zustand der Ekstase pewonnenen Offenbarungen so wenig zu trauen ıst; vgl. AThDE 142.

54

Vgl. AThDE 110f. Man beachte die feine Verschiebung im Vergleich zu Eberhards oben dargestellter Beschreibung des Übergangs von Empfinden in Denken. Jetzt führt nämlich der Intensitätsverlust der Totalempfindung selbst die Klarheit mindestens einer Partialvorstellung mit sich, wodurch das Denken (zu weiterer Klärung?) allererst provoziert wird, während oben dıe Abklärung der Empfindung die allein durch das Denken selbst geleistete 'Aufklärung‘ ermöglichte.

2, Eberhards Yorstellungstheorie

131

motivierende Wirkungen erzielen wollen (AThDE 111). Zudem entscheidet die Korrespondenz von Anlaß und Wirkung, gefaßt als Zusammenhang von Sprache, Mittelidee und Handlung (Reaktion), etwa in Dramen über die »Consistenz« (AThDE 121) der auftretenden Charaktere und mithin über ihre »Wahrscheinlichkeit« (Realıstik) (ebd.). Dieser 'Konsistenz-Test’ um-

faßt im übrigen sowohl das Gefälle von Gedanke, Empfindung und Handlung beim einzelnen selbst als auch dessen Reaktion auf Sprache und Mittelideen Anderer. Diese Überlegungen schließen die Aufgabe ein, das »große Geheimniß« des »Uebergang(s) des Denkens in das Wollen und Handeln zu entdecken« (AThDE 61). Wie die »Erfahrung lehrt«, kann dieser Übergang nur »durch

das Gebiet des Empfindens geschehen« (ebd.) - wobei die Präposition hier sowohl instrumental als auch medial zu verstehen ist. Es gıbt mithin weder Willensbestimmung noch Handlungsvollzug unabhängig vom Empfinden. Denn da Eberhard mit Leibniz eine genaue Korrespondenz zwischen Seele und Leib voraussetzt und da »bey den Bewegungen des Körpers unendlich

viele Triebräder in Bewegung zu setzen« sind, muß er eine analoge Unendlichkeit seelischer Bewegungen, also Vorstellungen, annehmen. Diese Elementarvorstellungen sind in ihrer Vereinzelung dem Bewußtsein verbor-

gen’®.

In der Empfindung

»Einer größern«

Vorstellung

erscheinen aber eine Vielzahl von ihnen zu (AThDE

61) gebündelt.

Je mehr kleine Vor-

stellungen nun in einer größeren vereinigt werden, desto größer ıst deren Wärme; stark ist sie entsprechend dem Maße, wie sie »die Begehrungskräfte

und

den

Körper

in

Bewegung«

setzt;

ihr

»Licht«

heißt

hingegen

ihr

»höher(er) Grad an Klarheit«°%. Folgt man diesen Bestimmungen, so leuchtet ein, daß Klarheit (d.h.: Denken) allein zwar über rechtes Handeln orientieren, dieses aber nicht selber herbeiführen kann, und daß umgekehrt

Wärme und Stärke der Vorstellung (d.h.: Empfinden) ohne das Licht der 55 Vgl. ebd. D.h. nicht, daß sie kein Thema der Wissenschaft sein könnten. Eberhard wehrt sich entschieden gegen die These, nur empirisch Wahrnehmbares habe Wahrheitswert, dıe »Erforschung des Unsichtbaren und Einfachen« sei dagegen erkenntnistheoretisch unzulässig (vgl. AThDE 61f.). Hier setzt Kants scharfe Kritik an: Eberhard verschleiere systematisch dıe Inkonsistenz seiner Theorie der Elementarvorstellungen, die er einmal als prinzipiell empfindhare, nur aufgrund der Einschränkung des menschlichen Wahrnehmungsvermögens faktisch unsichtbare Elementarteile der sinnlichen Erscheinungswelt, ein andermal aber als die nur der Vernunfterkenntnis erschlossenen

nicht-sinnlichen einfachsten ontologischen Einheiten bestimme. Vgl. Entdeckung, besonders 25 - 40 (Weischedel, Bd. 5, 310 - 320). 56 AThDE 62. Eberhard spricht hier nicht von » Vorstellung«, sondern von »Erkenntniß«, meint aber offensichtlich nicht die rationale Einsicht im engeren Sinne, sondern alle Prozesse des Denkens und Empfindens.

132

l. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

Klarheit nur zıellose, unstrukturierte, ım genauen Sinne unwillkürliche Handlungen bewirken’. Doch Eberhard läßt völlig unbestimmt, wie seine 57

Eberhards Verwendung des Begriffs Klarheit in seiner Zuordnung zur Deutlichkeit ıst nicht konsistent (vgl. schon oben 2.2., Anm.

45).

Es lassen sıch mindestens vier Ver-

wendungen unterscheiden: 1) steht an der hier zitierten Stelle AThDE 62 Klarheit synonym für Deutlichkeit im Sınne von verhaltensorientierender rationaler Erkenntnis im Gegensatz zur verhaltensmortivierenden »Wärme« und »Stärke« von Vorstellungen (vgl. auch

AThDE

37

und

114};

dies entspricht

der cartesischen

Tradition,

die »klar

und

deutlich bzw. distinkt« ineins setzt. 2} nennt er AThDE 70f. »dunkle, klare und deutli-

che Perceptionen« als die drei Arten von Vorstellungen, die sıch freilich nur »in abstracto« dergestalt »klassificiren« lassen, ın concreto hingegen in »unmerklichen Abstuffungen«, ın »unnennbare(r) Verschiedenheit von Graden« existieren. Dabeı verlangt das »Gesetz der Stätigkeit (...), daß eine jede Perception durch alle diese unmerklichen Stuffen müsse gegangen seyn, wenn sie von der niedrigern zur höhern kommen, aus dunkel klar, und aus klar deutlich werden soll«. De facto gibt es also nur drei ineinan-

der übergehende Zustandstypen jeder Vorstellung. An dieser Stelle folgt Eberhard also durchaus »der alten, noch bei Kant begegnenden Konzeption, nach der die Deutlichkeit ein höherer Grad der Klarheit ıst« (gegen Moxter, Güterbegniff, 36, der Eberhard von dieser Konzeption generell abhebt). Die Differenz von Klarheit und Deutlichkeit bleibt dabeı freilich unerörtert. Eine solche Differenz geht dagegen 3) aus AThDE 173-180 hervor, wobei freilich die Stetigkeit des Überganges problematisch wird. Dort wird die Unterscheidung von Außenwelt und Innenwelt daran festgemacht, daß äußere Sinneseindrücke klarere (d.h. lebhaftere) Empfindungen darstellen als die inneren Bilder der Einbildungskraft. Eine Steigerung der Klarheit dieser inneren Bilder läßt zum eınen dıe Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt verschwimmen (so erklärt Eberhard den Wahnsinn);

sie schwächt zum anderen aber die Deutlichkeit der Vorstellungen, von der

aber »Alle Richtigkeit im Urtheilen und Schließen« abhängt, und vermindert so die Fähigkeit zu sıttlicher Verhaltenssteuerung {vgl. 179). Klarheit als Lebhaftigkeit der Empfindung tntt so ın einen Gegenrsarz zur Deutlichkeit. Selbst ım anzustrebenden Fall einer

Balance

von

»Lebhaftigkeit

und

Kraft«

(also

Klarheit)

und

»Würde,

(...} Aus-

breitung, (...), Wahrheit und Gewißheit« (sc. Deutlichkeit) bleibt eine kategoriale Differenz »beyder Kräfte« gewahrt, wobei die Klarheit auf die Seite zu stehen kommt, als deren Gegensatz sie unter 1} bestimmt wurde. Dasselbe gilt 4) für AThDE 54, wo eine Art funktionaler Zuordnung von Klarheit und Deutlichkeit versucht wird: Klar ıst die lebhafte Empfindung einer Fülle gleichwohl distinkr wahrgenommener Vorstellungen in einem Zeitteil. Da die Seele aufgrund ihrer »begränztein) Kraft“ nicht »alle die Partialvorstellungen mut ıhren Merkmahlen, und also besonders zu denken [sıc!]»« und damit festzuhalten vermag, geht die Klarheit verloren, »fallen die Bestandtheile einer Empfindung in Eins zusammen«, diese wırd dunkel bzw. verworren. Deutlichkeit liegt hier ın der ın der klaren Empfindung enthaltenen Einheit distinkter Wiıelheit. Deutlichkeit steht mithin im Dienste der 'Klärung’ (Lebhaftmachung). Dies steht aber im Widerspruch zu dem (unter 3 vorausgesetzten) »Gesetz der Seelenoperationen«, wonach mit steigender Deutlichkeit ein Verlust an Lebhaftigkeit einhergeht (vgl. AThDE 77). - Schleiermachers Unterscheidung und Zuordnung von Klarheit und Deutlichkeit im »Freiheitsgespräch« (vgl. unten Kap. 4, 2.) knüpft eigenständig an die hier unter 3) und 4) genannten Überlegungen an. Vgl. dazu auch Moxter, Güterbegriff, 36 - 38, der freilich die terminologischen und sachlichen Inkonsistenzen beı Eberhard nicht benennt.

2. Eberhards Vorstellungstheorie

133

Voraussetzung der strikten Korrespondenz von Körper und Seele sich mit dem Gedanken vereinbaren läßt, daß eine Vorstellung aufgrund ihrer Stärke Handlungen verursacht, daß also die Seele den Körper beeinflußt. Er verbirgt das damit gegebene Problem, indem er den problematischen Überschritt schlicht in die Definition der Stärke hineinzieht.

Er erklärt damit die

Möglichkeit der Umsetzung von Handlungsorientierung in entsprechendes Handeln gar nıcht, sondern behauptet sie nur. Gemäß dem KorrespondenzModell könnte der Sachverhalt allenfalls so gefaßt werden, daß der Vollzug einer Handlung das Gegebensein einer entsprechend warmen und starken Empfindung indiziert, während das Nichterfolgen einer deutlich als sittlich gut vorgestellten Handlung auf eine fehlende Wärme und Stärke der Empfindung hinweist. Umgekehrt müßte dann freilich dıe durchaus mögliche Übung und Beeinflussung der Vorstellung durch andere Vorstellungen auf-

grund des Parallelismus zwischen Seele und Leib ipso facto

eine Übung

und kausale Beeinflussung der Realisierung von Körperkräften durch andere Körperkräfte mit sich führen. Eine kausale Verknüpfung von seelischen Kräften mıt körperlichen Bewegungen kann demnach nur uneigentlich aus-

gesagt

werden;

Wahrnehmung

es handelt des

sich dabei

um

Zusammen-Sichereignens

eine (Fehl-)Interpretation von

Seelenregung

und

der Kör-

perbewegung. Die Metaphorik des »Übergangs« wäre dann allerdings zwar für das Verhältnis von Denken und Wollen, aber keineswegs für dıe Beziehung von Denken und Handeln angemessen.

Man spräche besser von wech-

selseitiger Erschließbarkeit von psychischen Prozessen aus physischen und umgekehrt. Aus angesammelten Erfahrungen solcher Erschließungen ließen sich so Regeln abstrahieren, die dazu anleiten, welche rationalen Handlungsorientierungen am besten mit welchen Empfindungen wıe verbunden

werden

müssen,

damit erfahrungsgemäß die gewünschte Handlung damit

kooptiert ist, und wie (durch welche innerpsychischen Mittel) zudem die Empfindungen so intensiviert (in ıhrer Wärme und Stärke gesteigert) werden können, daß sie diesem Zwecke dienlich sind. Hıer haben wiederum

die oben dargestellten Gesetzmäßigkeiten des Übergangs Empfinden und umgekehrt ihre Funktion.

von

Denken

in

2.4. Induktion und Deduktion im Spektrum der Vorstellungen

Die dritte Aufgabe, die sıch einer Fundierung der psychischen Wirklichkeitskonstitution in der Einheit des Vorstellungsbegriffes stellt, ıst es - wie

134

l. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

gesagt”? - zu zeigen, daß damit die Menge psychischer Prozesse vollständig erfaßt werden kann. Hat Eberhard nun Denken und Empfinden als die zwei

für das bewußte Leben elementaren Vorstellungsarten erwiesen?? und hat er die Möglichkeit ihres Übergangs in das jeweils Andere aufgezeigt6®, so bestimmt er jetzt reines anschauungsloses Denken und pure Empfindung als die zwei Extreme eines Spektrums, innerhalb dessen sich alle möglichen Arten von Vorstellungen als spezifische Mischungsverhältnisse von Denken und Empfinden einer Stelle eines stetigen Zusammenhanges zuordnen lassen. Die Extreme sind dabei nur Grenzbestimmungen, die in der Realität

nicht vorkommen®!.

Zugleich jedoch kennzeichnet dieser lückenlose, ste-

tige Zusammenhang den Weg, auf dem jede Vorstellung aus Dunkelheit in Deutlichkeit überzuführen ıst. Es ıst nämlıch außerordentlich wichtig zu sehen, daß der Übergang von Empfinden in Denken sich nicht in erster Linıe als Wechsel des Gegenstandsbereiches - d.h. z.B. von sinnlichen auf

nıcht-sinnliche Gegenstände bzw. von sinnlicher auf nıcht-sinnliche Erkenntnis - vollzieht, sondern als Übergang von Vorstellungen jedes Gegenstandsbereiches aus dem Zustand der Verworrenheit ın den Zustand der Deutlichkeit, welche Zustände charakterisiert sind durch ein je spezifisches

Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit (vgl. AThDE 77). Genauer muß man freilich sagen: Eberhard versucht ın einer nicht immer ganz klaren Weise, die Klassifikation von Vorstellungen über ihren 'Aggregatzustand' zu verbinden einerseits mit einer Theorie von Sphären der Gegebenheitsweise von

Vorstellungen

(nämlich

als das Schöne,

das Gute

und das

Wahre), welche Sphären mit der Unterscheidung von sinnlichen und nichtsinnlichen Gegenständen zwar nicht ıneins fallen, aber doch nicht völlig unabhängig davon sind, und andererseits mit der Konzeption von Durchgängen einer Vorstellung durch alle "Aggregatzustände'. Das Schwierige daran ist dıes, daß man dann auch vom Empfinden nıcht-sinnlicher Vorstellungen (ebenso wie umgekehrt vom Denken sinnlicher Vorstellungen)

sprechen können muß, nämlich genau dann, wenn sie sich im Zustand der 58 Vgl. oben 2.1. 59

Vgl. oben 2.2. - Ihre Wahrnehmbarkeit scheint Denken und Empfinden zu unterscheiden von jenen »unmerklichen« Elementarvorstellungen, aus denen sıch Gedanken und Empfindungen allererst zusammensetzen.

60 Vgl. oben 2.3. 61

Eberhard vergleicht deshalb die Versuche, die Philosophie so von aller Empirie zu reinigen, daß sie mathematische Evidenz erreicht, mit der Entwicklung eines perpetuum mobile,

wobei allerdings nicht ganz deutlich wird, ob er eine vollständige Mathematı-

sierung der Philosophie prinzipiell oder nur nach dem seinerzeitigen Stand ihrer Ausbildung für unmöglich hält. Vgl. AThDE 115.

2, Eberhards Vorstellungstheorie

135

Verworrenheit (bzw. umgekehrt: der Deutlichkeit) befinden, und daß Eberhard diesen nicht-sensualistischen Gebrauch des Empfindungsbegriffs

{ebenso wie das nicht-apriorische Verständnis des Begriffs des Denkens)

nicht hinreichend kenntlich macht und auch nicht konsequent durchhält.62 Dies bringt es mit sich, daß der Übergang von Verworrenheit in Deutlichkeit nicht als ausgehend von der phänomengesättigten sinnlichen Wahrnehmung

zu den

dürren,

von

aller Sinnlichkeit

abstrahierten

und

mithin

»blinden« (AThDE 114) Gedankenoperationen hinführend beschrieben werden kann. Eberhard legt zwar mißverständlicherweise seine Darstellung der "Verdeutlichung’ von Vorstellungen genau so an: Der Behandlung der Vorstellungen der verschiedenen Sinne (vgl. AThDE 78-84) folgt die der nichtsinnlichen (»unkörperlichen«) Vorstellungen (AThDE 85ff.), dıe über die

»transcendentalste Idee Erkenntnis des Wahren

des Guten« (AThDE 89) hinaus in der reinen kulminiert (vgl. AThDE 94ff.). Eberhard fördert

dieses Mißverständnis überdies noch dadurch, daß er im Guten, das auf verschiedene Weise, als Sichtbares in Gestalt des Schönen und als Idee,

Gegenstand des Vorstellens sein kann, die »Gränzlinie« zwischen Empfinden und Denken verortet (vgl. AThDE 90) und damit den Eindruck verfestigt, als vollziehe sıch Denken in der Abstraktion von der Sinnlichkeit. Eine genauere Untersuchung zeigt jedoch, daß Eberhard sinnliche und unkörperliche Vorstellungen nicht in logischer Sukzession, sondern parallel behandelt unter dem gemeinsamen Aspekt, wie sie zu Deutlichkeit gebracht werden können. Ebenso ist das Gute nicht deswegen der Einheitspunkt von Denken und Empfinden, weil es sowohl sinnlich als auch nıcht-sinnlich vorgestellt werden kann, sondern weil es sowohl unter primärer Hinsicht auf die in ihm vereinte Mannigfaltigkeit als auch unter primärer Hinsicht auf seine Einheit betrachtet werden kann. Schließlich ist das »reine Denken,

oder die einfachste Idee von sich selbst prädiciret«, der Satz der Identität {A=A) (AThDE 96), Basıs aller (und nicht nur der sinnlichen) Bestimmtheit. Freilich mag die sinnliche Wahrnehmung deshalb zu Recht am Anfang

der Induktionsskala stehen, weil in ihr die Kopräsenz von Verworrenheit und Lebhaftigkeit am evidentesten ist und weil hier am besten das »Gesetz der Seelenoperationen« eingeschränkten Wesen

faltige,

62

die Wärme

demonstriert werden kann, nach dem »bey einem (...) ın eben dem Verhältniß, worınn das Mannig-

und

Stärke,

ın einer Totalvorstellung

Vgl. aber Schleiermachers Überlegungen stellungen Gegenstand

zunimmt,

die

im »Freiheitsgespräch«, daß deutliche Vor-

(Inhalt) von klaren (d.h.

lebhaften)

Vorstellungen

nen und dergestalt in der Seele gegenwärtig werden. Vgl. unten Kap. 4, 2.

werden

kön-

136

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

Intensität der Einheit oder die Deutlichkeit abnehmen [wird], und umgekehret« (AThDE 77). Die 'Klärung' einer sinnlichen Empfindung trägt ihren Preis unverkennbar an sich, nämlich den Verlust konkret-vielfältiger Nuancen. Dieser Preis ist nur deshalb erträglich, weil das Bewußtsein der

Einheit als der erlangte 'Gegenwert' ipso facto Vergnügen vermittelt (vgl. AThDE 76) und weil dıe so entschlackte und homogenisierte und ıhres bedrängenden Charakters entledigte Empfindung im Modus der Erinnerung präsent bleibt, während sie doch in ihrer unmittelbar-konkreten Gestalt zu

komplex und darum nicht bestandsfähig ware’,

Es scheint, daß Eberhard

diesen Vorgang analog auch bei den »unkörperlichen Vorstellungen« annımmt. Aber schon das Problem, anzugeben, um was für Vorstellungen es sich dabei eigentlich handelt, wenn nicht um Gedankenbestimmungen, zeigt Eberhards Schwierigkeit, die Unterscheidung zwischen sinnlichen und

nicht-sinnlichen Gegenständen von Empfinden und Denken ihrerseits noch einmal zu unterscheiden von der Unterscheidung zwischen Empfinden und Denken selbst. Denn sollte es sich bei den unkörperlichen Vorstellungen um die Erfassung etwa von Gestalt, Struktur etc. an empirischen Gegenständen handeln, so leuchtet zunächst nicht ein, was diese Bestimmungen, die doch offenkundig Adsiraktionen sind, noch von Gedanken einerseits,

andererseits aber - wenn ıhr Empfindungscharakter betont wird - von sinnlichen Vorstellungen ım Zustand der Verwortenheit abheben sollte. Freilich scheint Eberhard für bestimmte Grade der Abstraktivität von Vorstellungen gleich welcher Art weiterhin den Terminus »Empfindung« zu reservieren.

So wird etwa an den sinnlichen Empfindungen, die übrigbleiben, wenn nach einer großen inneren Erregung (»Zustand des Erstaunens und des Schauderns«, AThDE 78) ein Großteil der dieser innewohnenden Partialvorstellungen in das Dunkel des Vergessens verschwunden ist (vgl. AThDE 116f.), ihre Einheit vorgestellt, »indem (...) die Seele sich die Uebereinstimmung, oder das, worinn sıe übereinstimmen, klarer vorstellet, als ihre

Verschiedenheit« (AThDE 78f.). Diese »niedrigste Staffel« der Einheit entsteht »aus dem geringsten Vereinigungsgrunde, nämlich aus der Vorstellung des bloßen Nebeneinanderseyns, es sey dem Raume oder der Zeit nach, und der Verdunkelung ihrer Unterschiede« (AThDE 79). Die so erzeugte »Continuität« (Gleichartigkeit) der verbliebenen Partialvorstellungen macht die Empfindung angenehm, während die »Unterbrechung dieser Continuität« als unangenehm empfunden wird (ebd.). Bei der Behandlung der

unkörperlichen heitskategorie, 63

Vgl. oben 2.3.

Vorstellungen nennt Eberhard als analog schwache Eındie »wenig Entwicklung und Deutlichkeit« erfordert

2. Eberhards Vorstellungstheorie

137

(AThDE 86) und deshalb die so homogenisierten Vorstellungen im Zustand der Empfindung beläßt, dıe »Aehnlichkeit«, die »aus nichts anders, als aus der Bemerkung gewisser gemeinschaftlichen Bestimmungen« besteht (AThDE

85).

Empfindungen

bleiben

die unter Kategorien

von

Kontinui-

tät/Diskontinuität, Ähnlichkeit/Unähnlichkeit sowie auch »Proportion«/Disproportionalität (AThDE 97) erfaßten Vorstellungen unter anderem auch deshalb, weıl sıe sich relativ mühe- und zwanglos einstellen und also eine

geringe »Änstrengung« der Abblendung des Mannigfaltigen verlangen (vgl. AThDE 87), so daß sıe nicht nur als weitgehend passiv empfangen, sondern auch als in sich noch ein recht hohes Maß an Pluralität enthaltend erfahren werden.

Dies ıst auch dıe Bedingung

dafür, daß sie noch zum

Gebiet des

Schönen zählen (vgl. ebd.). Das Gure ist dagegen bereits eine höherstufige Abstraktion, dıe mit einem höheren Bewußtsein der Selbsttätigkeit verbunden ist. Beim Guten wird nämlich die Zweckmäßigkeitr von etwas für etwas vorgestell, mithin ein Mittel-Zweck-Zusammenhang etabliert. Diese »Finalverknüpfung« (AThDE 89) kann zwar zunächst aus der empirischen

Erfahrung abgelesen werden (ein Gegenstand ist z.B. tauglich als Werkzeug für eine bestimmte Tätigkeit), aber da sıch herausstellt, daß nıcht das Mittel

ım Blick auf den beliebigen Zweck, sondern auch der Zweck ın sich selbst als gut erwiesen werden muß, muß »die abgezogene [=abstrakte] Idee von einem unabhängigen und absoluten Gute« (AThDE 89) entwickelt werden. Das von allen partıkularen Zwecken und insofern von allen Einschränkungen abstrahierte absolut Gute muß bezogen sein auf den Begriff der Vollkommenheit, insofern aber das relativ Gute charakterisiert war als Tüchtigkeit zu etwas, ist das absolut Gute bestimmt als reine Kraft (vgl. ebd.). Das Gute ıst nun aus dem Grunde die »Gränzlinie« zwischen Emp-

finden und Denken, daß die Seele sowohl die konkreten Realisierungsgestalten des Guten in ihrer Distinktheit wahrnehmen, und d.h. dann: im Gebiet des Schönen empfinden kann, aber nur dann, wenn sie ebenso deren kategorialen

Einheitsgrund,

in ihrer völligen

die »transzendentalste Idee des Guten«

Abstraktheit als Xraft? und

Vollkommenheit

(ebd.),

zu denken

gelernt hat, d.h., das Gute ım konkreten Zusammenhang erkennen kann, Weil Empfindung also nur dıe vage Einheit von Phänomenen, aber nicht

deren kategoriale Identität zu erfassen vermag, kann sıe konkret Gutes gar nicht als Gutes identifizieren (vgl. AThDE 92!). Umgekehrt schließt das Denken des Guten einen Realisierungsimpuls ein, der die konkrete Diversi-

fikatıon des Guten ın vielfältige Zusammenhänge ımpliziert; dafür ıst nun wiederum das 'Pluralitätsorgan‘ und Motivationszentrum Empfinden unerläßlıch, In der moralischen Güte wird es deshalb am weitesten bringen, wer

138

I. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

»die moralischen Wissenschaften studiret, und zugleich durch Uebung (...) sich zur Empfindung des Sittlichschönen (...) bildet« (AThDE 94).

Abstrahiert man den Identitätsbegriff von allem Objektbezug, also auch von dem auf das Gute und Vollkommene, so erreicht man schließlich als den Bereich der allereinfachsten, deutlichsten, aber auch inhaltsärmsten und formalsten Bestimmung das Wahre (AThDE 94), Dies geschieht in zwei

Schritten.

Zunächst

erfolgt die Wesensdefinition

eines Begriffes,

in der

zwar von aller kontingenten Mannigfaltigkeit abstrahiert wird, in der aber immerhin noch die verschiedenen konstitutiven »Merkmale« (ebd.) des Begriffes analysiert werden. Hier wird noch erwas gedacht. Im »reine(n) Denken« hingegen wird nur noch »die einfachste Idee«, nämlich die Idee der Identität selbst, »von sich selbst prädiciret« (AThDE 96).

Alle diese Gedankenbestimmungen werden durch Abstraktion gewonnen, d.h. durch Verringerung der ın der Empfindung enthaltenen Elementarvorstellungen und durch Homogenisierung der verbleibenden Vorstellungen, durch Abhebung und Systematisierung der Merkmale der Totalvorstellung und schließlich durch Applikation des Identitätsbegriffs auf sich selbst. Dieser Abstraktionsprozeß wird aber zugleich als Analyse verstanden: Was der Gedanke deutlich bestimmt, ist in der Empfindung verworren enthalten. Die Wirklichkeit der Kraft etwa wird faktisch in jeder Bewegung wahrgenommen; erst dıe abstrakte Kenntnis der Kraft an sich ermöglicht aber die Einsicht in den kausalen Zusammenhang und die kategoriale Identität aller Bewegungen. Umgekehrt bleiben damit die abstraktesten Bestimmungen des Denkens rückgebunden an den empirischen Erfahrungszusammenhang, aus dem und zu dessen Ergründung sıe abstrahiert wurden. Man muß dann allerdings festhalten, nicht nur daß es deutliche und verworrene Vorstellun-

gen daß der eine

und unendlich viele spezifische Mischformen aus diesen gibt, nicht nur jede Vorstellung aus dem Zustand der Verworrenheit ın den Zustand Deutlichkeit übergehen kann, sondern auch, daß in diesem Übergang Identität der Vorstellung gewahrt bleibt, deren dıe Seele im Gedanken

allererst gewissermaßen

ansichtig wırd.

Das was diese Identität ausmacht,

ist freilich - je deutlicher die Vorstellung desto stärker - das für die individuelle Vorstellung Unspezifische, das was sie mit immer mehr anderen Vorstellungen gemeinsam hat. Denn je deutlicher eine Gedankenbestimmung Ist, desto unspezifischer, formaler, aber eben auch universaler ist sie. Deshalb kann Eberhard den Gottesgedanken als den »deutlichste(n)« Gedanken bezeichnen (AThDE 230): Das deutliche Denken repräsentiert die All-

gegenwart und Universalität Gottes, indem es die allem Seienden gemeinsame Bestimmtheit artikuliert. Die Übung der analytischen Durchdringung der Weltwirklichkeit gibt mithin »den einzigen Weg an die Hand, die Idee

2. Eberhards Vorstellungstheorie

139

von Gott in dem ungebildeten Verstande zu entwickeln, und in dem gebildeten anschauend und sinnlich zu machen« (AThDE 231). Mit wachsender Kenntnis dessen, was die Welt im innersten zusammenhält, wächst demnach

sukzessive auch die Gotteserkenntnis. Führt etwa die oftmals wiederholte verworrene Wahrnehmung von »Zufälligkeit und Causalität« (AThDE 230) ın einzelnen Teilen der Welt zur Erkenntnis des kausalen Zusammenhanges

der Welt überhaupt, so wird der Regreß »von einer wirkenden Ursach zur andern

endlich

zur

höchsten

[Ursache]

brnngen«

(AThDE

230f.),

und

»entwickeln« »wir in diesem Anschauen (...) auch dıe Ideen von Harmonie und Schicklichkeit (...), je mehr Bestimmungen wir in dem angeschauten Welttheile wahrnehmen: so wird Wahrnehmen einer verständigen

uns das immer mehr und mehr zu dem Ursach hinleiten« (ebd.; Hervorhebung

von mir). Offenkundig sucht Eberhard also dabei die spinozistische Konsequenz einer Identifikation des Gottesbegriffs mıt dem rational vollständig transparenten Wirklichkeitszusammenhang zu vermeiden; es ist aber nıcht ersichtlich, wie dann der Gottesgedanke nicht als zu der Erkenntnis des vernünftigen Zusammenhanges der Welt Ainzurretend und insofern von dieser verschieden soll gedacht werden können. Die Einheit und Einfachheit des deutlichsten Gedankens muß aber um seiner Formalität und Universalität willen gewahrt bleiben. Dies kann jedoch auch nicht dadurch geschehen, daß der Gottesgedanke als unmittelbares Implikat des Satzes der Identität

verstanden wird, da Eberhard den Gottesbegriff selbst als Resultat eines Schlusses bestimmt. Eberhard kann daher zwar die Nichtempirizität Gottes, seine Nichtidentität mit irgendeinem Weltteil, sowie seine Universalität aus-

sagen, aber er gerät in den Widerspruch, daß er entweder eine Identifikation

Gottes

mit

dem

Weltzusammenhang

argumentativ

nıcht

verhindern

kann oder daß ihm die Einheit von Welt- und Gotteserkenntnis zerbricht. Beides ıst nach seinen Voraussetzungen unmöglich und zerstört Aufbau und

Funktionszusammenhang des Ärgumentationsganges. Eberhard teılt hier dıe Schwierigkeiten aller Versuche, Spinoza in der Annahme der vollständigen rationalen Einsichtigkeit der Wirklichkeit nicht nachzustehen, deren monistische Konsequenz aber durch Verbindung mit einem theistischen Konzept von Gott als der verständigen Weltursache zu vermeiden.

2,5. Charakter und Charakterbildung Ebenso wenig wie »der Anblick der Welt (...) einen Augenblick der nämliche

bleibt«,

dauert

»der

Zustand

der Seele

einen

Augenblick

ohne

Um-

wandlung« (AThDE 64, vgl. 176). Sowohl die Vorstellungsinhalte als auch

140

l. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

die Weise von deren Appräsentation sind also ın beständigem Wandel und Wechsel begriffen. Der Erhöhung der Beschreibbarkeit dieser 'basalen Unruhe' der Seelenoperationen und ihrer konkreten Abfolge sowie der in dieser dennoch möglichen Strukturbildungen galt ja alle Mühe von Eberhards Vorstellungstheorie. Indes, die unendliche Pluralität seelischer Bewegun-

gen, die Variabilität und Veränderungssensibilität psychischer Aktualereignısse, die unüberschaubar vielfältige Auflös- und Rekombinierbarkeit von "Zusammenballungen' elementarer Vorstellungen nötigen zu Rückfragen an

das Verständnis der all diesen Prozessen in irgendeiner Weise zugrundeliegenden Seele selbst. Das Gefühl von deren Einheit hatte die Suche nach einem Einheitsgrund bzw. einer fundamentalen Identität aller Seelenopera-

tionen provoziert und legitimiert6* und sollte ihrerseits durch den Erweis der

Einheit

der

Grundkraft,

nämlich

des

Vermögens

Vorstellungen

zu

haben, begründet werden. Wie aber soll nun die individuelle Eigenart der Seele selbst bestimmt werden,

wenn

diese einerseits nicht nur in der for-

malen Struktur der alle Vorstellungen begleitenden Selbstreferentialität gefunden werden soll (die als solche ja allen Seelen gemeinsam ist und deshalb als prıncıpuum ındıvıduationis nıcht in Frage kommt) und wenn ihr andererseits ihre eigenen Vorstellungen nicht rein äußerlich sein sollen?

Wie kann umgekehrt gezeigt werden, daß und inwiefern es den Vorstellungen nicht rein äußerlich ist, wessen Vorstellungen sie sind?

Hier trägt ein Rückgriff auf die Behandlung der »Sittenlehre der Vernunft« zur Klärung bei. Dort hatte Eberhard ım Blick auf den Menschen differenziert zwischen einer als erreichbar postulierten, aber de facto als repulative Idee fungierenden Gattungsvollkommenheit und der dem kon-

kreten Einzelnen aufgrund der Beschränktheit seiner angeborenen Anlagen und angesichts kontingenter und nur teilweise vom Einzelnen selbst zu verantwortender

hältnisse

die

Entfaltung

möglichen

Bestimmung

des

dieser

Anlagen

Vollkommenheit,

Menschen

deren

ausmacht6°®.

restringierender

Umweltver-

»zufällige« Realisierung

die

Analog

der

stellt

er

in

»Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens« fest, daß die in allen identische psychische Grundkraft sich in den Einzelseelen in je spezifischer Einschränkung Einschränkung

und Modifikation geltend macht. Deshalb die »abgezogensten und höchsten Begriffe,

sind Kraft und aus denen man

alle Erscheinungen bey der menschlichen Seele muß herleiten können, wenn die Psychologie eine Wissenschaft seyn soll« (AThDE 60). Das erhöht die Komplexität der Theorie beträchtlich. Denn es gibt jetzt nicht nur 64

Vgl. oben 2.1.

65 Vgl. oben 1.4.

2. Eberhards Vorstellungstheorie

141

unendlich viele sıch ın spezifischer Mischung von Empfinden und Denken auskristallisierende Vorstellungsarten und unendlich viele Modifikationen einer Vorstellung zwischen Verworrenheit und Deutlichkeit, sondern es gibt auch gleichsam eine je spezifische Gestimmtheit des vorstellenden Subjektes, die einerseits über die 'Anlagerungschancen' bestimmter Vorstellungen sowie über die Weise der Rezeption und Überformung von Vorstellungen prädisponiert, die aber andererseits nicht so determiniert ist, daß sie nicht durch Übung der Grundkraft gestärkt und durch Einsicht gebildet und korrigiert werden könnte, Denn zwar ist die Gestimmtheit bedingt durch ein bestimmtes und sich im Verlauf vielfältiger Vorstellungen durchhaltendes Verhältnis von »Erkenntniß- und Empfindungskraft« (AThDE 167), weiches Verhältnis seinerseits gewisse Neigungen bedingt, Vorstellungen eher auf Lebhaftigkeit oder eher auf Deutlichkeit hın zu entfalten, und dadurch über den Vollzug der Vorstellungen sıch selbst stabilisiert und kontinuiert; das heißt aber keineswegs, daß damit das im sittlichen Naturgesetz der Selbstvervollkommnung implizierte Gebot der allseitigen und gleichmäßigen

Ausbildung aller Anlagen und Fertigkeiten6® aufgehoben wäre. Vielmehr soll - wie Eberhard am Anfang des Dritten Abschnittes von AThDE ausdrücklich vermerkt (AThDE 167) - die Kenntnis von Eigenart und Funkti-

onsweise von Denken und Empfinden sowie von deren Interdependenzen und den Möglichkeiten des Überganges vom einen in das andere nutzbar gemacht werden zur Bildung von Herz und Verstand und zur »Beurtheilung des Genies und des Charakters«. Das kann nur bedeuten, daß mit dem

Vervollkommnungsgebot Charakterausprägungen

das

normative

gegeben

ist und

Kriterium mit

der

der Kritik einseitiger Vorstellungstheorie

das

Organon zur Korrektur solcher Einseitigkeiten. Damit scheint nun allerdings die Individualität der Gestimmtheit normativ auf ihre eigene Aufhebung hin bestimmt zu sein. Genauer: sie scheint nur noch Ausdruck defizitärer Entfaltung bzw. Entfaltungsfähigkeit der umfassenden Begabungspluralität zu sein. Funktion der Bildung wäre dann,

dieses Defizit zu minimieren, und d.h.: den charakterlichen Eigensinn der Ausprägung

von

Empfindungs-

Daß dies nıcht völlıg möglich werden.

Ohne

und

Erkenntnisvermögen

ist, müßte dann

Zweifel hat Eberhards

abzuschleifen.

mit Bedauern

konstatiert

Leitbild des allseitig harmonisch

ge-

bildeten vernünftigen Menschen solche nivellierenden Tendenzen in sich. Es erträgt nur mäßig ausgeprägte Disharmonien, Disproportionalitäten, Dominanzen innerhalb des Gefüges der Manifestationen der Seelengrundkraft. Es verleitet dazu, unter Berufung auf das Ideal der Allgemeinbildung 66 Vgl. oben 1.4.

142

l. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

die Entfaltung spezifischer Begabungen zu boykottieren oder auf ein als verträglich erachtetes Maß zu restringieren. Andererseits gründet diese Zielvorgabe für das vervollkommnende Handeln an sich selbst und Anderen

in der Überzeugung, daß eine durch die Anleitung der Vernunft je und je neu erlangte Harmonie der Seelenvermögen Bedingung der Möglichkeit für eine auf Dauer erfolgreiche Betätigung der einzelnen Vermögen selbst ist. Die Übung

des Verstandes kontinuiert mithin ipso facto die Empfindungs-

fähigkeit, ebenso wie umgekehrt die Pflege des Empfindungsvermögens an sich selbst bereits die Chancen zur Umsetzung rationaler Handlungsorientierungen in Handlung befördert. Zudem gilt es zu berücksichtigen, daß der dem Harmonieideal zugrundeliegende Vollkommenheitsbegriff auf eine Komplexitärssteigerung, auf eine möglichst hohe Anreicherung der psychischen und auch sozialen Verhältnisse und Beziehungen abzielt und daß Eberhard deshalb seinerseits die einseitige Ausprägung eines Vermögens auf Kosten der anderen als innere Verarmung, ais Zurückbleiben des Individuums hinter gerade seine je eigenen Möglichkeiten und insofern

selbst als defizitär erscheinen muß. Dies muß schließlich vor dem Hintererund von Eberhards Annahme gesehen werden,

»(in) keiner menschlichen

Seele [sei] ein Vermögen ganz unwirksam« (AThDE 209). Eberhard kann dann daran festhalten, daß es bestimmte Anlagen, d.h. individuell prästabilierte Verhältnisse zwischen den einzelnen Seelenvermögen gibt, welche Verhältnisse natürlich immer auch eine gewisse nicht vollständig eliminierbare Einseitigkeit indizieren; er kann aber zugleich darauf hinweisen,

der Rekurs auf spezifische Anlagen

und Begabungen

daß

nicht dergestalt die

individuelle Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung bestimmen darf, daß die einseitige Entfaltung dieser Anlagen als individuelle Selbstverwirkli-

chung gelten kann. Das spezifische Verhältnis der einzelnen Seelenvermögen untereinander ist zwar in den angeborenen Anlagen angelegt, aber es ist nicht so determiniert, daß es sich bei der Entwicklung der Fähigkeit der Seele, tätig zu werden, gleichsam automatisch reproduzierte. Die Anlagen begünstigen und

erleichtern zwar die Entfaltung der Fähigkeit zu bestimmten Verrichtungen, aber sie machen Übung und Bildung nicht unnötig. Man muß sogar sagen, daß sich das spezifische Mischverhältnis im Prozeß der Übung und Routinisierung bestimmter Fertigkeiten allererst konkretisiert und festigt. Das ist natürlich mit dem Risiko verbunden, daß die schon angelegte Einseitigkeit durch falsche Bildung nicht relativiert, sondern vielmehr noch gesteigert und fixiert wird. Hier zeigt sich nun die entscheidende Bedeutung der Vernunft als der Instanz, die solche Fixierungen wahrzunehmen und zu verflüssigen erlaubt. Denn als das Vermögen, Zusammenhänge, Proportionen,

2. Eberhards Vorstellungstheorie

143

Harmonie zu erfassen und vorzustellen (vgl. AThDE 240; vgl. auch SdV $ 13, S. 16), implantiert sie dem faktisch gegebenen Konkretionszustand der individuellen Seele gleichsam normative Bilder ihrer selbst als Folie der Wahrnehmung ihrer Differenz von ihrer Bestimmung und zugleich als Orientierung für ihre bestimmungsgemäße Entwicklung und ermöglicht da-

durch der Seele Distanz zu sich selbst, so daß sie nicht aufgeht in ihrem jeweiligen Zustand. Die Vernunft hat gewissermaßen eine kybernetische Funktion

bei der Abstimmung

der Realisierung der verschiedenen

Seelen-

vermögen aufeinander und mithin bei der Fortbildung des in den Anlagen vorgegebenen

aber

nicht vollständig

determinierten

sondern

beständig

zu

adjustierenden Verhältnisses von Empfindungs- und Erkenntnisvermögen. Daß diese Adjustierung möglich ist, ist Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Freilich ıst dıe Entfaltung der Vernunft selber Produkt jener Evolution, die sie doch steuern soll. Sie ist selber Vermögen. Sie muß selber ausgebildet werden (vgl. AThDE 247ff.!). Insofern harmonischen Entfaltung aller Seelenkräfte den Grad

Seelenkraft Vernunft an, umgekehrt

zeigt der Grad der Ausbildung

fördert dıe Vernunft

der der

sich gleichsam

selbst, wenn sie die andern Seelenkräfte nach Maßgabe ihrer Zusammenstimmung fördert. Es ist allerdings nicht ganz deutlich, ob Eberhard die Vernunft selbst auch in der Hinsicht zu den übrigen Seelenkräften zählt, daß sıe nur soweit entwickelt werden darf, wıe sıe sıch ın die Harmonie der

Seelenkräfte integriert. Dann wäre nämlich eine Entartung der Vernunft denkbar, eine einseitige Betonung der Ordnung, der Struktur, der Homogenität, wodurch jene Abwechslung und Kopräsenz von Vertrautheit und neuen Reizen, von Reflexivität und Erfahrung, von Handeln und Empfangen behindert wäre, ın der laut Eberhard dıe Vollkommenheit des Men-

schen besteht6?. Eine solche paradoxerweise disharmonische Dominanz des Harmonischen könnte so auch dann vorliegen, wenn die Vernunft die Asymmetrien unter den Seelenkräften vollständig ausmerzen wollte, wıe sie mit den angeborenen

Anlagen

und der Geschichte von deren kontingenter

Entfaltung gegeben sind und die doch die auch positiv zu beurteilende und zu bewahrende konkrete Individualität konstituieren. Eberhard verträte damit ein

Konzept

maßvoll

verallgemeinerter

Individualität,

in dem

diese

weder allein in der inkommensurablen Faktizität ihres jeweiligen Bildungszustandes oder in der vorzeitigen genetischen Festlegung aufginge noch ın einer normativen

Gattungsidentität

zu

verschwinden

bestimmt

wäre.

Die

individuelle Identität wäre gleichsam 'ım Fluß’, aber nıcht unabhängig von

67

Vgl. oben 1.2.

144

I. Freundschaft - Kap. 2. Joharın August Eberhard

der Bestimmtheit ihrer Quelle und von gewissen Eindämmungen des Variationsspielraumes und nıcht ohne vorgegebenen Richtungssinn. Es ist zuzugeben, daß diese Deutung unsicher bleibt, daß zumindest die Integration des Vernunftbegriffes in seinen eigenen Gegenstandsbereich

weit über das hinausgeht, was Eberhard selbst zum Thema äußert, und daß dadurch möglicherweise mehr Aporıen der Konzeption offenbar werden, als der Konsistenzgewinn abfedern kann. Gleichwohl lassen sich dieser Deutung Eberhards

differenzierte Erörterungen

verschiedener Typen

von

Ver-

mögensasymmetrien - sprich: von Charakteren (vgl. AThDE 208f.) - bzw. von Stärkegraden der Entfaltung solcher Asymmetrien - d.h.: von Temperamenten (vgl. AThDE 234) - zuordnen, und zwar als Generalisierungen aus konkret-individuellen Asymmetrien auf mittlerem Niveau, auf dem die spezifischen Begabungen, aber auch die spezifischen Gefahren einer bestimmten

Vereinseitigung

noch erkennbar

sind,

das aber nicht mehr

so

individualisiert ist, daß es nur in sehr scharf umgrenzten Situationen verhaltensorientierend zu werden vermag. Viel wichtiger aber ist, daß von

hier aus sowohl

ein Blick zurück auf

Schleiermachers Freundschaftstheorie fallen kann als auch ein Übergang zur Behandlung der dieser folgenden Texte sichtbar wird. Denn sollte die Ausprägung der Person weder durch dıe Anlagen noch durch den bisherigen Verlauf der Biographie vollständig determiniert sein, und sollte auch die Vernunft als Vermögen der Einsicht in die maßvolle Entfaltung der Seelenkraft und in die Bestimmung des Menschen und insofern als kybernetische

Instanz

entwickeln,

sich

allererst

nach

Maßgabe

des

Grades jener

Entfaltung

so gewinnen soziale Bildungsprozesse hohe Bedeutung.

Man

kann dann nämlich nicht mehr behaupten, der Einzelne sei apriori und faktisch zur konzisen Erkenntnis seiner selbst, der gegebenen Proportiona-

lität seiner Seelenvermögen, der Angemessenheit von deren kontingenter Entfaltung, der tunlichen und anzustrebenden Proportionalität und insgesamt der eigenen Bestimmung fähig. Vielmehr muß ihm das Wissen um die Vernunft vermittelt bzw. dessen Realisierung von außen gefördert werden. Dies schließt ein bzw. geschieht durch die Kommunikation von Bildern gelingenden Lebens, oder es fördert zumindest die Entwicklung eigener solcher Bilder. Ebenso können ihm konkret defizitäre Entwicklungen,

Verzerrungen,

Disproportionalitäten

seiner Seelenkräfte,

die er aufgrund

eben dieser Defizite selbst nicht oder nicht hinreichend deutlich wahrnehmen kann, durch Andere - Erfahrenere, Ausgebildetere, aber auch mit anderen Defiziten Behaftete - mitgeteilt werden. Beides zusammen

eröffnet dem Einzeinen sowohl eıne realistischere Selbsteinschätzung als auch Wege der Selbstkorrektur und Selbstvervollkommnung. Insofern bei

2. Eberhards Vorstellungstheorie

niemandem

145

nun eine bereits vollständige Erkenntnis und Realisierung der

eigenen Anlagen und das Fehlen jeglicher durch eigenes Handeln oder durch widrige Umstände verursachter faktischer Disproportionalitäten jener

Realisierung angenommen werden kann, gibt es niemanden, der der sozialen Kommunikation der eigenen Fehlprägungen und Fehlentwicklungen

sowie

insgesamt des eigenen

Entwicklungsstandes

vor dem

Horizont

eines ebenfalls zu kommunizierenden normativen Bildes von der Bestimmung seiner selbst, des Menschen und der Welt überhaupt schlechterdings unbedürftig wäre. Deshalb können die Bildungsprozesse auch nicht vollkommen einseitig erfolgen, die Möglichkeit, wenn nicht Notwendigkeit von Wechselseitigkeit ıst mit Eberhards Theoriemitteln durchaus aussagbar. Weiterhin ermöglicht Eberhards Betonung der zur Vollkommenheit notwendigen Kopräsenz von Denken und Empfinden und zwar ın möglichst vielfältigen Abstufungen, d.h, sein Verständnis der Personwerdung durch Anreicherung der Vorstellungskomplexität durchaus, den personsteigernden Nutzen der Wahrnehmung irreduzibler Andersheit und so den mittelbaren Impuls zu deren Förderung ım Medıum seiner Theorie zu erfassen, Es ist also auch von Eberhards Vorstellungstheorie her nıcht ausgemacht, daß seın

Verständnis der Freundschaft auf deren versittlichende Funktion beschränkt bleiben mußte.

Die besondere Pointe dieser Theorie, die basale Instabilität

der Seelenoperationen und der Einheitsform der Seele, hätte vielmehr geradezu zu einer stärker sozialtheoretisch orientierten Formulierung der Psychologie einladen können. Ebenso wie für die »Sittenlehre der Vernunft«68 ıst auch hier festzuhalten, daß dies nicht geschah. Schleiermacher dagegen gelingt es, durch Integration von Elementen und Denkformen dieser Vorstellungstheorie in die Beschreibung von Freundschaftsverhältnissen

zum einen die Bedeutung von Rezeptivität und von Wohlgefallen am singulären Anderen

für anspruchsvolle

soziale Beziehungen

aufzuzeigen

und

Eberhards Psychologie damit für die Sozialtheorie so fruchtbar zu machen, daß diese nicht mehr nur einseitig normativ und rationalistisch gefaßt werden muß, zum andern aber umgekehrt die konstitutive Funktion von So-

zialität für die Bildung und Entfaltung der internen Pluralität ın der Einzelseele detailliert herauszuarbeiten. Freilich kann unentschieden bleiben, ob und wie weit Eberhard gegebenenfalls selbst im mündlichen Vortrag implizit oder explizit diese Konsequenzen aus seiner eigenen Theorie gezogen hat. Entscheidend ist, daß Schleiermacher Eberhards Theorie unter dieser

Problemstellung, in dieser Selektivität und Vernetzung, auf diesem Komplexitätsniveau wahr- und aufgenommen und so mit ıhr gearbeitet hat. 68

Vgl. oben 1.5.

146

l. Freundschaft - Kap. 2. Johann August Eberhard

Die gesonderte Untersuchung von Texten Eberhards hat allerdings auch spezifische argumentative Schwächen,

Theorie

offengelegt,

die deutlich

Unklarheiten,

mit den

oben6®

Mehrdeutigkeiten

an

der

Schleiermachers

Freundschaftskonzept aufgezeigten Problemen korrespondieren, jedenfalls mit den nicht unmittelbar auf die Sozialtheorie bezogenen. Das bringt es mit sich, daß die Aporien der Theorie Schleiermachers durch den Vergleich mit Eberhard erhellt und sogar verschärft werden. Das gilt zunächst für Schleiermachers

Schwanken

ın der Gewichtung

der einzelnen

Funktionen

der Freundschaft bzw. ın seiner Schwierigkeit, bei unverkennbarer Prävalenz

der

Versittlichungsfunktion

die

Intention

der

Differenzierung

von

Freundschaft und Wohltätigkeit aufrechtzuerhalten’®; dies entspricht der Beobachtung,

daß bei Eberhard eine kategoriale Unterscheidung

zwischen

Freundschaft und der sittlichen Pflicht allgemeiner Menschenliebe fehlt?!, Mehr

noch

aber erscheinen Schleiermachers

Schwierigkeiten,

die Allge-

meinheit und Evidenz der materialen Bestimmtheit des Sittengesetzes trotz

faktıschem Dissens und trotz der Behauptung der Beschränktheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und der evolutionär-sozialen Bedingtheit

von deren Ausbildung zu erweisen’2, bei Eberhard gleichsam prinzipialisiert wieder, wenn dieser die Allgemeinheit der Vernunft nur unter Rekurs auf die behauptete empirische Evidenz der unmittelbaren Selbstwahrneh-

mung jedes Einzelnen begründen kann’3. Auch Eberhard kann deshalb die Rationalität und universale Geltung des Wissens von der Bestimmung des Menschen und der übrigen Dinge nur statuieren, seine Integration des Denkens unter die Seelenkräfte, die ıhrerseits nie in vollkommener Ausprägung tätig, sondern je in Entwicklung begriffen sind, läßt eine rational-universale Durchdringung der Struktur der Wirklichkeit (und damit auch der Seelenkräfte selbst) nur approximativ

und deshalb ın der beanspruchten

Reinheit

strenggenommen gar nicht zu. Was bei Eberhard freilich Schwächen in grundlegenden Weichenstellungen für den Theorieaufbau überhaupt sind, sind bei Schleiermacher Probleme der Darstellung, die die konzeptionelle Weiterarbeit anregen und in Bewegung setzen. Dies bedeutet aber eın Doppeltes: einerseits eine Kontinuität von Themen und Problembewußtsein, die die Selektivität der Rezep-

69 Vgl. oben Kap. I, 2.6.2 - 2.6.5.

70 Vgl. oben Kap. 1, 2.6.5. A

Vgl. oben 1.3.

72 Vgl. oben Kap. 1, 2.6.3. 73

Vgl. oben 1.4.

2. Eberhards Vorstellungstheorie

tion prägen

(wenngleich

eine Diskontinultät Darstellungsweisen.

nicht völlig determinieren);

147

andererseits jedoch

von Lösungsansätzen, Terminologien, Perspektiven, Darum leuchtet vom Bisherigen her ein, daß Schleier-

macher im unmittelbar den Arıstoteles-Anmerkungen folgenden Text »Ueber das höchste Gut« Kants Vernunft-Kritik aufgreift. Eben damit versucht er, eine in Verfolg der Ausarbeitung einer Freundschaftstheorie aufgetretene theoretische Schwäche zu beheben. Umgekehrt orientiert und Iimitiert dieses Interesse, zumindest zunächst, die Kant-Rezeption. Folge-

richtig bemüht Schleiermacher sich in dem »Freiheitsgespräch« um eine Vermittlung der Kantschen Position mit dem System der Schulphilosophie, dem sıch doch wichtige Elemente und Darstellungsperspektiven des Freundschaftskonzeptes verdanken?*. Und auch in der großen Freiheitsschrift liegen die Kontinuitäten zur Freundschaftstheorie so deutlich am Tage, daß man gut daran tut, die Kant-Rezeption als 'zwischeneingekommen’, gewissermaßen als zweiten Schritt von Schleiermachers Theorieentwicklung und nicht als diese begründend zu interpretieren.

74

Erst bei der Beschäftigung mit Spinoza hat sich das Verhältnis dergestalt umgekehrt, daß nun Kant die Folie des Verstehens darstellt. Aber noch hier spielt der Vergleich mit Leibniz eine wichtige Rolle. Vgl. dazu unten Kap. 8,

Drittes Kapitel

Geselliger Realismus und anthropologische Universalıtät: Grenzbestimmungen und Grenzüberschreitungen der sozialtheoretischen Ausgangskonstellation

Einleitung

An den Aristoteles-Anmerkungen hatte die Untersuchung Schleiermachers frühes Interesse an geselligkeits- und sozıaltheoretischen Fragestellungen und mit der Freundschaftstheorie eine erste, erstaunlich kompiexe und integrative

sozialtheoretische

Konzeption

herausgearbeitet,

die

sich

am

Ver-

gleich mit der Sittenlehre und Vorstellungstheorie seines philosophischen Lehrers Eberhard als zwar in vieler Hinsicht diesem verbunden,

aber den-

noch konzeptionell als sehr eigenständig erwies, sich freilich dem Traditionsstrom einer Neugewinnung sozialer Strukturierung und Orientierung über die Freundschaftssemantik einordnetel. Allerdings waren dabei bereits Schleiermachers Schwierigkeiten deutlich geworden, die paradigmatische

Bedeutung einer per definitionem partikularen, auf den Schutzraum der Diskretion und des Ausschlusses der Öffentlichkeit angewiesenen Sozialform der wechselseitigen Aufrichtigkeit und der ungeschönten wechselseitigen Beurteilung für menschliche Sozialıtät überhaupt plausibel zu machen: Zwar

ermöglichte

dıe

Unterscheidung

der

Sozıalform

Freundschaft

von

dem 'Prinzip Freundschaft‘, die Ausstrahlungen des neuen sozialen Ideals auf vorstrukturierte Gesellschaftsformen zu thematisieren‘; in bezug auf politische Unterordnungsverhältnisse, wo anders als ın Ehe und Familie dıe konventionellen,

strukturellen

Ungleichheiten

nıcht durch informell-indivi-

duelle Verhaltensweisen und Verhaltensregeln relativiert und sukzessive überwunden werden können, kam er jedoch über das resignative negative I

Vgl. oben die Einleitung und Kap. 1.

2

Yel. oben Kap. 1,4.

Einleitung Konstatieren

der offenbaren

schaft kaum

hinaus.

149

Unvereinbarkeit

von

Freundschaft

und

Herr-

Aber auch in bezug auf Geselligkeit brachte es die

antihöfische, antikonventionelle Traditionslinie des Freundschaftsmotivs mit

sich, daß konventionelle Formen geselligen Umgangs nur als Negativfolie, als der eitle Gegensatz erschienen.

der erfüllenden freundschaftlichen

Kommunikation

Ehe die Auswirkungen der freundschaftstheoretischen Ausgangskonzeptıon auf Schleiermachers psychologische, anthropologische, ethische und auch ontologische Grundlagenreflexionen untersucht werden?, sollen deshalb vier Texte behandelt werden, die in verschiedener Hinsicht die freund-

schaftstheoretische Konzeption reflektieren und zugleich auf bestimmte Defizite einer solchen an privaten Vertrautheitsverhältnissen orientierten Sozıaltheorie reagieren. Die 1789, also ein Jahr nach den AristotelesAnmerkungen entstandene Skizze »Über das Naive«* behandelt ihren Gegenstand als Problem des geselligen Lebens und verbindet eine Kritik der Konventionalität des Umganges mit der Wahrnehmung der Ambivalenz der unbefangenen öffentlichen Selbstexpression als Ideal und als Illusion, entwickelt also eine vorsichtig kritische Außenperspektive auf dıe freundschaftstheoretische

Konzeption

erfüllter

Sozialıtät,

ebenso

wie

sıe

den

Übergang zu einer positiven Erfassung nicht-freundschaftlicher Sozialbeziehungen

andeutet (1.). Die Abhandlung »Ueber den Styl« von

örtert die offengebliebene werden

kann,

Frage,

1790/913 er-

wie Individualität überhaupt

entwickelt eine Theorie

der Sprache

mitgeteilt

als des zeichenhaften

Kommunikationsmediums von Vorstellungen und untersucht die Bedingungen und Probleme sprachlicher intersubjektiver Verständigung (2.). Die fiktive

Brieffolge

»An

Cecilie«

von

17900

geht aus von

der

Erinnerung

einer geselligen Mißstimmung und Irritation anläßlich einer Äußerung religiöser Skepsis und rekonstruiert verschlüsselt-biographisch, aber mit dem Anspruch

typologischer

Geltung

die Genese

einer

Krisis

überkommener

subjektiver Wergewisserungsinstanzen, zu denen neben Religion und Naturerlebnis auch die Freundschaft gehört; dabei bleibt die konstitutive Bedeutung jener Instanzen für die erfüllte Lebensführung vorausgesetzt, als partikular und zufällig in Frage gestellt wird nur die vergewissernde Kraft des unmittelbar-faktischen Erlebnisses oder der konkreten Lebensformen und Begründungssemantiken,

die dem

Einzelnen qua Geburt und Sozialisa-

3

Vgl. unten Teil II.

4

KGAI, 177 - 187.

5

KGA I/1, 363 - 390 (sowie der Entwurf, 357 - 361).

6

KGA U, 189 - 212.

150

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

tion vorgegeben sind (3.). Wird hier schon die partikulare Sozialform der Freundschaft auf anthropologische Allgemeinheit hin transzendiert und erfährt erst von da her ihre Legitimation, so zeigt in anderer Weise auch die an

Weihnachten

liebe’,

daß

1791

gehaltene

Schleiermachers

Predigt

Konzeption

über

die allgemeine

erfüllter Sozialität

Menschen-

keineswegs

notwendig ın Gegensatz steht zu anthropologisch-untversalistischen

Argu-

mentationen (4.).8 Diese vier Texte bestätigen auf der einen Seite das Motivationspotential,

das das Problem der Darstellung von Sozialbeziehungen für Schleiermachers Theorieentwicklung von Anfang an bildete, und treiben diese Darstellung durch Differenzterungen sowie die Einführung und das Kopräsenthalten mehrerer Perspektiven zu einem höheren Grad von Realistik, auf der anderen Seite dokumentieren sie Schleiermachers Interesse an begrifflicher Klärung und methodisch-rationaler Transparenz, das sich verbindet mit dem Einheits- und Allgemeinheitsinteresse der Vernunft. Damit weisen sie voraus auf die philosophischen Grundlegungstexte »Ueber das höchste Gut«, »Freiheitsgespräch« und »Ueber die Freiheit«, die in einer spezifischen Gemengelage von schulphilosophischen, kantischen und auch griechischklassischen Momenten eine vernünftig-allgemeine Rekonstruktion der Vor-

aussetzungen und Implikate einer Theorie endlicher, durchgängig sinnlich bestimmter Individuen in konstitutiver sozialer Pluralität und permanenter Interdependenz im kausal-temporal gedachten Kontinuum der Wirklichkeit

unternehmen?.

7

SW 1177, 117 - 134.

8

Die spannungsvolle Kopräsenz von Hochschätzung Freundschaft bzw. Häuslichkeit zeigt sıch auch ım preist Schleiermacher in Schlobitten, dankbar »für Leben« als den Zustand, »zu dem doch der Mensch

und vorsichtiger Relativierung der Briefwechsel: Auf der einen Seite geselliges Glück«, das »häusliche bestimmt ist«, während er ın Berlin

»freundlos« und also bestimmungsfremd »hätte leben müssen« (KGA V/1, 221: Brief 160 an den Vater [16.8.1791],

Seite verfaßt rauchs, den Apparat) Freundschaft

9

Z.

166-174;

Hervorhebung

von mir); auf der anderen

er - ausweislich eines verlorenen, von Dilthey refenierten Briefes Stubendie Herausgeber von KGA V/l etwa auf Mitte 1791 datieren (vgl. 222, eine »gründliche() Defensionsschrift über dıe Grenzen von Achtung, und Liebe« (Leben Schleiermachers, 60).

Vgl. unten Teil II.

1. »Über das Naive«

151

I. Konvention und Authentizität: Geselligkeitstheoretische Rekonstruktion des Begriffs des Naiven

l.1. Unerwartete Simplizität: »Naiv« als soziales Relationsurteil Der Aufsatz »Über das Naive« besteht im wesentlichen in einer Auseinan-

dersetzung mit Moses Mendelssohns Abhandlung »Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften«, die Schleiermacher in der erweiter-

ten Fassung in der 2. Auflage von Mendelssohns »Philosophischen Schrif-

ten« vorlagl®.

Oberflächlich betrachtet, kritisiert er dabei zunächst nur

Mendelssohns unpräzise Begriffsbestimmung: Definiere dieser das Naive als »das Eınfältige (,) hinter dem etwas verborgen isi« (181,8f.), so beschränke er damit die Verwendung des Begriffes auf den »Ausdruk« und auf »Handlungen« und werde so dem »Sprachgebrauch« nicht gerecht, der durchaus auch einen naiven »Charakter« und naive »Gedanken« kenne (179,5-8), zudem gebe er mehrere, untereinander uneinheitliche und widersprüchliche »Beschreibungen« (179,12) dessen, wovon das »Einfältige«

(181,9) »Ausdruk« (179,5f.) und Zeichen sein soll; vor allem aber sei die Bestimmung so unspezifisch, daß sie auch sicherlich zicht-naive Phänomene wie das Erhabene (vgl.

180,9-21, Anmerkung,

sowie

185,19-35)

umfasse.

Schleiermachers eigene Definition, naiv sei »das simple, das wır nıcht erwartet hätten« (182,12), scheint dagegen nur auf der Ebene der Begriffsklärung diese Mängel beheben zu wollen: Sıe integriert alle Facetten des Sprachgebrauches und vermag sie einander zuzuordnen, sie ermöglicht eine konsistente Klassifikation und Beurteilung der den Eindruck des Naiven auslösenden Ursachen (vgl. 186,2-5) und dıe Abgrenzung des Naiven vom Erhabenen (vgl. 185,19-35). Tatsächlich aber verändert sie völlig den Charakter des Begriffes: Bildete bei Mendelssohn das statische, objektiv zu konstatierende und zeichentheoretisch zu erfassende Verweisungsverhältnis eines sichtbaren, als simpel zu beschreibenden

Ausdrucks)

auf

einen

diesem

’"Gegenstandes'

zugrundeliegenden

(Verhaltens,

unsichtbaren

Zustand

(Charakter, Gedanken) das Kennzeichen des Naiven und behandelte er die-

ses deshalb zurecht im Zusammenhang der »schönen Wissenschaften«, als Problem der künstlerischen (vor allem literarischen) Darstellung solcher Verweisungsverhältnisse,

so

wird

bei

Schleiermacher

das

entscheidende

Moment des Begniffes das Verhältnis eines Beobachters zu dem Gegenstand 10

Zweyter Theil, KGA T/L, LI.

Berlin

1771,

153 - 240.

Vgl. den Nachweis

durch G.

Meckenstock

ın

152

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

seiner Beobachtung, obachters

genauer:

hinsichtlich

des

das Verhältnis der Erwartungen

Gegenstands

seiner

Beobachtung

eines Be-

zu

dem

be-

obachteten Verhalten oder Zustand des Gegenstandes selbst: präzise das überraschende Nichteintreten des Erwarteten. »Naiv« ist nicht mehr das Prädikat eines Urteils über eine bestimmte Differenz von Zeichen und Bezeichnetem, sondern über einen "Gegenstand' in einer bestimmten Relation zum Beobachter, wobei die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem

nicht konstitutiv ist: es kann ja - wie beim naiven Charakter!! - gerade die /dentität von

Ausdruck

zu nennende

'Gegenstände'

und Gemeintem

sein, was überrascht.

Da als naiv

nur menschliches Verhalten und menschliche

Zustände in Frage kommen, wird das Naive mithin in der sozialen Interaktion verortet; es wird zu einem Problem der Sozial- und GeselligkeitstheoTe.

Dabei ist folgendes wichtig: 1.) »Naiv« ist immer ein Urteil über Andere. 2.) Es konstatiert Simplizität und Unmittelbarkeit, wo der Beobachter Komplexität und Reflexivität erwartet hatte. 3.) Es unterstellt, daß dıe das Urteil auslösende

Differenz dem

Beurteilten

selbst nicht bewußt

ist (eine

bewußte Enttäuschung der Erwartungen Anderer ist nicht mehr naiv). 4.) Es impliziert bestimmte Einstellungen und Vormeinungen des Beobachters und ist insofern immer relativ zu diesem, sagt immer auch etwas über ihn aus. 5.) Es tritt eher und häufiger auf bei eklatanten Differenzen der Einstellungen und kulturellen Prägungen zwischen Beobachter und Beobachteten, kann deshalb auch als Urteil einer Gesellschaftsschicht über eine andere, eines Kulturkreises über einen anderen Anwendung finden (vgl. 181,19-25). 6.) Es schließt ein die Annahme eines Bildungsgefälles zwischen Beobachter und Beobachteten, die aber - wie sich zeigen wird -

durchaus mehrschichtig und keineswegs von eindeutiger moralischer Valenz 1St.

1.2. Überraschende Authentizität: Der naive Charakter Die Verschiebung

des Interesses am

Naiven

manifestiert sich vor allem

darin, daß bei Schleiermacher nicht mehr die naiven Ausdrücke und Handlungen ım Mittelpunkt der Darstellung stehen, sondern der naive Charakter, den Mendelssohn durch die Beschränkung des Naiven auf das Äußere (vgl.

182,19-22) gar nicht erfassen konnte. Der naive Charakter wird nun ganz geselligkeitstheoretisch beschrieben.

1l

Vgl. unten 1.2.

I. »Über das Naive«

153

Im geselligen Umgang wird von den Beteiligten die Anerkennung der gesellschaftlichen Konventionen und die Anpassung des Verhaltens an diese

bzw. bereits die Antizipation der Konventionen in der inneren Verhaltensorientiering wechselseitig vorausgesetzt und normativ erwartet. Unter dem Titel der »Klugheit« (vgl.

183,20) fungiert eine vorausschauende Resonanz-

sensibilität, die das eigene Verhalten nicht an den Kriterien der Aufrichtigkeit und des Vertrauens auf das Wohlwollen und das Interesse der Anderen an solcher Aufrichtigkeit ausrichtet, sondern an der Vorwegnahme möglicher Anstößigkeiten

und deren tunlichster Vermeidung,

und das heißt vor

allem: die sich an einem gewissen mittleren Ton der Unverbindlichkeit orientiert und im übrigen die eigene Individualität zurücknimmt, da bzw. soweit sie die Balance zwischen den einzelnen Teilnehmern des geselligen Kreises zu verschieben oder durch Mißtöne und Irritationen die harmonische Stimmung zu zerstören droht. Dies bedeutet, daß der Einzelne in der Geselligkeit sich als von sich selbst entfremdet erfährt und daß er sich von den Anderen nur in solcher Uneigentlichkeit wahrgenommen weiß; zugleich weiß er, daß dies für alle anderen Beteiligten genauso gilt. Gesellige Ver-

träglichkeit scheint nur durch je individuelle Selbstzurücknahme erreichbar zu sein, die nur durch permanente Reflexivität, durch beständiges Präsenthalten der Differenz von Selbstsein und Sozialität durchgehalten werden kann, Diese Reflexivität, dieses Differenzbewußtsein erwartet jeder beim Anderen. Eben die Durchbrechung dieser Erwartung gilt nun dem Betrachter als naiv. Von einem naiven Charakter kann man freilich erst sprechen, wenn die einzelnen als naiv erscheinenden Äußerungen sich als in einem einheitlichen

Prinzip der internen Selbststeuerung innerlich verbunden und nach diesem Prinzip erfolgend erweisen!?, Das Überraschende (und das Urteil der Naivität Begründende) ıst dann, daß zu diesem Prinzip die Reflexıvität der geselligen Selbstzurücknahme eben nicht gehört. Überraschend ist das in doppelter, eher noch gewissermaßen ın potenzierter Weise:

Nicht nur igno-

rıert das gesellige Verhalten des Betreffenden dıe Konvention der Selbstverleugnung und besteht umgekehrt in unmittelbarer, um ihre Wirkung unbekümmerter, aufrichtiger Selbstexpression, dies - für sich schon unerwartet erweist

sich

vielmehr

‘'humanisierter' »große(n)

[2

nıcht

Bildung

Ausbildung

als

Ausdruck

des Selbst, im

von

sondern

moralischen«

mangelnder,

ungenügend

gerade als Äußerung

(182,28),

einer

die bei der wahrzuneh-

Vgl. in den Aristoteles-Anmerkungen die Definition von Charakter als dıe Fähigkeit, nach »Grundsäze(n}« zu handeln, dıe »praktische(n) Urtheile (...) Maxımen« unterzuordnen (19,22.26).

Vgl. dazu oben Kap.

1, 3.1.

154

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

menden

»Simplicität

im

Conventionellen«

(182,28f.)

nicht

zu

erwarten

warl3, Das Durchbrechen der Konvention gewinnt so eine eigentümliche Schärfe. Es kann nicht mehr auf individuelle Defizite - Kulturlosigkeit, Enthemmung, fehlender Takt - zurückgeführt und damit in seiner Bedeu-

tung für den Zustand des geselligen Lebens neutralisiert werden; es impliziert vielmehr eine Kritik des »falschen und nichts sagenden (,) womit der äußere

Umgang

angefüllt ist« (183,5f.),

das offenbar hervorgerufen

wird

von dem »unrichtigen und verschrobenen, was dıe Macht der niedrigsten Leidenschaften ın die innere Handelweise der meisten Menschen gebracht

hat« (183,6-8)1*, Zugleich aber unterstellt der 'Naive' in seiner »Offenheit« und »Einfalt« (184,1) ıpso facto das Gegebensein einer idealen die die unbefangene Selbstexpression fördert und honoriert, ja in der wechselseitigen Mitteilung von Individualität besteht, ermöglicht ıst durch die individuelle »Ausbildung im

Geselligkeit, die geradezu die ihrerseits moralischen«

(182,28), die - in richtigem Denken und feinem Empfinden bestehende (vgl. 183,1f.) - »Bildung des Geistes« (183,3). Es liegt am Tage, daß dies

jene Form der Geselligkeit ist, die Schleiermacher in den AristotelesAnmerkungen als Freundschaft ausführlich beschrieben und diskutiert hatte. Freundschaft erscheint so als die Realgestalt ıdealer Geselligkeit, und die Freundschaftstheorie erörtert Probleme der Realisierung und Kontinuierung (und auch der Ausbreitung) anthropologisch-idealer Sozialität. Der 'Naive' verhält sich also ın konventioneller Gesellschaft, als wäre er unter Freun-

den, bzw. er ignoriert die faktischen Deformationen und Restriktionen, und genau dies macht in den Augen der Anderen seine Naivität aus. Das Urteil, jemand

habe einen

naiven

Charakter,

ist mithin

ein höchst

komplexes Urteil mit mannigfaltigen Implikationen. Auf der einen Seite anerkennt der Urteilende damit dıe Authentizität der Selbstexpression als an-

gemessenen Ausdruck moralischer Bildung und dıe dabei mitgesetzte (unterstellte) Gestalt der Geselligkeit als ıdeale Form der S$oziıalität. Zugleich aber akzeptiert er mit seinem Urteil die in der Unmittelbarkeit des gebildet-naiven Verhaltens liegende Kritik an der konventionellen Geselligkeit, deren Kriterien er - wie seine (ebenfalls im Urteil per definitionem 13

Ein gewisser Widerspruch liegt im übrigen darın, daß Schleiermacher diese Verbindung von geselliger »Simplicität« und moralischer Bildung für »fast natürlich« (182,29) hält und sich dafür auf die »Erfahrung« (182,27) beruft, während sıe doch andererseits überraschend sein muß, um als naiv gelten zu dürfen.

14

Auch dies paßt nıcht ganz zu der Behauptung, die gesellige Selbstzurücknahme seı Ausdruck hoher Reflexivität und bedeute geradezu Entfremdung von den unmutteibaren Interessen und Neigungen.

1. »Über das Naive«

155

vorausgesetzte) Überraschung angesichts des abweichenden Verhaltens deutlich macht - gehorcht, zumindest bisher unerachtet aller Entfremdungs-

erfahrung gehorchtel?. Das Urteil schließt also eine implizite Selbstkritik des Urteilenden ein, insofern er unkritisch in die konventionelle Erwartung einstimmte, sich an ihr orientierte. Auf der anderen Seite jedoch distanziert sich der Urteilende von dem als naiv Gekennzeichneten: Das Urteil konstatiert eine Verkennung der Verhaltenserfordemisse ın der realen geselligen Sıtuation, eine 1llusionäre Identifikation der defizitären Realıtät mit der Wirklichkeit des Ideals, oder - wenn man die partikulare Verwirklichung

des Ideals in der Freundschaft in Betracht zieht - eine schwärmerische Verallgemeinerung einer partikularen und als solcher realen Erfahrung auf andere Formen faktischer Sozialität. Jedenfalls impliziert das Urteil Vermutungen

über

dıe

schlechten

Chancen

des

Naiven,

sich

»ın der

Welt«

durchzusetzen (183,24)16. Mittelbar liegt darin die bedingte Anerkennung der konventionellen Normen, zumindest die Aufforderung, die faktische Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit bzw. zwischen verschiedenen, dem Ideal mehr oder weniger entsprechenden Sozialformen für die Verhal-

tensorientierung in Rechnung zu stellen und sich den im jeweiligen sozialen Kontext gültigen Regeln nicht völlig zu verschließen, also gewissermaßen realistische und differenzierte Perspektiven auf die soziale Wirklichkeit zu gewinnen. Ist der Naive also einerseits ein Zeichen,

ein Aufblitzen

erfüllten,

mit

sich selbst in Einklang stehenden individuellen Lebens inmitten der Verzerrungen und Entstellungen faktischer Geselligkeit, macht er auch eben durch dıe Kriterien wahrer, ıdealer, auf Sıttlichkeit beruhender und

dadie

Individualität der Beteiligten herausfordernder und fördernder Geselligkeit bekannt und bewußt,

so eignet er sich dennoch

nicht als Vorbild der Ver-

haltensorientierung. So sehr das Urteil der Naivität das im so beurteilten Verhalten offenbare /dea! der Selbstbildung und der Sozialität affirmiert, so deutlich

ist doch,

Bezugsfeldern gungen

15

und

daß

sich

dieses

Ideal

und unter Berücksichtigung Bedingtheiten

realisieren

läßt

nur

ir den

konkreten

sozialen

von deren spezifischen Bedinund

nicht

durch

deren

bloße

Bezeichnenderweise heißt es, es seien jene der Perversion der Geselligkeit Unterworfenen, die den naiven Charakter »mit dem zweideutigen Lob der Naivetät beehren« (183,17f.) - freilich »die besten« unter ıhnen (183,17).

16 Über seine mangelnde Begabung zu konventioneller Geselligkeit und zum Sich-inSzene-Setzen und seine daraus folgenden schlechten Chancen, es in der Welt zu etwas zu bringen, klagt im übrigen der junge Schleiermacher selbst. Vgl. KGA V/1, 294: Brief 216 an den Vater (10.5.1793), Z. 124-129,

156

l. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

Negation!? - ganz abgesehen davon, daß die Wahrnehmung und Identifikation naiver Unmittelbarkeit ebendiese Unmittelbarkeit beim Beobachter und somit deren Imitation schlechterdings ausschließt. Insofern steht Schleier-

machers Aufsatz »Über das Naive« zwar eindeutig in der antihöfischen, konventionskritischen Tradition der Freundschaftstheorie und Freundschaftssemantik, transzendiert diese aber zugleich ansatzweise hin auf eine realistische Erfassung der sozialen Wirklichkeit, freilich ohne die in der Freundschaftstheorie entwickelten Leitbilder und Idealvorstellungen gelingender Sozialität aufzugeben.

1.3. Naivität und Kultur

Der naive Charakter erscheint ungebildet, ıst es aber nicht. Freilich können auch tatsächlich Ungebildete in den Augen der Gebildeten naiv erscheinen, und zwar dann, wenn ihre »gewöhnlich sımp(le)« (181,16) Ausdrucksweise in eine Situation trıfft, wo der Gebildete komplexeres Handeln, Denken

oder Reden (vgl. 181,18) erwartet hätte. An dieser gewissermaßen einfachen Form des Naiven macht Schleiermacher jenen Sprachgebrauch fest, der auch ganze Völker und Kulturkreise als naiv bezeichnet (vgl. 181,19-25; ferner 181,26 - 182,11). Auch dies ist ein Relationsurteil: Es setzt eine

starke Differenz der Bildung voraus. Je 'gebildeter' ein Volk, und d.h. je weiter in seinen Sitten von der Natur entfernt, desto mehr »Gefühl fürs Naive« (181,21) entwickelt es bei anderen Völkern, dıe sich der Natur noch

nicht "'entbildet' haben. Bei dieser frühen Thematisierung der Kulturdifferenzen - die in der Schrift »Ueber den Werth des Lebens« breit ausgeführt

wiederbegegnet!® - verklärt Schleiermacher bemerkenswerterweise keineswegs die Ursprünglichkeit und Naturnähe der ungebildeten Völker und spielt sie gegen die vermeintliche Dekadenz der Zıvilisation aus. Die Notwendigkeit der Bildung steht außer Frage. Eher scheint er umgekehrt bei den

'Naturvölkern'

Ansätze der Bildung erkennen

zu wollen,

neuzeitliche Europäer gewöhnlich nur Unbildung wahrnimmt.

wo

der

So hebt er

17

Nur hingewiesen sei hier darauf, daß sıch genau an diesem Punkt - an der bleibenden Berücksichtigung der bürgerlichen Lebensverhältnisse als des Ortes, an dem sıch ıdeale Sozialität zu realisieren und zu bewähren hat - noch 1800 Schleiermachers » Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde« beı aller sonstigen Zustimmung von Schlegels Position abheben. Ygl. dazu: H. Dierckes: Die problematische Poesie. Schleiermachers Beitrag zur Frühromantik. In: K.-V. Seige (Hg.}: Schleiermacher-Kongreß. Band |. Berlin - New York 1985, 61 - 98, besonders 85f.

18

vgl. unten Kap. 6. Siehe aber auch bereits die Abhandlung »Ueber das höchste Gut«. Vgl. dazu unten Kap. 4, 1.

1. »Über das Naive«

am

Beispiel

der

»idealischen

Schäfer()«

157

(181,23)

der

(antiken

oder

barocken?) Bukolik eine Feinheit der Bildung der Empfindungen hervor, der aber - für den modernen Betrachter überraschenderweise - keine entsprechende Bildung der Sirten korrespondiert, womit er den Kontrast von Bildung und Unbildung, von Komplexität und Simplizität bereits in der Zeit und dem Erfahrungsraum der vormodernen Völker selbst verortet und als Ungleichzeitigkeit der Entwicklung der verschiedenen Seelenvermögen beschreibt!?.

Freilich

läßt er unerörtert,

inwieweit

diese

Ungleichzeitigkeit

den 'Naturvölkern' selbst dıe Erfahrung des Naiven ermöglicht. Immerhin unterstellt er bei Homer - der der Moderne als naiver Dichter erscheint - ein Gefühl

für die rührende

Wirkung

der Darstellung des Naiven,

eine

Raf-

fınesse, dıe den Verlust eigener Naivität indiziert (vgl. 181,26 - 182,11). In einer Analogie zum Verhältnis der gebildeten Völker zu den Naturvölkern steht das Verhältnis der Erwachsenen zu den Kindern, Hier läßt sich der transitorische Charakter und die Unmöglichkeit der Fixierung und Imitation jener Ungleichzeitigkeit der Bildung aufzeigen, die dem Betrachter den Eindruck des Naiven vermittelt. Schleiermacher verdeutlicht dies am Problem der Kinderliteratur (vgl. 184,18 - 185,14): Kann sie sich ohnehin kaum in die besondere Erfahrungs- und Auffassungsweise von Kindern und in das besondere »Kolorit« (185,1), worın sie ıhre Erfahrungen und Einsichten ausdrücken,

hineinversetzen,

so läuft sıe, gerade wenn das

gelingt und sie den spezifischen Ton einer gebildeten Darstellung trıfft, hinter der die Unverbildetheit der Empfindung noch spürbar ist, Gefahr, die

auf Überwindung

der Ungleichzeitigkeit von

Verstandes-

und

Empfin-

dungsbildung hin tendierende Dynamik der kindlichen Entwicklung zu mißachten und beizeiten den Kindern »selbst einfältig und verächtlich vorzukommen« (185,13). Kinderliteratur muß diese Entwicklung antızipıeren und

damit auch katalysieren, indem Stuffen über dem

sie sich »immer noch eine oder ein paar

Ton der Kinder zu erhalten« weiß (185,10f.).

Nicht das

Festhalten kindlicher Simplizität, sondern umfassende Bildung der Seelenvermögen muß daher das Ziel der Erziehung sein. Auch diese Erwägung weist mithin zurück auf dıe zentrale Bedeutung der gebilderen Simplizität

des naiven Charakters.

19

Überraschend ist hier im übrigen die Wahrnehmung einer Simplizität hinter einer Kormplexität, nicht wie beim naiven Charakter die Wahrnehmung einer sich einer Komplexität (moralischer Bildung} verdankenden Simplıizität hinter einer Simplizität.

158

1. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

2, Selbstverständigung und Selbstmitteilung: Probleme der sprachlich vermittelten Kommunikation in der Abhandlung »Ueber den Styl« Die Arıstoteles-Anmerkungen erfaßten sensibel die anthropologischen Implikate und die Funktion wechselseitiger vertraulicher Kommunikation2®, Unerörtert blieben dabei jedoch eigenartigerweise Fragen, die die innere Möglichkeit von Selbstexpression und Selbstmitteilung bzw. der Wahrneh-

mung solcher Selbstmitteilungen betreffen: Wie - in welchem Medium vollzieht sich eigentlich 'Kommunikation von Individualität’? Und was wird da genau kommuniziert? Wie wird der Zweck dieser Kommunikation, die Wahrnehmung des Andern als Ändern, erreicht? Wie ıst das (oder der) An-

dere überhaupt verstehbar? Diese Lücke füllt die fragmentarische Abhandlung »Ueber den Styl«Z1, eine Ausarbeitung Schleiermachers für den Unterricht der jungen Grafen Dohna in Schlobitten aus dem Winter 1790/9122, mit einer Theorie des sprachlichen Ausdrucks von Vorstellungen und der sprachlichen intersubjektiven Verständigung. Ausgehend von der kategorialen Differenz von Vorstellung - als der streng ıindıviduell gedachten basalen psychischen Enti-

tät - und Sprache als allgemeinem Zeichensystem für deren Ausdruck, das aber seinerseits wiederum je individuell verwendet wird, beleuchtet Schles-

ermacher dabei hell die Norwendigkeit der Versprachlichung schon für die Selbstverständigung,

umso

mehr für die soziale Kommunikation,

zugleich

aber die Unwahrscheinlichkeit und den Voraussetzungsreichtum des Verstehens, was dieses zur beständigen Aufgabe und die Ausbildung einer Kunstlehre zur methodischen Steigerung der Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks sowohl zu den individuellen Vorstellungen als auch zu den Ver-

hältnissen der intendierten Rezipienten erforderlich macht. Bietet die Abhandlung so ın der Tat »mannigfaltige() Ansatzpunkte (...) für dıe Ent-

wicklung und Ausarbeitung der Schleiermacherschen Hermeneutik«23, steht sie zugleich ganz im konzeptionellen Zusammenhang

20

Vgl, oben Kap.

so

von Schleier-

\.

21 KGaA Ir, 363 - 390; vgl. den überlieferten Entwurf 357 - 361. 22

Zur Frage der genauen Datierung vgl. die Einleitung des Bandherausgebers 1/1, LIX - LXIT, bes. LIXf.

in KGA

23 36 G. Meckenstock in der Historischen Einführung zu KGA 1/1, LXI (Hervorhebung von mir), in Abgrenzung gegen »Diltheys abschätziges Urteil«: »Flüchtig wie sıe entstanden sind, so daß sie bisweilen extemporiert wurden, bieten sie nichts, was hervorgehoben zu werden verdiente« (Denkrmale 63).

2. »Ueber den Styl« machers sozialtheoretischem Theorieansatz2*,

159 Insofern die Schwierigkeiten

des Verstehens ın unbekannteren und distanzıerteren sozialen Kontexten wachsen und also das Bedürfnis nach reflexer Orientierung dort dringender wird, transzendiert sie freilich die Freundschaftstheorie im engeren Sinne, stellt jedoch die Verbindung zu dieser selbst wieder her, indem sie auch freundschaftliche Vertrautheitsverhältnisse als Anwendungsgebiet der Stilistik eigens begründet (vgl. 366,26 - 327,1).

2.1. Das Problem der Kommunikation Schleiermacher

setzt

das

Bedürfnis,

sich

anderen

mitzuteilen

bzw.

die

Selbstmitteilungen anderer zu rezipieren, unerörtert voraus; man wird dafür die in den Aristoteles-Anmerkungen entwickelten Motive interpolieren dür-

fen?°,

Die Notwendigkeit der Selbst-Verständigung

ausdrücklich;

sie illustriert die grundlegende

betont er hingegen

Unterscheidung

der

Vorstel-

[ung als des psychischen Elementarereignisses von deren zeichenhafter Darstellung und die Funktion der Transformation von jener in diese für die Etablierung und Kontinuierung eines individuellen Selbstverhältnisses. Schleiermacher akzentuiert diese ungemein folgenreiche Unterscheidung auf zweierlei

Weise:

Einmal

hebt er dıe »Schnelligkeit (...), mit welcher dıe

Gedanken in unsrer Seele auf einander folgen und einander gleichsam vertreiben« (384,9-11), als den gewissermaßen natürlichen Grund dafür hervor, daß die dadurch entstehenden Ideenketten dem Einzelnen selber ın ihrem Zusammenhang und in ihrer Komplexität und dauernden Bewegung nicht unmittelbar zugänglich und als sie selber reproduzierbar sind; umgekehrt 'arbeitet' die Seele mit elliptischen, nur angedeuteten, assoziativen Anschlüssen, die das Bewußtsein nicht ohne Explikationsanstrengungen

mit- und nachvollziehen kann. Diese reflexiv uneinholbare Komplexität und Schnelligkeit der seeleninternen

psychologische Theorie

von

Prozesse sucht er zum

Sinnlichkeit,

(Fantasie) als den »drei Geseze(n)

nach

Verstand

andern

und

durch eine

Einbildungskraft

denen unsre Vorstellungen

in uns

entstehn und auf einander folgen« (373,3f.) zu begründen, wonach bei Bildung einer Gedankenreihe gemäß dem einen Gesetz die anderen Gesetzmä24

Die Eigenständigkeit wird noch dadurch unterstrichen, daß Schleiermacher für Begriffe und Anwendungsbeispiele haufig auf Johann Christoph Adelungs dreiteiliges Werk »Ueber den

Deutschen

Styl«

(in der dritten Auflage,

Berlin

1789)

zurückgreift,

ohne

aber von dessen Anlage konzeptionell beeinflußt zu sein. 25

Vgl. oben Kap. I, 1.2. erweckt werden muß.

und 2.5.

- Zu beachten

ıst jedoch,

daß das Interesse erst

160

l. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

Bigkeiten immer mitpräsent bleiben und in die Reihenbildung einzugreifen bestrebt sınd, so daß einlinıge Konsequenz nie von selber erreicht wird, sondern in einem zugleich Komplexität reduzierenden und Komplexıon ex-

plizierenden,

zugleich seligierenden und entfaltenden,

nachgängigen

Ver-

fahren erst errungen werden muß. Die Selbstverständigung ist mithin zwar notwendig, aber sıe ist immer eine Selbstobjektivation mit dem Risiko der Selbstverfehlung durch falsche oder zu starke Reduktion oder durch verzer-

rende Explikation. Eine gewisse begriffliche Kontrolle der Angemessenheit dieser Selbstobjektivation ermöglicht die Unterscheidung von Hauptvorstellung und Nebenvorstellung, die die Theorie der Reihengesetze so reformuliert, daß die einer Gesetzmäßigkeit folgende dominierende Vorstellung (bzw.

Vorstellungsreihe)

immer

von

Vorstellungsreihen

der anderen

Ge-

setzmäßigkeiten begleitet wird, denn dann bildet die Gewichtung zwischen Haupt- und Nebenvorstellungen ein Kriterium der Sachgemäßheit der Objektivierung - wobei allerdings die Schwierigkeit bestehen bleibt, daß die

Hauptvorstellung faktisch nie ohne die nicht vollständig reproduzierbare konkrete Fülle der Nebenvorstellungen existiert, so daß die Selektion von Nebenvorstellungen auch das Verständnis der Hauptvorstellung mitbestimmt. Die Selbstverständigung ist freilich nur ein abkünftiger Sonderfall des zu behandelnden

Problems {der als Moment der Steigerung der Differenziert-

heit der Darstellung immerhin im Auge behalten werden muß). Grundkonstellation ıst vielmehr dıe Mitteilung eigener Vorstellungen an Andere. Das wird deutlich bei der Erörterung des Mediums, worin sich die Darstellung und Deutung, kurz: der »Ausdruk« (365,11) der Vorstellungen als desjenigen, »was wir in unsrer Seele gewahr werden, es sei Gedanke, Begriff oder Empfindung« (365,8f.), vollzieht, indem als dieses Medium die Sprache -

und ausdrücklich als konventionelles und mithin sozial vermitteltes Zeichensystem namhaft gemacht wird26, Einen für die Verständigung hinreichenden 26

Schleiermacher geht aus von einem allgemeinen Zeichenbegriff, unterscheidet beı dıesem

zwischen

natürlıchen,

wesentlichen

und willkürlichen

Zeichen

und ordnet

diesen

jeweils den »Styl« der verschiedenen »schönen Künste und Wissenschaften« zu (365,23) - ein erster Versuch der Systematisierung und anthropologischen Verortung der Künste -: Sınd dıe natürlichen Zeichen unmittelbare Folgen der bezeichneten Sache (etwa Mimik und unartikulierte Ausrufe als Zeichen innerer Bewegtheit) - die entsprechende Kunstform ist die Musik -, so konstituiert die wesentlichen Zeichen eine Ahnlichkeit von Zeichen und Bezeichnetem, was in der bildenden Kunst der Fall ist. Schleiermachers eigentliches Interesse in diesem Aufsatz gilt aber den willkürlichen Zeichen, die »blos durch Verabredung an die Sache gebunden« sind (365,20f.), nämlich der Sprache als einem System von Wörtern und der zugehörigen Kunstform der Literatur.

2. »Ueber den Styl«

161

Grad an Gegenständlichkeit ('Objektivität'), Festigkeit und Bearbeitbarkeit erreicht die Sprache freilich noch nicht als gesprochene - die Wörter sind hier zwar unmittelbare Zeichen der Vorstellungen, aber kaum weniger flüchtig als diese -, sondern erst, wenn

diese ihrerseits in das sie bezeich-

nende System der Schrift transformiert und dadurch fixiert sind2?’. Genauer muß man sagen: Das Niveau der Konkretion und situationsüberdauernden Dauerhaftigkeit, der Identifizierbarkeit und Korrigierbarkeit, der Zugänglichkeit und Diskutierbarkeit, das dem schriftlich Niedergelegten eignet, ist der Maßstab für die Ansprüche an die Aussagekraft auch der mündlichen Kommunikation. Gewährleistet die durch die Orientierung an den Standards der Verschriıftlichung noch verstärkte Allgemeinheit der Sprache dıe Gemeinsamkeit des Mitgeteilten, so verschärft sich jedoch noch die Frage, ob in diesem Medium die individuellen Vorstellungen überhaupt vermittelt werden können. Denn zwar vollzieht sıch deren Versprachlichung durchaus auf

individuelle Weise - das allgemeine Kommunikationsmedium wird immer je individuell angeeignet und angewendet -, aber dies stellt gleichwohl eine Entäußerung in eine vom Individuum nicht vollständig zu kontrollierende Sphäre dar, da auch die Rezeption der allgemeinen Sprachzeichen und die Rückübersetzung in Vorstellungen durch Andere je individuell ist und die ursprüngliche Vorstellung von einem Bezugssystem her versteht und ın dieses integriert, das ıhr fremd ıst.

Zieht man die oben erörterte unvermeidliche Selektivität und Verzerrungstendenz schon der individuellen Selbstverständigung hinzu, so ergibt sich ein komplexes Bild der Unwahrscheinlichkeit des Verstehens, das ın der Tat die »Neigung

zum

Mißverstand«

(377,20)

als die realistische An-

fangsunterstellung bei jeder Kommunikation anzunehmen geraten sein läßt: (1) sind die momentanen

Vorstellungen eines Menschen in ihrer Konfigura-

tion von Haupt- und Nebenvorstellungen, ın der Kopräsenz von Sinnlichkeit, Verstand und Fantasie als reihenbildenden Instanzen je individuell und werden (2) schon bei der wiederum individuellen Versprachlichung seligiert und dabei der Gefahr der Verzerrung und Verfehlung ausgesetzt, wobei dıe Funktion der Versprachlichung - Selbstverständigung oder Mitteilung, und

bei der letzteren auch die konkreten Adressaten - die Selektion der Selektionskriterien bestimmt, so daß von einer unabhängig davon gegebenen, absoluten Ausdrucksgestalt einer Vorstellungskonstellation gar nicht gesprochen

27

werden

kann.

Konsequenterweise

(3)

stellt diese

empfiehlt

wenngleich

Schleiermacher

auch

individuelle

für die

schriftliche Objektivation (Tagebücher ete.). Vgl. 366, 19-26.

Versprachli-

Selbstverständigung

die

162

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

chung gleichwohl eine Entäußerung in die Allgemeinheit der Sprache dar, die zwar unvermeidlich ist, wenn überhaupt Verständigung gesucht wird, die aber (4) das Verständnis des Mitgeteilten der ihrerseits individuellen

Sprachverwendung der Adressaten überlassen muß, bei denen zudem noch (5) der Erfahrungsschatz und die Imaginationsfähigkeit die Dechiffrierung der Sprachzeichen ın ındıvıduelle Vorstellungskonfigurationen ermöglichen muß, die den Ausgangskonfigurationen entsprechen. Dabei ist nicht nur damit zu rechnen, daß der Adressat mit bestimmten Sprachzeichen andere Vorstellungsgehalte (Bedeutungen) verbindet als der Mitteilende, sondern auch daß er bei der Rezeption die Gewichtung von Haupt- und Nebenvorstellungen verändert, und sogar daß er in Kombination dieser Verfehlungen einen Nebenton der Mitteilung mißversteht und zugleich in den Mittelpunkt

seines Verständnisses stellt28. Diese Fülle der Mißverstehensmöglichkeiten ist auch in der Freundschaft nıcht so stark reduziert, daß bei der wechselseitigen brieflichen »freundschaftliche(n) Ergießung des Herzens« (366,29) ein solches intuitives Verständigt-Sein vorausgesetzt werden könnte, das sprachliche Präzision (guten Stil) bei der Selbstmitteilung unnötig macht, da der Andere Fehlendes ohne weiteres hinzuimaginieren oder Verwischtes mühelos sich verdeutlichen könne. Denn zwar fällt ım freundschaftlichen Briefwechsel der Zwang zu konventionell-äußerlichen Sprachformen weg, aber zugleich erhöhen sich auch die Ansprüche an die Individualität des Mitgeteilten und damit an die Differenziertheit der Mitteilungsform. Mag so die gewachsene Vertrautheit

mit der Vorstellungswelt und mit der Sprachverwendung des Freundes sowie die Entstehung einer Sphäre seelischer Gleichstimmung das Verständnis für dessen Selbstmitteilungen erleichtern, so bricht gerade das freundschaftliche Interesse für immer neue Individualitätswahrnehmungen diese in sich ruhende Gleichstimmung immer wıeder auf und verlangt nach überraschenden, nicht intuitiv vorwegnehmbaren, vielmehr den Spielraum des zu Erwartenden sprengenden Selbstmitteilungen des Anderen, deren sprachliche Formung deswegen keineswegs durch dıe Unterstellung stabil harmonischer Vorstellungswelten von Präzisionsansprüchen entlastet, sondern

durch das dynamische Verständnis von Freundschaft zur Präzision geradezu genötigt ist. 28

Noch gar nicht miterfaßt sind bei dieser Auflistung mögliche Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Ausdrucksarten bei einem Menschen in einer bestimmten Situation, also etwa zwischen Mimik und sprachlicher Selbstauslegung oder Selbstmitteilung, welche Diskrepanzen den Beobachter hinter die Seibstauslegung zurückfragen und ggf. ein Selbstmißverständnis, einen Übertragungsfehler von der Vorstellung in die Sprache vermuten lassen - von bewußter Täuschung ganz zu schweigen.

2. »Ueber den Styl«

163

2.2. Stilistik als methodische Kontrolle und Förderung kommunikativer Vollzüge

Ist Verstehen mithin unwahrscheinlich, so ist es doch nicht unmöglich. Die Analyse der Verständnisbarrieren markiert zugleich die Voraussetzungen gelingender Verständigung. Der Aufweis der Nichtselbstverständlichkeit indiziert nur eine zu leistende Aufgabe. Nach dem Bisherigen handelt es sich bei dieser Aufgabe um die Kontrolle der Versprachlichung und Verschriftlichung von Vorstellungen und die Rezeption und Identifikation dergestalt versprachlicht vermittelter Vorstellungen sowie um die Förderung derartiger Verständigungsprozesse durch Einsicht ın die Eigentümlichkeit sprach-

licher Kommunikation und in daraus abgeleitete Regeln für die konkrete Sprachverwendung. Insofern nun »Styi« als dıe Kunst der deutlichen Darstellung von Vorstellungen durch Worte bzw. durch Schriftzeichen zu bezeichnen ist (vgl. 365,33

- 366,7),

bildet die Srilistik als die Entwicklung

und Systematisierung der Regeln reflektierten Sprachgebrauchs die gesuchte praxisorientierte Kunstlehre.

Ihre Kriterien gewinnt diese Kunstlehre aus der Analyse der Kommunikationssituation und aus basalen anthropologischen Annahmen über das Bedürfnis und die Funktion intersubjektiver Verständigung. Grundlegend ıst dabei die Bestimmung der »Adsicht des Sryls« (369,1): Die Reflexion des kommunikativen Sprachgebrauchs hat nicht nur die Verständlichkeit des Mitgeteilten (1), sondern auch die Weckung und Erhaltung des /nteresses (2) des Rezipienten an der Mitteilung zu intendieren. 'Stilisierung' dient

mithin nicht allein der propositionalen Verdeutlichung des Sinnes der mitzuteilenden Wörter und Sätze um ihrer Adäquatheit zu den dann ausgedrückten Vorstellungen willen, sondern ebenso der performativen Akkomrnodation der Sprachgestalt an die vermutete Stimmungslage, Erwartungshaltung

und

Sprachbildung des Adressaten

bzw.

genereller der

spezifischen Rezeptionsöffentlichkeit??. Mittel zur Erreichung dieses doppelten Zweckes ıst nun zunächst die Selektion der zur Mitteilung

29

In dieser Doppelung der Abzweckung des Stils schlägt sich Eberhards Lehre von den deutlichen Vorstellungen nieder, die für sıch allein der Lebhaftigkeit und deshalb der Motivationskraft entbehrten (vgl. oben Kap. 2, 2.2.). Bezeichnenderweise begegnet dieses Eberhardische Moment aber wiederum wie in den Aristoteles-Anmerkungen im Zusammenhang einer sozialtheoretischen Verortung rationaler Onentierung ın ıntersubjektiven Kommunikationsprozessen, in denen die kontingente Situation und die emotionale Gestimmtheit mitbestimmend wirken. - Zur Auswirkung dieses Moments in Ethik und Anthropologie vgl. unten Kap. 4, 1. die Behandlung der Schrift »Ueber das höchste Gut«.

164

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

geeigneten Vorstellungen

- bei der freilich strittig ist, ob sie bereits zur

Stilistik selbst gehört oder nicht vielmehr zu deren psychologischen Voraussetzungen (vgl. 370,18-22) -, dann aber vor allem die Auswahl geeigneter Wörter und deren Anordnung im Satz, sowie auf der

Makroebene des Textes die Wahl und Anordnung der Sätze (vgl. 370,32 371,9). Zieht man schließlich die beiden oben beschriebenen? Haupthindernisse der Hinordnung der Sprache auf diesen Zweck hinzu - (a) die Verbindung der Subjektivität der individuellen Sprachverwendung mit der "Objektivität" des Sprachmaterials und (b) die schwierige »Regierung der Nebenvorstellungen« (373,33f.) -, so ergibt sıch ein vierstelliges Raster der »allgemeine(n) Eigenschaften« des Stils (374,1), deren konkrete

kriterielle Satzstellung

Bedeutung

für

Wortwahl

und

Wortstellung,

im einzelnen jeweils aufgewiesen

werden

muß

Satzwahl

und

- wobei

dann

der ganze materiale Bestand der Wort- und Satzbildungslehre (und auch der Orthographie, vgl. 366,5-11) systematisch erfaßt werden kann: Grundlegend ıst dıe Älarheit (1/a) als Eindeutigkeit des Bezuges des sprachlichen Ausdrucks auf die ausgedrückte Vorstellung. Sie wird flankiert (1/b) durch die Angemessenheit, nur solche Nebenvorsteliungen mitzukom-

munizieren, die der Mitteilung der Hauptvorstellung nicht widerstreiten. Durch Lebhaftigkeit (2/b) hingegen evoziert der Ausdruck beim Rezipienten »Nebenvorstellungen (...), welche das Interesse befördern« (374,9f.). Leichtigkeit (2/a) schließlich bewirkt, daß der Leser die kommunizierten Vorstellungen ohne Mühe »als seine eignen ansehn kann« (374,8), d.h., daß er dazu motiviert wırd, dıe sprachliche Gestalt ım Kontext seiner Vorstel-

lungswelt zu dechiffrieren und damit zu resubjektivieren. Eindeutig ist hier die Priorität des Verstehens vor dem

Interesse, das

auch nur als Interesse am Verstehen geweckt werden soll. Deshalb kommt der Klarheit dıe entscheidende Bedeutung für den guten Stil zu; insofern ist der Mangel zwar nıcht unerheblich, aber für die Einsicht in die Gesamtkon-

zeption doch zu verkraften, daß Schleiermacher von den Eigenschaften des Stils nur sie behandelt hat?!. Dabei fällt auf, daß Schleiermacher sich bei der Diskussion und Beurteilung der Stilmittel hinsichtlich ihrer Klarheit generell an der allgemeinen Öffentlichkeit einer Nationalsprache - genauer: des Deutschen, da jede Stilistik sich immer nur auf eine bestimmte Sprache beziehen kann (vgl. 366,7-11) - in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand orientiert, dies freilich immer im Zusammenhang mit einer Konzeption der 30

Ygl. oben 2.1.

31

Der Text bricht kurz vor Ende der Behandlung der Klarheit mitten ım Satz ab. Vgl. 390,37.

2. »Ueber den Styl«

165

Entwicklungstendenz von Sprache überhaupt hin auf größere Differenziert-

heit und erfaßten ter, dem entweder

Spezifikation der Bedeutungen und auf Ausweitung der sprachlich Phänomene und Sachverhalte. So lehnt er die Verwendung veraltegegenwärtigen Zustand der Sprache nicht mehr angemessener überhaupt unverständlich gewordener oder in veränderter bzw.

spezifizierter (engerer) Bedeutung gebräuchlicher (vgl. 379,22 - 380,8) Wörter ebenso ab wıe den Gebrauch provinzieller, nur regıonal bekannter

Wortbildungen und Wortbedeutungen - die er nicht einmal im Roman als Mittel der lebendigen Charakterisierung einfacher Leute akzeptiert, sofern darunter die Verständlichkeit leidet (vgl. 380,20-26). Die zu seiner Zeit gängige Kritik der Fremdwörter und dıe Forderung der Eindeutschung vollzieht er, freilich ım Gefälle seiner Konzeption behutsam differenzierend,

mit: Einerseits sollen Fremdwörter vermieden und durch deutsche Äquivalente ersetzt werden, sie seien denn durch langen Gebrauch bereits gewissermaßen

"eingebürgert' (vgl. 378,10-12), andererseits soll die Tendenz der

Verdeutschung - so »wolthätig für die Sprache« sie »an sich« ist (378,36) nicht zu einem

solchen

»Purismus«

gesteigert werden,

der auch

bewährte

Fremdwörter zu eliminieren sucht, und jedenfalls ist die Übernahme fremdsprachiger Begriffe so lange unvermeidlich, wie das Deutsche noch nicht den Differenzierungsgrad etwa des Französischen erreicht hat (vgl. 378,1217). Eindeutig positiven Funktionswert hat die Verwendung von Fremdwörtern sogar in der wissenschaftlichen Kunstsprache, wo Fachbegriffe, die ein

Ensemble von Einsichten und Regeln bündeln und symbolisiert appräsentieren, die Verständigung der Experten beschleunigen. Diese Fachbegriffe müssen konventionell eindeutig bestimmt sein, und dies ist bei Fremdwörtern leichter, da hier nicht noch die mitschwingenden umgangssprachlichen Bedeutungsfelder ausgeschaltet werden müssen, sondern das

bisher unbekannte Wort zugleich mit seiner Definition mitgeteilt werden kann. Allerdings ist diese Spezialsprache der Experten eindeutig als Sonderfall gegenüber der Normalität und Normativität der Allgemeinverständlichkeit gekennzeichnet; eine Verwendung der wissenschaftlichen Begriffschiffren in geselligem Umgang ist deshalb unstatthaft, sie wirkt entweder pedantisch oder affektiert (vgl. 380,27 - 381,26). Im Gegensatz zu solcher deplacierter Begriffsesoterik wird die (allgemeine) Verständlichkeit gefördert durch erläuternde Zusätze, von denen Schleiermacher allgemeine Sätze,

Beispiele

Allgemeine

(einzelne Sätze) und Bilder behandelt

Sätze

»Zusamenhang

jedenfalls dann,

helfen

mit

den

ihren

wenn

Rezipienten,

übrigen

sie weder

(388,10

die dargelegie

Einsichten«

so weit vom

zu

»Idee«

integrieren

einzelnen

- 390,37).

ın den

(388,17T.),

Fall abstrahiert

sind, daß sie der für alle Fälle gültigen »Verstandesregel« nahekommen

und

166

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

also für dessen

Verständnis

nicht austragen,

noch

so nahe

am

Einzelfall

bleiben, daß sie ihn nicht erläutern, sondern nur verdoppeln (vgl. 388,2125).

Ratsam

ıst hier oft eine Reihe von Erläuterungen,

die (induktiv oder

deduktiv) schrittweise eine Verbindung zwischen Einzelfall und Verstandesregel herstellen (vgl. 388,26 - 389,1). Beispiele veranschaulichen einen an sich bereits geklärten Sachverhalt durch Darstellung einer »Anwendung« desselben; sıe erfüllen ıhren Zweck aber nur, wenn sie leicht und schnell faßlıch sind und nicht ihrerseits der Erläuterung bedürfen (vgl. 389,11-26).

Bilder schließlich »erläutern dıe Beschaffenheit der Sache durch ein ähnliches

Verhältniß«

(390,2f.;

Zitatumstellung

von

mir)

-

wobei

der

»Vergleichspunkt« aber »leicht zu finden« und die »Aehnlichkeit« »so treffend sey(n)« muß, »daß sie einen hohen Grad von Klarheit über die Sache verbreitet« (390,4f.). Darf dabei freilich weder eine Art von Erläuterung im

Überfluß verwendet noch der Stil durch eine Anhäufung aller drei Arten »überlad(en)«

werden,

werden

(390,9),

so dürfen

die Arten

auch

nıcht vermischt

so daß der allgemeine Satz witzig oder Beispiel und Bild allge-

meingültig zu sein beanspruchen; denn dann läuft man »Gefahr Unsinn zu sagen« (390,18) und mithin den intendierten klärenden Effekt zu konterka-

rieren. Überhaupt sichert die Menge der explizierenden Worte keineswegs die Verständlichkeit; vermeidet sıe zwar den Fehler der allzuknappen Darstellung, in der Regel unbegründet einen Konsens der Vorstellungswelten zu unterstellen32, so rechnet sie doch vorschnell mit einem Konsens der individuellen Sprachverwendungen

und übersieht,

daß mit jedem

Wort mögli-

cherweise differierende ındıviduelle Konnotationen mitgesetzt und deshalb die Gefahr des Mißverstehens erhöht ist (vgl. 382,33 - 383,12). Schleiermachers Stilistik ist eindeutig am Ideal der klaren und distinkten und vor allem zusammenhängenden Mitteilung von Ideen (propositionalen Gehalten) orientiert. Deshalb paßt sie auf der einen Seite in den Zusammenhang der anhand der Freundschaftstheorie entwickelten intersubjektivitätstheoretischen Konzeption der wechselseitigen Individualitätswahrnehmung und -kommunikation und präzisiert diese Konzeption in entscheidenden Punkten, übersteigt freilich ihre auf die Sozialform Freundschaft bezogenen Prämissen hin auf die Erhellung allgemeiner Verständigungsbedingungen; auf der anderen

Seite jedoch

kann

sie Sprache

nur als notwendiges,

aber

sekundäres Medium der Mitteilung von Vorstellungen wahrnehmen. Für die Sprache an sich, für ihre Brüche, Zweideutigkeiten, Ungleichzeitigkeiten, Unregelmäßigkeiten, hat er nur beschränktes Verständnis. Ihre voliständige Elimination gilt ihm zwar als nicht nur nicht realisierbar, sondern 32

Vgl. oben 2.1.

3. »An Cecilie«

167

auch als nicht wünschenswert, da dies der Sprache »viel von ihrer Schönheit rauben« würde (375,18f.),;, aber ein spielerischer, experimenteller, Kontrolle des Darstellungs- und Mitteilungsinteresses und dem Zwang

der zur

Kohärenz entzogener Umgang mit den Stilmitteln der Sprache liegt außerhalb seines Gesichtsfeldes. Dies verdient festgehalten zu werden als Kontrast zu der hochartistischen Sprachkunst und dem Lob der fragmentarischgebrochenen Darstellung, wıe sıe Schleiermacher einige Jahre später ım Kreise der Frühromantiker

begegneten

- zumal

deshalb,

weıl das ın der

Schrift »Ueber den Styi« dokumentierte Zuordnungsverhältnis von Vorstellung und Sprache eine nie mehr aufgegebene Konstante in Schleiermachers

Theorieentwicklung bildet??.

3. Krisis der Ordnungsgewißheit und biographische Integration: »An Cecilie« Die (unvollendete)

fiktive Brieffolge »An

Cecilie«

(KGA

//l,

189 - 212)

steht in doppelter Hinsicht mit dem herausgearbeiteten geselligkeitstheoretischen Ansatz in Beziehung: Zum einen ist die die Erörterung auslösende Situation als Störung einer - im engeren Sinne freundschaftlichen, also nicht nur konventionellen - Geselligkeit beschrieben (dem entspricht die dialogische Struktur der Briefform,

die auch dann vorliegt, wenn

Antwortbriefe mitgeteilt werden);

wıe hier keine

zum anderen aber wird die Krisis der

Vertrauenswürdigkeit und der unmittelbaren, unbefragten Geltung der sozialen Strukturen und Ordnungsinstanzen thematisiert, in die der Einzelne

durch Geburt und Sozialisation hineingestellt ıst, und zu diesen gehört auch die Freundschaft (vgl. 207,11-26).

Das Einheitsinteresse der Vernunft, das

diese Entzweiung mit der Lebenswelt auslöst und deren Überwindung begleitet und begründet, erscheint dabei erstmals eingebunden in ein umfassendes anthropologisches Konzept der biographisch-genetischen Rekonstruktion der Entwicklung und Bildung aller Seelenvermögen und ıhres Verhältnisses zueinander - welches Konzept (wie zu zeigen sein wird) den im Medium der Schulphilosophie Kant aufnehmenden philosophischen »Rhapsodien« und Abhandlungen zugrunde liegt und in diesen präzisiert 33

Vgl. nur die »Reden« und die »Glaubenslehre«. Dazu: R. Leuze: Sprache Selbstbewußtsein. Bemerkungen zu Schleiermachers Glaubenslehre. in: (Hg.): Schleiermacher-Kongreß. Band 2. Berlin - New York 1985, 917 Differenz zwischen dem 'frühromantischen' Schleiermacher und F. Sprachverständnis hat herausgearbeitet K. Nowak,

und frommes K.-V. Selge - 922. - Die Schlegel ım

Frühromantık, 222 - 224.

168

l. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

und begrifflich strenger Entfaltung zugeführt wird?* und das in der Schrift

»Ueber den Werth des Lebens« zum Zwecke der Erhellung der Selbstverhältnısse von Individuen um eine umfassende Darstellung der menschlichen

Lebenssphären erweitert wird, bei der wiederum die Geselligkeit in herausragender Stellung erscheint. Da schließlich hier erstmals die Religion in ihrem Verhältnis zu Herz und Vernunft, in ihrer biographisch-faktischen und in ihrer rational verantworteten Bedeutung - ausführlich zur Sprache kommt und damit zudem ein - freilich typologisierend-verallgemeinerter und theoretisch reflektierter - Rückblick auf »Schleiermachers und C.G. von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine«°® vorliegt, kann Meckenstocks hohe Meinung vom Rang dieses Textes nur unterstrichen werden’.

3.1. Dissonanz in freundschaftlicher Geselligkeit Ausgelöst wırd der Briefwechsel durch eine Verstimmung im freundschaftlichen Umgang

zwischen dem

Briefschreiber?? und der Adressatin Cecilie.

Diese Verstimmung ıst verursacht durch den im Medıum seiner von Schleiermacher verlesenen Gedichte gewissermaßen mitanwesenden Selmar (d.h. Brinckmann)??.

Cecilie,

die diese Gedichte

offenkundig

als unmittelbare

Selbstexpression des Dichters als Individuum auffaßte, reagierte verstört auf den »Sprung« (191,14), den sie zwischen jenen »oft so erhabenen, immer so gefühlvollen Stellen« voller »Unsterblichkeitsahndung« und »liebliche(r) Vorempfindung eines ewigen Wiedersehns« (191,19f.) und einem einzelnen 34 Vgl, unten Teil II. 35

Ygl. unten Kap. 6.

36

So der Titel des Buches von Emst Rudolph Meyer, Leipzig 1905.

37 Vgl. Deterministische Ethik, 132 (»Schlüsselroman«) sowie insgesamt 132 - 147. Ähnlich auch K. Nowak ın seiner Sammelrezension »Die neue Schleiermacher- Ausgabe« TnLZ 109 Athenaeum

in:

(1984), Sp. 917-926, hier: 924. Anders Albert L. Blackweli ın New 1 (1989), 370 - 382, hier: 374: »A few of the nineteen manuscripts of the

present volume [sc. KGA T/1] will perhaps prove to be little more than historical curiosities. The newly revealed essay An Cecilie (ca. 1790), for example, ıs an almost impenetrable meditatıon on the verse of Schleiermacher's close friend Kar] Gustav von Brinckmann (pen name Selmar), today all but forgotten as a poet.» Blackwell scheint

aber sein Urteil über dıe poetischen Qualitäten Brinckmanns auf den doch nur in sehr eingeschränktem Maße als Kommentar der Brinckmannschen Gedichte zu bezeichnenden Text Schleiermachers zu übertragen. 38

Er wird im folgenden der Einfachheit halber mut Schleiermacher identifiziert.

39

Gedichte von Selmar. 2 Bände. Leipzig 1789. Die entscheidenden Passagen sind zitiert bei Meckenstock, Deterministische Ethik, 132f.

3. »An Cecilie«

169

»Blatt« wahrnahm, »wo selbst die Spuren dieser Gesinnungen gewaltsam weggewischt« scheinen (191,28f.). Sıe vermochte also die disparaten Äußerungen nicht zu einer konsistenten Einheit der Person zu bündeln, bzw. sie konnte eine solche Einheit nur finden, indem sie die »vortreflichsten Stüke« (192,6) als durch die Unsterblichkeitsskepsis negiert und zur

scheinhaften Oberfläche degradiert betrachtete und jene Skepsis - die eo ıpso Immoralität impliziert - als das eigentliche Integrationszentrum dieser Person erkannte?Ü, Schleiermacher seinerseits ist verstimmt durch diese (in seinen Augen) Verkennung der Vortrefflichkeit des Charakters seines Freundes durch die Freundin. Diese Vortrefflichkeit, die in der Treue zur Tugend als dem »hauptsächlichste(n)« Gegenstand des Glücksstrebens

besteht (vgl. 191,6f.), gilt ihm unabhängig von allen »Meinungen und Vorstellungen«, dıe der Freund im übrigen »zu seiner Zufriedenheit nothwendig findet« (191,7f.).

Deutet sich hierin die Ablösung der Moralität von allen

religiösen Bestimmungen an, wie Schleiermacher sie ın hG erarbeitet hatte*!, so sieht er sich doch genötigt, der Freundin nicht nur die Kompatibilität der Unsterblichkeitsskepsis mit einer sıttlich hochstehenden Gesinnung, sondern geradezu die Norwendigkeit der Entstehung solcher skeptischer Ideen aus dieser Gesinnung plausibel zu machen. Damit hofft er, die

freundschaftliche Harmonie der drei Beteiligten wiederherzustellen: Indem Cecilie die tugendzentrierte Einheit und Authentizität der Person Selmars anerkennt, verschwindet auch Schleiermachers Dissens mit ıhr. Die Methode der Plausibilisierung ist dıe biographisch-genetische Rekon-

struktion. Das disparat Erscheinende soll dabei als Moment oder als Phase in den kontinuierlichen und konsequenten Zusammenhang

des als Entwick-

tung und Selbstbildung verstandenen Lebensweges integriert, Widersprüche sollen mithin durch temporale Entzerrung mit der Einheit der Person harmonisiert, ja als von dieser Einheit hervorgebracht und diese umgekehrt weiterentfaltend interpretiert werden. Durch die Integration in die Totalität der Biographie werden Gegensätze also einerseits nivelliert, andererseits aber gerade erklärt und - als nicht-kontradiktorisch - stabilisiert (plausibe] gemacht).

Schleiermachers Interesse ist freilich nicht die 'historische‘ Rekonstruktion des moralischen Bildungsganges des Individuums Selmar. Es geht ıhm um die allgemeine Frage, wie ein tugendhafter Charakter unter konsequen-

40

Zum Problem der Wahrnehmung oder Zuschreibung von Einheit ın den Lebensäußerungen des Freundes als Kriterium für deren Authentizität vgl. bereits oben Kap. ij, 2.3. unter (b) und (c).

4

Vgl. unten Kap. 4, 1.

170

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

ter Tugendorientierung zu religiöser Skepsis gelangen kann, ohne damit die Tugend - was für Schleiermacher heißt: die »Richtschnur« der Orientierung und Verstetigung der Lebensführung (vgl. 199,6-8)%2 - zu verlieren. Bei dieser Beschränkung des Konkretionsgrades des Erklärungsanspruchs mag die freundschaftstheoretische Erwägung eine Rolle spielen, daß auf der

einen Seite authentische Selbsterklärung letztlich nur Selmar zustehe#3 und auf der anderen Seite auch Cecilie die Aufgabe, sich ein Bild von Selmar zu machen, nicht abgenommen werden dürfe - weshalb Schleiermacher sie auffordert, selbst zu urteilen, welche Momente seiner allgemeinen Darstellung nach ıhrer Einsicht auf Selmar zutreffen (vgl. 193,9f.). Wichtiger

scheint jedoch zu sein, daß es Schleiermacher tatsächlich um eine idealtypische Darstellung des Zerbrechens der Vertrauenswürdigkeit überkommener geistiger Ordnungsinstanzen und vertrauter sozialer Strukturen gerade bei einem nicht deformierten, nicht eingeschränkten, sondern anthropologischidealen Charakter geht**. Diese Idealität wird dadurch unterstrichen, daß Schleiermacher unter Anwendung eines psychologischen Schemas, das Menschentypen

gemäß den verschiedenen

Kombinationen

von starker oder

schwacher Denkkraft und starkem oder schwachem Empfindungsvermögen

einteilt*°, Selmar zu derjenigen Gruppe zählt, die große »Empfänglichkeit 42

Hier scheint eine Differenz zu Schleiermachers Position in den - teilweise zeitgleich entstandenen - philosophischen Texten und zu WL vorzuliegen. Diese setzen alle voraus, daß) das Sittengesetz dıe biographische Kontinuität des individuellen Lebens nicht zu gewährleisten vermöge, da es keineswegs ın jedem Lebensmoment - und auch nie vollständig - dominant werden könne. Vgl. unten Kap. 4 - 6. Jedoch wird auch in »An

Cecilie« die krıterielle und orientierende Bedeutung des Sittengesetzes nirgends in Frage gestellt, und die Tugend ist das Hauptmoment der »Bestimmung des Menschen«, so daß nach ıhr zu streben unter der Verheißung bestimmungsgemäßer Existenz steht. 43

Obwohl die Freundschaftskonzeptionja auch dte Kommunikation von Bildern der Indivıdualität Anderer - freilich gegenüber diesen selbst, und mit der Möglichkeit authentischer Korrektur - enthält. Vgl. oben Kap. 1, 2.3.

44

Man wird deshalb die biographisch-autobiographische Komponente des Textes nicht überbewerten dürfen. Zumindest darf man ihn nıcht prımär als verschlüsselte Autobiographte lesen, abstrahiert er doch nach eigenen Angaben von Brinckmanns Bıldungs-

weg und reflektiert mithin unmuttelbar allenfalls die Entwicklung eines vernunftbegabten und zugleich {religiös} empfindsamen jungen Mannes, der von der Brüdergemeinde zunächst angezogen, dann aber abgestoßen wırd - was für Schleiermacher und Brinckmann zutrifft. Es scheint sogar, als wollte Schleiermacher an einigen Stellen durch den Hinweis auf alternative, aber in ihrer Wirkung und für den typologischen Zusammenhang äquivalente Werhaltensoptionen die Darstellung für den 'Weltmann' Brinckmann wie für den 'Philosophen' Schleiermacher offenhalten (vgl. 199,14-16 mut 199,25f.). Freilich ist auch jede konkrete Anspielung auf die Brüdergemeinde getilg1. 45

In der Dualität der Vermögen - die Schleiermacher für erfahrungsevident hält (vgl. 200,32) - liegt der Einfluß der Vorstellungstheorie Eberhards am Tage; er zeigt sıch

3. »An Cecilie«

171

des Gefühls«e mit hohem »Bewustseyn des Vernunftprincips« verbindet (200,36 - 201,1). Freilich: Kann deshalb zwar die Rekonstruktion der Mo-

ralität der Unsterblichkeitsskepsis nicht durch die Unterstellung der Unzulänglichkeit des betreffenden Charakters angegriffen werden, so steht für dıe Zugehörigkeit des Individuums Selmar zum vollkommenen Charaktertyp nur das Urteil Schleiermachers selbst ein (und ggf. das Cecilies, sofern sie sich von Schleiermachers Rekonstruktion überzeugen läßt). An dieser Zuordnung hängt aber die ganze Rekonstruktion, da sie in einer Lebensphase ansetzen muß, in der die Differenzen der Charaktere noch gar nicht ausgefaltet sind (vgl. 200,14-17).

3.2. Die Krisis der Ordnungsinstanzen Der für »Sittlichkeit« und »Wahrheit« (also für "spekulative'

und praktische

Vernunft) aufgeschlossene (193,12-18) und empfindungsstarke Charakter unterscheidet sich schon ın der ersten Phase nach Eintritt »ın die Welt des Verstandes«

(194,18f.)

vom

»gewöhnliche(n)

Mensch(en)«

(194,17)

da-

durch, daß er sich nicht »behaglich(}« (194,19) einzufügen vermag an dem Ort, wo er gepflanzt ist, und sich nicht zufriedengeben kann mit den hier zufällig möglichen und gegebenen Kenntnissen und Erfahrungen, selbst wenn diese den engen Raum der Herkunft transzendieren. Sein (latentes, sich nur in einer unbestimmten Sehnsucht und Defizitahnung artikulieren-

des) Einheits- und Begründungsinteresse findet auch an der Schulbildung keine Genüge, weıl diese nur parzelliertes Einzelwissen vermittelt ohne »einen Gesichtspunkt (...), wo sich [dessen] allgemeiner Zusammenhang darstellt« (195,11f.). Auch die reichlich zuhandenen »geselligen und

ästhetischen Empfindungen« (195,16) verfliegen nach kurzem Rausch, da er die Fähigkeit noch nicht ausgebildet hat, »sich alle einzelnen Theile seiner Gefühle zu widerholen, einen Genuß mit dem andern und Wirkungen mit Ursachen zu vergleichen, um auch hier Zinheit der Kraft und des Endzweks und Geseze der Wirksamkeit und der Bestrebungen zu finden« (195,19-22;

Hervorhebung von mir). Aufgrund seiner Jugend und seines noch sehr eingeschränkten

Wissenshorizontes

kann das Interesse an »Einheit

ständigkeit« (195,30) sich freilich nicht an Gegenständen

und

Voll-

realisieren, wo

auch, wenn bei der Kombinatıon von starkem Verstand und schwachem Gefühl die Ohnmacht des Verstandes, verhaltensorientierend zu werden, herausgestellt wird (vgl. 202,22-37). Das Verfahren des Schematisierens hingegen scheint Schleiermachers eigene Leistung zu sein; jedenfalls hat er es in seinen reifen Arbeiten, v.a. der Ethik, Zur Virtuosität perfektioniert. Vgl. aber schon ÜdS und dazu oben 2.2.

172

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

das Ganze sich erst aus der »Uebersicht aller einzelnen Theile« (195,31; Hervorhebung von mir) ergibt, sondern nur da, wo die »Idee des Ganzen (...) zuerst da seyn muß« (195,33f.), der dann einzelne Teile zugeordnet werden können. Als solche Ideen oder »Gesichtspunkte« (195,32) nennt

Schleiermacher Tugend und Religion (vgl. 196,4). Während in der Jugend freilich (vgl. 196,4-13) die »Abhängigkeit des Willens« und der »Bewegungsgründe« von der »Willkühr anderer«, die Nötigung zur Unterwerfung ohne oder gegen eigene Einsicht die Ausbildung

der Idee der alle Lebensäußerungen durchdringenden Tugend verhindert sie »wächst nur in den ofnen Gärten der Freiheit« (196, 12f.) -, ist die Reli-

gion indifferent gegen diese sittliche Heteronomie, ja relativiert sogar die diese begleitende, momentan unabwendbare Einschränkung, indem sie »eine noch größere Abhängigkeit predigt und (...) gleichsam über die kleinere trösten kann (,) welche ein Bild von jener ist« (196,14f.; Hervorhebung von

mir), Da sie zudem keine sittliche und spekulative Eigenleistung verlangt, sondern »mit einer mildthätigen Willigkeit überall [wächst,] wo der Mensch

sie ausstreut« (196,15f.)4”, ist sie die der Jugend offenstehende Einheitsinstanz, die einen individuellen Daseinszweck vermittelt, der in einem »Zusammenhang (...) mit der ganzen Welt« (196,19) steht, und so eine ein-

heitliche Orientierung aller Handlungen und Seelentätigkeiten ermöglicht. Bei der natürlichen Suche nach Gleichgesinnten, nach religiöser Vergesellung führt freilich die jugendliche Faszination für starke Empfindungen und lebhafte Äußerungen zu einer folgenschweren Verirrung: Gerade der begabte Jugendliche schließt sich nicht einer weltoffenen, Wahrheit und

Tugend auch bei Außenstehenden wahrnehmenden, teilnehmend-tolerant die Vielfalt der individuellen Lebenswege anerkennenden Gestalt religiöser Gemeinschaft

46

an

(vgl.

197,9-18)

- hier

dokumentiert

sıch

offenkundig

Es ist dies m.W. die erste Äußerung Schleiermachers, die die Religion ausdrücklich als Abhängigkeit bestimmt und - dem Wortlaut nach quantitativ, dem Wortsinn nach hingegen kategoriat - unterscheideti von ınnerweltlichen Abhängigkeiten. Eigentümlich ist allerdings das Analogie- oder Abbild-Verhältnis, in dem die irdische zur religiösen Abhängigkeit steht und das dıe innerweltliche (relatıve) Freiheit von der Religion her abzuwerten scheint. Freilich ıst zu beachten, daß dıe Religion ja über einen momentan unabwendbaren,

aber keineswegs als dauerhaft wünschbaren

und deshalb

zu überwin-

Jdenden Zustand trösten, d.h. pgegenwärtiges Weiterleben tragen und Lebensmöglichkeiten für eine bessere Zukunft konservieren soll. Jedoch bleibt die Bedeutung der Re-

ligion für den Befreiungsprozeß selbst unklar: Muß er notwendig gegen die Religion durchgesetzt werden, oder ohne sie - oder gar mit ihrer Unterstützung? 47

Vgl. zur Metaphorik auch die Reden »Über die Religion«, etwa KGA 1/2, 305,14-19. Möglicherweise liegt auch eine Anspielung vor auf das biblische Gleichnis von der selbstwachsenden Saat, vgl. Mk 4,26-29.

3, »An Cecilie«

173

Schleiermachers eigenes Leitbild human temperierter religiöser Sozialität -; attraktiv erscheinen ıhm gerade asketische, das Leben ihrer Mitglieder gemäß ihrem sehr engen Begriff von Religion durchgängig und rigoros regu-

lıerende, sich gegen die Außenwelt abschottende, »alle Urtheile der Welt« ignorierende Gruppierungen, da an diesen der religiöse »Enthusiasmus« besonders lebhaft zu Tage tritt (197,19-21). Dieser Enthusiasmus durchstrahlt

alle Lebensvollzüge der Gruppe und nötigt den Einzelnen zu unkritischem Mitvollzug, dazu gehört auch, aufgrund der Autorität des Gruppengeistes die orthodoxe

Form

der Lehre (»dıe abgetragenen

Hüllen

verjährter Mei-

nungen«, 197,26f,) entgegenzunehmen, die sich die Gruppe gegeben hat, damit sie - wie Schleiermacher ironisch anmerkt - »von dem Glanz ihrer [sc. der »Göttin« (197,26) Religion] himmlischen Gestalt nicht geblendet« würde (197,28). 'Selbstdenken' als gleichsam unverhüllter Blick auf die Gottheit, rationale Prüfung, kritische Distanz ist nicht möglich, wird gleichgesetzt mit dem Verlust der Religion selbst, die Vernunft liegt in »Sklavenfesseln« (198,11). In dieser Gestalt hindert die Religion tatsächlich

die Entwicklung rationaler Eigenständigkeit. Allerdings kann dıe praktische Vernunft nie vollends unterdrückt werden. Wenn auch »oft unter einem fremden Namen« (198,20), bleibt selbst

unter Bedingungen, die dem Partikularismus der Einbindung ins Überkommene ähneln, das Interesse an überindividueller, situationstranszendenter Geltung von Verhaltensorientierungen präsent und sogar anerkannt (vgl.

198,25-29). Die praktische Vernunft bildet mithin die Statthalterin von Rationalität und Allgemeinheitsinteresse - und das Enzym der Überwindung jener Einschränkung der Vernunft. Denn unvermerkt ändert sich das ethische Begründungsgefälle: Anstelle der »unbestimte(n) Idee des göttlichen Willens« übernimmt nun die »bestimmte() Vernunftidee von Einheit der Grundsäze« (198,30f.) die Funktion ethischer Letztbegründung und begrün-

det mithin auch die Berufung auf den göttlichen Willen®3, selbst wenn diese an der semantischen Oberfläche noch als dominant erscheint. Dieser »Grundkeim von dem Leben des Geistes ın dem bessern Zustand, welchen die Vernunft ihm bereitet« (198,32 - 199,2), ermöglicht allererst eine einheitliche, keiner göttlichen oder menschlichen Willkür und ebensowenig

den Exzessen und Schwankungen des Gefühls wehrlos ausgesetzte Verhaltensorientierung und gibt damit der Seele dıe Möglichkeit des situationsunabhängigen Selbstbezugs und der inneren »Festigkeit und Consistenz« wieder, »welche sie sich selbst« durch den Enthusiasmus »rauben zu wollen«

43

Eine Argumentationsfigur, dıe übrıgens ın Eberhards »Sıttenlehre der Vernunft« sehr schön zu beobachten ist. Vgl. oben Kap. 2, 1.3.3.

174

l. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

schien (199,8f.). Jetzt entwickelt sich dıe Idee der Tugend als diejenige Einheitsinstanz, die eine Selbststabilisierung und Selbststeuerung des Einzelnen auch gegen den Gruppengeist möglıch macht. Die Gefangenschaft der spekulativen Vernunft ist freilich dadurch noch nicht aufgehoben. Sie wird dem jungen Menschen - obwohl er einsieht, »daß kein praktischer Grundsaz, der doch immer als ein Lehrsaz, als eine Wahrheit gedacht werden muß, mit den ersten Grundsäzen aller ErkenntnıB, oder gar mit den Bedingungen ihrer Möglichkeit ın Widerspruch stehn dürfe« (204,9-12) - lange Zeit verborgen gehalten durch ein von den »Verfechter(n) der Schwärmerei« (204,15) hochgehaltenes Verständnis der Vernunft, das diese vermeintlich von dem Vorwurf der Vernunftfeindschaft

salviert (vgl. 204,15-32). Sie behaupten nämlich, nur die »Anmaßungen« (204,20) der Vernunft zu bekämpfen: Diese sei aus sich selbst heraus weder zum Urteil über noch zur Geserzgebung für die Bestimmungen der »innern Gefühle« (204,25) fähig und befugt,

sie sei vielmehr bloß das ausführende

Organ für deren Realisierung in allen Lebensverhältnissen. Die '"Schwärmer' nehmen für sich in Anspruch, das innere Gefühl - durch welches allein »dıe Mittel zur Glükseligkeit des Ganzen hervorgebracht werden« könnten (204,27f.) - vom »Despotismus« (204,20) einer sich aufblähenden Vernunft befreit und dıese umgekehrt in ıhre wahre, nämlich die-

nende Funktion

bet der Hervorbringung

der menschlichen

Glückseligkeit

wiedereingesetzt zu haben*?. 49

Bemerkenswerterweise formuliert Schleiermacher diese Konzeption in der staatstheoretischen Semantik der Französischen Revolution, so daß seine Äußerungen sich auch als indirekte Stellungnahme zu dieser lesen lassen (die folgenden Zitate 204,15-32): Die »Empörerrotte« beansprucht, nıcht Herrschaft an sıch zu bekämpfen, sondern nur den »Despotismus«, der sich auch Legislative und Judikative gefügig mache. Sie will statt dessen die Macht anstelle einer vom »Staatskörper« unabhängigen, absolutistischen Gewalt zur bloßen Exekutive machen, zur Funktionärin des »Tiers-etat«, der deshalb »der wichtigste [Stand] von allen« ist, »weil nur durch ihn die Mittel zur Glükseligkeit des Ganzen hervorgebracht werden können« (womit möglicherweise die ökonomische Kraft dieses Standes gemeint ist). Die Interessen (»Dekrete«) jener - das Wohl des Ganzen tragenden und insofern die führende Rolle beanspruchenden - Schicht hat die »ausübende() Gewalt«

ohne Vetorecht

im »ganzen Staatskörper« durchzusetzen.

Diesen

Zustand, der der normale, rechtmäfßige und angemessene ist, soll die Revolution herstellen. Schleiermachers scharfe Kritik an der von ıhm unterstellten Selbstverabsolutierung von Partikularinteressen in der Französischen Revolution überrascht angesichts

sehr viel

positiverer

anderer

Äußerungen

zu

diesem

Thema,

die

gerade

die

Orientierung an der Vernunft und den allgemeinen und gleichen Menschenrechten hervorheben. Wenn er dıe Exzesse bei der Durchführung ablehnt, dann deshalb, weil die Revolutionäre dabeı ihren eigenen Prinzipien von Gleichheit und Gerechtigkeit untreu werden, indem sie etwa den Adlıgen jene allgemeinen Rechte absprechen. Vgl. im Briefwechsel den Bericht über diverse Diskussionen anläßlıch der Enthauptung

3.»An

Cecilie«

175

Diese Konzeption einer dem inneren Gefühl dienstbaren instrumentellen Vernunft - dıe im übrigen erstaunliche strukturelle Parallelen zu Jacobis Philosophie der allem rationalen Wissen zugrundeliegenden und von diesem nicht einholbaren und kritisierbaren Glaubensgewißheit aufweist>® - kann in ihrer sophistischen Vermischung richtiger und falscher Sätze nur durch eine spekulative Theorie der Vernunft, die der Vernunft gewissermaßen an sich selbst

ansıchtig

wird,

kritisiert

werden.

Der

Ausbildung

einer

solchen

Theorie steht aber im Wege, daß der junge Mensch auch im Praktischen und im Religiösen selber noch nicht hinreichend zwischen Gefühl und Wissen zu unterscheiden vermag und aufkeimende »Zweifel der spekulativen Vernunft« zurückstellt, da ihm seine emotionale Zufriedenheit die »Richtigkeit« seiner »Grundsäze« zu verbürgen scheint (204,32 - 205,2).

Diese Zufriedenheit in den »romantischen und

den

»steifen

Alleen

der Rechtgläubigkeit«

Gefilden der Schwärmerei« (199,13f.)

und

der damit

verbundenen sozialen Geborgenheit kann lange währen. Es können äußere Faktoren

sein, die schließlich den Durchbruch

zur reinen Rationalität vor-

bereiten: Auf der einen Seite dämpfen Sorgen den Enthusiasmus, auf der anderen Seite erfordern die »Geschäfte« des Lebens eine geschärfte »praktische Urtheilskraft des gesunden Verstandes« (199, 15f.), wenn nicht

gar die »Bestimmung für den Dienst der höheren Wissenschaften es nothwendig macht, den Spielraum der Vernunft zu erweitern« (199,25f.). Der eigentliche Anstoß aber ıst, daß das theoretische »System der Schwärmerei« (205,35), die theologische Begründung jener Unterordnung der Vernunft unter das innere Gefühl, sıch als unhaltbar erweist. Zurecht interpretiert Meckenstock?! die folgenden Andeutungen über diejenigen Lehrstücke, die gegen rationale Kritik nicht gehalten werden können, von Schleiermachers im Briefwechsel belegter christologischer Krise her?2.

Denn es ist sicherlich die Unverträglichkeit der Lehre vom stellvertretenden $ühneleiden Christi mit einer rationalen Anthropologie und Ethik gemeint, wenn es heißt, von Sätzen, »welche nicht begriffen werden können« (206,3f., Hervorhebung von mir), könne unmöglich die »Glükseligkeit des Menschengeschlechts« abhängen (206,4). Solche Sätze könnten auch nicht Ludwigs XVT.: KGA V/L, 280f. (Brief 209 [14.2.1793], Z. 101-148). Zum Thema überhaupt vgl. K. Nowak: Die Französische Revolution ın Leben und Werk des jungen Schleiermacher. In: K.-Y. Selge (Hg.}: Schleiermacher-Kongreß. Band 1. Berlin - New York 1985, 103 - 125. 50 Auch hıerin erweist dıe Passage sıch als sperrig gegen spätere Äußerungen machers. sl

Deterministische Ethik,

339.

52 Vgl. aber auch im Text selbst 208,8-10.

Schleier-

176

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realısmus

durch Verweis auf die legitimierenden Wundertaten Christi gestützt werden, da diese ihrerseits »unbegreifliche Begebenheit(en)« (206,5f.) darstellten - ganz abgesehen davon, daß es dem »Begrif von Gott« wıderspräche, wenn Gott sich durch bestimmte »individuelle() konkrete() Thätigkeit(en)«

auswiese, die »seiner allgemeinen Thätigkeit ın Erhaltung der Naturgeseze entgegen« seien (206,7-9)°3. Erst die Einsicht in die innere Widersprüchlichkeit (vgl. 206,11f.) der in der religiösen Gemeinschaft geltenden Lehre nötıgt dazu, von dıeser unabhängige Instanzen der Vergewisserung über Zusammenhang und Einheit der Welt (und der menschlichen Existenz in ihr) zu suchen, genauer: die Vernunft unabhängig von der Religion und umgekehrt als »profane(s)« (207,3) Kriterium für die Beurteilung von deren

»Meinungen und Lehrsäzen« (206,40) zu bestimmen, Erst jetzt, da gewissermaßen der Rückweg abgeschnitten ist, findet der junge Mensch auch die Kraft, sıch aus der trügerischen und einschränkenden Geborgenheit der Gruppe zu lösen und sich der Vereinzelung des 'Selbstdenkens’ auszusetzen. Denn die ın der Gruppe gepflegte Freundschaft wirkt bei ıhm nicht mehr als »Hülfsmittel« »bei jeder unangenehmen Begebenheit« (207,12f.), da die Basıs der Freundschaft, die gemeinsamen »Gesinnungen«, »für ıhn nicht mehr«

gegeben

ist (207,23f.),

so daß »wechseiseitige

Herzensergie-

Bungen« (207,26) ihn allenfalls noch für Augenblicke befriedigen“. Schleiermacher betont die Labilität, den psychisch kritischen und risikoreichen Charakter dieses Zustandes der Emanzipation vom inneren Gefühl und von religiös stabilisierter Geselligkeit. Wenn schon nicht mehr die Umkehr in dıe ehemals als »prächtige() Gebäude« bewunderten, Jetzt enttarnten »Luftschlösser« (206,32) in den »romantischen Gefilden« (199,13) droht, so ist doch jetzt die Orientierung an den »reinen Begriffen von absoluter

Tugend« (208,4) von keinen »sittlichen Empfindungen« (208,6) begleitet, die das Herz ähnlich wärmen wie vorher die gefühlsmäßige Anknüpfung »an das Kreuz des Erhöhten oder an dıe Lohnungskränze der Ewigkeit« (208,9f.). Kalte »Ueberlegung« (208,10) muß in dieser »öde(n) und leere(n) Ebene« (206,31) das religiös-emotionale Motivationspotential ersetzen.

Zwar kann dieser Zustand aufgrund der zugrundegelegten anthropologischen Dualität und Komplementarität von Verstand und Herz und des (als 53

Die Forderung der Einheit von Schöpfung und Neuschöpfung als im strengen Sinne theologisches Erfordernis begegnet auch in WL. Vgl. 421,28-37 und dazu unten Kap. 6, 2.2.

54 Ebenso verliert auch das Naturerlebnis seine die »Gefühle() über die Gottheit« (207,31) bestätigende Bedeutung; die Natur ıst jetzt »für ıhn todt« und stumm (207,29). Zum Verlust lebendiger Naturerfahrung bei einseitiger Pflege der Ratıonalıtät vgl. auch WL (dazu unten Kap. 6, 2.6.).

3, »An Cecilie«

177

gegeben vorausgesetzten) existenttellen Interesses an der Religion nicht lange dauern; bald wendet sich der junge Mann der kritischen Sichtung und der vernünftigen Neubegründung der »theoretischen Säze« und »der religiösen Gefühle« zu (208,30.32). Doch gerade hier besteht die Gefahr, daß die Identifizierung einzelner »falsche(r) Münzen der Fantasie« (208,33) ein

»allgemeines Mißtrauen

gegen alle jene überschäzten

Empfindungen«

er-

zeugt (208,38 - 209,1; Hervorhebung von mir), das dann - verstärkt durch

dıe (nur durch die Anerkennung des subjektiven guten Willens gelinderte) Bitterkeit des Rückblicks auf »mißverstandne und verlorene Theile des Lebens« (209,7f.} - eine radikale Skepsis gegen »alle() höheren Kenntniße« und »kalte Verachtung aller erhabenen Empfindungen« (209,20f.) nach sich zieht. Gegen einen solchen Umschlag ins andere Extrem ist Selmar freilich gefeit durch sein Einheitsinteresse, und zwar im Blick auf Verstand und Herz: Während andere angesichts des Verdämmerns der einen Gestalt religiöser Empfindungen (die ım Sinne Eberhards zu den übersinnlichen gehören>>) sich resignativ nur noch an der ungeordneten Vielfalt der sinnlichen Empfindungen orientieren (vgl. 210,13-22), sucht er weiterhin nach einer vernünftig geordneten »Einheit seiner Gefühle« (210,23; Hervorhebung von

mir), die er mehr in seiner Seele - in seinen »eignen Ideen« - findet als an den »sich so mannıgfaltig durchkreuzenden und widersprechenden äußern Gegenstände(n)«

(210,26-28).

Ebenso wenig »verzweifelt« (210,4) er über

dem Scheitern eines theoretischen Systems an der Einheit der Wahrheit überhaupt und gibt sich wie andere mit der skeptisch-relativistischen Auskunft zufrieden,

Denn

weil

es gebe »wol Wahrheiten

es eine Vernunft gibt,

muß

aber keine Wahrheit«

Wahrheit

»nothwendig

(209,30).

da seyn«

(210,4), und als zur Vernunft gekommen muß Selmar sie auch »entdeken« können (210,5). Dies alles führt allerdings nur unter der Voraussetzung zu einer Neukon-

stitution der Religion, daß das Einheitsinteresse der Vernunft ın einem notwendigen vernünftigen Zusammenhang steht mit den »erhabnen Ideen von dem höchsten Wesen und der ewigen Dauer der menschlichen Seele« (211,7f.).

Diesen

Zusammenhang

eruiert Selmar auf dem

Boden

der von

Schwärmern und Aufklärern gemeinsam, wenn auch mit unterschiedlichen Gründen und Motiven, anerkannten und deshalb von der Krisis unbehelligten »sittlichen Geseze()« (211,3). Es ist die anthropologische Dürftigkeit der

rein rationalen Tugendorientierung, die »Herz und Vernunft« (211,6) darın übereinstimmen läßt, »daß wenn auch dıe Verbindlichkeit zur Tugend von 55 Vgl. SdV, $ 118 Anm. 3 (S. 129): »übersinnliche Begriffe; vgl. oben Kap. 1, 1.2.2. und Kap. 2, 2.4.

178

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

allem übrigen wäre,

diese

unabhängig Einrichtung

allein in dem nur

ein

Fehltritt

Wesen der

der Vernunft Natur

und

eine

gegründet traurige

Nothwendigkeit bleiben würde, wenn es nicht eine höhere Bestimmung des menschlichen Geistes gäbe und wenn nicht das Daseyn eines höchsten Wesens uns dıe Weisheit und verborgene Harmonie dieser Beschaffenheit unseres Wesens verbürgte« (211,13-19). Die Religion hat also eine notwen-

dige Funktion bei der Überwindung der Weltlosigkeit der Tugend, indem sie die innere Konsistenz einer Ratio und Empfindung, Tugend und Glückseligkeit umfassenden wesentlichen Bestimmung des Menschen und deren Zusammenhang mit der Totalität der Welt durch den Gottesbegriff vergewissert. Zudem erhöht sie - wenn das denn nötig zu sein scheint?6 - die Verbindlichkeit der sıttlichen Gesetze durch den äußeren Grund des Ver-

weises auf den göttlichen Willen?’ und steigert durch die Verheißung ewigen Lebens dıe Motivation zur »Pflicht der Selbstliebe«, da diese nun »in allen Kräften der Seele [sc. durch deren tugendgemäße Betätigung] schon jetzt den Grund zu ihrer geistigen und himmlischen Glükseligkeit in einem unsterblichen Daseyn

zu legen« vermag (211,22-25).

Unklar bleibt bei die-

sen überhaupt etwas unsicher wirkenden Aussagen freilich, warum auf diesen beiden durch rationale Zweifel »unerschütterlichen Felsen« - Gott und Unsterblichkeit - »allein das schwere Gewölbe strenger Pflichten ruhen« können soll (211,25-27, Hervorhebung von mir). Deutlich ıst jedenfalls, daß auf diese Weise die Versöhnung der rational emanzipierten Seele mit der Welt, die Aufhebung der Vereinzelung von statten gehen soll - wobeı offenbleibt, ob mit dieser »allgemeine(n) Religion der besseren Menschheit«, ın deren »schöne(m} Klıma« alle »Kräfte des Geistes« wiederaufleben (211,33-35), auch eine Wiedergewinnung religiöser Vergesellung einher-

geht, die dann freilich mit einem höheren Grad der Selbständigkeit und sittlichen Individualität der Beteiligten verbunden gedacht werden müßte. Diese harmonische Balance von Vernunft und Religion scheint die Stufe der Bildung zu sein, die Cecilie bei $elmar erwartet hatte - und die ja auch lange Passagen von dessen Gedichten widerspiegelten, weshalb die Zerstörung der Balance, die Verwerfung von Gott und Unsterblichkeit als ratio-

nalen Ideen um so brüskierender wirken mußte, Schleiermachers eigentliche Intention

mit seinen Briefen ist es, gerade diesen letzten Schritt als ın

56

Vgl. Schleiermachers vorsichtige und vage Formulierung

211,19-21.

57

Genauso - wenngleich ohne die vage Einschränkung - argumentiert Eberhard, vgl. SdV $ 131 (S. 146) und oben Kap. ?, 1.3.3. Für Eberhard reicht die möglicherweise motivationssteigernde Kraft des Gehorsams gegen den göttlichen Willen aus, diesen seinerseits zur sittlichen Pflicht zu erheben.

3, »An Cecılie«

179

der Konsequenz dıeses Charakters liegend und mithin als seinerseits moralisch plausibel zu machen. Die ganze bisherige Rekonstruktion diente nur dem Zweck, die Moralität, die Kontinuität der Entwicklung und die Sich-

selbstgleichheit dieses Charakters im Prozeß seiner Bildung zu demonstrieren (vgl. 212,18-24). Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß er »auch in dem übrıgen Theil seines Weges sich gleich bleiben wird« (212,23f.).

Zudem hat sie eine dialektische Entwicklungslogik Phasen der Einbergung ın den konkret-partikularen mit den ın diesen vırulenten Ideen und eingespielten abgelöst werden von Phasen der Vereinzelung, der

offenbart, der gemäß sozialen Lebenskontext Haltungen regelmäßig Herauslösung aus dem

Gewohnten und Vertrauten aufgrund des anthropologisch konstitutiven (wenngleich nur bei wenigen sıch tatsächlich durchsetzenden) Einheits- und Universalıtätsinteresses der Vernunft, die freilich in sıch ınstabil sind und

immer auf eine erneute, der neuen Bildungsstufe angemessene Einbindung ın

soziale

Lebenskontexte

und

eine

Wiedergewinnung

emotionaler

trautheit hin tendieren - bis auch diese wieder transzendiert wird. »schöne Oekonomie

Ver-

Diese

in dem Reich der Wahrheit (...), vermöge welcher der

fromme Pilger nach langen Leiden auf dornenvollen Irrwegen« - die ım übrigen sowohl im Bereich der Geborgenheit wie ın dem der Entzweiung liegen können - »von Zeit zu Zeit in ein schönes Gefild kommt«, das ıhn »durch eine süße Täuschung, 'als ob er schon am Ziel seines Weges wäre' zu neuen Wanderungen und neuen Mühseligkeiten stärkt« (212,4-8) - diese

Entwicklungslogik ıst zu beschreiben als ein komplexer Prozeß der Ausdıifferenzierung und der Redintegration der ausdifferenzierten Momente, der eine Steigerung der 'Autonomie' sowohl der einzelnen innerseelischen Vermögen im Verhältnis zueinander als auch des einzelnen Individuums als

ganzen im Verhältnis zu anderen Individuen und zur Gesellschaft verbindet mit der Gewinnung von entsprechend komplexeren Formen der Zuordnung und Einheit sowohl in der Seele als auch in der Gesellschaft, wobei die jeweils neue, höhere Stufe die Funktionen mindestens der beiden vorhergehenden Stufen erhalten und erfüllen muß; dadurch manifestiert gerade der Prozeß die Kontinuität und Identität einer ihm selbst vorgegebenen Wesens-

bestimmung des Menschen (die allerdings erst retrospektiv ım Verlauf des Differenzierungsprozesses zu Bewußtsein kommt). Da diese Bestimmung nun aber nicht in der völligen

Vergeistigung,

in der All-Einheit der Ver-

nunft, sondern in der vernünftig strukturierten Einheit aller Seelenkräfte, nicht in der Vereinzelung der totalen Selbstbestimmung, sondern in der Kommunikation von Individualıtät besteht, wırd deutlich, daß der Prozeß im sinnlich bestimmten, permanent den unberechenbaren Veränderungen

180

!. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

der Außenwelt und der Eigenmacht der Gefühle ausgesetzten Leben nicht zu einem definitiven Ende kommen kann. Wird diese Entwicklungslogik akzeptiert, so ergibt sich Selmars erneuter

Aufbruch »in jene unfruchtbare und trostlose Provinzen« der Philosophie (212,16f.) nachgerade von selbst. Schleiermacher stellt diesen Schritt an dieser Stelle nicht mehr dar - der Text bricht unvollendet ab -; es ist aber

genau jene Kritik der Ideen von Gott und Unsterblichkeit im Namen

der

Reinheit der (praktischen) Vernunft, die Schleiermacher ın der Schrift »Ueber das höchste Gut« mit großem Scharfsinn durchführt?®. Motiviert ist dieser Schritt ohne Zweifel durch die Kritik der reinen Vernunftideen in

Kants Transzendentaler Dialektik?? und durch Kants Programm der Reinigung der Ethik von allen emotionalen und religiösen Bewegungsgründen; er wendet sıch dann aber kritisch auch gegen Kants eigene Wiedereinführung des

Glückseligkeitsmotivs

und

der Vernunftideen

von

Gott

und

Unsterb-

lichkeit in die Sittenlehre und gewinnt so ein eigenes Gepräge6°. Überhaupt läßt sich die Entwicklung von Schleiermachers Theoriegefüge in den fol-

genden Texten®! durchaus in die herausgearbeitete Entwicklungslogik einzeichnen: als Ausdifferenzierung von Tugend und Glückseligkeit, Vernunft und Empfindung, Ethik und Religion (Kap. 4 und 5) und als deren erneute

Zusammenführung und Neubegründung in einem ıintegrativen anthropologischen Konzept, das ın der Schrift »Ueber den Werth des Lebens« unter Aufgreifen des Begriffs der sinnlich-rationalen Doppelbestimmung des Menschen zu einer ersten umfassenden

positiven Darstellung gelangt (Kap. 6).

Dabei ıst freilich dıe selbständige Neubegründung der Religion jeweils nur erst angedeutet.

58

Vgl. unten Kap. 4, 1.

59 Vgl. KrV B 396 - 732 (Weischedel, Band 4, 339 - 361 und 399 - 605). 60

Dies, sowie die - wie zu zeigen sein wird - höchst komplexe Gemengelage der Rezeption, Varjation, Kritik und wechselseitigen Interpretation und Vermittlung von Schuiphilosophie und Kantıanısmus lassen es geraten erscheinen, den »an Cecılie« nur angedeuteten und noch ausgesparten Schritt nicht unmittelbar als »Übergang von der Halleschen Schulphilosophie zur Transzendentalphilosophie« aufzufassen (so Meckenstock, Deterministische Ethik, 147). Meckenstock selber weist darauf hin, daß Schleiermacher ın »An Cecilie« für die Rekonstruktion des Bildungsprozesses eine Terminologie verwendet, die »sowohl auf den aufklärerisch-schulmäßigen als auch auf den Kantischen Vermunftbegriff hin konkretisiert werden kann« (a.2.0., 137; vgl. auch ebd., Anm. 21); er schreibt also nicht aus einer geklärten Kantıschen Position. Und selbst dann wäre der Kritizismus nur als Moment der Entwicklungslogik gekennzeichnet.

61 Vgl. unten Kap. 4 - 6.

4. Die Weihnachtspredigt 1791

181

4. Freundschaft und Liebe zur Gattung: Die Weihnachtspredigt 179] Hatte Eberhard Freundschaft Menschenliebe bestimmt®2, so stoteles-Anmerkungen als eine sich von anderen Sozialformen

bloß als Konkretisierung der allgemeinen erschien sie bei Schleiermacher in den Arispezifische Form der Sozialbeziehung, die dadurch abhebt, daß sie ein (sittlich gefor-

dertes} Interesse an der sıttlichen Vollkommenheit

und

Vervollkommnung

des je Anderen verbindet mit einem Interesse der wechselseitigen Wahrnehmung, Kommunikation und Förderung von /ndividualitär?. Aufgrund dieser Verbindung

ist Freundschaft die zwar seltene, da Zeit des Vertraut-

werdens und Intensität des Engagements verlangende, aber zugleich die anthropologisch paradıgmatische Gestalt der Sozıalıtät. Das sittliche Verhältnis zu anderen Menschen fällt dagegen ab als reine Pflicht, die keine Wahrnehmung der Individualität der Betreffenden verlangt, die vielmehr sogar mit manifester Verachtung und Misanthropie einhergehen kann. Jedenfalls entbehrt sie des motivationsfördernden Potentials, das ın der freundschaftlichen Anteilnahme liegt. Angesichts dieser Wertungsdifferenz könnte man

meinen,

Schleiermachers

Interesse an vernünftiger Sittlichkeit

erschöpfe sich in dem engen Kreise des freundschaftlichen wechselseitigen Vervollkommnungsstrebens, und man könnte allenfalls vermuten, das mit dem Rationalıtätsanspruch mitgesetzte Erfordernis der Universalisierung und Allgemeingültigkeit denke Schleiermacher sıch als Ausbreitung von Freundschaftsverhältnissen, Gesellschaft mithin als großen Freundschafts-

bund®4. Unerachtet mancher diesbezüglicher Tendenzen in den AristotelesAnmerkungen zeigt freilich - neben dem gewissermaßen realistischen Kontrapunkt der Abhandlung »Über das Naive«6°, aber in anderer Hinsicht als diese - die Weihnachtspredigt von 17916°, daß Schleiermacher weder die allgemeine Menschenliebe in der exemplarischen Gestalt der Freundschaft aufgehen läßt noch die Motivation zur »Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit« (so die Überschrift der Predigt) auf die nackte Pflicht gründet, sondern die Liebe zur Gattung als eigenständiges

62 Vgl. oben Kap. 2, 1.5.

63 Vgl. oben Kap. 1, 1.2. 64

Das entspräche der aristotelischen Doppelbedeutung von philia als Freundschaft zwischen Einzelmenschen und als Einheitsband der Polis. Vgl. NE IX,6; besonders 1167a 2-4.

65

Vgl. oben 1.

66 SW IVT, 117 - 134. Dort fälschlich auf 1792 datiert. Zur richtigen Datierung vel. KGA V/1, 252.

182

I. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

Gefühl und als spezifischen Motivationsverstärker der Sittlichkeit neben der Freundschaft und über sie hinaus anerkennt’, Die Grenzen der Freundschaft und ihre ethische Problematik treten dabei deutlicher in den Blick als bisher: Die Intensität der Nahbeziehungen absorbiert die Aufmerksamkeit und die Energie, die zur Wahrnehmung und Unterstützung der Femerstehenden erforderlich wäre (vgl. 119). Das Engagement für Gleichgesinnte - und im weiteren Sinne für die Mitglieder der Gruppe, der man selber angehört (etwa Volk, Vaterland, Religion, vgl. 121) - ist zudem zwar natürlich und an sich nicht zu tadeln; aber der dabei immer mitgegebene Eigennutz (der Einsatz für die Gruppe nützt vermittelt auch dem sich einsetzenden Mitglied) führt doch die Tendenz des Mißbrauchs, der egoistischen Instrumentalisierung der Anderen, der Selbstzentrierung und der Selbstbeschränkung auf dıe Perspektive des eigenen »kleine(n) Ich(s)« (128) mit sıch. Umgekehrt kann die Integration ın partikulare Gesinnungsgruppen die Ausbildung oder Bewährung einer unabhängigen Urteilsfähigkeit »über das, was den Menschen allgemein gut ist«, behindern (ebd.; im Original gesperrt); eine inhaltlich falsch bestimmte Menschenliebe beschränkt dann das

allgemeine’ Wohlwollen auf dıe eigene Gruppe (vgl. ebd.). Der dadurch entstehende Gruppenegoismus verschärft schließlich noch die Wohlstandsdifferenz zu den Außenstehenden, obwohl doch deren Nivellierung ethisch

geboten wäre (vgl. 122)68, Die Liebe zur Gattung soll nun keineswegs die Bedeutung partikularer, intensiver Sozialformen aufheben; sie wirkt vielmehr sogar auf diese zurück als Korrektur gegen die dargestellten möglichen Deformationen, Dies kann sie freilich, gerade weil sie zunächst den Nahbereich der angenehmen, unmittelbar erfüllenden, emotional bejahten Beziehung transzendiert - indem

sıe eben dadurch eine Distanz zu den darın gültigen und üblichen Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen und eine kritische Perspektive darauf und auf die eigenen Emotionen und Motive, sowie eine realistische Weite des Blickes auf die gegebenen menschlichen (individuellen und sozialen) Zustände überhaupt ermöglicht. Denn sıe impliziert das Wissen von einem einheitlichen

»Gesichtspunkt,

worauf

(...)

alle

Begebenheiten

und

alle

Handlungen der Menschen« (122f.) bezogen werden können: einem Begriff von der allgemeinen »Bestimmung« des Menschen

(122). Ist dieses Wissen

67

Es ist im übrigen bemerkenswert, daf} im Blick auf das allgemeine Wohlwollen Schleiermachers Weg von der Berufung auf die reine Pflicht hin zur Erörterung eines motivierenden Gefühls führt, während man doch bei Annahme einer Art Kantianischer Wende genau das Gegenteil erwarten sollte.

68

Zur Frage des sozialen Ausgleichs vgl. oben Kap. 1, 1.1.

4. Die Weihnachtspredigt 1791 hinreichend fest im Herzen verankert (vgl.

183

129) - und erst dann kann man

von allgemeiner Menschen-Liebe sprechen -, so erweckt es den »lebhaften (...) Wunsch«, daß unabhängig vom eigenen Wohlergehen jeder andere Mensch »immer mehr und mehr seiner Bestimmung nachkommen möchte« (122), Diese Distanzierung vom Eigeninteresse ist nun aber inhaltliches Moment

der wesentlichen

menschlichen

Bestimmung

selbst,

die Schleierma-

cher mehrfach mit dem Begriffspaar Tugend und Religion charakterisiert (vgl. 123 und 129). Sie orientiert insofern bereits die Selbsiberrachtung, indem sie die Unabhängigkeit von den eigenen partikularen Neigungen, Meinungen,

Leitbildern, Haltungen, Lebenskontexten als das Kriterium der

Selbstbeurteilung kenntlich macht, deren Vollzug seinerseits umgekehrt eın gewisses Maß bereits erreichter Situationsdistanz voraussetzt und indiziert. Schon

deshalb offenbart die reflexe Selbstwahrnehmung

immer

eine kom-

plexe Gemengelage von Abhängigkeit und Unabhängigkeit bzw, Selbstbindung, von Situationsverhaftung und Sıtuationstranszendenz, von Unmittelbarkeit und Reflexivität, von partiell ausstehender und partiell realisierter Bestimmungsadäquanz,

Genau

dies gilt aber auch

für die Wahrnehmung

und Beurteilung Anderer. Leuchtet nun das Wissen von der Bestimmung des Menschen erst bei einem bestimmten Grad der Unabhängigkeit von der partikularen Lage und den ındıviduellen Neigungen auf, so realisiert sich dıe allgemeine Menschenliebe darin, daß derjenige, der diesen Grad erreicht und dieses Wissen erlangt hat und bei dem es den Willen dominierend geworden ist, andere 1) bei der Minderung ihrer Leidenschaften und ihres Irrtums, 2) durch Erleichterung und Ausbreitung des Guten und 3) durch Darstellung der erha-

benen Wahrheiten von Tugend und Religion bei der Erkenntnis und Realı-

sierung bestimmungsgemäßer Lebensführung unterstützt (vgl. 123)69. Der Unterschied zur Freundschaft besteht darin, daß die allgemeine Menschenliebe nicht auf dem konkreten Interesse an dem bestimmten Individuum und nicht auf individueller Neigung aufbaut und nicht auf Resonanz und Wechselseitigkeit, nicht auf Integration des Anderen ın den eigenen Lebenskontext oder genauer: nicht auf den Aufbau einer gemeinsamen Lebenssphäre ausgerichtet ist. Deshalb kann Schleiermacher auch den Einwand entkräf-

ten, die allgemeine Menschenliebe ziele auf die Verallgemeinerung individueller Leitbilder gelungenen

69

Lebens

oder gar auf die Ausbreitung

eines

Es begegnet hier beiläufig jene Dreigliederung des sittlichen Handelns, dıe in Schleıermachers »Christlicher Sitte« grundlegend ıst: reınigendes, verbreitendes und darstellendes Handeln.

184

Il. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

bestimmten äußeren Lebensstandards (vgl. 127). Vielmehr bezweckt sıe eine innere Haltung, die unabhängig von allen äußeren Umständen, aber eben in diesen das »Interesse für Tugend und Religion« (129) als »das beste der Menschheit« (130) durchzuhalten vermag; Schleiermacher nennt diese

Haltung, die von der Situation zu derem Gestaltung befreit, »Gelassenheit«’®, Sie ist in sich freudebringend, hängt also nicht ab von äußerem Erfolg und sozialer Resonanz, wird freilich durch sich selbst verstärkt.

Die Religion hat dabei in mehrfacher Hinsicht Bedeutung: Zum einen radikalisiert sie dıe Distanzierung von kontingent-partikularen Verhaltensmotiven,

indem

sie die menschliche

Bestimmung

schlechthin transzendieren läßt (vgl. der Todesvermeidung

die empirische

Lebenszeit

125) und mithin die Orientierung an

als die letzte Bastion

der unmittelbaren

Selbstbezo-

genheit schleift. Sie verstärkt zudem die Morivation zur Überwindung der Selbstzentrierung und Nahgruppenbindung. Denn sie stellt Christus als prägnantes (Vor-) Bild dafür dar: Christus habe sein Leben nicht ausschließlich für seine Freunde, vielmehr ebenso für seine Feinde hingegeben (vgl. 117; vgl. Joh 15,13 mit Rm 5,8.10); überhaupt sei »sein ganzes Leben (...) ein Leben für andere« gewesen (117); auch sein kommunikativer Mißerfolg,

seine Resonanzlosigkeit in der Gegenwart und die Erwartbarkeit von Wirkung erst in einer Zukunft, wo er sie nicht mehr erleben würde, und unter Menschen, »von denen er nichts wußte, als daß sie Menschen wären wie er« (118), hätten ihn nicht davon abgehalten, seine Sendung zu erfüllen, »die göttliche Wahrheit (...) unter den Menschen auszubreiten« (118); allein das alle räumlichen und zeitlichen Schranken übersteigende »erhabene() Gefühl

der wärmsten allgemeinsten Menschenliebe« (118) habe ihn dazu befähigt. Die Jünger hätten dieses Gefühl geerbt und sich bei ihrem Zeugnis für die Wahrheit

nıcht

Kleingruppe

auf

oder

die

kommunikative

auf den

Weltmission betrieben (vgl.

Bereich

ihrer

Stabilisierung

Herkunft

ihrer

homogenen

beschränkt,

sondern

118)’!. Durch diese Beispiele vergewissert die

Religion schließlich die Gläubigen über die Realität und die Realistik einer solchen Haltung, die ohne solche Vergewisserung leicht als lebensferne »Träumerei«, als »übertriebene Spannung der Seele, worın sie sıch höchstens nur auf Augenblikke erhalten kann«, erscheint (118). Umgekehrt

entlarvt sie die verbreiteten bösen Urteile über andere als vorschnelle Orı70

Eine sehr viel umfassendere Darstellung dieser Distanz und Engagement verbindenden Haltung bietet die Schrift »Uleber den Werth des Lebens«, vgl. unten Kap. 6. Dort tritt auch die quietistische Tendenz (vgl. aber unten Kap. 6, 2.4.4.1) und dıe Gefahr des Übermaßles an Verhaltenskontrolle und Reflexivität deutlicher ans Licht.

TR

Schleiermacher verlängert diese Reihe ın die Gegenwart, führt hier aber inkonsequenterweise unter Bezug auf Joh 13,14 dıe wechselseitige Liebe in der Gemeinde an.

4. Die Weihnachtspredigt 1791

185

entierung am »ersten Schein« (133) in Verbindung mit der Neigung,

»das

böse als wahr anzunehmen« (ebd.), mithin als vorurteilsgeleiteten »Mangel an Aufmerksamkeit« (ebd.). Für dıe Fälle jedoch, »wo sıch wirklich die

göttliche Weisheit vor menschlichen Augen verbirgt« (ebd., im Original vom Herausgeber - gesperrt), vermittelt sie den Trost der Annahme einer »nicht bemerkten vortheilhaften Beziehung aufs ganze« (ebd.). Weihnachten ıst deshalb das »Fest der Menschenliebe«, weil das Erscheinen Christi »uns am lautesten dazu aufruft und uns durch sie erhebt« (134).

Es ist also keineswegs der theologische Gedanke der Inkarnation des Wortes, sondern der anthropologische Aspekt der Einpflanzung und sichtbarkonkreten Darstellung einer universalistischen Gesinnung und des Beginns von deren Ausbreitung »unter einem großen Theil der Menschen« (134),

was in Schleiermachers Augen die Bedeutung des Weihnachtsfestes ausmacht. Erst vermittelt über diese anthropologische Universalität - ın Zusammenhang mit »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefalien« (134; Lk 2,14) - tritt auch die »Ehre« Gottes in den Blick: Mit der Äus-

breitung der Gesinnung

wird auch die »wahre Erkenntniß des Höchsten«

(134) ausgebreitet.

Die Betonung der allgemeinen den

sozialtheoretischen,

Menschenliebe sprengt nicht notwendig

psychologischen

und

ethischen

Rahmen

der

Freundschaftstheorie. Der psychologische Aspekt der notwendigen Motivationsverstärkung

Gemeinde

nur-gewußter

verweisende

Gegenwartsgestalt

(freilich

Einstellungen,

nicht ganz

der allgemeinen

dıe

auf

stimmige)

Menschenliebe

die

christliche

Beschreibung

in der

der

wechselseitigen

Liebe ın der Predigt auf der einen Seite, das Interesse an der wechselseitigen Versittlichung in den Aristoteles-Anmerkungen auf der anderen markieren deutliche Kontinuität. Die Kritik an der Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit der Gruppe und dıe Forderung des Nach-außen-Wirkens kann dann als Verdeutlichung von Zügen erscheinen, die schon die Freundschaftstheorie prägten, und als Abgrenzung gegen deren mögliche Mißver-

ständnisse.

Die

Individualität,

wechselseitige

Wahrnehmung

und

die Etablierung einer gemeinsamen

Kommunikation

von

Sphäre der Wechselsei-

tigkeit bilden dann den Überschuß, der die anthropologische Idealität der Freundschaft begründet und bestätigt, aber keineswegs die SelbstabschlieBung in partikularen Zirkeln oder caritative Untätigkeit legitimiert. Auch die unbefangene Verwendung des Begriffspaares "Tugend und Relıgion' belegt - wıe der Vergleich mit der 'Epochengliederung' ın »An Ce-

cilie« zeigt”? - den Zusammenhang der Predigt mit der 'vorkantischen' 72 Vgl. oben 3.2.

186

l. Freundschaft - Kap. 3. Geselliger Realismus

Arbeitsphase Schleiermachers’3. Im folgenden wird zu untersuchen sein, inwieweit auch jene Texte,

in denen sich die Auseinandersetzung

mit Kant

niedergeschlagen hat, den herausgearbeiteten geselligkeitstheorerischen Ansatz oder jedenfalls die herausgehobene Bedeutung der Sozialdimension in Schleiermachers

Denkentwicklung

widerspiegeln

oder

inwieweit

die

Be-

schäftigung mit Kant nicht nur den erkenntnistheoretischen, sondern auch den sozialtheoretischen Rahmen seines bisherigen Denkens sprengt.

73

Dabei ist freilich zu beachten, daß die explizite 'Epochengliederung' selbst keineswegs eindeutig ist und undurchlässige Grenzen beschreibt - ebenso wenig wıe der Textbe-

stand selbst eine scharfe Trennung einer 'vorkantischen' von einer 'kantischen' und ggf. einer 'nachkantischen’ Arbeitsphase erlaubt. Das gilt - wie im folgenden dargelegt werden soll (vgl. Teil I) - für die wissenschaftlichen »Schriften und Entwürfe«, in weit höherem Malie aber für dte Predigten. Die behandelte Weihnachtspredigt von 179] etwa reflektiert die intensive Beschäftigung mit Kant ın keiner Weise. Gerade die Differenziertheit der expliziten Kant-Rezeption verbietet es aber, diesen Befund mit Schleiermachers angeblicher beflissener Anwendung der vom Vater empfohlenen Akkomodationsstrategie zu erläuten und die Predigten damit für dıe Erheilung von Schleiermachers Denkentwicklung zu neutralisieren. Besser als zur Epochengliederung scheint sıch die Beziehung auf Kant deshalb zur Charakterisierung von Texttypen zu eignen: zur Unterscheidung jener Texte, die sıch ausdrücklich der Aneignung und Kritik Kants widmen,

von jenen, dıe das nıcht tun.

Zweiter Teıl Sıttlichkeit

Einleitung Schleiermachers Entwicklung hob an mit einer Konzeption der Kommunikation zwischen kontingenten Einzelnen, die sowohl der Vermittlung von (Erinnerung an) Wissen über ihre eigene Bestimmung - ım Doppelsinn der moralischen Vollkommenheit und der Individualität - als auch der Wahrnehmung der irreduziblen Andersheit begegnender Individuen bedürfen. Schleiermacher faßt mithin am Anfang seiner Entwicklung die Individualıtätstheorie so, daß Individualität als sich ın sozial vermittelten Konkretionsprozessen bildend und stabilisierend erscheint. Zugleich hält er aber an der

Objektivität und Allgemeinheit der menschlichen Bestimmung und an der vorgängigen

Identität

der

Einzelseele

fest,

das

eine

um

der

Kommu-

nikabilität und Verbindlichkeit von Verhaltensorientierungen, das andere um willen der Zurechenbarkeit vergangener Handlungen willen, die die Kontinuität eines Handlungssubjekts voraussetzt. Die Beschäftigung mit Eberhard hat gezeigt, daß auch bei diesem eine Spannung zwischen empirisch-ınduktivem und ratıonal-deduktivem Vorgehen besteht, dıe auch

durch seine Theorie stetiger Übergänge zwischen Empfinden und Denken und umgekehrt nıcht aufgelöst wird. An dem damit bestimmten Problemkomplex des Verhältnisses von ethisch-vernünftiger Allgemeinheit und konkreter, genetisch-kontextueller Individualität setzen die Texte ein, die im Zusammenhang mit Schleier-

machers intensiver Beschäftigung mit Kanr entstanden sind: die philosophische »Rhapsodie« »Ueber das höchste Gut«, die »Notizen zu Kant: Kritik der praktischen Vernunft«, das »Freiheitsgespräch« (alle von 1790) sowie die zwischen 1790 und 1792 verfaßte große Abhandlung »Über die Freiheit«. Keineswegs erfolgt die Kant-Rezeption mithin gleichsam voraussetzungslos, so daß man sie als Schleiermachers entscheidendes theoretisches Initialerlebnis auffassen

müßtel; ebenso wenig geht Schleiermacher

(unbe-

schadet seiner denkerischen Eigenständigkeit) einfachhin ins kritizistische Lager über?. Vielmehr bestätigt der nun vollständig edierte Textbestand eindrucksvoll dıe These von E. Herms, daß Schleiermacher Kant mit schul-

I

Einen solchen Eindnick legt die Anlage der Arbeit von G. Meckenstock immerhin nahe. Seine Hinweise auf Schleiermachers Yorprägungen bleiben jedenfalls seltsam pauschal und konturlos; vgl. Deterministische Ethik, 26f.

2

Auch diese These wird von Meckenstocks Vorgehen ınsinuiert. Vgl. dazu unten 2.5.2.

190

Il. Sittlichkeit

philosophischen

Verständnisvoraussetzungen

liest,

daß

sich

ebenso

wie

seine Verständnisschranken auch seine Kritik an Kant 'Hallischen' Motiven verdankt

und

daß

diese

Motive

sich

schließlich

in

Schleiermachers

Frühwerk überhaupt durchhalten?, Diese These wird in der vorliegenden Untersuchung dahingehend präzisiert und modifiziert, daß Schleiermachers Denken bereits unter schulphilosophischen Bedingungen eine eigenständige sozialtheoretische Leitkonfiguration kennzeichnet, die die Kontinuität von Schletermachers Theorieentwicklung indiziert, indem sie es ist, die sich entwickelt, und indem Veränderungen, Neueinsätze, neue Theorieeinflüsse und Themenstellungen an sie angeschlossen, von ihr her interpretiert wer-

den können®.

Insofern diese Leitkonfiguration

ihre erste Gestalt an der

Beschäftigung mit Aristoteles gefunden hat und dabei auch nicht ohne struk-

turell aristotelische Momente geblieben ist”, nimmt die so gefaßte Untersuchungsperspektive zugleich die These Michael Moxters von der »zunehmende(n) Aristotelisierung« von Schleiermachers Ethik auf®, freilich wiederum in modifizierter Gestalt: Sie konkretisiert sie an der Freundschaftstheorie;

sie behauptet eine ursprüngliche (schulphilosophisch-Jaristotelische Komponente in Schleiermachers Denken; sie muß dann aufweisen, daß Schleiermachers Ethik nicht nur »als der früheste Versuch eines nachkantischen Aristotelismus«?

Kant-Rezeption telische' Motive Kritik in hG trıerten Ansatz

aufzufassen

ist,

sondern

daß

sich

bereits

in der

frühen

vermittels der sozialtheoretischen Leitkonfiguration 'arıstobewahren. Die scharfe, von Kant inspirierte Aristotelesverbunden mit dem auffällig psychologisch-individualzendes »Freiheitsgesprächs« - ıst dann nicht bloß gewisser-

maßen der Nullpunkt einer beginnenden Entwicklung, sondern die härteste kritische Bewährungsprobe für die Interpretationsperspektive: An den

Texten der Kant-Rezeption selbst muß ersichtlich werden,

daß ihnen die

sozialtheoretische Leitperspektive nıcht äußerlich ıst, daß sıe vielmehr ın ihren sachlichen Pointen darauf bezogen ıst. Genau dies ist aber durchaus zu leisten. Es läßt sıch zeigen, daß die

genannten Texte auf Aporıen der bisherigen Konzeption reagieren, indem sie deren moralphilosophischen und ontologischen Grundlagen, Voraussetzungen und Implikate erarbeiten. Die Schrift »Ueber das höchste Guf«

an

Vgl. oben Kap. 1, >.

Oo

Ygl. oben die Einführung.

Güterbeeniff, 29.

"1

2

Vgl. summarısch Herkunft, 265 - 269.

$o Moxter, Güterbegriff, 16; Hervorhebung von mir.

Einleitung

191

behandelt das in den Aristoteles-Anmerkungen offengebliebene Probiem der Bestimmbarkeit und Bestimmtheit der Objektivität sittlicher Verhaltensorientierungen; sie differenziert dabei (sinnlich verstandene) Glückseligkeit

aus den - dann alleın zurückbleibenden - rein vernünftigen Handlungsmotiven aus, nicht ohne ihr freilich eine bleibende, wenn auch nachgeordnete »Hebammen«-Funktion

für das bei endlichen, falliblen Wesen

tıngente Dominantwerden

sittlich-vernünftiger Orientierungen

immer

kon-

zuzuschrei-

ben (Kap. 4, 1.). Das »Freiheitsgespräch« thematisiert mit den Mitteln der

schulphilosophischen Psychologie und Vorstellungstheorie die Bedingungen ebendieses Dominantwerdens unter der betonten Frage, wie die Vernunft handlungsleitend werden könne (Kap. 4, 2.). Exakt mit dieser Frage nach der Möglichkeit intentionalen, zurechenbaren, ungenötigten Handelns® be-

schäftigt sich auch die große Freiheitsschrift (Kap. 5), die aufzuzeigen versucht, daß die Bestimmung der Wirklichkeit als Kausalkontinuum nicht nur nicht der Möglichkeit von Intentionalität widerstreitet, sondern diese umgekehrt geradezu in Kraft setzt. Äußerst diffizilen Beschreibungen innerpsychischer Vorgänge korrespondiert hier eine komplexe Theorie externer Wirkung, was ein Gefälle der Theorie von rationaler Willensbestimmung

hin auf Handlungsvollzug initiiert; dies erlaubt allererst die in den Aristoteles-Anmerkungen vorausgesetzte Möglichkeit wechselseitiger Beeinflussung präziser zu bestimmen und erhöht damit insgesamt Schleiermachers Fähigkeit

zur

Beschreibung

sozialer

Prozesse.

Diese

Beschreibung

selber

und die Thematisierung von Formen des sozialen Lebens treten bei diesen 'Grundlagenreflexionen‘ aber in den Hintergrund. Wichtig ist jedoch, daß Schleiermacher weiterhin keineswegs ausgeht vom Problem sich selbst wissender Subjektivität, sondern den Einzelnen erfaßt als in Bildung begriffen,

nicht suisuffizient, sondern Einflüssen ausgesetzt, der Unterstützung bedürftig, ın beständigem Ausgleich der einzelnen Seelenkräfte befindlich, d.h. auch, daß er keinen Sprung macht von einem eben so zu beschreibenden empirischen zu einem 'transzendentalen' Subjekt, für das dies nicht gilt. Schleiermachers Interesse bleibt die Erfassung konkreter, endlicher, nicht absolut-freier, nur bedingt sich selbst erkennender und steuernder, untereinander dependenter Menschen. Das unterscheidet ıhn entscheidend

von Kant und leitet auch seine Kant-Rezeption. ständlich, daß Kant bemüht,

er sich wobei

um er

Von daher wird auch ver-

eine bleibende kritische Außenperspektive auf zunächst (besonders auffällig im »Freiheits-

gespräch«) dezidiert auf Positionen der Schulphilosophie als Wahrnehmungsraster zurückgreift, während er in der großen Freiheits8

Vgl. dazu Moxter, Güterbegriff, 43 - 48.

192

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

schrift unter Berufung auf die vorherrschende Sprachverwirrung aufgrund der Differenzen der philosophischen Schulen im Duktus spröder Begriffs-

klärung und radikaler Sachorientierung eine gewisse Apositionalität, die Distanz zu allen vergangenen und gegenwärtigen Systemen und deren kritische Betrachtung ermöglicht, zu erlangen sucht. Diese Tendenz zur Formalisierung und zum Vergleich verschiedener Konzeptionen verbindet sich mit einem ({kultur- und) philosophiegeschichtlichen Entwicklungsgedanken

zu

historischen

Längsschnitten

(hG

und

ÜdF),

die

durchaus

in

systematischer Absicht erfolgen!® und in der kritischen (Kantischen) Ausdifferenzierung der reinen Vernunft kulminierer und von daher ihr Kriterium erfahren, zugleich aber das an den und für die Individuen ent-

wickelte Fragilitäts-- und Bildungskonzept in die Menschheitsgeschichte spiegeln. Dabeı konnte er ım übrigen zurückgreifen auf Material und Anlage 1788),

von Eberhards »Allgemeinefr) Geschichte der Philosophie« (Halle die programmatisch den Zusammenhang von Kultur-, Politik-,

Wissenschafts- und Ideenhistorie herausstellt!!.

Schon

dies,

daß er Kant als Position unter Positionen

behandelt,

zeigt ım übrigen an,

daß er diesen nicht dessen eigenem Programm adäquat rezipiert, hatte Kant doch ebenfalls beansprucht, mit seinen Kritiken die Bedingungen aller möglichen Positionen aufgewiesen zu haben. Schleiermacher wendet durch sein Verfahren gewissermaßen Kants kritische Methode auf sıe selber an. 10

So Meckenstock,

Deterministische Ethik,

116.

Il

vgl. zum Verhältnis Schleiermachers zu Eberhards Philosophiegeschichte genauer unten Kap. 4, 1.5.3.2.

Viertes Kapitel

Kontingente Realisierung von Sittlichkeit: Schleiermachers Beschäftigung mit Kant

Einleitung Die Arıstoteles-Anmerkungen hatten den Menschen bestimmt als zugleich frei, d.h. virtuell der Maximenbildung fähig, und bedürftig, d.h. faktisch unter innerpsychischen und äußeren Bedingungen existierend, die freie Selbstbestimmung und selbstbestimmtes Handeln nur eingeschränkt ermöglichen!. Dabei hatten sie besonders die Faktoren beleuchtet, die ein Dominantwerden und -bleiben sıttlicher Verhaltensorientierungen behindern und

hintertreiben - es fehlt dıe für Selbstbesinnung notwendige Zeit und Distanzierungsfähigkeit vom Andringen der alltäglichen Verhaltensnötigungen, es fehlt an ındividueller Kraft und Disziplin, das als rıchtig und geboten Erkannte konsequent zu realisieren, der sittliche Einzelne bleibt singulär ın der Masse von Indifferenz und resigniert angesichts der Übermacht der Umstände -, und hatten Religion, Sittengefühl und Freundschaft als die Instanzen namhaft gemacht, die in kontingenter Weise den ebenfalls kontingenten Hemmnissen der Moralität entgegenwirken, Sie hatten so allerdings zwar komplexe Formen sozialer Beziehungen beschreiben Zusammenhang von Individualitätswahrnehmung und

und sogar einen Entfaltung von

Moralität offenlegen können; unklar war jedoch geblieben, wie die Allgemeinheit und Verbindlichkeit des ethischen Wissens zustande kommt und wie die interne Beschaffenheit des Menschen so gedacht werden kann, daß sie ursprüngliche Offenheit für das Allgemein-Sittliche, Möglichkeit und Wirklichkeit kontingenter Deformationen und Chancen kontingent-relativer Appräsentation und Realisierung vernünftiger Verhaltensorientierungen einschließt. Sowohl die Konstitution der Ethik als auch die Anthropologie waren also nur implizit vorausgesetzt, wurden

nıcht selber thematisch. Der

Rückgriff auf die einschlägigen Arbeiten Eberhards zeigte zwar, daß bei

Vgl. 5,23-25 und ınsgesamt oben Kap.

1, 1.2.

194

IT. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

dessen Bestimmung des ethischen Zweckes als Selbstvervollkommnung, die als in sich und untereinander harmonische Entfaltung aller Seelenvermögen

verstanden wurde und in deren Wahrnehmung eo ipso Glückseligkeit besteht, eine Verbindung von Versittlichung und Individualisierung sich nahelegen konnte (wenngleich dies bei Eberhard nicht geschah); allein, für

die Allgemeinheit und Rationalität seines ethischen Zweckes konnte Eberhard nur gesellschaftsfunktionale Notwendigkeit anführen, und für den Nachweis

der Fähigkeit des Einzelnen zur Einsicht in seine sittliche Auf-

gabe und

zu deren

Realisierung blieb er auf eine in ihrer Plausibilität

durchaus problematische empirische Beschreibung der menschlichen Vermögen (einschließlich des Vermögens, die Vermögen zu erkennen) und

ihrer Fähigkeit zur Selbstentfaltung angewiesen?. Genau an diesen Zusammenhang von Ethik und Anthropologie, und dies genau in der dergestalt vorgegebenen Problemlage, schließen Schleiermachers Überlegungen zum höchsten Gut und zur Freiheit an. Genau an dieser Stelle konnte er auch Aufschlüsse aus der Beschäftigung mit Kant erwarten, und es wird sich zeigen, daß ebenfalls hier Gründe für seinen

Dissens zu diesem zu benennen sind?.

1. Die Neubestimmung des Verhältnisses von Tugend und Glückseligkeit in der Schrift »Ueber das höchste Gut«

1.1. Die Beurteilung von Schulphilosophie und Aristoteles und die Bedeutung Kants Schleiermachers pointiertes Interesse an der radıkalen Reinigung der Sittenlehre von allen empirischen (und religiösen) Motiven ist offenkundig durch die Beschäftigung mit Kant inspiriert. Dementsprechend häufig wird

2

Vel. oben Kap. 2, 1.4.

3

Anders als bei Eberhard wird die Behandlung Kants nicht in ein eigenes Kapitel ausgelagert werden, sondern ın Zusammenhang der Darstellung Schleiermachers erfolgen.

Denn zum einen setzt sich Schleiermacher selbst ausdrücklich und ausführlich zu Kant ins Verhältnis, und zum anderen kann die Kenntnis Kants weit eher vorausgesetzt werden, ja es ist sogar zu vermuten, daß die in heutiger Perspektive sınguläre Bedeutung Kants für die Philosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allzu oft anachronistisch dem

Bewußtsein dieser Zeit selber unterstellt wird, und daß dies zu einer Über-

schätzung des Einflusses Kants auf Schleiermacher führt.

l. »Ueber das höchste Gut«

195

dieser in der »Rhapsodie« (106,37) »Ueber das höchste Gut«* erwähnt, und es ist höchstes Kompliment, wenn es etwa von Platon das Bild des Vernunftgesezes (...) nicht so vollendet Farben« dargestellt habe »wie HErt Kant, so finde() Mühe die Hauptzüge desselben in seinem Gemälde«

heißt, obzwar »er uns und mit so lebhaften man doch mit leichter (109, 31-33). Gleich-

wohl kann man nicht sagen, daß dieses Interesse einen völligen Bruch in Schleiermachers Entwicklung, eine weitgehende Selbstdistanzierung von der schulphilosophischen Prägung anzeigt. Schleiermacher erkennt selbst an, daß im »Systerm der Vollkommenheit«, das »zu unsern Zeiten das gewöhnlichste ist« (120,26f.), mithin in der Ethik der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie, der »Grundsaz (...): befördere Deine größtmöglichste zufällige Vollkommenheit«

(121,4f.) »das reine Sittengesez voraus(setze),

er

ist eine Anwendung desselben auf eine gegebne psychologische Natur und es ıst so weit nichts daran auszusezen« (121,11-13).

Seine Kritik entzündet

sich erst an der Behauptung, die Orientierung am höchsten Gut der Vollkommenheit ziehe ıpso facto - »und zwar nothwendiger weise« (121,16) Glückseligkeit nach sich (vgl. 121,14-16), oder die Verbindung von höchstem Gut und Glückseligkeit sei »synthetisch« und erfolge durch »natürliche Causalverbindung« (124,4f.; im Original hervorgehoben). Schleiermacher sieht freilich deutlich, daß die Vollkommenheitsethik keineswegs eudämonistisch ist”. Der ursprüngliche, auf das momentane empirische Wohlergehen bezogene Glückseligkeitsbegriff könne »sich mit ihrem

Begrif der Vollkommenbheit eben so wenig vertragen als mit andern Ideen des höchsten

Guts« (121,21-23).

In der Tat hatte Eberhard

Glückseligkeit

näherbestimmt als Zustand, worin jemand »wahres Vergnügen ununterbrochen genießt« (SdV 83, S.3; im Original durchgängig gesperrt), das Kriterıum der Wahrheit hatte er aber nicht im Vergnügenscharakter des Vergnü-

gens

4

selber,

nicht in Intensität und

Extension der vergnügenbereitenden

KGAA LU 1, 81-125. Die Schnft ıst wahrscheinlich noch während Schleiermachers »Hallenser Studienzeit in den ersten Monaten des Jahres 1789« entstanden (so Mecken-

stock, KGA 1/1, XLI). Schleiermacher hatte offenkundig vor, ihr eine Reihe von weiteren »Philosophischen Versuchen« (KGA V/1, 139: Brief 119 vom 22.7.1789, Z. 240) folgen zu lassen, wozu Pläne von Dilthey in den »Denkmalen« auszugsweise mitgeteilt sind (vgl. KGA T/i, XX). Davon kamen allerdings wohl nur eine (nicht überlieferte) Abhandlung über den »gemeinen Menschenverstand« (Denkmale, 5) und der (in der Planskizze nıcht erwähnte) Aufsatz »Ueber das Naive=« (KGA 1/1, 177 - 187; vgl. dazu oben Kap. 3, 1.) zustande. Ebenso unausgeführt blieb der Pian, zusammen mit Brinckmann »kritische() Briefe« zu verfassen (Denkmale, 5; vgl. KGA 1/1, XXIf.}. 5

Vgl. oben Kap. 2, 1.2.

196

It. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

Empfindung gefunden, sondern in der externen Instanz der Vernunft®. Die Glückseligkeit der Vollkommenheitsethiker besteht also, wie Schleier-

macher zurecht konstatiert, im »Genuß der meisten und besten Vergnügungen (...), welche in einem gewißen Zustand zusammen bestehn können« (121,24f.), und schließt deshalb viel Angenehmes aus, viel Unangenehmes ein (vgl. 121,25f.), ındem die Vernunft nach Maßgabe der von ihr selbst erkannten und bestimmten »wesentlichen Vollkommenheit der menschlichen

Seele«, die ın einem harmonischen »Verhältniß der Kräfte und Neigungen in Absıcht auf ıhren praktischen Einfluß« besteht (121,7-9), zwar an sıch angenehme, aber momentan zu Disproportionalıtät führende, oder momentan angenehme, jedoch zukünftige Störungen des Gleichgewichts erwarten lassende Neigungsrealisierungen verhindert oder umgekehrt zugunsten

längerfristiger Wesensentsprechung kurzfristige und partielle Einschränkungen des Wohlbefindens einzugehen und zu ertragen lehrt. Durch diese Rückbindung des Glückseligkeitsbegriffs an die Harmonie aller in einem Seelenmoment enthaltenen Kräfte und Neigungen scheint dieser nun zwar an Konkretheit und Realisierbarkeit zu gewinnen, in Wahrheit aber verliert er dadurch alle Bestimmtheit, da die Selektion der momentan zu betäti-

genden Einzelneigung(en) Seelenkräfte

schon

und deren Redintegration in das Ensemble der

für jeden

Moment

der

Einzelseele,

um

so viel

mehr

jedoch unter verschiedenen Menschen, eine differente Relationierung der Seelenregungen und damit eine differente Gewichtung der einzelnen Neigungen ergibt, so daß die Glückseligkeit »ıin Jedem Subjekt, in jedem Zustand gewiße Theile haben [wırd,] die bei keinem andern dazu gehören würden« (121,34f.). Über diese Inkommensurabilität der einzelnen Glück-

seligkeitsmomente hinaus gerät diese Konzeption in den Widerspruch, daß sıe zugleich dıe Harmonie aller Seelenkräfte bewahren und dıe Realisierung

möglichst

vieler einzelner Neigungen

fördern

muß,

wo doch

die Realı-

sierung einer Neigung diejenige zumindest einiger anderer Neigungen im selben Moment verhindert, deren Bildung und Entfaltung dadurch möglicherweise nachhaltig gestört wird, was wiederum schwerwiegende und

schwer

zu behebende das

Gleichgewichtsverschiebungen

verursacht.

Um

zu

vermeiden,

Steuerungs-

und Gewichtungsorgan

kann

die

in der Gesamtseele

Vernunft

als

Selektions-,

wie gezeigt zwar die Betätigung

ge-

wisser Einzelvermögen zeitweise unterdrücken; damit handelt sie aber strenggenommen ihrem eigenen Auftrag zuwider, indem sie dann »befehlen

[wird,] grade diejenigen Neigungen im Zaum zu halten, grade diejenigen Vermögen etwas zu schwächen, von welchen wir uns bewußt sind, daß sıe 6

YVel. ebd.

Il. »Ueber das höchste Gut«

197

den meisten Reiz für uns haben, daß sie uns das meiste Vergnügen gewähren«, weil sie andernfalls »ja befürchten [müßte], daß diese mit der

Zeit die Oberhand gewinnen, und die Maxımen ihres Interesse(s) nach und nach alle übrigen verdrängen möchten« (122,6-11). Glückseligkeit und Voilkommenheit erhalten sich dann gegen die Voraussetzung richt proportıonal zueinander: Vervollkommnung geht einher mit Glückseligkeitseinbußen (vgl. 122,11-13). Daß Vollkommenheit keineswegs notwendig Glückseligkeit mit sich führt, zeigt sich schließlich auch in der Überlegung,

daß Vollkommenheit nichts weiteres als eine interne Relation von Seelenvermögen darstellt, Glückseligkeit aber jedenfalls nicht unabhängig von der »Art wie diese Kräfte von außen affıcirt werden« (123,3f.; Hervorhebung von mir) und mithin nıcht unabhängig von den kontingenten »Umständen« (123,5) gedacht werden kann. Selbst wenn wie beı der Selbstbetrachtung

das Bewußtsein von der erreichten eigenen Vollkommenheit höchst angenehm affiziert sein sollte, so kann es nicht ausschließen, daß bei wıdrigen

externen Verhältnissen das der Vollkommenheit entspringende Vergnügen von den Dissonanzen der Außenwelt bei weitem übertönt wird, so daß Sittlichkeitsbewußtsein (Vollkommenheitsbewußtsein) und das Gefühl von Unglück zusammen auftreten können (vgl. 122,37 - 123,13). Als Resultat

ergibt sich somit, daß der Vollkommenheitsbegriff genau dann nicht zur Bestimmung des höchsten Gutes tauglich ıst und genau dann inkonsistent wird, wenn er über die Darstellung des sittlichen Ideals hinaus die konkrete, der Empfindung der harmonischen Entfaltung der Seelenkräfte sich verdankende Glückseligkeit von Individuen zu integrieren sucht und sich damit von Faktoren abhängig macht, über die die Selbstiätigkeit (auf der allein aber sittliche Zurechnung aufruht) gar nıcht verfügt. Der Vollkommenheitsbegriff selbst (in der "gereinigten' Fassung) scheint von dieser Kritik nicht getroffen zu werden. Es mag damit zusammenhän-

gen, daß Schleiermacher das Vernunft-Verständnis der Schule hier nicht kritisiert, obwohl die Beschreibung der Vernunft als kybernetische Instanz der Harmonisierung der Seelenkräfte doch recht genau jener Funktionalisierung der Vernunft zum »Verwalter und Rechnungsführer der übrıgen« Neigungen entspricht (94,22), die Schleiermacher zufolge blind ist »für das besondre Interesse der Vernunft« (94,21). Schleiermacher sieht durchaus die

Ambivalenz, nunftbegriffs, den Vernunft unabhängige,

wenn nicht gar Doppelung des schulphilosophischen Verdie immer hinter oder neben jener dıe Empirie organisiereneine zumindest dem Anspruch nach reine, von der Empirie deduktiv vorgehende Vernunft aufscheinen läßt, wenngleich

diese Reinheit bloße Behauptung bleibt bzw. sogar als auf verdeckten empi-

198

I. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

rischen Bedingungen beruhend aufgewiesen werden kann’. Er kennzeichnet die schulphilosophische Ethik nämlich als »Vermischung des Platonischen und Aristotelischen« (120,28f.). Dabeı bilden die Annahme einer rein vernünftigen Bestimmbarkeit des Menschen und die Zielangabe der Dominanz

der Vernunft über »unsre übrigen Kräfte« mitsamt der »Regel (...,) daß wir alle unsre Seelenvermögen nur ın dem Maaß anbaun, cultiviren und stärken sollen, als sie die Gebote der Vernunft annähmen

(...), diejenigen aber (,)

die sich ihr gänzlich widersezten und ihrer Natur nach immer widersezen müßten, dıe sollen wır so vıel möglich schwächen und ım Zaum halten« (120,30-36), die platonische Seite, die von Schleiermacher als mit der »Vollkommenheit unserer neuen Sittenlehre« (120,36f.) übereinstimmend

approbiert wird. Die ganze Wucht der mit schneidender Schärfe vorgetragenen Verwerfung trifft hingegen Aristoteles und sein ın der Vollkommenheitsethik präsentes Erbe (vgl. zunächst 120,37 - 121,3, dann aber vor

allem 110,20 - 112,12). Dieser gilt ihm als der »consequenteste() der empirıschen Moralphilosophen«, den er nur anführe, um »zu zeigen (,) wie nichtig alle diese Systeme sınd und wie häßlich sıe aussehn, wenn man sie näher zergliedert« (110,26-28). Sein höchstes Gut bestehe allein in der Glückseligkeit (vgl. 110,23f.), die einem Agglomerat von empirisch auf-

gelesenen »Tugenden« (110,35) entspringe, wobei die Vernunft nur noch die nachgeordnete Aufgabe von deren vergnügensteigernder Strukturierung und Zusammenordnung habe (vgl. 110,33-35). Je nach Umständen und individuellen

Vorlieben

vermag

eine

solche

Vernunft

dann

untereinander

völlig verschiedene und nicht aufeinander oder auf eine ihnen zugrundeliegende und ihre Beurteilung ermöglichende Einheit zurückzuführende, jede für sich gleich schlüssige Systematisierungen hervorzubringen;

System

kann daher nicht verhindern,

Aristoteles'

daß es selbst als willkürlich

(ohne

»Nothwendigkeit« [111,8]) und sich »einer bloßen Voraussezung« (111,9) verdankend erscheint. Da er mithin keine reine (von der Empirie und ıhren

Bedingtheiten unabhängige) und zugleich praktische (Willensbestimmung ermöglichende) Vernunft kenne, müsse er auch dıe Bedeutung der ınnerpsychischen intentionalen Prozesse (»Gesinnungen«, »innere Beschaffenheit der Seele«, »Verhältniß der Neigungen gegen einander« [111,26f.]) zu einer bloßen »todte(n) Kraft« (111,28) herabstufen;, ethisch relevant werde ihm erst »die Anwendung derselben in äußern concreten Handlungen« (111,28f.). Dementsprechend kenne er auch nicht die »Idee des wahren persönlichen Werths« (111,25), der ja unabhängig sein muß von allen nıcht selbst zu verantwortenden, und das heißt von den allermeisten äußeren Um7

Vgl. oben Kap. 2, 1.4.

1. »Ueber das höchste Gut« ständen,

bzw.

genauer gelange der Mensch

199

zu einer ebensolchen persönli-

chen Bestimmung nur durch praxisferne, weltabgewandte Spekulation, durch welche Schlußpointe seines Systems Aristoteles freilich implizit sein »mit so vielem Aufwand

zusammengesezt(es)«

(112,9) Glückseligkeitskon-

zept wieder dementiere und faktisch reine (wenngleich irrigerweise nicht praktische) Vernunft in ihr angestammtes Regime wiedereinsetze.

So hellsichtig Schleiermacher hier die Inkonsistenz der schulphilosophischen Synthese von reiner Vernunft und empirischer Psychologie diagnostiziert (und deren eklektizistische Methode trefflich durch idealtypische Zuordnung zu Platonismus und Arıstotelismus kennzeichnet), so entschieden er Aristoteles zum Gegenbild einer nicht-allgemeinen, empirisch-belie-

bigen, selbstbesonnene Distanz zu den kontingenten Verhaltensnötigungen verunmöglichenden Ethik stilisiert®, und so sehr die Konzentration der Sittenlehre auf die vernünftige Willensbestimmung sich Kant verdankt: ebenso deutlich ist, daß von dieser Kritik Schleiermachers von Eberhard angeregte Aristoteles-Anmerkungen nicht mitgetroffen sind. Denn dıese hatten zwar hohe Unsicherheit gezeigt in der Bestimmung von Genese und materialem

Gehalt des Sittlichkeitswissens, und es hatte sich der Interpretation nahegelegt, eine Erzeugung von sittlicher allgemeiner Verbindlichkeit im Medium intersubjektiver Ausbreitung und wechselseitiger Plausibilisierung von Verhaltensorientierungen, gekoppelt mit der wechselseitigen Annahme und Zu-

schreibung eines ursprünglichen und latenten, vermittels sozialer Anamnese

wiederzuerweckenden bei allen identischen Tugendwissens, zu erwägen?; gleichwohl hatte Schleiermacher keinen Zweifel daran gelassen, daß er eine situative, die Verhaltensnormen rein aus kontingent-empirischen Bedingungen induktiv ableitende Ethik ablehnte!®. Zudem - und das ist der entscheidende Punkt - läßt es sich zeigen, daß dıe an den Arıstoteles-Anmerkungen

herausgearbeitete Problem- und Motivkonstellation sich auch in den jetzt zu

Dieses Bild verdankt sich nicht eigener eingehender Beschäftigung mit Aristoteles, sondern trägt Kanıs Glückseligkeits-Begriff in die Arıstoteles-Deutung eın. Allerdings plante Schleiermacher in seiner Drossener Zeit (ab Maı 1790), in einer »Abhandlung über den gemeinen Menschenverstand« dıe »empiristische Meinung« des Aristoteles zu widerlegen, die grundlegenden »ersten Urtheile« für das sıttliche »Orientiren« beruhten "auf Analogıe und Induktion« (Dilthey,

Denkmale,

Schleiermachers späterer sehr viel ausgewogeneren Moxter, Güterbegriff, 61.

5, zitiert nach KGA

Beurteilung

V/1, XX).

- Zu

des Aristoteles

vgl.

9

vgl. oben Kap. 1, 2.1. und 2.6.3.

10

Vgl. oben Kap. 1, 2.1. und 3.1. Das gleiche gilt im übrigen für Eberhard: Die Empfindung trägt das Kriterium ihrer Sittlichkeit nicht in sıch; vgl. oben Kap. 2, 1.2. und 1.4.

200

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

behandelnden Texten - bei modifizierten und vielfältig geklärten Theoriemitteln - durchhält. Denn Schleiermacher entkoppelt zwar ın durchaus (aber, wie der Verweis auf Platon zeigt, nicht ausschließlich) Kantischer

Manier Sittlichkeit und Orientierung am Wohlbefinden,

vernünftige Wil-

lensbestimmung

und

und

Realisierungsoptionen,

Sittenlehre

Glückselig-

keitsregeln und radikalisiert diese Diastase sogar noch, indem er auch Kants subtile Wiedereinführung der Glücksvorstellung in das höchste Gut (und damit - da daran Kants Postulatenlehre hängt - auch allen religiösen Einfluß auf die Ethik) eliminiert; durch eine feine, aber ungemein folgenschwere Unterscheidung von Kant wird er jedoch genötigt, das Interesse an der Realisierung vernünftiger Willensbestimmungen

solcher

kontingenter

Realısierungen

und

bzw.

an der

an den Bedingungen

Beeinflußbarkeit

dieser

Bedingungen festzuhalten. Indem er nämlich gegen Kant eine unmittelbare Wirkung der Vernunft auf den Willen bzw. genauer den nicht-"pathologi-

schen', die "pathologisch'-sinnlichen Neigungen nur niederschlagenden Charakter des als Vermittlungsorgan (»Triebfeder«) der Vernunft in der Psyche fungierenden moralischen Gefühls der Achtung vor dem Gesetz ablehnt!!, steht er vor der Frage, wie das dann in das Ensemble der Neigungen integrierte (wenngleich rein vernünftig bestimmte) moralische

Gefühl einen Seelenmoment so zu dominieren vermag, daß der Mensch sıch zu sittlichem Handeln entschließt, und über die externe Affizierbarkeit der Seele stellt sich die weitere Aufgabe ein, zumindest zu untersuchen, welche

kontingenten äußeren Verhältnisse dem Dominantwerden sittlicher Orıientierungen in der Psyche förderlich sind, wie die Herstellung solcher Verhältnisse

ihrerseits

durch

eigenes

oder

fremdes

Handein

oder

Uhnterlassen

gefördert werden kann und besonders wie kontingent-partikulares Realisieren (Darstellen} sittlicher Willensbestimmungen

zurückwirkt auf die inner-

seelischen Durchsetzungschancen des Sittengefühls. Es führt deshalb in die Irre, sich von Schleiermachers emphatischer Abstoßung der Glückseligkeitsthematik aus dem Feld der Moralphilosophie die Richtung vorgeben zu lassen; die entscheidende Pointe der Gedankenführung liegt vielmehr in jenem vorgeblichen Appendix des Textes, wo die trotz sittlich-vernünftiger Irrelevanz noch

verbleibende

Bedeutung

der Glückseligkeitsidee behandelt

wird!2. Hier wird die die weitere Denkentwicklung Schleiermachers antrei-

Il

Dies ist genauer entfaltet in den Notizen (KGA 1/1, 127 - 134). Vgl. unten 2.

12

Vgl. auch den Hinweis bei Herms,

Herkunft,

zu Kants 116 Anm.

Kritik der praktischen 27!

Vernunft

I. »Ueber das höchste Gut« bende

Spannung

gegründet

und

201

fixiert, wie sich an den Freiheitsschriften

zeigen wird!?. Doch zunächst ist der Weg dorthin zu skizzieren.

1.2. Kulturhistorische Rekonstruktion des Glückseligkeitsbegriffs und Nachweis von dessen systematischer Inkonsistenz

Schleiermacher kann die Frage offenlassen, ob »(r)eine Vernunfibegriffe« wie der des höchsten Gutes »schon von Natur in uns vorhanden« seien (84, 7f.), denn jedenfalls können sie nicht durch sıch selber »an das Tageslicht« kommen (84,10), sondern bedürfen einer sinnlichen »Veranlaßung«

(84,11). Diese Veranlassung darf aber nicht in den Begriff selbst hineingenommen werden, da dieser sonst seinen unbedingten und allgemeinen, sprich: seinen Vernunftcharakter verliert. Eben dies ıst aber beim Begriff des höchsten Gutes geschehen, indem er mit dem Begriff der Glückseligkeit (des sinnlich-empirischen Wohlbefindens), der eigentlich nur die Funktion einer veranlassenden »Hebamme« (84,14) haben sollte, notwendig verbun-

den wurde. Eine Begriffsbestimmung des höchsten Gutes geht deshalb am besten so vor, daß sıe historisch dıe Genese dieser Verquickung rekonstruıert, systematisch deren Unhaltbarkeit aufweist und einen alternativen, »reinen« zunächst

Begriff entwickelt. Die Begriffsklärung vollzieht sıch und weitgehend als Begriffsgeschichte in systematischer

deshalb Absicht

(vgl. 83,3 - 84,5). Schleiermacher entfaltet dabei zunächst die anthropologische Unvermeidlichkeit einer Idee der Glückseligkeit ın gattungsgeschichtlicher Perspektive (wobei der Urgeschichte der Menschheit dıe Bildungsgeschichte jedes Individuums exakt korrespondiert [vgl.

107,10f.]),

unter bemerkens-

werter beständiger Berücksichtigung sozialstruktureller Faktoren und Entwicklungen. Als Reflexions-Idee setzt sie die Gelegenheit voraus, »ein wenig Aufmerksamkeit auf sich selbst [zu] wenden«, »sich in sich selbst [zu] orientiren« (85,2f.), und erfordert mithin ein Minimum von Freiheit von der permanenten Nötigung unmittelbarer Lebenserhaltung und Bedürf-

nisbefriedigung (vgl. 84,23 - 85,1). Die dabei freigesetzte elementare Orientierung des Wünschens an dem Erstreben angenehmer und dem Vermeiden

unangenehmer

Empfindungen

(vgl.

85,4)

findet

freilich

ın

primitiven Gesellschaften nur einen höchst eingeschränkten und wenig variablen Gegenstandsbereich vor (vgl. 85,8f.), und so ist »Wiederholung« (85,11) bzw. »Verlängerung« (85,17; im Original gesperrt) von einmal als 13

Thematisch wird diese Spannung ın WL. Vgl. unten Kap. 6.

202

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

angenehm Empfundenem die erste Technik der Erlangung und Wahrung von Wohlbefinden; es bildet sich ein gleichsam realistischer Fundus von

Wünschenswertem. den Empfindungen

Durch

dıe Wahrnehmung

gradueller Unterschiede

ın

tritt bald auch die Möglichkeit der /ntensitätssteigerung

angenehmer Erfahrungen ın das Blickfeld (vgl. 85,13-18). Aber erst der Übergang vom gleichförmigen Hirten- ins abwechslungsreiche, Findigkeit erfordernde Jäger- und Fischerdasein habe »das wichtigste Stük der Zusammensezung«

(85,19f.)

des Begriffes

ermöglicht,

nämlich

die Auswei-

tung des Gesichtskreises möglicher Gegenstände des Vergnügens, was, da die »Fantasie« von den ihr durch die Empfindungen vorgezeichneten Bah-

nen abhängig bleibt (vgl. 85,5-81%), deren Fähigkeit zur Vergegenwärtigung von nicht-präsentem und auch real momentan nicht präsentierbarem Angenehmen ungemein erhöht. Genau hier zeigt sich aber bereits die Aporıe des nun vollständig als Zustand größtmöglicher Verlängerung, Erhöhung (Intensivierung),

Vermehrung

und

Abwechslung

angenehmer

Empfindun-

gen bestimmten Glückseligkeitsbegriffs. Denn dieser Zustand ist nicht als real zu denken, da die »Einbildungskraft« als zu ıhm gehörig immer mehr Angenehmes appräsentiert, als der Augenblick zu fassen vermag, und da es auch in sich gegensätzliche Neigungen gibt, die prinzipiell nicht gleichzeitig realisiert werden

können!®.

Aber auch der Gedanke einer sukzessiven, die

Entfaltung widerstreitender Neigungen auf verschiedene Zeitstellen verteilenden Realisierung der Vergnügenstotalität hilft nicht weiter; denn die bereits realisierte Neigung hindert die Entfaltung der noch nicht realisierten entgegengesetzten, und zwar sowohl direkt durch ihren 'Entwicklungsvorsprung' als auch indirekt, indem sie eben dadurch ein unverhältnismäßiges Gewicht im Gesamtzusammenhang gewinnt und dessen innere Harmonie stört, wenn nicht zerstört (vgl. 87,12-15, besonders 14f.). Das »Land der Glükseligkeit« kann mithin »nur in den wundervollen Gegenden liegen (...),

wo die Einbildungskraft allein unumschränkt herrscht und mit einem einzigen

magischen

Schlag

alles zusammenbringt

(,) was

uns

übrigen

ewig

unvereinbar scheinen muß« (87,9-12). Schleiermacher setzt in seiner Argumentation freilich implizit bereits die schulphilosophische Verbindung des Glückseligkeitsgedankens mit einem Begriff von Vollkommenheit voraus, der diese als harmonische leuchtet nämlich ein, warum

Entfaltung aller Neigungen faßt. Nur dann es nicht hinreichend sein sollte, Glückseligkeit

14 Ygt. ähnlich in FG das Verhältnis von Empfindungsfähigkeit und Einbildungskraft; vgl. unten 2. 15

Vgl. mir.

87,12:

»was uns übrigen ewig

unvereinbar scheinen

muß«,

Hervorhebung

von

l. »Ueber das höchste Gut«

203

in der Abfolge beliebiger Vergnügungen und ın einem kontingenten, je individuell-partikularen System untereinander kompatibler Neigungsrealisierungen zu suchen. Andererseits geht Schleiermacher weit über die Schulphilosophie hinaus, wenn er die Totalität aller möglichen angenehmen Empfindungen als das (notwendig als erreichbar zu unterstellende) Ziel allen menschlichen Glücksstrebens behauptet und daraufhin aufgrund erwiesener Inkonsistenz verwirft, eine 'regulative' Verwendung des Glückseligkeitsbegriffs dagegen gar nicht erst erwägt. Er unterschiebt also seiner

phänomenal-entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktion des Glückseligkeitsbegriffs das Vollkommenheitsverständnis der Schule, argumentiert aber gewissermaßen schulgemäßer als die Schule, indem diese ınkonsequenterweise nicht die radikale und unbedingte Aktualisierung und Intensitätssteigerung aller Neigungen fordert, sondern nur die der momentan gegenwärtigen und der mit der momentanen Konstellation vereinbaren. Erst Schleiermachers Konsequenz, den Einheits- und Totalitätsanspruch des Vollkommenheitsbegriffs voll auf den Glückseligkeitsbegriff anzuwenden, offenbart (oder sollte man sagen: produziert?) dessen Inkonsistenz. Eberhard etwa konnte dagegen durchaus ganz harmlos von der anzustrebenden

Akkumulation und Abwechslung möglichst vieler angenehmer Empfindungen ohne Anspruch auf (ja nie gänzlich erreichbare) Vollständigkeit

sprechen!®. Beachtet man freilich, daß Schleiermacher diesen Glückseligkeitsbegriff

als unbestimmt kritisiert hattel?, so ergibt sich als die präzise Pointe der »natürliche(n) Geschichte« (107,6)18 der Glückseligkeits-Idee, daß diese sich zwar in der Gattung und in jedem ihrer Individuen norwendig Punvermeidlich[]«, 86,28) entwickelt, daß sie aber zur deshalb untauglich ıst, weıl sıe entweder, wenn

Verhaltensorientierung sie auf die konkret-

partikularen Möglichkeiten der einzelnen Individuen bezogen wird, in allgemeiner Hinsicht unbestimmt ıst und darum letztlich auch dem Einzelnen selbst keine Distanz zu seinen eigenen Neigungen ermöglicht, oder, wenn sie durch dıe ordnende Vernunft ın einen systematischen und vollständigen Zusammenhang

gebracht

wird,

ihre

logische

/Inkonsistenz

und

psycholo-

gisch-empirische Unrealisierbarkeit erweist. Damit ist der weitere Weg der Argumentation vorgezeichnet: Einerseits sind alle Versuche aufzugeben, die Orientierung des Verhaltens an Glückseligkeitsvorstellungen durch Verbesserungen oder Einschränkungen des Glückseligkeitsbegriffs oder durch kla16 Vgl. SdV $8,5.8; 815, 8. 17; 8 17, S. 20. 17

Vgl. oben 1.1.

IB y gl. 107,28f.: »Uebergang von der natürlichen Geschichte zur wirklichen«.

204

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

rere Bestimmungen des Weges zur Glückseligkeit aufrechtzuerhalten (vgl. 87,31 - 88,6); vielmehr muß versucht werden, »die Frage: in wie fern es möglich sei (,) die menschlichen Handlungen gewißen Regeln zu unterwer-

fen (,) die unter sich in einem ordentlichen Zusammenhang wären« (88,1316; im Original ab »in wıe fern« gesperrt), ohne Bezug auf die Glückseligkeitswünsche zu beantworten,

und das heißt für Schleiermacher:

eine rein

vernünftige Sittenlehre zu entwerfen. Andererseits müssen diese Wünsche, eben weil sie unvermeidlich aufsteigen, einen Ort in der Theorie vom Menschen zugewiesen bekommen, an dem sie in ebenfalls unvermeidlicher, aber für die Sittlichkeit selbst keineswegs konstizutiver Beziehung zur Sittlichkeit stehen.

1.3. Der Vernunftbegriff des höchsten Gutes und das reine Sittengesetz Die anthropologische Unvermeidlichkeit der Glückseligkeitsidee und die offensichtliche Diskrepanz zwischen der geforderten Allgemeinheit und inneren Einheit der Vernunftgesetze (vgl. 88,16-19) und der prinzipiell unüberschaubaren Pluralität und Individualität kontingenter empirischer Konstellationen behindern freilich beständig die Emanzipation der praktischen Vernunft von der Sinnlichkeit, verdunkeln die sachliche Angemessenheit dieses 'gereinigten’ Vorgehens und damit dessen Überzeugungskraft und führen schließlich (wie die Sichtung der philosophischen Tradition Schleiermacher zur Genüge zeıgt [vgl. 107 - 123]) ımmer wieder zum mehr oder weniger verdeckten Wiedereindringen empirischer Maxımen ın die Sıttenlehre. Diese Problemlage ıst ın Schleiermachers Entwicklung des Begriffs des höchsten Gutes immer mit präsent und bestimmt unterschwellig

die Argumentationsrichtung. »Der Begrif des höchsten Guts (...) sagt dıe Totalität dessen aus, was durch reine Vernunftgeseze möglich ist« (92,12-14). Damit ist - wie Schleiermacher unter Berufung auf Kant festhält - ausgeschlossen, daß er unab-

hängig von dem Begriff eines rein vernünftigen Sittengesetzes gebildet wırd (vgl. 89,23 - 90,4). Ausgeschlossen ist damit ebenfalls, daß dieses Sittengesetz nur als »Mittel« zur Erreichung eines »Zwekes« ın Gestalt eines wenngleich vernunftgemäßen Guten erscheint. Denn das höchste Gut kann kein Zweck

sein:

Ein Zweck

heiligt Mittel, die ihm äußerlich sind, Gutes darf

aber nur durch Gutes angestrebt werden, das Mittel wäre dann jedoch Teil des Zweckes,

ein Teıl kann aber nıcht Mittel des Ganzen seın (vgl.

90, 10-

36). Ebenso wenig ist das Sittengesetz ein Mittel: Es enthält nur die »Form« (90,38; Hervorhebung von mir) der Realisierung der Teile des höchsten

1. »Ueber das höchste Gut«

205

Gutes, ist also nicht aus sich selbst der Realisierung fähig (vgl. 90,36-39),

Dem Verhältnis entspricht vielmehr eher die mathematische Metapher von Funktion und Kurve: Das Sittengesetz ist die Zuordnungs-, Identifizierungs- oder Beurteilungsregel, das höchste Gut der vollständige »Inbegrif« (90,40), der graphisch als kohärente Linie darstellbare Zusammenhang alles

durch Anwendung der Regel Realisierbaren, Die Kenntnis der Formel ermöglicht die Identifikation von bereits realisiertem oder von zu realisierendem Guten. Die Einheit des Sittengesetzes begründet mithin unmittelbar die innere Konsistenz des höchsten Gutes und die Kompatibilität von allen dessen Teilen. Aus dem damit gegebenen »Grundsaz der Consequenz« (91,23) folgt für Schleiermacher, daß es keine »Pflicht(-JCollisionen« (93,10) geben kann, diese können nur daher rühren, daß das Sittengesetz »unter einer unrichtigen Formel gedacht und angewandt wurde« (93,11f,). Per definitionem

kann

kein

Gutes

in Konkurrenz

zu anderem

Guten

treten.

Faktisch

auftretende »Collisionen sowol der Neigungen, als [auch] der zu allgemein entworfenen sittlichen Maximen« (93,24f,, Hervorhebung von mir) müssen vor dem »oberste(n) Richterstuhl« (93,24) der Vernunft durch Korrektur der

Maximen bzw. durch Überprüfung der Adäquanz an sich korrekter Maximen für eine bestimmte Situation zur ursprünglichen Harmonie zurückgeführt werden können. Der »Grundsaz der Consequenz« scheint freilich nur die Nichtwidersprüchlichkeit aller sittlichen Maxımen aussagen, nur formal das Nichtkompatible ausschließen zu können. Ein positives Kriterium gewinnt das Sittengesetz erst, wenn der Charakter der Vernunft beachtet wird, »daß sie überall, wo sie für sıch allein handelt, mit Verachtung alles kleinlichen und

subjektiven und aller Einschränkungen und Verhältniße des individuellen, in der größten Allgemeinheit schließt und beschließt« (91,31-34; Hervorhebung von mir); eben dies muß nun für »ein jedes einzelnes ihrer Geseze« (91,35) gelten:

»das Gebot,

was

sie [sc. die Vernunft]

mir auflegt (,} ist

nicht ein Gesez, welches sie bios mir gibt; es muß sich über alles erstreken, was unter der Herrschaft der Vernunft steht, und so Consequenz aushalten« (91,36 - 92,2, Hervorhebung Blieb schon bei der Metapher von Funktion und Verhältnis der einen Kurve des realisierbaren Guten

muß es dıe Probe der von mir). Kurve unklar, wie das zur Zeit und zu den in

der Zeit vielfältig wechselnden Perspektiven einer unendlichen Pluralität endlicher Individuen zu denken sei - muß es nicht individuelle Kurven geben, deren Formel sozusagen eine personbezogene Invarıiable hinzugefügt

206

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kanı

ist, so daß (wie bei Eberhard!?) eine Art individuelles Ideal entsteht? gibt es in jedem Zeitmoment nur genau ein zu realisierendes Gut bzw. genau einen konsistenten

Komplex

zu realisıerender Güter?

etc. -, so stellt sich

jetzt um so dringlicher die Frage nach der Realisierung des Realisierbaren eben unter den Bedingungen der »Einschränkungen und Verhältniße des individuellen« (91,32f.).

Der Begriff des höchsten Gutes »stellt uns (...) den

Zustand eines Willens, deßen einzelne Handlungen und Maximen

sämtlich

den Gesezen der Vernunft gemäß bestimmt sınd (,) als [sc. denk-]möglich und mit sich selbst einstimmig vor« (93,1-4). Nun ist aber bei einem Willen, der vollständig, ausschließlich und unmittelbar durch die Vernunft be-

stimmt

ist und

der

deshalb

notwendig

und

ununterbrochen

Teile

des

höchsten Gutes realısıert, das Vernunftgesetz Naturgesetz. Das aber kann nur von einem der Empirie nicht ausgesetzten Wesen ausgesagt werden (vgl. 100,11-13). Ein solcher Wille kann nicht einmal mehr tugendhaft,

sondern

nur noch

Aeilig genannt

werden,

man

könnte

ihn nur als das

»Schema des höchsten Guts ansehn« (93,17f.;, Hervorhebung von mir), dessen »Wirklichkeit (...} nur die Einstimmung der Vernunft mit sich selbst beweisen« würde (93,14f.). Es ıst aber auch ein Wille denkbar, der nicht

notwendig in jedem Moment ausschließlich durch die Vernunft bestimmt sein muß (weıl er nämlıch ım Bereich der Empirie existiert}, aber sehr wohl kann und faktisch jedesmal so bestimmt wird. Bei einem solchen Willen er-

folgt die vernünftige Willensbestimmung nicht naturgesetzlich automatisch, sondern kontingent durch die zurechenbare Selbsttätigkeit der Entscheidung

für die Motive der Vernunft gegen dıe »besondern subjektiven Begehrungsgeseze« (93,19); erst hier kann man von Tugend sprechen.

Aber auch dies

ist noch nicht der 'Normalfall' unter den Bedingungen des Endlichen. Ein Wille »wie der unsrige« (100,16) kann nämlich gar nicht gegen die »subjektiven Begehrungsgeseze« unmittelbar von der Vernunft bestimmt werden, sondern nur »vermittelst subjektiver von dem Sittengesetz abgeleiteter Bewegungsgründe« (100,17f.). Das hat aber zur Konsequenz, daß diese Bewegungsgründe

das Bewußtsein

keinesfalls notwendig

ununterbro-

chen, sondern nur kontingent und zeitweise bestimmen, weil sie als kategorial identisch

mit anderen

subjektiven »Triebfedern«

(100,20) zu diesen

in

Konkurrenz stehen und sich gegen sıe jeweils erst durchserzen müssen. Ein so beschaffener Wille kann nicht kontinuierlich Gutes schaffen. Denn nicht die Vernunft, sondern die »Umstände(), wodurch allein die Wirksamkeit aller subjektiven {...) Triebfedern bestimmt werden kann« (100,25-27;

Hervorhebung von mir), bemessen,

19 Vgl. oben Kap. 2, 1.3.1.

wie viel »ein solches Begehrungsver-

l. »Ueber das höchste Gut«

207

mögen von dem höchsten Gut realisiren will [!] und kann« (100,23f.). Dies bedeutet aber nicht weniger als eine Krıtik von Kants Behauptung, das sitt-

lich Gute müsse als jederzeit faktisch realisierbar angenommen werden, da es uns zu realisieren von der Vernunft unbedingt geboten seı (»Du kannst, denn

du

sollst«!);,

es

ıst

»constitutive(s)« Prinzip,

für

sinnlich

affızierte

»als ob es zu erreichen

Wesen

vielmehr

kein

uns nicht nur möglich

sondern auch nothwendig wäre« (100,38 - 101,1), sondern »nur ein regula-

tives Princip welches wir zum Ziel unsrer Willensbearbeitung sezen müßen, ohne bei irgend einem Grad der Vollkommenheit als dem höchstmöglichsten stehn zu bleiben« (100,35-37). Die Vorstellung eines Willens, der durchgängig kontingent vom vernünftigen Sittengesetz bestimmt Ist, gewinnt für den konkreten Einzelnen dann die Funktion eines »genaue(n) Modellfs) der ganzen sittlichen Welt« (93,27f.; Hervorhebung von mir),

das je individuell gefärbt ist dadurch, daß es einerseits die präzise Wahrnehmung eigener Unvollkommenheiten ermöglicht und herbeiführt und daß ebendiese Defizienzwahrnehmung andererseits die spezifisch fehlende

Vollkommenheit

»in

einem

hervorragenden

Glanz«

(93,31f.)

erscheinen lassen wird. Freilich bricht durch das Aufgeben der Annahme der Erreichbarkeit des höchsten Gutes eine Kluft zwischen sittlichem Ideal und faktischem Lebensvollzug auf, was erhebliche Schwierigkeiten für die Frage

sittlicher Zurechenbarkeit

von

Handlungen

mit sich bringt.

In der

Schrift »Ueber die Freiheit« bestreitet Schleiermacher denn auch ganz konsequent einen Zusammenhang zwischen der Zurechnung_ sittengesetzwidrigen Verhaltens und der faktischen Möglichkeit oder Unmöglichkeit,

dieses Verhalten zu vermeiden?®. 1.4. Die Funktion der Glückseligkeit für das Dominantwerden

reinvernünftig konstituierter Verhaltensorientierungen ın der Einzelpsyche Die beschriebene Kluft zwischen dem Ideal reinvernünftiger Willensbestim-

mung ohne individuell-empirische Beimischung und individuell-konkretem Lebensvollzug soll »Gewißheit und Verbindlichkeit« (92,21) des Sittengesetzes für diesen Lebensvollzug gerade sichern und keineswegs abschwächen.

Die

Leugnung

unmittelbarer

Wirkung

der

Vernunft

auf das

Begehrungsvermögen setzt aber die Aufgabe frei, die 'Implantation’ sittlicher ÖOrientierungen ın kontingente, von vielen Faktoren bestimmte Situationen,

20

die

Transformation

Vel. dazu unten Kap. 5, 2.

vernünftiger

Gesetze

in

sinnliche

Motive

zu

208

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

beschreiben. Denn kann die Vernunft das Begehrungsvermögen nicht durch Niederschlagung aller Neigungen sich unterwerfen, sondern muß sich im Ensemble der Neigungen durchsetzen und diese für sich instrumentalisieren, so setzt das voraus, daß sie im Begehrungsvermögen ihrerseits als Neigung präsent sein kann: Die Dominanz sittlicher »Bewegungsgründe« muß auf exakt dieselbe Weise zustandekommen wie die Dominanz sinnlicher

Neigungen. Es muß daher ein moralisches Gefühl geben, das sich - anders als Kant meinte - nicht als nıcht-sinnlich von allen anderen Gefühlen unterscheidet,

sondern

appräsentiert,

das selber sinnlich ist, wenngleich es den Inhalt, den es

nämlich

das vernünftige

Sittengesetz,

keineswegs

sinnlich

affiziert oder gar selbst hervorbringt?!. Die völlige Unabhängigkeit und Ferne des vernünftigen Sittengesetzes von aller Empirie führt mithin paradoxerweise zu einem besonders intimen Eingehen moralischer Verhaltensbestimmungen in die Bedingungen der Sinnlichkeit. Schleiermacher kennt kein der Sinnlichkeit enthobenes, sich vernünftig bestimmendes und insofern

selbst ungehindert und unversucht absolut freies ıntelligibles Subjekt

gleichsam 'hinter' dem konkreten Individuum, die beide ım sich von der Empirie

und

ihren

Einschränkungen

emanzipierenden

Willen

zusammen-

kommen; er kennt nur das konkrete Individuum mit dem durchgängig sinntıch bestimmten Begehrungsvermögen, von dem nun in Frage steht, wie sich in ihm unter den nicht abstrahierbaren gegebenen sinnlichen (psychischen, physischen, sozialen} Umständen und Bedingtheiten sittlichvernünftige Orientierungen kontingent Gehör verschaffen und partiell verhaltensbestimmend werden können, so daß - wie auch immer approximativ - das höchste Gut realisiert wird. Erinnert man sich an Eberhards Lehre der fehlenden Stärke und Lebhaftigkeit deutlicher Vorstellungen und der mangelnden Orientierungsfähigkeit von Empfindungen - so daß Denken und Empfinden wie Ruder und Segel eines Schiffes aufeinander angewiesen

sind -22, so wundert nicht, daß durch die oberflächlich betrachtet geringfügigen Verschiebungen im Vergleich zu Kant - dıe aber eine fundamentale Differenz der Perspektiven ıindizieren - schulphilosophische Probleme und Konzepte wiederauftauchen. Denn wenn auf der Ebene konkreten Lebensvollzugs die Glückseligkeitsidee sich als unvermeidlich erwiesen hat2?, wenn diese Idee so mit dem Vollkommenheitsbegriff verbunden ist, daß sie

in der größtmöglichen gleichmäßigen und untereinander harmonischen Ent21

Vgl. dazu die »Notizen« zu Kants 134); dazu unten 2.

22

Vgl oben Kap. 2, 2.2.

23

Vgl. oben 1.2.

Kritik der praktischen

Vemunft

(KGA

I/},

127 -

]. »Ueher das höchste Gut«

faltung aller Neigungen einzelnen

Neigung

besteht,

durch

den

wenn

209

umgekehrt die Realisierung jeder

harmonischen

Gesamtzustand

der Seele ge-

fördert wird (jedenfalls die unverhältnismäßige Dominanz einer Neigung den Gesamtzustand so nachhaltig stört, daß diese Neigung damit die Kontinuität ıhrer eigenen Realısierungsbedingungen auf Spiel setzt), wenn aber Sittlichkeit nur als besondere Neigung wirklich werden kann - dann erhöht das Streben nach so verstandenem empirischen Wohlbefinden mittelbar die Realisierungschancen

zumal deshalb,

vernünftiger

Verhaltensbestimmungen.

Dies

gilt

da das Sittengefühl - weil sein »Objekt in einer gewißen

Entfernung von unsern Sinnen liegt« - den »Charakter (...) eine(r) leidenschaftiose(n) Sanftmuth« trägt (124,38f.) und so nur einen Seelenzustand

dominieren kann, in dem alle Neigungen in einem Gleichgewicht stehen, in dem

also

Indem

nicht

bereits

eine

die Glückseligkeitlehre

Neigung

Regeln

die

'Herrschaft'

vermittelt,

übernommen

herzustellen oder zu erhalten ist, also wıe etwa eine dominant

Neigung

auf eine dem

Gesamtzustand

hat.

wıe das Gleichgewicht

zuträgliche

Stärke

gewordene

zurückgeführt

werden kann, lehrt sie, die Hindernisse vernünftiger Verhaltensbestimmung zu minimieren.

1.5. Systematisch-kritische Rekonstruktion der Geschichte des Begriffs des höchsten Gutes Mit der strikten Aussonderung

der Glückseligkeit aus der Handlungsorien-

tierung, mit der positiven Bestimmung der Vernunft als Form und des vernunftgemäßen höchsten Gutes als Inhalt sittlicher Handlungen und mit der These, daß das höchste Gut nıcht durch menschliche Handlungen voliständig und permanent realisiert werden kann, hat sich Schleiermacher bei der

systematischen Klärung des Begriffs des höchsten Gutes ein Kriterienraster geschaffen,

das

ihn befähigt,

die vorgegebenen

Konzeptionen

der moral-

philosophischen Tradition untereinander zu vergleichen und sachlich zu beurteilen. Umgekehrt läßt die kritische Sichtung der Tradition zusätzliche Aufschlüsse und Präzisierungen hinsichtlich des Begriffes selbst erwarten. Das zırkuläre Verhältnis von Begriffsklärung

und historischer Rekonstruk-

tion ist freilich dadurch aufgebrochen, daß dıe zentrale Pointe der Begriffsbestimmung, nämlich dıe reine Vernünftigkeit des Sittengesetzes, sich vor allem der Beschäftigung mit Kant verdankt, wenngleich sich schon hier, in

der Frage des kontingenten Motivationspotentials der Vernunft und damit zusammenhängend der Realisierbarkeit des höchsten Gutes, eine Selbständigkeit gegen diesen und die Bewahrung schulphilosophischer Probiemstel-

210

IT. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

lungen offenbarten. Es ist deswegen keineswegs nur ein Zeichen der Schwäche, die Schleiermacher mit den »gewöhnlichen Menschenkindern« teilt, »welche von dem (,) was sie zulezt gesehen haben (,) am stärksten

gerührt werden« (106,34f.), »gleich von der Entstehung des Begrifs vom höchsten Gut bis zu seiner neuesten Bearbeitung überzuspringen« (106,32f.);

das Bedürfnis,

sıch zuerst zu Kant

kritisch

ins Verhältnis

zu

setzen, entspricht vielmehr durchaus dessen Bedeutung für die Erarbeitung der kritischen

Gesichtspunkte

für den

Theorievergleich.

Das

Kokette

an

diesem Bekenntnis zum Fasziniertsein durch das Aktuelle (angesichts einer Theorie, die die Bedingungen des Dominantwerdens sittlich-vernünftiger Verhaltensorientierungen

sollte gleichwohl

über

den darin

sinnlich-empirische

liegenden

Unterton

'fascinosa'

ironischer

reflektiert!)

Distanzierung

nicht überhören lassen, zumal die explizite Kant-Kritik an Schärfe nıchts zu

wünschen übrig läßt.

1.5.1. Kants Inkonsequenz Kant habe nämlich selber Glückseligkeit ın seinen reinvernünftigen Begriff des höchsten Gutes hineingenommen, und zwar weil er die Annahme der Proportionalıtät von »Wolverhalten und Wolbefinden«, von Tugend und Glückseligkeit,

für vernunftnotwendig

hielt (vgl.

102,29-31).

wendigkeit besteht aber nach Schleiermacher nur für einen allein durch reine Vernunft« bestimmbaren Willen, bei Angemessenheit« des Willens »und aller seiner Maximen mit den reinen Vernunftgesezen« notwendig »den besten

Diese

Not-

»unmittelbar und dem die »völlige und Handlungen Zustand und das

vollkommenste Wolbefinden« ausmacht (104,19-23). Kants »proton pseudos« (104,31) sei, daß er diese Glückseligkeit »mit der Glükseligkeit eines

sinnlich affıcirten und durchgängig [!] nur sinnlich bestimmten Begehrungsvermögens« (104,23-25) verwechsle, daß er mithin »die subjektiven Bestimmungsgründe unseres Willens, die aus dem reinen Vernunftgesez abgeleitet werden (,) mit demselben zu sehr identificirfe}, und die Vernunft dem Begehrungsvermögen über dıe Gebühr« nähere (104,32-35). Da er damit das menschliche Begehrungsvermögen mit dem reinen Willen vermische, ohne jedoch die sinnliche und notwendig Wohlbefinden anstrebende Bestimmtheit des Begehrungsvermögens zu eliminieren, gewinne der recht verstanden »ganz unmöglich als ein reiner Vernunftbegrif« denkbare (105,3; vgl. 105,7 - 106,22) Glückseligkeitsbegriff unter der Hand mit einem Mal Vernunft- und Notwendigkeitscharakter. Da Kant aber durchaus sehe (vgl.102,4f.), daß die Korrespondenz von Tugend und Wohlbefinden unter

1. »Ueber das höchste Gut«

den gegenwärtigen

211

Bedingungen der Sinnlichkeit nicht durch tugendhafte

Selbsttätigkeit herzustellen sei, habe er seine Zuflucht ın dıe Postulate einer

infiniten Prolongation der Existenz der Einzelseele einerseits, eines die Adäquanz von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit im Jenseits garantierenden und realısierenden Weltrichters andererseits genommen. In einem langen Exkurs (96,24 - 101,27) sucht Schleiermacher zunächst zu zeigen, daß das Gottespostulat ım Unsterblichkeitspostulat bereits ımpliztert ıst (vgl. 98,8 -

99,20)24, dann aber daß die Verschiebung ins Jenseits das Problem der Proportionalität von Tugend und Glückseligkeit überhaupt nicht lösen kann, da im Jenseits entweder weiterhin dıe Bedingungen der Sinnlichkeit obwalten und damit die Einschränkungen fortbestehen, die dem Tugendhaften sinnliches Wohlbefinden vorenthalten, oder, wenn dies nicht der Fall ist, über den dermaligen Zustand gar nıchts ausgesagt werden kann, und beson-

ders nicht darüber, ob es dann noch so etwas wie Glückseligkeit geben werde (vgl. 102,7-16, vgi. 17-21)2?. Die Ideen von Unsterblichkeit und Gott sind mithin in praktischer Hinsicht ebenso »überschwenglich()« (99,35)

wie in theoretischer und vermögen umgekehrt auch keineswegs die Notwendigkeit des Gedankens der Proportionalität von Tugend und Glückseligkeit und damit der Integration der Glückseligkeit in den Begriff des höchsten Gutes sowie dessen Realisierbarkeit zu sichern. Schleiermacher verflicht hier in eigentümlicher Weise Argumentationen der »Krıitik der reı-

nen Vernunft« und der »Kritik der praktischen Vernunft«. Mit KpV eliminiert er die Orientierung am Wohlbefinden aus der vernünftigen Sittenlehre, mit

KrV

widerlegt

er Kants eigenen

Versuch,

obzwar nur ın praktischer Abzweckung

der Vernunft

nun

doch

-

- einen Geltungsbereich jenseits

möglicher Erfahrung zuzuschreiben, und mit dieser Widerlegung weist er auch Kants subtile Wiedereinführung des Glückseligkeitsgedankens ın die

Sittenlehre ab. Analog zu Kants Lösung in der Transzendentalen Dialektik erfolgt konsequenterweise denn auch die Bestimmung des höchsten Gutes

als regulative statt als konstitutive Idee?6, Gleichwohl führt diese 'Korrektur Kants durch Kant'?? offenkundig zu ganz unkantischen Ergebnissen.

Der verstärkten Betonung der empirisch-sinnlich bestimmten kontingenten Wirklichkeit konkreter Menschen als der einschränkenden Bedingung schon 24 Zur Kritik vel. Meckenstock, Deterministische Ethik, 149f. 25

Vgl. dazu auch unten 1.5.3.3. sowie die Überlegungen in ÜdF (unten Kap. 5, 8.) und WL (unten Kap. 6, 2.7.).

26 Vgl. oben 1.3. 27

Vgl. M.D.

Ryan: Young Friedrich Schleiermacher's act of religious identification. In:

New Athenaeum/Neues Athenaeum.

Vol.

1. Lewiston etc. 1989,

142 - 172, hier:

147.

212

IT. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

der faktischen {innerpsychischen) Bildung wıe der Realisierung sittlicher Verhaltensorientierungen korrespondiert eine Radikalisierung der /dealität des Sittengesetzes. Die verschärfte Diastase ermöglicht auf der einen Seite eine von allen Gesichtspunkten kontingenter Appräsentierbarkeit und Realisierbarkeit sowie von allen Rücksichten auf das der konkreten Existenz not-

wendig inhärierende Streben nach Wohlbefinden gereinigte Bestimmung des reinvernünftigen Sittengesetzes (und des höchsten Gutes als der Totalität der so bestimmten

Handlungen)

- eine Lehre vom

unerklärlichen »Faktum

der

Vernunft«, die die beständige Präsenz des moralischen Gesetzes »in mir«2® sichern soll, ıst dann nicht mehr nötig; auf der anderen

Seite erzwingt sie

ein vermehrtes Interesse an dem Prozeß und den Beeinflussungsmöglichkeiten des 'zufälligen'2? Dominantwerdens sittlicher Orientierungen in der

Einzelpsyche und damit, wie gezeigt?®, eine Einordnung der vernünftigen Sittenlehre

in den

weiteren

Kontext

von

Psychologie,

Anthropologie

und

virtuell auch Kosmologie und Sozialtheorie. Nur unter dieser erheblich verschobenen Perspektive bekennt sıch Schleiermacher zu seiner grundsätzlichen Übereinstimmung mit Kant. Fragt man nach Theoriekonstellationen, die diese Perspektivenverschiebung bedingt oder beeinflußt haben könnten, so legt sıch für das radikale Auseinandertreten von Ideal und Wirklichkeit der Verweis auf Platon nahe. Zumindest wırd man sagen müssen, dab Schleiermacher Kants Unterscheidung von transzendentaler und empirischer

Sphäre in einer Weise aufnahm, die seine Theorieentwicklung öffnete für die spätere intensive Platonrezeption, wenn sie sich nicht bereits seinen durch die herrenhutische Schulbildung und durch Eberhards philosophiehistorische Bevorzugung der Antike hervorragenden Kenntnissen der klassi-

schen griechischen Philosophie verdankte?!.

Für die unter platonischen

Bedingungen ja undenkbare Bedeutung des Interesses an kontingenten Rea-

lisierungen des Sittlichen in Medium der Empirie scheint dagegen Schleiermachers schulphilosophische Prägung verantwortlich zu sein, unterschwellig und vielfältig gebrochen scheinen hier auch aristotelische Linien auf?2,

28

KpV 288 (Weischedel, Band 6, 300); im Original gesperrt.

29 Vgl. Eberhard, SdV $ 23, 5. 24f.

30 Vgl. oben 1.4. 31

Für die Bedeutung der antiken Philosophie für Schleiermachers Entwicklung vgl. W. Schock: Existenzverwirklichung und Religion. Zum Werden von Schleiermachers Relısionsbegrift. In: NZSTh 32 (1990), 115 - 124, 115f.

32 Vgl. oben Kap. 1, 5.

l. »Ueber das höchste Gut«

213

1.5.2. Der Gang durch die »ÄAnnalen der Philosophie« Daß Schleiermachers Behandlung des Begriffs des höchsten Gutes eine breitere theoriegeschichtliche Basıs hat als nur die einer theorieimmanenten

Auseinandersetzung mıt Kant, erweist sich in großer Deutlichkeit an seinem Längsschnitt durch die Geschichte dıeses Begriffes. Anders als die Naturgeschichte der Glückseligkeitsidee kann dıe Begniffsgeschichte nıcht als die ın

jedem Exemplar identisch erfolgende Gattungsgeschichte geschrieben werden, sondern nur als Abfolge je individueller Entfaltungen, als »Geschichte der Veränderungen (...), welche ein reiner Vernunftbegrif in verschiednen Köpfen erlitten hat« (107,12-14). Denn hier »hat jeder Mensch seinen eignen Standpunkt (,) von welchem er ausgeht, seine eigne Art zu denken und

sich zu bilden, seine eignen Grenzen, wo er raisonnirt und deraisonnirt, kurz seinen eignen Kreis von Wahrheit und Irrthum« (107,14-17). Die Individualıtät jedes Denkers ist freilich relativiert durch den Gedanken von je spezifischen Epochenidentitäten, die jeweils als (ihrerseits einseitige) Gegenbewegungen

gegen

Einseitigkeiten

der

vorangegangenen

Epoche

zu

bestimmen sind, so daß man geradezu von einer Dialektik der Epochenabfolge

(wenngleich

ohne

die

Vorstellung

eines

notwendigen

Fortschritts)

sprechen kann (vgl. 107,20-27)33. Bei diesem Rückgriff in die »Annalen der Philosophie« (107,18) zeigt sıch nun allerdings in der Tat eine besondere Affinität zu Piaron. Denn wird Sokrates (vgl. 107,28

- 108,35)

noch

als Protagonist des «Ulebergang(s}

von blos empirischen

zu

wahrhaft rein philosophischen Untersuchungen« (108,32f; vgl. 107,28.) gedeutet, der in einer Zeit überbordender Prosperität und ausgedehniter Felder möglicher Gegenstände des Wohlbefindens kritisch auf die inneren Widersprüche des von den Sophisten zeitgeistkonform propagierten Strebens nach möglichst großer empirischer Glückseligkeit aufmerksam gemacht habe, ohne aber über dıe ımmanente Widerlegung der »empirischen Principien« (108,23) seiner Gegner hinauszukommen und auf anderen, richtigeren Prinzipien »eın eignes dauerhafteres Gebäude auf(zu)richten« (108,25f.), so erscheinen bei Plason (vgl.

108,36 - 110,19) nahezu alle konstitutiven

Merkmale von Schleiermachers Begriffsbestimmung des höchsten Gutes, wenn auch noch nicht in systematischer Darstellung. Nicht nur habe er ein unabhängig von empirischen ÖOrientierungen in der Vermunft konstituiertes Sittengesetz gelehrt (wenngleich er dessen Verbindlichkeit allein mit seiner Angeborenheit begründete [vel. 109,4-6]), indem er im »Staat« zeigte, »daß es schlechterdings nothwendig seı, uns selbst zu regieren, und daß dies auf keine andere Weise geschehen könne, als

wenn wir unbedingt alle übrigen Theile unserer Seele dem regierenden Vermögen, der Vernunft unterwerfen« (109,36 - 110,3); nicht nur kenne er ein diesem Sittengesetz

»vollkommen

angemessenes«

(109,12)

und

mithin

von

allen

Zusätzen

von

Glückseligkeit freies höchstes Gut, das er zudem für »gänzlich außer seiner prakti-

33

Eine solche Epochendialektik konzipierte Schleiermacher auch in »An Cecilie«. dazu oben Kap. 3, 3.

Vgl.

214

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant schen Sphäre« und deshalb für unerreichbar hielt (vgl. 109,12-14); sondern er habe es auch vermocht, Glückseligkeitsonientierungen in untergeordneter und die Belange der Vernunft nicht tangierender Weise der Sittenlehre zuzuordnen, ındem er dem »währhaft höchsten Gut« (109,7) eın »empirisches« (109,15), nur »uneigentlich« (110,9) so zu nennendes höchstes Gut gegenüberstellte, das nun zwar »für den Menschen

möglich{}«

ıst (109,9),

»wonach

unmittelbar

und

allein zu

streben

ihm

I|sc.

Platon] jedoch sein Sıttengesez nicht erlaubte« (109,15f., Hervorhebung von mir). Diese eigenartige Doppelung sei ın Platons Anthropologie begründet, die »die menschliche Seele durch ıhre Verbindung mit der Materie« in einem » Zustand der Ermiedrigung« sehe (109,20f.}, der freilich keine unbedingte Abhängigkeit von der Materie, kein völliges Verschwinden ın dieser ımpliziere, weshalb der Seele in ihrer ırdisch-kontingenten Exıstenzweise »manches anklebe, was zwar nicht blos in der Materie liege, aber doch auch nıcht zu dem Wesen der Seele gehöre« (109,21-23). Im Blick auf dıese faktısche 'Zwischen'-Existenz, ın der dıe Seele zwar noch emp-

fänglich ıst für die Einsicht in ıhre wesentliche Herkunft aus einer »besseren Welt« (109,27) und ın ıhre wahre Bestimmung dorthin, aber nicht mehr allein bestimmbar durch diese Einsicht,

könne

Platon »dem

(N}iedrigern

eıne kleine Aufmerksamkeit

nicht versagen, geschähe es auch nur um die Forderungen desselben einzuschränken« (109,28-30). Sowohl von den materialen Bestimmungen als auch vom argumentativen Gefälle her entspricht die Behandlung Platons in hohem Maße Schleiermachers oben dargestellter Begriffsbestimmung und Interessenlage. Kritisch vermerkt wird nur die fehlende systematische Form, die freilich eine Rekonstruktion seines »moralische(n) Systerm(s)«

nicht

verhindert

(vgl.

108,36-38),

die

unterlassene

Untersuchung

von

Grund und Wirkweise der Verbindlichkeit des Sittengesetzes (vgl. 109,4-6) sowie eine ım Vergleich zu Kant weniger »vollendet(e}« und lebhafte Darstellung des »Vernunftgesezes« (109,31f.). Hat die Begniffsgeschichte demnach schon an ihrem Anfang eine solche Vollendung erreicht, so bleibt für ıhren Fortgang nur entweder positiv die Systematisierung, vollständige Durchbildung und formale Perfektionierung der erreichten Einsicht oder aber negativ deren partieller oder völliger Verlust, eine Sequenz von Konzeptionen, dıe hinter das von Platon vorgegebene Niveau der Unterscheidung und Zusammenordnung von Tugend und Glückseligkeit zurückfallen. Während Schleiermacher die positive Möglichkeit weitgehend bei Kant zu finden scheint (den er damit sozusagen als Platonausleger liest), schreibt er die Geschichte zwischen Platon und diesem als Geschichte der vielfältigen Erscheinungsformen der negativen Möglichkeit. Interpretiert er, wie ausführlich gezeigt, Aristoteles als rein empirischen, statt auf Gesinnung auf äußere Handlungen sich beziehenden, der Vernunft die ıhr zustehende Notwendigkeit und Allgemeinheit vorenthaltenden Sıttenlehrer und mithin als das dialektische Gegenextrem zu Platon, so bestimmten die Cyniker zwar das höchste Gut richtig als durchgängige Herrschaft der Vernunft (vgl. 112,22-24), begingen aber (ähnlıch wıe Kant) den Fehler, es für realisierbar zu halten, was sıe dazu führte, das höchste Gut mit der asketischen Freiheit von allen Neigungen (im Sinne von deren Abtötung) und von aller Zıvilisation und Gesellschaft zu identifizieren?>. Damit aber verfehlten sie nicht nur die Beschreibung des kontingent und durch vielfältige Einflüsse bestimmbaren Begeh-

34

Vgl. oben 1.1.

35 Der Grund dafür ist, daß Askese möglich ist, Beeinflussung der Außenwelt nicht oder kaum.

l. »Ueber das höchste Gut«

215

rungsvermögens des nur sinnlich affızıerbaren konkreten Menschen; eben dadurch verhinderten sie vielmehr auch wesentliche »Bewegungsgründe« zum Guten, »welche durch das Gefühl ın uns kommen« (113,10; Hervorhebung von mir), indem sie nämlich »selbst die von dem moralischen Sınn unzertrennlichen Empfindungen auszurotten« suchten {113,11f.). Sie übersahen also, daß sıttliche Orientierungen nicht unter Ausschaltung,

sondern

nur im Medium

der Sinnlichkeit

- und dann

und des-

halb nur relativ und vorübergehend - dominant werden können. Auch den Stoikern galt das höchste Gut als erreichbar (vgl. 123,29-34, besonders 33, sowie 117,16f.); aber anders als bei den Cynikem nicht durch Elimination aller Glückseligkeit, son-

dem

durch

deren

»Begrenzung«

(115,10) der Glückseligkeit,

(124,10f.).

Sie unterschieden

die in Widerspruch

zur Tugend

nämlich

»Theıle«

stehen, Teile, die »als

wahre adiaphora mit der Tugend gar nichts zu schaffen haben (...) und dieselbe im geringsten nicht befürdern und nicht verhindem« (116,19-21), und schließlich Teile, die notwendig aus der Tugend folgen (vgl. 115,15f.). Nur dıe ersten werden aus dem höchsten Gut ausgeschlossen, die letzten - dıe ım übrigen den »größte(n) und wichtigste(n) Theil der Glükseligkeit« ausmachen (115,15) - bilden hingegen »ein unentbehrliches Element des höchsten Gutes« (115,16f.). Da Glückseligkeit nıcht nur der Tugend entspringt, kann sıe sıch nicht demselben Prinzip wıe dıese verdanken; das höchste Gut ist hier deshalb »eine Zusammensezung aus zwei verschiednen obgleich synthetisch verbundenen

Elementen+

(135,36 - 116,1}. Diese Synthese von

Tugend und Glückseligkeit bringt auch in anderer Hinsicht Schwierigkeiten mit sich: Da die Stoiker »(u)ngewiß) über ein künftiges Leben« waren (116,10), konnten sie nicht wie Kant die vollständige Adäquanz von Glückswürdigkeit und Wohlbefinden ins Jenseits verschieben, sondern mußten sich »überreden (,) daß dieser Wunsch schon in dem gegenwärtigen [sc. Leben] erfüllt werde« (116,11). Mochte das für dıe der Tugend folgende Glückseligkeit noch durch die beglückende Wahrnehmung der eigenen tugendhaften Entschließung gelingen und durch die Überlegung, widrige Umstände (etwa Schmerzen} könnten nur solche Formen der Glückseligkeit zerstören,

die ohnehin

nicht zum

höchsten

Gut

gehören

(vgl.

115,21-32,

besonders

29-

32), so war das für die Adiaphkora unmöglich, die sich dem Kriterium der Tugendhaftigkeit ja gerade entziehen. Für die sıe betreffende Unterscheidung ın pro@&gmena und apro&gmena (vgl. 117,5f.) griffen sie auf die »Regeln der Glükseligkeit« (116,24.30) zurück, die unter zwei möglıchen Handlungen diejenige zu wählen lehren, die »unmittelbar die angenehmste Empfindung= verspricht (117,4f.; Hervorhebung von mir). Daß diese Entscheidung längerfristig nicht »das grade Gegentheil« bewirken

werde (117,7),

konnten

sie nur glauben

und sich bei dem

Gedanken

sten, daß selbst dann die abgewiesene Entscheidungsalternative sıcherlich zu noch schlimmeren Katastrophe geführt haben würde (vgl. 117,8-11). Dieses trauen in die Richtigkeit des Urteils der unmittelbaren Sınnenlust sicherten sie die Überzeugung ab, daß »durch eine besondre Lenkung der Vorsehung oder ein Spiel der Norhwendigkeisr aus diesen Entschließungen ımmer das möglichst entstehe= (117,12-14,

Hervorhebungen

von mir).

Zumindest

trö-

einer Verdurch durch beste

die Glückseligkeit der

pro&gmena beruht mithin auf durch Hilfstheoreme abgestützter Autosuggestion (vgl. 117,23f.}. Dachten die Storker also das Sıttengesetz zwar als rein vernünftig, aber einerseits als realisierbar

Eigendünkel« {nämlich

(als »Naturgesez

geführt

die Adıaphora

habe

ihres

Willens«,

(123,33),

nıcht umfassend),

117,17),

andererseits und

als

bestimmten

was

nicht

sıe zu »sıttliche(m)

universal

sıe das höchste

geltend Gut als

Synthese von Tugend und Glückseligkeit, wobei dıe Tugend ganz, von der Glückselıgkeit aber nur die von der Tugend abgeleiteten Teile hınzugehörten, so glıchen

216

11. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant ıhnen dıe Epikuräer ım synthetischen Charakter ıhres höchsten Gutes, nur ordneten sıe aufgrund ihres rein empirischen Sittengesetzes die Tugend der Glückseligkeit unter, so daß von der Tugend nur dasjenige zum höchsten Gut gehörte, was dem unmittelbaren

sinnlichen

Wohlbefinden

nicht

zuwiderlief

(vgl.

113,28

-

115,3).

Beide Schulen sind somit gegen den Kantschen Vorwurf der »Einerleyheit der prak-

tischen Principien der Tugend und Glückseligkeit«36 zu verteidigen; der wahre Vorwurf muß vielmehr lauten, bei ihren Versuchen der Synthese der Prinzipien verkürzten oder dehnten sıe Tugend und Glückseligkeit entsprechend ihren jeweiligen Systeminteressen, so daß am Ende beide unbestimmbar wurden und eine einheitliche, konsistente, Sicherheit des Urteils ermöglichende Konzeption der Verhaltensorientierung nicht zustande kommen konnte (vgl. 116,1-6). Erst die Neuzeit, als deren Beginn Schleiermacher die Entstehung der Vollkommenheitsethik, also Leibniz und Wolff anzusetzen scheint (vgl. 118,10 mit 120,2428), mit ihrer «Erneuerung der Wissenschaften und der Weltweisheit« (118,10) hat

nach Schleiermachers Überzeugung das Niveau der Antike wieder erreicht. «In dem ganzen großen Zeitraum« dazwischen (118,9) weiß er deshalb «nur zwei einem System ähnliche Abarten der Sıttenlehre« (118,10f.) zu nennen, Neuplatonismus und Christentum, »sofern man es nemlich als eıne Philosophie ansehn darf« (119, 18f.). Der Neuplatonismus, den er als Ausfluß »eines abergläubischen abentheuerlichen Zeitalters«

abtut

(118,15),

interessiert

systematisch

nur als »fast das einzige

Bei-

spiel« der von Schleiermacher als inkonsistent aufgewiesenen? Konzeption, »wo sich das höchste Gut und das Sittengesez völlig als Mittel und Zwek gegeneinander verhalten« (118,18-20), und zum Beleg dafür, daß ein »die menschliche Natur übersteigendes

Zıel«

(118,32) der Bestimmung

des Menschen

nur negative,

asketische,

sich auf die »Reinigkeit der Seele« (118,36) oder auf die Niederschlagung der Neigungen beziehende Handlungsorientierungen ermöglicht, von denen aber das Erreichen des Zieles keineswegs =die natürliche Folge» (119,1f.) sein kann. Für die positiven Bedingungen der Realisierung der menschlichen Bestimmung kann ein solches System daher prinzipiell keine Handlungsanweisungen abgeben, sondern muß »zur bloßen Möglichkeit oder zu höhern Verheißungen (...) Zuflucht nehmen« {118,34f.). Diese Kritik trifft freilich auch auf dıe Cyniker, dıe Christen und sogar auf Kant

zu (vgl.

118,35

- 119,7),

der von der Annahme

der Proportionalität

von

Tugend und Glückseligkeit ja zum Gottespostulat genötigt wurde, weil nur die Glückswürdigkeit (wenn auch vollkommen nur ım ınfıniten Progreß), nicht aber das Glück selbst in den Händen des Handelnden liegt. Da Schleiermacher von Kants Behauptung ausgeht, daß »das Resultat« der Lehren des Christentums

»mit den

seinigen

ganz gleichlautend

sei« (1 19,13£.)58,

kann

er

zur Kritik des philosophischen Gehaltes des Christentums auf seine Kant-Kritik verweisen (vgl. 119,17-19). Allerdings erstreckt sıch die weitgehende Übereinstimmung nur auf das Gebiet des Praktischen, »in den ersten« theoretischen »Grundsäzen« (119,23f.) seien sie hingegen »fast gänzlich entgegengesezt« (119,22f.). Dieser Gegensatz bedingt freilich auch im Praktischen eine nıcht aufhebbare Differenz. Denn setzt Kant die Notwendigkeit der Proportionalität von Tugend und Glückseligkeit

ım höchsten

Gut

die nur praktische Notwendigkeit

»anderwärts«

{119,29f.)

voraus

des Gottespostulats (vgl.

und

folgert daraus

119,27-32),

36 Kant, KpV, 201 (Weischedel, Band 6, 240); Hervorhebung von mir. 37 Vgl. 90,19-39 und oben 1.3. 38 Vol. KpV 229 - 232 (Weischedel, Band 6, 258 - 260).

so ıst ım

1. »Uleber das höchste Gut«

217

Christentum die Existenz Gottes axiomatische Voraussetzung auch aller praktischen Sätze, so daß die »Richtigkeit« des Proportionalitätsgedankens aus der »Idee« des göttlichen »Willens« deduziert wird (119,32-35). Dieses im Sinne der »Kritik der reinen Vernunft« ja 'überschwängliche’ und deshalb unzulässige Verfahren zeitigt dann aber »Folgen (...) im praktischen« und »Rükwürkungen (...) aufs theoretische«, »wodurch der Unterschied zwischen der christlichen und Kantıschen Philosophie immer größer werden muß« (120,1-3). Daß Schleiermacher hier sich auf die Seite Kants stellt {wie man ihn wenn denn überhaupt so weit eher als erkenntnistheoretischen denn als moralphilosophischen Kantianer bezeichnen kann), erhellt daraus, dal er als Exempel für dieses Auseinanderdnifien die christliche »Intoleranz der Meinungen« (120,7) anführt und deren Genese aufgrund des Eindringens eines »spekulative{/n}« (120,13) Gottesbeenffs ın die Sittenlehre rekonstruiert (vgl. 120,424). Denn das christliche höchste Gut - »ein der moralischen Reinigkeit angemeßßner Antheıl an Glükseligkeit, welches nıcht durch Naturnothwendigkeit sondern durch den Willen des höchsten Wesens als gegeben angesehen werden kann« {119,14-17) seı bald als »Belohnung«

(120,12) nicht nur für praktisches,

sondern auch

für theo-

retisches Wohlverhalten (»spekulative« »Vernunftmäßigkeit«, 120,13) verstanden worden, d.h. für ein Glauben ım Sinne von Etwas-Gegebenes-für-wahr-Halten, das dann neben der Moralıtät (»Frömmigkeit«, 120,21) und der (»künftigeln]«, 120,20) Glückseligkeit als drittes und in der Folge als dominantes Element in das höchste Gut aufgenommen worden sei. Mit dieser sittlichen Einforderung eines bestimmten theoretischen Wissens ıst Schleiermachers Argumentationsziel eigentlich erreicht, die »Intoleranz der Meinungen« begründet. Schleiermacher führt den rekonstruktiven Beweisgang aber weiter und kehrt zum Ausgangspunkt seiner Christentumskritik zurück, dem Nachweis der Unfähigkeit zu positiver Verhaltensbestimmung (im Doppelsinn von Orientierung und Motivation). Denn der ursprünglich nur auf die billige Zuteilung von Glückseligkeit bezogene Gedanke der Nichtrealisierbarkeit des höchsten Gutes seı nach und nach auf alle drei Elemente desselben übertragen worden, so dafı neben der Glückseligkeit auch Moralität und Glauben als vom göttlichen Willen abhängig und eigenem Handeln entzogen galten. Mit einer »trtumphirenden Selbstwegwerfung« habe man damit »allen Kräften des Wıllens«, mithin aller verantwortlichen Selbsttätigkeit entsagt (120,22-24). In dieser Perspektive erscheint Schleiermacher dann das (oben bereits behandelte??) »System der Vollkommenheit« (120,26f.) als die dialektische Antithese

zur christlichen

Dekadenz

der Sittenlehre,

indem es »dem Menschen beides, Tugend und Glükseligkeit (,) aus eignen Kräften zusichern wollte« (120,25f.).

50 deutlich die sachliche Pointe dieser Christentums-Kritik ıst, so schwer ıst es, die theologischen Positionen historisch zu ıdentifizieren, auf die Schleiermacher beı dieser Ablaufskizze der Geschichte christlicher Ethik anspielt. Man kann nur vermuten, dal mit der Einforderung eines bestimmten theoretischen Wissens die orthodoxe Ausprägung des reformatorischen sola-fide-Prinzips charakterisiert sein soll, während der Ruin der Selbsttätigkeit am ehesten eın Urteil über eine radıkale Prädestinationslehre reformierter Herkunft darstellen könnte. Möglicherweise soll die Wissensforderung aber auch die mittelalterliche Scholastik kennzeichnen, so daß erst die Entethisierung des Glaubens die Reformation beträfe.

39

Vgl. oben 1.1.

218

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

1.3.3. Erträge der historischen Rekonstruktion Schleiermachers

Streifzug

durch

die »Annalen

der

Philosophie«

(107,18)

erlaubt Aufschlüsse in dreierlei Hinsicht: Er ermöglicht eine präzisere Wahrnehmung einiger Aspekte seiner Konzeption der Ethik und deren Zuordnung zur Anthropologie und verbreitert die Kenntnis der Theorieeinflüsse auf Schleiermacher sowie von dessen Urteilen darüber (1.); er zeigt Schleiermachers Vorgehen bei der Rezeption der philosophischen Tra-

dition

(2.),;,

er

dokumentiert

Schleiermachers

Verhältnis

zur

ethischen

Dimension des Christentums (3.).

1.5.3.1. Verdeutlichung des systematischen Ansatzes Der historische Durchzug verdeutlicht durch Zustimmung und Kritik Schleiermachers Kriterien für den Aufbau einer Sittenlehre und seine dahinterstehende Motive. Das höchste Gut darf nicht als Telos gefaßt werden,

dem die sittliche Verhaltensbestimmung als Mittel zugeordnet wırd, da dann das sittliche Handeln seinen Eigenwert verltert und nicht mehr um seiner selbst, sondern um des dann als Belohnung gedeuteten Zieles willen gewählt wird (gegen Neuplatonısmus und Christentum). Das höchste Gut ist vielmehr der Inbegriff der Totalität des durch das Sittengesetz Bestimmbaren, wobei diese Totalıtät nur dann zugieich Universalität beanspruchen kann,

wenn

bestimmen

das

Sıttengesetz

kann.

Das

allein

gilt zwar

und

eindeutig

formal

alles

mögliche

für alle Moralsysteme,

Gute

Schlei-

ermacher zeigt aber, daß Systeme, die wie das Aristotelische oder das Epikureische kein sıtuationsunabhängig gültiges und mithin allgemeines Siıt-

tengesetz kennen, keine eindeutige - und für jeden potentiellen Handelnden verbindliche und in jeder Situation als verbindlich kommunizierbare und zumutbare - Verhaltensbestimmung ermöglichen. Umgekehrt darf das höchste Gut nichts enthalten, was menschlichem Handeln prinzipiell entzogen ist, und d.h. weder eine übernatürliche Ausstattung des Menschen (wie beim Neuplatonismus und bei bestimmten Gestalten des Christentums) noch das immer auch von den nie völlig steuerbaren Umständen abhängige

sinnliche Wohlbefinden, die Glückseligkeit. Denn dabei kommt es entweder zu Zuordnungsproblemen

von

Tugend

und

Glückseligkeit

Handeln prımär an der Tugend oder primär orientieren, so daß das jeweils Andere nur nach Option

als

Unklarheiten

gut

und

zu

identifizieren

Konflikten

und

in der

anzustreben

- soll

sich das

an der Glückseligkeit Maßgabe der primären wäre,

Verhaltensbestimmung

was

aber

führt

zu

(vgl.

1. »Ueber das höchste Gut«

219

Stoizismus und Epikureismus)? -, oder aber es lassen sich nur asketische Verhaltensregeln angeben, so daß das Sittengesetz das Feld möglicher

Handlungen gar nicht vollständig abdeckt und wie bei den Cynikern soziales Handeln nicht strukturieren oder wie bei Kant die Emotionen nur einschränken (in Schranken weisen, niederschlagen), nicht aber deren geordneten Gebrauch instruieren kann. Gleichwohl darf das höchste Gut auch nicht als vom Menschen vollständig und durchgängig realisierbar

gedacht

werden,

würde,

jedem

da

der entweder

dies

das

überhaupt

Gegebensein

eines

nicht sinnlich

Willens

voraussetzen

affizierbar ist oder

der

in

Moment die sinnlichen Äffektionen notwendig sittlich überwindet;

das aber widerspricht der Beschreibung des Menschen als eines nur sinnlich Affizierbaren, in dem sich sittliche Orientierungen in Gestalt moralischer

Empfindungen jeweils im Ensemble der Neigungen allererst Gehör verschaffen müssen, aber faktisch umständehalber gar nicht immer können. Deshalb ist die Behauptung der Realisierbarkeit des höchsten Gutes entweder Ausdruck

»sittlichen Eigendünkels«

(123,33) wie bei der Stoa, oder

sie nötigt zu der nach Schleiermachers Überzeugung in sich unschlüssigen Annahme eines infiniten Progresses der Annäherung an die vollkommene Glückswürdigkeit (Kant). Schleiermachers Konzeption eines dıe natürliche Handlungskompetenz des Menschen nicht übersteigenden (und deshalb Glückseligkeit ausschließenden}, aber gleichwohl von keinem Individuum (aufgrund seiner sınnlichen Bestimmbarkeit und der daraus folgenden Unstetigkeit und Abhängigkeit von innerpsychischen Dispositionen und äußeren - physischen, sozialen,

kosmischen

- Umständen)

vollständig zu realisierenden

höchsten

Gutes und eines entsprechend situationsunabhängıgen, universal gültigen Sittengesetzes kommt am nächsten nach Schleiermachers eigener Darstellung nicht Kant, sondern Platon. Während jener zwar das Sittengesetz reiner gefaßt, aber sowohl den empirischen Willen falsch bestimmt als auch

die Einheit und Natürlichkeit des höchsten Gutes durch die Wıedereinführung des Glückseligkeitsmotivs zerstört habe, kann dieser vermittels seiner Theorie der entfremdeten Existenz der Seele in der Materie sowohl die Wesensgemäßheit eines von allen empirischen Zusätzen gereinigten höchsten

Gutes

(und

eines

rein

vernünftigen

Sittengesetzes)

als

auch

die

Unfähigkeit des kontingenten Menschen, sich durchgängig diesem Sittengesetz gemäß zu bestimmen, aussagen. Schleiermacher depotenziert dabeı faktisch freilich die Radıkalıtät der Platonischen Entwertung der Empirie, indem er sie umdeutet zu einer realistischen Konzeption der kontingenten Existenz konkreter Menschen. Durch diese Umdeutung erst kann er in ihr die wenn auch noch nicht voll entfaltete Vorform seines eigenen Versuchs

220

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

erblicken, die kontingente Realisierung der überempirischen Bestimmung des Menschen im Medium der Empirie, und d.h. vor allem: im Zusammenhang der empirischen Psychologie zu untersuchen. In diesem fundamentalen Interesse

pflanzt

sich

ım

übrigen

Schleiermachers

Prägung

durch

die

Schulphilosophie fort, so daß man resümieren kann, daß Schleiermachers Platoninterpretation auf der einen Seite von Kants Forderung der Reinheit des Sittengesetzes, auf der anderen Seite von dem schulphilosophischen Interesse

an der

Beschreibung

des Vorganges

konkreten

Virulentwerdens

sittlicher VWerhaltensorientierungen in der Einzelpsyche inspiriert ist, ebenso wie aber umgekehrt gilt, daß der Platonische Dualismus von Idee und

Wirklichkeit sein Kantverständnis leitet*. 1.5.3.2. Schleiermachers ethikgeschichtliche Urteile im Vergleich zu

Eberhards »Allgemeine(r) Geschichte der Philosophie« Schleiermachers Behandlung der Geschichte der Moralphilosophie zeugt von profunden Kenntnissen zumindest der griechischen Philosophie ebenso wie von dem Interesse und der Fähigkeit, die einzelnen Systeme in ihrem inneren Zusammenhang aufzufassen sowie die verschiedenen Systeme gemäß

einem

sachlichen

Kriterienraster miteinander zu vergleichen

und auf-

einander zu beziehen. Dabeı entwickelt er eine erstaunliche Urteilssicherheit, die ihn auch Kant in historischen Fragen widersprechen läßt (vgl. 113,25-28). Er korrigiert gängige Urteile über bestimmte Schulen (vgl. 112,20-24), rekonstruiert den Zusammenhang von auf den ersten Blick wi-

dersprüchlich erscheinenden Elementen einzelner Systeme (vgl. 114,5f. und 115,17-20), erklärt bestimmte Sonderlehren (etwa die stoische Erlaubnis des Selbstmordes) aus dem Ganzen des Systems, das sie vertritt (vgl. 117,24 - 118,7), identifiziert systematische Motive, die zu Inkonsistenzen

des betroffenen Systems geführt haben (besonders bei Kant). Bemerkenswert ıst dabei die Tendenz, eine sachorientierte Außenperspektive, die identisch ist für alle behandelten Positionen, zu verbinden mit einer jeweils systemimmanenten, das Eigenprofil herausarbeitenden Rekonstruktion und Kritik. Diese Verbindung erlaubt es ihm, Distanz zu halten auch zu den

Konzeptionen, denen er wichtige Momente seines Kriterienrasters verdankt. Umgekehrt verringert sie die Gefahr, daß das Sachinteresse die Wahrnehmung der konkreten Systeme zu stark verzerrt (wenngleich sich gerade bei

40

Vgl. oben 1.5.1.

I. »Ueber das höchste Gut«

221

Platon gezeigt hat, daß die Interpretation in gewissem Maße der eigenen Konzeption eingepaßt wurde).

Es dürfte kaum möglich sein, die Herkunft von Schleiermachers philosophiehistorischen Kenntnissen und die Einflüsse auf seine Urteile vollständig aufzuklären.

Die

Eigenständigkeit

der Fragestellung

sowie

die

Fülle

des

Materials lassen es nicht erwarten, daß er auf ein philosophiegeschichtliches Kompendium allein zurückgegriffen hat. Dagegen spricht auch, daß er schon

in der Schulzeit antike Klassiker im Original

kennenlernte,

ebenso

wie er Ja Kants Schriften selbständig eingehend studierte. Gleichwohl lohnt sich ein Vergleich mit Eberhards »Allgemeine(r) Geschichte der Philoso-

phie« (Halle 1788)*1.

4

ji

Eberhard hatte starke philosophiehistorische Neigungen mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Antike, was einherging mit einer manifesten Geringschätzung der Philosophie zwischen der griechischen Klassik und der »Wiederherstellung der Wissenschaften« (vgl. AGPh 251) etwa seit 1500 (vgl. AGPh 5), besonders aber seit dem 17. Jahrhundert#2. In dieser Gewichtung folgt Schleiermacher ihm exakt; für die allgemeine Charaktenisierung des Neuplatonismus läßt sich sogar direkte Beeinflussung wahrscheinlich machen, wenn Eberhard diesem dıe » Vereinigung aller (,) auch der abergläubischsten Religionen« vorhält (AGPh 211) und seın Lebensideal kennzeichnet als das »eines nach einer trügerischen Sittenlehre eingerichteten Lebens, welches nıcht Würde des Charakters und Gemeinnützigkett, sondern Erwerbung höherer übernatürlicher Kräfte zur Absicht hatte« (ebd.; Hervorhebung von mir). Auch die herausgehobene Bedeutung des Gedankens der »stufenweise(n} Enrwickelung der Philosophie aus ihrem ersten Keime« (AGPh, unpaginiertes Vorwort; Hervorhebung von mir), die sıch als Geschichte des menschlichen Verstandes »in seinem Gange von seiner ersten sinnlichen Philosophie, Jıe ın der Mythologie derjenigen Natıon enthalten ist, von der wir den größten Teil unserer gelehrten Cultur erhalten haben, bıs zu seinen tiefsinnigsten und erhabensten philosophischen Theorieen« vollzieht (ebd.), verbindet Schleiermacher mit Eberbard, wenngleich sıch bei diesem die Unterscheidung einer kollektiven Naturgeschichte und einer je indıviduelle »Lehrgebäude- (AGPh ebd.) aneinanderreihenden Begriffsgeschichte (vgl. 107,6-17) explizit nicht findet. Implizit ıst sie freilich damit gegeben, daß nach Eberhard dıe »allgemeine Geschichte der Philosophie (...) eigentlich dıe Erzählung der Veränderung dieser Wissenschaft enthalten« und also “nur dıe Geschichte der gelehrten Vernunfterkenntniß des Menschlichen Geschlechies von den allgemeinen Beschaffenheiten der Dinge« sein sollte (AGPh 1; »eigentlich« hervorgehoben von mir), so daß dıe vorgeschaltete Rekonstruktion der Genese der wissenschaftlichen Form nur uneigentlich zur Geschichte der Philosophie gehört. Konnte sich Schleiermacher in der Epochengewichtung und ım Interesse an dem «Zusammenhang der Lehrgebäaude unter sıch, und mit andern Lehrgebäuden« (AGPh Vorwort), mithin

42

Daf Schletermacher dieses Buch verwendete, belegen seine Notizen zur »Metaphysık« des Arıstoteles. Wel. KGA 1/1, 165 - 175, hier: 169,34 - 170,1. Vgl. die Proportionen der Darstellung: S. 36 - 186 Griechische Philosophie, $.191 270 für dıe Zeit zwischen der vorchristlichen römischen Philosophie und dem 17. Jahrhundert.

222

Il. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant am Systemcharakter von Theorien und am Systemvergleich, demnach an Eberhard orientieren, so bringt dessen Konzentration auf die Geschichte der Einsichten in die »allgemeinen Beschaffenheiten der Dinge« (AGPh 1) es mit sıch, daß er dıe Sirtenlehre weitaus kürzer behandelt als Ontologie, Physik und (weitgehend als Naturteleologie und als Lehre vom welttranszendenten Weltverursacher gefaßte) Theologie. Die relativ dünnen und nur Grundlinien andeutenden Äußerungen Eberhards zur Sittenlehre lassen nun freilich Übereinstimmungen und Differenzen der Darstellungsweise und der Urteile Schleiermachers aufscheinen. Auch Eberhard hebt hervor, die Sophisten und Sokrates seien in einer Epoche sich entfaltender athenischer Kultur aufgetreten, die sich einem Macht- und Wohlstandszuwachs aufgrund auswärtiger militärischer Erfolge verdankte; er führt aber keineswegs dıe Popularität des Glückseligkeitsideals kritisch darauf zurück. Sein Urteil über Sokrates unterscheidet sich deutlich von dem Schleiermachers: Er gilt ihm nıcht als nur kritisch auf die

Positionen

seiner

Gegner

fixierte

Übergangsgestalt

ohne

eigenes

System;

Sokrates habe seine Philosophie nur radıkal beschränkt »auf ein System der allgemeinen Sittenlehre und die Untersuchung der Endursachen der natürlichen Dinge« (AGPh 105), wobeı der letzteren auch die Theologie zugeordnet seı (vgl. AGPh 109). Sokrates" Verdienst, das dazu berechtigt, weite Teile der folgenden Geschichte der griechischen Philosophie (mit Ausnahme der neueren Eleaten, der Epikuräer und der Skeptiker) unter der Hauptüberschrift «Philosophische Schulen der Sokratiker« (AGPh 114) abzuhandeln, besteht darin, da er »der erste [war], der die Philosophie als eine für sich bestehende Wissenschaft, um ihrer selbst willen, nıcht als einen Theil oder Mittel einer anderen Kunst trıeb« (AGPh 115). Bei Platon fällt auf, daß Eberhard sich bemüht, dessen Bewertung der Welt als nıcht durchwegs negatıv kennzuzeichnen. Zwar konstatiert er, daß Platon dıe Gegenstände der Sınne als »ın einem beständigem Flusse« befindlich (AGPh 139) und mithin ohne die »Prädikatfe) immer und nothwendig« (ebd.) aus dem Bereich der „menschlichen Wissenschaft« ausgegrenzt habe - was nach Eberhard bekanntlich erst dıe Neuzeit revidiert hat

(vgl. AThDE 4-13)%3 -; gleichwohl habe er in seiner Theologie betont, daß die Welt »ein Werk

[sei], das durch seine Schönheit ihres Urhebers würdig ist« (AGPh

142).

Diese Interpretationstendenz war auch bei Schleiermacher zu beobachten**, dort in einer konziseren, den platonıschen Dualısmus stärker berücksichtigenden Weise. Für die Sittenlehre teilt er Eberhards Urteil, Platon habe »die allgemeinen menschlichen

Pflichten« vorgetragen und auf ihre »entferntesten und letzten Gründe (...) ın der Vervollkommnung des Menschen» zurückgeführt (AGPh

142), allerdıngs ohne den

Hinweis auf die »natürliche() Verbindlichkeit« dieser Pflichten.

Sehr viel milder als

Schleiermacher, wenngleich in ähnlicher Tendenz, beurteilt Eberhard die Sittenlehre des Aristoteles. Sein »moralisches System« sei »noch mangelhaft« (AGPh 154), indem es - ebenso wıe seine »Politik« - »nicht genug aus den ersten Gründen hergeleitet« seı (ebd.) und dıe »Beziehung der Sittenlehre auf die Religion und einen Zustand nach dem Tode« (AGPh 153) nıcht richtig erfasse sowie die Sıttenlehre nicht vom Naturrecht abgrenze®. Während die Abkoppelung der Ethik von den Ideen von Gott und Unsterblichkeit Schleiermachers Interessen gerade genauestens

43 Vgl. oben Kap. 2, 2.1. 44

Vgl. oben 1.5.2.

45 Zu dieser Unterscheidung vgl. SdV $ 116 und oben Kap. 2, 1.1.

1. »Ueber das höchste Gut«

223

entspräche*® und das Naturrecht für Schleiermachers Argumentation in hG nie eine Rolle spielt, bildet dıe Ungegründetheit des Systems bzw. die Disparatheit der Grundsätze den Angelpunkt seiner Aristoteleskritik, an den auch die Vorwürfe der Empinzität und Glückseligkeitsorientierung angeknüpft werden, die bei Eberhard aufgrund seines anderen Glückseligkeitsbegriffs verständlicherweise - nıcht erscheinen; Eberhard weist vielmehr lobend darauf hin, der arıstotelische »Begniff von dem

höchsten Gute« seı »dem gesunden Verstande gemäßer, als der stoische«#7, und er seı auch

»von

den

meisten

beibehalten

worden«

(AGPh

153).

Dies korrespondiert

damit, daß er in seiner Behandlung der neuzeitlichen Philosophie nur deren Verwerfung der arıstotelischen Physik zustimmend referiert (vgl. AGPh 271), zugleich aber betont, »einige Theile seiner logıschen und alle seine moralischen Schriften« seien ın Achtung geblieben (AGPh 282). Zeigt sich hier schon eine erhebliche Verschiebung in den Kategorien der Beurteilung zwischen Schleiermacher und Eberhard, so erge-

ben sıch bei den Cyrikern gänzlich konträre Aussagen: Während Schleiermacher ihnen ein in der durchgängigen Herrschaft der Verrunft bestehendes höchstes Gut zuschreibt und nur knitisiert, mit der Glückseligkeitsorientierung eliminierten sie auch sämtliche positiven sinnlichen Handiungsmotive und verfehlten so die Bestimmung des Menschen als eines unentrinnbar sinnlichen Wesens, ıst Zweck aller Philosophie nach Eberhard für sie nun gerade »Glückseligkeit« (AGPh 129; Hervorhebung von mir), wenn auch in der sublimen Form der Freiheit von Leidenschaften, die zustandekommt einerseits durch Selbsterkenntnis, d.h. Einsicht ın das mensch-

liche Wesen, also durch Erkenntnis dessen, worauf dıe Lebensführung auszurichten ist, (vgl.

AGPh

129) und ın der Folge davon andererseits durch Verminderung der

Bedürfnisse (vgl. AGPh 130). Auch die Einordnung der steischen und der epikureischen Sittenlehre als Mischformen vernünftiger und empirischer Prinzipien findet sıch bei Eberhard nicht. Vielmehr hält er fest, daß das stoische höchste Gut im Gegensatz zum peripatetischen nur in den »lerzten und zureichenden Gründen der menschlichen Glückseligkeit« (AGPh 168), also nicht unmittelbar in dieser selbst, besteht, und nur in »irnern Güter(n)« (ebd.; Hervorhebung von mir), da »diese allein von unserer Freyheit abhangen und ın unserer Gewalt stehen« (AGPh 169). Die Lehre von der relatıven und umstandsbedingten Dignität äußerer Güter {proägmena) zerstört nach seiner Ansicht offenkundig dıe Reinvemünftigkeit und Universalität des Sıttengesetzes nicht. Die epikureische Ethik tut er hingegen als rein empirisch ab (vgl. AGPh 178); darın gleicht sie der cyrenaischen, an der Eberhard die Aporetik einer rein auf Sinnenlust und Schmerzvermeidung beruhenden Sittenlehre und ihre Unfähigkeit, diese Aporetik mit eigenen (also ıhrerseits sinnlichen) Mitteln zu beheben,

herausgearbeitet hatte (vgl.

AGPh

I17) - eine Argumentation,

die in Schleiermachers begriffsimmanenter Destruktion der Glückseligkeitsidee wiederbegegnet®®.

46 Vgl. oben 1.5.1. 47 Das kann freilich nicht heißen, daß Eberhard den »gesunden Verstand« als Urteilsinstanz der Wahrheit anerkannt hätte; ebendies lehnte er nämlich ausdrücklich ab (vgl. AThDE 181 und dıfferenzierter: Vermischte Schriften, Erster Theil, Halle 1784, 135 176;

der

Hınweis

Meckenstocks,

Deterministische

Ethik,

57,

Anm.

76,

ıst deshalb

unrichtig); es soll dann wohl nur zum Ausdruck bringen, daß das arıstotelische höchste Gut unmittelbarer einleuchtet, zu den gängigen unreflexen Lebensorientierungen eher paßt als das stoische.

48 Vgl. oben 1.2.

224

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

Insgesamt lassen sich also zwar manche Berührungen, aber doch ın höherem Maße

Differenzen der philosophiehistorischen

Darstellungen Schleier-

machers und Eberhards feststellen, und zwar sowohl ın der Terminologie (v.a. im Blick auf Eberhards arglose Verwendung eines wenn auch rationalıstisch geläuterten Glückseligkeitsbegriffs) als auch in Einzelurteilen. Dies

ist noch einmal ein Indiz für die Selbständigkeit, mit der Schleiermacher sein Kriterienraster entwickelt und auf ihm vorliegendes Material angewendet hat.

1.5.3.3. Die ethikgeschichtliche Beurteilung des Christentums im Zusammenhang der frühen Äußerungen Schleiermachers zur Religion Wie verhält sich Schleiermachers philosophie-, genauer ethikgeschichtliche

Behandiung des Christentums zu seiner systematischen Verortung des Gottesgedankens im äußeren Umfeld der Sittentehre, und lassen sıch Kontinuitäten bzw. Verschiebungen erkennen im Vergleich zur Thematisierung der Religion in den Aristoteles-Anmerkungen? Gott erscheint in hG implizit in dem Ideal eines durchgängig und notwendig allein durch das Sittengesetz bestimmten Willens*?, der deshalb in keiner Weise den einschränkenden Bedingungen der Empirie unterworfen sein darf, und explizit in der Kritik

der Kantischen Postulatenlehre. Dabei hält Schletermacher mit Kant daran fest, daß Gott kein Gegenstand möglicher Erfahrung und mithin nicht Objekt der theoretischen Vernunft sein kann (vgl. 101,10-13)?0. Gegen Kant eliminiert er den Gottesgedanken jedoch auch aus dem Bereich der prakti-

schen Vernunft: Da die Voraussetzung einer notwendigen Adäquanz von Tugend und Glückseligkeit nicht ihrerseits notwendig ist, verliert auch die Folgerung der nicht nur möglichen, sondern notwendigen Gegebenheit einer Instanz, die diese - dem menschlichen Handeln selbst und unter sinn-

lichen Bedingungen überhaupt unerschwingliche - Adäquanz herstellt, ihren Gewißheitsgrund. Auch die praktische Vernunft ist kein Fenster zur Transzendenz. Daraus schließt Schleiermacher aber weder die Ungewißheit und fehlende Allgemeinheit des Sittengesetzes noch die Unmöglichkeit oder Funktions- oder Ortlosigkeit der Gottesidee, Die vernünftige Sittenlehre muß vielmehr ihre Gewißheit aus sich selber entwickeln, ohne Beimengung empirischer Optionen und religiöser Stabilisierungen, und umgekehrt bleibt

49

Vel. oben 1.3.

50

Die kategoriale Singularıtät der Objektivität Gottes für das menschliche Erkennen hatte freilich auch Eberhard betont. Vgl. SdV

$ 87 (5. 87) und dazu oben Kap. ?, 1.3.3.

l. »Ueber das höchste Gut«

225

dıe Gottesidee »unvermeidlich« (101,18) »für uns Menschen in unserm dermaligen Zustand« (101,16; Hervorhebung von mir), also nicht für den SollStand des siıttlichen Ideals, sondern für die faktische Gebrochenheit der realen Existenz, in der der Wunsch nach sinnlichem Wohlbefinden konsti-

tutiv ist, so daß sich bei Einsicht in die eigene Unfähigkeit, das eigene Glück zu besorgen, die Vorstellung einer hier einspringenden Instanz zwanglos und eben unvermeidlich einstellt. Die Gottesidee gehört also in die »Glückseligkeitslehre« (101,19, Hervorhebung von mir). Beachtet man, daß Schleiermacher dieser eine bestimmte, begrenzte Funktion zwar nicht in der Sıttenlehre selbst, wohl aber für das Dominantwerden des Sittenge-

fühls im Ensemble der Neigungen in der Einzelpsyche zuschreibt, indem ste nämlich Regeln vorstellt, ein harmonisches Gleichgewicht der Seelenregun-

gen herzustellen oder zu erhalten, so ergibt sich eine erstaunliche Kontinuität zu Schleiermachers Äußerungen zur Religion in den AristotelesAnmerkungen. Denn dort war Religion den Instanzen zugeordnet, die in untereinander und lebensaltersspezifisch differenzierter Weise die Realisierungschancen sittlich-vernünftiger Verhaltensorientierungen erhöhen°!. Religion stand dabei in je bestimmtem Verhältnis zur Tatkraft: beim Jüngling mäßigte

exakt jene

und

lenkte sie »die stürmischen

Funktion,

die in hG

Empfindungen«

der Glückseligkeitslehre

(6,6) - also

überhaupt

zu-

kommt! -, beim Erwachsenen erhöhte sıe die ındıvıduelle Tatkraft, beim Greis relativierte sie die Bedeutung der individuellen Handlungsfähigkeit, indem sie eine durch menschliches Handeln nicht erreichbare zukünftige

»bessre() Welt« (6,33) als die Bestimmung des Menschen vergegenwärtigt. Die charakteristische Beschränkung der Religion für dıese Funktion lag darın, daß sie nur Je strıkt individuell bleibt. Eben dies läßt sıch nun mit den

begrifflichen

Mitteln

von

hG

ebenfalls

und

sogar

präziser erfassen.

Denn gehört die Gottesvorstellung weder zu den Gegenständen der theoretischen noch der praktischen Vernunft, so verliert sie alle Allgemeinheit und diskursive Vermittelbarkeit, Es ist dann nicht einmal mehr ausgemacht, ob sie »reale oder hypothetische Gewißheit« hat (101,14), Ja sogar ob sie »Wahrheit oder Täuschung« ist (101,15). Hier liegt der Grund für ihre - in

den Aristoteles-Anmerkungen angedeutete?? - Illusionsverdächtigkeit. Ihre Individualität bedingt umgekehrt "Individuation'

des

allgemeinen

ıhre Bedeutung Sittengesetzes,

für dıe Konkretion indem

sıe den

und

Einzelnen

von der Nötigung des exzessiven Auslebens einzelner Neigungen entlastet

31

Vgl. oben Kap. 1, 1.2.2.

52 Vgl. ebd.

226

IT. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

und andererseits durch die Glückseligkeitsvision zu verstärktem tugendhaften Handeln motiviert.

Von hier aus erscheint Schleiermachers philosophiegeschichtliche Skizze der ethischen Implikationen des Christentums in hG°? in einem durchaus weniger dunklen, wenngleich weiterhin ambivalenten Licht. Denn nur daß der Satz von der »triumphirenden Selbstwegwerfung« der Selbsttätigkeit in

die Sittenlehre eingedrungen ist, gereicht ihm zum Vorwurf; als Satz der Glückseligkeitslehre gewinnt er tröstliche und entlastende Bedeutung.

Als

ebensowenig anstößıg müßte die Rede von der Belohnung im Gericht aufgefaßt werden, wenn sie nicht auf die inhaltliche Handlungsbestimmung bezogen nämlich

wird, sondern vernunftintern

auf die Motivationsverstärkung von anderwärts, vollzogenen Handlungsorientierungen. Auch die

Überschwenglichkeit des Gottesgedankens ist dann unproblematisch. Und schließlich scheint Schleiermachers Ablaufskizze der Geschichte des Christentums auf dessen Entethisierung hinauszulaufen, wovon die Kehrseite ja die von Schleiermacher intendierte Elimination der Religion aus der Ethik sein

dürfte.

Dies

alles

gilt allerdings

nur dann,

wenn

Religion

sittliche

Selbsttätigkeit nur aus dem eigenen Bereich ausschloß, nicht aber überhaupt negierte. Eine solche Tendenz zu quietistisch-fatalistischer Totalabstinenz vom selbstverantworteten Handeln scheint Schleiermacher dem Christentum aber nun doch zu unterstellen. Deshalb bleibt der Ton kritisch; die positiven

Möglichkeiten der Entwicklung bleiben verborgen>®. Eine erste positive

Darstellung

von

Wesen

und

Funktion

der Religion

findet sich freilich in einem kurzen Text, der vom Erstherausgeber J. Bauer

mit »Wissen, 53 34

Diese Darstellung

Vgl. oben 1.5.2. Ähnlich urteilt Meckenstock samt.

55

Glauben und Meinen« betitelt wurde?°.

über Schleiermachers frühes Religionsverständnis insge-

Vgl. Deterministische Ethik,

180.

J. Bauer (Hg.): Ungedruckte Predigten Schleiermachers aus den Jahren 1820 - 1828. Leipzig 1909, 100 - 104. Jetzt auch ın KGA V/L, 424 - 428 (Brief Nr. 326). Es handelt sich nicht um

einen Brief ım engeren

Sinne, wohl aber um eine an eine konkrete

Einzelperson, vermutlich Graf Wilhelm zu Dohna, gerichtete Erörterung. Die Datıerung ist schwer. E. Herms verortet den Text ım Zusammenhang der Jacobı-Spınoza Rezeption von 1793/94, da er Schleiermachers Verwendung des Begriffs »wamitrelbarefs) Selbstbewußtseyn« (424, Z. 16f.) aus der Beschäftigung mit Jacobi erwachsen sieht (vgl. Herkunft, 137f.). Die Herausgeber von KGA V’/1] geben vorsichtig nur September 1796 als terminus ante quem an, weil Schleiermacher die ın dem Text sıch niederschlagende »ıntensive() Auseinandersetzung mit Kant (...) ın dieser Form nach der Übersiedlung nach Berlin 1796 nicht mehr fortgeführt« habe (KGA V/L, 424, Apparat). Nach Meckenstock (Deterministische Ethik, 156, Anm. 64) spricht der venge terminologische

Anschluß

an

Kant

(...) für eine fruhe Datierung«

in Schleiermachers

l. »Ueber das höchste Gut«

227

übernimmt die wesentlichen Aspekte von Schleiermachers früher ReligionsKonzeption: Religion gehört ebenso wenig zum Bereich des theoretischen

Wissens (vgl. 426, Z. 71) wie ın den Konstitutionszusammenhang der praktischen Vernunft (weshalb die Kantische Postulatenlehre der Kritik anheimfällt; vgl. 426, Z. 75-84); »aller Glaube an die religiösen Wahrheiten« (426, Z. 86f.) ıst vielmehr strikt »subjektiver Glaube« (424, Z. 27; vgl.

426, Z.87), bezieht sich mithin auf das Bewußtsein »gewisser [kontingenter} Modifikationen und eines gewissen [konkreten] Zustandes der menschlichen Natur in meinem Individuo« (424, Z. 24-26) und bedient dabei das »Bedürfnis (...), dem bei uns von innen so sehr angefochtnen Sittengesez eine äußere Stüze zu verschaffen« (426, Z. 89-91). Und zwar

stärkt und legitimiert die Religion auf der einen Seite »die Ansprüche der Vernunft auf unser Begehrungsvermögen« gegen »unsere Triebe«, indem sıe »ein Wesen

als praktisches Ideal annehmen

[lehrt], durch welches,

indem

wir darin die Wirklichkeit eines durch Vernunft allein praktisch bestimmten Wesens

gewahr

werden,

die Möglichkeit

dieser

Bestimmung

in uns

an-

schaulich gemacht wird« (426f., Z. 98-101). In der Religion vergewissert sich also das konkrete Individuum über die Realität der Möglichkeit sittlichvernünftiger Werhaltensorientierung unerachtet seiner Selbstwahrnehmung als faktisch triebgeleitet und sinnlich dominiert und wırd dadurch vor Resignation bewahrt und zu weiterem Streben nach sittlicher Vervollkommnung

animiert>6, Auf der anderen Seite nötigt genau die Erfahrung der eklatanten Differenz der eigenen

Lebensführung

zu den »Foderungen

des Sittenge-

setzes« dazu, »ein fortgeseztes Daseyn anzunehmen« (427, Z. 110f.); dies erweitert den Annäherungszeitraum an das praktische Ideal und entlastet so die Gegenwart von Vollkommenheitszwängen und Versagensskrupeln.

Schleiermacher hat damit die Kantischen Postulate Gott und Unsterblichkeit ım Status individueller Glaubensvorstellungen ım Realısierungszusammenharıg von Sittlichkeit reetabliert, an jener Systemstelle also, die in hG die Glückseligkeitslehre einnahm.

Schlobittener Hauslehrerzeit nähere

Gründe}

1792

(in

(1790-93); der

als terminus ante quem

Kapitelüberschrift

156

heißt

es

non nennt er (ohne freilich

- wiederum

unbegründet - präzise: 1793). Das sachliche Profil des Textes gibt einer Frühdatierung recht. Daß er hier im Zusammenhang mit hG behandelt wird, impliziert freilich nicht die Behauptung, er sei vor ÜdF entstanden. 56

Dies ist eine religiöse Wendung des Gedankens ın hG, eın vollständig, ausschließlich und unmittelbar von der Vernunft bestimmter Wille könne nur einem der Empirie nicht ausgesetzten Wesen zugeschrieben werden; für endliche Wesen habe die Vorstellung eines solchen

Willens die Funktion

eines »Schema(s}

des höchsten Guts«

(93,17),

die Denkmöglichkeit reiner Vernunftonentierung gewährleistet. Vgl. dazu oben 1.3.

das

228

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant Neu und weiterführend ıst an »Wissen, Glauben und Meinen« die präzise

Bestimmung des Erkenntnismodus der Religion zwischen bloßem, auch subjektiv instabilem Meinen und allgemeingültigem Wissen als »subjektiver Glaube« (424, Z. 26; vgl. Z. 8-13) und die Verortung des religiösen Glaubens im »unmittelbare(n}«, d.h. nicht gegenständlich vermittelten »Selbstbewußtsein« (424, Z. 16f.) des Individuums. Damit ist der Religion eine

Realıtätshaltigkeit gesichert, die gleichwohl nicht den Kriterien des gegenstandsorıentierten Wissens untersteht und auch nıcht in Konkurrenz dazu tritt?”, Dies bereitet den Neuansatz des Religions-Themas im Zuge der

Jacobi-Spinoza-Rezeption vor>®. Allerdings ist die Religion noch ganz dem Praktischen kooptiert (vgl. 425, Z. 47), es fehlen der Gefühls-Begriff und die Verbindung der Unterscheidungen Wissen/Gefühl, mittelbar/unmittelbar und endlich/unendlich resp. Teil/Ganzes, wodurch die Religion als nicht rational vermitteltes Gewahrwerden des Kosmos als Ganzen von der auf Innerweltliches beschränkten theoretischen Erkenntnis abgehoben werden

kann°®.

2. Vorstellungstheoretische Rekonstruktion der »EntstehungsGeschichte der Tugend«: Das »Freiheitsgespräch« Hatte Schleiermacher zwar in der Schrift »Ueber das höchste Gut« die sittliche Verhaltensbestimmung material von allen empirisch-kontingenten Nötigungen befreien wollen und sie deshalb der Vernunft allein als der Instanz

situationsunabhängiger Allgemeinheit zugewiesen, so hatte er dennoch eine unmittelbare Motivationskraft der Vernunft für die konkrete Einzelseele abgelehnt.

Deshalb

wurde

die

handlungsmotivierende

Kraft

reinvernünftig

konstituierter Verhaltensorientierungen zum Problem, das die innerpsychischer Prozesse und mittelbar auch der physischen Lebensbedingungen erzwang. Dies wurde allerdings, weil es der Ethik transzendiert hin auf Psychologie und Anthropologie, schen

Grundlegungsschrift

nur gleichsam

programmatisch

Behandlung und sozialen den Bereich in der ethi-

herausgearbeitet

57

Deshalb kann Schleiermacher die »Welt als Erkenntnißgnund« Gottes abweisen; eine solche »Deduktion der Religion von der Idee der Welt« ist entweder eine Form des Wissens oder - unter den Bedingungen der Kantıschen Erkenntniskritik - überschwenglich und also bloßes Meinen; vgl. 425, Z. 37-49.

58

Vgl. unten Kap. 8, besonders 3.

>9

Auch dies spricht dagegen, lesen.

den Text als Dokument der Jacobi-Spinoza-Rezeption

zu

2. Das »Freiheitsgespräch«

229

und nıcht eigentlich entfaltet, sondern nur durch die Betonung der bleibenden mittelbaren Bedeutung der »Glückseligkeitslehre« für die vernünftige Sıttenlehre angedeutet. Daß dieses Problem gleichwohl, wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, dıe Leitperspektive für Schleiermachers Theorieentwicklung darstellt, bestätigt sich nun freilich eindrücklich an dem

»Freiheitsgespräch« von 178960, Hier tritt die Frage nach

den empirischen

innerpsychischen und externen Realisierungsbedingungen vernünftiger Verhaltenssteuerung in den Mittelpunkt der Darstellung. Es ist nur konsequent, daß dies unter dem Problemtitel der Freiheit geschieht. Denn wenn Schlei-

ermacher zwar mit dem Gegebensein eines allgemeingültigen, umstandsunabhängigen Sittengesetzes die Möglichkeit einer orientierenden Distanzie60

KGA 1/1, 135 - 164. Das »Freiheitsgespräch« ıst sehr wahrscheinlich das dritte von drei »Gesprächen über die Freiheit oder, wie ıch sie lieber nennen will (‚) über die Natur der menschlichen Handlungen« (Brief vom 10.6.1789 an Brinckmann; KGAÄ v/1, 121: Brief 116, Z. 20f.), von denen das erste verloren (bzw. von Schleiermacher vernichtet), das zweite vermutlich zum Teil in die Schrift »Über die Freiheit« eingegangen ist (vgl. KGA 1/1, 271,21 - 281,40 und dazu unten Kap. 5, 8.). Das erste scheint dıe kantianische Kritik behandelt zu haben, der schulphilosophische »Begriff von der Freiheit sei [nur] eine kleine Wortklaubereis (so der Rückblick ın FG, 137,17f.). Vom zweiten gıbt der Brief an Brinckmann vom 72.7.1789 ausführlich den Inhalt an: »Das zweite Gespräch wird sich mut einigen praktischen Folgen beschäftigen; die beiden

Freunde

werden

untersuchen (,} ob dıe Reue

bei diesem

System

eine Täu-

schung sei und wie sie angewendet werden müße. Sie werden sehn: ob man von Seiten der sinnlichen Triebfedern zur Sittlichkeit verliere (‚} wenn

man das dunkle Gefühl von

unbestimmbarer Freiheit der Wahl aufgeben müße (,) und ob diese Art der Nothwendigkeit unsrer Handlungen zum moralischen Qusetismus führex (KGA V/L, 140f.: Brief 119, Z. 282-289). Zur Entstehung vgl. insgesamt KGA l/1, XLII-XLVII. - Das dritte Freiheitsgespräch geht aus von dem gewissermaßen als Vertreter des gesunden Menschenverstandes fungierenden Aleon (»eın wahrer und gewöhnlicher Charakter«, KGA Y/L, 130: Brief 119, Z. 276f.), der, ırrıtiert von den scharfen Angriffen des (nur zu Beginn anwesenden) Kantıaners Äritias, Rat sucht bei dem philosophierenden Juristen (vel. KGA 1/L, 138,35-38) Sophron. Das Gespräch besteht weitgehend in einem Dialog zwischen Kleon und Sophron, in dem vorwiegend dieser das Kantische Freiheitsverständnis von der Schulphilosophie her zu verstehen und mit dieser zu vermitteln unternimmt.

Am

Ende

(160,25

-

164,10)

geht

der

Text

ıns

rein

Diskursive

über,

nur

notdürftig - als Referat der Gesprächsergebnisse für den abwesenden Kritias - an die Gesprächsform rückgebunden. Da hier unzweifelhaft Schleiermachersche Positionen erscheinen,

muß

es nicht notwendig

»übereilt« sein, der Gestalt und dem argumentativen

Vorgehen Sophrons jedenfalls eine gewisse Nähe zu Schleiermachers eigener Haltung zu unterstellen (anders Moxter, Güterbeenff, 34, Anm. 58) - wenngleich bestimmte Eberhardische Spitzensätze, die Schleiermacher andernorts nicht vertritt, durchaus zur

Vorsicht mahnen. Insgesamt ıst Meckenstock (Einleitung zu KGA 1/1, XLVIN) zuzustimmen, Schteiermacher arbeite im »Freiheitsgespräch« ın »sachliche(r) Unparteilichkeit« und unter »strenge(r) argumentative(r) Prüfung der Reichweite und Begründung der aufeinander prallenden Behauptungen« an einer »eıgenständigen Stellung sowohl zu Kant als zur älteren Schulphilosophie«.

230

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kanı

rung vom andringenden Fluß kontingenter Verhaltensnötigungen betont, zugleich aber das Vermögen dazu - eben die Vernunft - in das Ensemble höchst sıtuationsabhängiger

Neigungen

integriert,

so stellt sıch dıe Frage,

wie von einer selbstgesteuerten Vergegenwärtigung vemünftig-sittlichen Wissens, um so mehr aber von einem selbstgesteuerten Dominantwerden dieses Wissens im »Begehrungsvermögen« und schließlich von einer selbstgesteuerten Umsetzung dieses Wissens in konkretes Handeln überhaupt gesprochen werden kann. Diese Selbststeuerung kann jedenfalls entweder nicht ihrerseits durch die Vernunft geleistet werden, oder aber sie erfolgt zwar durch

dıe Vernunft,

gelingt aber nur kontingent,

momentan,

nicht-

durchgängig, gebrochen-unvollständig und fragil. Ganz deutlich taucht hier die oben ın Kapıtei 2 beschriebene Problematik des Eberhardschen Vernunftbegriffs wieder auf. Überhaupt bestätigt sich,

daß die Beschäftigung mit Kant Schleiermacher zwar zu radıkalen Modıfikationen seiner ihrerseits bereits charakteristisch individualisiertenel schulphilosophischen Prägung bewegte, ındem etwa die ganze rationale Theoiogie entfiel und die inkonsistente Verbindung von Vollkommenheit und Glückseligkeit durch Elimination des Glückseligkeitsbegriffs aus der Sittenlehre aufgelöst wurde, daß er aber dennoch ın einer tiefen Problemkon-

tinuität mit Eberhard blieb, die durch die Kantlektüre nicht aufgehoben wurde, sondern diese umgekehrt bestimmte und das Verständnis limitierte. Denn gerade diejenigen Elemente von Kants praktischer Philosophie, mit denen dieser auf die genannten Schwierigkeiten des schulphilosophischen Vernunftbegriffes reagıert hatte, also dıe Annahme einer der Empirie nicht ausgesetzten vernünftigen,

umstandsunabhängige Annahme

»intelligiblen« Subjektivität, der dann absolute -

- Freiheit

einer wenngleich

zugesprochen

unerklärlichen,

werden

kann,

nur als »Faktum

sowie

die

der Vernunft«

hinzunehmenden durchgängigen und unmittelbaren Präsenz des Sittengesetzes im empirischen Subjekt, in welcher Präsenz empirisches und intelligibles Subjekt verschmelzen - gerade diese Elemente hatte Schleiermacher entweder verworfen oder aber so umgedeutet, daß er sie als Verdeutlichung und Radıkalisierung der Eberhardschen Problemkonstellation ınterpretieren konnte. Auch Eberhard hatte ja wie Kant empirisch-situative Kriterien der Beurteilung von und Orientierung in der Empirie abgelehnt und statt dessen ein allgemeingültiges Sittengesetz der Vernunft angenommen;

im Gegensatz

zu Kant hatte er aber die Ohnmacht der Vernunft ın der empirischen Wirksphäre und deshalb die Notwendigkeit katalysıerender sinnlich-lebhafter Antriebe behauptet. Diese Grundformation übernimmt Schleiermacher, 61

Ygl. oben Kap. 1.

2. Das »Freiheitsgespräch«

231

überbietet sie aber noch einmal, indem er wie die Kantische auch die Eberhardische Form der Erwartung der durchgehenden Realisierbarkeit des ver-

nunftgemäßen

höchsten

Ideenwelt und

Realität verbindet er selbst mit dem

Gutes

verwirft.

Eine

so radikale Namen

Diastase Platon,

von

den er

aber, wie gezeigt, seinerseits mit schulphilosophischen Augen liest. Die Bedeutung der Fragestellung der Präsenz der Vernunft ın der Willensbestimmung für Schleiermachers Kant-Kritik wird noch einmal ausdrücklich belegt durch dıe - vermutlich 1789 entstandenen, in KGA 1/1 (127 - 134) erstmals publizierten »Notizen zu Kant: Kritik der praktischen Vernunft«. Schleiermacher kntisiert dabeı Kants Behauptung, die rein negative, die sinnlichen Neigungen niederschlagende Wirkung des vernünftigen Sittengesetzes konstituiere ıpso facto eın positives, wenngleich nicht-sinnliches Gefühl, nämlich das Gefühl der Achtung vor dem Sittengeseiz, welches Gefühl die Achtung vor dem Wert der eigenen Person als Noumenon

und insofern eine vernünftige Selbstliebe einschließt, was wiederum die »Triebfeder« zu vernunftonentierter Willensbestimmung darstelle. Denn Kant gelingt es nach Schleiermacher nicht, aus der demütigenden Wirkung des Sittengesetzes ein damit unmittelbar einhergehendes positiv motivierendes Gefühl konsistent abzuleiten; Kants diesbezügliche Versuche leiden an einem unterschwelligen Wiedereindringen sıinnlich-psychologischer Momente in die davon doch programmatısch befreite noumenale Sphäre der Willensbestimmung - indem er etwa den »Eigendünkel« umdefiniere, so daß dieser nun »anstatt des übermäßigen Wolgefallens an sich selbst {nämlich dem pathologisch bestimmbaren Selbst) den als gesezgebend und als unbedingt praktisches Princip betrachteten Hang der Selbstliebe (...) bedeutet« (132,5-8), dabei aber unberechtigterweise das dem sinnlichen Eigendünkel anhaftende Motivatıonspotential behält, oder ındem er die negative, demütigende Wirkung des Gesetzes aufs Gefühl einerseits nun doch »pathologisch« nennt (133,17f.), andererseits den dann pathologischen Begriff der Demütigung »in Beziehung auf das Subjekt der praküuschen Vernunft (das heißt doch wol in Beziehung auf den Menschen als Noumenon?)« verwendet, obwohl »dıe Benennung Demüthigung« keineswegs »eine Beziehung auf etwas intelligibles auszudrüken« vermag (133,18-22; vgl. weiter 133,22 - 134,4). Noch weitergehend hält Schlesermacher Kant vor, gegen seine eigene Voraussetzung der »Bestimmung des Begehrungsvermögens« ein Gefühl der »Lust« zugrundegelegt zu haben (vgl. 130,2-4), die den Begehrenswert der »begehrenswürdigen Objekte« allererst konstituiert, so daß sie dem Begehren sowohl logisch als auch empirisch vorausgeht (vgl. 130,8-13). Nach Kants eigenen Vorgaben ıst damit »das Princip der praktischen Philosophie noihwendig empirisch d.h. von der Erfahrung abhängig« {130,20f.). Für Schleiermacher hingegen gilt das nur dann, wenn dadurch »das Regeigeben für den Willen« selbst als empirisch bedingt gedacht werden muß (vgl. 131,1-6). Ganz auf der Linie seiner Argumentation in hG unterscheidet Schleiermacher aber das »Princip« der sıttlichen Willensbestimmung, dessen »Gehalt« aufgrund der »Unabhängipgkeit« und Voraussetzungslosipkeit der Vernunft erfahrungsunabhängig gefunden werden kann (131,9-12), von dem Gefühl der Lust, das »de facto« (131,7) jeder Bestimmung des Begehrungsvermögens zu einem vernünftigen »actus« vorausgehen muß. Er entkoppelt also die (reinvernünftige) inhaltliche Bestimmtheit des sittlich zu Begehrenden und den faktıschen

62

Vgl. oben 1.5.

232

11. Sıttlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant (ganz empirischen) Antrieb zum Erstreben dıeses Begehrenswerten. Die inhaltliche Bestimmtheit orientiert dann das durch und durch sinnliche Begehrungsvermögen als regulative Idee®?; auch ohne Kants (ohnehin inkonsistente) Unterscheidung von empirischem und noumenalem Subjekt ıst »Yerbindlichkeit« und sıttliche Zurechnung möglich. Hier ist der positive Kem von Schleiermachers Kant-Kritik freigelegt. Vorausgesetzt ist dabei allerdings, »daß es ein Gefühl der Lust gebe, welches sich uneingeschränkt auf das [vernünftige Sıtten-] Gesez und die Funktion desselben beziehe« (134,14-16}; doch diese psychologische »Voraussezung« sieht Schleiermacher »im reinen Selbstbewußtseyn gegeben« (131, 16f.).

Dieser höchst komplexen Konfiguration entspricht sehr genau Programmatik und Aufbau des »Freiheitgesprächs«: Dort wird ein schulphilosophisch angelegtes Verständnis von Freiheit und Zurechnung verteidigt pegen kantianısche Einwände; mehr noch wird behauptet, der Kantische Freiheitsbegriff lasse sıch als Spezialfall dem herausgearbeiteten allgemeinen Freiheitsbegriff subsumieren; schließlich wird ım Medium der Eberhardschen

Vorstellungstheorie der mögliche Einfluß der Vernunft auf die Willensbestimmung des empirischen Subjekts rekonstruiert. Dabei wird vorausgesetzt einerseits die lebenspraktische Notwendigkeit einer Theorie von Freiheit und Zurechnung und andererseits die erwiesene Leistungsfähigkeit des von Kant bestrittenen »System(s)« (137,29), dıe der ın dem Gespräch als der überlegene Richter fungierende Sophron damit begründet, daß dieses Sy-

stem »schöne() Regeln (...) für unser Verhalten« ermögliche, die »dem gemeinen Menschenverstand« und »der menschlichen Natur« gemäß seien (137,28-31), und daß seine Sprache »schon mehr in die Sprache des gemeinen Lebens übergegangen« (140,6f.) sei, wodurch ıhm eın »höher(er) Grad der Klarheit« (140,6) eigne. Diese Argumentation ist allerdings nur dann

schlüssig, wenn die soziale Plausibilität und Kommunikabilttät der sprachlichen Fassung einer Sıttenlehre selbst (nota bene: nıcht erst des ın ıhr dargestellten Sachverhalts!) ethisch relevant ıst. Das ıst nur dann der Fall, wenn

die sittliche Maximenbildung im Sinne Eberhards als Schlußverfahren®®, als Zuordnung eines Einzelfalles zu einem Gesamtkonzept verstanden wird. Denn dann verhindert die als Begriffsesoterik aufgefaßte Neuheit und Ungewohntheit der Kantischen Anwendbarkeit im konkreten

Sprachregelungen tatsächlich eine schnelle Lebensvollzug. Es ıst mithin dıe Furcht vor

unmittelbaren moralıschen Folgen einer Entplausibilisierung der bewährten Sittenlehre, die Sophron vor einer Verachtung des »Wolfische(n) und andre(r) Systeme« (140,17) warnen und zumindest für eine Übergangszeit dafür plädieren läßt, die neue Lehre im Medium der alten zu explizieren. 63 Val. oben 1.3. 64 Val. oben Kap. 2, 1.4.

2. Das »Freiheitsgespräch«

233

Daß dies möglich ist, soll das zusätzliche Argument aufweisen, daß Kant ja seine »neuen Ideen« selber vor ihrer neuartigen Formulierung entwickelt haben müsse, so daß sie auch ohne diese, und d.h. im Medium der traditio-

nellen Schulsprache, formulierbar sein müßten (vgl. 139,39 - 140,3). Da der naheliegende Einwand, daß gerade die Insuffizienz der Schulterminologie Kant zu Neuprägungen

motiviert haben könnte, nur dann nicht stichhal-

tig ist, wenn diese Insuffizienz geleugnet wird, und da dieser Einwand im Gespräch

nicht

einmal

aus

dem

Munde

des

Kantianers

Kritias

erfolgt,

kommt Schleiermachers Haltung hier der gallıgen Bemerkung Tetens' erstaunlich nahe,

er »habe in der Kritik der reinen Vernunft viel Neues

viel wahres gefunden,

und

nur sei das wahre nicht neu, und das neue nicht

wahr«65. Das Problem der selbstgesteuerten Realisierung der vernünftigen Verhaltensbestimmung hat zumindest vier Dimensionen: (1) die formale und materiale Konstitution sittlichen Wissens, (2) die Appräsentation dieses Wissens ın der Einzelseele, (3) das Dominantwerden des appräsentierten Wissens im Begehrungsvermögen und schließlich (4) den Übergang aus der vernunftgemäßen Verhaltensorientierung in ein entsprechendes Verhalten,

also die Realisierung, Darstellung, Verobjektivierung der Intention. Die erste Aufgabe war in hG durch die Behauptung der logischen Kohärenz und situationsunabhängigen Allgemeinheit als der entscheidenden Merkmale des Sittengesetzes gelöst worden und erscheint jetzt nur noch ım Zusammenhang der zweiten, insofern der Charakter des Sıttengesetzes dıe Weise sei-

65

Brinckmann zitiert diesen Satz aus einem Brief Tetens‘ an Eberhard und fügt hinzu: »Unser Theophron j= Eberhard] wırd mit diesem Epıgram eben nicht unzufrieden sen« (KGA mentiert ım

V/1, 167: Brief 127 vom 4.12.1789, Z. 115-120). Antwortbrief: Eberhard, »der vortreffliche Mann«,

Schleiermacher kom»wird sıch freuen (,)

einen neuen Mitstreiter an Tetens zu bekommen« (KGA WV/l, 176: Brief 128 vom 9.12.1789, Z. 260-262). In der Tat entspricht die Sentenz sachlich der (moderater vorgetragenen) Position Eberhards ım »Philosophischen Magazın«. So betont er etwa im Resümee eines tabellarıschen Vergleichs der Kantiıschen mit der »Leibnitzische(n} Kritık der

reinen

Vernunft“

(l.

Band,

Drittes Stück.

Halle

1789,

284

- 288),

daß

»die

Leibnitzische Philosophie alles Wahre der Kantischen enthalten kann, aber außerdem noch mehr. Zu diesem Mehr ist sie durch die gegründete Erweiterung des Gebietes des Verstandes im Stande, wozu sie ıhre kritische Zergliederung der Erkenntnißvermögen berechtigt« (289). Dies impliziert aber eine Verwerfung der kantischen Beschränkung der Erkenntnis auf das sınnlich Erfahrbare, mithin eine Ablehnung gerade des »Neuen« ın Kants Philosophie. - Kant hat auf diese Kritik mit höhnischer Schärfe geantwortet: Ueber eıne Entdeckung, nach der alle neue Critik der reinen Vernunft durch eine ältere

entbehrlich gemacht werden soll. 2. Auflage Königsberg 1791 (Weischedel, Band 5, 293 - 373). Vgl. auch Moxter, Güterbegriff, 33 (Anm. 58), und zu Eberhard überhaupt oben Kap. 2.

234

HT. Sittiichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

ner Appräsentation bestimmt. Die Situationstranszendenz ist freilich zugleich Bedingung der Möglichkeit von Selbststeuerung überhaupt, und so

hängt für die Frage der menschlichen Freiheit alles daran, ob das von der Unmittelbarkeit konkret-kontingenter Verhaltensnötigungen distanzierende Sittengesetz zu einer die Verhaltensbestimmung und das Verhalten selbst

dominierenden Kraft werden kann. Kant zufolge ist Freiheit nur als reine Selbstbestimmung ohne jede Heteronomie denkbar und deshalb zu begrenzen auf einen völlig umstandsunabhängigen Bereich, wofür nur die interne Willensbestimmung ın Frage kommt, und dies auch nur bei Annahme eines

intelligiblen Subjekts. Da Schleiermacher aber nur empirische Subjekte kennt, ist genauso wie die Außenwelt auch die Psyche kontingent-empirtschen Einflüssen und Unwägbarkeiten ausgesetzt. Genau hier setzt die Kritik des Kantianers Kritias an, der behauptet, der schulphilosophische Freiheitsbegriff impliziere zwar eine Unabhängigkeit von den »physischen« Gesetzen,

aber

keineswegs

von

den

»psychologischen«

(137,39),

so daß

auch dıe Handlungsgründe »nıcht mehr ın meiner Gewalt« stünden, was »nothwendig alle Zurechnung auffhöbe)« (138,6f.). Sophron kritisiert nun umgekehrt Kants Definition der Freiheit als des »Vermögen(s,) eine Reihe von Zuständen und von Veränderungen von selbst anzufangen« (142,23f.), als zu eng; sie erfasse nur einen $pezialfali der möglichen Prädikationsfel-

der von Freiheit. Freiheit muß vielmehr als das Vermögen, eine Reihe anzufangen, deren Gesetzmäßigkeit der Anfangende im Moment des Anfangens nicht unterworfen ıst, definiert werden. Dieser Freiheitsbegriff erlaubt nun zwar, die Freiheit auch von Handlungen auszusagen, umgekehrt wird jedoch die Freiheit der Willensbestimmung zum Problem. Denn wie der erste

Hauptteil

des

Gespräches

nachweist

(140

-

150),

bereitet

es

wenig

Schwierigkeiten, intentionsgemäßes Handeln als frei zu prädizieren, wenn man abstrahieren kann von der Weise des Zustandekommens und von der Qualität der Intention und von den aus dem und Verbindlichkeiten. Deshalb kann man

Handeln folgenden Bindungen einerseits durchaus etwa von

bürgerlicher Freiheit sprechen, wenn der Staat niemanden zwingt zu heiraten, dıe Folgen des Heiratsentschlusses aber verbindlich regelt (vgl.

144,25

- 145,15), ebenso bedeutet politische Freiheit nicht den Dispens von allen Gesetzen, sondern die Beteiligung an einer Gesetzgebung, der man sich alsdann

selbst

unterwirft

(vgl.

145,20

- 146,8)6%.

Andererseits

bleibt

eine

Handlung auch dann frei, wenn ihre Intention durch Manipulation durch Andere - durch List (vgl. 149,2) - zustande gekommen ist, denn auch dann 66

Ein absolutistischer Herrscher ist darum auch unten Kap. 9, 1.2.

nicht politisch

frei; vgl.

145,22-26!

Siehe

2. Das »Freiheitsgespräch«

235

muß zumindest ein Minimum von Selbsttätigkeit angenommen werden, da weder Rezeptivität noch Spontaneität beim Menschen als reiner Äutomatismus, in einem vollständig determinierenden Reız-Reaktions-Mechanısmus sich vollziehen (vgl. 149,8-11)6°. Schließlich muß die Handlung auch keineswegs moralisch qualifiziert sein. Es genügt allein die formale Wahrneh-

mung, daß eine Veränderung der »Körperwelt« (146,23) ohne die veranlassende Beteiligung eines Finalursachen bildenden menschlichen Willens nıcht - oder auch nur: nicht so - erfolgt wäre,

um

dıe diese Veränderung

tätıgende Handlung frei zu nennen. Dem widerstreitet auch nıcht, daß eine solche Kausalwirkung der Psyche auf die Außenwelt nur konstatiert, aber nicht erklärt werden kann, so daß sie mit dem »Verhältniß der Gottheit zur Welt« (146,23f.) zu analogısieren ist.

Da der Freiheitsbegriff sich allein auf einen kausalen Übergang aus einer bestimmten

Gesetzlichkeit

ın

eine

anderer

Gesetzlichkeit

gehorchende

Sphäre bezieht, läßt er sich auf Handlungen problemlos anwenden. Dabei gerät allerdings der Zusammenhang von Freiheit und Vernunft aus dem Blick. Die Vernunft erscheint nämlich nur noch als eine - möglicherweise herausgehobene, möglıcherweıse besonders leistungsfähige - Instanz. situationstranszendenter Intentionenbildung und gewinnt damit ihren Ort in der

seeleninternen Willensbestimmung. Dort aber ıst nun der Freiheitsbegriff problematisch, indem ja die Seele dabei sich selbst bestimmt, so daß nicht abzusehen ist, welche Instanz hier Prozesse ınıttleren kann, deren Gesetzmäßigkeit sie a lımine nicht unterworfen ıst. Kantianısch ließe sıch hier unmittelbar und singulär die Vernunft anführen, da diese in einer kategorial

einzigartigen Weise in der Seele präsent ıst - als das nicht-pathologische Gefühl der Achtung von dem Gesetz - und eine kausierende, nämlich 'niederschlagende', 'demütigende' Wirkung auf die anderen, 'pathologischen' Seelenregungen ausübt. Schleiermacher hält hingegen zwar an der situationstranszendenten Allgemeinheit der Vernunft fest6®, behauptet aber eine kategoriale Identität des das Sittengesetz in der Seele appräsentierenden moralischen Gefühls mit allen anderen Gefühlen, so daß die Vernunft zwar als externe, von den subjektiven Bedingtheiten und kontingenten Umständen unabhängige Instanz benennbar, aber unter diesen konkreten Bedingun-

gen nicht operativ verfügbar ist. Jedenfalls ist das Kausalitätsmodell im Blick auf die psychointernen Verhältnisse im allgemeinen und besonders auf dıe Beziehung des moralischen Gefühls zu und seine Funktion in dem Ensemble der Seelenregungen nicht anwendbar. Schleiermacher steht damit 67

Vgl. ebenso ÜdF: 226; 260; 287f.

68

Vgl. schon oben Kap. 1, 2.6.3.

236

II. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

jedoch vor schweren Darstellungsproblemen; Er muß Möglichkeit und Gebotenheit vernünftig-allgemeiner Verhaltensbestimmung und zugleich Kontingenz und Umstandsabhängigkeit sowohl der Appräsentation des Sittengesetzes in der Seele als auch des Dominanrwerdens des Sıttengefühls

im Ensemble der Neigungen beschreiben können. Und das heißt: er kann nicht einfach abstrakt aus der moralischen Pflicht die faktische Möglichkeit zu pflichtentsprechender Willensbestimmung

deduzieren

(Du

kannst,

denn

du sollst), sondern er muß in einer doppelten Deskription aufweisen können, wie vernünftige Willensbestimmung auf der Ebene der Empirie zustande kommen kann, wie sie aber faktisch prinzipiell nicht vollständig und von

nicht immer selbsttätig bewirkt werden kann, Aus dieser empirischer Möglichkeit und faktıscher Nichtsteuerbarkeit

die bleibende Zurechnung

von

Handlungen

geschlossen

werden

Kopräsenz muß dann

können:

Auch wenn du faktisch als Individuum nicht konntest, solltest du.

Genau diese Leistungsfähigkeit hat nun die Vorstellungstheorie. Sie erlaubt Schleiermacher, die Einsicht ın die fundamentale kategoriale Identität aller psychischen Prozesse, aller Bewußtseinsbewegungen als Vorstellungen festzuhalten, ohne sie empiristisch zu nivellieren®?, Sie ermöglicht nämlich,

die spezifische empirische, immer perspektivenrelative Präsenzweise des Sittengesetzes zu beschreiben, ohne dessen situationstranszendente Rationalität selbst zu relativieren. Sie ermöglicht - in den Kategorien der Schrift »Ueber das höchste Gut« gesprochen

- die Darstellung eines der mensch-

lıchen Natur und Handlungsfähigkeit angemessenen und zugleich faktısch nie vollständig realisierbaren Ideals rechten Lebens und die Darstellung der Funktion setzt den

dieses Ideals für die konkrete Lebensführung. Schleiermacher diesbezüglichen Überlegungsgang denn auch zurecht unter dem

Gesichtspunkt an, »was für einen Einfluß Handlungen hat« (150,7f., Hervorhebung um Verhaltensorientierung, sondern auch Vernunftbestimmtheit und Sinnlichkeit »ursprünglichefn)

Kraft

unsrer Seele«,

eigentlich die Vernunft auf unsre von mir), insofern es ja nicht nur um Handlungsmotivation geht. haben ıhren Einheitsgrund in der

nämlich

der Kraft,

»Vorstellungen

hervorzubringen« (150,17f.). Diese Kraft ıst ın sich differenziert zu denken, da die Vorstellungen in mindestens’® zwei voneinander unterscheidbare und aufeinander beziehbare Klassen unterteilt werden können: die 69 70

Empirismüs lautet der - zurückgewiesene - Vorwurf, den Krıtias gegen die Konzeption vorbringt; vgl. 160,7f. Schleiermachers keit (vgl.

150,18:

Klassifikation erhebt ausdrücklich keinen Anspruch »so fern wir etwas darüber festsezen können«}.

fehlender transzendentaler Ethik, 45f.).

auf Vollständig-

Meckenstocks

Kritik

Deduktion greift deshalb ıns Leere (vgl. Deterministische

2. Das »Freiheitsgespräch« deutlichen

und

die

klaren

Vorstellungen

(vgl.

237 150,18-23)’!.

Eben

diese

innere Differenziertheit macht den Vorstellungsbegriff besser geeignet zur Erfassung des Einflusses der Vernunft auf Willensbestimmung und Handeln als der einfache Rekurs auf das Gefühl,

deutlichen Vorstellungen

wie er in hG vorherrschte’2.

Die

erhellen analytisch die innere Struktur und den

Zusammenhang der Dinge, bilden diese aber nie einfach ab und sind nicht

einmal von diesen abhängig; ıhr Kriterium ıst vielmehr ihr Zusammenhang im System der deutlichen Vorstellungen und ihre systemimmanente gegenseitige Herleitbarkeit. Die Verbindung mit Gegenständen der Anschauung ist sogar schädlich für die Deutlichkeit dieser Vorstellungen; denn die Anschauung entdeckt nur eine unentwirrbar strukturierte, nicht-distinkte

Mannigfaltigkeit, eine analytisch nicht auflösbare Komplexion von Bestimmungen (vgl. 151,15-21). Ein 'Objektivieren’ deutlicher Vorstellungen durch Handeln kann demnach nicht ın dem Vermögen, deutliche Vorstellungen hervorzubringen, und mithin ın der Vernunft, selbst motiviert sein,

da das verobjektivierte Abbild immer weniger deutlich sein wird als die zugrundeliegende Vorstellung. Die klaren Vorstellungen dagegen verarbeiten die mannigfaltig andringenden Impulse. Sie erregen Lust (oder Unlust) nach Maßgabe der Komplexität der Einheit des in ihnen Enthaltenen (vgl.

152,8-13)72. Da die größte, nicht einholbare Komplexität aber der gegenständigen

Wirklichkeit

eignet,

bedingt

das

Motiv

der Luststeigerung

ein

Streben nach Vermehrung der Objekte klarer Vorstellungen. Das Objektivieren von

Vorstellungen

- d.h, entweder

ıhre Verbindung

mit gegebenen

Gegenständen oder das Herstellen von ıhnen entsprechenden Gegenständen (vgl. 152,35: »Produktion der Objekte«) durch Handeln ıst somit angetrieben durch die Erwartung gesteigerter Freude, die der Wahrnehmung des Resultats der eigenen Handlung entspringt; diese Freude ist der Handlungszweck. Das Vermögen, klare Vorstellungen hervorzubringen, ist nun seinerseits zweigeteilt in die Empfindungsfähigkeit, die die gegebene Vereinigung von

Mannigfaltigkeit darstellt, und die Eindbildungskraft, die der Empfindung zwar das Material verdankt, im übrigen aber an die gegebene Weise von

7L

Schleiermacher greift hier eigenständig auf Eberhards Distinktion dunkler, klarer und deutlicher Vorstellungen zurück. Vgl. dazu oben Kap. 2, 2., besonders die Anmerkungen 45 und 57.

72 Vgl. oben 1.4. 73

Die Betonung der luststeigernden Wirkung der Empfindung der Einheit der komplexen Mannigfaltigkeit findet sıch auch bei Eberhard, vgl. AThDE 122; dazu oben Kap. ?2,

2.2. und 2.4.

238

dessen

IH. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

Verknüpfung

Vereinigungen

nicht gebunden

entwickeln

Schleiermachers

kann.

Beschreibung

ist,

Das

sondern

ist nun von

völlig

willkürlich

neue

hoher Wichtigkeit

des siztlichen Handelns,

denn

alleın

für

ın der

Einbildungskraft ist eine Instanz gegeben, die sıch auf das Handeln beziehen kann und zugleich eine Abstraktion vom je Wirklichen ermöglicht,

indem sie mögliche Zustände vorzustellen erlaubt. Die Einbildungskraft vermag partikular bereits Wirkliches als Möglichkeit »über unser ganzes Wesen« auszubreiten (155,28f.), sie kann mithin auch einen besten Seelen-

zustand vor Augen stellen, dessen Realisierung höchste und permanente Freude verspricht (vgl. 157,20-29). Insofern ist sie die »einzige Meisterin und Gebieterin aller menschlichen Handlungen und Gedanken (,) welche uns die Tugend vorstellt und zur Ausübung derselben anreızt« (155,17-19).

Nach welchen rechten

Kriterien aber entwickelt die Einbildungskraft dieses Ideal

Lebens,

und

wie

ist es

inhaltlich

falschen, der Natur des Menschen kommener

Existenz entwickelt,

dung,

sie

die

informiert

muß

über

bestimmt?

widersprechenden

»die

sie gebunden

verschiednen

sie

keine

Vorstellungen

Damit

voll-

bleiben an die Empfin-

Kräfte

unsrer

Seele«

(155,25} und über die »Natur unsres Vergnügens« (155,26), d.h. darüber, »daß gewiße Vorstellungen uns gefallen und andre uns mißfallen« (157,3f.).

Ganz genauso wie Eberhard verdankt also auch Schleiermacher die konkrete Bestimmung der Natur des Menschen einem Rekurs auf die Empirie?*, Zugleich

Denn

jedoch

das

bleibt die

Zusammenspiel

Einbildungskraft

von

verwiesen

Einbildungskraft

und

auf die

Vernunft.

Empfindung

allein

verhindert noch nıcht, daß dıe überproportionale Dominanz einer Neigung im faktischen Leben - dıe Einzelnen und für begrenzte Zeit durchaus große

Zufriedenheit

gewähren

mag

- hypostasiert

wird

zu einem

handlungs-

orientierenden Ideal. Die Vernunft verhindert das, indem sie die möglichen

Gegenstände des Vergnügens qualifiziert als in sich harmonisch, schön und vollkommen

(vgl.

157,5-7).

Die

Einbildungskraft

vereinigt

»diese beiden

Ideen« (157,7f.) - Vergnügen und innere Harmonie - in einen Moment: Sie befreit so die Vergnügen bereitenden Empfindungen von ihrer Flüchtigkeit, indem sie sie in den Zusammenhang des harmonischen Ideals stellt (vgl. 157,8-12), sie reizt andererseits zur Realisierung harmonischer Zustände um des daraus zu erwartenden Vergnügens willen (vgl. 157,12-15). Noch präziser läßt sich dieses Zusammenhängen von Wahrnehmung und Vermunft in einem Moment erfassen, wenn man in Betracht zieht, daß klare

Vorstellungen nıcht nur wiederum klare Vorstellungen zu vereinigen vermögen, sondern auch deutliche. Genauer bildet dıe Einbildungskraft einem 74 Vgl, oben Kap. 2, 1.4.

2. Das »Freiheitsgespräch«

239

Augenblick eine ganze Reihe deutlicher Vorstellungen gen Empfindungen geben dabei an, welche deutlichen sem Augenblick zu einer klaren Vorstellung vereinigt Wirklichkeit regt also die Einbildung von vernünftigen reguliert und limitiert aber zugleich deren in dem möglichen Konstellationen (vgl. 156,13-15). Das heißt

ein. Die gegenwärtiVorstellungen in diewerden können; dıe Strukturen selbst an, bestimmten Moment nicht, daß die Emp-

findung der Einbildungskraft verwehrte, klare Vorstellungen zu entwickeln,

für die im gegebenen

Augenblick kein Objekt realisiert werden kann, ja

sogar solche, »welche niemals empfunden werden können« (156,19), mithin

etwa dıe Vorstellung von der Zweckgerichtetheit der Natur auf den Menschen hin (vgl. 156,23 - 157,1, bes. 156,32-35), aber auch Ideale, vernünftige Verhaltensregeln, Tugend (vgl. 154,3-5; 155,1-4.10-14). Es muß

aber Empfindungen geben, die jeweils die begleitende Kopräsenz jener selbst nicht empfindbaren - Vorstellungen bedingen”, d.h. in bezug auf das Ideal des vollkommenen Seelenzustands: ein Lebensmoment muß so beschaffen sein, daß er die Gegenwart jenes Ideals bewirken kann, auch ohne es selbst vollständig zu realisieren. Was bedeutet das nun für die Realität sittlichen Lebens und für die Mög-

lichkeit sittlicher Verhaltensorientierung? Die Gegenwart des Ideals nötigt zum Vergleich mit der Wirklichkeit, der zugleich Erfüllung und Defizienz offenbart (vgl. 158,4-7). Da das Ideal ın jedem neuen Moment in einer neuen Perspektive und situativen Brechung erscheint (vgl. 158,2f.), erlaubt

jeder Moment erneuten Vergleich und damit die Wahrnehmung anderer Erfüllung und anderer Defizienz. Die partikulare Erfüllung, in der Erinnerung aufbewahrt und präsent gehalten, ist gleichsam ein erworbenes Gut, das bleibenden Genuß gewährt (vgl.

158,26-31) und insofern zu weiterer Reali-

sierung des Ideals animiert (vgl. 158,31-33), die nur partikulare Erfahrung des Nicht-Genügens bewahrt vor der Verzweiflung an der Realisterbarkeit sittlichen

Lebens

überhaupt

(vgl.

158,12f.),

welche

Verzweiflung

allen

Handlungsantrieb zerstörte. Die Erfahrung der Unvollständigkeit des sittlichen

Lebens

gehört

freilich

zum

Dasein

des

Menschen

schlechthin:

Zu

einem permanenten Genuß des ıdealen Seelenzustands als eines verwirklichten - und das heißt: dem Selbst als Gut zuzurechnenden und bewußten (vgl. 154,28-32) - »kommen wir niemals: wir sind in einem beständigen Mittelzustand« (157,29f.) zwischen dem Bewundern des ausstehenden und dem Genuß des realisierten Ideals. Das Ziel, in diesem Mittelzustand ver-

gnügt - und damit handlungsfähig - zu sein, ist nur zu erreichen durch die 75

In Eberhards AThDE Kap. 2, 2.3.

fungieren dazu »Mittelideen«; vgl. AThDE

111 und dazu oben

240

If. Sıttlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

Fähigkeit, jeweils die Perspektive zu wechseln: von der defizienten auf die bereits dem Ideal assimilierte Wirklichkeit, von der Wirklichkeit auf das Ideal, vom abstrakten Ideal auf seine partikulare Verwirklichung (vgl.

157,29 - 158,33). Schleiermacher sieht durchaus, daß mit diesem Konzept kontingenten innerpsychischen Virulentwerdens der Vernunft das Gegebensein "innerer Freiheit', bzw. die Subsumierbarkeit der inneren Freiheit unter seinen Frei-

heitsbegriff problematisch wird, »Es scheint in der That«, so schließt Kleon aus den

keine

Ausführungen

Causalität

Sophrons,

in Absicht

»(...) daß

wir der

unsrer moralischen

Vernunft

Handlungen

eigentlich

zuschreiben

können« (160,6-9). Sophron stimmt zu: »Das Vermögen nach vernünftigen Gründen zu handeln heißt nichts anders als das Vermögen durch ein Gefühl von Lust bestimt zu werden welches durch die moralischen Ideen der Vernunft bewirkt [ist]« (160,14-16), ebenso wıe er schon vorher bündig resümiert hatte, »überall [hänge] die Befolgung unsrer Pflichten mit der Sehnsucht nach Vergnügen zusammen« (158,34f.). Diese Sehnsucht sei es, »welche uns zuerst den Weg zur Tugend zeigt und welche uns imerfort darauf erhalten muß« (158,35f.). Nur über die Unterscheidung von Kausalıtät und Gemäßheit als zweier Formen von Bestimmung läßt sich der Freiheits-

begriff 'retten’ (vgl. zwar

nicht

Willen

160,18), indem nämlich das Sittengesetz den Willen

unmittelbar

motivierende,

kausal

durchwegs

determinieren

kann,

indem

sinnliche Vergnügen

aber

das

den

an der Pflicht der

Entsprechung der pflichtgemäßen Willensbestimmung zu den »ewigen und unveränderlichen Geseze(n) der Vernunft« (160,21f.) entspringt. Schleiermacher ist sich bewußt, daß ein solches reduziertes und relativiertes Verständnis von Freiheit für einen Kantianer unannehmbar ist, ja in dessen

Augen die Freiheit überhaupt und den Ermöglichungsgrund von Sittlichkeit destruieren muß: Die Abhängigkeit sittlicher Willensbestimmung von einem sinnlichen Vergnügen kann im Kontext der »Krıtik der praktischen Vernunft« nicht anders denn als pure Aereronomie erscheinen. Aber dieses Urteil verdankt sich nach Schleiermacher einer zu einfachen Darstellung der

Funktion

des Vergnügens

für die vernünftige Willensbestimmung.

dabei müssen immer zwei Gestalten von Vergnügen

Denn

unterschieden werden:

das Vergnügen an der Vernunftgemäßheit der Willensbestimmung und das Vergnügen, das derjenigen sinnlichen Neigung entspringt, dıe »unumgänglich« (159,13) beı der Willensbestimmung in Anspruch genommen wird.

Nur die Orientierung an diesem ist sittengesetzwidrig, die Orientierung an jenem ist hingegen ein notwendiges Implikat des Zusammenhangs von Verpflichtungscharakter und empirischer Ohnmacht des Sittengesetzes. Das ändert allerdings wohlgemerkt nichts an der kategorialen Identität dieser

2. Das »Freiheitsgespräch«

Vergnügensarten

Vergnügen durchsetzen

als sinnliche Vergnügen

und

241

mithin

daran,

daß

sich das

der Pflicht nur dann gegen widerstreitende andere Vergnügen wırd,

wenn

es

sie an

»Lebhaftigkeit

und

Stärke«

(159,32)

übertrifft (vgl. insgesamt 159,1-34). Schleiermachers

Interesse unterscheidet sich offensichtlich erheblich

von

dem Kants: Während dieser die Möglichkeit einer Bestimmung des Willens

unabhängig von den wechselnden Bedingungen des faktischen Lebens aufzeigen will und daher Sittengesetz und Sinnlichkeit strikt trennt (vgl. Schleiermachers

Krıtik daran

162,1

- 163,7),

geht es Schleiermacher

um

die Beschreibung eben dieses Lebens als faktisch-gebrochenen, in der Spannung zwischen Wollen und Vollbringen sich vollziehenden, und um die Gegenwartsweise des - durchaus ım Kantischen Sınn als rein verstandenen Sittengesetzes der Vernunft in diesem spannungsreichen Kontext, mithin um die Klärung der Möglichkeit kontingenter und relativer - dafür aber empi-

nısch-realer - Kontinuierung und Selbstbestimmung der Existenz durch perspektivisch-partikulare - dafür aber sinnlich-objektive - Adaption des vernünftigen Ideals. In Leitperspektive und Darstellungsmitteln manifestiert sich hier eine fundamentale Kontinuität zur freundschaftstheoretischen Konzeption

in

den

Aristoteles-Anmerkungen.

Hatte

dort

der

Freund

dem

Freund sittliches Wissen in einem Moment appräsentiert, in dem diesem aufgrund seines Involviertseins in konkrete Situationen dieses Wissen überhaupt oder dıe momentan notwendige Facette dieses Wissens nicht zur Verfügung stand, so entspricht dem hier der fehlende Überblick über das

Sittengesetz als ganzes (vgl. 158,12f.) und auch die mangelnde Einsicht ın das ganze Ausmaß des »Kontrast(es)« (158,7.12) zwischen

Idea! und fakti-

scher Realisierung. Allerdings bleibt das »Freiheitsgespräch« in einem wichtigen Punkt hinter den Aristoteles-Anmerkungen zurück, indem diese nicht nur die Beschränktheit sittlichen Wissens und sittlicher Steuerungsfä-

higkeit erfassen, sondern auch die soziale Vermittlung solches Wissens und die Möglichkeit sozialer (ein- und wechselseitiger) Förderung sittlicher Verhaltensorientierung. Behandelt das »Freiheitsgespräch« also dıe Möglichkeiten des Einzelnen, sich als nıcht durchgängig selbstbestimmt dennoch

im Medium der Selbstdeutung durch Strategien des Perspektivenwechsels Selbstachtung und Handlungsfähigkeit zu bewahren, und entwirft damit ein Bild weisheitlich depotenzierter Selbstmächtigkeit des Einzelnen, der seine Endlichkeit hinnehmen und mit ıhr leben gelernt hat, ohne zynısch und resignativ auf Bemühung um Sittlichkeit überhaupt Verzicht zu tun’®, so kann

76 Vgl. ähnlich auch in WL; dazu unten Kap. 6, 1.6.

242

die

ll. Sittlichkeit - Kap. 4. Beschäftigung mit Kant

Freundschaftstheorie

auch

den

auf

der

Ebene

des

Eınzelsubjekts

Illusionen und Verstellungen fördernden Effekt sowohl des Wissens um dıe Grenzen der eipenen Einsichts- und Handlungsfähigkeit als auch der genannten Bewältigungsstrategien aufzeigen, weil sıe die Umstandsabhän-

gigkeit des Präsent- und Dominantwerdens sıttlıchen Wissens nicht nur pauschal einräumt, sondern diese Umstandsabhängigkeit und Kontingenz, aber eben auch Möglichkeit und Wirklichkeit des Dominantwerdens in qualifizierten Sozialbeziehungen verortet, Die Freundschaftstheorie thematisiert den Zusammenhang zwischen Individualisierung und Sozialisierung, aber genau damit nennt sie auch die Risiken der Individualisierung und Möglichkeiten zur Bewältigung und Eingrenzung dieser Rısiken. Das heißt keineswegs, daß das »Freiheitsgespräch« ın Jeder Hinsicht oder auch nur überwiegend einen Rückschritt gegenüber der Freundschaftskon-

zeption darstellt. Ganz im Gegenteil sind jetzt ungleich differenziertere Kategorien erarbeitet, die Fragilität, Umweltsensibilität und -abhängigkeit, kurz: die Implikate der Endlichkeit menschlicher Existenz für dıe Beschreibung des Einzelmenschen zu erfassen. Zu diesen Präzisierungen gehört auch die Darstellung der komplexen individuellen Formen der Selbstwahrnehmung

und

Selbstdeutung,

des tröstenden

und anımıerenden

Perspektiven-

wechsels zwischen Ideal und Wirklichkeit etc. Diese individuellen Formen der Selbststabilisierung schließen soziale Förderung der individuellen Bildung keineswegs aus und werden umgekehrt dadurch auch nicht unnötig gemacht oder gar notwendig zu deformierenden und deformierten Weisen des Selbst- und Weltverhältnisses abgewertet. Allerdings geraten sie ım

Verlauf der Auseinandersetzung mit der (zwar auch von den innerpsychischen, aber um so stärker) von den sozialen Bedingtheiten der Sittlichkeit abstrahierenden Ethik Kants deutlich in den Vordergrund des Interesses, so

daß die Deskription von Sozialverhältnissen in den Hintergrund tritt und für die Beschreibung individueller Selbststeuerungsprozesse nicht fruchtbar gemacht

wird.

Der Preis der Vertiefung der Problembehandlung

ın bezug

auf das Einzelsubjekt ist also eine gewisse Verengung der Fragestellung: Während die Arıstoteles-Anmerkungen die Kommunikation von Individualität und Sittlichkeit in freundschaftlichen Interaktionen beschrieben, dabei aber die innere Verfaßtheit der beteiligten Einzelnen nur mittelbar miterfaßten, thematisiert das »Freiheitsgespräch« den Zusammenhang von situativ-umstandsabhängıger, konkreter Individualität und umstandstran-

szendenter Allgemeinheit in der Einzelseele, genauer: die Individualisierung, Partikularisierung, aber damit eben Realisierung allgemeingultiger Sittlichkeit. Dadurch

Kommunikation

sind die subjektiven Bedingungen

und die Inhalte der

und Rezeption von Individualität und Sittlichkeit präziser

2. Das »Freiheitsgespräch« wahrgenommen,

insofern

nämlich

243

die Sittlichkeit selber nie als die unab-

hängige Instanz, die sıe an sıch ıst, sondern immer bereits in spezifischer Individuation

kommuniziert

oder

an

anderen

erkannt

wird;

aber

ebenso

wenig wie die Bedeutung der Sozialität für die subjektive Vermittlung von Sittlichkeit und Situativität zum Tragen kam, werden die Differenzierungen der Beschreibung innerpsychischer Prozesse nun umgekehrt in dıe Darstellung sozialer Kommunikationen eingetragen. Es ıst allerdings außerordentlich wichtig festzuhalten, daß die Konzentration auf die Beschreibung der endlichen Verfaßtheit individueller menschlicher Existenz zwar die Gefahr einer subjektivitätstheoretischen Verengung der Theorieentwicklung als ganzer heraufbeschwört und daß Schleiermacher dieser Gefahr nıcht immer

entgangen ıst, daß aber gerade die ınhaltliche Ausführung eine solche Engführung keineswegs notwendig nach sich zıeht, sondern im Gegenteil dıe Theorie offenhält für eine weitere Entfaltung der sozialtheoretischen Ansätze.

Fünftes Kapıtel

Kausalkontinuum - Zurechnung - Intentionalität:

Die Schrift »Über die Freiheit« Einleitung

Das »Freiheitsgespräch« hatte Schleiermachers Interesse an der Erfassung und Darstellung konkreter Prozesse der Lebensführung und dabeı näherhin

der

Möglichkeiten

der Selbstdistanzierung

Strom

der

waren

die Frage der Konstitution,

Wirkung

Ereignisse

bestätigt

und

vom

präziser

und

expliziert.

Vergegenwärtigung

eines situationstranszendenten

Selbststeuerung Diesem

und

im

Interesse

kontingenten

Sittengesetzes einerseits,

die Frei-

heitsthematik andererseits zugeordnet. Daß diese beiden Problemkomplexe nıcht ıdentisch sınd, zeigte sich daran, daß ın bezug auf Handeln immer schon dann von Freiheit gesprochen werden kann, wenn formal ein Zusammenhang zwischen Intention und Realisierung festzustellen ıst, wıe

auch immer die Intention zustande gekommen ist und wie auch immer der Zusammenhang gedacht werden kann. Problematisch wird die Freiheit allerdings bei der internen Verhaltensbestimmung, also bei der Bildung von Intentionen.

Denn

es ist unklar,

wie eine Selbstdistanzierung

und

Selbst-

bestimmung möglich sein sollte, wenn das zu bestimmende Selbst seinerseits Teil des Ereignisflusses ıst. Die Vorstellungstheorıe vermag zwar dıe

Appräsentation von situationsunabhängigen und auch die ın der konkreten Situation gegebenen Möglichkeiten übersteigenden Verhaltensorientierungen auszusagen,

dies aber nur nach

Maßgabe

der momentanen

konkreten

innerpsychischen und externen Konstellationen und also nicht unter Abstraktion von diesen. Reflexivität (als Beurteilung vergangener und Perspektive auf zukünftige Handlungen), und mehr noch die Durchsetzung reflexıonsgesteuerter Verhaltensorientierungen zunächst ın der Psyche, dann und daraufhin in der physischen und sozialen Welt, ıst dann Teil und Funktion

des

zu

steuernden

Lebensprozesses

selbst.

Konsequenterweise

kann dann die Vergegenwärtigung und das Dominantwerden des allgemeinen, universal gültigen und deshalb vernünftigen Sittengesetzes nur

Einleitung

245

als kontingent, fragil, nıcht permanent, nicht vollständig erfolgend gedacht werden.

Damit ist selbsttätige Verhaltensbestimmung

nicht ausgeschlossen;

aber sie ist von Faktoren abhängig, über die sie nicht verfügt. Ausgeschlossen ıst ebenso wenig, daß das imaginierte und appräsentierte Bild der wahren

Bestimmung

des

Menschen

den

sinnlich

existierenden

Menschen

gemäß und insofern verbindlich ist, auch wenn es faktisch jeweils weder hinreichend deutlich und klar aufgefaßt werden noch den Willen hinreichend stark prägen konnte. So differenziert Schleiermacher diese Problemkonfiguration entfaltet, so deutlich treten die Schwierigkeiten und Aporien der Konzeption zutage. Dunkel bleibt, wıe eine Neigung überhaupt zur innerseelischen Dominanz

kommen und wıe - durch welche Kraft - sıe wieder zu der ıhr zukommenden, der Gesamtharmonie der Seele förderlichen Bedeutung zurückgedrängt werden kann, wie also die postulierten psychischen Prozesse tatsächlich ablaufen.

Dunkel bleibt damit auch, wie die Vernunft, wenn sie denn diese

harmoniefördernde Kraft des Zusammenhangs sein sollte, ihre Aufgabe erfüllen kann, da sie doch selbst bzw. das sie appräsentierende Gefühl ın ihrer Wirksamkeit abhängig ıst von dem Gegebensein jenes Zusammenhangs,

den

sie allererst herstellen

soll!.

Schwierig

wird

dann,

wie

über-

haupt noch nichtbeliebige bzw. nicht rein momentgesteuerte oder nichtopportunistische Perspektiven auf die eigene Vergangenheit bzw. Orientierungen für zukünftiges Verhalten

möglich

sind?, und zudem,

wie unter

den Bedingungen der Kontingenz und Fragilıtät der Präsenz der SteuerungsInstanz Vernunft so etwas wie Kontinuität und Identität der Person einerseits,

Förderung

und

Entwicklung

sittlicher

Personalität

andererseits

gedacht werden kann. Stabile (auch intersubjektiv stabilisierte bzw. stabilisierbare) Selbstwahrnehmungen sind nun aber Voraussetzung für die Selbstzuschreibung vergangener Handlungen sowie für die Übernahme der Verantwortung dafür, ebenso wie die Fähigkeit (bzw. die Zuschreibung der Fähigkeit) zu vernünftiger Situationsdistanzierung und situationsdistanzierter Verhaltensorientierung in jedem Moment Voraussetzung für die sıttliche

Zurechnung vergangenen Verhaltens ist. Es läßt sich zeigen, daß die beschriebene Problemkonstellation sich in der großen, nicht ganz vollendeten Abhandlung »Ueber die Freiheit«? exakt

Vgl. ganz analog zu Eberhard oben Kap. 2, 1.4. 2

Zu diesem Problem vel. auch WL. Vgl. unten Kap. 6. Der Text ıst schwierig zu datieren. Meckenstock verortet ıhn »in nur geringem zeitlichen Abstand zu den drei 'Freiheitsgesprächen‘« und resümuert: »Ich halte demnach als

246

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

durchhält, und daß Schleiermacher hier an der Behebung der Schwächen und Unklarheiten und an einer umfassenden Entfaltung seiner Konzeption arbeitet. Es ist deshalb keine reine Außenperspektive, wenn im folgenden die Freiheitsschrift nicht als gleichsam ın sich ruhende Position, der die vorangegangenen Schriften als Vorarbeiten zugeordnet sind, interpretiert wird (wie das Meckenstock in konzisem Nachvollzog des Argumentationsganges getan hat*), sondern unter Orientierung an der Frage, wie hier die Problemkonstellation neu (in neuer Terminologie) expliziert, dabei modifi-

ziert und revidiert, schließlich auch in weitere Kontexte hinein ausgeweitet und damit 'vollständiger' (um wichtige Aspekte bereichert) entfaltet wird. Diese Problemorientierung bringt es aber auch mit sich, daß erwogen werden muß, ob und inwieweit dıe Neuerfassung des Problems nıcht möglıcherweise in bestimmter Hinsicht hinter die bereits erreichte Einsicht

zurückfällt, Die ım folgenden zu belegende These lautet: Schleiermacher kann ın der Freiheitsschrift zunächst weitaus präziser beschreiben, welche innerseelischen Instanzen auf welche Weise zur kontingenten sıttlichen Verhaltensorientierung (Intentionenbildung) anthropologischen Bedingungen

zusammenwirken. Er kann ferner die nennen, dıe formal - also unabhängig von

aller inhaltlichen Bestimmtheit der verschiedensten Sıttengesetze - gegeben sein müssen, wenn Verhalten sittlich zurechenbar sein soll. Sein Theorem der Wirklichkeit als Kausalkontinuum, in dem zwei Ärten von Kausalität aufeinander einwirken, erlaubt ihm schließlich einerseits, vielfältige und

untereinander interdependente Reihenbildungen psychischer, physischer und sozialer Wirkungen zu beschreiben und somit nicht nur allgemein komplexe Weltverhältnisse adäquat zu erfassen, sondern auch spezieller die Kontinuität der Wirkung

vergangener

Handlungen

einer Person

auf deren

gegen-

wärtigen Zustand und damit die Möglichkeit und Notwendigkeit rekursiver Selbstzuschreibung dieser Handlungen, mithin Formen der Identitätsbildung aufzuweisen. Andererseits kann er durch die Dualität und Interdependenz kategorial unterschiedener Kausalitätsarten in ein und derselben Wirklichkeit an seinem formalen Freiheitsbegriff festhalten - dem gemäß die eine Reihe beginnende Tätigkeit ja nur von derjenigen Kausalität unabhängig sein muß,

der die Reihe folgen wird -, ohne das Interesse an einer durchgängigen Bestimmbarkeit und vollständigen Determiniertheit aller Wirklichkeit aufzugeben. Im Gegenteil gelingt es ihm sogar zu zeigen, daß nur ein solcher Abfassungszeit die letzten Monate ın Drossen bis in die ersten Monate in Schlobitten, muthin das Jahr 1790 für wahrscheinlich« (KGA 1/1, LVTIE und insgesamt LV-LYVIE). 4

Vgl. Meckenstock, Deterministische Ethik, 52 - 129.

Einleitung

247

Determinismus zum einen kontingentes Bestimmisein von eigenen (und fremden) vergangenen Handlungen, von vergangenen und gegenwärtigen

psychischen und externen Umständen, zum anderen intentionales Handeln (als Entsprechung von innerer Willensbestimmung und äußerer Realitätsveränderung) erklären kann. würdigen, die Wirklichkeit

Überhaupt ist Schleiermachers Versuch zu so zu beschreiben, daß in ihr Entitäten

vorkommen, die kraft psychischer Notwendigkeit der physischen Notwendigkeit nıcht unmittelbar und nicht unbedingt - d.h. mit naturgesetzlicher Kausalität - ausgesetzt sind, zu deren natürlichem Wesen es mithin gehört, Kausalketten zu unterbrechen, zu modifizieren, zu initiieren, und d.h.: als

abhängiges Element des Wirklichkeitsganzen gestaltend in den Prozeß der Wirklichkeit eingreifen zu können. Diese Konzeption ist ohne Zweifel unkantisch. Sie kennt keine absolute, sondern nur eine perspektivenrelative Freiheit, ebenso wıe (und genau deshalb, weil) sie kein der empirischen Bedingtheit enthobenes intelligibles Subjekt kennt, vielmehr nur kontingent existierende Individuen, denen zwar ein 'intelligibles' Ideal ihrer wesentlichen Bestimmung wesentlich zugehört, das sıe aber nur ın jeweils wiederum kontingenter, umstandsabhängiger

Weise in ihr eigenes Leben ein-bilden und insofern unvollständig, vorläufig, partikular realisieren können, Gleichwohl folgt Schleiermacher Kant ın wichtigen konzeptionellen (methodischen und sachlichen) Entscheidungen: Er hält am empirietranszendenten Charakter der menschlichen Wesensbestimmung fest; er limitiert das theoretische Interesse im Kontext der

praktischen Fragestellung auf die deskriptive Erhellung der Wirklichkeit, wie sie bei vorausgesetzter Geltung unbedingter sittlicher Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit beschaffen seın muß, bzw. noch abstrakter auf die Erhellung derjenigen Bedingungen, die eine beliebige Wirklichkeits-

beschreibung jedenfalls erfüllen muß, wenn sie mit dem entwickelten Verständnis der Reinheit, Verbindlichkeit und - wıe Schleiermacher gegen Kant hinzufügt - empirischer Ohnmacht des vernünftigen Sittengesetzes kompatibel sein soll, bewahrt also wissenschaftssystematisch die Unabhängigkeit der praktischen Philosophie von der theoretischen und anthropologisch-

ethisch den durch keinen Rekurs auf faktische Verhältnisse abzuschwächenden,

unabweislichen

Pflichtcharakter

des

Sittengesetzes;

dies

alles

aber

weiterhin unter Wahrung der in der Güterschrift ausgearbeiteten und begründeten und im »Freiheitsgespräch« in ihren Konsequenzen entfalteten Verschiebung der Perspektive.

248

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

Im folgenden soll zunächst die Problemkonfiguration in Schleiermachers erneutem Konzeptualisierungsversuch reidentifiziert werden?, ehe im

Zusammenhang mit der Frage von Verbindlichkeit und Zurechnung die Genese und Funktion personaler Kontinuität und Identität sowie die Wahrnehmung und Zuschreibung eigener und fremder Perspektiven auf eigene und fremde Vergangenheit und mögliche Zukunft zur Sprache kommen®.

Dabei wird sich zeigen, daß Schleiermacher in der Freiheitsschrift Beschreibungskategorien und Konzepte entwickelt, die es ihm ermöglichen, jenen Phänomenbestand sozialer ein- oder wechselseitiger Beobachtung und Beeinflussung,

den er in der Freundschaftstheorie behandelt hatte, präzise

zu erfassen und zugleich in ein komplexes Gesamtkonzept von Wirklichkeit

überhaupt zu integrieren”,

I. Vorstellungstheoretische Rekonstruktion der Fähigkeit zu Siruationstranszendenz Schleiermacher nähert sıch dem Freiheitsthema von zwei Seiten: phänomenologisch von der unmittelbaren Erfahrung, moralphilosophisch von den Implikaten

der

Annahme

des

Verpflichtungscharakters

des

Sittengesetzes

her. Dabei ist - sowohl sachlich als auch vom Aufbau der Schrift her - der "phänomenologische'® Zugang der primäre und ursprüngliche. Denn die Frage nach der Freiheit ıst keineswegs eine nur akademische Frage, deren

positive oder negative Beantwortung für das Verhalten konkreter Einzelner gar nichts austrägt (was dann unter den Prämissen eines sich aufgrund von

Praxisrelevanz legitimierenden Philosophieverständnisses sofort dazu führen müßte, sie auch akademisch nicht mehr zu behandeln); sie ist vielmehr fun-

diert in der elementar-partikularen alltagsweltlichen Erfahrung eines (scheinbaren) Ruhens des Begehrungsvermögens, »um die individuellen und allgemeinen Thätigkeiten desselben unter einander zu vergleichen, oder

nach irgend einem Princip zu beurtheilen« (220,37 - 221,1)?, und in den 5

Vgl. unten 1.

6

v gl. unten besonders 2. - 4.

7

Vgl. unten besonders 6. und 7.

8

Diesen Terminus verwendet auch A. Blackwell: Schleiermacher's Early Philosophy of Life, Harvard 1982, 42: »phenomenology of human choosing«.

9

Die Situation handlungsfreier Abwägung

kungen, 6,9-12; s.o. Kap. 1, 1.2.2.

vgl. auch schon

in den Arıstoteles-Anmer-

l. Die Fähigkeit zu Sıtuationstranszendenz

249

Deutungen, die auch »der nicht spekulative Mensch« (220,21) diesen Erfah-

rungen zu geben vermag. Die Philosophie systematisiert gewissermaßen die Einzelerfahrungen vieler und bringt sie in eine allgemeine Form, die dann wiederum den partikularen Deutungen zur Korrektur und Vergewisserung dienen kann. Da eine philosophische Durchdringung des Themas also von lebenspraktischer Bedeutung (wenn nicht gar: Notwendigkeit) ist, ist es besonders mißlich, daß es keine allgemein anerkannte Lösung des Freiheitsproblems gıbt, sondern daß mindestens zwei Positionen miteinander um Allgemeingeltung konkurrieren, die dıe Frage definitiv und allgemeingültig beantwortet zu haben meinen, nämlich der Determinismus der »Leibniz Wolfischen Schule« (219,27) und die Kantische »Auflösung« in der 3. Antinomie der »Kritik der reinen Vernunft«!O, und daß zumindest die letzte ausgesprochen schwer verständlich ist, was ihre Rückwirkung

(Reso-

nanz) in die Lebenspraxis stark behindert!!.

Mit diesen Überlegungen ist Schleiermachers Vorgehen festgelegt: Im ersten »Abschnitt« (219 - 243) expliziert er phänomenologisch die alltäglıche Sıtuation sittlicher Reflexion und Verhaltensbestimmung (»Entschluß«, 221,2 u.ö.) und entwickelt dabei und dafür eine Theorie des menschlichen

Begehrungsvermögens, gleichsam als Integral einer "Anthropologie in ethıscher

Perspektive’.

Diese

Theorie

muß

so beschaffen

sein,

daß

sie eine

vernünftige, d.h. dem allgemeingültigen Sittengesetz gemäße und um seınetwillen erfolgende Verhaltensbestimmung als weder notwendigen noch unmöglichen, mithin als immer möglichen, aber kontingenten Spezialfall der Bestimmung des Begehrungsvermögens überhaupt aussagen kann. Denn nur so kann sie eine realistische Beschreibung der condıtio humana abgeben!? und bleibt zugleich kompatibel mit dem Postulat der jederzeitigen

Verbindlichkeit zu vernunftgesetzgemäßen Handlungen.

Diese Kompatibili-

10 Ygl. KrV B 471 - 479 (Weischedel, Band 4, 426 - 433). Il

Das Argument der »Unverständlichkeit« der Kantischen Philosophie bei »einem großen Theil des philosophischen Publikums« (219,34f.) - das ım übrıgen bei Reinhold krıtisch referiert wird (vgl. Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, Prag - Jena 1789, 15) - ıst ın der Freiheitsschrift präziser eingesetzt als ım »Freiheitsgespräch«. Hatte es dort zwar bereits die Gefährdung unmittelbarer praktischer Verhaltensorientierung angezeigt (vgl. oben Kap. 4, 2.), so verweist es hier nicht auf Schwierigkeiten des Vollzugs kontingenter Selbstbestimmung, sondern auf eins Erschwerung der Vergewisserung jenes immer schon geschehenen Vollzugs und der Integration der Eıinzelvollzüge ın einen einheitlichen Zusammenhang, hängt also auch nicht mehr ab von Eberhards Theorie der Maxıimenbildung.

12

Eine unrealistische Beschreibung des faktischen menschlichen Wollens hatte Schleiermacher in hG Kants Theorem der intelligiblen Freiheit vorgeworten. Vgl. oben Kap. 4, 1.3.

250

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

tät sucht Schleiermacher im zweiten Abschnitt (244 - 298) aufzuweisen. Die Verbindlichkeit ıst nun aber ıhrerseits kein äußerliches Kriterium der Beschreibung der menschlichen Lebensverhältnisse; sie ist einerseits notwendige Bedingung für die Verantwortlichkeit der Handelnden für ihre Handlungen und insofern Voraussetzung intersubjektiver Zuschreibungen

und Verhaltenserwartungen hinsichtlich des Maßstabes eigener und fremder Verhaltenssteuerung

und

auch

hinsichtlich

des Umgangs

mit eigener

und

fremder Devianz - deshalb ıst sıe auch Bedingung der Möglichkeit einer öffentlichen Moral und gesellschaftlich-staatlichen Strafgerichtsbarkeit, die sich

nicht an

den

momentanen

Opportunitäten

orientieren;

sie impliziert

andererseits ın Form der Nötigung zur Selbstzuschreibung vergangener Handlungen Aussagen über (auch sozial vermittelte) Kontinuitätszumutungen an personale Selbstwahrnehmung,

welche Aussagen präzisierend in die

Beschreibung der Lebensverhältnisse eingeführt werden müssen. So verschränken sich deskriptive und präskriptive Momente zu einem einheitlichen konzeptionellen Zusarnmenhang, bei deutlicher Prävalenz freilich des deskriptiven Interesses. Das führt auch dazu, daß Schleiermacher sich gegen

den

Vorwurf des Determinismus

verteidigen

muß.

Im

dritten

Ab-

schnitt (299 - 329) belegt er in historischer Rekonstruktion und systematischer Typisierung die Behauptung, ein recht verstandener Determinismus allein vermöge sittliches Handeln zu erklären, und im vierten (unvollendeten) entfaltet er schließlich seine 'deterministische Freiheitslehre‘ systematisch (330 - 356).

l.1. Sıtuationstranszendenz als anthropologische Konstante

Schon die Darstellung des reflektierend-untätigen Berrachtens der Kräfte und »Thätigkeiten« des Begehrungsvermögens und des Entschlusses, einen Begehrakt zu begünstigen und zu realisieren, andere dagegen zu unterdrücken, schließt die Annahme ein, daß das Begehrungsvermögen sich ohne solche

Beeinflussung

möglıcherweise

ganz

anders

bestimmen

würde

und

daß diese Beeinflussung nicht ihrerseits Funktion des Begehrungsvermögens sein kann, daß die Abstraktion vom und die Einwirkung auf das Begehrungsvermögen aber menschliche Möglichkeiten sind. Schleiermacher ordnet sie dem Verstand zu, vermittels dessen »ohne das Begehrungsvermögen und selbst der muthmaßlichen Wirkung seiner Objekte zuwider etwas ın demselben würklich« gemacht werden soll (221,9-11). Es ergeben sıch damit zwei Referenzbereiche (zwei Bezugssysteme) der Darstellung: das Begehrungsvermögen selbst und das Ensemble der Seelenvermögen insge-

l. Die Fähigkeit zu Situationstranszendenz

samt,

zu dem

auch das Begehrungsvermögen

gehört.

251

Denn

das Begeh-

rungsvermögen muß als ein solches gefaßt werden, das durch Objekte der Lust oder Unlust nicht notwendig und unmittelbar bestimmt wird, bei dem vielmehr die Unterbrechung oder Konditionierung des Überganges von Reiz

in Aktion möglich ist, und die Seele muß Vermögen enthalten, die sie zu einer selbstgesteuerten Rezeption und Produktion von umstandsunabhängigen Objekten für das Begehrungsvermögen befähigen. Interessanterweise löst Schleiermacher diese Aufgaben zunächst ohne Bezug auf die Möglichkeit verständiger oder gar vernünftiger Verhaltensorientierung. Er geht vielmehr aus von einer allgemeinsten Bestimmung der »in der Natur des vorstellenden Subjekts gegründete(n) Thätigkeit desselben zur Hervorbringung von Vorstellungen« (223,12-14), welche Tätigkeit er als »Trieb« (223,12) bezeichnet. Alle Seelentätigkeiten sind demnach

distinkte Ausprägungen des Dranges, Vorstellungen zu erzeugen. Schleiermacher verortet sein Projekt der Rekonstruktion des kontingenten Vollzugs vernünftiger Willensbestimmung also weiterhin in der Vorstellungstheorie; allerdings drängt jetzt terminologisch und sachlich der Bezug auf Reinhold die schulphilosophische Fassung in den Hintergrund. Reinhold hatte in seinem »Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens« (Jena/Prag 1789) den Trieb etwas unklar als »Verknüpfung« der als »Grund() der Wirklichkeit« einer Vorstellung aufgefaßten »Kraft« mit dem

den

»Grund()

der Möglichkeit

der Vorstellung«

bildenden

Vorstellungs-

vermögen definiert!?. Sowohl Vermögen als auch Kraft müssen in jedem vorstellenden Subjekt »vorhanden seyn«, sie dürfen aber nicht ıneins fallen, weil dann das Vermögen nicht mehr nur die rein formale und apriorische, aller Bestimmtheit und allem Vollzug vorangehende Bedingung der Möglıchkeit anzeigte, sondern ununterscheidbar bliebe von faktıschem Vollzug.

Der Trieb vereinigt dann gewissermaßen Möglichkeitsgrund und Wirklichkeitsgrund zum konkreten Hervorrufen bestimmter Vorstellungen, Schleiermacher präzisiert nun das Verständnis von innerer Struktur und Wirkweise

des Triebes, beschreibt

und

indem indem

er ihn er

ihn

wie »in

gezeigt

als »Thätigkeit«

verschiedne

Arten«

von

des

Subjektes

Einzeltrieben

»getheilt« (223,15) denkt. Begehrungsvermögen heißt dann »das Vermögen (,) in irgend einem Theil der Existenz den Trieb ım allgemeinen für ein Objekt eines einzelnen Triebes zu bestimmen« (223,16-18), d.h., das Vorstellungsvermögen zur Produktion einer bestimmten Vorstellung zu aktıvie-

13

Vgl. Reinhold, a.a.0., 561; zitiert nach KGA

L/1, 223.

252

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

ren!#. Im Unterschied zu Kant gehört zum Begehrungsvermögen für Schleiermacher noch nicht das Vermögen, das Objekt der begehrten und als Vorstellung realısterten Vorstellung nun auch in physischer Kausalität zu realisieren, d.h. triebbestimmungsgemäß zu handeln. Denn schon daß das Wünschen, in dem sich der Wünschende der Unzulänglichkeit des eigenen Kausalitätsvermögens zur Verwirklichung des Begehrten bewußt ist, eine Form

des Begehrens

darstellt,

zeigt an,

daß

Realisierbarkeit

kein

inneres

Kriterium des Begehrens bildet!®. Der Schwerpunkt und die eigentliche Schwierigkeit des Freiheitsthemas liegt wie im »Freiheitsgespräch« mithin weiterhin auf der Möglichkeit interner Selbstkonditionierung; dies freilich wıe es sıch für eine Konzeption

kontingenter Appräsentation

und

Realisie-

rung vernünftiger Verhaltensorientierungen nahelegt - nie ohne Bezug auf die den psychischen Selbstvollzug integrierende und limitierende konkret präsente Außenwelt, Dies wird sofort deutlich, wenn Schleiermacher verschiedene »Modifikationen des Begehrungsvermögens« (224,9f.) nach Maßgabe dessen unterscheidet, ob dieses von einem Objekt unbedingt deter-

miniert wird oder ob es zwischen mehreren Objekten wählen kann und muß. Im ersten Fall spricht er von /nstinkt, im zweiten von Willkür. Die mit der Willkür gegebene Distanzierungsfähigkeit ist dem Tier akzidentell,

dem

Menschen

wesentlich (vgl. 227,11f.:

»das menschliche Begehrungs-

vermögen ist eine Willkühr, das Thier aber har nur eine Willkühr«). Der Mensch ist auch dadurch ausgezeichnet, daß er vermittels einer »bildende(n) und erinnernde(n) Einbildungskraft« (227,7) sıch jeweils mehr und andere

Entscheidungsoptionen appräsentieren kann, als in der faktischen Situation liegen. Insofern kann er jeweils auch ganz von dieser abstrahieren willkürlich zwischen den Objekten selbstproduzierter Vorstellungen

und ent-

scheiden. Diese anthropologisch konstitutive Möglichkeit eines »Zwischenraum(s)«

(226,7)

zwischen

Reiz

und

Reaktion,

zwischen

Objektwahrneh-

14 In Schleiermachers Darstellung wird allerdings nicht deutlich, in welchem operativen Verhältnis »Tneb ım allgemeinen« und »einzelne(r) Trieb()« zueinander stehen. Warum genügt es nicht, wenn der Einzeltrieb selbst Vorstellungsvermögen und Vorstellungskraft determiniert und aktiviert? Produziert der Einzeltrieb "autonom bestimmte Vorstellungen, die durch das Begehrungsvermögen dem 'Gesamtsubjekt' als begehrensund also realisierenswert appräsentiert werden, so daß dessen »Trieb« aktiviert wird? Eine Ursache der Schwierigkeiten scheint zu sein, daß Schleiermacher das Begehrungsvermögen als Vermögen der aktiven Triebbestimmung durch das Subjekt definiert, während Reinhold es umgekehrt passiv faßt als das Vermögen, durch den Trieb bestimmt zu werden. Dadurch ändern sıch die Bezüge zwischen Begehren, Trieb und Subjekt (bzw. genauer Vorstellungsvermögen und Kraft). 15

Schleiermacher weist selbst darauf hin, daß Kant dies für den Willen durchaus zugesteht. Vgl. 222,25-28,

1. Die Fähigkeit zu Situationstranszendenz

mung

und

sich von

Handlungsmovens

den

inneren

ist Bedingung

und äußeren

253

der Möglichkeit

Objekten

komplexerer,

des Begehrens

stufenweise

autonomer setzenden Selbstbestimmung im Sinne einer sich nach internen Gesetzen vollziehenden Verhaltensorientierung. Solche internen Gesetze bildet nun der Verstand, indem er - unterstützt durch die erinnernden

Appräsentationen der Einbildungskraft - aus verschiedenen einzelnen »Bestimmungen der Willkühr« und damit nach Maßgabe über ihre Subordination« hierarchisiert können sıe (226,25f., Hervorhebung

»gemeinschaftliche() Bestandtheile()« abstrahiert des »Erfolg(s)« dieser Bestimmungen »Urtheile verbindet (226,22-25). So formalisiert und »als Regeln für künftige Fälle gedacht werden« von mir), die mithin ihrerseits wieder in neue

Entscheidungssituationen

strukturierend

»Maximen«

(226,26).

Die praktische

ein-gebildet Vernunft

werden

schließlich

können:

als

kontrolliert

die

mit der induktiven Genese bleibend verhaftete 'Restkontingenz' verständiger Maximen und Maximenkomplexe, indem sie die »Totalität der Maximen« als »Einheit« (227,35; Hervorhebung von mir) faßt und insofern dazu

nötigt, alle Einzel-Maximen auf ıhre Kompatibilität und Kohärenz mit allen möglichen anderen Maximen hin zu überprüfen. Wegen der aufgrund ihrer empirischen

Entstehung

prinzipiell unabschließbaren

Anzahl

der Maximen

(vgl. 227,39: »wegen der unendlichen Menge möglicher Maximen«) - und, wie man hinzufügen muß, wegen der beschränkten Kapazität endlicher Subjekte, die selbst dıe Darstellung der bisher entwickelten Totalität unmöglıch macht - kann dıes aber nur so geschehen, daß dıe Vernunft anstelle der ausgeführten Totalität die »/dee eines solchen Systems« (228,2f.; Her-

vorhebung von mir) bildet und neue Maxtimen daran prüft und damit Maximen und Maximenbildung gleichsam unter permanenten Kohärenzdruck stellt, ohne daß diese Kohärenz jeweils vollständig darstellbar würde. Die Vernunft ist deshalb »bei jeder Handlung des sittlichen Menschen thätig« (228,5f.).

Verstandesmaximen und ihre vernünftige Systematisierung sind freilich allein zur Verhaltensorientierung nicht hinreichend; sie bleiben innerpsychisch ohnmächtig, wenn ihnen nicht eine Beschaffenheit des Begehrungsvermögens korrespondiert, dıe dieses dazu befähigt, »die Idee der

Darstellung seiner Maximen in einzelnen Fällen« als »Objekt des Triebes« haben zu können

(226,27f.).

Eben dies charakterisiert den

Willen.

Er ıst -

wenn inm denn tatsächlich Maximen als sıtuationsexterne Verhaltensregeln vorgestellt werden - »schlechterdings wıllkührlich« (226,29), da ihm immer zumindest dıe Alternative zur Regelbefolgung, also das naturalistische Sichtreiben-lassen, präsent sein muß und da die Konkretheit der Maxime immer auch deren materiale (bestimmte) Negation ermöglicht.

254

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

Bei dieser Rekonstruktion der anthropologischen Implikate des als erfahrungsevident ausgewiesenen Faktums situationstranszendenter Verhaltensorientierung

verbindet

Schleiermacher

ein

genetisch-evolutionäres

mit

einem definitorisch-spezifizierenden Vorgehen. Erscheint im ersten die Ausbildung und Verbindung von appräsentierender Einbildungskraft, abstrahierendem Verstand, systematisierender Vernunft und situationstranszendentem Willen als späte und voraussetzungsreiche Stufe ebenso der Evolution

der

Schöpfung

überhaupt

wie

der

Kindheitsentwicklung

jedes

einzelnen menschlichen Individuums, so im zweiten als hochgradig differenzierter Spezialfall des Vermögens zur Distanzierung vom unmittelbaren Nötigungscharakter sich imponierender Vorstellungsobjekte, eines Vermögens, das ın sehr allgemeiner und schwacher Ausprägung

auch den Tieren

eignet. Dabei entspricht dieses, von einer allgemeinen Aussage zu einer spezifischen Näherbestimmung fortschreitende Verfahren genauer Schleiermachers Darstellungsinteresse,. Es ermöglicht nämlich, als anthropologisch-psychologischen Grundsachverhalt, der in allen Momenten seelischer Existenz mitgesetzt ist, das willkürliche Begehrungsvermögen festzuhalten, das nun einerseits als Bedingung der Möglichkeit verständig-vernünftiger

Selbstbestimmung beständig präsent ist und so diese als Möglichkeit ın jedem Moment gewährleistet, andererseits Kann dadurch die Verwirklichung dieser Möglichkeit als kontingent, als nicht konstitutiv, ja als ungewöhnlich gekennzeichnet werden. Sowohl vernünftige als auch nichtvernünftige, nur-willkürliche Bestimmungen und Äußerungen des Begeh-

rungsvermögens bleiben so als menschliche Verhaltungen aussagbar und beschreibbar. Zwar weist auch die genetische Betrachtungsweise die vernünftige Selbstbestimmung

als evolutionäres Spätprodukt aus,

aber sie ist

nicht hinreichend abgesichert gegen die Tendenz, dıe höhere Entwicklungsstufe als Elimination der 'niedrigeren', gewissermaßen als den Normalfall aufzufassen.

1.2. Vorstellungstheoretische Implikate der moralischen Verbindlichkeit Genau die herausgearbeitete Konstellation anthropologisch immer möglicher, faktisch aber ungewöhnlicher Verhaltensbestimmung genügt nun aber Schleiermachers

Vorgabe,

dıe Frage nach den »Thätigkeiten«

(228,8)

des

Begehrungsvermögens nicht als theoretische - nach dem Verhältnis der »Art der Wirksamkeit psychologischer Kräfte zu der Art der Wirksamkeit anderer physischer Naturkräfte« (228,36 - 229,1) -, sondern nur als praktische zu behandeln,

und das heißt,

nur nach

Maßgabe

dessen,

wie »die Hand-

1. Die Fähigkeit zu Situationstranszendenz

255

lungsweise des Begehrungsvermögens« beschaffen sein muß, um jederzeit die moralische Verbindlichkeit zu gewährleisten (vgl. 229,23-25). Denn für

dıe Idee der Verbindlichkeit zu sıttengesetzgemäßem Verhalten - für die als Idee im übrigen, wie Schleiermacher schlüssig nachweist (vgl. 230,22 232,15), die materiale Bestimmtheit des jeweiligen Sittengesetzes gleichgültig ıst, da jedes, auch das »empirischste()« (231,8) Sittengesetz eine gewisse rationale Strukturiertheit und Zentrierung (vgl. 230,31 - 231,7), also

einen gewissen Grad von orientierender Situationsdistanz und deshalb die Möglichkeit und Faktizität des »Streit(es) des Begehrungsvermögens mit dem Gesez« (231,7f.), und schließlich vor allem subjektive Verbindlichkeit ımplızıert - für diese Idee ıst es keineswegs notwendig, sondern vielmehr

sogar unmöglich, das Gesetz als »Naturgesez des Begehrungsvermögens« (230,2f.) zu fassen; denn dann müßte es alternativelos gelten, und das Begehrungsvermögen gewönne so gewissermaßen Instinktcharakter. Hinreichend und angemessen ist das Verständnis des moralischen Gesetzes als das »hypothetische Naturgesez der Vernunft für den Willen« (230,9, Hervorhebung von mir). Damit ist der Tatsache Rechnung getragen, daß die Vernunft »keine allgemein physisch nothwendige Herrschaft über das Begeh-

rungsvermögen ausübt (...), daß ihr der Natur nach unbestimmter zufälliger Einfluß auf das Begehrungsvermögen« aber »dennoch in Jedem denkbaren einzelnen Fall groß genug seyn« kann, »um aller anderweitigen Triebe ohngeachtet dasjenige wirklich zu machen, was ıhrem Gesez gemäß ist« (230,13-18; Hervorhebung von mir). Auf eben dieser Möglichkeit der »Unterordnung aller Seelenvermögen ın einzeinen Fällen« (230,19) basiert die Verbindlichkeit, ebenso wie sie die Verwendbarkeit des Sittengesetzes als des »einzige(n) Maaßstab(s)« für die Beurteilung des »innern Werth(es)« oder der »Vollkommenheit des Subjekts« bedingt (230, 10f.).

Allerdings steht die vorstellungstheoretische Rekonstruktion des Geschehens dieses Dominantwerdens des Sittengesetzes im Begehrungsvermögen noch aus. Eine solche Rekonstruktion ist auch dann nötig, wenn es nur um die Möglichkeit dieses Dominantwerdens um der Verbindlichkeit willen

geht. Klar ıst, daß das Begehrungsvermögen

hier weder als Instinkt noch

rein als Willkür, sondern präzise als Wille anzusprechen ist. Denn es hat als

Objekt nicht beliebige Einzelfälle als solche, sondern Konkretionen des von den Einzelfällen abstrahierenden und abstrahierten Gesetzes in Hinblick auf Einzelfälle, mithin Maximen (vgl. 232,31-35). Der Wille muß aber nicht

allein durch bestimmbar

gesetzgemäße, sein,

wenn

sondern

auch

durch

gesetzwidrige

anders das Sittengesetz nicht Naturgesetz

Maxımen für den

Willen und dieser damit ıpso facto 'Vernunftinstinkt' sein soll; er muß also an sich unbestimmt sein (vgl. 233,7f,.: »natürliche Unbestimmtheit des Wil-

256

Il. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

lens«).

Zugleich

müssen

Verstandesmaximen

und

»Aussprüche«

(233,14)

der Vernunft gemäß den vorstellungstheoretischen Prämissen Objekt eines Triebes werden können, und d.h.: einen spezifischen, auf ihre Realisierung hingerichteten Einzeltrieb konstituieren. Dies geschieht, indem sie sich dem Willen

ın Gestalt

eines

spezifischen

Gefühls

implantieren

(vgl.

233,23).

Hier sind der schulphilosophische Terminus des moralischen Sinnes und der

Kantische der Achtung fürs Gesetz funktionsäquivalent!6. Dieses Gefühl, dieser durch das vernünftige Sittengesetz bestimmte Einzeltrieb wird im Willen genau dann dominant, wenn es ihm gelingt, in einem »Zeittheil« (234,21) den Gesamttrieb auf sein Objekt »mit Ausschluß aller übrigen« (234,23) festzulegen, und zwar so vollkommen, »daß darauf eine Thätigkeit

irgend eines physischen Vermögens erfolgen kann« (234,21f.). Wodurch gerade dieser speziellen Gestalt der des Begehrungsvermögens motiviert

gemäß jener Bestimmung des Triebes kann nun aber das »Uebergewicht()« »willkührlichen Bestimmungsgründe« und veranlaßt sein (vgl. 234,24-26)?

Kriterium der Beurteilung »alle(r) hiebei denkbaren Fälle« (234,28) ıst, inwieweit die Veranlassung eben dieser Gestalt entspricht und sie im Begeh-

rungsvermögen durchsetzt. Grundios kann das Übergewicht jedenfalls nicht sein, da es dann dergestalt als zufällig gedacht werden

muß,

daß es keine

Möglichkeit des Begehrungsvermögens selbst darstellt und insofern nicht verbindlich sein kann (vgl. 234,30 - 235,17). Die Dominanz kann sich auch nıcht einzelnen äußeren Objekten, ebensowenig wie einzelnen »ınnerbalb unsers Subjekts vorgestellten Objekten« (236,8) als »ındıviduelle(n) Gegenstände(n) irgend eines Triebes« (236,9) verdanken, da dann dem Begeh-

rungsvermögen eine bestimmte, durch keine innerliche Bestimmtheit des Subjekts modifizierbare Qualität und Quantität des Einflusses vorgegeben 16

Schleiermacher verteidigt hier die Konzeption des moralischen Sinnes gegen den Kantıschen Vorwurf, daß ein solcher Sınn der Appräsentation eines Vernunftgeserzes keineswegs bedürfe, da ihn die Lust an einem als vernunftgemäß vorgestellten empirischen Objekt des Begehrungsvermögens allein hinreichend bestimme (vgl. 233,30 - 234,1). Denn auch die »empirischen Systeme« (233,34) lehren, so Schleiermacher, keine unmittelbare Bestimmtheit des moralischen Sinnes durch empirische Objekte; das zeige sıch daran, daß etwa dıe Ortentierung an »Vollkommenheit und Glükseligkeit« jedenfalls keine unmuttelbaren empirischen

Korrelate hat, sondern vieles enthält, was demje-

nigen »widerspricht, was ihr auf den ersten Anblık zu entsprechen scheint« (234,3-6). Allerdings läßt Schleiermacher keinen Zweifel daran, daß) dıe Kantische Fassung der »Achtung fürs moralische Gesez der Vernunft auf eine viel unmittelbarere und vollkomnere Weise angehört (,) da dieses Gesez ganz alleın aus der Idee der reinen Vernunft entstanden ist« (234,8-11). - Schleiermacher argumentiert hier exakt genauso wie in hG. Er kritisiert die Ambivalenz der Schulphilosophie zwischen Empirie und reiner Vernunft und lobt Kants Fassung des reinvernünftigen Sittengesetzes. Vgl. oben Kap. 4, 1.1.

1. Die Fähigkeit zu Situationstranszendenz

ist, wodurch

es instinktgleich wirkt (vgl. 235,31-33).

257

Wirkliche orientie-

rende Distanz von äußeren und inneren Zuständen ist nur möglich und dem Subjekt als Pflicht zusprechbar, wenn es innersubjektive Leistungen gibt,

die das Subjekt selber seinem Begehrungsvermögen zu dessen Bestimmung imponieren kann. Diese 'Leistungen' können aber nicht in einem beständig verfügbaren Vermögen bzw. in einer graduell fixierten, habituellen Reali-

sierung dieses Vermögens bestehen, da dann in bezug auf das einzelne Subjekt entweder vernünftige Verhaltensorientierung prinzipiell aktualisiert wäre und das Sittengesetz damit Naturgesetz würde oder aber umgekehrt die prinzipielle Unmöglichkeit sittengesetzgemäßer Willensbestimmung eingestanden werden müßte, was die Verbindlichkeit aufhöbe (vgl. 236,36 237,6). Wenn also weder Einzelobjekte noch dauerhafte innerpsychische Zustände ein Begehrungsvermögen

so motivieren können,

daß es in seiner

aktiven Selbstbestimmung sich als Wille aktualisiert, dann bleiben nur übrig kontingente und konkrete innere Verhältnisse, Kontingente Aktualisierungen

der immanenten Vermögen, die sich nicht auf einzelne Objekte (Vorstellungen) beziehen. Das kann nur bedeuten: das Übergewicht des das Sittengesetz »repräsentirenden« (250,4, vgl. 236,36f.) Triebes in einem Moment des Begehrungsvermögens hat seinen Grund im vom Subjekt selbst

hergestellten (synthetisierten) Zusammenhang aller konkreten momentanen Äußerungen der Seelenvermögen und in deren damit gegebenem aktuellen Verhältnis zueinander oder in Schleiermachers Worten: »in dem Totale der gegenwärtigen Vorstellungen, und ın dem [sc. faktischen] Zustand und den

Verhältnißen aller Seelenvermögen gegen einander, welche durch den Gang der Vorstellungen ın unserer Seele 238,2, Hervorhebungen von mir).

hervorgebracht

werden«

(237,37

-

Ganz offenkundig rekonstruiert Schleiermacher hier mit den Mitteln der Reinholdschen Vorstellungstheorie dıe Konstellation, dıe er in hG ım Kontext des Verhältnisses von vernünftiger Sittenlehre und Glückseligkeitslehre und im »Freiheitsgespräch« in schulphilosophischer Terminologie herausge-

arbeitet hatte. Mußte sich ın hG das Sıttengefühl als Repräsentant des Sıttengesetzes im Ensemble der 'pathologischen' Neigungen durchsetzen und war dies begünstigt durch die Harmonie dieser Neigungen untereinander,

die allerdings nicht durch die Vernunft selbst, sondern durch die Kunstre-

geln der Glückseligkeit zu bewirken war!’; konnten im »Freiheitgespräch« diejenigen klaren Vorstellungen, die dıe deutlichen Vorstellungen des Sıttengesetzes repräsentierten, im Ensemble der klaren Vorstellungen genau

dann und genau deswegen verhaltensorientierend werden, 17 Vgl. oben Kap. 4, 1.4.

wenn

und weil

258

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

sie dem Subjekt ein in sich harmonisches und darum attraktives und erstrebenswertes Ideal seiner Selbstentfaltung vorstellten und damit ein Kriterium von und zugleich ein Movens zu gegenwärtig-konkreter und zukunftsträchtiger (dauerhafter) Luststeigerung und Unlustminderung, und d.h.: zu

harmonischer Entfaltung aller Seelenvermögen anboten]!®; so ist es jetzt der momentane Gesamtzustand der Seele bzw. genauer die dem Subjekt als Leistung zuzurechnende synthetisierte Einheit aller momentanen Seelenbewegungen, die jeweils so beschaffen sein können muß, daß der das Sittengesetz appräsentierende und individualisierende Trieb das Begehrungsvermögen zu sittengesetzmäßigen Handlungen motiviert. Noch deutlicher wird dıe Parallelität und Kontinuität zum »Freiheitsgespräch« bei der Beschreibung des Verhältnisses der konkreten Veränderungen und Bestimmungen des Vorstellungsvermögens zu denen des Begehrungsvermögens,

die zusammen den Gesamtzustand des Subjekts ausmachen, wenn man diese Beschreibung vergleicht mit der Darstellung des Verhältnisses von Empfindungskraft und Einbildungskraft dort. Denn ebenso wie die momentane Kapazität und Qualität des Empfindungsvermögens die konkrete Appräsentation von Vorstellungen durch die Einbildungskraft limitiert und qualitativ definiert, ebenso limitiert und definiert der gegenwärtige Zustand des Vorstellungsvermögens den Bereich möglicher Tätigkeiten des Begehrungsvermögens (vgl. 237,11-19) und prägt dadurch ın der Sukzession der Momente auch dessen konkrete Ausprägung. Denn er legt fest, welche inneren Objekte auf Veranlassung wie diese äußeren Objekte durch

äußerer Objekte entstehen können und ihre »Erkenntniß« »modificirt« werden

(237,27) - wie subjektiviert und in welchem subjektiven Zusammenhang der »Ideenverbindung« Objekte mithin dem

Begehrungsvermögen

appräsentiert

werden und dieses »affıcıren« (237,23-25), er entscheidet zudem, ob und wie Einzelfälle zu Maximen abstrahiert und formalisiert und damit als mögliche Objekte des willkürlichen Begehrungsvermögens für dieses allererst erfaßbar gemacht werden; er bedingt schließlich die formale und materiale Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Vollzugs jenes »Vernunftschluß(es)«, ın dem über die Sittengesetzmäßigkeit der konkreten Maxime geurteilt wird (vgl. 237,32-34).

Das Vorstellungsvermögen in seiner kontingent-konkreten

Ausprägung fungiert mithin als ununterbrochen tätiger Filter möglicher äußerer Objekte des Begehrungsvermögens und produziert zugleich, indem es diese Objekte internalisiert, dabei modifiziert und ggf. (!} zu Maximen rubriziert und formalisiert und unter Umständen (!) in den Zusammenhang

des vernünftigen Sittengesetzes stellt, seinerseits unabhängig innere Objekte 18 Vgl. oben Kap. 4, 2.

l. Die Fähıgkeit zu Sıtuationstranszendenz

259

des Begehrungsvermögens. Schon deshalb - weıl das Begehrungsvermögen nie unmittelbar und völlıg ohne Beteiligung subjektiver Selbsttätigkeit von

einem

externen

Objekt

bestimmt

werden

kann

und

weil

ıhm

mit dem

äußeren Objekt auch immer innere »coafficirende() Objekte« (238,16) mitappräsentiert werden - kann es nie als Instinkt erscheinen. Aufgrund der ununterbrochenen Appräsentationstätigkeit des Vorstellungsvermögens Ist es selbst ununterbrochen tätıg: »Die Thätigkeiten desselben wechseln so reich-

lich und so schnell, als nur immer der Fluß der äußeren Dinge wechseln kann; in jedem

Augenblik

ist nicht nur Leben,

sondern überschwengliches

mannigfaltig thätiges Leben ın ihm; Sinne

Fantasie Verstand und Vernunft

lassen

wählt,

es

nimmermehr

ruhn;

es gelüstet,

begehrt,

beschließt

und

handelt in jedem Moment seines Daseyns« (238,17-22). Ganz deutlich ıst jetzt Schleiermachers radıkale Kontextualisierung und Situationseinbindung vernünftiger Verhaltensorientierung. Wenn die Vernunft lange nicht ın allen Fällen der Objektappräsentation zu Rate gezogen werden kann; wenn sie selbst die Überprüfung verstandesmäßiger Maximen keineswegs immer vornehmen kann, der Vollzug dieser Überprüfung jeden-

falls abhängig

ist von der Perspektivität des momentanen

Vorstellungsvermögens

(vgl. 239,15-25),

wenn

Zustandes des

sie schließlich

neben

Sin-

nen, Fantasie und Verstand nur eine unter mehreren objektproduzierenden Instanzen

darstellt:

dann

ıst es zwar jederzeit möglich,

daß

Konkretionen

des Sittengesetzes dominierendes Objekt des Begehrungsvermögens werden, aber nicht unbedingt wahrscheinlich. Und es verdankt sich dies nicht dem Sittengesetz

selber,

sondern

einer komplexen

Konfiguration

andrıngender

externer (sinnlicher) Objekte, kontingenter interner Resorptionen und Modifikationen dieser Objekte, interner deutender und formalisierender Verstandestätigkeit und Produktion interner Objekte ete., mithin dem unüberblickbaren

und

nur bedingt

steuerbaren

seelischen

Gesamtzusammen-

hang, wenn das Sittengesetz verhaltensleitend wird. Doch mit dem Aufweis dieser jedesmaligen Möglichkeit, d.h. genauer mit dem

Nachweis

haltensorientierung

der ausgeschlossenen

Unmöglichkeit vernünftiger Ver-

tst

praktisch-philosophisches

Schleiermachers

Argu-

mentationsziel erreicht. Es ist von der inneren Struktur der menschlichen Seele her immer denkbar, daß der das Sittengesetz repräsentierende Trieb

stärker ist als der stärkste andere Trieb. Die »Thätigkeiten meines Begehrungsvermögens« können ımmer »durch den Zustand meiner moralischen Vorstellungen verändert werden« (239,37-40), und auch für diese läßt sıch kein Fall denken, wo sie nicht stärker sein könnten als die entgegengesetzten (vgl. 239,40 - 240,3).

260

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit« 1.3. Das Begehrungsvermögen als Instanz der Individualisierung

Angesichts dieses Ergebnisses scheint Schleiermachers Aufwand an subtilsten Analysen innerseelischer Interdependenzen allzu hoch. Es ist aber eben dieser

Aufwand,

der es

ihm

erlaubt,

eine

individualisierte,

kontextuali-

sierte, temporale und soziale Mehr-Perspektivität erfassende, Dependenzen der Existenzvollzüge des Subjekts von vergangenen ihrerseits multidependenten eigenen (und fremden) Existenzvollzügen nicht nur abstrakt und pauschal nennende, sondern differenziert benennende und deshalb eine Rekonstruktion der zugleich kontingenten und 'regelmäßigen‘ (durch Kau-

salwirkungen erfolgten) Genese des individuellen Subjekts ermöglichende Beschreibung der conditio humana beizubehalten und in gesteigerter Weise weiterzuführen und so gerade für eine realistische und facettenreiche Konzeption sittlich-vernünftiger Verhaltensorientierung und individueller und sozialer Verhaltensbeurteilung und Verhaltensbeeinflussung fruchtbar zu machen. Dieser Aspekt wird deutlicher, wenn man sich vor Augen führt, daß beı vollständiger Interdependenz der menschlichen Seelenvermögen und ihrer jeweiligen und jederzeitigen Aktualisierungen!? ja das Begehrungsvermögen nicht nur passiv den andringenden "Affektionen' des Vorstellungsvermögens ausgesetzt ıst, sondern umgekehrt durch seine eigenen daraufhin erfolgenden »Thätigkeiten« ipso facto den Gesamtzustand der Seele verändert, das Verhältnis der Seelenregungen untereinander modifiziert und so seinerseits Einfluß auf die 'Richtung’, die konkrete Ausformung der Rezeptivität und Spontaneität des Vorstellungsvermögens nımmt,

und

daß

es

diesen

faktischen

Einfluß

-

ındem

es

ıhn

reflex

wahrnimmt‘ und prospektiv in die Steuerung seines Selbstvollzugs aufnimmt - intentional verstärken und prägend variieren kann. Erst so - wenn das Begehrungsvermögen als ein solches beschrieben wird, das aufgrund einer Sukzession eines Wechsels kontingenter, unverfügbarer Einflüsse und

(zunächst

unstrukturierter,

dann

aber

aufgrund

der

Ansammlung

von

Erfahrungen sich selbst strukturierender) Selbsttätigkeit das wird, was es ist, und das mithin zugleich abhängig und autonom, oder genauer: das zur

Autonomie

genetisiert und immer

neu zu genetisieren ist - erst so kann

Individualität als nie definitiv fixierbares Resultat seiner konkreten Genese,

als situationsabhängig und situationssensibel und zugleich als allgemeinheitsfähig gedacht werden. Denn erst mit der aufgewiesenen Möglichkeit

19 „Kurz (‚) es ist umsonst den Menschen zu theilen, alles hängt an ıhm zusammen, alles ist eins«, 241,38.

1. Die Fähigkeit zu Situationstranszendenz

261

selbsttätiger Beeinflussung des psychischen Gesamtzustandes?® durch einen ın der Individualität des Gesamtzustandes gegründeten individuellen Teil des Gesamtzustandes selbst lassen sich realistische (d.h.: die Individualität,

Partikularität, Perspektivität nicht negierende, sondern reflektierende) Möglichkeiten der tätigen 'Ausbreitung‘ der Konsequenzen aus der Einsicht in dıe wesentliche (vernünftige) menschliche Bestimmung auf die einzelnen Seelenvermögen und somit deren Ko- und Subordination denken. Erst so ist nach Schleiermacher auch das empirisch evidente »Interesse« (240,16) der spekulativ unverbildeten, dem »gemeinen Menschenverstand()« (240,13) folgenden Menschen an ihrer eigenen Seele und deren konkreten Zuständen

und Tätigkeiten sinnvoll und plausibel - wenn es denn nicht nur ein hinnehmend-unbeteiligtes, gleichsam historistisches Verhältnis zur eigenen Vergangenheit und Gegenwart (und Zukunft!) indiızieren soll, sondern die implizierte Annahme einer Veränderbarkeit und Verbesserbarkeit des Selbst im Sinne eines verantwortlich-ethischen Selbstverhältnisses. Erst die Ein-

sicht ın die vollständige Interdependenz der Seelenbewegungen ermöglicht schließlich, alle willkürlichen Momente

ın allen Vermögen,

d.h. alle Exı-

stenzvollzüge des Subjektes, dıe Selbsttätigkeit einschließen, auf den Einfluß des Begehrungsvermögens zurückzuführen. Damit ist einerseits die bestimmende Kraft des Begehrungsvermögens für die ganze Seele ausgesagt und also die mögliche Herrschaft des Willens über alle Seelenkräfte. Andererseits aber gilt dann, daß auch die oben beschriebene Selektivität des Vorstellungsvermögens, die dıe Tätigkeiten des Begehrungsvermögens anregt und limitiert, ihrerseits als auf einer Tätigkeit des Begehrungsvermögens beruhend bzw. genauer als »nothwendig dem Inhalt nach durch eine Thätigkeit des Begehrungsvermögens bestimt« (240,29f.) verstanden werden muß?].

Insofern ist das Begehrungsvermögen

die selbst in temporaler Ent-

20 Die Schranken dieser Einflußmöglichkeit liegen darin, daß das Begehrungsvermögen als Teil der Gesamtseele jeweils von den Veränderungen, ‘rückbetroffen' wird und daß auch der Einbau der Erwartung solcher in die eigenen Tätigkeiten‘ wiederum die Resonanz verändert etc. rungsvermögen nie - auch nicht als Wille! - eine vollends externe, gige Instanz werden kann. 21

die es initiiert, Rückbetroffenheit so daß das Begehsıtuationsunabhän-

Sogar die Fantasie als das Vermögen unwillkürlicher »[deenverbindung« (241,9) par excellence wirkt nicht ohne Zutun des Begehrungsvermögens, ındem sie nicht nur ın ihren Auswahlmöglichkeiten auf den Bereich der vergangenen Totalvorstellungen (vgl. 240,36) des Subjekts angewiesen ist, sondern vor allem auch ın der faktischen Auswahl selbst von den momentanen Vorstellungen selbst und von dem, »was vermöge derselben am meisten Objekt des in diesem Augenblik herrschenden und reizbarsten Triebes werden kann« (241,6-8), abhängig sein wird - welche gegenwärtige Konstellation wie

262

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

wicklung

individualisierte

Instanz

der

Individualisierung

des

Erlebens,

Deutens und Sich-Orientierens. Seine Akte begründen etwa die Differenz zwischen verschiedenen Einzelnen bei der Einordnung eines »Faktum(s)« (241,10) in Deutungskontexte (vgl. 241,10-14), differierende Konklusions-

reihen

aus identischen

Prämissen

(vgl.

241,14f.)

oder die Entwicklung

unterschiedlicher Interessen- und Kenntnisgebiete und unterschiedlicher Grade der Vertiefung ın dıe Wissenschaft (vgl. 241,13-26). In der Sukzes-

sion von Akten des Begehrungsvermögens verstärkt sich deren Selektivität, akkumuliert sozusagen Individualität, und in der erinnernden Ansammlung solcher Akte und ihrer Resultate generiert individuelle Erfahrung. Diese vermag

wiederum

verhaltensorientierend

zu wirken.

Sie ermöglicht

zwar

keinen sıcheren Schluß von der aus einem bestimmten Seelenzustand notwendig folgenden Handlung (weil sie diesen Gesamtzusammenhang auch retrospektiv nie vollständig überblickt22), wohl aber Wahrscheinlichkeits-

urteile, ob ein bestimmtes Mittel (eine bestimmte Einwirkung auf die eigene Seele) zur Erreichung eines bestimmten Zweckes geeignet ist (vgl. 242,2025)23,

2. Der Wert der Person als Summe von Verhaltensbeurteilungen Bewegten

sich Schleiermachers Überlegungen im ersten Abschnitt ganz im

Bereich der Frage nach derjenigen Beschreibung der innersubjektiven Verhältnisse, die sittliche Verhaltensorientierung als möglich aufzeigt, und damit wie hG und FG im Bereich der Grundlagenreflexion, so kehrt er im zweiten Abschnitt (244 - 298) mit der Thematik der Zurechnung

den

Problemlagen,

nämlich

zu den

die

Problemen

die

Aristoteles-Anmerkungen

zurück zu

bestimmt

hatte,

(der Darstellung) von Selbst- und Fremdbeob-

achtung, Selbst- und Fremdbeurteilung, operativer Funktion und Wirkung solcher Beobachtungen und Beurteilungen und deren Kommunikation, also zu dem Zusammenhang von Individualisterung, Sozialisierung und Versittlichung, den dıe Interpretation als Ausgangskomplex der Theorieent-

wicklung Schleiermachers herausgearbeitet hatte?*. Lag dort allerdings der gezeigt nıcht ohne Begehrungsvermögen 241,10.

zustande kommt.

Vgl.

insgesamt 240,30

22

So auch WL: vgl. unten Kap. 6, 1.2.

23

Dies entspricht im übrigen dem wissenschaftstheoretischen Status ethischer Aussagen bei Aristoteles; vgl. NE I,1; 1094b 11-27.

24

Vgl. oben Kap. 1.

-

2. Der Wert der Person als Summe von Verhaltensbeurteilungen

263

Akzent auf der Erfassung mehrstelliger Kommunikationen, wechselseitiger Integration von Selbst- und Fremdwahrnehmungen etc., so jetzt auf dem Problem moralischer Beurteilung angesichts der Einsicht in die Kontingenz und Umstandsabhängigkeit der Genese konkreter Verhaltensorientierungen. Denn hängt die Verhaltensornientierung vom jeweiligen Gesamtzusammenhang der Äußerungen aller Vermögen der Seele ab und dieser Gesamtzusammenhang

jeweils

von

den

Totalität der Seelenäußerungen, Bereich

der frühen

Kindheit

vorangegangenen

Konkretisierungen

der

dann läßt sich dieser Regreß bis in den

weiterführen,

wo

dıe Selbsttätigkeit

noch

so

wenig ausgeprägt ist, daß von Verantwortlichkeit keine Rede sein kann, und es wird fraglich, inwieweit überhaupt noch Handlungen dem Subjekt zugerechnet werden können, da sie sıch ja alle letztlich dıesen 'Vorent-

scheidungen' verdanken, die in der Kindheit gleichsam ohne sein Zutun über es getroffen worden sind (vgl. 244,18-34). »Wenn die Gründe zu jeder Handlung in der vergangenen Zeit hinreichend und unabänderlich bestimmt sınd« (244,21-23),

wird aber nicht nur Lob oder Tadel

als angemessenes

Folgeverhalten der Beurteilung fremder Handiungen problematisch angemessener scheint dann Neid oder Bedauern oder jedenfalls ein

Raisonnement über die Ungerechtigkeit der »Weltregierung« (245,2)

-,

vielmehr scheint sich dabei auch alles »beharrliche()« (257,24) im Subjekt »in äußere Eindrüke« (257,20) aufzulösen, die wiederum aus dem Zusam-

mentreffen einer bestimmten kontingenten »Stimmung der Seele« (257,17) mit äußeren Objekten entstehen. Schleiermacher geht es nun darum zu zeigen, daß die für dıe Sittenlehre notwendige (vgl. 246,1-3) Idee der Zurechnung nicht nur vereinbar ist mit seinem »Determinismus« (244 ,6f.), sondern daß die Annahme einer umfassenden Determination von Seelenzuständen und Handlungen eines Subjekts durch seine vorhergehenden Seelenzustände und Handlungen umgekehrt sogar notwendige Voraussetzung des Vollzugs der Zurechnung bei sıch und anderen ebenso wie der personalen Kontinuität und damit einer moralischen Selbstzuschreibung vergangenen Verhaltens als eigenen und eines Verhält-

nısses des gegenwärtigen Zustandes des Einzelnen zu seiner Vergangenheit ist. Zurechnung

ist nämlich

»das

Urtheil

(‚) wodurch

einer Handlung« - die in ihrer Übereinstimmung tengesetz liegt - »auf denjenigen der sie gethan Urtheil über dıe Handlung einen Theil unseres ausmacht« (247,32-34). Für dıe Zurechnung 25

wir

die Sittlichkeit

mit dem vernünftigen Sithat übertragen so daß das Urtheils über seinen Werth ist deshalb nur nötig die

Zu diesem Thema vgl. ausführlich WL (unten Kap. 6).

264

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

Wahrnehmung der Handlung und die Kenntnis des Sittengesetzes, sie vollzieht sıch als Vergleich der von ıhrem Kontext abstrahierten Handlung mit dem

Sittengesetz und Applikation des Resultates dieses Vergleichs auf die

Person des Handelnden; einer Kenntnis des konkreten Kontextes der Handlung, ihrer Vorbedingungen und einschränkenden Umstände bedarf sie nicht.

Allerdings nimmt sıe über die Erfassung der konkreten Handlung selbst deren Individualität auf und trägt sie gewissermaßen in die MoralitätsAkten des zu beurteilenden Handelnden ein. Der »Werth« der Person als das Verhältnis dessen, was einer ist, zu dem, was er nach Maßgabe Sittengesetzes sein soll (vgl. 250,25f.), wird dann ermittelt durch

Akkumulation Einzelhandlungen

möglichst

vieler

(vgl.

250,29-34),

Einzelurteile und

wird

über darum

solche auch

des die

konkreten durch

jedes

hinzugefügte Einzelurteil präzisiert und modifiziert. Es ergibt sich damit ein immer exakteres,

immer stärker individualisiertes Profil der, wenn

man

so

sagen darf, moralischen Leistungsfähigkeit eines konkreten Subjekts; die Kenntnis dieses Profils ermöglicht dann auch Prognosen darüber, wie der Betreffende sich in ähnlichen wie den subsumierten Fällen verhalten wird (248,1f.), jedenfalls »solange sich der Werth eines Subjekts nicht ändert« (251,7). Ein solches ja durchaus individuelles Profil kann auch dann erstellt werden, wenn über die individuellen Motive, die biographischen Bedingtheiten des Handelnden und über die momentan dessen Selbsttätigkeit einschränkenden externen Faktoren nichts bekannt ist. Denn es impliziert keinerlei Aussagen darüber, wie eine Handlung erfolgt ist (vgl. 250,9-15), sondern

benötigt nur das Wissen, daß diese Handlung - wie auch immer genötigt, wie auch immer faktisch unabwendbar - von diesem Handelnden vollzogen wurde. Zurechnung ıst deshalb ohne weiteres kompatibel mit einer Theorie des notwendigen determinierenden Kausalzusammenhanges,

wenn diese die

Möglichkeit eines willkürlichen und darüberhinaus eines durch die praktische

Vernunft

vermittels

eines diese »repräsentirenden«

(252,14)

Triebes

bestimmbaren Begehrungsvermögens einschließt (vgl. 249,35 - 250,4); und ebendies hatte Schleiermacher im Ersten Abschnitt aufgezeigt. Für die Zurechnung genügt auch der dort geführte Nachweis, daß ın jedem Moment der das Sittengesetz repräsentierende Trieb das Begehrungsvermögen prinzipiell (d.h.: von der Anlage des Subjekts her) dominieren kann. Denn diese prinzipielle Möglichkeit ıst nıcht dadurch ausgeschlossen, daß sıe faktisch »ın der gegenwärtigen Zeıt und ın dieser Reihe von Wahrnehmungen« (253,

21) nicht realisierbar war; das Urteil der Vernunft abstrahiert ja von der »Zeitbestimmung« (253,22) und bleibt deshalb unabhängig davon gültig.

3. Verhaltensbeurteilung und Interesse am konkreten Änderen

265

3. Unparteiische Verhaltensbeurteilung und Interesse am konkreten Anderen Diese Abstraktion von der Bedingtheit der konkreten Situation fällt leichter bei der Beobachtung fremder Handlungen (vgl. 254,8-18), bei der die Kenntnis der Vorgeschichte und der Einblick in die innerpsychischen Prozesse und Zustände ohnehin eingeschränkt und bei der der Beobachter ım Normalfall weit weniger unmittelbar involviert ist. Das bedeutet aber keineswegs, daß die neutrale Beurteilung der Sittlichkeit der Handlungen Anderer die Haltung und das Verhalten gegen diese und die Erwartungen über deren zukünftiges Verhalten allein und entscheidend prägt. Unter der für den Begriff der Zurechnung selbst sekundären Frage, »wie die zurechnenden Urtheile unsere Empfindungen und unser Betragen gegen andere

bestimmen » (255,38 - 256,1), untersucht Schleiermacher, wie aus dem für die Zurechnung konstitutiven Übertrag des Urteils über Einzelhandlungen auf die Person nun doch ein Interesse für deren faktisch-kontingente Zustän-de und Beweggründe entspringt, wie nur der Zusammenhang und die Interdependenz dieser zwei Beobachtungs- und Beurteilungsraster das Verhalten gegen sie motiviert, anstößt und prägt und wie für die Ausbildung

eines mit Recht so zu nennenden Verhältnisses zu dieser Person - bei dem dıe Beobachtungen und Beurteilungen nämlich auf den Beobachter rückwirken,

den

Beobachtungs-

und

Beurteilungsakt

seinerseits

infizieren

und

Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung implizieren - die Konzeption des notwendigen Kausalkontinuums entscheidende Bedeutung gewinnt. Zu diesem Zweck prüft er, welche Wahrnehmungen, Annahmen und Folgeschlüsse über den konkreten Zustand des handelnden Subjekts ın der beurteilenden Zurechnung einer Handlung eingeschlossen sind. Wenn auch für dıe Zurechnung keine vollständige kausale Herleitung der ınnerpsychischen Genese der der Handlung entsprechenden Bestimmung des Begeh-

rungsvermögens nötig und möglıch ıst (vgl. 259,3-5), so kann und muß sie doch immerhin annehmen, daß der Zustand des Begehrungsvermögens des Handelnden im Moment der Handlung jedenfalls so beschaffen war, daß eben diese Handlung daraus entspringen konnte. Daraus läßt sich wenigstens erkennen, daß dıe Summe der »sinnlichen Begehrungen und Verabscheuungen« (260,24f.} größer oder kleiner und damit als Bewegungsgrund des Begehrungsvermögens stärker oder schwächer war »als die Begehrungen und Verabscheuungen des sittlichen Triebes« (260,26)2°. An diese

Erkenntnis 26

schließen

sıch dann

Erwartungen

darüber an,

welche

Hand-

Bemerkenswerterweise werden hier in Kantischer Weise sinnliche und sittliche »Bewegungsgründe« (260,23) einander gegenübergestellt.

266

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

lungen das so bestimmte Begehrungsvermögen »ın andern ähnlichen Fällen«

(260,28) ınıttteren wird. Zu diesem Zweck entwickelt der Beobachter sich »ein lebendiges Bild von dıeser Seele« (260,30), ın dem er deren Dynamik aufgrund der ıhm in der Handlung sichtbar gewordenen und nach Analogie

mit eigenen Seelenzuständen (vgl. 263,17.) und nach Maßgabe der Kenntnis psychischer Prozesse überhaupt differenziert rekonstruierbaren

inneren

Verhältnisse der »verschiednen Kräfte und Neigungen« (260,30f.) zu erfassen und dabei sogar die Veränderungen dieser inneren Verhältnisse hochzurechnen versucht, die sıch aus der ın ihnen gelegenen konkreten Unterund Überordnung der verschiedenen Neigungen und Kräfte und den dadurch entstehenden Evolutionsvorteilen bzw. -behinderungen mit Wahr-

scheinlichkeit ergeben werden?’. Da der »Werth« einer Person sich in einer Akkumulation von Einzelurteilen über einzelne Handlungen sukzessive präziser bestimmen

läßt28,

muß

auch

das »Bild« von

den

konkreten

Seelen-

zuständen des Handelnden mit der Wahrnehmung und Beurteilung einer Vielzahl von Handlungen immer konturenreicher und differenzierter werden, muß es auch einen immer weiteren Bereich »ander(er) ähnliche(r) Fäljie()« (260,28) geben, für den prognostische Analogieschlüsse gewagt werden können. Andererseits fördert auch die Vertiefung des Beobachters in sıch selbst, seine wahrnehmende und beurteilende Selbstbeobachtung

seine

Fähigkeit,

(263,21f.)29,

»sich

Dieses

in

die

Verfassung

Bild von den

eines

jeden

realen »Verhältnißen

hineinzusezen«

dieser Seele«

(260,34) und den darın liegenden Verhaltenswahrscheinlichkeiten ist nun aber so komplex und facettenreich, daß der »Werth der Zustände« (260,38), d.h. der Wert des momentanen Gesamtzustäandes der Person nicht mehr

durch bloße Summation der einzelnen moralischen Verhaltensbeurteilungen bestimmt werden kann. Das »bloße moralische Gesez in seiner einfachen Gestalt« (260,39) muß vielmehr verdichtet werden zu einem »idealische(n)« (261,5) Gegenbild zu jener realistischen Zustands-Totale, welches Gegenbild ın analoger Komplexion und Lebhaftigkeit (vgl. 260,1) den Gesamtzusammenhang und die Verhaltensmöglichkeiten eines Begehrungsvermö-

gens vor Augen führt, »worin die nemlichen sinnlichen Neigungen aufstei-

27

Eine ähnliche Überlegung hinsichtlich der sich selbst verstärkenden Verschiebung der internen Balance der Neigungen findet sich bereits ın hG. Vgl. oben Kap. 4, 1.2.

28 Vgl. oben 2. 23

„(...) die Leichtigkeit (,) sich ın das Begehrungsvermögen

des beurtheilten Subjekts

hineinzudenken, {hängt} nicht blos von der Erfahrung dıe man an sich selbst (,) sondem größern Theils von den Beobachtungen die man an andern gemacht hat ab()«, 263,16-19.

3. Verhaltensbeurteilung und Interesse am konkreten Änderen

267

gen wie in dem zu beurtheilenden Subjekt (,) wo aber der die praktische Vernunft repräsentirende Trieb mit größerer Kraft und besseren Hülfsmitteln dagegenkämpft« (261,7-9). Nicht ganz deutlich ist allerdings, in welchem genetischen Verhältnis diese »Personifikation« (264,1) des diese Vorstellung einer idealen Person zu dem Bild der konkreten

Ideals, Person

steht, zu deren Beurteilung sie ja erzeugt wird. Einige Äußerungen lassen dıe Auslegung

zu, es handele sıch um

ein allgemeines

anthropologisches

Ideal, das dem konkreten Bild nur jeweils appliziert wird, aber völlig unabhängig von diesem ist. So vergleicht Schleiermacher etwa das Verhältnis der Handlungen betreffenden Empfindungen zu den Empfindungen gegen die handelnde Person mit den »Empfindungen die aus der Betrachtung schöner Kunstwerke (...) entstehn« (262,16-19) und sich daraufhin auch auf den Künstler beziehen, weist aber ausdrücklich hin auf den »Unterschied(),

daß wir hier niemals das Ideal eines Künstlers personificiren (,) weil die beste Ausführung eines jeden Werks nicht eine bestimmte einzige ist, sondern es mehrere für dıe Beurtheilung gleich gute aber in Absicht auf Charakter und Wirkung unterschiedene geben kann« (262,32-36), eine solche Pluralität scheint mithin in Hinblick auf das Ideal sittlicher Existenz nicht möglich zu sein. Schon der Anlaß der Produktion und die Funktion dieses Idealbildes - nämlich die Beurteilung des Bildes des konkreten Gesamtzustandes eines bestimmten Subjekts zu erleichtern - legen es Jedoch nahe, ein je dieser Person zugeordnetes, je individuelles Idealbild anzunehmen, das die je spezifische Ausprägung der Balance der Seelenkräfte berücksichtigt

und von hierher auslotet, wıe dıese bestimmte Konstellation, diese so konkretisierte

Existenz

aussehen

beständig

dominant

wäre.

könnte,

Diese

wenn

Deutung

in ihr der

bestätigt sich,

moralische

wenn

Trieb

Schleier-

macher auf den Einwand, eine so komplexe Personifikation des Ideals einer

sittlichen Person sei im ununterbrochen andrängenden Fluß von Verhaltensund Deutungsnötigungen gar nicht schnell genug herzustellen und deshalb für den operativen Gebrauch untauglich (vgl. 263,39 - 264,3), entgegnet, sie sei im Gegenteil völlig geläufig und alltäglich und werde deshalb kaum noch wahrgenommen: »beı der Beurtheilung unserer eignen vergangnen und künftigen Handlungen« (264,5f,; Hervorhebung von mir). Dabei »tdealisiren wir uns selbst (‚) um uns mit dem zu vergleichen, was wir würklich

gewesen sind« (264,14f., Hervorhebung von mir). Bei dieser funktionalen Selbstidealisierung »stellen wir immer unser Begehrungsvermögen im übrigen unverändert aber mit einem stärkern moralischen Triebe vor« (264,7f., Hervorhebung von mir) und ımaginieren, wie diese »unsere() zweite() Person« (264,11) sıch dann verhalten hätte - bis hın zum der ınne-

ren Einstellung entsprechenden körperlichen Habitus (vgl. 264,12-14).

Im

268

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

Blick auf zukünftige Handlungen kann das Subjekt die Selbstidealisierung gleichsam strategisch einsetzen, um sıch durch Vorstellung dessen, was ihm

bei gleichen möglich

Anlagen

aber beständiger

wäre, abzustoßen

Dominanz

des sittlichen Triebes

von der Fixierung der Selbstwahrnehmung

und

Zukunftsorientierung auf die eingeschränkten und defizitären Erscheinungsformen seiner gegenwärtigen Existenz. Das Subjekt versetzt sich selbst dabei

bewußt

in eine »Spannung«

(264,15)

von

konkreter Wahrnehmung

seiner defizitären Gegenwart und individuellem Ideal, um sich seibst von der realen Möglichkeit der betreffenden zukünftigen Handlung zu überzeugen und sıch damit zu deren Realisierung zu motivieren (vgl. 264,15-24). Die Pointe von Schleiermachers Argumentation ist nun eine doppelte: Erstens betrifft die beschriebene Einheit der »Spannung« zwischen konkre-

ter Wahrnehmung hung,

und konkretem, realem Ideal nicht nur die Selbstbezie-

sondern sie charakterisiert auch das »natürliche(} Gefühl{)« (265,27;

Hervorhebung von mir) gegen Andere. Zweitens gewinnt in diesem Zusammenhang Schleiermachers Konzeption des notwendigen Kausalzusammenhangs entscheidende Bedeutung. Das heißt aber nichts anderes, als daß die Rekonstruktion der Implikate der Akte von Zurechnung selbst zu theoretischen Erörterungen über das Zustandekommen konkreter Handlungen nötigt. Wie ıst das zu verstehen? Eın rein zurechnendes Verhältnis zu Anderen führt in mehrerer Hinsicht zu in sich immoralıschen und auch unrealistischen Konsequenzen für das Verhalten

und die Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Denn

es fixiert nıcht

nur die Person des Anderen auf den Zustand, den die moralische Analyse ergeben hat, und restringiert die Erwartungen in seine Entwicklungsmöglichkeiten, indem sıe diesen Zustand ın dıe Zukunft fortschreibt. Eben damıt macht der Zurechnende sıch vielmehr auch überraschungsresistent ım Blick auf den Anderen, er erwartet sich nichts mehr Neues von diesem. Der

Zurechnende stabilisiert dadurch zudem moralische Über- oder Unterlegenheitsverhältnisse zwischen sich selbst und dem Anderen; die diese begleitenden Gefühle der ohnmächtigen Bewunderung oder hochmütigen Verachtung verhindern eın den eigenen Zustand oder den des Anderen verbesserndes Verhalten. Diese stolze oder resignative Verhaltenslähmung wird ıhrerseits noch dadurch verstärkt, daß der Zurechnende, indem er den

Anderen auf sein analytısch festgestelltes "Moralitäts-Niveau’ festlegt, sıch der Möglichkeit begibt, über die Wahrnehmung der Entwicklung Anderer eigene Entwicklungschancen (und -risiken!) zu entdecken. Eine solche rein zurechnende

Perspektive

ist immoralisch,

weıl sıe das Sittengesetz als eın

Instrument der Zuschreibung unveränderlicher Qualitäten verwendet, was Versittlichung letztlich sistiert, da sie im Falle des Bewunderten unnötig,

3. Verhaltensbeurteilung und Interesse am konkreten Anderen

269

im Falle des Verachteten aber unmöglich ist?®; sie provoziert und stabilisiert darüberhinaus auch hybride oder fatalistische Selbstverhältnisse. Sie ist aber auch unrealistisch, weil sie Veränderliches als stabil wahrnimmt und behandelt und sıch damit arrogant oder apathisch gegen Umweltveränderungen desensibilisiert und sich nicht mehr darauf einstellen kann. Sie ist schließlich

ir sich widersprüchlich,

weil sie nicht umhin

kommt,

kontin-

gente (kontingent zustandegekommene) Zustände zu analysieren - wenn sie auch per definitionem von dieser Kontingenz abstrahiert.

Unrealistisch ıst auf Andere selbst, den Empfindungen ermacher weist an Handlungen

aber die Annahme einer rein zurechnenden Perspektive insofern damit phänomenologisch die sich je vollziehengegen Andere gar nicht zureichend erfaßt sind. Schleider zurechnenden Wahrnehmung besonders auffälliger

Anderer nach, daß die dadurch ausgelösten besonders

intensi-

ven Empfindungen selbst Reflexionen auf die natürlichen Entstehungsumstände dieser Handlungen anstoßen (vgl. 264,34-38). Dem »natürlichen Gefühl(« (265,27) genügt es nicht, die moralische Insuffizienz oder Verwerflichkeit einer Handlung einfachhin zu konstatieren; es drängt danach zu erfahren, wie diese Handlung im Kontext der Entwicklung dieser konkreten Person hat geschehen können; es lernt daraus, daß es auch ın der eigenen

kontingenten Entwicklung umstandsabhängig und unvermeidlich zu einer solchen Handlung hätte kommen können oder unter ungünstigen Bedingungen noch kommen kann, ebenso daß unter veränderten Umständen der Andere diese Handlung hätte vermeiden können und auch jetzt dadurch nicht vollends fixiert ist, sondern durchaus zur Moralität zurückfinden oder zurückgebracht werden kann; diese Einsicht in dıe Relativität und Vanabilität des moralischen Zustandes und der moralischen Entwicklung destabilı-

siert den Stolz und motiviert sowohl den Einsatz für die eigene tunlichste Vervollkommnung als auch für die sittliche Aufrichtung und Stärkung Anderer.

Die genaue Orientierung auch des dem »natürlichen Gefühl« entspringenden Handelns an der Versittlichung macht deutlich, daß es Schleiermacher keineswegs darum geht, dıe eindeutige, distanzierte Zurechnung durch ein mitfühlendes Sıch-Hineinversetzen, ein alles verzeihendes Verstehen zu ersetzen. Zwar führt die Einsicht in die kontextuelle Bedingtheit des

Verhaltens zu einer »Stimmung« (267,21), die Prinzipien der Zurechnung 30

y gl. Schleiermachers Aussagen darüber, daß die Annahme einer permanenten, konstitutiven Überlegenheit des sittlichen Triebes über das Ensemble der anderen Triebe keineswegs weniger als die Annahme einer duschgängigen Uhnterlegenheit des sıttlichen Triebes die Idee der Verbindlichkeit aufhebt, da sıe das Sittengesetz zum Naturgesetz

und damit den Willen zum Vernunftinstinkt macht. Vgl. 236,36 - 237,6 und oben 1.2.

270

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

aufzuweichen

und etwa die zurechnenden

mit den mitfühlenden

Empfin-

dungen zu vermischen oder den Zusammenhang zwischen Tat und Täter völlig aufzuheben (vgl. 266,12-30). Nach Schleiermachers Überzeugung

wäre aber auch das eine Abstraktion von der »Stimme unseres Herzens« (267,21), da mit der Zurechnung auch jene »Spannung« verloren ginge, die zu Verhaltensänderung antreibt. Im Hintergrund steht dabei freilich das Argument, daß die »Zusammenhaltung der menschlichen Gesellschaft« (267,22) gefährdet ıst, wenn mit der Verantwortlichkeit für das Zustandegekommensein der eigenen Handlungen auch die Zumutung_ sittlicher

Verhaltensorientierung aufgegeben werden muß. Leider bleibt der Zusammenhang zwischen unmittelbarer Herzensevidenz und dem Interesse an sozialer Ordnung unerörtert. Setzt Schleiermacher voraus, daß individuelles sittengesetzwidriges Verhalten ipso facto auch die Gesellschaft beschädigt und daß umgekehrt soziale Ordnung individuelle Moralität fördert, ebenso wie soziale Zerrüttung, die Aufweichung sozialer Beurteilungsmaßstäbe bzw. die Schwächung der Sanktionierungsbereitschaft bei Gesetzesverstößen die Bedingungen individueller und intersubjektiver Versittlichung schwächen, und zwar die subjektiven, die innere Bereitschaft zu sittlicher

Verhaltensbestimmung betreffenden Bedingungen wie die objektiven, innere und äußere Hindernisse der Versittlichung abbauenden, Versittlichung vorstellenden Bedingungen? Dann wäre in

Anreize der Tat

zur der

Zusammenhang von Empathie und Zurechnung, von Wahrnehmung der kontingenten, je individuellen Situation und Wahrung allgemeiner Urteilskriterien

als

unmittelbares

Implikat

des

Verhältnisses

zu

Anderen

anzu-

sprechen. Unklar ıst allerdings, inwieweit das Interesse an einer allgemein verbindlichen gesellschaftlichen Ordnung nicht vielmehr bereits die phänomenologische Beschreibung des »natürlichen Gefühls«, der »Stimme des Herzens« bestimmt oder gar systematisch begründet. Denn als Phänomenbeschreibung leuchtet zwar ein, daß das alleın zurechnend-fixierende Verhältnis zu anderen den realen Beziehungen zu diesen nicht gerecht wird, da sie Entwicklungsmöglichkeiten für diese sehen und erwarten und diese

Möglichkeiten zu beeinflussen und zu fördern suchen; keineswegs aber muß das »natürliche Gefühl« notwendig ein Wissen von der Richtung der erforderlichen Verhaltensveränderung und nun gar von einem universalen und

identischen Richtungssinn der Bestimmung aller Menschen einschließen. Erst die keineswegs unmittelbare Einsicht in die Notwendigkeit eines geregelten Zusammenlebens der Menschen bedingt, wenn sıe sich nicht nur auf die internen Verhältnisse partikularer Gesellschaften, sondern auch auf deren Beziehungen untereinander bezieht, funktional die Annahme der All-

3. Verhaltensbeurteilung und Interesse am konkreten Anderen

271

gemeingültigkeit, Einheit und Identität der Kriterien der Beurteilung von und der Orientierung über Handlungen. Beide Seiten der Alternative, die Zurückführung der Erfordernisse sozi-

aler Ordnung auf die Implikate der unmittelbaren Zuwendung zu Anderen ebenso wie die gesellschaftsfunktionale Herleitung der von aller Umstandsbestimmtheit abstrahierenden und eben deshalb unter allen Umständen gültigen

moralischen

Verbindlichkeit

und

der dieser

korrelierenden

Beschrei-

bung der menschlichen Bestimmung fanden sich schon bei Eberhard?!, von dem Schleiermacher hier also eine Problemstellung übernimmt. Es scheint allerdings, daß sich bei Schleiermacher infolge seiner Beschäftigung mit Kant und

Reinhold

der Akzent verschoben

hat hın auf dıe Erfassung

von

grundlegenden Strukturen des Selbstverhältnisses, aus denen dıe Universalität der moralischen Verbindlichkeit abgeleitet werden kann - so daß deren funktionale Begründung ın den Hintergrund tritt. Auch

in einer anderen

Hinsicht

fällt die Kontinuität

Dieser hatte drei Raster der Beobachtung

zu Eberhard

und Beurteilung

auf.

menschlicher

Handlungen und Zustände unterschieden: die Beschreibung der faktischkonkreten Lage, d.h. der kontingenten Existenz des Einzelnen, die Bestim-

mung des diesem Individuum erreichbaren Ideals und das universale und allgemeine reine Vernunftideal, das für endliche Wesen unerreichbar ıst und nur als regulative Idee für die "individuellen Ideale’ fungiert, die deren teleologische Einheit gewährleistet??, Dem entspricht Schleiermachers Konzept, zwischen die Beobachtung des faktischen Zustandes und das völlig abstrakte und unbedingte Idea! vernünftiger Verhaltensbestimmung ein 'reales Ideal', ein Konstrukt der dem bestimmten Individuum real möglichen Vollkommenheit einzufügen. Allerdings geht Schleiermacher darın über Eberhard hinaus, daß er ın dem Gedanken der Produktion von

Bildern des realen und des virtuellen Entwicklungsstandes einer Person die Verhaltensbeurteilung aus ihrer Isolation auf Einzelhandlungen befreit, indem ın dem Bild Sukzessionen von Einzelhandiungen bzw.

Einzeiurteilen

gebündelt werden und demnach auch das korrelierende individuelle IdealBild zumindest eine analoge Menge und Differenziertheit von Situationen gelungener Verhaltensbestimmung ın sich integrieren muß. Dieses ınduktivkumulative und zugleich integrative Verfahren bedingt auch die größere Präzision und Intimität der Wahrnehmung sowohl des konkreten Zustands als

auch

der

real-idealen

Handlungs-

31

Vel. oben Kap. 2, 1.3.2. und 1.4.

32

Vgl. oben Kap. 2, 1.3.1.

und

Entwicklungsmöglichkeiten.

272

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

Kompaktheit

und

Intimität

begründen

schließlich

die

Lebhaftigkeit

und

intersubjektive Brauchbarkeit dıeser Bilder.

Genau die Erörterung dieser intersubjektiven Funktion der Beobachtung und Bündelung von Beobachtungen zu Personbildern sowie der Produktion entsprechender Real-Idealbilder ist es aber, was die ins Auge springende

Parallelität dieser Äußerungen in der Freiheitsschrift zu den Untersuchungen von Facetten der Freundschaftsbeziehungen ın den AristotelesAnmerkungen ausmacht. Behandelten diese doch ebenfalls Fragen des Verhältnisses von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, des wechselseitigen Sammelns, Bündelns und Kommunizierens von Verhaltensbeobachtungen und -beurteilungen, der Funktion kommunizıerter Fremdwahr-

nehmungen für die Seibstwahrnehmung, der Verbindung des Respektes vor der ırreduziblen Individualität des Anderen mit der Kommunikation situationstranszendenter, überindividueller Kriterien der Verhaltensbestimmung, der wechselseitigen Förderung kontinuierlicherer und intensiverer faktischer Orientierung am allgemeinen Sittengesetz, der Resonanz erfolgreicher sittli-

cher Handlungen auf Selbstbewußtsein und Handlungsbereitschaft des Handelnden und auf dıe Motivatıon von Beobachtern etc. Wo unterscheiden sich nun die beiden Ausarbeitungen diese Themenkomplexes? Was ist in der Freiheitsschrift hinzugekommen, welcher Aspekt, welche Dimension möglicherweise verlorengegangen? Wo hat sıch gegebenenfalls die Perspek-

tıve verschoben? Zunächst

ist der

Fortschritt

in der

methodischen

Erweiterung der begrifflichen Mirtel unverkennbar. auf,

wıe

formal

Bewußtheit

Dabei

und

die

fällt vor allem

streng Schleiermacher dıe Käntısche Unterscheidung

zwi-

schen praktischer und theoretischer Wissenschaft verwendet. Das heißt allerdings nicht, daß er theoretische Fragen aus der praktischen Philosophie eliminiert,

sondern daß theoretische Erörterungen

sich aus der praktischen

Fragestellung unmittelbar herleiten lassen müssen und von ihrer Funktion

für diese limitiert werden. Diese

Integration

theoretischer

Fragen

geschieht

anhand

des

Problems

der moralischen Zurechnung. Die Dominanz dieses Themas bringt zunächst einen verstärkt juridischen, von singulären Umständen abstrahierenden Akzent ın die Darstellung, der die für die Aristoteles- Anmerkungen konstitutive Differenzierung zwischen Freundschaft und allgemeiner Menschenliebe, zwischen Vertrautheit und Wohlwollen abblendet. Die für das

Verhalten angesichts des moralischen Versagens des Freundes charakteristi-

33

Vel. dazu auch Meckenstock,

Deterministische Ethik, 33.

3. Verhaltensbeurteilung und Interesse am konkreten Anderen

273

sche Frage »wie ist er gefallen?« (37,12)34 wird bei der Zurechnung gerade

nicht gestellt2>. Allerdings

führt

Schleiermachers

Interesse

an

der

Integration

der

Zuschreibung in eine realistische Beschreibung der Empfindungen gegen Andere und des daraus folgenden Verhaltens dazu, daß die Fragestellung des Zusammenhangs von Sozialität und Ausbildung von Individualität nicht verloren

geht.

Im

Gegenteil

entfaltet Schleiermacher

bei der Behandlung

der Implikate von zurechnendem Handeln Aspekte der Theorie realer Sozialbeziehungen, die in den Aristoteles-Anmerkungen allenfalls implizit in der Phänomenbeschreibung erscheinen, Dazu zählt vor allem die Frage nach den für Sozialbeziehungen konstitutiven subjektiven Selbstverhältnissen der Beteiligten und den diesen zugrundeliegenden

Strukturen von Sub-

jektivität. Schleiermachers Leitfrage ist hier: Welche subjektiven Akte und Verhaltungen müssen angenommen werden, wenn (1) Zurechnung gilt, und zwar auch für Handlungen der Vergangenheit, wenn (2) der Mensch mora-

lisch nicht festgelegt, sondern zur moralischen Selbstbestimmung gattungsmäßig fähig und deshalb selbst bei faktischer Behinderung verbunden ist, und wenn schließlich (3) soziale Förderung individueller Moralität möglich ist? Schleiermacher thematisiert folgerichtig die Bedingungen der Möglich-

keit der Selbstzurechnung von Vergangenheit (wodurch allererst Reue oder die Einsicht ın die Ursächlichkeit eigenen vergangenen Handelns für die eigene gegenwärtige Lage möglich werden), die Bedingungen der Möglichkeit des Lernens aus eigener und fremder Erfahrung, mehr noch des Aufbaus von Handlungs- und Urteilskompetenz und eines Bildes von sıch selbst als Handlungs- und Urteilsfähigen über die Akkumulation von Erfahrungen.

Um dieser Fragen willen prinzipialisiert oder ontologisiert Schleiermacher die

Theorie

und

untersucht

die

seeleninternen

Bedingungen

moralıscher

Selbstbestimmung und schließlich die Bedingungen der Möglichkeit von Wirkung (Kausalität) schlechthin. Dabei entwickelt er eine Konzeption der Wirklichkeit als eines vollständig interdependenten Kausalzusammenhangs, in dem

sich zwei

verschiedene, jedoch

der wechselseitigen

Beeinflussung

fähige Kausalitätsarten unterscheiden lassen: das »mechanische« Gesetz der Bewegung

der

Objekte

im

Raum

und

das

»psychologische«

Gesetz

der

Ideenfolge ın der Zeit (vgl. 346,33f.). Mit diesem Verständnis einer gleichermaßen

parzellierten

(in

Elementarteile

aufgelösten)

wie

kohärenten

Wirklichkeit kann er nun den sukzessiven Aufbau personaler Selbstverhältnisse und Sozialbeziehungen, die dabei faktisch (unabhängig vom Grad des

34 Vgl. oben Kap. 1, 2.3. 35 Vgl, oben 2.

274

Il. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

Wissens davon) waltende Umweltsensibilität und Umweltabhängigkeit, dıe Bildung von Geschichte und Geschichtszuschreibungen etc. beschreiben; gerade so kann er auch Kontingenz (Neuheit, Unerwartetheit, Nichtprognostizierbarkeit) und Determination (Ordnungsgemäßheit, Vorstrukturiertheit) zusammendenken.

Die weiteren Teile der Frerheitsschrift sollen nun danach untersucht werden, wie sıe diese Konzeption präzisieren und weiıterentfalten. Die Betonung der vollständigen Interdependenz des Wirklichen legt das Gewicht der Argumentation auf dıe Seite der Determination. Schleiermacher ınterpretiert deshalb das Freiheitsgefühl als Resultat der notwendig beschränkten indıvıduellen Wahrnehmungsfähigkeit für die den Eintritt eines Ereignisses konstituierenden Faktoren; dabei ergeben sıch wichtige Aufschlüsse über individuelle Selbstverhältnisse (vgl. 4.). Die Darstellung der Geschichte des Determinismus und seiner Gegenkonzeptionen (Indifferentismus, Äquilibrismus, Fatalismus) erlaubt nicht nur Rückschlüsse auf Schleiermachers Selbstzuordnung zu Positionen der Tradition (und Vergleiche mit den histo-

nnographischen Partien von h6), sıe entfaltet vielmehr vor allem Schleiermachers sachliche These, nur der recht verstandene Determinismus ermögliche eine realistische und handlungsmotivierende Theorie von Selbstverhältniıssen, Selbstbestimmung und Handlungszuschreibung und allein er sei

deshalb

mit der moralisch

notwendigen

Annahme

der Zuschreibung

und

Verbindlichkeit kompatibel (vgl. 5.). Darauf aufbauend, entwickelt Schleiermacher im Vierten Abschnitt (330 - 356) dıe eigentliche Freiheitsheorie, in der er zeigt, daß der Freiheitsbegriff durch die Annahme durchgängiger Kausalbestimmung nicht aufgehoben ist, wenn er (1) so formal bestimmt

wird, wie das bereits im »Freiheitsgespräch« geschah?®, und wenn (2) Kausalıtät so gedacht wırd, daß sıe 'Sprünge' und Unterbrechungen erlaubt (vgl. 6.). Mit der leider Fragment gebliebenen Thematisierung der Geselligkeit kehrt Schleiermacher zu den Problemlagen zurück, die er in den Arıi-

stoteles-Anmerkungen welche

Kontinuitäten

Vertiefungen,

welche

Problembehandlung

herausgearbeitet der Bearbeitung,

hinzugefügten

hatte;

hier

aber auch

oder

auch

muß

sich

erweisen,

welche Verschiebungen,

verlorenen

Aspekte

der

festgestellt werden können (vgl. 7.). Schließlich nötigt

die Spannung zwischen gattungsmäßiger Ausstattung des Menschen, die ihn zu Moralität befähigt, und faktischer moralischer Insuffizienz der individuellen Fähigkeiten zu Rückfragen an die Gerechtigkeit der »Weltregierung«,

die Schleiermacher mit einer die Individualität und Ungleichheit der kon36

Vgl. oben Kap. 4, 2.

4. Das »Freiheitsgefühl«

275

kreten Lebensumstände bejahenden Art von philosophischer ApokatastasısKonzeption beantwortet (vgl. 8.); diese Überlegungen bilden bereits den sachlichen Übergang zu Schleiermachers nächster größeren Arbeit, »Ueber den Werth des Lebens«.

4. Selbstintransparenz und Selbstbestimmung: Das »Freiheitsgefühl« Größere Schwierigkeiten als die Rekonstruktion der zurechnenden Empfindungen gegen Ändere machen Schleiermachers Konzeption des durchgängig

bestimmten Kausalkontinuums die unmittelbar auf das Ich selbst gerichteten Empfindungen, zu denen mit unabweislicher Erfahrungs-Evidenz das »Freiheitsgefühl« (282,16) gehört. Zumal für dıe »Vollständigkeit unseres sittlichen Bewußtseyns« (282,14f.; Hervorhebung von mir) scheint es »nothwendig« (282,14) zu sein, erscheint doch das Gefühl der Freiheit von

aller sinnlichen und auch von aller sittlichen Nötigung als die Bedingung dafür, daß eigene Handlungen als Leistungen behandelt und zugerechnet werden können. Nur so scheint Freude oder Reue über vergangene Handlungen als über eigene Handlungen möglich und angemessen, nur so kann

der

gesunde

Menschenverstand

sich

»moralische()

Pläne()«

(Vorsätze) für die Zukunft als sinnvoll vorstellen - nur ın dem

(284, 7f.) Bewußtsern

nämlich, »daß es unter allen Umständen und in jedem Augenblik unseres Lebens von uns allein abhängt etwas zu seyn, und daß wir immer das seyn müßen

was wır seyn wollen« (284,4-7).

gen der Eindruck,

Die Notwendigkeit begleitet dage-

sie mache ein Engagement

für die eigene Besserung

unmöglich (vgl. 284,21 - 285,6), und sie verwandle die Vergangenheit in ein unüberblickbares Gewebe von Ursache-Folge-Sequenzen, in dem die möglicherweise dem Einzelnen zuzuordnenden Kausalwirkungen zum einen

nur wiederum Folgen anderer Kausalursachen darstellen und zum anderen nicht zu einer aufeinander aufbauenden

und damit Personalität generieren-

den Abfolge individueller Handlungen desselben Subjekts gebündelt werden können (vgl. 285,7-17).

Eine ohne

Konzeption,

auf den

die gleichwohl

Anspruch

von

Freiheit

den

Determinismus

und

moralischer

festhalten

will,

Verbindlichkeit

zu

verzichten, muß einerseits ein ihr prima facie widersprechendes Gefühl von so starker und allgemeiner Plausibilität nicht etwa nur widerlegen,

vor allem mit ihren eigenen Mitteln rekonstruieren können,

sondern

und sie muß

andererseits zeigen, daß sie die sachlichen Interessen der ethischen Deter-

minismuskritik in sich aufnehmen kann, ja möglicherweise besser wahren

276

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

kann als die Kritiker selbst - und das heißt im Blick auf das Freiheitsgefühl: sie muß das Bewußtsein aussagen können.

der Kontinuität und der Selbsträtigkeit der Person

Das Freiheitsgefühl verdankt sich einer Abstraktion von den Nötigungen des konkreten Zustandes. Das Begehrungsvermögen vergewissert sich dabeı

der Kontingenz eingetretener oder geplanter Handlungen, indem es jeweils alternative Möglichkeiten vorstellt und damit die Handlung oder den Plan als selbständige Auswahl sich selbst zurechnen kann. Dieses Verfahren

gelingt auf allen Stufen des willkürlichen Begehrungsvermögens: als Abstraktion von einzelnen Objekten (Ebene der Willkür im engeren Sinne), als Abstraktion von dem »ganze({n) gegebene(n) Resultat des Verhältnißes aller Triebe und aller Vorstellungen des Erkenntnißvermögens« (Ebene des ver-

ständigen Willens} und als Abstraktion von einzelnen Maxımen (Ebene des vernünftigen

Willens),

und

schließlich

sogar

als

Abstraktion

von

dem

vernünftigen System der Maxımen selbst. Jeweils kann das Begehrungsvermögen als neutral und unbestimmt und mithin ungenötigt-freier Selbstbestimmung fähig und bedürftig vorgestellt werden. Diese funktionale Fiktion

erlaubt dann dıe Meinung, es gebe dıese Nötigungen gar nıcht, und sowohl der Widerstand gegen die imaginierte Alternative als auch die Entscheidung

für die real vollzogene Handlung sei ohne bzw. ohne vollständige kausale Determination erfolgt.

Doch Schleiermacher erklärt diese Meinung als unzulässigen Rückschluß von der Unkenntnis der Summe der inneren und äußeren Faktoren, die eine

bestimmte Entscheidung bedingt haben, auf das Fehlen der Faktoren bzw. die Unvollständigkeit der Summe (vgl. 288,33 - 289,8). Für genau die Erfahrungen, die dıe Freiheit von allen Nötigungen zu erschließen scheinen, lassen sich die fehlenden determinierenden Ursachen ıhm zufolge durchaus

angeben. So ist die Entscheidung gegen eın attraktives sinnliches Objekt des Begehrungsvermögens motiviert durch das erwartete »Vergnügen (,) uns einer vorzüglichen Eigenschaft unserer Seele bewust zu werden« (287,21f.); dieses

»Selbstgefühl«

(282,32)

besteht nun

aber nicht in dem

Gefühl

der

Freiheit von der Notwendigkeit überhaupt, sondern nur von der Nötigung durch Objekte. Analog läßt sich dies auch für den verständigen bzw. vernünftigen Willen nachweisen: Die Orientierung an Verstandesmaximen bzw.

Vernunft-Einheit

erscheint

nur

deshalb

als

ungenötigt,

weil

nicht

gesehen wird, wie das Vergnügen aus dem Gefühl der Freiheit von dem nötigenden Charakter der Maximen und ihrer Totalıtät bzw. aus dem Gefühl der freien Entscheidung für sittengesetzgemäßes Handeln als »Selbstgefühl« seinerseits die Entscheidung bestimmt und jedenfalls szärker

4. Das »Freiheitsgefühl«

277

sein muß als das von den begehrenswerten gesetzwidrigen Objekten ausgelöste Gefühl (vgl. 289,8 - 291,137. Allerdings ıst mit dieser Rekonstruktion des Freiheitsgefühls als unvollständiger und illusionärer Selbstwahrnehmung die Bestimmbarkeit des Begehrungsvermögens durch den sittlichen Trieb keineswegs in Frage

gestellt. Sittliche Zurechnung setzt ja nicht die faktische Freiheit und Ungenötigtheit konkreter Handlungsvollzüge, sondern alleın die Zuordenbarkeit

der Handlung zu einem bestimmten Handelnden voraus?®. Genau diese Zuordnung

kann nun aber eine Konzeption,

die die Verhaltensbestimmung

als in jedem Moment neu und ungebunden von eigenen und fremden, vergangenen, gegenwärtigen und erwarteten zukünftigen Verhaltensbestimmungen und -umständen erfolgende ungenötigte Selbstbestimmung versteht, im Gegensatz zu einer deterministischen Theorie nicht leisten. Gegen die unmittelbare Plausibilität des gesunden Menschenverstandes spricht Schleiermacher also der Ungebundenheitsfreiheit die Leistungen ab, um derentwillen sıe doch in der Sittenlehre angenommen wurde, nämlich die Sıcherung der Einheit der Person ın der Zeit und der personalen Selbsträtigkeit.

Er zeigt auf, daß umgekehrt nur eine Theorie des universalen Kausalzusammenhanges die Identifikation und Selbstzurechnung vergangener Handlungen als eigener ermöglicht, die Entwicklung von Plänen, d.h. das Projizieren zukünftiger eigener Handlungen sinnvoll macht und überhaupt dıe Zukunft als der Gestaltung offenstehenden Handlungsraum und nicht nur als fatalistisch zu gewärtigende regellose und unbeeinflußbare Ereignısabfolge erscheinen

läßt (vgl.

292,16

- 295,32).

Denn

wenn

wıe beim

Freiheitsgefühl das Begehrungsvermögen je neu 'mit dem Anfang anfängt", stehen einerseits vergangene Handlungen in keinem besonderen Zusammenhang mit dem jetzigen Zustand (vgl. 293,21f.) - das Subjekt kann sıe dann betrachten, als hätte es nichts mit ihnen zu tun, es steht mit ihnen in keiner

engeren genheit -;

Beziehung

als

andererseits

mit hat

irgendeinem die

momentane

anderen

Ereignis

Disposition

des

der

Vergan-

Begehrungs-

vermögens keinerlei Auswirkungen auf seine zukünftigen Zustände, so daß Vorsätze ganz sinnlos werden. Mit den Dimensionen der erinnerten, angeeigneten Vergangenheit und der erwarteten und ım Modus der Erwartung gegenwärtigen Zukunft verliert das Subjekt aber seine Zeitlichkeit und Geschichte; es verliert die Fähigkeit, sich ın eigenen vergangenen und vorweggenommenen zukünftigen Zuständen zu 'spiegeln' und sich dabei als in einem Prozeß sukzessiver Identitätsbildung und Differenzierung (d.h. ın 37 Vgl. 317,28-35: Der Wille ist faktisch niemals neutral. 38

Vgl. oben 2,

278

Il. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

einer Akkumulation verschiedener Zustände, die integriert werden zu der Einheit der Person) befindlich wahrzunehmen. Das Subjekt kollabiert zu einem mit der Gegenwart verhuschenden extensionslosen Punkt. Ganz im Gegensatz dazu vermag der Determinismus den »schlechte(n) Zustand der

vergangenen Zeit« als »Mitgrund des jezigen« (293,32f.) zu beschreiben??; das ermöglicht zum einen, vergangene Handlungen als eigene zu erkennen

und zu behandeln (also etwa zu bereuen, sıch für ıhre in die Gegenwart reichenden Folgen tätig verantwortlich zu bezeigen, gesellschaftlich-juristische Sanktionen dafür zu akzeptieren), zum andern kann damit das damals Geschehene als offenkundig der Person entsprungen anerkannt werden, so daß die Aneignung der Vergangenheit individuelle Verhaltensmöglichkeiten auch in der Gegenwart offenbart und selbsttätige prophylaktısche Gegensteuerung anımiert und orientiert (wel. 294,1-6). Eine solche Ge-

gensteuerung ist wie überhaupt Entwürfe für die Zukunft oder Vorsätze zur Besserung deshalb möglich, weil gerade der Gedanke des Kausalzusammenhangs Zuständen

die Verbindung gegenwärtigen Handelns mit zukünftigen zu denken erlaubt (vgl. 295,28-32). Das heißt zwar nicht, daß

der jetzige Plan das zukünftige Eintreten des Geplanten gewährleister; wohl aber, daß Hindernisse der Realisierung nur »von dem Inhalt der« zwischen Plan und beendeter Ausführung »dazwischenliegenden Zeitreihe« (295,17) ausgehen können, welche Zeitreihe aber ebenso als Ort sittlicher Tätigkeit qualifiziert ıst (vgl. 295,16-20), so daß Fatalısmus ausgeschlossen ist.

Diese Kompatibilität, genauer: diese Zusammengehörigkeit von Determinismus, Personalität und sittlicher Verhaltensorientierung setzt allerdings voraus, daß das Kausalkontinuum von Wirklichkeit so verstanden wird, daß tin ıhm 'Substanzen' vorkommen, zu deren 'Wesen', zu deren 'natürlichen’ Fähigkeiten es gehört, ihr Verhalten sittengesetzgemäß bestimmen zu können. Denn Schleiermacher vertritt insofern einen strengen Determinismus, als er daran festhält, daß alles aus einem Zustand Erfolgende in diesem Zustand vollständig begründet sein muß (vgl. 292,32-34). Insofern würdigt der Determinismus, wenn er dıe Bestimmtheit der Handlungen durch die Ihnen vorausliegenden Zustände lehrt, keineswegs den Menschen zu einem

bewußtlos funktionierenden »Vollkommenheit

unseres

Automaten Zustandes«

herab, sondern stellt geradezu die (292,36f.)

heraus

- was

seinerseits

einen grundsätzlichen Optimismus ın Blick auf die Realisierungschancen der Vorhaben legitimiert (vgl. 292,37 - 293,1).

39

Zum Gegenwartsbezug als funktionaler Begründung der Vergangenheitsbetrachtung vgl. auch Schleiermachers spätere Abhandlung »Über den Geschichtsunterricht« (dazu unten Kap. 7, 1.).

5. Historische Rekonstruktion

279

Den Anschein, der Determinismus vernichte Personalıität und Selbsttätigkeit, erklärt

Schleiermacher

mit einem

Mißverständnis

des

Verhältnisses

von Faktızität und Sittengesetz. Denn während beı 'natürlichen' Phänomenen dıe Kenntnis des Zusammenhangs die Individualität des Geschehens schärfer hervorhebt, scheint die natürliche Genetisierung einer sittlichen Handlung deren sittlichen Charakter aufzuheben. Die Faktizität des Zustandes scheint dıe Idee des Sollens und der diesem korrespondierenden ungenötigten selbsttätigen (zurechenbaren) Realisierung des Gesollten auszuschließen

oder

zu einem

bedingten

Moment

ihrer selbst zu machen

und damit gewissermaßen zu naturalisieren und zu depersonalisieren.

Das

gilt aber nur dann, wenn der natürlich-kausale »Grund warum die Handlung

so geschehn

ist mit der Idee um

derentwillen sie hätte geschehn

sollen«

(297,28f.), also mit dem Sittengesetz, verwechselt wird. In Wirklichkeit jedoch sınd auch die sittlichen Handlungen um so mehr die »unsrigen«, »je

genauer sie mit unsern vorigen und mit der ganzen Modifikation unserer Fähigkeit zu handeln zusammenhängen« (298, 10f.). Dann kann sogar ein proportionaler Zusammenhang zwischen »Fortschritten in der Sittlichkeit« und zunehmendem »Bewustseyn der Personalität« (298,13f.) ausgesagt werden, indem die Akkumulation einer immer größeren Menge sittengesetzgemäßer und mithin der Selbsttätigkeit zugeschriebener Handlungen ihrer-

seits Kausalwirkungen auf die gegenwärtige Selbstwahrnehmung ausübt und den Zusammenhang darstellt, in dem neue Handlungen stehen (und interpretiert und projektiert werden). Der »Grund warum die Handlung so geschehen ist« kann dann immer mehr in der dieser Handlung vorangegangenen Selbsttätigkeit des Handelnden selbst erblickt werden.

5. Historische Rekonstruktion

Schleiermachers deterministische Freiheitstheorie setzt voraus (1) ein entwickeltes Verständnis der Wirklichkeit als lückenloses Kausalkontinuum,

(2) ein geklärtes Verhältnis zwischen theoretischer und praktischer Fragestellung (insofern das Freiheitsthema der Ort ist, »wo das spekulative und praktische Interesse eine Grenzstreitigkeit so hartnäkig führen, daß sıe jeden

Vergleich durch Abtretung oder durch Gemeinschaft ausschlagen«, 300,1517) und schließlich (3) eine deutliche Erfassung des konstitutiven positiven Zusamrnenhangs von vernünftiger Sittenlehre und Determinismus. Diese Voraussetzungen sind in ihrer Summe erst gegeben, seitdem Kant dıe

280

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

zweite Aufgabe (gestellt und) gelöst hat*0. Die historische Genetisierung der Konzeption

kann daher dıe Frage beantworten,

warum

Determinismus

und vernünftige Sittlichkeit so lange als unvereinbar galten und warum die Konkurrenz-Konzeption des »Indifferentismus« großen Zuspruch fand, indern sıe zeigt, wie dıe fehlende, unzureichende oder falsche Bearbeitung einer der Aufgaben sich auf die der anderen auswirkt, wie dabei unlösbare

Aporien entstehen, die die Plausibilität des praktischen Determinismus zerstören oder erst gar nicht aufkommen lassen und damit Gegenkonzepte provozieren und protegieren, die sittliche Zurechnung besser zu währen scheinen.

und Verbindlichkeit

Schleiermachers historische Rekonstruktion soll hier nicht nachvollzogen werden@l, Sie wird nur herangezogen, um machers Verarbeitung der Tradition und Selbstverortung in der untersuchen (auch im Vergleich mit den historischen Passagen die Bedeutung Kants für seine Konzeption zu prüfen (auch ın

im einzelnen a) SchleierTradition zu von hG), b) Auseinander-

setzung mit der Interpretation Meckenstocks) und c) Einzelmomente herauszuheben, die entweder bestimmte Aspekte der Konzeption präziser

beleuchten oder dıe wichtig erscheinen für das Verständnis von Schleiermachers Theorieentwicklung im weiteren Sinne (dazu zählt vor allem das Verständnis des Christentums).

5.1. Determinismus, Indifferentismus, Fatalismus Im

Vergleich

zu

hG

fällt zunächst

auf,

daß

dıe

schon

dort

feststellbare

Tendenz der Typisierung philosophiehistorischer Positionen in der Freiheitsschrift sich noch erheblich verstärkt hat, indem jetzt nämlich die individuellen Züge so weit zurücktreten, daß Schleiermacher konsequenterweise keinen Denker mehr namentlich erwähnt, sondern nur noch von verschiedenen Systemtypen (»dem« Determinismus, Indifferentismus etc.), deren jeweiligen Charakteristika und ihren (historisch-genetischen und systematischen) Verhältnissen zueinander spricht. Auffällig ıst ferner, daß Schlei-

ermacher zwar die Darstellung weiterhin grob auf die Abfolge der drei Epochen Antike - Christentum - Neuzeit hin strukturiert, daß aber die 40

Vgl. Meckenstock, Deterministische Ethik, 102: «Die sachgerechte und konzise Formulierung der deterministischen Idee (...) kann nur gelingen, wenn die praktische Vernunft sich von allen Fesseln frei gemacht und die theoretische ihr Gebiet kritisch gesichtet hat«, also »erst mit der Kantischen Epochenwende«.

4]

Hier

Meckenstocks

umsichtige

(Deterministische Ethik,

ist

102 - 116).

und

übersichtliche

Darstellung

sehr

hilfreich

5. Historische Rekonstruktion

281

Gewichtung sich deutlich verschoben hat: Die Antike verliert an Bedeutung, das Christentum wird vergleichsweise ausführlich behandelt, gleichwohl als Philosophie scharf kritisiert; der argumentative Schwerpunkt fällt dadurch gleichsam zwanglos auf die Neuzeit - wobei die Beschäftigung mit Kant gewissermaßen ausgelagert ist, nicht wie in hG in ein eigenes Kapitel, sondern ın die impliziten Voraussetzungen. Auffällig ist schließlich

auch, daß ın beiden Texten die philosophiehistorische Untersuchung zwar mit den Griechen einsetzt, aber jeweils die 'vorphilosophischen' Formen der Wirklichkeitsstrukturierung mitbehandelt und damit die Genese philosophischen Fragens selbst anthropologisch und kulturhistorisch rekonstruiert: in hG durch die '"Naturgeschichte’ der Glückseligkeitsidee#2 und durch die Skizzierung der soziologischen, ökonomischen und politischen Bedingungen, die in Athen die Entstehung von "Reflexionsinstanzen'

gefördert haben, in UdF durch Rekurs auf den Mythos, der die Wirklichkeitsannahmen der griechischen Philosophie bestimmte und dominierte, gerade weil sie ihn abzulösen beanspruchte. Diesem Interesse an der Rekonstruktion der Genese von Philosophie selbst korrespondiert genau das Interesse an der psychologisch-anthropologischen Integration des Denkens in eine

Theorie

der

Seelenvermögen

und

in ein

evolurtionäres

Konzept

individueller Konkretion und Bildung, Sowohl Typisierung als auch veränderte Gewichtung sind Ausdruck hoher hermeneutischer und systematischer Bewußtheit. Sie zeigen, daß Schleiermacher jeweils präzise die Funktion der historischen Rekonstruktion für seinen systematischer Argumentationsgang reflektiert, und daß er die Rekonstruktion inhaltlich nicht nach externen Kriterien (etwa Vollständigkeit, allgemeine Urteile über den Wert oder Unwert einer bestimmten

Epoche) strukturiert, sondern streng auf das für sein Thema Relevante hin konzentriert. Deshalb ıst es auch kein Widerspruch (und für sıch allein auch nicht Zeichen von Veränderung), wenn Schleiermacher in der Frage der Grundsätze der vernünftigen Sıttenlehre sich ın großer Nähe zu Platon sieht#?,

während

er beim

Freiheitsthema

der ganzen

Antike

Problembe-

wußtsein überhaupt abspricht. Denn beim Freiheitsthema geht es eben nicht primär um die inhaltliche Bestimmtheit und die Gegebenheitsweise sittlicher Orientierung,

sondern

um

das

Verhältnis der anthropologischen

Implikate

der Sittenlehre - nämlich vor allem Selbsttätigkeit, Intentionalität und personale Identität ın der Zeit - zu theoretischen Annahmen über die Struktur von Wirklichkeit überhaupt. Hier konnte dıe Antike selbst bei angemes42

Vgl. oben Kap. 4, 1.2.

43 Vgl. oben Kap. 4, 1.5.2.

282

]l. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

senem Verständnis des Sittengesetzes weder das Problem möglicher Inkom-

patibilität der Interpretation der Wirklichkeit als durchgängig bestimmter mit der Annahme sittlicher Verantwortlichkeit noch die konstitutive Bedeutung einer solchen Weltinterpretation für eine der Sittenlehre adäquate Anthropologie erkennen, weıl sie keinen theoretischen Begriff von der Welt

als universales Kausalkontinuum hatte. Denn die mythische »Fantasie« (302,9) erklärte die Veränderungen der Welt als Wirkung jeweils eines »unsichtbare(n) Wesen(s), welches sie nach freiem Belieben lenkte« (302,13f.), was selbst nach der Ablösung des Mythos durch die Philosophie »gewißermaaßen den ganzen Gang der Metaphysik unter den Griechen«

(302,29f.) bestimmte, weil die Leitvorstellung der Erklärung von Weltphänomenen

nicht dıe kausale Determination

war,

sondern

nach Analogie des

Verhältnisses der menschlichen Bewußtseinsintentionen zu den davon ınıtiierten Körperbewegungen

und

Zweckhaftigkeit

»Grundsäze

des

und

(vgl.

Verstandes«

Handlungen

303,9-11). (303,5,

der Gedanke

der Bezweckung

Dementsprechend

Hervorhebung

von

werden mir)

keine

entwickelt,

gemäß denen die Gegebenheitsweise von Gegenständen »für uns« (303,20) und von daher (!) die Gesetzmäßigkeiten innerweltlicher Bewegungen und die kausalen Interdependenzen innerweltlicher Gegenstände hätten untersucht werden können, sondern die »Einbildungskraft« (303,6; Hervorhe-

bung von mir) legte den Phänomenen teleologische Strukturen unter. Selbst die zunehmende Einsicht in »den Zusammenhang der Causalität unter den Naturbegebenheiten«

(303,30f.)

führte

nur

entweder

zu

einer

völligen

Negation einer »Einheit des Zwekes« (304,4) oder zu einer Zuordnung des neuentdeckten Kausalitätsgedankens zu der unabhängig davon bestehenden Zweckeinheit, die entweder ın dem jeder Einzelbegebenheit unabhängig von ihrer kausalen Bestimmtheit "senkrecht von oben' ihr ındıviduelles Telos gebenden Fatum (vgl. 304,15-25) oder ın einer die

einzelnen Begebenheiten und ihren Zusammenhang teleologisch ausrichtenden Weisheit (vgl. 304,10-15) erblickt wurde, In diesen philosophischen »Hauptmeinungen« (304,2) ist nicht nur die erkenntnistheoretische Notwendigkeit verkannt, daß »jede einzelne Begebenheit einen soichen ursachlichen Zusammenhang bedürfe um von uns erkannt zu werden« (303,38 304,1)%, sondern es bleibt auch die prinzipielle »Allgemeinheit« (304,29; 44

Schleiermacher

scheint

hiermit die Epikuräer zu charakterisieren,

vgl.

304,4-8:

»(...)

die außerweltlichen Wesen, die sie zuließen waren nicht philosophisch sondern nur theologisch wahr (,) und sie behaupteten ın Absıcht auf die causa fınalis der Weltbegebenheiten ein Ohngefähr ım strengsten Sınn, das heit einen gänzlichen Mangel derselben.« 45

Dies ist ja erst durch Kant erkannt.

5, Historische Rekonstruktion

283

Hervorhebung von mir) des Kausalitätsgedankens unentdeckt#®. Dies zeigt sich auch an den antiken Theorien der Weltentstehung, wenn in diesen weder die Grundelemente, aus denen alles Seiende sich gebildet haben soll,

ihrerseits hergeleitet - sondern nur gesetzt - werden noch der »nothwendige() Zusammenhang zwischen dem Daseyn jener einfachen Dinge und der Entstehung ihrer Zusammensezungen gefunden« (305, 14-16) ist. Erst das christliche Denken

überwand diese Position, in der die Welter-

eignisse mehr aus dem Gesichtspunkt, daß sıe geschehen sollen als daß sie geschehen müssen, mehr nach der Idee der Zweckgemäßheit als nach der des

inneren

Zusammenhangs

betrachtet

werden

(vgl.

306,3-6).

In

dem

Streit um Augustins Gnadenlehre wurde das Problem der konkurrierenden Kopräsenz von durchgängiger Notwendigkeit (kausaler Bestimmtheit} und Freiheit im menschlichen

Handeln

allererst wahrnehmbar,

und zwar - wie

Schleiermacher nicht ausführt, aber voraussetzt - an der Frage des Verhältnısses

von

göttlicher

Allbesıimmung

und

Allwirksamkeit

und

der

Zure-

chenbarkeit individueller Sünde. Schleiermacher formuliert die pAilosophischen Implikationen der Augustinischen Gnadenlehre so, daß sıe ın einen offenkundigen Gegensatz zu seiner eigenen Konzeption zu stehen kommen. Denn die Lehre von der doppelten Prädestination und von der gratia irresistibilis muß entweder ein vollständiges Unvermögen des Menschen, »die Vorstellung moralischer Handlungen« selbsttätig »zu einem Objekt seines Begehrungsvermögens zu machen« (308,4-6), annehmen oder, wenn sie eın solches Vermögen prinzipiell zugesteht, daran festhalten, es sei faktisch »immer zu klein um Oeine Absıcht gegen irgendeinen sinnlichen Trieb (...) durchzusezen« (308,7f., Hervorhebung von mir). Sie ruiniert also entweder jegliche moralische Zurechenbarkeit, oder sie läßt sie zwar virtuell zu,

sistiert aber ein bestimmtes Kräfteverhältnis der Seelenvermögen untereinander, was zumindest im Horizont von Schleiermachers Konzeption ein Interesse an sittlicher Verbesserung aufheben muß”. 46

Aufgrund der sehr kurzen Darstellung Schleiermachers könnte man eınwenden, der Epikureismus lasse diese Allgemeinheit doch wenigstens virtuell zu, und die - wohl stoische - Position der Weisheit anerkenne Joch einen universalen kosmischen Zusammenhang. In der Tat kritisiert Schleiermacher nur den Fatalısmus ausdrücklich, weil man diesem zufolge »ın dem Wesen (,) in dem die Einheit des Zweks vorgestellt wird (‚) eine

Unvollkommene

Erkenntniß

annehmen

[müßte],

wenn

es die einzelnen

Theile desselben nicht ın diesem Zusammenhang denken sollte« (304,34-36). Gleichwohl scheint er den Epikureismus a limine auszuschließen, weil mit dem Gedanken

der

Einheit

auch

der

einer

Totalıtät

verloren

Stoizismus ist der Aausale Charakter des Zusammenhangs konstitutiv. 47

Vgl. oben 1.2.

geht,

und

auch

für

aller Begebenheiten

Jen

nicht

284

IT. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

Schleiermacher sieht durchaus, daß es im christlichen Denken zu einer »nähere(n) Betrachtung der Art, wie die sittlichen Handiungen in der Seele

hervorgebracht werden«, kam - und dabei zu einer »Vergleichung der praktischen Ideen mit dem, was geschieht« (308,21-23)48. Doch weder auf theoretischem noch auf praktischem Gebiet konnten diese Versuche erfolgreich sein. Denn zum einen konnte »die richtig bestimmte Idee der Nothwendigkeit noch nicht aus dem spekulativen herüber genommen werden« (308,27f.), zum anderen führte die Rückbindung alles »Raisonnement(s)« an die nur in den »unzusammenhängend(en)« Sätzen der Bibe] sich konkretisierende göttliche »Autorität« (308,37f.) dazu, daß die Sittenlehre nıcht als kohärente »Entwikelung der Gedanken von einem Grundbegrif

oder Grundsaz aus()« (308,35f.) - also nıcht gemäß der wahrhaft philosophischen Methode - gebildet werden konnte, sondern nur als Auslegung der ganz disparaten biblischen Maximen, deren Geltung dann eben nicht in ihrem vernünftigen Zusammenhang,

sondern ın ıhrer je isolierten Offenba-

rungsqualität sich gründete. Dabei schloß man

fälschlicherweise von dem

Offenbarungscharakter der Maximen, der doch nur die »Gelegenheit« (309,24) ihrer Wahrnehmung darstellt, auf deren Notwendigkeit (vgl.

309, 26f.). Die Annahme der mit der Autorität des göttlichen Legislators unmittelbar verbundenen (vgl. 310,27-33) Positivität des Sittengesetzes (vgl. 311,17f.) Erscheint

veränderte bei einem

nun aber das Verhältnis des Einzelnen zu diesem: vernünftigen Moralsystem die Einzelverfehlung als

singuläres Mißlingen der aktuellen Realisierung eines dem Grundsatz gemäßen

Satzes

und

beläßt

dem

Einzelnen

sein

- wenigstens

prinzipiell

- je

aktualisierbares und in anderen Fällen auch aktualisiertes sittliches Vermögen, verwirft im religiösen Sittengesetz jede Einzelverfehlung ıipso facto die ganze göttliche Autorität, so daß das sündige Subjekt als ganzes - unbeschadet einer möglicherweise großen Menge anderer, formell sıttengesetzgemäßer Handlungen - seiner Sittlichkeit völlig verlustig geht und - da

positive Gesetze nicht durch ihre immanente Vernünftigkeit, sondern durch das Gegebensern

ihre Geltung aber kann 48

einer strafwilligen und straffähıgen Sanktionsinstanz sich

sichern

nach

- der göttlichen Strafgerichtsbarkeit verfällt.

Schleiermachers

Überzeugung

nur ewige Strafen

Diese

ausspre-

Allerdings entfaltet er diese Versuche nicht, sondern wertet sie pauschal als »verwirrte Behandlung {...) unserer Streitfrage« durch dıe »Scholastiker« ab (308,25). Für dıe epochenübliche Geringschätzung der Scholastik vgl. auch Eberhard, AGPh 235 - 246, besonders 245f. über die »unbrauchbarsten Spitzfindigkeiten und eitelste Wortgelehrsamkeit« bei Duns Scotus. - Meckenstocks Verdacht empfindlicher Bildungslücken Schleiermachers (vgl. Deterministische Ethik, 104) ıst mithin nıcht grundlos.

5, Historische Rekonstruktion

285

chen®?, die durch ihre Ewigkeit per definitionem in keinem quantitativen Entsprechungsverhältnis zur Schwere der Verfehlung stehen und zudem das

ausschließen, was der Zweck irdischen Strafens ist und dieses allein legitimiert: einen Verbesserungseffekt (vgl. 311,30 - 312,14).

Nur ein solches Strafen, das »die Data zu den Handlungen welche auf die Vollziehung der Strafe folgen (,) veränder(t)« (311,36 - 312,1; Hervorhebung von mir), ist nämlich unbetroffen von der universalen Anwendung des »Saz(es) des Grundes« (311,20), dem Schleiermacher sich nun ziemlich

unvermittelt zuwendet?.

Denn

eine rückwirkende

Funktion

von

Strafen

(etwa Sühne) ist ausgeschlossen, wenn »die Handlungen nur Resultate sind,

welche (-) wenn alle dazu erforderlichen Data die nemlichen bleiben (-) nur auf einerlei

Weise

ausfallen

können«

(311,25-27).

Nach

dem

damaligen

Erkenntnisstand ist damit aber auch die Möglichkeit von Zurechnung und Verantwortlichkeit überhaupt negiert (vgl. 312,30-33). Der Determinismus wird durch diesen Vorwurf der Amoralität in die Defensive gedrängt, aus der er sich nicht selber befreien kann, weil er sıch allein der »spekulativen Philosophie« (312,21; Hervorhebung von mir) verdankte und weder »Gelegenheit« (312,22) noch »Materialien« (312,24) fand, die von der Gegen-

partei als evident vorgebrachten »praktischen Ideen« (312,23) ıhrerseits einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Freilich mußten sıch nun auch dıe Determinismus-Gegner der veränderten Diskussionslage anpassen und eine eigene Theorie des Handlungsvollzugs entwickeln. Diese liegt im »/ndifferentismus« (313,9) vor, den Schleiermacher im folgenden (vgl. 313,9 317,3) ganz analog zu der im Zweiten Abschnitt widerlegten Konzeption

der unabhängigen Willensbestimmung beschreibt?1. Aufgrund der argumentativen Schwäche des seinerzeitigen Determinismus schien die allgemeine Geltung des Indifferentismus bereits durch den Nachweis seiner Möglichkeit

hinreichend begründet zu sein, der durch die Angabe eines Falles problemlos zu führen war (vgl. 313,34-39), nämlich desjenigen der freien,

49

50

Vgl. aber die kritische Bemerkung Meckenstocks (Deterministische Ethik, 106f.). Allerdings trifft Schleiermachers Darstellung eine Sündenkonzeption Anselmschen Typs durchaus. Die historische Darstellung ıst also gleitend - ohne deutliche Zäsuren - von Augustin

über die Scholastik zu Leibniz, und d.h.: in die Neuzeit übergegangen.

Schleier-

machers Vorgehen ist ın der Tat eher als systematische "Rhapsodie’ mit einer nur vagen und lockeren historıographısch-chronologischen Steuerung denn als präzise Beschreibung eines historischen Ablaufes zu charakterisieren. Vgl. Meckenstock, Determunistische Ethik, 116. Katalysierend für den letzten Übergang wirkt das für die Aufklärung zentrale Sachproblem von Recht und Funktion des Sirafens.

SI vgl. oben 4.

286

im

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

Bewußtsein

vergangenen

der

Alternativen

Weltreihe«

vollzogenen,

(313,37)

zureichend

durch

keinen

begründeten

»Theil

der

individuellen

Entscheidung. Der Versuch, mithilfe des Rekurses auf die Evidenz der Erfahrung des »Selbstbewustseyn(s)« (314,3) und des »Selbstgefühls« (314,7)

den Nachweis der Allgemeingültigkeit des Indifferentismus zu verstärken, scheitert jedoch daran, daß es die angeführten Beispiele plötzlicher Gedan-

kensprünge und unwillkürlicher Bewegungen (vgl. 314,21-35, bes. 32-35) zwar durchaus gibt, daß aber die Abwesenheit des Wissens von Gründen oder auch deren Unerkennbarkeit keineswegs das Gegebensein des zureichenden Grundes ausschließt?? (vgl. 315,12f.) und daß der Schluß vom einen auf das andere deshalb unstatthaft ist. »Der Beweis, daß etwas eine Ursach habe (,) liegt seiner Qualität wegen ganz außerhalb des Gebiets der Erfahrung« (315,15f.), der Satz vom Grund kann aber als Suchanleitung für

begründende Erscheinungen fungieren (vgl. 315,16-20). Dasselbe gilt natürlich auch für den indifferentistischen Satz, »daß alles

keine Ursach habe« (315,21). Allein, Schleiermacher weist mit den oben?? bereits entfalteten

Argumenten

nach,

daß der Indifferentismus weder

Sitt-

hchkeit und Zurechnung noch (göttliche und menschliche) Strafen erklären könne, und daß er mithin selbst dasjenige nicht zu leisten vermöge, um dessentwillen er dem Determinismus vorgezogen wurde (vgl. 315,25 - 316,6). Selbst die »Neutralität des Willens« (317,8f.), die ihm den Namen kann er nur abstrakt festhalten; denn sie kann (und muß allerdings)

gab, nach

Schleiermacher für den Willen nur gelten, »wenn wir ihn vor irgend einem Zustand denken, oder ihn an sich ohne Rüksicht auf seinen Zustand betrachten« (317,29-31, Hervorhebung von mir); faktisch sind in einem konkreten Willen jedoch immer schon »einige von den Bestimmungen, welche alle in ihm an sich gleich möglich sind (,) vor andern würklich geworden« (317,32f.), so daß der konkrete Wille - um dıe Beschreibung

von dessen Vollzügen es Ja geht - immer bereits asymmetrisiert und keineswegs indifferent ist. War die Entstehung des Indifferentismus motiviert durch das theologische Interesse an der Wahrung der »Abhängigkeit aller moralischen Ideen von den theologischen und namentlich von den Begriffen der moralischen Prädikate der Gottheit« (318,34-36), so überrascht, daß er sich als mit dem »metaphysischen« (318,38) Gottesprädikat der »ewige(n) Präscienz« (319,

21) nicht kompatibel erweist. Denn während im Blick auf das menschliche Handeln die indifferentistische Unmöglichkeit, Handlungen im voraus zu 52

Vgl. ebd.

53 Ygl. ebd.

5. Historische Rekonstruktion

287

bestimmen, durch Wahrscheinlichkeitsschlüsse kompensiert werden kann (vgl. 319,6-12), wäre im Blick auf Gott mit der vollständigen Vorherbestimmung, die einen notwendigen »Zusammenhang der Causalität« (319,23) zwischen Bestimmendem und zu Bestimmendem impliziert, auch das vollständige Vorherwissen aufgehoben. In dieser Lage hat Schleiermacher zufolge als Mittelweg zwischen der Scylla des angeblich amoralischen Determinismus und der Charybdıs des theologisch inakzeptablen Indifferentismus der Fatalismus einige Plausibilität gewonnen, Er teilt mit dem Indifferentismus die Ablehnung einer kausalen weltimmanenten Prädetermination, lehrt aber die unbedingte Bestimmtheit Jedes Augenblicks ‘senkrecht von oben',

durch

Gott.

Umgekehrt

kann

man

aber ebenso

gut

sagen: Er ist ein durch die Anfechtung des Indifferentismus hindurchgegangener Determinismus, der dessen durch den Indifferentismus behauptete Insuffizienz bei der Erfassung freier menschlicher Willensbestimmungen und

Handlungen

zu überwinden

sucht, ohne die Gotteslehre zu zerstören.

Unter dem Aspekt der »Weltregierung« (321,2) ist jetzt die antike Konstellation von

dem

Epikureismus,

epikureischen

Fatalismus und Stoizismus wiedererreicht,

»Ohngefähr«

(321,5,

vgl.

304,5-8)

wobei

der ursprüngliche

Indifferentismus und der stoischen »Weisheit« (321,20) der Determinismus

entspricht. Nun ist der Fatalismus, obwohl das häufig geschieht (vgl. 320,36-38), keineswegs dadurch kritisch zu erledigen, daß man ıhn mit Materialismus oder Pantheismus identifiziert. Diese interpretiert Schleiermacher als zwei verschiedene, untereinander gegensätzliche Formen des »allgemeinen Fehler(s,) das Subjekt des Selbstbewußtseyns nicht von der Seite alleın zu betrachten, wie es sich uns als Vorstellungs(-) und Begehrungsvermögen zeigt, sondern über die Natur und Art der diesen Vermögen zum Grunde liegenden Kraft zu spekuliren« (320,6-9); beiden eignet ın Wahrheit der

deterministische Begriff der Notwendigkeit, »nur daß ste durch den freilich vorschnellen

Begrif

der

Substanz

des

Subjektes

näher

bestimt

ist«

(320,35f.)°®. Ganz im Gegenteil kann der Fatalismus einen solchen »Begrif« gar nicht fassen, da er vom Indifferentismus die Unfähigkeit ererbt hat, die Kontinuität und Identität eines Subjekts in der Zeit zu denken. Er verfällt mithin seinerseits der Kritik am Indifferentismus, vergangene Hand-

lungen auf kein Subjekt zurechnen, nıcht zu einem

sittlichen

somit Phänomene 54

auch

Persönlichkeitsbild

wıe Reue,

Urteile über Einzelhandlungen bündeln

(vgl.

Verantwortungsübernahme

324,11f.)

und

für Vergangenes

In diesem Zusammenhang erfolgt Schleiermachers erster Versuch einer differenzierten Würdigung des (nicht ausdrücklich genannten) Spinozismus (vgl. 320,22-33).

288

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

etc. nicht wirklich beschreiben zu können. Genau dıes verbindet ıhn auch mit dem unvollkommenen Determinismus?>. Vorkritischer Determinismus, Indifferentismus und Fatalismus unterscheiden sich also nur in der Weise, wie sie Selbsttätigkeit, personale Identität und sittliche Verbindlichkeit

negieren:

»Wenn

(...) nach

dem

reinen

Aequilibrismus

[=

Inditferen-

tismus] das Subjekt auf die Handlung verfällt und nach dem Determinismus

darauf gebracht wird, so ıst es nach dem Fatalısmus dazu unveränderlich bestimmt« (322,32-35;, letzte Hervorhebung von mir).

5.2. Ein neues Stadium der Kant-Rezeption? Ohne Zweifel verrät dıe Freiheitsschrift eine innigere Vertrautheit Schleiermachers mit der Philosophie Kants, oder besser: eine größere Geläufigkeit

der Anwendung Kantischer Argumentationsfiguren als die vorangegangenen Schriften. Ohne Zweifel erkennt Schleiermacher dem Kritizismus auch epochenbildende Bedeutung zu. Zahlreich sind die Bemerkungen, bestimmte Fragestellungen und Probleme hätten von den Früheren nicht gelöst oder gar nicht erkannt werden können, da erst die 'neueste Philosophie' (womit nur Kant bzw. dıe wie auch ımmer selbständig an ıhn sıch anschließenden Denker, etwa Reinhold, gemeint sein können) sıe klar formuliert und kon-

sistent beantwortet habe. Zu diesen Errungenschaften zählt vor allem die strikte Unterscheidung der theoretischen und der praktischen Philosophie, die eine Kompatibilität von Determinismus und Verantwortlichkeit allererst denkbar

macht,

theoretische

aber

auch

Notwendigkeit

die

theoretische

der

Annahme

Einsicht

eines

in

die

erkenntnis-

universalen

Kausal-

zusammenhangs der Wirklichkeit. Das muß jedoch nicht unbedingt bedeuten, daß Schleiermacher mit der Freiheitsschrift in ein neues Stadium der Kant-Rezeption getreten seı, daß die Zeit der Vermittlungsversuche zwischen Kant und der Schulphilosophie, wie sie noch das »Freiheitsgespräch« dokumentiert, nun definitiv beendet und einem affırmativen Verhältnis zum Kantianismus einerseits, andererseits einer philosophiehistorischen Relativierung der Schulphilosophie gewichen sei.

55 Schleiermacher gibt ja der indifferentistischen Kritik am theoretischen Determinismus durchaus recht, wendet diese Kritik aber auf den Indifferentismus zurück.

56

Vgl. oben 5.1.

5, Historische Rekonstruktion

289

Diese These Günter Meckenstocks>? läßt sich aus mehreren - teils den Textbefund betreffenden, teils systematischen - Gründen nicht halten. Denn die (unbestreitbare) Tatsache,

daß Schleiermachers

Konzeption

sich selber

als sachkantische interpretiert und bestimmte methodische und sachliche Errungenschaften Kants voraussetzt, bedeutet noch keineswegs, daß sie selber als Kantische aufzufassen ıst. Um dies zu belegen, müßte nämlich zusätzlich geklärt werden,

inwieweit dıe oben herausgearbeitete eigenstän-

dıge Perspektive von Schleiermachers Kant-Lektüre - d.h. vor allem: die (Eberhardische)

vorstellungstheoretische

Integration

der

Vernunft

ins

Ensemble der Seelenvermögen sowie die Nichtverwendung bzw. platonisierende Umdeutung der Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Subjekt - nunmehr aufgehoben ist zugunsten einer dezidiert kantischen Perspektive der Problemstellung und Problembehandlung, inwieweit ferner

in der Beurteilung der Schulphilosophie Veränderungen zwischen hG und

ÜdF festzustellen sind?® und inwieweit schließlich die oben? dargestellte scharfe Kant-Kritik Schleiermachers jetzt relativiert oder revoziert istö®. (1) Es gibt ın den die historische Rekonstruktion beendenden Partien der

Freiheitsschrift, die den vorkantischen Determinismus behandeln (325,10 329,10), in der Tat Indizien dafür, daß sich Schleiermachers kritisches Ur-

57 Ygi. Deterministische Ethik, 114 - 116. 58

In FG wird die Schulphilosophie nicht selbst beurteilt, sondem als Folie für die Interpretation Kants vorausgeserzt, Meckenstock mundert dıe Bedeutung dieses ja höchst sıgnifikanten Sachverhalts durch die These herab, dıe Behandlung der Schulphilosophie als überwundene Stufe der philosophischen Entwicklung in ÜdF bedeute eo ipso eine Abkehr von dem ın FG vollzogenen Vermittlungsversuch zwischen Schulphilosophie und Kritizismus (Deterministische Ethik, 115). Diese These wird aber fragwürdig, wenn sich herausstellen sollte, daß Schleiermacher bereits ın hG - also vor FG - dıe

Schulphilosophie in derselben Weise kritisiert wie in ÜdF.

59 Vgl. Kap. 4, 1.5.1. 60

Eine solche Revokation anzunehmen ist nur und genau dann unnötig, wenn man wie Meckenstock die Kant-Krıtık als radikalisierten Kantianismus, als kritische Anwendung des Kritizismus auf den Kritizismus selbst, mithin als Ausdruck höchster Affırmation interpretiert. Überschreitet man aber dieses immanente Verfahren (ohne es freilıch zu verwerfen!) und führt die Kant-Kritik auf eine von Kant fundamental unterschiedene konzeptionelle Leitperspektive, ein eigenständig entwickeltes Sachimteresse

zurück, das Theoriemitte] nach Maßgabe ıhrer Brauchbarkeit für seine eigene Explikation assimiliert, dann muß - wenn man in ÜdF ein verstärktes Bekenntnis zum Kantia-

nismus feststellen möchte - aufgewiesen werden, daß entweder die Leitperspektive sıch dergestalt gewandelt hat, daß sie mit dem Kantianismus kompatibel geworden ist, oder daß die Brauchbarkeit der kritischen Argumentatton für dıe Explikation der Leitperspektive sıch deutlicher herausgestellt hat - und daß mithin die Kant-Kritik jetzt entweder revoziert oder nun wirklich immanent-affırmativ geworden ist.

290

IT. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

teil über die Schulphilosophie im Vergleich zu hG verschärft hat und daß diese Verschärfung sıch kantischen Einsichten verdankt und zu einer

Übernahme kantischer Positionen führt. So räumt Schleiermacher bei der Überlegung, warum der Determinismus nicht zu einer eigenständigen Entfaltung der praktischen Fragestellung habe gelangen können (vgl. 325,1521), durchaus ein, daß es im Determinismus Versuche gab, »eine Refor-

mation der praktischen Ideen zu Stande zu bringen« und ein vernünftiges »Gesez zu (er)heben oder ein schon vorhandenes zu suchen«, das »seine Verbindlichkeit« nicht von einem außermenschlichen, göttlichen »Wesen (...) zu entlehnen brauche« (325,28-31). Diese Verbindlichkeit sei dann allerdings nicht ausschließlich in der Wernunft selbst, sondern »in dem

ganzen Subjekt Mensch« (325,36), in dem Gesamt seines »Bewustseyn{s)« (326,2) begründet worden, so daß die Vernunft in Abhängigkeit geriet von den einzelnen Resultaten /heoretischer Erfassungen menschlicher Zustände und Vermögen und dementsprechend nicht als »Vermögen der Geseze« (326,6), d.h. der selbsttätigen und »unumschränkten« (325,34), empirischer Einschränkungen enthobenen Gesetzgebung, sondern nur als »Vermögen (,) den Zusammenhang der Dinge nach Principien einzusehn« (326,8f., Hervorhebung von mir), erschien. Vernunft bildet sich dann durch Akkumula-

tion subjektiver Wahrnehmungen des »Zusammenhang(s) der Dinge« und näherhin der singulären oder regelmäßigen »Folgen einer Jeden Handlung des

Gemüths«

(326,11f.).

Deutlicher

als in hG

kritisiert

Schleiermacher

hier die unzureichende Bestimmung des Vernunftbegriffs, faktisch die fehlende Unterscheidung zwischen Vernunft und Verstand, die Identifikatıon der Vernunft mit dem Verstand. Deutlicher reflektiert Schleiermacher auch die kategoriale Unabhängigkeit

der Tätigkeit der Vernunft

von

allen

anderen Seelentätigkeiten, die eine inhaltliche Beeinflussung der Bestimmungen der Vernunft durch kontingente Umstände ausschließt. Zwar hätte nach Schleiermachers Überzeugung der Determinismus trotz der anthropologischen Fundierung des Sıttengesetzes »noch einen kleinen Steg (...) zu

der wahren praktischen Philosophie« finden können (326,31-33), wenn er das moralische Gefühl als ınnerpsychisches Repräsentationsorgan des anderweitig und völlıg unabhängıg davon, nämlıch ın der Vernunft selbst konstituierten Sittengesetzes der Vernunft verstanden hätte, so daß dem

kausalen Naturgesetz mit dem »Vernunftgesez« (326,31) »ein anderes Gesez« (326,30) zur Seite und gegenüber gestellt worden wäre. Die Diskussionen um den moralischen Sinn hätten aber faktisch genau umgekehrt der Frage gegolten, »ob man nicht dıeses Gefühl dem ganzen Sittengesez zum

Grund

legen

anthropologischen

solle«

(327,1f.).

Fundierung

Auf

gegebene

diese

Weise

sei

subjektivistische

der

mit

Ansatz

der

nicht

5. Historische Rekonstruktion

durchbrochen, meine(n)

291

sondern - ganz im Gegensatz zu der beanspruchten »allge-

Nothwendigkeit«

(327,19)

- unterstützt

worden.

Entsprechend

dieser empinsch-anthropologischen Ausrichtung habe der vorkritische Determinismus auch keinen innerpsychischen »Trieb, der sich bloß auf die Realisirung des Gesezes bezog« (327,25f.), erkennen

Begierde

nach

können,

Verwirklichung des Sittlichen abhängig

sondern die

gemacht

von

der

attrahierenden Wirkung der jeweiligen sıngulären zu realısıerenden Objekte (vel. 327,21 - 328,7). Da die Stärke dieser Wirkung aber niemals ım

voraus sicher bestimmt werden kann und von den konkreten Umständen abhängig ıst, kann die nach Schleiermacher für die Zurechnung konstitutive (wesensmäßige) jedesmalige Möglichkeit sittlicher Willensbestimmung nicht

mehr

a priori

ausgesagt

werden

(vgl.

Determinismus war mithin dem »Vorwurf«,

328,5-7).

Diese

Form

des

»daß er den Begriff der Zu-

rechnung verfälschte«, zurecht und wehrlos ausgesetzt (328,8f.). Dies gilt auch dann, wenn anerkannt wird, daß »an sich« (328,15) jedes Sittengesetz und also auch das an Glückseligkeit und (bzw. oder) Vollkommenheit

orientierte ein unmittelbar auf es selbst bezogenes Gefühl kennt. Wenn aber das Gesetz »falsch abgefaßt« ist, d.h. »noch einer Beglaubigung außer sich selbst bedarf« (328,15f.), dann widerspricht das auf die Form des Gesetzes (die Unbedingtheit seiner Konstitution und Geltung) bezogene Gefühl des-

sen Inhalt. Genau dies trıfft auf das Prinzip der Glückseligkeit zu, das seine externe »Beglaubigung ın dem als unvermeidlich angegebnen Bestreben nach dem möglichst angenehmen Zustand« (328,24-26) findet. Es trıtt dann das Dilemma auf, daß das Gefühl, wenn es sıch am /nhalt des Gesetzes orientiert, von diesem an das »jedesmalig zufällig(e) Objekt des Gesezes« (328,33) verwiesen wird, während es, wenn es alleın um der Form des

Gesetzes als unbedingien, um seiner selbst willen zu beachtenden Gesetzes willen tätıg wırd, gerade der ınhaltlichen Forderung ungehorsam wird, »die Annehmlichkeit der zu vermuthenden Eindrüke auf die Receptivität überhaupt

ım

Auge«

zu haben

der anzustrebenden

(328,231.).

Analog

bedeutet auch

beim

Gesetz

Vollkommenheit der auf den Gesetzescharakter des Ge-

setzes bezogene Trieb der Gesetzeserfüllung als partikularer Trieb ıpso facto dıe (Zer-)Störung des im Gesetz material geforderten (und extern,

nämlich anthropologisch beglaubigten) Gleichgewichts aller Seelenkräfte zugunsten derjenigen Seelenkraft, die dieses Gleichgewicht allererst herstellen soll (vgl. 329, 1-4), Sehr präzise beschreibt Schleiermacher hier dıe Aporetik einer dem Anspruch

nach zugleich rationalen und empirischen

Sittenlehre, eine Apo-

retik, die sich auch beı der Untersuchung der Ethik Eberhards am Text

292

If. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

selbst genau aufweisen ließ®!, Wenn

auch nicht in jedem

Punkt - so

insistiert Eberhard etwa gegen die Moral-sense-Philosophie auf der Abhängigkeit des moralischen Sinnes vom vernünftigen Sittengesetz und billigt dem

moralischen

Gefühl keine selbständige, geschweige

denn

fundierende

Funktion zu62 -, trifft Schleiermacher insgesamt doch recht genau Eberhards Schwanken zwischen programmatischer Nichtempirizität, reiner Vernünftigkeit und Seldstbegründung des Sittengesetzes einerseits und einer

Integration der Vernunft in das Ensemble der empirischen Seelenkräfte andererseits, die sich ım Ideal der gleichmäßigen Entfaltung aller Kräfte (und d.h.: proportional auch der Vernunft) konkretisiert und die Unabhängigkeit der Vernunft faktisch (obgleich ganz gegen dıe Intention) gefährdet. Allerdings findet sich diese Kritik bereits in hG, wenn dort die Vollkommenheitsethik als »Vermischung des Platonischen und Aristotelischen« {120,28f.) bezeichnet wird und die inneren Widersprüche herausgearbeitet werden, die sich bei konsequenter Anwendung der Grundsätze von Vollkommenheit und Glückseligkeit ergeben®?. Auch die Verteidigung der Glückseligkeitsorientierung gegen falsche Vorwürfe wie den, sie sei ganz

empirisch auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung bezogen,

findet sich in

beiden Texten (vgl. 121,21-23 mit 328,22-246*), Sieht man also ab von der freilich nicht unbedeutenden Tatsache, daß Schleiermacher den schul-

philosophischen Vernunftbegriff nun ausdrücklich als Verwechslung und Identifikation mit dem Verstandesbegriff kritisiert, während er in hG nur eine Unausgeglichenheit von empirischer und reiner Vernunft diagnostiziert, so scheint Schleiermachers Verhältnis zur Schulphilosophie zwischen

hG und ÜdF keine grundstürzende Veränderung erfahren zu haben. spricht deshalb auch

wenig

für die Annahme,

Position des »Freiheitsgesprächs«,

Schleiermacher

Es

habe die

ın der sıch dıe partielle Hochschätzung

der Schulphilosophie auch gegen Kant dokumentiert, ın der Freiheitsschrift stillschweigend aufgegeben. Offenkundig empfand er keinen Widerspruch zwischen einer aus schulphilosophischer Perspektive erfolgenden KantKritik und einer Kants epochale Klärungen aufgreifenden Kritik der Schul-

philosophie. Dies wırd auch dadurch bestätigt, daß Schleiermacher (wıe ım

folgenden noch zu zeigen ist?) seine in FG mit und gegen Kant entwickelte 61 Vgl. oben Kap. 2, 1.4.

62 Vgl. oben ebd. 63 Vgl. oben Kap. 4, 1.1.

64 Vgl. oben ebd. 65

Vgl, unten 6.

5. Historische Rekonstruktion

Freiheitskonzeption

in veränderter Terminologie,

293

erweitert und

differen-

ziert, aber in den Grundzügen unverändert übernimmt. (2) Besser als mit der These einer Art kantianischer Wende läßt sich der

in der Tat erläuterungsbedürftige Befund einer Kontinuität trotz Kritik und trotz veränderter Sprach- und Argumentationsformen erklären, wenn man Schleiermachers Entwicklung unter dem Aspekt einer sie vorantreibenden Leitperspektive

betrachtet,

wie

das

in

der

vorliegenden

Untersuchung

geschieht. Denn dann läßt sich zeigen, wie das an den Aristoteles-Anmerkungen herausgearbeitete Interesse Schleiermachers an der Erfassung und ethischen Steuerung kontingenter kommunikativer Prozesse sich zwar mit schulphilosophischen Mitteln realisierte, daß es aber zum einen bereits im Ansatz sich gegen die Eberhardsche Leitintention verselbständigte und eine

Außenperspektive darauf wenn noch nicht entwickelte so doch vorbereitete, zum andern jedoch eine Konstellation heraufführte, in der die Aporetik der Eberhardschen Konzeption offenbar wurde, nämlich an der Frage der Gegenwart

und

Vergegenwärtigung

allgemeiner

sittlicher Verhaltensorien-

tierungen in konkreten sozialen Konfigurationen. Dies setzte die Frage frei nach der Konstitution wirklich allgemeiner Verhaltensorientierungen einerseits, nach den kontingenten anthropologischen und psychologischen Bedingungen der Appräsentierbarkeit und Umständen der Appräsentation andererseits. Genau für den ersten Aspekt konnte nun die Kant-Rezeption wichtig werden, während der zweite als vorstellungstheoretische Rekonstruktion zunächst mit den Theoriemitteln Eberhards (FG), später Reinholds

(UdF) behandelt wurde. Rolle,

Für diesen Übergang

spielte nun freilich eine

daß die vorstellungstheoretische Rekonstruktion

zwar das übergrei-

fende Interesse darstellte und von daher die Kant-Rezeption limitierte, daß sie aber andererseits als Rekonstruktion des Wirklichwerdens reinvernünftiger Verhaltensorientierungen einer Theorie des vernünftigen Sittengesetzes bedurfte, die diese Reinvernünftigkeit gewährleistete. Genau dies vermochte dıe Schulphilosophie nicht. Deshalb lag es um der Konsistenz und Einheitlichkeit der Konzeption willen nahe, zwar an der vorstellungstheoretischen Rekonstruktion festzuhalten, aber sie mit Mitteln zu vollziehen, dıe mit der Kantischen Sittenlehre zumindest kompatibel sind.

Dafür bot sich aber Reinhold an, der in seiner Vorstellungstheorie Kants kritischen (theoretischen und praktischen) Einsichten mit dem Begriff des Vorstellungsvermögens einen Einheits- und Wirklichkeitsgrund zu geben

294

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

suchte, ohne dabei aber auf extern-empirische Faktoren als Beglaubigungsinstanzen zurückgreifen zu müssen®®, Reinholds

Perspektive

der

Kant-Rezeption,

die

von

den

Zeitgenossen

sehr bald als psychologisierendes Mißverständnis des Kritizismus angegriffen

wurde’,

mußte

Schleiermachers

Interesse

stark

entgegenkommen

-

gerade weil er sie nicht empirisch ınterpretierte, weil er in ihr die Möglichkeit fand, der Aporetik der Konzeption Eberhards zu entgehen, ohne dessen Intentionen aufzugeben, und weil sich ihm hier eine Interpretation Kants bot, die er seiner Leitperspektive zuordnen konnte. Das heißt nun freilich gerade nicht, daß Schleiermacher Reinholds Perspektive auf Kant und Reinholds eigenes Interesse seinerseits schlicht

und umfassend übernommen hätte. Gegen eine - dann zu postulierende 'Reinhold-Phase' sprechen nicht nur der äußerlich-biographische Befund, daß Reinhold im Briefwechsel nicht häufig und auch keineswegs euphorisch behandelt wird6®, und Schleiermachers eigene intensive Kantstudien, sondern vor allem seine bleibende Eigenständigkeit ın Thematik und Problemstellung. Zwar gibt es deutliche Parallelen ın der geistesgeschichtlichen Stellung zwischen Schleiermacher und Reinhold - beide nehmen von der Aufklärung ein 'phänomenologisch-deskriptives' Interesse auf und brechen die Problemkontinuität mit der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie nicht ab6?, beide bemühen

sich um

ein selbständiges Verhältnis zu Kant,

beide

bleiben in verschiedener Weise’® in Distanz zu den philosophischen Hauptströmungen der Zeit, für beide wird später die Begegnung mit Jacobi wichtig -, Reinholds,

66

und in gewisser Weise trıfft Brinckmanns Charakterisierung seine Vorstellungstheorie werde »durch andre Wege, die aber

Zu Reinhold vgl. E. Cassırer: Das Erkenntnisproblem ın der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Band 3: Die nachkantıschen Systeme. Darmstadt 1971 (Nachdruck der 2. Auflage 1923), 33 - 58.

67 Vgl. Cassirer, 34, Cassıirer widerspricht dieser Charakterisierung. Ihre Wirkmächtigkeit belegt aber ihre hohe Plausibilität und damit zumindest die diesbezügliche Mißverständlichkeit von Reıinholds System. 68

Vgl. die Äußerungen

zu Reinholds (und Kants) Polemik gegen

145: Brief 121 vom 8.8.1789, Z. 53-63;

Eberhard

176f.: Brief 128 vom 9.12.1789,

KGA

V/1,

Z. 262-275;

190f.: Brief 134 vom 3.2.1790, Z. 31-54. 69

Für Reinhold vgl. H. Adam: Carl Leonhard Reinholds philosophischer Systemwechsel.

Heidelberg 1930, 7 - 14.

70 Reinhold durch mehrmaligen »philosophische(n) Systemwechsel« (so der Titel der Arbeıt von H. Adam) - von der Aufklärung zum Kantıanismus, »von Kant zu Fichte, von Fichte zu Jacobi, von Jacobi zu Bardili« (Cassirer, 34) -, Schleiermacher durch

den bewußten Aufbau einer eigenen umfassenden Konzeption.

5. Historische Rekonstruktion

295

freiflich} erst durch die Kritik der Y(ernunft) gebahnt werden mußten, auf die nämlichen Resultate [sc. wie Kant] führen«’!, auch Schieiermachers

Vorgehen Reinhold wicklung dern nur

und Selbstverständnis; aber gerade diese Parallelität belegt, daß für Schleiermachers konzeptionelle Orientierung und Theorieentkein entscheidender und richtunggebender Markstein war, soneine Hilfe bei der präziseren Erfassung und Entfaltung des eigenen

Interesses’?. Wenn dieses Interesse das kontingente, bedingte, Bestimmung des Menschen tigung und Gegenwart des

zutreffend so bestimmt ist, daß Schleiermacher relative, punktuelle Wirklichwerden der idealen - und dabei (1) die Konstitution, VergegenwärIdeals selbst und seine Funktion für Selbst- und

Fremdbeurteilung, für Verhaltensorientierung und -motivation und (2) die anthropologischen und kosmologischen Bedingungen, (3) die kontingentkonkreten Umstände und (4) dıe Sphären dieses Wirklichwerdens zu beschreiben sucht, dann scheint es aber doch durch die Kantische Forderung reinvernünftiger Verhaltensbestimmung und die Befreiung des Sittengesetzes aus der Abhängigkeit extern-empirischer Beglaubigungsinstanzen

konterkariert zu werden? Jedoch: Schleiermacher nimmt seine Kritik. jener Elemente

der

Philosophie

Realisierungsbedingungen

Kants,

die einer realistischen

Beschreibung

von Sittlichkeit widerstreiten,

der

- also vor allem

der abstrakte Schluß vom Gebot der Vernunft auf seine faktische Erfüllbarkeit »Du kannst, denn du sollst«) und dıe fehlende Integration des das Sittengesetz repräsentierenden Gefühls in das Ensemble der Seelenregungen,

in dem es sıch allererst durchsetzen muß - keineswegs zurück, ebenso wenig wıe er das, was er aus der Schulphilosophie übernommen hatte - die Ohnmacht der reinen Vernunft, die kategoriale Identität des Sittengefühls mit den anderen

Seelenregungen,

die emotionstheoretische

Rekonstruktion

der Vorgänge beı den Realisierungen sittlicher Verhaltensorienticrungen -, aufgibt.

Alle Aussagen,

die die Dualität von Naturgesetz und Vernunftge-

setz als die große Errungenschaft für die Entfaltung und Verteidigung einer deterministischen Sıttenlehre betonen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Verschärfung und theoretische Vergewisserung dieser Dualität, die mit Sicherheit als einer der Haupterträge der Freiheitsschrift gelten dürfen, nur dazu dienen, eine "monistische' und konsistente

Beschreibung aller Weltprozesse zu ermöglichen, die dann eben auch Phänomene der Distanzierung von und Einwirkung auf natürliche (naturgesetzmäßige)

Vorgänge einschließt und Entitäten,

1

KGA Vi, Brief 118, Z. 147 - 149 (S. 129).

72

Zur Bedeutung

die eben dazu fähig sind.

Reinholds für Schleiermacher vgl. auch Herms,

Herkunft, 9} - 97.

296

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

Die - ım Vergleich zu Eberhard gesehen - Entzerrung von Sittengesetz und Sphäre der Kontingenz befördert damit dıe präzisere Entfaltung genau jener

Programmatik, die in hG mit dem Namen Platons verbunden war’3. Der Gewinn

an

Präzision,

die

gesteigerte

Differenziertheit

der

Mittel

zur

Beschreibung komplexer Zusammenhänge, die Integration der Kantischen Fragestellung in ein umfassendes Konzept von Welt wird besonders gut greifbar im vierten, der Behandlung des Freiheitsbegriffs zugewandten Abschnitt der Freiheitsschrift, namentlich in der dort entwickelten Theorie

der Reihen.

6. Freiheit im differenzierten Kontinuum der Welt Auf dem Weg

der Rubrizierung und kritischen Sichtung der verschiedenen

Verwendungen des Freiheitsbegriffs sucht Schleiermacher im Vierten Abschnitt noch einmal die Kompatibilität seines deterministischen Ansatzes mit einem richtig gefaßten Verständnis der Frerheit aufzuweisen. Er geht dabei aus vom denkbar abstraktesten und allgemeinsten Merkmal von Freiheit, nämlich der Abwesenheit von Nötigung durch zeitlich Vorangegangenes

einerseits, durch dem Begriff nach vorher Gedachtes andererseits (vgl. 334,23-27). Völlig analog zum »Freiheitsgespräch« entwickelt er einen diesem Merkmal entsprechenden allgemeinen Freiheitsbegriff, indem er aus Kants Definition der Freiheit als Vermögen, eine Reihe von selbst anzufangen’4, das »von selbst« als differentia specifica der transzendentalen Freiheit eliminiert. Darum muß er nicht jede determinierende Bestimmtheit des Moments der Betätigung von Freiheit ausschließen, sondern nur jeweils diejenige, »welche dem Gesez der Reihe (...) zum Grunde« liegt (338, 14f.); das die

Reihe

beginnende

und

prägende

Glied

kann

dann

durchaus

von

anderen Reihen anderer Gesetzmäßigkeit bestimnit sein. Schleiermachers oberstes Unterscheidungskriterium der Freiheitsarten ist

das nach

den

'Objekten',

von denen

»Freiheit« prädiziert werden

Dabei extrapoliert er aus den menschlichen Handlungen,

bare

und

ursprüngliche

Gegenstand

der

kann.

die der unmittel-

Freiheitsprädikation

sınd

(vgl.

339 ,31f.), den Zustand und das Vermögen des handelnden Subjekts als die

äußeren bzw. inneren Bedingungen des Zustandekommens des Handelns, auf die dann die Prädikation der Handlung als frei oder unfrei übertragen

73

Vgl. oben Kap. 4, 1.5.

74

Vgl. oben Kap. 4, 2.

6. Freiheit ım differenzierten Kontinuum der Welt

297

werden kann’>, Ist das Gesetz, von dem das Handeln abstrahiert sein muß, wenn es als frei gelten soll, »blos aus dem Begriff einer Handlung überhaupt gefunden« (340,6f.), so kann es »kein anderes seyn als das allgemeine

Gesez

alles

(340,13f.);

dessen

was

das diesem

geschieht, Gesetz

nemlich

folgende

das

Handeln

Gesez

der

unterscheidet

Causalität« sich dann

vom puren Geschehen nur dadurch, »daß es auf eine vorzügliche Weise auf das Subjekt bezogen wırd« (340,18f.), ındem es auf »das Entstehen einer Veränderung in dem (W)echselnden eines beharrlichen $Subjekts« (340, 16f.)

zurückgeführt wird. Freiheit vom allgemeinen Gesetz der Kausalität heißt dann: Die Handlung beginnt eine - begriffslogisch notwendigerweise unendliche (vgl. 340,19-23) - Reihe kausaler Determination, ohne selber »a parte

ante«

(341,11)

kausal

determiniert

zu

sein.

Genau

dies kann

vom

menschlichen Handeln nicht ausgesagt werden. Wenn der »äguilibristische‘() Begriff der Freiheit« (341,19) freies Handeln dennoch als Freiheit von aller vorangehenden Kausierung auslegt, gerät er in unauflösliche Widersprüche. Denn angesichts der Mehrzahl von Handlungssubjekten wird entweder das Kausalkontinuum zerstückelt, indem ja jedes freie Handeln die Kausalıtät aller vorangegangenen freien Handlungen (anderer Subjekte oder auch des

Subjekts selbst) abbricht (vgl. 342,22-37), oder man muß eine gedoppelte Perspektive annehmen, die es erlaubt, dieselbe Handlung zugleich als determinierte Folge der freien Handlung eines Akteurs und als freie Handlung eines anderen Akteurs zu betrachten, so daß dieser zugleich frei und bestimmt wäre. Aber selbst wenn dies möglich wäre (in Wirklichkeit löst es den reinen

Äquilibrismus auf), vermag der von der Kausalıtät abstrahierte

und Kausalreihen initiierende Freiheitsbegriff zwei Formen

des Handelns

keineswegs zu erfassen: das intentional sich auf Ändere als auf freie und nicht determinterbare irreduzibel unterschiedene Subjekte beziehende Handeln (vgl. 343,11-15), also wirkliche /ntersubjektivitär - denn dabei müßte der Handelnde die von ihm zu initiierende Kausalkette selber beschränken können -, und die solchem Handeln vorangehenden »blos innerliche(n) Handlungen«, die »als Handlungen aus gar keiner Reihe sind (,) weil sie nicht unter dem Gesez dessen was geschieht stehn« (343,17-19), und also (!) gar nicht als frei im Sinne der Freiheit vom Gesetz der Kausalität

prädiziert werden

können.

Der äquilibristische Freiheitsbegriff kann des-

halb nur auf die singuläre Handlung eines singulären Subjekts angewandt 75

Dieses Verfahren entspricht genau dem bei der Beurteilung des Wertes der Person; vgl. oben 2. - Betrachtet man die abgeleitete Freiheit von Zustand und Vermögen des Subjekts an

sich,

als distinkte Arten

der Freiheitsprädikation,

so kann

dann

ım

übrıgen

auch umgekehrt die Freiheit der Handlungen als aus derjenigen des Zustandes oder Vermögens abgeleitet behandelt werden, vgl. 339, 21-24.

298

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

werden: auf Gottes Schöpferwirken, das universale und unbegrenzte Kausalität initiierte, ohne selbst kausal determiniert zu sein (vgl. 344,10 -

345,30). Menschliche Freiheit muß dann innerhalb dieser Allbestimmtheit des Weltkontinuums gedacht werden als Freiheit von jeweils spezifischen (eingeschränkten,

näherbestimmten)

Gesetzmäßigkeiten

des Handelns

zum

Zwecke der Realisierung von Reihen eben der betreffenden Gesetzmäßigkeit. Diese Gesetze können »real« (345,19) sein und beziehen sıch dann auf die »Arten (...), wie dıe Handlungen geschehn, d.h.« - wie Schleiermacher

ganz kantisch hinzufügt - »auf die Arten wie wir das, was geschieht (,) wahrnehmen« (345,17-19), oder sıe sind »ideal« (345,22) und betreffen »die Art wie wir das (G)eschehene nach irgend einem willkührlichen Grund ın Verhältniß und Unterordnung zu einander denken« (345,20f.). Für den

realen Zusammenhang nimmt Schleiermacher, ohne dies zu begründen und mit dem Theorem der göttlichen All-Kausalirät zu vermitteln, zwei kategonal unterschiedene Arten von Gesetz an: das »Gesez der Bewegung im

Raum« als das »Gesez der Veränderungen aller Objekte des äußern Sinns« (345,25f.)

und das »Gesez der Ideenfolge ın der Zeit« als das »Gesez der

Objekte des innern Sinns« (345,27f.). Damit kann er ohne Aufhebung der durchgängigen Bestimmtheit der Weit Freiheit festhalten, nämlich als die Möglichkeit

des

Übergangs

Reihen der äußeren

von

Reihen

der

inneren

Gesetzmäßigkeit

in

und umgekehrt (vgl. 346,39f.). Schleiermacher kann

damit die für die sittliche (Selbst-JZurechnung von Handlungen

konstitutive

(vgl. 346,22-28) Freiheit der äußeren Handlung, die den »Hauptbegriff der Freiheit« (349, 11f.) ausmacht, sichern, indem er zeigı, daß der erste Grund der Bewegung im menschlichen Körper in einem nicht der physischen Kausalıtät, sondern der »psychologische(n)« (346,33f.) Kausalität der Ideen-

folge sich verdankenden Wollensakt liegt (vgl. 347,4-14). Ebenso ist umgekehrt möglich, daß physische Prozesse ‘frei’ psychische Prozesse auslösen

(vgl. 349,20-37)76. Die Möglichkeit dieses Überganges erlaubt zudem auch 76

Schleiermacher geht auf diese Möglichkeit nicht ausführlich eın. Er nennt als Beispiel Assoziationen (»Verkettungen«, 349,29), die durch äußere Eindrücke ausgelöst werden, die aber vom gewöhnlichen »Sprachgebrauch« (349,33) nicht als kausiert, sondern als beliebig entstanden aufgefaßt und mithin ganz »äquilibristisch()« (349,35) interpretiert oder aber gänzlich negiert werden (vgl. 349,33-37). - An diesem Detail zeigt sıch Schleiermachers Zwischenstellung zwischen einem ehernen, jegliche Kontingenzerfahrung abblendenden Determinismus und einer empiristischen, sich unabschließbar auf kontingente Einzelerfahrungen aufbauenden Konzeption. Er negiert Emergenzphänomene, Wahrnehmungssprünge, das Entstehen nicht unmittelbar ableitbarer und prognostizierbarer Ereignisse keineswegs, hebt sie auch nicht als uneigentliche und unrichtige Gestalten der Wirklichkeitserfassung auf ın ein unıversales Konzept monistischer Kau-

6. Freiheit im differenzierten Kontinuum der Welt

299

die »theoretische Einheit unserer Erkenntniß« (346,29f.; Hervorhebung von mir) zu wahren, indem sie die zwei Gesetzmäßigkeiten »in einer Welt, ın einem System von Erscheinungen und Veränderungen« (346,32f.; die zweite Hervorhebung von mir) zusammenhält. Schleiermacher entwickelt

hier eine höchst komplexe Theorie der Welt, in der diese als Sequenz und Kopräsenz einer Vielzahl von parallelen und zugleich einander wechselseitig beschränkenden, von wechselseitig ineinander eingreifenden (vgl. 348,28),

einander beeinflussenden

(vgl. 347,34-36)

und zugleich

Ereignisreihen erscheint.

einander unterbrechenden

Eine und dieselbe Reihe kann

dabei zugleich nach der ihr eigenen Gesetzmäßigkeit kontinuieren und eine Reihe der anderen Gesetzmäßigkeit initiieren und mithin selbst abbrechen. Mehr noch: aufgrund des »Gesez(es) der Wechselwirkung« (348,7f.) ist

nıcht nur eine Begründung einer neuen Reihe der anderen Gesetzmäßigkeit möglich, sondern auch eine wechselseitige Beeinflussung und »Veränderung« (348,13.18.24) bereits bestehender Reihen verschiedener Gesetz-

mäßigkeit. Diese Kopräsenz einander wechselseitig modifizierender und sich zugleich modifiziert selbst kontinuierender Ereignisreihen ist sogar die im Vergleich zu der Sequenz einander limitierender Reihen die 'realistischere', der »Natur der Dinge«

angemessenere

(347,37;

Beschreibungsperspektive.

vgl. 348,25:

Denn

»Natur der Sache«)

da »Veränderungen

nicht

abstrakt existiren« (348,1; Zitatumstellung von mir), sondern »in den Subjekten« (ebd.), und da dıe Subjekte - wıe Schleiermacher unterstellt »unter einander alle in einer nähern oder entferntern Wechselwirkung« stehen (348,2f.), werden alle Subjekte von allen Veränderungen in allen anderen Subjekten in irgendeiner Form tangiert und modifiziert und »gehören« deshalb nicht nur »zu einer, sondern zu mehrern ja genauer zu reden, zu allen zugleich fortlaufenden Reihen« (348,3f.). Jedoch bedeutet die

Zuordnung der Reihen zu Subjekten weder, daß die Subjekte als von den Veränderungen unberührte Substrate der Veränderungen bzw. analytische Bündelungsschemata für Reihen angesehen werden müssen, noch nötigt die Annahme universaler Wechselwirkung umgekehrt dazu, die Unterscheidung intrasubjektiver und ıntersubjektiver Kohärenzen und Interdependenzen aufsalität, sondern integriert sie als Emergenzphänomene in eın Kontinuum durchgängiy bestimmter Wirklichkeit, das so gefaßt ıst, daß es die Möglichkeit von Sprüngen einschließt. Ein ähnlicher Versuch des Zusammendenkens des als solchen anerkannten Überraschungs- und Unerwartbarkeits-Charakters von Ereignissen und eines übergreifenden und geschlossenen, Rekonstruktion der Einzelereignisse ermöglichenden Ordnungszusammenhangs findet sich auch bei Eberhard; vgl. seine Theorie der unbewußten Elementarvorstellungen (s. AThDE 54 und 61f.) und sein Beharren darauf, daß ın »der Welt (...} alle Theile auf das vollkommenste untereinanader verknüpft« sind (AThDE 58); vgl dazu oben Kap. 2, 2.2. und 2.4.

300

IL. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

zuheben zugunsten eines allgemeinen Zusammenhangs von allem mit allem.

Vielmehr sind die einzelnen subjektiven Akte der Anteilnahme an externen Reihen ıntern untereinander vernetzt, so daß jede externe Veränderung zugleich

eine

davon

unterscheidbare

Veränderung

der

internen

Balance

auslöst (vgl. 348,4-8). Der externen Wechselwirkung korrespondiert mithin die ınterne Einheit und Wechselwirkung aller Akte der Wechselwirkung ad extra. Damit

ist zugleich

Resonanzsensibilität und Selbstreferentialität des

Subjekts ausgesagt; det und bildet sich Wechselwirkungen Zum ersten Mal

das Subjekt wird zugleich durch Außeneinflüsse gebilin der Resorption und internen Vernetzung der externen selber. ist Schleiermacher hier vermittels des »Reihen«-Begriffs,

der

Kopräsenz

Annahme

der

und

Interdependenz

mehrerer

Reihen,

der

multivektoriellen Wirkung einer Reihe, der Differenzierung und Wechselwirkung zwischen externer und interner Wechselwirkung in der Lage, auf sehr abstrakten Niveau eine kompakte und komplexe

"Ontologie'

(Theorie

der Wirklichkeit) zu entwickeln, die das Komplexitätsniveau der Phänomenerfassung in den Aristoteles-Anmerkungen erreicht. Er kann jetzt Umstandsabhängigkeit und Selbstand des einzelnen Subjekts, perspektivische Mehrfacherfassungen ein und desselben Phänomens durch Eingliederung in verscheidenfartig)e Reihen und Zuordnung zu verschiedenen Subjekten, dıe Relevanz der Wahrnehmung der fremden Reaktionen auf eigene Reihenbildungen oder -modifikationen für die Selbstwahrnehmung und

Selbstkontinuierung

des

Subjekts

ete.

in einen

einheitlichen

theore-

tischen und terminologischen Zusammenhang bringen, Auch hier setzt also das praktische Interesse ein theoretisch-deskriptives Interesse frei. Die Forderung vernünftig-sittlicher Bestimmbarkeit Jedes Lebensmoments ineins

mit dem Nachweis der je nur unvollständigen Realisierbarkeit dieser Forderung, die zugleich als Movens und Richtungsweiser für Veränderung bestehen bleibt, setzt eine Theorie aus sıch heraus, die Subjekte als zugleich beeinflußbare und der selbsttätigen Beeinflussung fähige Elemente des Wirklichkeitskontinuums erfaßt und ihnen mithin in eminentem Maße wırklichkeitsstrukturierende

Potenz

zuspricht,

ohne

sie

zu

in

sich

abge-

schlossenen, zu vollständiger Distanz zu den sıe kontingent bedingenden Umständen

befähigten,

absolut

freien

Herren

ihrer

selbst

zu

machen;

besonderen theoretischen Rang erhält dabei die Wahrnehmung der irreduziblen Pluralität der Subjekte, indem dıe Subjekte herausgehobene Instanzen der Reihenbildung, -bündelung und -modifikation darstellen und deshalb besonders anspruchsvolle, besonders sensible und facettenreiche, aber auch

besonders unberechenbare und rıskante wechselseitige (und diese Wechsel-

6. Freiheit im differenzierten Kontinuum der Welt

301

seitigkeit mitberücksichtigende) Einflüsse auf die Subjektbildung ermöglichen und initiieren. Genau dıe beiden

letztgenannten

Aspekte

- die Frage

der

Freiheit

zu

situationsunabhängiger, rein an der Vernunft orientierter Willensbestimmung und die »Geselligkeit« (356,9; im Original gesperrt) - bestimmen die beiden letzten Abschnitte der Freiheitsschnift. Zunächst beendet Schleiermacher seine Systematisierung der auf die Handlung bezogenen Freiheitsbegriffe durch die Erörterung jener Freiheit, die dem aus den idealen individuellen Bestimmtheiten einer Handlung erkannten Gesetz korrespondiert (vgl. 340,36f.), d.h. genauer: die sich »auf einen idealen Zusammenhang« (349,39) von Handlungen, d.h. noch genauer: auf eine »bestimte Art den Zusammenhang des geschehenden zu denken« (340,36f., Hervorhebung von mir) bezieht. Hiermit kann weder

der gleichsam 'normale' subjektive Anteil an der rezeptiven Wahrnehmung des realen Kausalzusammenhangs der Sinnenwelt gemeint sein, noch eine beliebige Verknüpfung von Eindrücken vermittels der »Fantasie« (350,1), da diese gar nicht beansprucht, »geschehende(s)« realitätsgemäß zu syntheti-

sieren. Es geht vielmehr um diejenige produktive Tätigkeit des Verstandes, vermittels

deren

dieser eine

»Reihe

von

Erscheinungen«

(350,23)

bildet,

indem er diese »durch ihren Zusammenhang mit der Realisirung« (350,35) »einer Regel

des Willens für die Natur seines eignen

Subjekts« (350, 16f.)

als verbunden denkt. Konkret steht in Frage, ob der Entschluß zu einer dem Sittengesetz gemäßen Sequenz von Handlungen wirklich als frei von diesem Gesetz bezeichnet werden kann, wenn dieser als »Handlung des Willens« (351,5) verstandene Entschluß das erste Glied der Sequenz darstellt und wenn die Sequenz sich umgekehrt dem bestimmten Entschluß als einem »bedingte(n) Sollen« (351,4f., Hervorhebung von mir) verdankt’?. Schleiermacher weist nun aber auf, daß dıe Handlungssequenz keineswegs in so eherner Notwendigkeit von dem Entschluß determiniert ist, daß jedes einzelne Glied der Kette nicht auch »unterlassen« (351,34) werden könnte. Vielmehr steht die »Ausübung« des »moralisch (N)othwendig(en)« (351,33)

immer - und in jedem Moment und für jeden Akt neu - unter der Bedingung, daß »der moralische Trieb über alle andern Neigungen siegt« (351,35).

Dies

gilt aber

auch

für den

konkret

gesetzgebenden

und

die

Handlungskette ideell initiierenden ersten Akt des Entschlusses selbst. Daß er wirklich wurde, verdankt sich ebenso wie die daraus gegebenenfalls fol-

77

Die Konstellation entspricht der in FG im Zusammenhang der bürgerlichen Freiheit angesprochenen der Freiheit zur Eheschließung und der Gebundenheit durch die Eheschließung. Vgl. oben Kap. 4, 2.

302

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

genden und der darin offenbaren (vgl. 351,15) Gesetzgebung entsprechenden Handlungen allein einer »psychologische(n) Nothwendigkeit durch die Uebermacht einer von den streitenden Neigungen« (351,36f., Hervorhe-

bung von mir). Hier kann von freier Reihenbildung nicht die Rede sein; denn dıe innere ıdeelle Darstellung und Vorstellung einer sittengesetzgemä-

Ben Sequenz

von Handlungen

bewirkt aus sich selbst heraus weder den

Beginn noch die vollständige Realısierung der Reihe, sondern nur, wenn der Verstand »unter den Würkungen dessen(‚) was in seinem Subjekt Naturgesez ıst, Data findet wodurch seine Ideen executirt werden können

also wenn ein realer Zusammenhang vorhanden ist, der mit jenem idealen gleich Schritt geht, nıe aber gegen allen realen Zusammenhang« (352, 1417, Hervorhebungen von mir). Unter diesen Umständen kann »die Summe aller [sc. realen] Handlungen (,) dıe eine Sittlichkeit haben«, »nicht als eine Reihe betrachtet werden (...), wo ımmer das nächste Glied von dem vor-

hergehenden abhängt« (350,29-32)78, Täuschung ist die Behauptung freier Reihenbildung gemäß idealer Gesetzgebung auch ın dem entgegengesetzten Fall, daß dıe Reihe der Ver-

änderungen teleologisch auf die an ihrem Ende stehende Realisierung der sie bestimmenden Idee hin strukturiert ist. Denn das erste, die Reihe initiierende Glied steht ebenso unter dem Gesetz der Kausalität wie alle anderen;

wenn

man

aber

die

Freiheit dem

der

Reihe

überhaupt

vorangehenden

»Entschluß (,) 'das Objekt des Willens durch eine Reihe von Mitteln zu realisiren'’« (353,18f.; Hervorhebung von mir) zuschreibt, dann geht die strenge Bindung der Reihe an die Willensregel verloren, da die Verknüp-

fung realer Veränderungen nie allein aufgrund einer idealen Mittel-ZweckVerbindung notwendig erfolgt, sondern allenfalis »auf eine von unserer Idee verschiedene Weise« (353,30) dieser Idee kontingent entspricht und den

Zweck mithin gleichsam nur en passant herbeiführt (vgl. 353,23-31).

78

Bis ın diese letzten Verästelungen hinein hält Schleiermacher seine Konzeption durch, und auch hier noch zeigt sıch Verbundenheit mut wıe Differenz zu Kant. Denn während das Beharren auf der Kontingenz und nur bedingten Steuerbarkeit und Umstandsunabbängigkeit der Realisierung vernünftiger Verhaltensorientierung (d.h. deren Umsetzung in Handeln} ja genau das /nitialproblem von Kants praktischer Philosophie darstellt, folgt Schleiermacher Kants Lösungsweg nicht, nämlıch der Suche nach einem nichtempirischen 'Träger‘ (Subjekt} des umstandsunabhängigen, reinvernünftigen Prinzips der Willensbestimmung. Dies wırd auch darin deutlich, dafl Schleiermacher nicht erst das Umsetzen des Entschlusses ın Handlung, sondern schon den Enischluß selbst in dıe Kontingenz und Abhängigkeit von naturalen Faktoren hıneinzieht.

7. Geselligkeit

303

7. Geselligkeit Trifft die These

zu,

wonach

die kontingente

Realisierung

reinvernünftig

konstituierter Verhaltensorientierung in dem kausalen Kontinuum der Wirklichkeit Schleiermachers Leitperspektive darstellt und daß dabei die menschlichen Subjekte nicht in eine der Empirie enthobene absolute Außenstellung gesetzt sind, sondern nur zu einer relativen und kontingenten Distanz vom Ereignisfluß im Ereignisfluß fähıg sind, welche Distanz ihrer-

seits kontingent gefördert oder behindert werden kann, dann lassen sıch aus Schleiermachers Ausführungen über die »Freiheit als Prädikat eines Zustan-

des« (355,8; im Original Überschrift) des Subjektes wichtige Aufschlüsse erwarten, »Aussernm

insofern »Zustand des Subjekts« (339,15) definiert wird als die Bedingungen der Möglichkeit gewisser Handlungen«, als

»diejenigen Verhältniße des Subjekts zu andern Dingen, wodurch der Grad und die Richtung in der Aeußerung gewißer Kräfte desselben einer Regel nach eingeschränkt oder befördert wird« (339,15-19). Leider bricht Schleiermachers Manuskript gerade hıer ab. Der überlieferte Anfang des Kapitels

zeigt aber immerhin Richtung und Schwerpunkt der Überlegungen an. Denn Schleiermacher unterscheidet bei den die individuelle Kraftäußerung des Menschen beeinflussenden externen Faktoren - die »Dinge()« sein müssen, »mit denen er in einer Wechselwirkung steht« (355,14f.) - zwischen den »Naturdingen ausser ihm« und »den Menschen« (355,15f.). Diese

Unterscheidung begründet er mit der anthropologischen Differenz zwischen dem Menschen als Naturwesen und dem Menschen, »in so fern er aus einem andern Gesichtspunkt als dem eines blossen Naturdinges als Gesezgebend betrachtet wird« (355,16f.). Für die Freiheitsthematik kann er damit

den Einfluß der naturalen Faktoren als gering einschätzen. Denn sie setzen zwar ohne Zweifel den »Handlungen« (355,20) und »Absichten« (355,21) Grenzen. Aber sie begründen doch in erster Linie körperliche Zustände und affızieren die Seele und den Willen nur selten, zufällig und mittelbar. Dies

leuchtet allerdings nicht ein, ist doch Schleiermachers Determinismus gerade dadurch

charakterisiert,

daß

innere,

dem

Gesetz der Ideenfoige ent-

sprechende Ereignisreihen immer auch als durch äußere, dem Gesetz der mechanischen Kausalıtät gemäße Ereignisreihen ausgelöst und determiniert

müssen gedacht werden können’?. Schleiermachers Argument scheint hier aber zu sein, daß dıe externen »Einwürkungen« (355,26f.) kaum als gesetzmäßig zu erkennen sınd, da sie »durch eine äussre zusammengesezte und eben deswegen schwer zu bestimmende und immer wechselnde Complexion 19

Yel. oben 6.

304

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

von Umständen erzeugt werden« (355,27-29; Hervorhebung von mir), und daß sie von daher zwar die reale Handlungsfähigkeit (»unser Causalitäts-

vermögen über äussere Objekte welches sich auf das eigentliche Handeln bezieht«, 355,30-32) und mithin die momentane äußere Realisierung der im Willen frei intendierten kausalgesetzlichen Handlungsketten limitieren, daß sie aber für die vom mechanischen Kausalgesetz freie Willensbestimmung selber nur den (kontingenten,

keineswegs prinzipiellen)

»Unterschied

zwi-

schen thätig begehren und wünschen« (355,33) konstituieren, indem diese Unterscheidung sich dem Taxieren der sıtuationsbedingten Realisierungschancen des Gewollten verdankt. Regelmäßig (vgl. 339,18) kann dıe Wiıllensbestimmung und dementsprechende Handlungsausrichtung des Menschen also nur durch Willen und Handeln anderer Menschen beeinflußt werden. »Geselligkeit« (356,9) als

die »Gemeinschaft des Menschen mit andern Menschen in so fern sie willkührlich handelnde

Wesen sind« (356,8f.,

Hervorhebung

von

mir)

ist der

eigentliche Ort wechselseitiger Förderung oder Einschränkung der Distanzierungsfähigkeit des Einzelnen von den kontingenten Umständen zum Zwecke der selbsttätigen Selbstbestimmung, ın der Selbstbildung und soziale und naturale - Umweltgestaltung einander korrespondieren und ıneins fallen. Die Regeln des Zusammenlebens, die den »geselligen Zustand« (356,14)

des

Menschen

ım

Unterschied

zu

flüchtigen

und

zufälligen

sozialen Kontakten allererst konstituieren, existieren nun allerdings nicht starr, überzeitlich und unabhängig von der konkreten Zusammensetzung der betreffenden

Gruppe

und

von

deren

konkreten

Funktionen,

sondern

sie

variieren mit jeder »Erweiterung der Gemeinschaft«, müssen den jeweiligen Verhältnissen angepaßt und zur »Verbesserung« des Zusammenlebens modifiziert werden (vgl. 356,14-17). Diese permanente Veränderlichkeit

der sozialen Gesetze folgt direkt aus ihrem Charakter, sich auf Geselligkeit »allein [zu] beziehen

und daraus hergenommen«

zu sein (356,11);

es han-

delt sich also um positive Regeln. Positivität und Veränderlichkeit der Regeln offenbaren nun aber das Doppelgesicht des geselligen Zustandes: Einerseits determinieren die vorgegebenen

bzw.

übergreifenden

(von allen

Beteiligten als gültig anerkannten) Regeln dıe Handlungen des einzelnen Gruppenmitglieds, andererseits wirken die konkreten »Handlungen der zusammengetretenen« »direkt()« und unmittelbar »auf die Geseze der Gemeinschaft« (356,21f.). Es erstaunt, daß Schleiermacher diesen zweiten Aspekt,

der doch eher (oder zumindest zunächst) informelle, nicht juridisch sanktionierte oder verfassungsmäßig kodifizierte Regelhaftigkeiten erfaßt, als »politischen

damit

in

Zustand«

(356,22f.,

Zusammenhang

mit

Hervorhebung

der

Frage

nach

von

mir)

bezeichnet

»politische(r)

und

Freiheit«

7. Geselligkeit (356,24)

als nach

dem

Anteil

des

305

Einzelnen

an der allgemeinen

Gesetz-

gebung bringt?", während er den hier eher zu erwartenden

Begriff des

»bürgerlichen Zustand(es)«

Einfluß des

(356,20) für den determinierenden

regelhaften Gesamtlebens auf die Handlungen des Einzelnen vorbehält. Es steht Schleiermacher noch kein Begriff für die Unterscheidung zwischen staatlich-juridischen und gesellschaftlich-kommunikativen Regelhaftigkeiten zur Verfügung, so daß er zwar eine 'induktive’, die Auswirkungen individueller Handlungen und Kommunikationen auf dıe Struktur des sozialen Lebens erfassende,

und eine 'deduktive', die Strukturierung des singulären

Handelns durch soziale Vorgaben erfassende Perspektive auf das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Geselligkeit und ındıviduellem Handeln entwickeln kann, aber nicht wiederum unmittelbare, kontingente Strukturbildungen, dıe durch jegliches soziales Handeln ipso facto entstehen, von normativen Strukturen unterscheiden kann, die kontingente Abweichungen ignorieren oder sanktionieren können und sich diesen jedenfalls nicht ohne weiteres anpassen. Es scheint dies eine Schwäche ın der gesamten Frühentwicklung Schleiermachers zu seın, daß der präzisen, subtilen und perspektvenreichen Darstellung kommunikativer Prozesse und Strukturbiidungen keine hinreichend differenzbewußte Erfassung von durch Kommunikation nicht unmittelbar erreichbaren und modifizierbaren (gegen solche Modifikationen abgesicherten) Strukturen korrespondiert, daß mithin Geselligkeit und Staat, persönliche und 'amtlıche' Beziehungen konfundieren. Allerdings gibt es ın den Arıstoteles-Anmerkungen Ansätze, zumindest auf der

Ebene der Einzelkommunikationen zu differenzieren zwischen Person und Funktion

(der

König

als

Mensch

und

als

Amtsträger),

und

ım

»Frei-

heitsgespräch« werden auch politische und bürgerliche Freiheit behandelt; aber

im

einen

Text

dringen

die

Überlegungen

nicht

strukturellen Konsequenzen vor, und im anderen konventionell und marginal. Immerhin

ıst festzuhalten,

daß

Schleiermacher

zu

gesellschafts-

bleiben sie weitgehend

in den

letzten

Zeilen

der

Freiheitschrift zum ersten Mal nicht primär die Wechselbeziehungen zwischen Personen, sondern zwischen Einzelnem und Gesellschaft thematisiert, und zwar in einer Weise, die vorausweist auf den »Versuch eıner Theorie

des geselligen Betragens«®].

80 Explizit im »Freiheitsgespräch«, vgl. 145,20 - 146,8. a1

Vgl. unten Kap. 10. Vgl. aber schon den 'Vergleich der Platonischen und Ariıstotelischen Polıtik', dazu unten Kap. 7, 2.

306

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit« 8. Individualisierung und Weltregierung

Sicherlich ist es nur Zufall, daß das Freiheits-Fragment gerade mit der Erörterung der Geselligkeit endet, jedenfalls gewiß als solches noch kein Zeichen für die Bedeutsamkeit des Themas für Schleiermacher. Gleichwohl trıtt hier in gewisser Hinsicht die Pointe, der Skopus der ganzen, nun vollständıg dargestellten Konzeption besonders deutlich zutage. Denn indem

Schleiermacher die Geselligkeit wıllkürfähiger Subjekte als den entscheidenden externen Faktor der Förderung oder Einschränkung der kontingenten Äußerung der individuellen Kräfte benennt, rückt er sie selbst ins Zentrum einer Konzeption, die die Frage der reinvernünftigen Verhaltensorıentierung behandelt im Medıum und zum Zwecke der Beschreibung der innerpsychischen und externen (naturalen und sozialen) Appräsentationsund vor allem Realisierungsbedingungen des vernünftigen Sittengesetzes angesichts endlicher,

barer,

nıe völlig

Anderem und gegenwärtiger

nie vollends

autarker,

immer

vernunftbestimmter,

in lebendiger

Anderen und immer nur relativ Konstellation sich bildender und

affektiv

(ver-Jleit-

Wechselbeziehung

mit

unabhängig von deren zugleich gebildeter, je

individueller Subjekte. Genau diese Konfiguration hatte aber bereits die Aristoteles-Anmerkungen geprägt, und der Hinweis auf die hohe Bedeutung der Geselligkeit führt deshalb gewissermaßen zu den Anfängen zurück und

schließt den Kreis. Retrospektiv bewährt sich damit sowohl die Beanspruchung der Arıstoteles-Anmerkungen als Text Schleiermachers als auch die Interpretation dieses Textes selbst ebenso wie schließlich dıe Behauptung der elementaren Bedeutung des in der Interpretation erhobenen konzeptionellen Ansatzes als Leitperspektive für Schleiermachers Entwicklung. Was aber hat der weıte Weg durch dıe Grundlagen der praktischen Phi-

losophie und durch die »Annalen der Philosophie« für die Entfaltung dieser Konzeption - d.h. einerseits für ıhre materiale Explikation und andererseits dafür, daß sie in sich selber als Konzeption transparent wurde - erbracht? Zunächst erkannte und bearbeitete Schleiermacher in den den Aristoteles-Anmerkungen

folgenden Texten die dort unbehandelten,

aber für die

präzise theoretische Erfassung von - Individualität kommunizierenden und Versittlichung fördernden - Sozialbeziehungen unverzichtbaren Aufgaben (1) der Näherbestimmung des die Versittlichung orientierenden Sittengesetzes und (2) der Klärung der Konstitution, Beschaffenheit und Tätigkeits-

weise des solcher Kommunikation und Förderung fähigen und bedürfiigen Subjekts. Für die erste Aufgabe führte ihn die Beschäftigung mit Kant zur Einsicht in die innere Brüchigkeit der Eberhardschen Synthese von beanspruchter Reinheit der Vernunft, vorstellungstheoretischer /ntegrarion der

8. Individualisierung und Weltregierung

307

Vernunft ins Ensemble der Seelenkräfte und Definition der Vernunft als Vermögen, gegebene Daten in Zusammenhang zu bringen, da die Vernunft

dabei einerseits an die Daten gebunden bleibt und andererseits dıe Einheit jenes Seelenensembles zu konstituieren hat, dessen Teil sie selbst ıst. Sah er bei Kant den transempirischen Charakter der Vernunft besser gewahrt, so übernahm er ım Interesse der "Reinigung’ des Vernunftbegriffs auch dessen

Emanzipation des vernünftigen Sittengesetzes aus aller religiösen Abhängigkeit und aus allen theoretischen Bezügen (wobei bei Eberhard der Gottesgedanke selbst Teil des theoretischen Rahmens war). Doch mußte dies die ursprüngliche Problemkonstellation nicht aufsprengen, war es doch als konsistentere Ausführung des Eberhardschen Programms selber aufzufassen und löste insofern nur ein wenn auch zentrales Teilproblem der Konzeption.

Die Kontinuität weist sich auch darin aus, daß auch in der moralphilosophischen Grundlagenreflexion

Schleiermachers

Interesse unverkennbar

stets32

ausgerichtet blieb am Problem der (strukturellen und kontingenten) Realisierungsbedingungen vemünftiger Sittlichkeit. $o kritisierte er seinerseits an

Kant

nicht

nur

immanent

die

unvollständige

Elimination

empirischer

(Glückseligkeits-)Motive aus der vernünftigen Sittenlehre, sondern ebenso eine falsche, die Endlichkeit der menschlichen Kräfte nicht berücksichti-

gende Bestimmung des menschlichen Willens. Mit der ım Vergleich zu Kant noch radikalisierten Diastase zwischen Vernunft und Empirie konnte und mußte die Unzulänglichkeit und Umstandsabhängigkeit konkreter Menschen und angesichts dessen die Möglichkeit kontingent-relativer Aktualisierung vernünftig-sittlicher Orientierungen in den Mittelpunkt des Interesses treten. Die verschärfte Diastase diente also der Intensivierung der Zusammenordnung. Dem entspricht genau, daß Schleiermacher Kants Annahme eines intelligiblen, den Bedingungen der Empirie entnommenen

und daher der Sittlichkeit jederzeit vollkommen fähigen, dafür aber kaum als Individuum faßbaren Subjekts richt übernahm, sondern eine Strukturbeschreibung empirischer Subjektivität entwickelte, die zwar einerseits um der sittlichen Verantwortlichkeit und Zurechnung willen festhielt an der Zuschreibung der immer gegebenen Möglichkeit vernünftig-sittlicher Verhaltensbestimmung (was bewiesen wurde aufgrund der Unmöglichkeit des Nachweises prinzipieller Unmöglichkeit), dies aber verband mit einer realistischen Perspektive auf die innerpsychischen und externen (natürlichen und sozialen) je spezifischen Einschränkungen der Richtung und Kraft der menschlichen Lebensäußerungen, wodurch den Realisierungschancen sittlicher Orientierungen immer faktische Grenzen gesetzt sind. Schleiermacher 82 Das gilt auch, wenngleich am wenigsten offensichtlich, für hG. Vgl. oben Kap. 4, 1.4.

308

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

konnte dadurch die bei Kant auf zwei Subjekte ungeklärter Zusammengehörıgkeit aufgespaltene Dualität zwischen sinnlicher Unmittelbarkeit und sitt-

licher Steuerungsfähigkeit

in eine einheitliche

Beschreibung

empirischer

Subjekte integrieren, und zwar als Spannung zwischen individueller Faktizität und individueller Bestimmung, welche Spannung vom Individuum

selbst gewußt, aber auch sozial wechselseitig kommuniziert werden kann und zum eigenen Handeln, aber auch zu ein- oder wechselseitiger sozialer Förderung motivieren kann. Diese Strukturtheorie empirischer Subjektivität, dıe die Bedingungen der Möglichkeit und die anthropologische Funktion jener sozialen Kommunikationen offeniegt, die dıe Freundschaftstheorie untersuchte, bettete Schleiermacher - dies ıst der Hauptertrag der Freiheitsschrift - schließlich ein in eine komplexe Theorie der Welt als Kausalkontinuum, die aus unendlich vielen untereinander interdependenten (in Wechselwirkung stehenden) »Reihen« besteht und in der Subjekte als besonders integrationsfähige, der orientierenden Distanz zu bestimmten Einwirkungen bestimmter Reihen besonders fähige, eigene Reihen initiierende oder vorgegebene Reıhen eigenständig modifizierende Elemente vorkommen,

Ist diese Konzeption ungleich elaborierter als die an den AristotelesAnmerkungen herausgearbeitete, hat sie sich durch konzise Auseinandersetzung nicht nur mit Kant, sondern auch mit der antiken Philosophie ungleich stärker als philosophische Konzeption etabliert und ist daher einerseits in sıch klarer, andererseits weitaus umfassender anwendbar, auf weit mehr Kontexte hin offen und entwicklungsfähig, so fällt doch auf, daß ein

Moment der frühen Freundschaftskonzeption jetzt keine Rolle mehr spielt: die Kommunikation

eigener Individualität.

Freiheitsschrift eingehend

auf der einen

Zwar

Seite

Selbstverhältnisses, der Selbstbeurteilung,

erörterte

Fragen

namentlich

die

des

individuellen

der Wahrnehmung

eigener Ver-

gangenheit und der Projektierung eigener Zukunft, auf der anderen Seite die Möglichkeit der Förderung

der sittlichen Selbstbestimmung Anderer -

aber nirgends die Funktion der 'Selbstoffenbarung', der Kommunikation von Selbstbeobachtungen und Selbstbeurteilungen. Es scheint, daß der Ausgang von der komplexen Erfassung der freundschaftlichen Kommunikation zwischen Individuen zwar das Interesse und die Perspektive der

'moralphilosophischen Grundlagenreflexion' bestimmte und daß er auch die bleibende Bindung an die Beschreibung empirisch-konkreter Verhältnisse begründete,

daß

dabei

aber bestimmte

Momente

der Individualitätswahr-

nehmung untergingen. Es bleibt zu fragen, ob dieser Konkretionsverlust sich nicht doch dem Sachverhalt verdankt, daß Schleiermacher trotz seiner Kant-Kritik von Kant noch ın der Entgegensetzung mehr übernommen hat,

8. Individualisierung und Weltregierung

309

als er selber erkannte. Jedenfalls kritisierte Schleiermacher später Kants Juridisches Denken, das der konkreten Individualität nicht gerecht werde®3. Genau hier offenbart sich eine Aporie der Konzeption, dıe Schleiermacher selbst auffällig hervorgehoben durch Einschub eines Dialogs in den ansonsten rein diskursiven Text anspricht und auf die er bemerkenswerterweise theologisch reagiert (271,21 - 281,40). Denn in Beziehung auf die Zurechnung ist Schleiermachers Konzeption möglicherweise noch "unbarmherziger’ als die Kants, ındem sie zwar die umstands- und biographiebedingten individuellen Einschränkungen sittlicher Handlungsfähigkeit ins Auge faßt, nur um dann jedoch davon unbeeindruckt die sittliche Verantwortlichkeit um so stärker festzuhalten. Zwar hatte auch Schlejermacher die jederzeitige Fähigkeit zu sittlichem Handeln herausgearbeitet; aber im Gegensatz

zu Kant korrespondiert dieser anthropologisch-gattungsmäßigen

Befähigung die je konkrete relative Unfähigkeit. Der abstrakten Überzeugung der menschlichen »Perfektibilität« (268,36) entspricht die konkrete Einsicht in deren »Schranken (...,) über die keiner von uns ın diesem Leben hinausreichen kann« (273,32f.). Es gibt mithin für Jedes Individuum einen spezifischen Ort, an dem es sich je schon vorfindet und über den es nie vollständig verfügen kann, an dem sich die konkreten Anforderungen

sıttlichen Handelns stellen und der zugleich die sittliche Handlungsfähigkeit und deren Äußerungen seinerseits beschränkt. Entscheiden die dem Einzeinen dergestalt vorgegebenen Umstände über seine sittliche Existenz, so

scheinen

zum

einen

alle

Versuche

der

Selbstverbesserung

und

der

wechselseitigen sozialen Förderung sinnlos zu werden und es bieten sich als angemessene

Verhaltensweisen

angesichts der Betrachtung von Glück oder

Unglück Anderer nur Neid oder Schadenfreude (also untätige Distanz) an (vgl. 272,5-11), zum andern gerät die göttliche Weltregierung ins ZwieIıcht, teilt sie doch anscheinend dem Einzelnen gleichsam per Los seine individuelle Stelle zu, über die er nicht hinauskann (vgl. 272,16-32). Schleiermacher begegnet diesen Einwänden

mit zwei wichtigen Überlegun-

gen: Er schreibt die Zuteilung der konkreten Lebensumstände und -bedingungen nicht einer blinden, würfelnden Willkür oder dem Zufall zu, sondern der göttlichen »Weisheit«, die das Individuum der gerade »seiner

besondern

Beschaffenheit«

angemessenen

individuellen

Stelle zuzuordnen

wisse (vgl. 273,13-18, Hervorhebung von mir), und er überwindet die Spannung zwischen kontextueil-empirischer Eingeschränktheit und wesens-

mäßiger Perfektibilität, indem er den Bereich des irdischen Lebens über83 Vgl. die »Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre«, ed. O. Braun, Aalen

1967, 65 - 67.

310

IL. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

schreitet (was allerdings, wie Schleiermacher ausdrücklich hervorhebt, nur vermutungsweise - in Form von »Meinungen« [275,36]8% - und streng nach Maßgabe der »sittlichen Begriffe« [275,35] geschehen darf). Denn zwar ist der Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit (empirischem Wohlergehen) aufgehoben, wenn »weder der künftige Zustand unserer Empfindungen

noch

der

gegenwärtigen

unserer

sittlichen

Sittlichkeit

Verfaßung

aliein

und

sondern

hinreichend

immer

auch

in

unserer

in den

äußern

Verhältnißen gegründet« ıst (276,14-17). Die sittliche Perfektibilität ıst aber nach Schleiermacher dadurch gewahrt, daß angenommen werden darf, diese äußeren Verhältnisse seien im Jenseits »überwiegend vortheilhaft einge-

richtet« (276,18)85, so daß sie die Realisierung der geschöpflich-ursprünglichen Bestimmung nıcht mehr behinderten, sondern dieser umgekehrt sogar

zum Durchbruch verhälfen und mithin der 'hier' noch Untugendsame 'dort' der Tugend fähig wird. Die Ungerechtigkeit, die in der moralischen Zurechnung

auch

faktisch

unvermeidbarer

Handlungen

zu liegen

scheint,

wird also aufgefangen in einer umfassenden Vollendungsperspektive, die die Individuen »am Ende alle bet einem gemeinschaftlichen Ziel zusammentreffen« (276,24f.) sieht, dem alle, wenn auch »auf verschiedenen Wegen« (276,26), sich nähern, selbst wenn sıe sich davon »zu entfernen scheinen« (276,27). Diese eschatologische Vision eines auf die umfassende Realisierung der schöpfungsgemäßen Bestimmung aller (individualisierten)

Einzelnen zulaufenden universalen Prozesses (der nicht als linearer Progreß verstanden werden darf!) ersetzt die Stelle, die bei Kant die Annahme

der

letztendlichen

eın-

nimmt:

Adäquanz

von

Glückswürdigkeit

und

die Rechtfertigung der göttlichen Schöpfergüte

Glückseligkeit

und Gerechtigkeit.

Sie hat den Vorzug, bis in die letzte Konsequenz hinein die sittengesetzgemäße Selbstbestimmung von aller und sei es noch so verdeckter Orientierung an der Glückseligkeit frei zu halten und damit auch subtile Formen religiöser Lohnethik auszuschließen. Die menschliche Bestimmung besteht in sittengesetzgemäßer Exıstenz; sie ist nicht deren Folge. Die Rechtfertigung der göttlichen Weltregierung (vgl. 278,25f.) beruht nicht darauf, daß

Gott

ein

solches

Grund-Folge-Verhältnis

etabliert

und

gewährleistet,

sondern darauf, daß er die Welt so geschaffen hat, daß die Individuen unter

ihren je individuellen Lebensbedingungen und -umständen ihre schöpfungs84

85

Vgl. auch die vorsichtigen (implizit die Argumente der Kantischen Erkenntniskritik mutbedenkenden) Formulierungen in KGA Y/l, 132f.: Brief 119 an Brinckmann vom 22.7.1789, Z. 2-26; ferner Meckenstock, Deterministische Ethik, 160 beı und mit Anm. 75 (im Zusammenhang mit «Wissen, Glauben und Meinen«). Vgl.

dazu

bereits

22.7.1789 (KGA

die

wichtigen

Äußerungen

in

dem

W/1, Brief 119, 132 - 143, besonders

Brief

an

Brinckmann

132 - 133: 7. 2-82).

vom

8. Individualisierung und Weltregierung

3ll

gemäße Bestimmung erreichen können und faktisch auch erreichen werden,

auf welche Weise auch immer - oder genauer: auf ihre je eigene Weise. Indem am Ende alle vollständig tugendsam sein werden, entfällt jede Not-

wendigkeit einer graduellen Abstufung der eschatologischen Glückseligkeitszuteilung. Natürlich entfällt auch der Gedanke eines göttlichen Endgerichts. Über mögliche negative Auswirkungen dieser - zurecht als Apokatastasis-Lehre bezeichneten?

- Konzeption

auf die sittliche Motivation

in der

Gegenwart hegt Schleiermacher keine Bedenken. Der Antrieb aufgrund der Aussicht auf Wohlergehen sei ohnehin nicht sehr wirksam. Schleiermacher leugnet zwar nicht ein Vergnügen an der Tugend (vgl. 278,30f.); dies aber besteht in einer der Art nach unvergleichbaren Glückseligkeit (vgl. 278,23-

25), ın der Wahrnehmung der Ausübung der Tugend selbst und ıhrer inneren Schönheit,

nicht in verheißenen

anderweitigen

Effekten

(vgl. 280,20-

22). Umgekehrt verlieren das Klagen über die benachteiligenden Umstände der gegenwärtigen eigenen Existenz, der Vergleich mit vorgeblich vom Schicksal Bevorzugten, die nörgelnde Reflexion über eine Weltregierung, die nur ein begrenztes Kontingent bestimmungsförderlicher Lebenskoordi-

naten zur Verfügung stelle (vgl. 272,37 - 273,1), ihre Berechtigung, wenn am Ende - beim Ziehen der Summe, angesichts der Totalität der Existenz das Resultat

aller indtviduellen

Wege

dasselbe ıst. Von

diesem

Ende

her

werden dann ındıvıduelle Glückseligkeitseinbußen, Leid, Schuld - sogar der Tod, der keinen qualitativen Einschnitt bildet!8? - und soziale Benachteili-

86

Vgl, Meckenstock, Deterministische Eibik, 162.

87

Es ist allerdings nicht ganz deutlich, wie Schleiermacher das Verhältnis der vollständigen Existenz zur Sınnlichkeit auffalt, Die stärke Verteidigung der Indıviduation der Lebenswege scheint jedenfalls eine Deutung auszuschließen, die in der sinnlichen Existenz nur eine ephernere, äußerlich bleibende Durchgangsphase der Selbstrealisiening der Seele erblickt. Zudem scheint Schleiermacher auch ım »Jenseits« das Gegebensein von Handeln ermöglichenden und erfordermden Umständen anzunehmen und damit den Menschen weiterhin als selbsttätig weltgestaltendes Wesen zu verstehen - was ohne eine in irgendeiner Form gegenständige, also doch 'sinnliche' Welt kaum denkbar sein dürfte. - Dies müßte nicht unbedingt eine Korrektur der Kant-Kritik von hG bedeuten. Denn dort hatte Schleiermacher Kant nur vorgeworfen, mit der Behauptung der Vernunftnotwendigkeit der Entsprechung von Tugend und Glückseligkeit (sinnlichem Wohlergehen) implizit Aussagen über den sinnlichen Charakter der transempirischen Welt gemacht zu haben, über welche nach seiner eigenen Vernunftkritik gar keine sicheren theoretischen Aussagen gemacht werden können. Diesen merhodischen Fehler hat Schleiermacher vermieden, indem er seine Überlegungen in diesem Abschnitt von Anfang an als »Metnungen- (275,36) kennzeichnete. - Eıne andere Frage ıst allerdıngs,

312

II. Sittlichkeit - Kap. 5. »Über die Freiheit«

gungserfahrungen als punktuelle oder zeitlich befristete Entfremdung und Entfernung von der eigenen Bestimmung deutbar, wird die Unzufriedenheit darüber als Resultat verzerrter, partikularer Wahrnehmung erkennbar.

Der hier vollzogene Überschritt von der Untersuchung partikular-kontingenter Lebensvollzüge einzelner Individuen und Gesellschaften (vgl. 271,35-38) zur Entwicklung einer Perspektive auf dıe 7otalität individuellen Lebens, verbunden mit Reflexionen über dıe Möglichkeit der Einholung dieser Totalitätsperspektive in die Partikularität gegenwärtiger Existenz und

die Fragmentarität gegenwärtigen Erkennens sowie über die Funktion dieser Perspektive

für

gegenwärtige

Selbst-

und

Fremdwahrnehmung

markiert

eine Linie von Schleiermachers weiterer 'vorromantischer' Entwicklung und offenbart zugleich die systematische Kontinuität im Übergang. Mit Schleiermachers Worten könnte man von einem Überschritt von der Beur-

teilung des »Werthes der Person« aufgrund ihrer HandlungenS® zu einer Betrachtung des »Werth(es) des Lebens« überhaupt sprechen und hat damit

bereits den Titel der Schrift genannt, ın der diese Entwicklungslinie sich am deutlichsten niederschlägt. Diese Schrift soli im folgenden Kapitel behandelt werden. Zu der dort vorherrschenden synchronen Phänomemologie von Lebenssphären tritt in der Abhandlung »Über den Geschichtsunterricht« der

diachrone Aspekt der Bedeutung der Volks- und Kulturkreisgeschichte für die individuelle Selbstwahrnehmung (Kap. 7, 1.). Anhand des lateinisch verfaßten "Vergleichs der Platonischen und Aristotelischen Staatslehre' kann daraufhin untersucht werden, inwieweit Schleiermacher Ansätze einer Sozıaltheonie entwickelt, die zwischen Interaktion und Institution zu diffe-

renzieren weiß (Kap. 7, 2.). Die ontologischen Implikationen seiner Konzeption führt Schleiermacher ın seiner Auseinandersetzung mit Spinoza und Jacobi weiter aus (Kap.

8). - Auf diese Weise läßt sich das gesamte vor-

romantische Werk Schleiermachers als Explikatıon und Weiterführung einer in sich höchst komplexen, aber dennoch als Einheit erfaßbaren Problemkonstellation interpretieren.

ob diese »Meinungen« nicht doch von grundlegenderer Bedeutung für dıe ganze Argumentation sınd, als ıhnen von ıhrem Status her zukommen dürfte. 88

Vol. oben 2.

Dritter Teil

Lebenssphären

Sechstes Kapitel Realistische Selbstverhältnisse und Phänomenologie

der Lebenssphären: Die Schrift »Ueber den Werth des Lebens«

Einleitung In keiner Phase seiner frühen philosophisch-literarischen Versuche beschäftipte Schleiermacher sich exklusiv mit der Frage einer reinvernünftigen Konstitution der Sıttenlehre. Immer blieb dıe Zustimmung zu dem Projekt der Emanzipation der moralischen Verhaltensorientierung von allen empirisch-partikularen Motiven bezogen auf das Interesse an der Erfassung temporaler, komplex-mehrstelliger, kontingent-endlicher sozialer Verhältnisse bzw. an einer Strukturtheorie der Wirklichkeit, in der menschliche Subjekte als herausgehobene, aber bleibend relative Zuordnungs- und Strukturierungseinheiten {in konstitutiver Pluralität), als selbst in der Genese und Erhaltung ihrer relativen Umstandsunabhängigkeit umstandsabhängige und permanent

allererst an

rückfallgefährdete,

und

ın den

als in ihrer

Umständen

(auch

sittlichen)

sukzessive und

Individualität

unabschließbar

sıch

bildende und in und von diesen gebildete, als besonders der sozialen Wech-

selwirkung, Beeinflussung und Bereicherung bedürftige und fähige Integrationszentren vorkommen. Diese Verbindung der Objektivität und Allgemeinheit der Kriterien sittlicher Verhaltensorientierung und -beurteilung mit der differenzierten und facettenreichen Beschreibung der Strukturen jener kontingenten menschlichen (psychischen, physischen und sozialen) und kosmischen

Verhältnisse,

innerhalb

deren

sıttliche

Verhaltensorientierung

kontingent wirklich werden kann, und jenes kontingenten Wirklichwerdens selber prägte bereits das Problembewußtsein und das Darstellungsinteresse der freundschaftstheoretischen Aristoteles-Anmerkungen. Sie verdankt sich mithin nicht der Beschäftigung mit Kant, sondern bildet umgekehrt dıe Konstellation, für deren Erhellung, Entfaltung und Vertiefung sich Schleiermacher von Kant Aufschlüsse erwarten konnte. Von hierher erklären sich

sämtiiche Pointen von Schleiermachers Kantrezeption:

Mit Kant ließ sıch

316

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

dıe Reinvernünftigkeit und prinzipielle Situationsunabhängigkeit normativer Verhaltensorientierung, die bei Eberhard programmatisch durchaus ebenfalls zu finden war, aber ın der Durchführung zu Aporien führte, präziser und konsistenter fassen - und diesem Interesse ist auch die Kritik an Kants nur unvollständiger Elımination des Glückseligkeitsmotivs und der Religion aus der Sittenlehre zuzuordnen!; mit Kant ließ sich aber nichr ein empirisch-evolutionäres Konzept konkret-kontingenter Individuation von notwendig in Pluralität und Wechselbeziehung stehenden (und nur so sich individuierenden) Subjekten, die als vollständig sinnlich bestimmt der Erkenntnis und der Realisierung des Allgemein-Sittlichen fartisch nur kontingent, unvollständig und nichtpermanent fähig und deshalb der Information und Förderung

von außen bleibend bedürftig sind, entfalten: hier lıegt der

Grund dafür, daß Schleiermacher Kant eine falsche Bestimmung des menschlichen Willens vorwarf? und daß er Kants Abhebung eines intelligiblen Subjekts vom empirischen nicht übernahm, sondern platonisierend umdeutete zu der Differenz von Ideal und Wirklichkeit?. Diese Interpretation verdankt sich der Untersuchung der die intensive Auseinandersetzung mit Kant reflektierenden Texte (dıe damit auch dıe Be-

anspruchung der Aristoteles-Anmerkungen als Schlüsseltext für die Erhellung von Schleiermachers Frühentwicklung legitimiert}. Am wenigsten noch offenbarte die Schrift »Uleber das höchste Gut« Schleiermachers komplexe Problemkonfiguration als ganze; aber hier formulierte Schleiermacher

am ausführlichsten seine ausdrückliche Kritik an Kant, dıe er ın den folgenden Texten nirgends zurücknahm; hier dokumentierten sich auch positiv entscheidende konzeptionelle Weichenstellungen: vor allem die Bestimmung des menschlichen Willens als empirisch-endlich und als rein sinnlich I

Es ıst noch einmal zu betonen, daß dieses Interesse in Kant zwar seinen Hauptgewährsmann fand und sich deshalb in kritischer (mithin Außenperspektiven nıcht ausschließender) Anlehnung an ıhn auslegie, daß es abtr keineswegs ein exklusiv Kantısches Interesse war. Daher hat dıe Formulierung, Schleiermacher verbessere Kant durch Kant (in bezug auf hG bei M.D. Ryan: Young Friedrich Schleiermacher's act of religious identification. In: New Atheneum/Neues Athenaeum. Vol. 1. Lewiston etc. 1989, 142 - 172, 147: »to correct Kant by Kant«), er arbeite an einer internen Perfektionierung des Kantischen Projekts, darin ıhr begrenztes Recht, daß dieser Aspekt von Schleiermachers komplexer Problemkonfiguration (die Allgemeinheit des Sittengesetzes) sich tatsächlich am besten im Medium der Kantischen Philosophie bearbeiten ließ. Dies darf aber keineswegs so verstanden werden, als sei dieser Aspekt selbst ersı mit Kant ans Licht getreten oder gar als seien Schleiermachers fruhe theoretische Bemühungen insgesamt mit jener Formel zutreffend oder zureichend charakterisiert.

2

Vgl. oben Kap. 4, 1.5.1. Dazu auch Meckenstock,

3

Vgl. oben Kap. 4, 1.5.1.

Deterministische Ethik, 31f.

Einleitung

317

bestimmt sowie des höchsten Gutes als regularive Idee und mithin als zwar dem menschlichen Wesen angemessenes, aber nur kontingent und vom Eınzelnen nie vollständig realısierbares Ideal; hier deutete schließlich die

begrenzte Wiederaufnahme des Glückseligkeitsmotivs zwar nicht in die Sittenlehre, jedoch in die Reflexion auf die anthropologischen Bedingungen des

Wirklichwerdens

sittlicher

Verhaltensorientierungen

Schleiermachers

umfassende Arbeitsperspektive durchaus an. Genau diese anthropologischpsychologischen

Bedingungen

stellungstheoretischen nantwerdens

ım »Freiheitsgespräch«

der Appräsentation

sittlich-vernünftiger praktischer Ideen

VorstellungsDabei

wurden

Rekonstruktion

und

Begehrungsvermögen

zeigte der Versuch,

gefaßten

Kants Neuerung

ın der vor-

und

des Domi-

ın der als Einheit

Einzelseele

im Medium

von

thematisch.

der Schulphiloso-

phie zu explizieren, nicht nur die nicht spezifisch Kantische Herkunft von Schleiermachers Fragestellung auf, sondern belegte auch Schleiermachers bleibende Bemühung

um eine konzeptionelle Außenperspektive auf Kant®.

Die große Freiheitsschrift entwickelte schließlich eine großangelegte Konzeption der Wirklichkeit als durchgängig bestimmtes Kausalkontinuum, die sowohl das moralphilosophische Interesse der Sıtuationsunabhängıgkeit und

zugleich universalen (orientierenden und beurteilenden) Anwendbarkeit des (darum vernünftig zu nennenden) Sittengesetzes als auch das anthropologische Interesse der Beschreibung vielfältig determinierter und motivierbarer, faktısch nıe vollständig und nıcht durchgängig sıttlich bestimmter, je durch 4

Eine solche Bemühung ist auch ım Briefwechsel dıeser Jahre durchweg festzustellen. Vgl. etwa KGA V/l, 140: Brief 119 vom 22.7.1789, Z. 255-258. Sıe entspricht genauestens dem aufklärerischen Ideal des Selbstdenkens, das Schleiermacher schon ın seinen Barbyer Schultagen zu intellektueller Renitenz gegen die geistigen Reglementierungen und Lektürerestriktionen durch seine Lehrer trieb, das ıhm aber auch später sein (herrenhutischer!)

Water

empfahl,

indem

er

ıhn

davor

warte,

sich

zu

früh

einem

»Sysiern« ganz anzuschließen und sich dadurch von neuen Einsichten und Erkenntnissen abzuschließen bzw. sich gegen eine Berichtigung der eigenen Überzeugungen zu immunisieren (vgl. KGA V/1, 180: Brief 129 vom 10.12.1789, Z. 13-35; femer 270: Brief 202

vom

3.12.1792,

Z. 93-95).

Konkret

stand dabei im Hintergrund

das Inter-

esse, die geistige Entwicklung des Sohnes offen zu halten für eine erneuerte Erkenntnis und gläubige Annahme des stellvertretenden Sühnetods Christi. Bemerkenswerterweise schien dem Vater ein solches Offenhalten am ehesten die Philosophie Kanıs zu gewährleisten (vgl. KGA V/1, 87f.: Brief 79 [vor dem 14.8.1787], Z. 21-31). - In diesem Sınne (aber ohne diese »orthodoxen« theologischen Implikationen) betonte auch Schlesermacher selber gerne als Stärke Kants, das Denken auf sachhaltige Erkenntnis (auf die Strukturierung empirischer Eindrücke und darüber hinaus nur auf die

erkenntniskritische Erhellung dieser Strukturierungsfunktion des Bewußtseins selbst) zu beschränken und so vor den »metaphysischen Wüsten« zu bewahren; vgl. KGA V/L, 92: Brief 80 vom 14.8.1787, Z. 35-48; vgl. auch 136: Brief 119 vom 22.7.1789, Z. 126-134 ım Zusammenhang mit 2. 101-1726.

318

ihre

II}. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

Geschichte

Beschreibung

von

charakteristisch

individuierter

diese Individuierung

Subjektivität

maßgeblich

sowie

mitbewirkenden

der Inter-

dependenzen und wechselseitigen Kommunikationsprozessen dergestalt bestimmter Subjekte zu befriedigen vermag und die damit in weitaus größerer theoretischer Differenziertheit und Transparenz das Programm der Aristoteles-Anmerkungen wiederaufgreift, die Koemergenz und das wechselseitige Ermöglichungs- und Steigerungsverhältnis von seeleninterner Differenzierung und Individualisterung und von sozialer Komplexität präzise (und d.h.: als Prozeß) zu erfassen. Es ist allerdings nıcht zu übersehen,

daß dıe die Deskription phänome-

naler Vielfalt ıimplizierende Komponente der Problemkonfiguration in jenen drei Texten gleichsam gebändigt blieb durch die Konzentration auf die Frage der anthropologischen Möglichkeit und Wirklichkeit sirtlicher Selbstbestimmung und nur nach Maßgabe ihrer Bedeutsamkeit für diese Frage zum Tragen kam. Erst die Schrift »Ueber den Werth des Lebens« (KGA 1/1, 391 - 471)? zieht die Konsequenz aus der aufgewiesenen anthropologischen Unabweisbarkeit, der anthropologisch Konstituriven Bedeutung des Glückseligkeitsmotivs - und zwar in Hinblick auf die begriffliche Fassung der »Bestimmung des Menschen« ebenso wie in Hinblick auf die Beschreibung individueller Selbstverhältnisse und sozialer Sphären individuellen Sıchverhaltens. Hatten die vorangegangenen Texte die Kompatibilität einer empirisch-evolutionären anthropologischen Konzeption der sozialen Genese von Individualität mit einer nichtempirisch-universalistischen Konzeption der Verhaltensorientierung und Verhaltensbeurteilung detailliert herausgearbeitet, so bildet WL gewissermaßen die erste - auf diesen Begründungsarbeiten aufbauende,

aber eben darum auch davon entlastete - Darstellung

dieser anthropologischen

Konzeption

selbst, die allerdings

schon

in den

Aristoteles-Anmerkungen als Ziel der Leitperspektive von Schleiermachers

früher Denkentwicklung aufleuchtete. Sind diese somit als der Schlüsseltext und hG, 5

FG

und

ÜdF

als die Grundtexte jener Epoche

anzusprechen,

so

Die Schrift ist »wohl in der zweiten Jahreshälfte 1792 und zu Beginn des Jahres 1793 in Schlobitten entstanden« (KGA 171, LXHE.; die Begründung LXTIIIf.). Sie ıst hervorgegangen aus der Predigt über die »wahre Schätzung des Lebens« (SW 11/7, 135 - 152), die Schleiermacher zum Neujahrstag 1792 gehalten hatte (vgl. den Brief von Stubenrauch vom 26.6.1792; KGA V/l, 252: Brief 183, Z. 16-20). Meckenstock (KGA l/l, LXV) vermerkt darüber hinaus eine thematische Verwandtschaft zu der ebenfalls aus der Schlobittener Zeit stammenden Predigt »Von der rechten Art über die Unterstützungen und Hülfsmittel zur Besserung nachzudenken, dıe Gott einem jeden zu Theil werden läßt« (SW IL/7, 170 - 181). Für die Abhandlung hatte Schleiermacher bereits einen Verleger, der aber von der Vereinbarung zurücktrat, als Schleiermacher das Manuskript nıcht rechtzeitig liefern konnte (so Meckenstock, KGA 1/1, LXIIF.).

Einleitung

319

WL jetzt als der Haupttext. Oder, um einmal ein Bild zu bemühen dem im Vergleich zum

von WL

Bisherigen ungleich

durchaus entspricht):

(was

stärker literarischen Charakter

Bilden hG, FG

und ÜdF den schweren

Aufstieg zu dem ın AA imaginierten Gipfel, so bietet WL jetzt das freie Panorama vom erreichten Ziel aus. Diese größere Leichtigkeit und Ungebundenheit schlägt sich auch in einer - bisher allenfalls in dem fiktiven Briefwechsel »An Cecilie« sıch andeutenden - größeren Eleganz und Lebhaftigkeit des Stils nieder, die bereits auf die »Reden« und die »Monologen« vorausweist. Die Interpretation der Schrift »Ueber den Werth des Lebens« soll auf zwei Brennpunkte zentriert werden. Unter der Leitfrage der Genese realistischer individueller Selbstverhältnisse soll zunächst das Problem überhaupt der Wahrnehmung (Appräsentation), aber auch der angemessenen Beurteilung der eigenen Biographie behandelt werden (1.). Für die Realistik jener

und dıe Allgemeinheit dieser ist dabei nach Schleiermacher die Entwicklung eines Begriffes von der Bestimmung des Menschen nötig, der nun aber entsprechend den erarbeiteten anthropologischen Einsichten nicht ın der Tugend bzw. ın der Sittlichkeit des Handelns allein bestehen kann, sondern

dıe Glückseligkeit einbeziehen muß. Anders als bei der sıttlichen Zurechnung genügt dann aber für die umfassende Beurteilung bestimmungsadäquater Lebensführung nıcht die Voraussetzung der prinzipiell (unabhängig von allen faktischen Einschränkungen) sittliche Verhaltensorientierung

jederzeit ermöglichenden Struktur des individuellen Begehrungsvermögens®; vielmehr geraten dıe vielfältigen kontingenten Faktoren in den Blick, dıe Glückseligkeit ermöglichen und fördern oder einschränken und behindern. Die Allgemeinheit des Begriffs von der Bestimmung des Menschen ist hier nur dann

gewahrt,

die

Gerechtigkeit

des »Schiksals«

nur dann

zu retten,

wenn gezeigt werden kann, daß die Einrichtung der Wels so beschaffen ist, daß jedem Einzelnen in seiner individuellen Lebensstellung dasselbe Quantum möglicher Glückseligkeit im Verhältnis zu unvermeidlichem Leid zur Verfügung steht. Zum Zwecke dieses (dem gängigen vordergründigen Urteil widersprechenden) Nachweises entfaltet Schleiermacher eine umfassende Phänomenologie der Lebenssphären, die den zweiten Brennpunkt der Darstellung bildet (2.). Das Gefälle des Beweiszieles nötigt Schleiermacher dabei zu kulturrelativistischen Konsequenzen: etwa zu einer Kritik der abendländisch-aufklärerischen Verstandeskultur und zum Lob der wirklichkeitserschließenden Potenz der Mythensysteme der Völker und der Rationalıtät der Alltagswelt. Insgesamt gewinnt das Thema und die Perspektive der 6

Vgl. oben Kap. >, 1.

320

Ill. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

Geselligkeit entscheidende Bedeutung; dies bindet den im ersten Teil hervortretenden Aspekt der /Individualitätswahrnehmung zurück in seinen konstitutiven Zusammenhang mit der sozialen Dimension der Lebensfüh-

rung. Man kann jene "Phänomenologie' deshalb durchaus als einen ersten Ansatz zu einer umfassenden Darstellung der kulturellen Tätigkeits- und Erlebnissphären des Menschen ansprechen, wie Schleiermacher sie später in seinen Vorlesungen zur philosophischen Ethik systematisierend unternommen hat.

1, Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

l.l. Temporalität

Schon in den Aristoteles-Anmerkungen spielte die Reflexion auf Zeit eine wichtige Rolle’, Schleiermacher unterschied hier drei elementare Zeitperspektiven, in denen sich gegenwärtige Orientierung vollzieht: Vergangenheit, unmittelbare (selbsttätiger Gestaltung und somit gegenwärtigem Planen offenstehende) Zukunft und universale (über das individuelle Handlungsfeld hinausreichende, den umfassenden Horizont des - wohlgemerkt auch des

individuellen - Erwartens bildende) Zukunft, Diesen Perspektiven ließ sich als entsprechendes Verhalten (bzw. als entsprechende Haltung) Beurteilen und Erinnern, Sich-Orientieren und Planen, Erwarten und Erhoffen zuord-

nen. Sie alle empfingen das situationsunabhängige, transsubjektive (aber auch transsoziale) Kriterium des Sittengesetzes. Da dessen jeweilige Appräsentation und mithin Individuation in die jeweils gegebene Situation aber nicht vollständig in der Macht des vernünftigen Einzelnen steht und da die Vernunft allein nicht selber zu vernunftgemäßem Sichorientieren und Handeln motivieren kann, indem sie weder seelenintern aus sich selber heraus dominant werden noch der Einzelne seine Umgebung selber so strukturieren

kann, daß sie vernünftige Selbstbestimmung und deren Realisierung nicht behindert, bedurften alle drei zeitperspektivenrelativen Haltungen seeleninterner und sozialer Verstärkungen in Gestalt von das Sittengesetz und die Motivation zu dessen Befolgung individuierenden partikularen Instanzen; hier entfaltete Schleiermacher den komplexen funktionalen Zusammenhang

7

Vgl. oben Kap. 1, besonders 2.4.2. und 3.

1. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

321

von Sittengefühl, Religion und Freundschaft®, Steht hier die sittliche Verhaltensbeurteilung und -motivation und deren Förderung im Vordergrund des Interesses an Zeitperspektiven, so gibt es auch Aussagen, die die differenzierte Erfassung individueller Vergangenheit um ihrer selbst willen als Gegenstand der Freude und Erbauung benennen, die nun noch dadurch erhöht und vermehrt werden kann, daß dıe Vergangenheit in Gemeinschaft mit Freunden (auch wechselseitig) appräsentiert und kommuniziert wird (wobei die Erinnerung gemeinsam gut verbrachter Vergangenheit besonders

genußsteigernd wirkt)?. Trat die explizite Behandlung von Fragen der Temporalität von Selbstverhältnissen und sozialer Wahrnehmung in hG und FG zurück, freilich zu-

gunsten der Erarbeitung einer Theorie endlich-sinnlichbestimmter menschlicher Subjektivität, die notwendig Zeitlichkeit einschließt und deshalb die Beschreibung zeitlicher Selbstverhältnisse und genetisch-evolutionärer Selbstbildung

(Individuation)

sowohl

ermöglicht

als auch

dazu

nötigt,

so

rückten diese Fragen in der großen Freiheitsschrift mit dem Problem der Zurechnung wieder ın den Mittelpunkt der Darstellung. Hier wurden die ontologischen und anthropologischen Voraussetzungen der für sıttliche Verantwortlichkeit konstitutiven Identität (bzw. Identifizierung) eines gegenwärtıgen Menschen mit vergangenen Zuständen und Handlungen (bzw. mıt

dem diesen zugrundeliegenden Subjekt) entwickelt - wobei sich zeigte, daß nur ein elaborierter Determinismus sowohl das Konzept empirisch-genetischer Individuation als auch das Axiom sittlicher Verantwortung tragen kann. Hier wurde aber auch dıe Frage nach realistischen - nicht nur abstrakt die Sittlichkeit ermessenden,

kontingenten

Motive

erfassenden

sondern die konkreten Umstände

- Perspektiven auf eigene und

und

fremde

®

Dabei ist zweierlei zu beachten: Zum einen ist dieser Zusammenhang seinerseits keine zeitresistente Größe, sondern wandelt sıch mit den Lebensepochen (vgl. oben Kap. 1, 1.2.2.). Zum andern darf nıcht einseitig Sittengefühl und Religion der individuellseeleninternen, Freundschaft hingegen alleın der sozialen Komponente der Verstärkungsfunktion zugeschlagen werden. Denn immerhin reaktiviert und remotiviert der Freund das durch den alltäglichen Zwang zu beständıgem Keagıeren und Agieren übertönte, dıe für sein Tätıgwerden konstitutive Muße nicht findende und deshalb anderen, sinnlich-partikularen Motivationen das Feld überlassende Sittengefühl selbst (und mag auch - was Schleiermacher nıcht ausdrücklich erwähnt - durch die Kommunikatıon religiöser Inhalte und den Ausdruck religiöser Gewißheit in Wort und Haltung die Lebhaftigkeit religiöser Empfindungen erwecken, erhalten oder verstärken), ebenso wie umgekehrt das Sıttengefühl die Motivatıon zum Handeln zugunsten von Anderen enthält und die Religion universale anthropologische (Individuum und Gesellschaft betreffende) und kosmologische Perspektiven appräsentiert.

9

Vgl. oben Kap. 1, 2.4.2.

322

II. Lebenssphären - Kap. 6. »Uleber den Werth des Lebens«

Vergangenheit thematisch, dıe dıe gegenwärtige Selbstwahrnehmung und das gegenwärtige Verhalten gegen Ändere - ebenso wie die konkreten Erwartungen an sich und Andere - stärker prägen und präziser zu orıentie-

ren vermögen als eine rein sittengesetzliche Betrachtung, ja genauer einer solchen Betrachtung allererst ihre konkret-orientierende Kraft geben. Genau diese Frage ist nun aber die Ausgangsfrage von WL.

Der ganze

erste Teil dieser Schrift (393 - 413) dient der Entwicklung von Kriterien und Methodik einer realistischen Erfassung der eigenen Vergangenheit. Bezeichnenderweise verortet Schleiermacher das Aufbrechen dieser Frage

lebensgeschichtlich an einem den Lebensfluß wenigstens in der subjektiven

Wahrnehmung

kurzfristig unterbrechenden Einschnitt, dem Geburtstag!®.

Dieser Einschnitt ist fiktiv,

Denn

und zugleich

zwar geht das Leben auch am

in anderer

Hinsicht nicht-fiktiv.

Geburtstag »ununterbrochen

leise und feierlich seinen gleichen Schritt« (393,10f.), lich ıntensivierten Wahrnehmung der Vergangenheit

immer

und der geburtstägund Erwägung der

Zukunft korrespondiert keineswegs eine real quantitativ angereicherte Vergangenheit oder ein real quantitativ erweiterter Zukunftshorizont - »jeder Abend fodert eben so viel Vergangenheit von mir; jeder Morgen überliefert mir eben so viel Zukunft« (393,11-13) -; Jedoch ıst die Erfahrung der Zäsur

dem Menschen ebenso natürlich und real wie die Erfahrung des beständigen Fluktuierens der Zeit, des unablässıgen Verschwindens der Zukunft ın der

Vergangenheit

- ermöglicht

sie doch

die

Erfüllung

eines

humanen

Grundbedürfnisses, nämlich des distanzierten Überblicks über das Ganze der eigenen Existenz, und bildet faktisch jeweils bereits ein erstes und kon-

stitutives Moment dieses Überblicks. Freilich ist die Zäsurerfahrung seltener und ungewöhnlicher als die Erfahrung des Fließens (und setzt diese als

Bedingung ihrer Möglichkeit voraus),

und mag

sie sich auch

von selber

(wenngleich durch sozial vorgegebene Strukturierungen des Alltags provo-

ziert) einstellen, so führt sie doch keineswegs selber jenen Überblick über das Ganze des eigenen Lebens herbei, geschweige daß sie gewisse Kriterien für dessen sachgemäßen Vollzug in sich trüge.

lO

Daß

dabei

nicht der Anlal,

sondern

sein

Charakter

als Zasur

das

entscheidende

ıst,

zeigt sich daran, dal) die Predigt, die laut Briefwechsel die Anregung zu der dann in WL erfolgten größeren Ausarbeitung gab (vgl. KGA V/I, 252: Brief 183 von Stubenrauch vom 26.6.1792, Z. 16-20), eıne Neujahrs-Predigt ıst. Allenfalls könnte man erwägen, ob nıcht für die soziale Reflexion über den Wert des Lebens der Rekurs auf den Geburtstag des Einzelnen weniger geeignet sei. Umgekehrt gilt das freilich nicht: Die (von der Thematik her mit WL eng verwandten} »Monologen« sind »Eine Neujahrsgabe«.

l. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

323

Der Überblick über das Ganze ist mithin ein anthropologisch natürliches Bedürfnis, dessen Aktualisierung sich aber nicht von selbst, gewissermaßen naturgesetzlich vollzieht und deshalb immer auch Aufgabe - und zugleich immer auch abhängig ıst von der Erfahrung der Unterbrechung des Lebenszusammenhangs.

Schleiermacher erklärt dieses Bedürfnis und seine Aktuali-

sierungsbedingungen und -hindernisse aus der Struktur der menschlichen Grundvermögen Vernunft und Empfindung und ihres Verhältnisses zueinander und zur Zeit. Denn es ist dıe wesentliche Aufgabe der Vernunft, die Einheit und Kohärenz der Lebensführung unabhängig von den partikularen

und

instabilen

»Gebot

Gegenwartsinteressen

(...,} vorwärts

zu konstituieren;

und rükwärts zu sehn«

(393,35).

es ist deshalb Im

Alltag

ihr

ist sıe

aber durch zwei Faktoren an der dafür notwendigen Situationsdistanz gehindert: Zum einen ist sie selbst durch die beständig andringenden Verhaltensnötigungen in einer die unmittelbare Zukunft orıentierenden Tätig-

keit festgehalten!! und muß dabei sogar ein Interesse daran haben, eine 'phantastische' Flucht der Seele aus der Gegenwartsverantwortung in eın »müßige(s) Spiel (...) mit Vergangenheit und Zukunft« zu verhindern (393,20). Zum andern müßte die per definitionem gegenwarts- und genußorientierte Empfindung zwar Gefallen finden können an der Appräsentation von Vergangenem und von Entwürfen für die Zukunft durch die Vernunft; sie wird aber normalerweise von unmittelbaren Gegenwartsreizen besetzt, ehe ste sich jenen momentane Distanzierung voraussetzenden, durch die Vernunft vermittelten Genüssen zuwenden kann. Insofern kann Schleiermacher durchaus zurecht sagen, daß durch die geburtstägliche Zäsurerfah-

rung nicht nur die in der Biographie Einheit stiftende Tätigkeit der Vernunft erweckt und erleichtert wird,

sondern daß eben dadurch auch ein Interesse

der Empfindung befriedigt wird, wenngleich dieses weiterhin dem Interesse der Vernunft an Unparteilichkeit des Zugriffs auf die Vergangenheit wesentlich

gegenläufig

bleibt

und

den

Faktenreichtum

der

vernünftigen

Vergangenheitsbetrachtung ebenso wie die Richtung der Zukunftsorientierung für seine höchst parteiischen (selbstbezogenen) Gegenwartszwecke zu

instrumentalisieren sucht (vgl. 393,33 - 394,2)12.

Il

Es erstaunt etwas, daß Schleiermacher hier diese unmittelbar die Empirie strukturierende Tätigkeit nicht kantisch als Verstandestätigkeit von der Einheitsfunktion der Vernunft abhebt.

[2 Gleichwohl hält Schleiermacher das Streben nach völliger Elimination des Motivpotentials der Empfindung bei der Selbstbetrachtung zumindest für eine faktisch unrealistische, jedoch, wie sich zeigen wird, auch für eine der anthropologischen Wesensbestimmung des Menschen zuwiderlaufende Verhaltensoption.

324

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens« 1.2. Die synthetisch-reduktive (selektive) Konstitution von Identität

Es ist nun

keineswegs

so, daß Schleiermacher

chung des Lebensstroms Lebensstrom

möglich

umstandslos

naıv die in der Unterbre-

gewordene Totalperspektive auf diesen

für

eine

realitätsgerechte

Punkt-für-Punkt-

Darstellung der Vergangenheit hält. Der Rückblick auf die Vergangenheit bildet

diese

nicht

schlechtweg

ab;

er konstruiert

sie vielmehr,

genauer:

ihren Zusammenhang und ihre Einheit. Ebenso wie die Zäsurerfahrung die Ausnahme ıst, ist auch die in ihr erfaßte personale und individuelle Totalität nicht einfach in der Wirklichkeit vorfindlich. Dies gilt nicht primär deshalb, weil das beobachtete vergangene Leben sıch zwar nicht ohne Selbstbewußtsein und beständige begleitende Selbstwahrnehmungen vollzog, diese aber meist undistanziert und kaum reflex im Zusammenhang unmittelbarer Verhaltensnötigungen, also ohne elaborierte Totalperspektive erfolgten. Denn dagegen könnte der Rückblick ja die Wahrheit des Überblicks, der Erkenntnis der Ursachen und Folgen, der Einsicht in die weiteren Kontexte etc. beanspruchen. Genau dies ist aber aus dem Grund unmöglich, daß vergangene Selbstwahrnehmungen,

Selbstzuschreibungen,

Selbstthema-

tisierungen - selbst wo sie in Zäsurerfahrungen Totalitätsperspektiven entwickeln und personale Synthesen ausbilden konnten - nıcht diachron immer

demselben

»Maaßstab«

(394,5)

gehorchten.

Weil

der

Einzelne

»(s)einen Zwek, (s)eine Art dazuseyn, ja fast (s)ein ganzes Wesen mehr als einmal gewechselt« hat (394,6f.; Hervorhebungen von mir), deshalb fällt es ihm ın der Gegenwart schwer, vergangene Zustände und Verhaltensweisen als eigene anzuerkennen, ja sogar vergangene Gegenwart (und ihre

damalige Deutung, die damals präsenten Vergangenheitsbeschreibungen, die damals virulenten Zukunftsperspektiven) in ihrer Konkretheit überhaupt zu erkennen. Die gegenwärtige Totalperspektive auf die eigene Existenz ist deshalb notwendig immer synthetisch-reduktiv: Sie erfaßt nicht das »Ganze() der Vergangenheit«

(394,11),

und sie synthetisiert die seligierten

Einzelmomente

zu einer Einheit

(die nicht notwendig

Selbsterfahrung

entspricht).

bedingen

Dabei

der vergangenen

und verstärken

Selektion

und

Synthese einander wechselseitig: Die, wie es scheint für Schleiermacher durch die unablässigen biographischen Veränderungen und durch die Perspektivität

und

begrenzte

Fassungskraft

des

menschlichen

Erkenntnis-

und Erinnerungsvermögens unvermeidliche und mithin anthropologisch konstitutive Selekrivirät der Vergangenheitswahrnehmung erleichtert die Identitätssynthese schon dadurch, daß sie Disparates, Widersprüchliches, gegenwärtiger Haltung Uneinsichtiges faktisch (d.h. auch ohne dies bewußt zu

intendieren)

eliminiert,

und

bildet

so

bereits

deren

erste

Stufe;

1. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

325

andererseits fixiert die Synthese das Selektionsresultat und determiniert dadurch in gewissem Maße zukünftige Selektionen!?. Freilich steht der synthetisch-reduktive Charakter der Selbstbetrachtung in einer gewissen Spannung zu Schleiermachers Anspruch und Ziel einer realistischen Wahrnehmung und einer darauf fußenden sachgemäßen Beurteilung der Vergangenheit. Geht man von diesem Beurteilungsinteresse aus, so scheint Schleiermacher allerdings dıe Urteilskritenen mit den Selektionskriterien zu identifizieren. Denn die größere Einheit, Übersichtlichkeit, Strukturiertheit und Klarheit (vgl. 394,12-14) des Bildes von der eigenen Vergangenheit verdankt sıch nicht (oder nicht nur) einem orientierungslosen

Vergessen!*, sondern der gezielten Selektion bestimmter Arten von Phänomenen, die ihrerseits dann möglichst vollständig erfaßt und mithin dem Vergessen geradezu enirissen werden sollen. Schleiermacher nennt als solche Phänomenarten einerseits die erfahrenen »Freuden und Widerwärtigkeiten« sowie die Art, »wıe ich beides hingenomen«, andererseits alle (!) »guten Handlungen und alle{) Beweise() meiner Menschlichkeit« (394,15-

17). Der Anspruch auf Realismus hängt dann nicht mehr am Postulat einer umfassenden 'photographischen', unqualifizierten Erhellung aller möglichen Momente der Vergangenheit, sondern daran, ob die die Wahrnehmung

der Vergangenheit leitenden Selektionskriterien geeignet sind, die für die Beurteilung der Essenz gelebten Lebens erforderlichen Informationen beizubringen. Umgekehrt nötigt aber der Realismusanspruch selbst dazu, diese

Essenz nicht so abstrakt und transempirisch zu bestimmen, daß die Beurteilung mit einem Minimum an konkreten Details auskommen kann und so die Individualität und innere Mannigfaltigkeit der zu beurteilenden Existenz gar nicht mehr in den Blick bekommt. Ein so abstraktes Kriterium wäre dıe Siztlichkeit.

Wie

dıe große

Frei-

heitsschrift ausführlich gezeigt hat, erfordert sie gerade keine eingehende Kenntnis der konkreten Umstände und Motive einer Handlung, sondern nur die Wahrnehmung und Rubrizierung von deren faktischem Vollzug und dessen Zuordnung zu einem Handlungssubjekt!?®. Allerdings impliziert schon dies die Wahrnehmung der Individualität und damit auch der Um-

stände der Handlung und ermöglicht Rückschlüsse auf die realen psychischen Zustände des Handelnden; die daraus erlangten Kenntnisse können 13

Allerdings betont Schleiermacher beim Zukunftsaspekt der gegenwärtigen Selbstihematisierung als deren hauptsachliche Beschränkung die Unbestimmtheir der entworfenen

Zukunftstotalität. Vgl. 394,3f. 14 Sonst wäre dieses Bild ja auch kaum als Resultat einer Synthese zu bezeichnen.

15 vgl. oben Kap. 5, 2.

326

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

durch Analogieschlüsse

aus der Selbsterfahrung

angereichert

und

durch

Akkumulation von Urteilen über Einzelhandlungen eines bestimmten Subjekts präzisiert und aufgrund errungener Kohärenz dieser Urteile wahr-

scheinlicher gemacht werden!®. Doch selbst dies genügt nicht den Ansprüchen an realistische Individualitätswahrnehmung, vor allem auch deshalb nicht, weil es den phänomenalen Reichtum der Selbst- und Fremdbeobachtung im faktischen, alltäglichen Umgang mit Anderen weit unterbietet!’?. Selektionskriterium kann deshalb nicht allein die praktische Vernunftgemäßheit sein. Das gilt ın mehrfacher Hinsicht: Die Wahrnehmung der eigenen Vergangenheit darf sich nıcht allein auf Handlungen

beschränken,

sie muß auch Erlebnisse, Empfindungen, subjektive Deutungen, kontingente Umstände etc. einbeziehen. Daraus folgt aber, daß auch die Beurteilung der eigenen Vergangenheit nicht alleın nach Maßgabe der Sittengesetzge-

mäßheit, sondern ebenso am Maßstab der Erlebnisqualität von Widerfahrnissen

und

Verhalten

macher deshalb

erfolgen

muß.

Völlig

Vernunft und Empfindung

konsequent

nennt

Schleier-

als die beiden gegenwärtigen

Urteilsinstanzen der Vergangenheit und ebenso Handlungen

und Erlebnisse

als die beiden zu erfassenden Objekttypen der Vergangenheit. Erst dies gewährleistet nach Schleiermacher eine realistische Erfassung und zugleich eine sachgemäße Beurteilung der eigenen Lebensgeschichte - und daraufhin auch den Entwurf von zugleich realistischen und vernünftig-sittlichen Zukunftserwartungen (vgl. 394,17-21). Diese komplexe Figur ermöglicht es Schleiermacher bereits jetzt - ehe

das Verhältnis von Vernunft und Empfindung bei der Beurteilung der Lebensgeschichte geklärt ıst -, verschiedene Perspektiven auf das eigene Leben

als unrealistisch oder unsachgemäß

auszuscheiden.

Ebenso

wie ein

generös-allzugnädiger Rückblick, der alles faktisch Unangenehme aus der Erinnerung eliminiert oder zum Angenehmen umdeutet (vgl. 397,3 398,25)18,

so projiziert auch die umgekehrt von aller tatsächlich empfun-

denen Freude abstrahierende Stilisierung des eigenen Daseins zu einem beständigen Kampf gegen Widrigkeiten

(vgl. 393,26 - 400,32) gegenwärtige

Empfindungen oder übergreifende emotionale Einstellungen (als basale Gemeinsamkeit, als spezifische Tönung aller Empfindungen, als Tempera-

16 Vgl. ebd. 17 Vgl. oben Kap. 5, 3. 8

Das heißt wohlgemerkt etwas anderes, als am damals Unangenehmen jetzt auch angenehme Seiten zu entdecken, namlıch dies, jene Erfahrung des Angenehmen als ın der damaligen Erfahrung gegeben zu behaupten und mithin die Differenz von vergangener Gegenwart und vergegenwärtigter Vergangenheit zugunsten der letzten aufzuheben.

l. Die Genese realıstischer Selbstverhältnisse

327

ment!?) in die Vergangenheit und verhindert dadurch deren detaillierte und

adäquate Erfassung. Zwar sind weder die Zufriedenheit und Genußbereitschaft der einen Position noch die Nüchternheit und Einsatzwilligkeit der anderen in sich abwegige und verwerfliche Haltungen - Schleiermacher gibt

vielmehr selber ihre oberflächliche Ähnlichkeit zu der seinen zu (vgl. 395,4-13) -; jedoch ihr pauschalisierender Charakter führt ineins mit der unrealistischen Wahrnehmung der Vergangenheit zu illusionären Selbstverhältnissen, und ihre jeweilige Einseitigkeit führt zu spezifischen Formen der Enttäuschung und Verbitierung: Der am beständig erneuerten GegenwartsVergnügen ÖOrientierte und damit Zufriedene wird die Flüchtigkeit Empfindungen erfahren und den Tod wenn nicht überhaupt als Ende

der der

eigenen Existenz so doch als definitive Distanzierung von allen positiven Lebensmöglichkeiten auffassen und fürchten (vgl. 398,13-25); der ın

Kampf und Überwindung seinen Lebenssinn Findende täuscht sich über die Endlichkeit seiner Kräfte (vgl. 400,23-32) und kann angesichts der Übermacht der unablässig andrängenden Verhaltensnötigungen am Ende gewissermaßen per definitionem nur sein Nichtgenügen, sein Scheitern konstatieren. Schließen

diese

beiden

Haltungen

nicht

notwendig

explizit

Amoralität

der individuellen Kriterien der Selbstbeurteilung ein, ja läßt sich die zweite geradezu als die Karikatur der Selbstwahrnehmung und Seibstbeschreibung eines Kantianers lesen, so sucht im Gegensatz dazu in der dritten dargestellten Perspektive (vgl. 400,32 - 402,38) der Erinnernde ın der Vergangenheit ausschließlich »Denkmale« (400,36) seiner Tätigkeit, Spuren von Äußerungen seiner Kraft rein als solchen, unabhängig seiner Handlungen« (401,34) und mithin auch von

Qualität.

Doch

vom genauen »wie deren moralischer

ist diese Perspektive nicht nur amoralisch,

indem

sie als

Kriterium der Güte einer Handlung deren »Grösse« (401,40) und nicht dıe

Sittlichkeit verwendet, sondern sie ist auch nicht weniger unrealistisch als die anderen: nicht nur weil sie abstrahiert von der hohen Bedeutung passiv empfangener Eindrücke für die vergangene jeweils momentane Selbsterfahrung, sondern vor allem weil sie fälschlicherweise unterstellt, daß die damalıge Verhaltensorientierung - also: die Perspektive auf die unmittelbare

Zukunft der damaligen Gegenwart20 - ebenfalls unter Absehung von der Moralität der zur Auswahl stehenden Verhaltensmöglichkeiten allein nach Maßgabe des Quantums zu realisierender Tätigkeit und der aufgrund der reflexiven Wahrnehmung

des eigenen Tätigseins und der daraus folgenden

19 Vgl. 396,4. Siehe dazu schon oben Kap. 1, 3.2. 20 Ygl. oben 1.1.

328

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

physischen

Wirkungen

und

sozialen

Resonanz

zu gewärtigenden

Berei-

cherung des Selbstgefühls erfolgte. Freilich bleibt Schleiermachers Behaup-

tung, dies sei nicht der Fall, ihrerseits bloße Unterstellung; jedenfalls vermag er sie nicht konsistent zu begründen. Denn einerseits verortet er den Irrtum dieser Vergangenheitsperspektive ın dem Zusammenhang,

in den der

Rückblick die vergangene Handlung stellt, während damals »die Handlung an sich,

wie sie war«,

erschien (402,6);

andererseits soll nun aber gerade

das Kriterium der Größe des Tätigseins gar nicht zu übergreifender, über die Gegenwart hinausreichender und gewisser Verhaltensorientierung tauglich sein - was auch der Grund für die dieser Vergangenheitsperspektive spezifische Enttäuschung ist, nämlich den Verlust einheitlicher, situationsunabhängiger und eben deshalb ın jeder Situation schnell anwendbarer Ori-

entierungskriterien und darum dıe Zerrüttung der »Ruhe für dıe Zukunft« (402,30). Möglicherweise argumentiert Schleiermacher hier folgendermaßen: Das Kriterium für die synthetische Rekonstruktion der eigenen Vergangenheit eignet sich nıcht zur Orientierung für die unmittelbare Zukunft, wie der Verlust der Erwartungssicherheit hinsichtlich des eigenen Verhaltens zeigt, deshalb ist seine Rückprojektion in vergangene konkrete

Entscheidungssituationen unrealistisch. Freilich erklärt dies zwar das Auseinanderfallen von zu rekonstruierender Situation und derartigem Vollzug der Rekonstruktion, aber noch keineswegs die Annahme, daß bei der Verhaltensorientierung

faktisch

immer

auch

moralische

Motive

und

Kriterien mitpräsent und darum nicht nur bei der moralischen Beurteilung, sondern schon bei der Rekonstruktion mitzuberücksichtigen sınd.

1.3. Abstraktion von Gegenwartsinteressen als methodische Bedingung

Schleiermachers Typologie von Fehlformen des Bezugs auf die Totalität der eigenen Existenz wurde deswegen so eingehend behandelt, weıl sıe ın der Negation die Gesichtspunkte, unter denen nach Schleiermacher eine adäquate Erfassung der eigenen Geschichte zu erfolgen hat, und dıe dabeı auftretenden methodischen und lebenspraktischen Probleme facettenreich offenbart. Entscheidend ist hier dıe Einsicht in den konstitutiven funktionalen Zusammenhang der Vergangenheitsperspektive mit der unmittelbaren Verhaltensorientierung. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht: Zum einen setzt eine realistische Einschätzung der eigenen momentanen Verhaltensmöglichkeiten eine realistische Selbstkenntnis voraus, die durch eine weder beschönigende noch abwertende Rekonstruktion des eigenen So-geworden-Seins erworben werden kann - wobei gerade die detaillierte Appräsentation einer

1. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

329

möglichst großen Anzahl eigener Lebensmomente die individuelle Orientierungsfähigkeit erhöht, indem sie für vielfältige Lebenskontexte eigene reale

Verhaltens- und Erlebnisweisen samt deren spezifischen Einseitigkeiten, Risiken und Folgen vor Augen führt?!. Zum andern erlauben die Aspekte und Probleme gegenwärtiger Verhaltensorientierung, die Realistik der Rekonstruktion vergangener Gegenwarten zu kontrollieren. Das heißt nun freilich gerade nicht, daß die Synthese der eigenen Biographie jeweils unmittelbar nach Maßgabe der gegenwärtigen

Bedürfnisse,

Empfindungen, Neigungen etc. erfolgen dürfte. Eben diese Nivellierung des 'Eigenwerts‘ der Vergangenheit und deren daraus folgende Disponibilität und Variabilität ist durch die funktionale Zuordnung der Identitätssynthese zur Verhaltensorientierung gerade ausgeschlossen. Denn zum einen hängt die Brauchbarkeit

der appräsentierten

Vergangenheit

für die gegen-

wärtige Orientierung an der Realıstık und Vielfalt der vergegenwärtigten und zu einer individuellen personalen Einheit synthetisierten und dieser Person zugeschriebenen Phänomene. Zum andern aber ist eine rein anhand situationsimmanenter und individueller Kriterien sich vollziehende Verhaltensorientierung nach Schleiermachers durchgängiger Überzeugung?? in

sich widersprüchlich, weil sıe keineswegs zur Selbstbestimmung führt, sondern den Einzelnen im Gegenteil ungeschützt der Nötigung durch Situation und psychische Disposition aussetzt; sıe ıst deshalb auch keineswegs reali-

tätsgerecht,

weil

sıe dıe für eine adäquate

Situationsbeurteilung

(wenn auch nur relative) Situationsdistanz verhindert.

nötige

Das bedeutet jedoch,

daß die Verhaltensorientierung ıhrerseits um ihres Anhalts an der Wirklichkeit willen von den unmittelbaren Gegenwartsinteressen zu abstrahieren und allgemeine Kriterien zu entwickeln oder zu verwenden hat und daß mithin

gerade die funktionale Zuordnung der Vergangenheitssynthese zur Verhaltensorientierung und die Forderung der Identität der Kriterien von Orientierung und Rekonstruktion dıe "Autonomie’ der Rekonstruktion gegen Gegenwartsansprüche impliziert und sichert und damıt auch den Freiraum für ihre Realistik schafft. Diese Überlegungen

machen

plausibel,

warum

im Gegensatz

zur gesel-

lig-fröhlichen Rückschau auf das vergangene Jahr an Silvester (vgl. 394,26 - 395,2) die geburtstägliche Einsamkeit die geeignete 'Zäsurerfahrung', der

21

Freilich

führt

Schleiermacher nicht

aus,

wozu

bei diesem

akkumulativen

Verständnis

des Erwerbs von Lebens- und Selbsterfahrung noch eine genetisch-sukzessive Betrachtung nötig sein sollte. Vgl. aber unten die Unterscheidung zwischen akkumulativer und gemäß einem Prinzip strukturierter Einheit der Biographie. 22

Vgl. etwa oben Kap. 1, 3.1. und Kap. 4, 1.1. (Kritik an Aristoteles).

330

ll. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

geeignete "Sitz im Leben‘ ist für eine unparteiisch-aufrichtige Betrachtung der eigenen Vergangenheit.

Hier sind am ehesten die äußeren Bedingungen

für den Vollzug jener Abstraktion von den »theuern Triebfedern meines jezigen Daseyns« (403, 12f.) gegeben, die nach Schleiermacher die methodische Folge aus der Forderung der Angemessenheit der gegenwärtigen Beurteilung der Vergangenheit zu einer realistischen Erfassung der damaligen Gegenwart darstellt (vgl. 403,1-4). Dies gilt zumal deshalb, weil Schleiermacher als solche verzerrenden »Triebfedern« nicht nur und nicht einmal primär innerpsychische Faktoren wıe das Bedürfnis nach ımmer

neuen »Bilder(n) und Gedanken« (404,2), die Trägheit der Empfindungskraft, immer bei sich zu bleiben und die Vergangenheit nach eigenem Bilde zu schaffen, das alle Wahrnehmungen spezifisch färbende Temperament

oder auch den kalten Ernst der Analyse?? nennt, sondern zunächst diejenigen herausgehobenen sozialen Beziehungen, dıe für eine nicht-entfremdete humane Lebensführung konstitutiv2® und die auch für Schleiermachers mo-

mentanes Dasein von höchster Bedeutung sind2°: Freundschaft, familiäre Häuslichkeit, Bildung?®. Doch selbst und gerade wenn die Abstraktion von Gegenwartsinteressen gelingt, stellt sich um so dringlicher die Frage nach den Kriterien der unparteiischen Selbstbetrachtung

23

und nach dem

»Princip« (404,16),

dem

ge-

Dies ist höchst bemerkenswert. Unparteilichkeit darf also nicht ohne weiteres mit Unbeteiligtsein, mit fehlender Empathie gleichgesetzt werden. Freilich ıst die Deutung der Stelle nicht ganz einfach. Es kann hier daran gedacht sein, daß für die Wahmehmung und Beurteilung der Vergangenheit die unpartetische Anwendung des vernünftigen $irtengesetzes zwar ein notwendiges, aber keineswegs ein für sıch schon hinreichendes

Mittel ist. In diesem Fall ließe sich ein Bezug herstellen zu ÜdF, wo die reine sittlichrationale Beurteilung der Handlungen und daraufhin der Person Anderer als dem faktischen Umgang mıt dıesen unangemessen und deshalb unrealistisch, ja sogar als ın sıch immoralisch kritisiert wurde (vgl. oben Kap. 5, 3.). Es läßt sich aber auch (wobei das eine das andere nicht ausschließt) eine Linie ziehen zu Schleiermachers Kritik der europäischen Monopolisierung des Wiıssensbegriffs weg von der Vielfalt der Phänomene hın auf rationale Strukturen, weg von der Anschaulichkeit der Bilder und Mythen hin auf den bildlosen Buchstaben. Vgl. unten 2.6. 24

Eine ganz ähnliche Abstraktion von allem, was normalerweise wichtig ıst, und dabe: auch von der Freundschaft findet sıch in dem frühen Text »An Cecılie«, dort als Folge der religiösen Krise, die alle vertrauten Lebensverhältnisse in ıhrer Geltung erschüttert. Vgl. oben Kap. 3, 3.

25 Das belegt der Briefwechsel eindrücklich. Vgl. KGA V/l, 221: Brief 160 vom 16.8.1791, Z. 160-174. 26 Gemeint ist das innige Verhältnis des Hauslehrers zu den seiner Obhut unterstellten Kindern des Hauses und seine Freude an ıhnen. Konkret vgl. KGA

Brief 149 vom 17.12.1790.

V/l, 204 - 211:

1. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

331

mäß das »Aggregat (...) von ungleichartigen Dingen« und von »heterogenen Theile(n)« (404,15f.), das sich aus der Vergangenheitswahrnehmung ergeben hat, zu einer in sich strukturierten Einheit, zu einem

Ganzen syntheti-

siert werden kann?’. Vom bisher Entwickelten her leuchtet ein, daß das Kriterium des Urteils über mein je eigenes Leben nicht aus der Faktizität dieses Lebens abgeleitet werden kann (vgl. 404,6-8), denn dann wäre entweder keine Defizienz an diesem gelebten Leben mehr feststellbar, oder die konkrete

Defizienz

dieser Biographie

würde

zum

Maßstab

menschlichen

Daseins überhaupt, was für das betreffende Individuum Differenzerfahrungen vermiede, aber auch Orientierung verunmöglichte.

Das Kriterium muß

vielmehr in einer allgemeinen Idee über die »Bestimmung des Menschen« (406,31;

Hervorhebung

von

mir)

bestehen.

Diese

Bestimmung

muß

zu-

gleich mehr und weniger umfassen als das vernünftige Sittengesetz, weil der Mensch

nicht als alleın durch das Sittengesetz bestimmt

und weıl das

Sittengesetz nicht als durch die endlich-sinnliche Konstitution des Menschen eingeschränkt gedacht werden darf, Erst eine solche, dem sinnlich-sittlichen Doppelwesen des Menschen adäquate allgemeine Idee gibt das »Princip« ab, vermittels dessen alle Phänomene der eigenen Vergangenheit unter einem einheitlichen »Maaßstab« betrachtet und zu einer Einheit synthetisiert werden können, dıes nun aber so, daß die Biographie nıcht zum Kriterium ıhrer selbst wird,

sondern daraufhin untersucht werden

kann, ob und wie in ıhr

die allgemeine menschliche Bestimmung individuell und ım Einzelfall realisiert wurde. Aus einer solchen ldee können dann auch jene psychologischen, physiologischen, sozialen und kosmischen Bedingungen extrapoliert werden, die für eine konkrete Realisierung der menschlichen Bestimmung gegeben sein müssen. Das Ensemble dieser unentbehrlichen und unver-

fügbaren

äußeren

betreffenden),

und

inneren

strukturellen

und

(d.h.

Fähigkeiten

kontingenten

und

Kräfte der Seele

Voraussetzungen

für

eine

bestimmungsgemäße Lebensführung nennt Schleiermacher »Leben« (406, 22.26 u.ö.; Hervorhebung von mir)28. Die Eignung eines Begriffs der »Bestimmung des Menschen« zur Beurteilung vergangener Daseinsmomente hat sich dann aber darin zu erweisen, ob ıhm ein Verständnis des Lebens kor27

Die Unterscheidung der unstrukturierten, aus der Akkumulation und Komplexion einer unbestimmten Vielzahl dısparater Elemente entstehenden Einheit des Aggregats und der durch gedankliche Abstraktion geordneten, dabei aber elementärmeren Einheit der Struktur findet sich bereits in Eberhards Vorstellungstheorie. Vgl. oben Kap. 2, 2.2. 2.4.

28

Es ist allerdings zu beachten, daß Schleiermacher diese Sprachregelung nicht immer eindeutig durchhält und auch vom individuellen Leben im Sinne von Dasein spricht. Vel. etwa 404,6-8.

332

III. Lebenssphären - Kap. 6. «Ueber den Werth des Lebens«

respondiert, das die prinzipielle Zuträglichkeit des Lebens zur individuellen Bestimmungsadäquanz impliziert. Daß es sich hier um ein Problem der umfassenden Konstitution der Wirklichkeit überhaupt handelt, wird deutlich,

wenn Schleiermacher als diejenige Instanz, die die erforderlichen Voraussetzungen bereitstellen und die förderlichen Umstände herbeiführen kann, das »Schiksal« nennt (427,9.18 u.ö.).

1.4. Probleme der Entwicklung eines Begriffs von der »Bestimmung des Menschen« Es besteht eine unübersehbare Spannung zwischen der Behauptung des nicht

reinvemünftigen, ımmer und also auch in der Erkenntniskraft empirisch eingeschränkten Wesens und der Forderung nach einem transempirischen, einheitlichen, für jedes individuelle Dasein und für alle Daseinsäußerungen gültigen Begriff von der Bestimmung des Menschen und einem damit korrespondierenden, ebenso allgemeinen Begriff vom Wert des Lebens. Schleiermacher trägt dieser Spannung Rechnung, indem er die Entwicklung des Begriffes in der empirischen Existenz des Individuums verortet als prinzipiell unabschließbaren Prozeß (vgl. 405,13-15.22-25), in dessen Verlauf die bei jedem rudimentär und untereinander disparat vorhandenen Elemente einer »Theorie« über den Wert des Lebens sukzessive und unter beständiger Integration neu hinzutretender Momente zu einem einheitlichen und in sich konsequenten Zusammenhang geformt werden. Die daraus folgende

begrenzte Gültigkeit und Revisionsbedürftigkeit eines so sich bildenden Konzeptes und der daraus abzuleitenden Grundsätze zur Beurteilung der eigenen konkreten

Lebensumstände

führt

freilich

nur aufgrund

der methodischen

und sozusagen wissenschaftsethischen Bedingung nicht zu Skeptizismus und Relativismus, sich unablässig und mit letztem Ernst um die Systematisierung der Grundsätze zu bemühen und mithin immer ein wenn auch unfertiges System präsent zu halten und an dessen Perfektionierung zu arbeiten (vgl. 405,15-25).

Doch bleibt bei einer solchen genetisch-revisionistischen Einschränkung des Systembegriffs problematisch, wie ein demgemäß nur vorläufig- oder vorlaufend-rationales Konzept der Bestimmung des Menschen und der entsprechenden Beschaffenheit des Lebens das Gewicht der Forderung nach Unabhängigkeit von allen konkreten Ausformungen menschlicher Existenz und zugleich nach Geltung für diese alle zu tragen vermag.

Schleiermacher

merkt selber an, daß die Idee von der menschlichen Bestimmung aus der »Beobachtung des Menschen« (406,33; Hervorhebung von mir) gewonnen

werden

muß,

1. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

333

daß aber die Selektion jener beobachteten

Verhaltensweisen,

aus welchen das Ideal der menschlichen Bestimmung zusammengesetzt werden soll, als ihr Kriterium bereits das Gegebensein dieses Ideals voraussetzt (vgl. 406,36 - 407,1)2°. Dieser Zirkel ist auch durch die evolutionäre

Konzeption der Begriffsbildung nicht vermieden, da dann zwar nur jeweils das Gegebensein eines Ideals, das dann aufgrund der Beobachtung modifiziert wird,

angenommen

werden

muß;

der

Zirkel

verschiebt

sich

dabei

jedoch nur zurück in die Zeit der ersten Bildung eines Ideals, das nun tatsächlich zugleich aus der Empirie abgelesen werden und zum Zwecke des

Ablesens bereits vorausgesetzt sein muß?®., Diese Schwierigkeit kann nicht dadurch

umgangen

werden,

daß der Be-

griff der Bestimmung des Menschen und des Wertes des Lebens auf die (eo ipso ebenso transempirischen wie auf alle Empirie zutreffenden) »Geseze() einer höchsten Intelligenz« (407,4f.) zurückgeführt wird. Denn die Kenntnis des Wesens der Gottheit, als dessen Offenbarung jene Gesetze aufgefaßt

werden müssen, verdankt sich ihrerseits einer »vorgängige(n) Idee von dem, was der Mensch seyn soll« (407,5f., Hervorhebung von mir), setzt also einen Begriff von der Bestimmung des Menschen bereits voraus und ersetzt deswegen

den problematischen

Weg

über die Empirie

keineswegs.

Dies gilt auch dann, wenn auf die Erforschung des göttlichen Wesens Verzicht getan und gleichwohl an der göttlichen Legitimation des Begriffs von

der menschlichen Bestimmung festgehalten wird; denn gerade dann ist dieser Begriff »nur aus einer Betrachtung der Zwekmässigkeit der Welt durch die Lage des Menschen darin« und d.h. kosmotheoiogisch durch Rückschluß aus der empirisch wahrgenommenen ordentlichen Einrichtung der Welt zu erheben (407,8f.). Ist der Gottesbegriff seinerseits abhängig von Anthropologie, Ethik und Kosmologie, so scheint dies bei der Idee der Unsterblichkeit nicht der Fall zu sein. Dennoch vermag auch sie kein sicheres Fundament für einen nichtzirkulären Begriff der menschlichen Bestimmung zu bilden, merkwürdigerweise deshalb, weil sie zu wenig Anhalt an der Empirie hat: Die empirische

29

30

Schleiermacher sieht die Zirkularität freilich eher in der Abhängigkeit Wert des Lebens vom Begniff der Bestimmung des Menschen, wenn qua Beobachtung bereits eıne feste Vorstellung vom Wert des Lebens ist aber nur bei Annahme des dargestellten Zirkels im Begriff der Menschen und ın Abhängigkeit davon der Fall.

des Begriffs vom dessen Erhellung voraussetzt. Dies Bestimmung des

Allerdings durfte eın Konzept der approximativen, immer revisionsbedürftigen und für neue

Fakten

offenen

Wahrheitserkenntnis

den dezisionistischen Charakter einer ersten

Setzung eher tolerieren können als eine Theorie des absoluten Wissens.

334

IE. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

Erfahrung fremden Sterbens setzt sie beständigem »Zweifel« (407,11) aus und untergräbt ıhre - an sich durchaus gegebene - Vertrauenswürdigkeit. Damit sind die tradıtionellen zheologischen Seizungen eines transempinschen Begriffs der Bestimmung des Menschen abgewiesen. Doch auch das moderne Äquivalent invarianter und zugleich universaler Strukturen, die Theorie der in allen konkreten und kontingenten menschlichen Zuständen vorauszusetzenden und sich darin nur je spezifisch modifiziert und in bestimmtem Mischungsverhältnis äußernden Vermögen, ermöglicht noch nicht ohne weiteres ein eindeutiges Verständnis des menschlichen Daseinszweckes. Denn zwar läßt sıch »alles Treiben und Würken der Seele« (408,2f.) durchaus auf eine geringe Anzahl von Vermögen zurückführen -

Schleiermacher?!

nennt die »Vermögen

zu denken,

zu empfinden,

und

durch Gedanke und Empfindung zu handeln« (407,23f., Hervorhebungen von mir) - oder »zwei grosse(n) Zweige(n)« (408,2) zuordnen, nämlich dem

Erkennen und dem Begehren (vgl. 408,3). Aber weder erschöpft sich die menschliche Bestimmung im puren Akt der Äußerung der Seelenkräfte (die Tätigkeit der Seele ist die natürliche Voraussetzung und Form bestimmungsgemäßer Existenz, aber noch nicht dıese selbst), noch ist sıe als höchstmög-

liche Intensivierung der Äußerung aller Vermögen zu fassen (da durch die Intensivierung einer Tätigkeitsart alle anderen eingeschränkt werden, während beı gleichmäßiger Förderung aller Vermögen ein Nivellierungseffekt eintritt, so daß die quantitative Summe aller Tätıgkeiten unabhängig von aller Bemühung immer dieselbe bleibt und mithin von selbst eintrifft); ein ideales Mischungsverhältnis der verschiedenen Vermögen hingegen läßt sıch zwar postulieren, aber nicht in seiner ÄAllgemeingültigkeit erweisen wenn man nicht entweder »ein unmittelbares ursprüngliches Bewußtseyn« (409,16)

davon

in jedem

Menschen

annehmen

will

oder

es aber

durch

Beobachtung aus der Empirıe erhebt und damit in den Zirkel zurückfällt. Schließlich ist auch die Veredelung

»Erhöhung«,

409,36)

der natürlichen

Vermögen nur dann als der Sinn menschlichen Daseins anzusprechen, wenn damit ein Zweck impliziert ist, der über das bloße Tätigsein der Seele hinausreicht (vgl. 410,1-3). Einen solchen Zweck, der ja nichts den Vermögen Externes enthalten darf, sondern in der internen invarianten Struktur ihres Verhältnisses unter-

einander liegen muß, meint Schleiermacher in der »Uebereinstimmung« von

31

Allerdings findet sıch diese Aufzählung ın einer durch Anführungszeichen herausgehobenen Passage, in der der zeitgenössische »allgemeine Ideengang« (407,38) zu Wort kommen soll. Es ist nicht ganz deutlich, ob die Form des - sicherlich fiktiven - Zitats Distanzierung indizieren soll.

l. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

335

»Erkennen und Begehren«, in der »Einheit beider in Zwek und Gegenstand« gefunden zu haben (410,4-7; Hervorhebungen von mir). Möglich ist diese Übereinstimmung, weil nicht nur Begehren, sondern auch Erkennen vom »Gefühl der Lust« (410,17, Hervorhebung von mir) motiviert und orientiert

wird: »was mir Lust geschaft hat« oder schaffen könnte, »darauf richte ich die Pfeile meiner Gedanken« (410,27f.)32, und das wird auch zu erlangen oder zu realisieren gesucht.

Um

universal zu sein, darf die Übereinstim-

mung sıch freilich nıcht konstitutiv auf bestimmte singuläre (kontingente, partikulare) Gegenstände beziehen, bzw. sie darf nicht um dieser willen angestrebt werden. Beim Menschen darf die Erkennen und Begehren bündelnde Lust nicht unmittelbar auf die Gegenstände gehen (wie das alle rein empirischen Glückseligkeits-Konzeptionen meinen, die dadurch aber »noch nicht vıel weiter gekommen [sind] als dıe Thiere«, 411,24f.); wahrhaft

human (vgl. 410,7: »Humanität«) ist sie vielmehr erst, wenn sie bezogen ist auf die Frage der Adäquanz oder Differenz von Wahrnehmung und Gegenstand: als »Lust an Wahrheit« (412,9; Hervorhebung von mir). Instrumentalisiert die sinnliche Lust das Wahrheitsstreben zum Heranschaffen lustfördernder einzelner Objekte, so erfaßt die "humane Lust’ den Einzelge-

genstand nur als Konkretion der allgemeinen Wahrheit, nur nach Maßgabe seiner Wahrheitsgemäßheit: seiner Regelmäßigkeit (vgl. 412,17-20). Die Bestimmung des Menschen besteht dann darin, allgemeine Regeln zu erken-

nen und Regelgemäßes zu begehren, d.h. (entdecktes) Regelmäßiges sich anzueignen oder erkanntes Regelmäßiges handelnd darzustelien oder zu realisieren. Gerade dıes letzte ıst nun exakt dıe Funktion und Wirkweise der Tugend.

1.5. Tugend und Glückseligkeit als »doppeltes Ziel meines Daseyns«3? Nicht

nur

das

in

diesem

Zusammenhang

auftauchende

implizite

Kant-

Zitat3®, sondern überhaupt das geradezu überschäumende Lob der Tugend als »Königin meiner Seele«, als »heiliges Begehren der Vernunftmäßigkeit meines ganzen Daseyns« (413,5f.) scheint nun freilich Schleiermachers Pro-

gramm einer realistischen und umfassenden Perspektive auf die eigene Bio32

Vgl. die entsprechenden Aussagen ın ÜdF über das Begehrungsvermögen als orientierende Instanz auch der Betätigung des Vorstellungsvermögens; vgl. dazu oben Kap. 35, 1.3.

33 413,22. 34 „Vermögen der Gesetze ist Vernunft«, 412,24; vgl. KrV B 356; Weischedel, 312: »Vermögen der Prinzipien«.

Band 4,

336

Ill. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

graphie, einer nicht nur das Handeln, sondern auch Empfindungen und Gefühle nicht nur auf Sittengesetzgemäßheit, sondern auch auf Erlebnis-

qualität hin betrachtenden Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung drastisch zu konterkarieren. Wenn die Bestimmung des Menschen im nichtsinnlichen Moment der sinnlich-partikularen Erfahrung, in der Abstraktion des Allgemeinen aus dem Individuellen und dem Anstreben dieses Abstraktionsvorgangs bzw. dem Begehren des Abstraktionsresultats liegt, wenn das menschliche Daseinsziel darın besteht, der Vernunftmäßigkeit als »der Kro-

ne meines Wesens (...) alles anzueignen und ähnlich zu machen, was ın mir und an mir ist« (413,6f.), dann scheint die Freude am Sinnlich-Singulären,

an den kontingenten Umständen und begleitenden Empfindungen etc. darin keinen Platz mehr zu haben, dann hat das Streben nach empirischpartikularer Lust allenfalls noch dıe Funktion, der Tugend Sroff zur vernünftigen Bearbeitung zuzuführen, und geht mithin jeweils seiner eigenen Aufhebung entgegen. Jedoch ist Schleiermachers

Intention

hier

nicht

die

Elimination

des

Glückseligkeitsmotivs aus der Wesensbestimmung des Menschen, sondern dessen präzise Zuordnung zu dem anderen anthropologischen Motiv der Ausbreitung

von

Tugendhaftigkeit.

Dabei zeigt sich, daß die Tugend

eine

spezifische Schwäche hat, dıe sie zum alleinigen Daseinszweck untauglich und komplementär auf das Glückseligkeitsmotiv angewiesen macht. Sie ist nämlich nıcht ın jedem Lebensmoment dominant präsent; dies aber nıcht aufgrund faktischer und gegebenenfalls zu korrigierender kontingenter Verhältnisse (dann spräche ja nichts dagegen, an ihr als dem normativen Ziel alles menschlichen Strebens festzuhalten), sondern anthropologisch-prinzipiell aufgrund der »Beschränktheit meines Wesens« (413,21; Hervorhebung von mir). Zwar ist die Vernunft - um eine von Reinhold verwendete Unter-

scheidung aufzugreifen?® - allgemeingältig, aber nicht (und wesentlich und nicht nur zufällig nicht) allgemeingeltend.

Wenn sıe ın der Seele »herrscht«,

dann herrscht sie »unumschränkt«; aber sie herrscht nicht immer (vgl. 413,24f.). Sıe eignet sich deshalb zwar wohl als unıversales Kriterium der Verhaltensbeurteilung oder Verhaltensorientierung, aber keineswegs als universal applizierbares oder als universal gegeben unterstellbares Verhaltensmoriv. Die fehlende anthropologische Universalität muß sie sich gewissermaßen

von

der Glückseligkeit

borgen,

dıe »durch

Genuß

und

Streben

jeden Theil meines Daseyns zu füllen« weiß (413,25f.), der es aber ıihrerseits für sich genommen an Allgemeinheit der Kriterien gebricht. 35

Vgl. Reinhold: Versuch einer Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Jena Prag 1789, 22.

1. Die Genese realıstischer $elbstverhältnisse

337

Daraus ergibt sich ebenso klar wie die Unterordnung der Glückseligkeit unter die Tugend ihre anthropologische Unentbehrlichkeit. Die Bestimmung des Menschen ist nicht hinreichend erfaßt, ein zureichendes Kriterium nicht erst der Beurteilung, sondern schon der Wahrnehmung und synthetisierenden Rekonstruktion

der Totalıtät der eigenen Biographie noch nicht gefun-

den, wenn das konstitutive Zusammenspiel von Tugend und Glückseligkeit nicht beachtet wird. Glückseligkeit ist dıe norwendige Bedingung der Universalisierung von Tugendhaftigkeit, sie ist deshalb um dieser willen notwendiges Element des Begriffs der Bestimmung des Menschen, eben dadurch aber durch diese in ihrer Bedeutung limitiert und in ihrer Ausrichtung orientiert. Sie ist nicht um ihrer selbst willen anzustreben, aber sie ist anzustreben, sofern sıe als Katalysator der Realisierung tugendhafter Zustände dient, die ohne sie nicht realisiert werden würden. Man kann darum sogar weitergehend sagen: Um der Tugend willen ist sie - genauer: sind die

mit der Tugend vereinbaren Glückseligkeitserfahrungen tatsächlich um ihrer selbst willen anzustreben; diese Formulierung bringt den Konstitutiven Doppelcharakter der Bestimmung des Menschen besser zum Ausdruck, ohne die unumkehrbare Superiorität der Tugend gegenüber der Glückselig-

keit aufzuheben. Diese Fassung des Begriffs der Bestimmung des Menschen hat höchst gewichtige Implikate und höchst weitreichende Konsequenzen. Zum einen entspricht sıe genau Schleiermachers von Anfang an gegebenem

anthropo-

logischen Problembewußtsein, das sich in den Arıstoteles-Anmerkungen in der Doppelung von Versittlichung und Individualitätswahrnehmung und ım Interesse an der Deskription komplexer sozialer Versittlichungsprozesse und Kommunikationen von Individualität, in der Güterschrift im Festhalten an einer begrenzten Bedeutung der Glückseligkeitslehre, im Freiheitsgespräch

in der Behandlung der Möglichkeit vernünftiger Verhaltensbestimmung angesichts der nur sinnlichen Bestimmbarkeit der menschlichen Seele und in der großen Freiheitsschrift in der Differenz von Zurechnung und Faktizität

geäußert hatte?®. Zum anderen nötigt sie dazu, bei der Erhellung der eigenen Biographie nıcht beim abstrakten Konstatieren der Sittlichkeit oder Un-

36

Sie entspricht auch der Verhältnisbestimmung zwischen Tugend und Religion, wie sie Meckenstock aus den frühen Predigten Schleiermachers herausgearbeitet hat (vgl. Determinsstische Ethik, 179f,). Die Religion ist nämlıch dergestalt Vehikel der Tugend, daß sie durch die Realisierung der Tugend gerade nicht überflüssig gemacht, sondern ın ihrer Bedeutung bestätigt wird. Da Schleiermacher die Religion als Funktion der Anthropologie und hier naherhin der Glückseligkeitslehre auffaßt, bietet WL gewissermaßen die anthropologische Begründung für das in den Predigten vorausgesetzte Religionsverständnis.

338

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

sittlichkeit einzelner Handlungen stehen zu bleiben, sondern dem Ensemble disparatester individueller Erfahrungen, Umstände, Empfindungen, momentaner Selbstwahrnehmungen und Selbstbeschreibungen etc. Funktionswert für die Beurteilung der Bestimmungsadäquanz gelebten Lebens zuzuschrei-

ben; erst so ist einerseits die faktisch durchschnittlich gegebene Perspektive auf die eigene Biographie richtig erfaßt, andererseits diese Biographie selbst detailreich und differenziert realistisch beschreibbar.

Eben dieses nicht al-

lein auf die Isolierung und allgemeine Kategorisierung einzelner Handiungen, sondern auf die Erfassung und Synthetisierung des Reichtums kontingenter individueller Lebensäußerungen hinzielende Beschreibungsinteresse setzt dann auch das Bedürfnis nach einer umfassenden Theorie menschlicher Tätigkeits- und Erlebensfähigkeiten und Tätigkeits- und Erlebenssphären aus sich heraus, wie Schleiermacher sıe ım folgenden ansatzweise ent-

wickelt. Erst auf dieser Ebene ıst dıe Frage nach dem »Werth des Lebens«, nach der Zuiräglichkeit der ındividuellen Fähigkeiten und der Umstände von deren

Äußerung

für eine bestimmungsgemäße

Existenz

sinnvoll

gestellt.

Denn für die Sittlichkeit hatte Schleiermacher ja in ÜdF dargelegt, daß für ihre Beurteilung nur dıe ın jedem

Moment gegebene anthropologisch prin-

zipielle,

reale Möglichkeit

nicht aber die faktisch

angenommen

werden

muß. Faktische Unmöglichkeit hebt die Verantwortung nicht auf; es ist daher unsinnig, darüber mit dem Schicksal, das die sittlichkeitsförderlichen

Umstände nicht herbeigeführt habe, zu rechten - wenn es sich nicht gar im Gegenteil empfiehlt, momentane Unfähigkeit von vergangener eigener Verfehlung oder schuldhafter Untätigkeit herzuleiten. Da diese - sich im

übrigen bei Eberhard findende?’ - Auflösung der in der Tat erläuterungsbedürftigen Spannung zwischen prinzipieller Möglichkeit und zugleich realer Unfähigkeit bei Schleiermacher nicht erscheint, bleibt nur die Alternative, an der sittlichen Zurechnung radikal festzuhalten und mithin die genannte Spannung streng aufrechtzuerhalten, zugleich aber eine bloß-sittliche

Perspektive der Beobachtung und Beurteilung zu überwinden und vielmehr anthropologisch umfassende Wahrnehmungskriterien der conditio humana zu entwickeln. Dies ist, wie sich gezeigt hat, das für Schleiermachers Vorgehen tatsächlich insgesamt charakteristische und auch vom immanenten sachlichen Gefälle der Problemkonfiguration her plausible Verfahren. Eine solche im Blick auf den Einzelnen sehr viel stärker individualisierende und dıe konkreten Umstände berücksichtigende Konzeption öffnet freilich zugleich notwendig den Blick auf eine Pluralität individueller Existenz37 Vgl. SdV 8 75, S. 76.

l. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

möglichkeiten, Existenzentwürfe,

339

Existenzumstände etc., die den Vergleich

herausfordert. Anders als für das Sittengesetz allein wird für die Allgemeinheit und Identität der sittlich-sinrlichen Bestimmung des Menschen diese unübersehbare und unüberschaubare Vielfalt von individuellen Fähigkeiten und individuellen Lebenskontexten zum Problem. Die Ungleichheit der Lebensbedingungen legt nämlich Klagen über die Ungerechtigkeit des Schicksals geradezu nahe, das dem Einen (oder auch: dem einen Kulturkreis, Volk etc.) bestimmungsgemäße Exıstenz so leicht, dem Anderen aber fast unmöglich zu machen scheint. Deshalb ist nicht allein die Eindeutigkeit und Allgemeingültigkeit des Begriffs der Bestimmung des Menschen Bedingung

des

sicheren

Urteils

über

den

Dasein, sondern ebenso hängt Begriffes daran, daß diese Klagen nen. Es muß zu zeigen sein, daß so eingerichtet ist, daß er seiner

Wert

des

Lebens

für

das

einzelne

umgekehrt jene Allgemeingültigkeit des als unberechtigt abgewiesen werden könder Mensch so ausgestattet und seine Welt Bestimmung als Mensch gemäß zu leben,

sie an seinem Ort zu individuieren und zu realisieren vermag.

Genau dann

kann die berechtigte doppelte »Foderung() an das Leben« (413,30) von Seiten des Lebens als erfüllt gelten, einerseits »unbedingt Stoff [zu] geben glüklich zu seyn«, andererseits Gelegenheit zu gewähren, ungezwungen »sittliche Güte zu üben und zu entwikeln« (413,35-38). Bestimmungswidrige Lebensführung - immoralisches Handeln ebenso wie nicht entfaltete Fähigkeiten oder nıcht ergriffene Glückseligkeitschancen - kann dann dem Einzeinen selbst zugeschrieben werden;

mittelbar ist damit auch die Vorse-

hung vom Vorwurf der Willkür und Ungerechtigkeit entlastet.

1.6. Resignitative Perspektivenverkürzung: Die »Regeln des Verstandes fürs Leben« Doch obwohl für Schleiermacher der Nachweis gelingt, daß das Schicksal jeden Einzelnen mit derselben Summe an Chancen, auf eine mit der Sittlichkeit vereinbare

Weise

glücklich

zu

werden,

versieht,

und

obwohl

er

eine Vielfalt dieser Gelegenheiten und Fertigkeiten beschreibt?3, bringt es die kategoriale Eigenheit der Glückseligkeit und ihr Verhältnis zur Tugend mit sich, daß Schleiermacher die Erwartungen hinsichtlich der Glückselig-

keit stark dämpft und die Bedeutung möglicher Glückseligkeit für die Verhaltensorientierung sehr gering veranschlagt. Dem niemand von seinen Lebensvoraussetzungen her 33

Vel. unten 2.

negativen Beweis, daß benachteiligt ist (vgl.

340

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

458,21-27),

steht keine positive Aussage über das Quantum,

die zu erwar-

tende und von der göttlichen 'Freigebigkeit' (vgl. 460,12) aufgrund ihrer Gerechtigkeit auch zu fordernde Summe des Glücks oder zumindest über das quantitative Verhältnis des Angenehmen zum Unangenehmen im Leben zur Seite. Denn während es zum Erweis der Gerechtigkeit des Schicksals aufgrund der Dominanz der Tugend im Begriff der Bestimmung des Menschen genügt, die numerische Identität der Summe von »Veranlassung(en)«, »sittliche Güte zu üben und zu entwikeln« (413,36f.), und von Gelegenhei-

ten zu einer damit kompatiblen Glückseligkeit aufzuzeigen, während also das »sittliche Gefühl«

(460,14f.) ein sicheres Urteilskriterium

hier

abgibt,

»zieht« dieses sich bei der Frage der Höhe jener Summe möglicher Glückseligkeit

»schweigend

zurük«

(460,16f.).

Das

liegt daran,

daß

ım

Begriff

Glückseligkeit Phänomene vereinigt erscheinen, die jeweils kategorial singulär und deshalb ım eigentlichen Sinn gar keiner einheitlichen Gattung zuzuordnen sind: Einzelreflexe verschiedener Sinne, Einzelempfindungen, momentane Gefühle. Glückseligkeit ıst darum strenggenommen richt akkumulierbar, sie ist immer momentverhaftet, Glückseligkeitserfahrungen sind untereinander quantitativ nicht vergleichbar (vgl. 465,10-14). Da auch die rationale Theologie, »welche die Glükseligkeit als die ganze Aufgabe der

Teleologie [ansah] und sie für den höchsten Zwek des weltregierenden Wesens f[hielt]« (460,25f.), als transempirischer Garant des letztendlichen

Überschusses des Angenehmen ausfällt, indem die Glückseligkeit von der Sittenlehre als alleinige Bestimmung des Menschen und selbst noch als deren hervorgehobenes Element entthront wurde und deshalb ihre einzelnen Momente auch nicht wenn schon nicht in der unmittelbaren Seibstwahrnehmung als vereinigt erfahren, so doch wenigstens im »Plan der Gottheit« als

Einheit gedacht werden können??, darum gibt es überhaupt kein festes, 39

Allerdings ist nicht ganz deutlich, wie dieses - Kants Kritik der rationalen Theologie und dessen Verortung des Gottesgedankens als Anschlußidee an die Sıttenlehre voraussetzende - Argument zu Schleiermachers Zuordnung des Gottesgedankens zur Glückseligkeitslehre in hG paßt (vgl. oben Kap. 4, 1.5.3.3.). Manche Äußerungen Schleiermachers legen die Vermutung nahe, daß er gelegentlich als 'mit der Tugend kompatible Glückseligkeit" nur die 'der Tugendübung entspringende und zu ıhr motivierende Glückseligkeit‘ gelten läßt (vgl. 459,16-24). Dann könnte in einer mit der reinvernünftigen Sittenlehre vereinbaren Weise an der Funktion des Gottesgedankens als Abschlußgedanke der Glückseligkeitsiehre festgehalten werden, ındem Gott dann nur das Streben nach der die autonom begründete Tugendubung begleitenden und zu ıhr

hinführenden Glückseligkeit legitimierte und mit zusätzlicher Motivation versähe - ein Streben, das (wie Schleiermacher in FG gezeigt hat, vgl. oben Kap. 4, 2.) der sittlichen Autonomie nicht widerspricht. De facto ıst man dann freilich von der etwa von Eber-

hard vertretenen Konzeption einer wechselseitigen Explikation von Tugend und Glückseligkeit so weit nicht entfernt. - Eine solche Interpretation deckt sıch mit dem Befund

1. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

34]

intersubjektiv gültiges Maß der Quantifizierung des erreichbaren Glücks und des unvermeidlichen Mißlichen. Es gibt darum in Hinsicht auf die Summe des Angenehmen auch keinen Rechtstitel gegen das Leben. Die Gerechtigkeit des Schicksals ist schon dadurch gewahrt, daß in jedem Augen-

blick des Daseins - der bezüglich der Glückseligkeit immer nur für sich, nur als je einzelner betrachtet werden darf (vgl. 466,8-10)! - aus den momentan

gegebenen

Verhältnissen

Freude

geschöpft

werden

kann.

Wie

Schleiermacher meint nachgewiesen zu haben#®, ist in der unendlichen Mannigfaltigkeit konkreter Situationen keine denkbar, wo dies nicht möglich ıst. Der Mensch kann sich auch zu den widrigsten äußeren Umständen so ıns Verhältnis setzen, daß er auch darın Angenehmes empfindet - und sei es nur die Selbstwahrnehmung des eigenen Aushaltens im Widrigen. Tut er

dies richt, fällt es ın seine eigene Verantwortung. Diese Regelung der Haftung für entgangene Glückseligkeit entspricht einerseits genau der Lastenverteilung im Blick auf die Tugend - hier wie dort verbietet sich das Klagen über die Umstände, hier wie dort ist die Zurechnung »unnachlaßlich streng()« geklärt (467,9) -, andererseits setzt sie Maximen für das Glücksstreben und für die Beurteilung erlangten Glücks aus sıch heraus, dıe der kategorialen Eıgenheit der Glückseligkeit in ıhrer

Differenz zur Tugend gerecht werden sollen. Entscheidend sind dabei vier Faktoren: (1) die radikale Gegenwartsbezogenheit des Glücks, (2) die nicht-

systematisierbare Disparatheit der Phänomene des Angenehmen, Unverfügbarkeit über die Art momentan möglıchen Glücks und Unbestimmtheit des zu erwartenden Glücksguantums.

(3) die (4) die

Daraus folgt dıe For-

derung radikaler Konzentration auf dıe unmittelbare Gegenwart und auf die individuelle momentane

Situation.

Denn

wenn es Glück nur je - und zwar

von C. Meier-Dörken, der in Schleiermachers frühen Predigten eine Unterscheidung von sınnlicher und sittlicher Glückseligkeit zu erkennen meint (wobei er die Religion der Förderung der letzten zuordnet) und darın sogar einen Einfluß von Stoa und Epikureismus als der antiken Synthesen von Tugend und Glückseligkeit zu entdecken glaubt {Die Theologie der frühen Predigten Schlesermachers, 7If.). Viel wichtiger aber ist, daß) eine solche Konzeption Schleiermachers Entwurf einer umfassenden, nicht nur das Handeln sondern auch Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle etc. integrierenden

Bestimmung des Menschen unterbietet, indem sie die rezeptiven und emotionalen Momente so stark an das tugendhafte Handeln zurückbindet, daß sie ihre Eigenständigkeit einbüßen. Da Meier-Dörkens These für die Predigten durchaus plausibel ist, und da es Schleiermacher auch in WL nicht gelingt, völlig eindeutig zu bestimmen, worin denn eine mit der Tugend kompatible, aber dennoch um ıhrer selbst willen anzustrebende Glückseligkeit besteht, kommt man nicht umhin, eine gewisse konzeptionelle Unausgeglichenheit oder auch ein Überschießen des Programmes über seine momentane Realisierung anzunehmen. a

Vgl. dazu unten 2.

342

ill. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

je neu - ın der Gegenwart gibt, erübrigt es sich - ja ist gegenwärtigem Glück sogar hinderlich -, verpaßten Chancen nachzutrauern (vgi. 469,32f.: »wie oft hab ich nicht so die Gegenwart der Vergangenheit geopfert«) oder

sıch ın Plänen oder Wünschen zukünftiger Freuden zu ergehen, Wenn aber die Art der momentan möglichen Freude von der gegenwärtigen Lage bestimmt wird®!, so empfiehlt es sich nicht, sich durch Vorurteile über wünschenswertes Angenehmes,

gewissermaßen durch eine vorgefaßte Selektion

und Hierarchie der Glücksgüter den Blick für das momentan real Mögliche zu verstellen. Dasselbe gilt für vorausgesetzte Erwartungen über die Größe des zu erlangenden Glücks, dıe am Wahrnehmen und Ergreifen des ın der Situation gegebenen Kleinen - aber auch, wıe Schleiermacher hypothetisch anmerkt, des sehr Großen - hindern und leicht in Enttäuschung umschlagen kann, die die Gegenwart verdunkelt (vgl. 467,13 - 468,36).

Vor allem anderen aber impliziert die kategoriale Gegenwärtigkeit der Glückseligkeit

eine

Glücks.

Skepsis

Diese

tiefe

Skepsis

durchdringt

gegen

die

Dauerhaftigkeit

alle Lebenssphären

und

erlangten

imprägniert

schon im voraus die Erwartungen an das Leben. Wenn jedes Glück - »es beziehe sıch auf meinen geselligen oder körperlichen, oder intellektuellen Zustand« (466,26f.) - »dem Zufall anheimgestellt« (460,39f.) und von

höchst ungewisser Dauer ist, dann muß vor einer Selbstbindung an gegenwärtiges oder angestrebtes konkretes Glück dringend gewarnt werden. In den »Regeln des Verstandes fürs Leben« muß deshalb »überail Resignation das herrschende Gebot« sein (470,20f., Hervorhebung von mir). »Nichts sei in der Welt, dem Du Dich ın irgend einer Rüksıcht ganz hingıebst; wer so seine Glükseligkeit sucht, der muß sie verlieren« (470,35-37). Diese mentale Selbstzurücknahme soll besonders vor Enttäuschung mit den Menschen schützen. Denn wer beim Eingehen einer näheren Bekanntschaft die »Grenzen« der »Harmonie« absteckt, wer sich vor unvermittelter und allzu freimütiger Selbstoffenbarung in Gesellschaft hütet und sich stattdessen mit

dem konventionell-oberflächlichen Ton begnügt, der weder Anstoß noch Aufsehen erregt, weil er die Individualität verbirgt - der ıst auch vor Treuebruch und Vertrauensmißbrauch gesichert. Ebenso soll aber auch das sttliche Gefühl keine umfassende Versittlichung erwarten, sondern sıch »mit einzelnen Befriedigungen« begnügen. Dies ist der einzige Weg zu zwar partikularer, vereinzelter und unscheinbarer, dafür aber realer und enttäuschungsresistenter Glückseligkeit.

a

Vgl. die analoge Struktur des Verhältnisses von Empfindungs- und Einbildungskraft in FG, oben Kap. 4, 2.

l. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

343

Wie ist diese Einschätzung der Glückseligkeit rückgebunden an die geburtstägliche Perspektive der Abstraktion von den Motiven der Gegenwart, wo »ich (...) mich ın Vergangenheit und Zukunft [theile]« - »ich bin gleichsam nıcht, aber ich war und werde seyn« - (393,31f.)? Zunächst ist

sie selbst Resultar jener Distanzierung von den unmittelbaren Glücksinteressen, insofern erst eine solche Distanz einen von den die Gegenwart bestimmenden

Neigungen

unbefangenen

Blick auf diese und

ihre Funktion

und

Eigenart ermöglicht. Wie ist sie aber zu beziehen auf die einzelnen Zeitdimensionen der Vergangenheit, der unmittelbaren und der universalen

Zukunft#2? Gerade die Abstraktion von den

unmittelbar gegenwärtigen

Empfindungsfarben (Stimmungen) und Strebensrichtungen erlaubt die realistische Wahrnehmung vergangener Gegenwart und d.h. der damals unmittelbar-gegenwärtigen Stimmungen und Neigungen. Sie verhindert also erst die Tönung der Erinnerung durch momentane Bedürfnisse, durch Verallgemeinerung individueller Stimmungskonstanten (Temperament) oder durch intellektuelle Vorurteile. Zugleich jedoch brachte die Abstraktion Kriterien der Erfassung vergangener Gegenwarten hervor, die so bestimmt waren, daß

in ihnen

einerseits

das

Verfahren

der Abstraktion

sich

selbst legiti-

mierte, andererseits eine Perspektivendifferenz zwischen Wahrnehmung und Beurteilung möglich wurde. Diese Kriterien sind gebündelt im Begriff der sittlich-sinnlichen Doppelbestimmung des Menschen. Die Hervorhebung der wesentlichen Bedeutung der Glückseligkeit und ihre Charakterisierung als radikal gegenwartsbezogen hat dabei nun eine heuristische ebenso wie eine kritische Funktion: Sie nötigt zu einer umfassenden Wahrnehmung

und Darstellung der ın jeder vergangenen Gegenwart präsenten Glückschancen, Glücksorientierungen und Glückserfahrungen und zugleich zur Kritik an damaligen Wahrnehmungsverzerrungen und Orientierungsfehlern aufgrund mangelnder reflexiver Abstraktion von Glücksinteressen oder gar aufgrund der (mehr oder weniger reflexiven) Hypostasierung solcher partikularen Neigungen zu allgemeinen Orientierungskriterien, zur Kritik aber auch am Versäumen real möglicher Glückserfahrungen. Es ist außerordentlich wichtig zu sehen, daß Schleiermacher hier nicht der heuristischen Funktion allein gewissermaßen affırmatıv dıe realistische Identifikation, der kritischen Funktion allein negativ die Einschränkung der Bedeutung von Glückserfahrungen und Glücksinteressen zuordnet. Denn schon dıe Wahr-

nehmung ist geprägt durch den 'kritischen' Aspekt der Momentaneität des Glücks, und umgekehrt eliminiert die Kritik ja nicht jede Glückseligkeitsorientierung, sondern leitet sogar an zur ‘Suche’ nach solchen Glücks42 Vgl. oben 1.1.

344

IT. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

erfahrungen, die dem spezifischen Charakter des Glücks entsprechen, und kritisiert neben den Deformationen des Glücksstrebens auch dessen Unrätig-

keir?3, In die Gegenwart zum Zwecke der Selbstorientierung hineingespiegelt wird dann als Resultat der Wahrnehmung und Beurteilung der eigenen Ver-

gangenheit und der Synthetisierung einer personal-biographischen Einheit ein höchst differenziertes Bild einer Sukzession sittlicher vrd unsittlicher Handlungen und Unterlassungen, zurecht und nicht zurecht ergriffener und nichtergriffener Glückseligkeitschancen - entfalteter und nicht entfalteter Fähigkeiten ebenso wie wahrgenommener und nicht wahrgenommener äußerer Objekte -, kurz ein Persönlichkeitsbild, das freilich den Gegenwartszustand

als

Resultat

des

So-geworden-Seins

keineswegs

fixiert,

sondern das ın sıch bereits dynamısıert ist und aus sıch selbst heraus Selbstbildung und Verhaltensstrukturierung motiviert und orientiert, indem es spezifische Prägungen und Erfahrungen, spezifische Tendenzen und Risiken, spezifische Fähigkeiten und Defizite offenbart. Dazu ist es geeignet, weil es sich denselben Kriterien verdankt, wie sie für die Verhaltensorientierung

nötig und

angemessen

sind.

Die

Einsicht

ın dıe anthropologische

Wesentlichkeit zusammen mit der Skepsis gegen dıe Tragfähigkeit von Glückserfahrungen und Glückszuständen führt allerdings bei der Zukunftsorientierung zu einer problematischen Kopräsenz von gespannter Aufmerksamkeit auf und Erwartungslosigkeit gegen real mögliches Vergnügen, von

Affırmation

und

Vorbehalt,

welche

Kopräsenz

zu

unablässig

wacher

Selbstbeobachtung, zu permanenter Selbstkontrolle, zu chronischer Reflexi-

vität nötigt und daher ein nach und nach habituelles Mißtrauen gegen sıch selbst und gegen das Leben nach sich zieht, eine Haltung, der eine starke Tendenz zum Freudlosen und Lebensfeindlichen innewohnt. Schleiermacher sieht diese Gefahr bei der von ihm propagierten »Resignation« durchaus. Nur ein »liebevolles fühlendes Herz« (471,3)

ıst fähıg, die Spannung

von

Aufmerksamkeit und Reserve auszuhalten und aufrechtzuerhalten und nıcht entweder in eine skeptisch-unbeteiligte oder gar bitter-zynische Beobachterpose zu verfallen, die auch das real mögliche, freilich unscheinbare Angenehme noch entwertet, oder aber sıch krıterienlos beliebigen Vergnü-

gungen hinzugeben, was Selbstbestimmung aufhebt. Nur eine besondere Intensität des Empfindens vermag mithin wirklich »Spuren von Glükseligkeit« zu entdecken

und

festzuhalten

und

»Geschmak

an kleinen

Freuden«

(471,4f.) zu finden, statt angesichts der Unscheinbarkeit und Punktualität 43

Allerdings scheint das argumentative Gewicht stärker darauf zu liegen, Klagen über die Vergangenheit abzuweisen.

1. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

dieser Erfahrungen

und angesichts der vielfältigen

Defizienzerscheinungen hindert

deshalb

zu verzweifeln.

schließlich,

daß

die

Nur

und

345

oft übermächtigen

eine starke

»Entsagung«,

die

Empathie im

Verzicht

verauf

allzuschnelle Selbstexpression ın geselliger Runde liegt, umschlägt in einen »verachtenden,

menschenfeindlichen

Stolz«;

vielmehr

macht

sie »duldsam

und verträglich« (471 ,8f.).

1.7. Intimität und Konvention Im Vergleich mit den freundschaftstheoretischen Untersuchungen der wech-

selseitigen Kommunikation von Bildern eigener und fremder Individualität in den Arıstoteles-Anmerkungen scheint sich hier eine erhebliche Verschiebung zu dokumentieren weg von der Emphase intimer Selbst- (und Fremd-)

Offenbarung hin zur kontrollierten Selbstzurücknahme ın konventioneller Geselligkeit. Doch ist diesem Eindruck einiges entgegenzuhalten. Zum einen ist die Gegenüberstellung von inniger Harmonie und Differenzbewußtsein abstrakt und findet sich auch in der Freundschaftstheorie keineswegs. Zwar sind Aufrichtigkeit und Offenheit Bedingung der Freundschaft und ihrer Erhaltung, zwar müssen deshalb die Auswirkungen (nıcht nur von räumlicher Trennung sondern auch) von Geheimnissen auf das Freundschaftsverhältnis ausführlich diskutiert werden®*,

aber schon die Reflexion

auf den rechten Augenblick von Geständnissen schließt ein Moment der Kontrolle und Distanz, eine Nötigung zum solitären Aushalten aktueller Disharmonie und mithin zu Selbstzurücknahme ein. Doch selbst bei (faktisch

unmöglicher)

völlıger Offenheit bliebe dıe Freundschaft

permanente Auftreten und Wahrnehmen Differenzen

und

Irritationen,

nie

auf das

respektive Kommunizieren

gehörten

Wıssens

und

fremd

neuer

getönter

Empfindungen etc. angewiesen; diese werden zwar jeweils in den Freundschaftskosmos harmonisch integriert, aber wenn die Harmonie nicht in freundschaftszerstörende

Langeweile

umschlagen

soll,

muß

sıe beständig

wieder durch neue Eindrücke punktuell destabilisiert werden. Gilt dies für die freundschaftsinsernen Verhältnisse, so heißt das freilich noch keineswegs, daß Schleiermacher in den Aristoteles-Anmerkungen die

Differenz zwischen Freundschaft und anderen Formen der Sozialität als aufgehoben oder programmatisch als aufzuheben dachte (wenngleich Freundschaft im 18. Jahrhundert den Charakter eines Modells für der nichthierarchisierbaren Würde jedes Einzelnen angemessene Sozialbeziehungen

4

Vgl. oben Kap.

1, 2.3.

346

Ill. Lebenssphären - Kap. 6. «Ueber den Werth des Lebens«

gewann und mithin Keimzelle eines egalitären bürgerlichen Gegenideals gegen die ständische Gesellschaft wurde*>) und daß er mithin naiv Gesellschaft unmittelbar als umfassende Gemeinschaft von Freunden bzw. als

System von Freundschaftsbeziehungen aller mit allen konzipierte. Immer ist Freundschaft als Einzelfall, als besonderer Glücksfall eingeführt, der frei-

lich anthropologisch fundamental ist, weil sie eine Gestalt nicht-entfremdeten, erfüllten, die menschliche Bestimmung realısierenden Lebens darstellt.

Immer ist betont, daß Freundschaft eine möglicherweise lange Phase des Sichanfreundens,

des Kennenlernens,

des Vertrautwerdens,

des Einander-

Beobachtens voraussetzt, eine Phase hoher Irritierbarkeit und Fragilität des Verhältnisses, die Elemente des Mißtrauens, der vorsichtigen und bedingten Selbstoffenbarung und des Einbaus der Erfahrungen mit solchen Versuchen

in die weiteren eigenen Erwartungen und Verhaltensweisen enthält sowie

immer noch Rückzugsmöglichkeiten offenläßt45. Schon dieser hohe Aufwand an Zeit und Engagement verhindert, daß viele Freundschaftsverhältnisse eingegangen

werden

können.

Er macht

auch

deutlich,

daß

Freund-

schaft ım vollen Sinn nicht als Paradigma für Sozialbeziehungen überhaupt verwendet werden kann; die meisten sozialen Kontakte verlangen gar keine so umfassende wechselseitige Kenntnis, kein so vollständiges Vertrauen, keine so intensive und dauerhafte Emphase und machen sie sogar (de facto,

aber auch aktiv intendiert) unmöglich. Allerdings strahlt die anthropologische Idealisierung der Freundschaft und der ın ihr geltenden Kriterien und

Perspektiven unmittelbar und programmatisch aus auf das Verständnis und die praktische Reform stärker objektivierter, vorstrukturierter Sozialformen, indem sie diese nämlich dynamisiert ın Richtung auf Egalıtät und Wechselseitigkeit - mithin also auf Relativierung, keineswegs aber auf Auf-

hebung von strukturellen Hierarchien*’. Doch obwohl

diese Komplexität der Freundschaftstheorie es durchaus

erlaubt, dıe Ausführungen von WL zu den "Grenzen der Harmonie’ und zur beständigen Kontrolle der Angemessenheit des geselligen Engagements zum gegebenen Kreis als Weiterentwicklung der sozialtheoretischen Ansätze der

Arıstoteles-Anmerkungen, als Herausarbeıtung der in diesen bereits angelegten Aspekte der sozialen Differenzierung, als komplementäre Betonung der in jeder sozialen Beziehung konstitutiv mitgesetzten Disharmonıe und Distanz aufzufassen, ist die in WL vorgebrachte generelle Skepsis gegen die

Dauerhaftigkeit geselliger Freuden und die daraus folgende generelle und 45 Vgl. oben die Einführung. 46 Vgl. oben Kap. 1, 2.4.2. 4

Vgl. oben Kap. |, 4. und unten 2.4.4.

l. Die Genese realistischer Selbstverhältnisse

347

also auch Freundschaft einschließende*8® Warnung vor zu starker Hingabe und Selbstbindung

daran dennoch etwas Neues, das mit der freundschafts-

theoretischen Emphase ın einer gewissen Spannung steht. Diese wird auch nicht durch die Überlegung aufgehoben,

daß auf der einen Seite in WL ja

nur die Ortentierung an der soziale Beziehungen begleitenden und ihnen entspringenden punktuellen Freude abgewiesen werde, unbeschadet der sittlichen Pflicht zum Handeln für andere, die sozusagen das dauerhaft tragende, 'substantielle' Gerüst der sozialen Orientierung bilde, an die sich das gesellige Vergnügen nur 'akzidentell' anhängt, - während auf der anderen

Seite

in

AA

die

wechselseitige

Versittlichung

als

die

fundamentale

Funktion der Freundschaft erscheine, der die genußreiche Wahrnehmung irreduzibler Andersheit und Kommunikation eigener und fremder Individualität nur als sekundäres wenngleich konstitutives Moment zugeordnet sei. In der Tat weist Schleiermachers Konzeption von Tugend und Glückselıgkeit als den zwei Kriterien der Bestimmung des Menschen eine eindeutige strukturelle Analogie zu seiner Beschreibung von Versittlichung und Individualitätswahrnehmung als den zwei Funktionen der Freundschaft auf: Hıer wie dort arbeitet er mit mindestens zwei "Bestimmtheitsmatrices' zur Erfassung innerpsychischer und sozialer Phänomene,

Zustände

und Tätigkeiten;

diese 'Raster' sind hier wıe dort durch ıhr Verhältnis zur Zeif unterschieden - Dauer versus Aktualität; dabeı ıst hier wie dort die momentbezogene

Matrix der zeitübergreifenden einerseits hierarchisch untergeordnet,

wäh-

rend die allgemeine und zeitlose Orientierung andererseits zu ihrer Realisierung der Aktualität bedarf. Das ändert jedoch nichts daran, daß die Position

von WL eine Nivellterung und Relativierung auch der in AA idealisierten und als Ort der Realisierung der menschlichen Bestimmung herausgehobenen Sozialform der Freundschaft impliziert, und ebenso umgekehrt daß die Wahrnehmung

ın

der

und Kommunikation

Freundschaftstheorie

gegenüber

eigener und fremder Individualität

der

Versittlichung

faktisch

eın

Eigengewicht gewonnen hat, wie es bei einer strikten Unterordnung der Glückseligkeit unter die Tugend kaum gedacht werden kann. Es scheint sich

mithin die bereits in den Briefen »An Cecilie« andeutende kritische Relativierung der Freundschaft in WL fortgesetzt und verstärkt zu haben. Allerdings

zeigen

Schleiermachers

konzeptionelle

Bemühungen

um

das

Herausstellen der Eigenständigkeit des Glückseligkeitsmotivs, wenngleich sie noch nicht zu völlig klaren Ergebnissen geführt haben*?, daß er das 48

Vgl. auch die Forderung der Abstraktion von der Sehnsucht nach dem Freund, oben 1.3.

49

Vgl. oben 1.6., besonders Anm. 39.

348

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

Programm des Erfassens und Ergreifens des Partikularen, Besonderen, Individuellen um seiner selbst willen nicht aufgegeben hat, daß er mithin wenn auch in veränderter Perspektive weiterarbeitet an dem Problem, das dıe Untersuchung als das Initialproblem seiner Theorieentwicklung ausgemacht hat. Der Verlust der Naivität hat dabei nicht nur negative Konsequenzen; er ermöglicht vielmehr ebenso die Aufhebung der perspektivischen Verengung auf gleichgesinnte Kleingruppen und weitet den Blick hin auf die Vielfalt der Lebenssphären.

Die Beschreibung dieser Vielfalt ist das hervorstechendste Merkmal von WL, dem gegenüber die »Regeln des Verstandes fürs Leben« als eine gewisse rationale Engführung erscheinen. Dieser Beschreibung gilt es sich nun zuzuwenden.

2. Phänomenologie von Lebenssphären Die als berechtigt aufgewiesene Forderung an das Leben, es müsse »unbedingt Stoff geben glüklich zu seyn« (413,36), impliziert aufgrund der kategorialen Momentaneität und qualitativen Pluralität und Disparatheit der Glückseligkeit die Forderung, einerseits müßten beständig neue, Glückse-

ligkeit ermöglichende Eindrücke appräsentiert sein, andererseits müßten dıe individuellen Vermögen so beschaffen sein, daß sıe die komplexe Vielfalt der angebotenen Glückseligkeitschancen wahrzunehmen und die dann gelegenen Betätigungs- (Rezeptions- und Handlungs-) Möglichkeiten zu

ergreifen fähig sind. Abwechslung

und Differenziertheit sınd deshalb dıe

zentralen Kategorien, unter denen Schleiermacher die Zuträglichkeit der inneren und äußeren Lebensverhältnisse für das Glückseligkeitsmoment bestimmungsgemäßer Lebensführung untersucht.

Dabei stellt die Eigenart der Glückseligkeit auch dıe Darstellung dieses Fragekomplexes unter erhöhte Differenzierungsansprüche. Sie kann sich nicht mit pauschalen Erwägungen begnügen, sondern muß sowohl die Vielfalt der äußeren Sphären möglicher Glückseligkeit als auch die verschiedenen inneren Vermögen, deren Betätigung Vergnügen bereitet, im

einzelnen aufschlüsseln, und sıe muß darüber hinaus die /nserdependenzen von Sphären und Vermögen beständig mitberücksichtigen. Diese erforderliche Komplexität der Problembehandlung korrespondiert mit der Stärke und Widersprüchlichkeit der gängigen Vormeinungen, die sıe zugleich zu rekonstruieren

und

kritisch zu beurteilen

hat; beide verdanken

sıch der Un-

übersichtlichkeit des Problems selbst. Denn die Situationsbezogenheit und

2. Phänomenologie von Lebenssphären prinzipielle

Singularität

des

Vergnügens

bedingt

349 eine

unüberschaubare

Mannigfaltigkeit von Glückseligkeitserfahrungen, die beim Vergleich qualitativ und quantitativ höchst verschieden erscheinen; zudem scheint die diachrone Betrachtung des Ganzen des Daseins bei verschiedenen Menschen eine höchst unterschiedliche Summe nicht nur realisierter, sondern auch möglicher Glückseligkeit zu offenbaren, Eine Klage über die Ungerechtigkeit des »Schiksals«, das - sei es durch die 'Erlebnisqualität' der äußeren Umstände, seı es durch die ındıvıduellen Fertigkeiten - dem Einen mehr

Gelegenheit zur Glückseligkeit gewähre als dem Anderen,

legt sich dann

nahe. Diese Klage ist nur durch detaillierte und umfassende Auffächerung der Lebenssphären und individuellen Fähigkeiten zu prüfen; abgewiesen ist sie erst, wenn gezeigt werden kann, daß jeder Situation jedes menschlichen Lebens Glückseligkeitschancen innewohnen oder zumindest daß die Summe

möglicher Glückseligkeit bei jedem Menschen am Ende gleich groß ıst. Schleiermacher führt diesen - für die Allgemeingültigkeit seines Begriffs

von der Bestimmung des Menschen wie gesagtS0 obligatorischen - Nachweis in höchster Umsichtigkeit und Umständlichkeit. In einem ersten Arbeitsgang (414,18 - 420,26) führt er die »verschiednen Principien der Empfindungen in meiner Seele« (416,37f.) auf als die Arten, wie - und die Objekttypen, woran die Seele Freude empfinden bzw. genauer: wobei sie Freude an sich selber empfinden kann, und legt dar, daß das Leben für alle diese Arten hinreichende Betätigungsgelegenheiten und -umstände bereithält (vgl. 2.1.). Da diese Freude der Seele aber näherhin Freude an ihrem eigenen Tätigsein ıst, genügt sıe dem umfassenden Begriff von der Bestimmung des Menschen nicht, der ja ebenso auf der einen Seite das kriterienlose Streben nach Betätigung ausschließt, wie er auf der anderen kontingentsituative Empfindungen einschließt?!. Die Bedeutung der vom Leben dargebotenen Außeneindrücke erschöpft sich deshalb nıcht darın, dıe Selbstbezie-

hung kontinuierlich zu aktivieren und zu bestätigen. Die bestimmungsgemäße Lebensführung betreffen vielmehr auch die je momentanen, kontingenten, je perspektivischen Oberflächenwirkungen (vgl. 423,10-16) der appräsentierten Gegenstände selbst. Sie sind aber ambivalent und keineswegs

vollständig

kontrollierbar.

Sie wirken

nicht nur luststeigernd,

sondern können sowohl unmitielbar durch Erweckung unangenehmer Empfindungen als auch mittelbar - indem sie die Entfaltung individueller Fähigkeiten, das Ergreifen der gegebenen Glückseligkeitschancen verhindern - die Glückseligkeit mindern. In einem zweiten Arbeitsgang (424,3 50

Vgl. oben 1.5. und 1.6.

51 vgl. oben 1.4. und 1.5.

350

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

426,34)

weist

Schleiermacher

darum

diese

Ambivalenz

an

allen

Objekt-

typen auf (vgl. 2.2.). Erst hier tritt das die Klagen über die Ungerechtigkeit des Schicksals auslösende Problem völlig zutage. Denn mit dem (notwendigen, bestimmungsgemäßen!) Sicheiniassen auf die 'Eigenwirkungen' der die je konkrete Situation konstituierenden Phänomene wird auch die bisher unproblematische Glückseligkeit vollzogener Selbstreferenz (d.h. das

Vergnügen

an der Wahrnehmung

der eigenen Tätigkeit und ihrer Folgen

und Wirkungen) gefährdet, indem die Übermacht unangenehmer Umstände

nicht nur faktisch vorhandenes derartiges Vergnügen zu übertönen, sondern durch die Behinderung der Ausbildung und Entfaltung der Seelenvermögen schon das Entstehen der Freude an sich selbst zu hintertreiben vermag. Dadurch scheinen die Umstände aber zum einen dıe Verantwortlichkeit des

Einzelnen für bestimmungsgemäße Lebensführung durch Auslieferung an das Unverfügbare aufzuheben, zum anderen jedoch eine Ungleichheit der Lebensverhältnisse

Glückseligkeit

zu

begründen,

offenbar

nahezu unmöglich

macht.

die

nachgerade

dem

Einen

garantiert,

bestimmungsgemäße

dem

Anderen

hingegen

Schleiermacher muß deshalb auf der einen Seite

zunächst Regeln für den verantwortlichen Umgang mit dem Unverfügbaren, besonders

dem

unvermeidlichen

Übel,

entwickeln.

Diese zielen vor allem

auf eine Eingrenzung des Unverfügbaren, damit es nicht als Rechtfertigung eigenen Versagens mißbraucht werden kann (vgl. 2.3.). Auf der anderen Seite

muß

er jedoch

vorhandenen chancen

den

Ungleichheiten

mit sich bringen.

Nachweis

führen,

keineswegs

daß

die

faktisch

unleugbar

Differenzen der Glückseligkeits-

Das geschieht in zwei

Arbeitsgängen:

zunächst

anhand der für die dußeren, den Einzelnen vorgegebenen Verhältnisse paradigmatischen gesellschaftlichen Differenzen hinsichtlich Macht, Reichtum und Ansehen (vgl. 2.4.), dann anhand der die individuellen, ebenfalls nur partiell verfügbaren Verhältnisse und Fähigkeiten betreffenden Unterschiede der körperlichen Gesundheit, des Glücks beim Umsetzen der Intention in Handlung und des Bildungsstandes (vgl. 2.5.). Die zentrale Bedeutung des letztgenannten Aspektes der Bildung äußert sıch darın, daß Schleiermacher hier das Problem an allen ım ersten Arbeitsgang aufgezählten Objekttypen und Empfindungsarten durchspielt, und zwar zweimal: Erst nennt er die Vorzüge, die die Bildung nach dem allgemeinen Urteil seiner aufgeklärten Zeitgenossen einträgt, ehe er dieses Urteil detailliert widerlegt (vgl. 2.6.).

Dabei entwickelt er kulturrelativistisch Außenperspektiven auf die eigene, europäische Kultur, was seine gleichsam innerkulturelle Kritik an der anthropologischen Fixierung der Aufklärung auf Verstandes- und Regelbil-

dung

zugleich

reflektiert und illustriert.

Einsichten ın die welterschließende

Hier kommt

er zu wichtigen

Kraft der Fantasıe und des Mythos,

2. Phänomenologie von Lebenssphären

351

denen spezifische Mängel der rationalen Weltstrukturierung fehlen und die deshalb von können, und

dieser auch nicht einfachhin abgelöst und ersetzt werden in die Differenziertheit der Menschenkenntnis und soziale

Interaktionsfähigkeit vermeintlich schlichter, weil formal ungebildeter Gemüter. Nicht nur konzentriert sıch mithin die Behandiung der äußeren Umstände auf das gesellschaftliche Leben; auch die Untersuchung der individuellen Verhältnisse kulminiert in gesellschaftsstrukturellen und kommunikationstheoretischen Betrachtungen.

Auch die 'Soliloquien' bestä-

tigen die sozialtheoretische Anlage von Schleiermachers Denkentwicklung.

2.1. Arten und Objekttypen der Empfindung Schleiermacher unterscheidet sechs Objekttypen und Weisen der Empfindung, die spezifische Ausprägungen der Selbstbeziehung konstituieren, für sie alle ıst im einzelnen aufzuweisen, wie das Schicksal die für ihren Voll-

zug benötigten Bedingungen in hinreichendem und für alle gleichem Maße bereitstellt. (1) Als elementarste Form steht am Anfang die Rezeption sinnlicher Einzeleindrücke. Sıe ist für den Menschen als wesentlich körperliches Wesen lustfördernd.

Für sie fällt es auch nıcht schwer, das Leben

für die Bereit-

stellung einer hinreichend großen, differenzierten und abwechslungsreichen Zahl von Rezeptionsgelegenheiten zu rechtfertigen, ist doch die Abwechsfung schon mit dem Wechsel von Schlafen und Wachen

und mit dem dage-

gen zeitversetzten Wechsel der Tätigkeit und Untätigkeit der einwirkenden Gegenstände bzw. der Stärke und Schwäche der Einwirkungen gegeben (vgl. 414,29-33), und steht doch dıe »ganze Erde« (415,8) dem Menschen

mit allen seinen Sinnen zur Wahrnehmung und Aneignung offen, aus welcher Vielfalt er auswählen kann. (2) Aber nicht nur die isolierten Einzeleindrücke, sondern auch die Erfassung ıhrer Totalität vermag Glückseligkeit der Selbstwahrnehmung zu erzeugen, wenn die »ganze Harmonie der Welt« und ihre Angemessenheit zu den »Bedürfnissen des Körpers« (415,32f.) wahrgenommen wird; denn so erfährt der Mensch sich ın Harmonie mit dem Kosmos, er lebt in einer lebensfreundlichen, seiner leiblichen Existenz förderlichen Umgebung (mit

angenehmem

Klima,

ausreichenden

Ressourcen

an Grundnahrungsmitteln

etc.).

(3) Das Leben muß dem Menschen aber neben Rezeptionsmöglichkeiten auch Gelegenheit zur Selbsterfahrung ın der aktiven Wirkung auf äußere Dinge,

in der selbsttätigen Gestaltung der Außenwelt,

in der Anordnung,

352

11l. Lebenssphären - Kap. 6. »UVeber den Werth des Lebens«

Bearbeitung und sogar Zerstörung von Gegenständen geben. Erst so vermag er seine Fähigkeiten zu betätigen und sıch als Tätiger und in den Wirkungen seiner Tätigkeit wahrzunehmen. Schleiermacher setzt dabei unbegründet voraus, daß die Natur so beschaffen ıst, daß sie den Menschen bei der »Obermacht« (415,39) und Herrschaft über sie »überall (...) zu unterstüzen bereit ıst, wo er sie zu nuzen versteht« (416,11), und daß umgekehrt der

Mensch diejenigen Vermögen besitzt, die ıhn zu solcher tätigen Herrschaft befähigen, nämlich die Einsicht in die Strukturen und Gesetze der Natur und die Fähigkeit, gemäß dieser Einsicht die Natur nach eigener Intention

zu beeinflussen??. (4) Von dieser rezeptiven wie aktiven Nutzung der Welt und deren damit korrespondierenden Zuträglichkeit und Handhabbarkeit abgehoben ist die Wahrnehmung des Schönen ın der leblosen Welt. Da die /dee des Schönen »In meiner Natur gegründet und ein nothwendiges Produkt derselben« ist (416,18f.), freut sich die Seele bei der Wahrnehmung von Schönheit in der

Außenwelt nicht an den Objekten selbst, sondern an deren Übereinstimmung mit der selbstgeschaffenen Idee. Diese die Freude an solcher Selbsttätigkeit der Seele aktivierende, steigernde, oder sogar eine irreduzibel spezifische Gestalt dieser Freude hervorbringende und deshalb zur Suche nach externen Objekten des Schönen motivierende Übereinstimmung wird durch das Leben vielfältig gefördert: Es gewährt auf der einen Seite Freude an der Wahrnehmung der ınneren Harmonie, der Regelmäßigkeit der »organischen Formen der Natur« (416,24) und an der Entdeckung von einzelnen Elementen dieser universalen Regelmäßigkeit und mithin am »allmählichen« (416,26) Anwachsen

und Zusammenwachsen von singulären

Einsichten in Gesetze (oder Anwendungsgebiete dieser Gesetze) zu einem umfassenden Panorama der Schönheit der Einrichtung der Welt. Auf der anderen Seite gibt es (Fähigkeit und} Gelegenheit zur subjektiven Synthesis von an sich regellosen Formen anhand der Idee des Schönen durch Fantasie und Ideenverbindung, indem es dem Menschen als das Vermögen dieser Synthesis »Kunstsinn und Geschmak« - »dieses eigenthümliche unerklärliche Gefühl der Menschenseele« - (416,35f.) verleiht und ihm in der Wahrneh-

mung der Formen der Natur beständige »volle Nahrung« für die Betätigung dieses Vermögens gewährt. (5)

Bewegte

sich

Schleiermacher

bei

der

bisherigen

Aufzählung

im

Bereich der individuellen Freude aus der Wahrnehmung und Deutung der nichtmenschlichen Natur bzw. aus der Wahrnehmung und Deutung der 52

Das Problem der Intentionalität ist allerdings ausführlich behandelt in ÜdF. Vgl. oben Kap. 5, 2., besonders

1. und 6.

2. Phänomenologie von Lebenssphären

353

eigenen Tätigkeit auf die Natur und der Folgen dıeser Tätıgkeit und überhaupt der damit gegebenen eigenen Stellung ın der und zur Natur, so blieb

dabei dıe ethische Dimension auch dieser Arten des Sich-Verhaltens ausgespart - und zwar genau deshalb, weil ihre soziale Dimension nicht in den Blick trat. Dieser Zusammenhang erhellt daraus, daß Schleiermacher jetzt die besondere Nähe des Sinnes für das Gesellige, »für alles was mir gleich ist [und] worin ich mich wiedererblike« (416,39f.),

zur Tugend,

genauer:

»zu den Quellen und Bedingungen der Tugend in mir« (417,2f.) hervorhebt. Diese Funktion als Sphäre der Förderung von Sittlichkeit, und d.h.: der Förderung des Dominantwerdens der Vernunft in der Lebensführung

(vgl.

414,3f.), macht dıe Geselligkeit auch unabhängıg von der ıhr möglıicher-

weise entspringenden Glückseligkeit zu einer anzustrebenden Lebensform. Allerdings nötigt erst die für den Glückseligkeitsaspekt konstitutive Forderung nach Abwechslung und Differenziertheit zu einer phänomenologischen Betrachtung der vom Leben zu fordernden und faktisch gewährten kategorialen und quantitativen Vielfalt der Gelegenheiten

zu geselligen Erfahrun-

gen. Prinzipiell ermöglicht jede (direkte oder vermittelte) Wahrnehmung eines Anderen die Freude der Selbstwahrnehmung ım Spiegel dieses Anderen.

Jede Information

über die »Millionen

(,) die da sind und waren

und seyn werden«, vermittelt deshalb das freudeschaffende Wissen, »wıe unendlich mannigfaltig meine Natur in ihnen modifieirt ıst«, und die Anschauung, »wıe sie auf so verschiedenen Wegen sıch bilden und entwikeln und Fortschritte in ihrer Bestimmung

machen«

(417,15-20;

Hervorhebung

von mir)>>, Allerdings gewährt das Schicksal nicht allein diese unstrukturierte »grosse Gemeinschaft mit allen meiner Gattung« durch Raum und Zeit, nicht allein das Gefühl einer zwar alle Menschen als Individuen, aber

doch immer in gleicher Weise, als Menschen schlechthin unabhängig von ihrer sozialen und historischen Determination erfassenden und umfassenden allgemeinen Menschenliebe. Vielmehr stellt es den einzelnen Menschen ın das

Zentrum

verschiedener

partikularer

Konkretionen

der

menschlichen

Gattungsgemeinschaft. Verschieden sind diese Konkretionen in doppelter Hinsicht: Einerseits schichten sıe sich um die ındıviduellen Lebensverhältnisse des Einzelnen, so daß dieser sie jeweils mit immer weniger Anderen gemeinsam hat; umgekehrt werden die geselligen Empfindungen bei dieser »Einschränkung ihres Umfanges« (417,31f.) jedoch um so intensiver. Ande-

rerseits bedingen aber dıe Konkretionen auf allen, auch den allgemeineren Ebenen Differenzen zwischen den Menschen; auch dıe Volkszugehörigkeit etwa trägt zur Individualität bei und konstituiert spezifische soziale Erfah53

Es ist allerdings unklar, wıe und woran diese Fortschritte erkannt werden söllen.

354

II. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

rungsmöglichkeiten. Schleiermacher verfährt dabei nach dem Modell der konzentrischen Kreise - immer weniger Ändere haben immer mehr mit mır gemeinsam -; er kann also nicht den Fall erfassen, daß trotz Differenz auf

einer allgemeineren Konkretionsebene Gemeinschaft auf partikularem Niveau möglich ist, daß etwa Bürger verschiedener Staaten Freunde wer-

den. Überhaupt schränkt er dadurch Geselligkeit auf die Kommunikation Gleichartiger ein; ein kommunikativer Überschritt ins Fremde, ins "ganz Andere‘ ist ausgeschlossen, wenn ıinnige, konkrete Gemeinschaft die Gemeinsamkeit in allen abstrakteren, allgemeineren Konkretionsstufen voraus-

setzt. Dieser gravierenden Schwäche steht freilich die Weite des Deskriptionshorizonts und die Feinheit der Differenzierungskriterien für die Erfassung der die soziale Existenz unaufhebbar prägenden und individuierenden Faktoren und der verschiedenen sozialen Erfahrungsmöglichkeiten gegenüber: Schleiermacher hebt an bei der Gemeinschaft des »Welttheil(s)«, die auf gemeinsamer Bildung und verwandten Sitzen beruht, geht über auf dıe Ebenen des Voikes, das durch die Sprache und den darın sich konkreti-

sierenden”* »Charakter der Denkungsart« definiert ist, und des Staates, den

die Einheit der Gesetzgebung konstituiert”>, und differenziert weiter im Hinblick auf das spezifische »Verhältniß«, ın welchem ganze »Wohnörter« (segmentäre Differenzierung) oder »ganze Klassen« (stratifikatorische Differenzierung) von Menschen zu dıesen Gesetzen stehen (418,1-5). Am Ende

gelangt er zu denjenigen sozialen Sphären und Erlebnisformen, die nicht nur eine punktuelle Befriedigung mancher Bedürfnisse, sondern die dauerhafte wechselseitige Partizipation an allen Lebensäußerungen ermöglichen: Häuslichkeit

als »Krone

meines

Lebens«

(418,14)

und

Freundschaft

bzw.

Liebe. Hier bringt es gerade die Konzentration auf wenige mit sich, daß die Seele wirklich erfüllt wird. Besonders gilt dies für die Freundschaft, die -

wie Schleiermacher in offensichtlicher Anspielung an Aristoteles sagt6 »die Kräfte der Seele«, ja »das ganze Daseyn (418,28f.; Hervorhebung von mir)??.

des Menschen

verdoppelt«

54

Vgl. auch die Abhandlung »Ueber den Styl« und dazu oben Kap. 3, 2.

55

Sollte der Schritt vom Volk zum Staat ein Konkretionsschritt sein, so hegt der Begriff des Nationalstaats hier noch ganz fern.

56

Vel. NE 1166a 31: der Freund als »zweites Selbst«.

37

Nicht ganz deutlich ıst allerdings das Verhältnis von Häuslichkeit und Freundschaft. Laßt sıch Liebe noch als Steigerung der Konkretion und Intensität der famıliaren Hausgemeinschaft fassen,

so ist die Freundschaft auf diesen Bereich jedenfalls nıcht zu be-

schränken. Ohne Spannungen ließe sıch das Verhältnis nur dann denken, wenn Freundschaft nur als spezifische Prägung beliebiger Sozialformen, als deren intensivste dann

2. Phänomenologıe von Lebenssphären

355

Anders als in den Arıstoteles-Anmerkungen, anders als in der Predigt über die allgemeine Menschenliebe5® scheint Schleiermacher hier eine kategoriale Identität der Menschenliebe mit all den partikularen Sozıalformen anzunehmen, die als deren graduell abgestufte - eingeschränkte und entsprechend intensivierte - Realisierungen erscheinen??. Allerdings ist auch hier zwischen der Behandlung der »innig fühlend(en) wenn auch nicht

[immer] handelnd(en)« (417,23) Gemeinschaft mit allen Gattungsgenossen und dem den Abstieg der Konkretionen anstoßenden Hinweis auf die unaufhebbaren Differenzen der 'Klassen' ein gewisser Bruch unverkennbar. Zudem

markiert der betonte »Enthusiasmus« (418,27) für Freundschaft und

Liebe eine bleibende Hochschätzung und Sonderstellung dieser Sozialformen,

wobei die graduelle Unterscheidung geradezu einer kategorialen Dif-

ferenz nahekommt, oder anders ausgedrückt: wobei sie den Charakter der paradigmatischen, 'eigentlichen' Realisierung der allgemeinen Menschenliebe gewinnen, von dessen Glanz die anderen Sozialformen - und letztlich auch der Begriff der Menschenliebe selbst - erhellt werden. (6) Aus

zwei

Gründen

Ende der Aufzählung. ordnung

steht das Interesse an der Wahrheit zurecht am

Zum einen kommt hier der Richtungssinn der An-

der Objekttypen

bzw.

Erfahrungsformen

von

den

unmittelbaren

singulären Einzeleindrücken hin zur distanzierten Strukturierung und differenzierten Erkenntnis des Ganzen der Wirklichkeit, von der Sinneswahrnehmung zur rationalen Einsicht, ans Ziel. Diesem Richtungssinn ıst auch

der Übergang von der Geselligkeit zur Wahrheit ohne weiteres zuzuordnen, berücksichtigt man die hervorgehobene Nähe des Sinnes fürs Gesellige zur Tugend und also zur Vernunft°®, Zum andern und vor allem wird hier aber das Verfahren als solches reflex. Es wird jetzt die Frage thematisch, inwieweit die unparteiische Untersuchung der Einrichtung der Welt und besonders der menschlichen Natur, der »Namen und Funktion(en)« der menschlichen »Kräfte« (420,8) und der vielfältigen menschlichen Zustände ihrerseits

Anlaß zu erfreuender Selbstwahrnehmung werden kann und inwiefern das Leben Gelegenheit zu dieser Art von Glückseligkeit gibt. Das Kriterium der Abwechslung bedingt dabei, daß eine vollständige Bestimmtheit, d.h. eine durchgängige rationale Durchdringung der Welt und des Menschen nicht die Häuslichkeit gelten könnte, und nicht auch als eigenständige Sozialform bestimmbar wäre.

38 sw LT, 117 - 134. Vgl. oben Kap. 3, 4. 59 Es ist dies das Argumentationsmodell Eberhards. Vgl. SdV 5 184, S. 226ff. und dazu oben Kap. 2, 1.5. 60

Allerdings zur praktischen und nicht, wie jetzt, zur theoretischen.

356

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Uleber den Werth des Lebens«

wünschenswert

(»traurig und Ööde«, 419,5) wäre,

da es dann nichts Neues

mehr - bzw. nur noch für die Vernunft- und mithin Regei- oder Strukturerkenntnis irrelevante kontingente Einzelerscheinungen zu entdecken gäbe. Auf der anderen Seite muß, damit Strukturerkenntnis und also die dieser

entspringende spezifische Selbstwahrnehmung überhaupt möglich ist, eine völlige Unbestimmtheit, radikale Kontingenz und Regellosigkeit, beliebige Vanabilität und Nichtprognostizierbarkeit bzw. Unregulierbarkeit, insgesamt Nichterschließbarkeit der Welt ausgeschlossen sein. Zwischen diesen beiden Extremen der zu hohen Bestimmtheit und der völligen Unbestimmbarkeit »liegt (...) das glükliche Verhältniß, worin ich gegen alles um mich her stehe, was ein Gegenstand meiner Erkenntniß werden kann« (419,8-10).

Die Welt und die Natur des Menschen sind zwar prinzipiell erfaßbar und partiell auch erfaßt, aber sie sind je komplexer,

als das momentan

verfüg-

bare Erkenntnisvermögen einzuholen vermag. Diese Konstellation bringt mit sich eine Freude an erlangter Einsicht und eine permanente Motivation zum Streben nach neuer Erkenntnis ebenso wie zur Korrektur und Vervollständigung der bereits errungenen Einsichten. Denn die der Erkenntniskraft

prinzipiell überlegene Komplexität und Rätselhaftigkeit der Welt und des Menschen macht die menschliche Einstcht in doppelter Hinsicht unvollkommen (ohne daß diese deswegen aufhörte, wahre Einsicht zu sein!): Sie ist nie vollständig, und sie ist immer fallibel - und auch faktisch mit Irrtum durchsetzt. Das heißt auch: Es gibt keinen ein für allemal festen Besitzstand des Wissens.

»Ich bleibe immer in einer Mischung

von Wahrheit

und Irr-

thum, doch immer in einer andern« (419,20f.); die in dieser partiellen Ungewißheit begründete permanente Bewegung bietet beständig Gelegenheit zur Freude des Erkennens. Mit diesen Gedanken macht Schleiermacher die antk.ropologische Angemessenheit seines eigenen Verfahrens der unabschließbaren Genetisierung nicht nur der Erkenntnis des Begriffs der Bestimmung des Menschen,

son-

dern des Begriffes selbst deutlich®!. Nur so ist eine Freude denkbar, die sich nicht bloß auf die immer neue Wahrnehmung relatıver Bestimmungsadäquanz einer konkreten Lebensführung, sondern ebenso auf die immer neue Revision, Präzisierung und Ausweitung des Begriffes der menschlichen

Bestimmung

selbst bezieht.

Und

nur

so,

indem

der Akt

der

Be-

griffsbildung selbst Freude erweckt, entspricht er der im Begriff‘ selber entwickelten doppelten Bestimmung des Menschen zu Tugend und Glückseligkeit.

61

Vgl. oben 1.4.

2. Phänomenologie von Lebenssphären

357

Die permanente Revisionsbedürftigkeit des Begriffs gefährdet allerdings seine Brauchbarkeit

als Kriterium

der Wahrnehmung

und

Beurteilung

der

Lebensführung®2. Eine Veränderung im Begriff müßte ja die Selektion relevanter 'Daten' verändern. Der prinzipielle Ausstand einer vollständigen und definitiven Begriffsklärung untergräbt zudem seine eigene Prinzipialität, könnte doch gerade sie zu den zu revidierenden Momenten des Begriffes gehören. Schleiermacher sieht diese Selbstaufhebung nicht; es scheint,

als vertraue er auf die Evidenz jener rational-sinnlichen Doppelheit in seinem Begriff, auf der das Konzept der Endlichkeit aller menschlichen Kräfte und Vermögen beruht. Möglicherweise ıst aber ein Hinweis Schleiermachers auch auf dieses Problem anzuwenden,

wonach die Defizienz des

Wissens und die daraus folgende Ungewißheit nicht nur »Scharfsinn (,) Wiz und erfindenden

Verstand« (419,26), sondern ebenso die Fantasie beschäf-

tige, die selbst Gegenstände, die der Verstand nie mit Sicherheit zu erfassen vermag, in aller »Kühnheit (...) zum Stoff ihres Gebäudes brauchen kann« (419,29). Schleiermacher nennt als derart zu erschließende Gegenstände das »Schloß der Unendlichkeit« (419,31) und dıe Totalität der Welt; es legt sich aber nahe, auch dıe Gewißheit des Begriffes von der menschlichen Bestim-

mung einer solchen vorlaufenden Imagination zuzuschreiben. Daß es sıch hierbei um eine vernünftige Gewißheit im strengen Sinne nicht handeln kann, liegt am Tage. Für Schleiermachers Argumentationsziel ıst entscheidend, daß die Aufzählung der Gegenstandsbereiche und der Erfahrungsformen vollständig ıst. Denn für den Nachweis der Gerechtigkeit des Schicksals genügt es nicht, aufzuzeigen,

daß es doch

vielfältige Bereiche gebe,

Freude an seinem Dasein gewinnen kann.

in denen

der Mensch

Die kategoriale Einzigartigkeit

jeder spezifischen Form der Glückseligkeit bringt es nämlich

mit sich, daß

beim Mangel an Erfahrungsmöglichkeiten hinsichtlich der einen Form nicht kompensierend auf die in anderen Formen durchaus gegebenen Gelegenheiten verwiesen werden kann; erst wenn ın allen möglichen anthropologisch-allgemeinen Lebenssphären gleiche Glückseligkeitschancen für alle belegt werden können, sind Klagen über schicksalsbedingte Benachteiligung pauschal abweisbar. Die geforderte Vollständigkeit müßte sich ın der inneren Einheit der Aufzählung, in dem Zusammenhang der genannten Sphären manifestieren. Schleiermacher tut freilich wenig, die Einheit seines Verfahrens oder den Zusammenhang seiner Resultate aufzuhellen. Zwar läßt sich

ein genereller Richtungssinn des Vorgehens feststellen’, und auch darüber

62 Vgl. oben 1.6. 63

Vgl. oben in diesem Abschnitt unter (6).

358

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Uleber den Werth des Lebens«

hinaus dokumentieren sich im einzelnen Aspekte und Kriterien des Zusammenhangs

zwischen

verschiedenen

Bereichen:

so die grundlegende

Unter-

scheidung zwischen den menschlichen Vermögen und den Gegenstandsbereichen ihrer Betätigung, die Differenzierung zwischen Rezeption (1 und 2) und Tätigkeit (3), der Übergang von der Empfänglichkeit für die Mannigfaltigkeit sinnlicher Eindrücke (1) zur Produktion von Regeln der (noetischen)

Strukturierung

der

Wirklichkeit

(3

und

5),

eine

lockere

Anknüpfung an die klassischen Reihungen des Vielfältigen (1) und Einen (2 und 3), des Schönen (4), Guten (5) und Wahren (6), die Behandlung zuerst des Verhältnisses zur leblosen Natur (1 - 3), daraufhin zur menschlichen Gesellschaft (5), schließlich die Thematisierung der alle diese Distinktionen umfassenden Erkenntniskraft (6). Es ıst aber nicht zu sehen, daß Schleier-

macher

diese einzelnen

Momente

zu einer durchgebildeten

Theorie,

zu

einer transparenten und kohärenten Konzeption menschlicher Vermögen und Verhaltenssphären verbindet, wie er das später in der philosophischen

Ethik unternimmt. Gleichwohl bildet das hier entfaltete Panorama einen ersten und wichtigen Schritt in Richtung auf eine solche umfassende deskriptive Theorie der menschlichen

Lebensverhältnisse, wobeı schon hier

- wie sich im folgenden noch deutlicher zeigen wird - der Schwerpunkt auf den sozıalen Beziehungen bzw. auf der sozialen Dimension der menschlichen Tätigkeitsformen liegt.

2.2. Die Ambiguität der Objekterfahrung

Der erste Arbeitsgang ergab, daß das Leben jedem Menschen eine seine Realisierungskräfte immer übersteigende und deshalb für ihn unbegrenzte »Menge von Glükseligkeit« (420,29) jeder Art zu Verfügung stellt. Daraus scheint nun umgekehrt geschlossen werden zu müssen, daß das Glück ganz in die Hand des Einzelnen gegeben sei und daß er sich mithin entgangene Freude generell selbst - und zwar als Versäumnis - zuzuschreiben habe. Dies

kann

jedenfalls nicht

durch

die

Behauptung

bestritten

werden,

die

Tugend selbst gebiete den Verzicht auf Glückseligkeit. Keineswegs nötigt die Tugend dazu, das Leben als »ein Thal des Jammers und der Thränen« (421,29) zu betrachten und mögliches Vergnügen

pauschal als sittenwidrig

auszuschlagen®*. Ebenso wenig darf die Verantwortung für nicht ergriffe64

Allerdings tut sich hier eine gravierende Spannung auf: Auf der einen Seite lehnt Schleiermacher eine Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Glückseligkeit nach Maßgabe ihrer Tugendgemäßiheit ab: als pure momentane Empfindung ist Lust immer wahr, kann nicht im nachhinein als blofßer Schein decouvriert werden; dies gilt auch

2. Phänomenologie von Lebenssphären

nes Vergnügen

dem

Glauben

an Gott zugeschoben

359

werden,

der angeblich

um willen der »künftige(n) Welt, die wir von seiner schöpferischen Hand erwarten«

(421,32f.),

asketische

Verweigerung

gegen

die

gegenwärtige

verlange. Denn eine solche Verneinung seines ersten Werkes in der Hoffnung

auf ein

besseres

zweites

ehrt

den

Schöpfer

keineswegs.

Dennoch

bleibt die Auskunft der völligen Suffizienz der menschlichen Vermögen und der Einrichtung der Welt zur Glückseligkeit und das daraus folgende Verantwortungsgefälle unbefriedigend. Es suggeriert die völlige Verfügungsgewalt des Einzelnen über seine inneren und äußeren Lebensumstände, und es postuliert eine chronische Überlegenheit der individuellen Möglichkeiten des Sich-Verhaltens

über die Außeneinflüsse auch in der Hinsicht, daß die

dem Sich-Verhalten gegen die Außeneinflüsse entspringende Glückseligkeit immer dıe von jenen bewirkten unangenehmen

Eindrücke müsse übertönen

können. Damit ist aber nicht nur ein unrealistisches Vorurteil »zu Gunsten des Lebens« (422,3) etabliert und die »üble Seite des Lebens« (422,8) ver-

harmlost;, es wären damit ebenso gegen den entwickelten Begriff der menschlichen Bestimmung »meine Foderungen an das Leben auf die blosse Bewürkung

der Thätigkeit« (423,2f.) der Seele eingeschränkt.

Denn

in der

Tat hat der bisherige Beweisgang nur ergeben, daß das Leben ausreichend Gelegenheit gibt zu dem alle Seelentätigkeiten begleitenden »Bewußtseyn meiner selbst und der grossen Eigenschaften meiner Natur oder der erworfür tugendwidriges Vergnügen (vgl. 420,37 - 421,21). Auf der anderen Seite verwendet er dıe Tugend unbefangen als Kriterium anzustrebender und zu meidender Glückseligkeit (vgl. 421,11-13) und rechtfertigt dıe damit verbundenen Restriktionen dadurch, daß nichtergriffenes sittenwidriges Vergnügen nıcht als Versäumnis empfunden werde, ebenso wenig übrigens wıe um der Pflichterfüllung willen entgangene tugendkompatible Glückseligkeit. Diese Spannung löst sich, wenn man die argumentative Funktion der Verwerfung jener Unterscheidung ım Auge behält. Denn es sollen damit nicht beliebige Formen der Glückseligkeit unterschiedslos als anstrebenswert empfohlen werden, sondern es soll zum einen der begriffliche Widersinn einer »falschen« Glückseligkeit aufgewiesen, zum andern aber ein wechselseitiges Ausschlußverhältnis von Tugend und Glückseligkeit verhindert werden, das den einzelnen schließlich doch zur Klage gegen dıe Einrichtung der Welt berechtigte, indem dıese die Tugend nur durch Entsagung ermöglichte und gerade dem Tugendhaften den Weg zum Glück verschlösse, Dies wäre aber eine unberechtigte Verallgemeinerung der zutreffenden Beobachtung, daß es tugendwidriges und deshalb zu meidendes Vergnügen gibt. Es gibt nämlich ebenso und im vollgenugsamen Maße rugendgemäße Glückseligkeit, für deren Versäumnis keine moralische Entschuldigung vorgebracht werden kann. - Schleiermacher verortet die Unterscheidung wahrer und falscher Glückseligkeit im übrigen historisch ın der Zeit, »wo man Glükseligkeit und Tugend ın eins warf« (421,2), d.h., wo Glückseligkeit über den Tugendbegriff expliziert wurde. Nach Auskunft von hG würde das auf die Schulphilosophie zutreffen. Vgl. oben Kap. 4, 1.1.

360

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

benen Vollkommenheit

meiner Seele« (422,35f.) und zu der diesem Selbst-

bewußtsein entspringenden wußtsein

anregenden

Glückseligkeit.

Funktion

Allein in dieser das Seibstbe-

sind die Weltdinge jedoch

uneingeschränkt

und beständig »Quellen der Freude« (422,33). Dies sind sie nicht an sich selber, d.h. aufgrund der »Eindrüke, welche sie selbst durch ihr Verhältniß zu den auf sie angewandten Gefühlen und Begriffen hervorbringen« (423,79). Denn diese Eindrücke werden nicht durch das identische Wesen des

betreffenden Gegenstandes hervorgebracht, sondern je kontingent durch ihre beständig wechselnde Oberfläche, sie können deshalb ebensowohl ausbleiben wie eintreten, und sie können ebensowohl Unfust wie Lust

auslösen. Sie sind unverläßlich ebenso in Hinblick auf ihr Eintreffen wie in Hinblick auf ihren Charakter. Wegen dieser Kurzlebigkeit und Ambiguität soll sıch das »Streben

ren66. Gleichwohl

nach

Freude«

(423,25)

nicht an ıhnen orientie-

treffen sie ungerufen ein und sind ein nicht zu leug-

nender und nicht gering zu veranschlagender Faktor bei der Beurteilung der

Gerechtigkeit des Schicksals hinsichtlich der Verteilung von Glückseligkeitschancen, Ja, recht eigentlich machen sie erst die Rechnung unsicher, da mit ihnen die unverfügbare Kontingenz der konkreten Lebensumstände in den

Blick

kommt,

wobei

die augenscheinlich

krasse

Ungleichheit

der

Verteilung und des Mischungsverhälinisses von Angenehmem und Unangenehmem ein starkes Gegenargument darstellt gegen die generelle Hochschätzung des Lebens; vor allem gegebenenfalls ein eklatantes Übermaß des Unangenehmen bildet »ein mächtiges Gegengewicht gegen dıe Vorzüge des Lebens, welche mich vorher so lieblich anlachten« (424,2f.). Dies ist freilich

nicht

nur

so

aufzufassen,

daß

dıe

Menge

der

unangenehmen

Oberflächeneindrücke den festen Besitz der angenehmen Wirkungen der Selbstwahrnehmung zu übertönen drohte; sıe gefährdet vielmehr die Realisierungsbedingungen dieses Selbstbewußtseins selbst, indem sie den Betäti-

gungsspielraum der Seele einschränkt.

65

Allerdings leuchtet für diesen Punkt der Zusammenhang mut der Gegenüberstellung von Wesen und Oberfläche nicht recht ein. Wenn man nicht die abwegige Konsequenz zieht, das Wesen

der Dinge

liege in ıhrer Funktion der Erweckung

des Selbstbewußt-

seins, so bleibt nur die Deutung, daß die Wesenserkenntnis nur angenehme Empfindungen hervorrufen kann. Unangenehme Wirkungen der Dinge wären dann auch ım Blick auf diese selbst (und nıcht nur im Blick auf die Selbstbeziehung des Betrachtenden) kontingent und akzidentell. Das Übel wäre dann als sabstanzlos und darum als freilich unvermeidliche kontingente Verzerrung des Bewußtseins aufzufassen, die das Wesen der Dinge nicht betrifft. Nur dann kann auch daran festgehalten werden, daß von den Dingen wesentlich Oberflächenerfahrungen ausgehen. 66

Vgl. auch oben 1.6.

2. Phänomenologie von Lebenssphären

361

Beide Aspekte - das Übertönen und das Gefährden - werden deutlich beim Durchgang durch die sechs herausgearbeiteten Objekttypen bzw. Erlebnisformen. (1) Der Körper empfängt nicht nur neben den angenehmen auch vielerlei unangenehme Einzeleindrücke; in der Krankheit löst er auch selbst solche aus und büßt von seiner Betätigungsfähigkeit ein. (2) Auch das Ganze der Natur ist in concreto durchaus nicht in jeder Hinsicht dem physischen Wohlbefinden des Einzelnen zuträglich; er kann ın für seine Bedürfnisse höchst beengende Verhältnisse hineingestellt sein’.

(3) Dasselbe gilt

auch für dıe aktive Entfaltung der eigenen Fähigkeiten ın der erkennenden und gestaltenden Obermacht über dıe Natur. Selbst bei Kenntnis der setzmäßigkeiten lassen sich die eigenen Pläne nicht immer dürchsetzen; der Ohnmacht gegen vorausgesehene Naturwirkungen gewinnt die Prognose ermöglichende Einsicht in den Naturzusammenhang selbst Charakter des Unangenehmen. (4) Die Formen der Natur geben zwar ersten Impuls, das Ideal des Schönen zu entwickeln. Aber dem Ideal

Gebei die den den ent-

spricht die reale Natur nıe vollständig, welche Differenz vielfältiges MiBvergnügen hervorruft. (5) Zwar läßt mich das »Bewußtseyn« meiner geselligen »Gesinnung (...) immer in einer schönen Sphäre edeln Selbstgefühls schweben«

(425,28f.,;,

Hervorhebung

von

mir);

die

Wahrnehmung

der

Wirklichkeit des geselligen Lebens desillusioniert jedoch selbst bei bereits realistisch herabgestimmten Erwartungen und Begriffen ın hohem Maße. Dies konkretisiert sıch ın der Erfahrung des von Eigennutz geprägten Verhältnısses der meisten zum Staat, den sıe als »ein nothwendiges Uebel« betrachten, dessen Funktion sich in dem Schutz ihrer Eigeninteressen zu

erschöpfen habe. Die übliche an Standesgrenzen und Konvention gebundene Verheiratungspraxis führt zudem selbst in der Familie den Zwang zum Zu-

sammenleben mit Ungeliebten herbei, was beständige Quelle des Leidens sein kann6d. Doch steigert auch umgekehrt gerade die Liebe das Leiden am Leiden des Geliebten. (6) Schließlich bringt jeder Akt des Wissens schmerzlich die Grenzen und das Ungenügen des Wissens zu Bewußtsein.

67 Das ändert nichts an Schleiermachers Überzeugung, daß es prinzipiell einen dem Individuum angemessenen Ort in der Welt gebe; vgl. ÜdF (273,13-18) und dazu oben Kap. 5, 8. Es ist nur nicht jedem zuzumuten, zur Suche dieses Ortes seine angestammte, wenngleich weniger zuträgliche Stelle zu verlassen. Vgl. 424,19-33. 63

Hier erscheint auch das freundschaftstheoretische Motiv der Ferne von den Gleichgesinnten und des deshalb fehlenden geistigen Austauschs; vgl. 426,19-23.

362

Ill. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

2.3. Unverfügbarkeit und Verantwortung

Im Ergebnis verflüssigt dieser Überblick über die Lebenssphären und Verhaltensformen das bisher so eindeutige Verantwortungsgefälle. Es gibt offenkundig ohne eigenes Zutun erlangtes Glück oder vermiedenes Übel, ebenso wie unverschuldet entgangenes Glück oder widerfahrenes Übel. Es ıst also keineswegs ausgemacht, daß die Summe möglichen Glückes beı allen gleich ist und die realen Differenzen im Verhältnis von Angenehmem und Unangenehrnem allein auf das Tun oder Versäumen der jeweiligen Einzelnen zurückgeführt werden können. Der Mensch ıst seines Glückes Schmied nıcht ausschließlich selbst; das Verhältnis zwischen Selbsttätigkeit und Schicksal muß neu adjustiert werden, wenn das Schicksal die Realisie-

rungsbedingungen der Selbsttätigkeit bei einigen so stark einschränkt, daß sie ein abstrakt mögliches Glück verfehlen oder ein abstrakt vermeidbares

Übel erleiden müssen. Die darin liegende Ungerechtigkeit ist noch nicht damit beseitigt, daß ein gewisses Quantum unvermeidlichen Leidens zum anthropologischen Universale erhoben wird. Denn nicht nur fehlt ein sicheres Merkmal der konkreten Unterscheidung zwischen selbsttätig abzu-

wendendem und duldend hinzunehmendem Leiden; es ist damit auch die Tiefe der Verunsicherung der Selbstgewißheit verkannt, die in der konstitutiven Bedeutung von kontingenten Außeneinflüssen für die bestimmungsadäquate Lebensführung liegt: »Mein Schiksal ist die Summe meiner äussern Verhältnisse, in meinen Verhältnissen und durch sie sind meine Handlun-

gen, meine Handlungen bilden meine Neigungen und Kräfte, meine Neigungen und Kräfte machen mein Ich aus« (427,18-21; hervorgehoben von mir). Das mit diesem Ineinander von Schicksal und Ich, von Abhängigkeit und Selbsttätigkeit, von Genese und Selbstbildung gegebene Zuordnungs- und Orientierungsproblem läßt sich jedenfalls nicht zur Eindeutigkeit bringen durch Rückgriff auf bestimmte allgemeine Positionen der Freiheitstheorie.

Jede dieser Positionen muß in irgendeiner Form Dependenz und Selbstbestimmung zusammen erfassen. Die deterministische Option kann auf die Beschreibung

und

Rekonstruktion

menschlicher

Selbststeuerung

nicht ver-

zichten, wenn sie nicht die Vorstellung eines Ichs überhaupt aufgeben will, und umgekehrt darf die Annahme freier Selbstbestimmung nicht die illusio-

näre Behauptung einschließen, der Mensch könne über schlechterdings alle seine Lebensbedingungen und Lebensverhältnisse selbsttätig verfügen und mithin auch die Gesetzmäßigkeiten der Außenwelt oder die »Grundnatur

2. Fhänomenologıe von Lebenssphären

(sS)einer Seele« (427,27) ändern6°.

363

In Frage steht ja eben, ob diese inva-

riable »Grundnatur« nicht vielmehr so beschaffen ist, daß die mit ihr gesetzte doppelte, sinnlich-rationale Bestimmung ihrer Realisierung jJeden-

falls in Hinblick auf ihre sinnliche Komponente nicht notwendig harmoniert mit der Einrichtung der Welt, von der diese Realisierung aber abhängig ist, und ob die höchst unterschiedliche Verteilung der unterstützenden und einschränkenden Faktoren die kontingente Entfaltung der Grundnatur und mithin bestimmungsadäquate Lebensführung nicht völlig dem Zufall der Umstände oder göttlicher Willkür anheim gibt, was die Verantwortung für das Verfehlen, aber auch für das Erreichen des individuellen Zieles dem Einzelnen völlig aus der Hand nähme.

Diese Frage transzendiert per defini-

tionem die bloße Alternative von Freiheit oder Notwendigkeit, sıe erfordert auf der einen Seite eine Theorie des verantwortlichen (und d.h.: der eigenen Grenzen eingedenken) Umgangs mit dem Unverfügbaren und Unvermeidlichen, auf der anderen Seite aber den Aufweis einer solchen Summeninvarıanz von Glück und Unglück beı jedem Einzelnen, die nıcht nur

die Gelegenheiten selbsttätig zu erlangenden Glücks oder zu vermeidenden Unglücks,

sondern

auch

'unverdiente'

Begünstigung

und

unvermeidliches

Leiden umfaßt. Denn anders als mit einem solchen Nachweis läßt sich die Gerechtigkeit des Schicksals und damit die Allgemeinheit und anthropologische

Angemessenheit

eines

mehr

als

Handeln

und

Sittlichkeit,

nämlıch

Empfindung und Situativität integrierenden Begriffs der menschlichen Bestimmung nicht verifizieren. Schleiermachers These für den Umgang mit dem Unverfügbaren ıst dıe folgende: Der Mensch muß nicht erst zum Streben nach Freude oder zum Vermeiden von Unlust bewegt werden; er tut dies von Natur aus. Nicht 69

Damit ist natürlich nicht gesagt, daß alle diese Positionen in sich gleich schlüssig wären. Die Konzeption der Freihsitsschrift (vgl. oben Kap. 5) ıst nıcht aufgehoben. Vielmehr ist ja gerade die Kompatibilität jeder die genannte Minimalbedingung erfüllenden Freiheitstheorie zu dem hier behandelten Problem aufgewiesen. Allerdings legt die Erwägung nahe, ob nicht die deterministische Lösung des Freiheitsproblems in stärkerem Male die Fragestellung der Zuträglichkeit »des Lebens« für humane Lebensführung provoziert, während einer »indifferentistischen« Freiheitstheorie die Konrextualität der Selbstbestimmung leicht aus dem Blick gerät zugunsten der Konzentration auf das formale Vermögen. Zieht man zudem ın Rechnung, daf Schleiermacher in der Freiheitsschrift selbst die theoretischen Grundlagen für realistische individuelle Selbstverhältnisse und biographische Synthesen zu schaffen beanspruchte, so wırd dıe Einheit von Freiheits- und Lebensproblem als zweier Aspekte einer realistischen Anthropologie deutlich, wobei die empirisch-biographisch-temporale Orientierung der Anthropologie dıe Entscheidung für die deterministische Lösung der Freiheitsfrage erzwingt und die Frage nach der lebensförderlichen Einrichtung der Welt erweckt, ohne daß mit jener Lösung unmittelbar diese Frage beantwortet wäre.

364

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

jedes Vergnügen ist aber bestimmungsgerecht, nicht jedes Übel zu vermeiden. Kriterium des zu meidenden Vergnügens und des hinzunehmenden Übels ist die Tugend. Schon dies schränkt den Bereich möglicher Ungerechtigkeit der Verteilung erheblich ein. Dem Schicksal zuzuschreiben und deshalb gegebenenfalls Grund zur Klage sind nur die auf sittliche Weise

nicht zu verhindernden Übel und die vorenthaltenen tugendkonformen Vergnügen. Alle anderen Übel müssen als vermeidbar gedacht bzw. bei ihrem Eintreffen vom Betroffenen selbst verantwortet werden; die fehlende Ver-

suchung zu tugendwidrigem Vergnügen muß umgekehrt dem Schicksal geradezu als bestimmungsförderlich hoch angerechnet werden. Für den verbleibenden Rest muß dann allerdings immer noch Summeninvarlanz wohlgemerkt: der Gelegenheiten - aufgewiesen werden. Das gängige - nach Schleiermachers

Überzeugung

auf der verbreiteten

Neigung zu »Täuschung und Selbstbetrug« (428,24) beruhende - Vorurteil gegen das Leben kann also mit zwei Mitteln aufgeklärt werden: Objekte der Mangelklage können als fugendwidrig ausgeschieden oder vorgebrachte

Mängel als nur vermeintliche Benachteiligungen dargelegt werden. Dieses gewissermaßen ideologiekritische Verfahren kann freilich zum Ergebnis nicht den Aufweis der anthropologischen Möglichkeit völliger Leidensfreiheit, völliger Elimination des Unverfügbaren haben. Schleiermachers im »Gefühl« bereits antizipiertes »Resultat« der Untersuchung »Der Mensch ıst der freigelassene des Schiksals« (429,14; vgl. auch 469,2: »Ich war frei! was hab ıch nun für mich gethan?«) - darf jedenfalls nicht ım Sinne einer solchen unbeschränkten Selbsthabe und Selbstmächtigkeit verstanden werden; vielmehr dient es vorwiegend der Entlastung des Schicksals von

der Verantwortung für die allfälligen Defizite und Deformationen bestimmungsgemäßer Lebensführung, schärft den Blick für die individuelle biographische Verantwortlichkeit ın Zurechnung und Örentierung und schließt die Forderung ein, dıe als im Vergleich zu Anderen keineswegs ungebührlich groß erwiesenen unvermeidlichen Belastungen und Einschränkungen mit »Heiterkeit und Ruhe« (429,28) hinzunehmen. Ebenso wie in UdF hinsichtlich der Sittlichkeit sind also hier hinsichtlich der Glückseligkeit unbedingte Zumutung und faktische Unmöglichkeit vollkommener Bestimmungsadäquanz im Begriff der Veranrwortung für das eigene konkret-individuelle, in der Lebensgeschichte sukzessiv individuierte gelebte und zu lebende Leben zusammengedacht; während dort freilich die Spannung um der bleibenden Eindeutigkeit und universal orientierenden Kraft des Sittengesetzes willen aufrecht erhalten wurde, geht es hıer darum, daß die Herabstimmung überzogener Erwartungen an das Leben, die Hinnahme der eigenen Grenzen und der eigenen Partıkularität nicht zu einer lebensver-

2. Phänomenologie von Lebenssphären

365

neinenden Verbitterung gegen das Leben führt, sondern zur Bejahung der in der Partikularität ja geradezu definierten - eigenen Individualität und zur Einstimmung ın die - möglicherweise bescheidenen, aber bei realistischer

Einschätzung doch erträglichen, wenn nicht gar im Ganzen gesehen zuträg-

lichen - eigenen Lebensumstände’. 2.4. Gesellschaftliche Differenzen

Wie Schleiermacher durchgängig äußere objektive Verhaltens-Bereiche (Sphären) und innere subjektive Vermögen (die anthropologische Ausstattung) unterscheidet und in der jeweiligen Konstellation ihrer jeweiligen Konkretionen und Entfaltungen aufeinander bezieht, so sind dies auch die beiden grundlegenden Aspekte, unter denen sich Klagen gegen die der individuellen Lebensführung vorausliegende und unverfügbare, zugleich aber deren Voraussetzung bildende Einrichtung der Weit vorbringen lassen, Insofern freilich gerade die Ausbildung der individuellen Fähigkeiten von vielfältigen externen Faktoren abhängt, die ihrerseits auf das konkrete Vernältnis der einzelnen

Vermögen

zueinander zurückwirken,

ist der Zusam-

menhang der beiden Aspekte offenkundig. Schleiermacher verfährt dabei so, daß er den Wert der vermeintlichen Vorzüge relativiert, daß er wirklichen Vorzügen unmittelbar damit verbundene Einschränkungen und Mißlichkeiten

gegenüberstellt

oder daß

er aufzeigt,

daß

mit der Menge

und

Größe der Vorzüge auch die Menge und Größe der Nachteile wächst, wodurch die Lebensführung zwar extremer, die Endsumme des Verhältnisses möglichen Glücks und Unglücks aber keineswegs größer wird. Die Stärke und Gängigkeit der üblichen Vorurteile auf der einen, die Notwendigkeit des Ergebnisses der Summeninvarıanz

für die gesamte

Argumentation

auf

der anderen Seite motivieren Schleiermacher dabei zu einer höchst umständlichen, facettenreichen, stets mehrere Perspektiven präsent haltenden und jeweils aufeinander abbildenden phänomenologischen Darstellung des gesellschaftlichen

der

Gesellschaft,

Lebens

die

und

einige

der Lebensmöglichkeiten

Aufschlüsse

über

die

des

Einzelnen

Entwicklung

in

der

Komplexität von Schleiermachers sozialtheoretischen Ansätzen seıt den Ari-

stoteles-Anmerkungen erlaubt, wıe sıe überhaupt dıe These von der durchgängıgen konstitutiven Bedeutung der Sozialdımension für die frühe Theorieentwicklung Schleiermachers stützt.

70 Vgl. oben 1.6.

366

MI. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens

Dies

zeigt

sich

schon

daran,

daß

er sich

bei

der

Untersuchung

der

äußeren »Verhältnisse (...), welche dem Menschen mehr oder weniger Stoff zur Glükseligkeit vorzulegen scheinen, oder (...} welche ıhn mehr oder weniger fähig machen (,) das vorgelegte zu ergreifen und zu geniessen« (429,36 - 430,2), auf die gesellschaftlichen Differenzen konzentriert, die

im allgemeinen Urteil die Summe möglichen Glückes beeinflussen: der Unterschied zwischen der sozial niedrig gestellten Landarbeit und der der Sorge für die physischen Lebensmittel enthobenen Lebensweise der wohlhabenden Höhergestellten (430,3 - 431,18), die ungleiche Verteilung von Macht (431,19 - 435,32), Reichtum und Ansehen (435,33 - 438,35).

2.4.1. Sinnliche Eindrücke und Naturbeherrschung Ein leichteres, abwechslungs-

und deshalb

freudenreicheres

Leben

scheint

im Vergleich zu den auf dem Feld schwer arbeitenden leibeigenen Bauern ihrer Herrschaft offenzustehen, ist ste doch von den Mühen kontinuierlicher

körperlicher Anstrengung und von dem Zwang beständiger Überlebenssicherung befreit und kann sıch vielfältigsten anderen Eindrücken und Tätigkeiten widmen, weitestgestreute Interessen entwickeln - die dem Behertschen ımmanente Freude bzw. dıe dem Beherrschtsein zugehörige Unlust noch gar nıcht mitgerechnet. Die Distanz zur unmittelbaren Bedürftigkeit ist aber durchaus ambivalent: Fördert sıe zweifellos die für kultivierteres Leben notwendige Muße’!, so bedingt sie zugleich eine EntJremdung von der Natur sowie den Verlust von Erfahrungen erfolgreicher Naturgestaltung. Die diesen Mangel kompensierenden Eindrücke und Betätigungen sind zudem gerade aufgrund ihrer weitgefächerten Herkunft und

Richtung höchst disparat und deshalb kurzlebig, was eine Sucht nach immer neuen, immer luxuriöseren Vergnügungen nach sıch zieht. Der Landmann lebt dagegen in beständiger Nähe zur Natur, er kennt sie und vermag sie zu gestalten; seine Eindrücke und Tätigkeiten sind zwar eintönig und auf einen engen Bereich beschränkt, sie befriedigen aber elementare Bedürfnisse und werden dadurch nie schal. Diese - in der Summe gerechte - qualitative Verteilung von Vergnügen und Unlust ist in der jeweiligen Lebensweise begründet und deshalb unaufhebbar; eine Synthese der Vorzüge ıst »nur in arkadischen Träumen von Veredliung des einen und Vereinfachung des

7L

Ein Gedanke, der in den Reden »Über die Religion« an wichtiger Stelle wiederkehrt; vgl. KGA 1/2, 290,9-38.

2. Phänomenologie von Lebenssphären

367

andern Theiles«, also nur in bukolischer Utopie müßigen Landlebens vorstellbar (431,17f.).

2.4.2. Politische Macht

Im Hinblick auf die der Macht über Menschen selbst und der damit unter den Bedingungen des 18. Jahrhunderts gegebenen Differenz des Standes entspringende Lust oder Unlust muß Schleiermacher Vorurteile in mehrerlei Richtung relativieren: Macht steigert an sich die Glückseligkeitschancen keineswegs, senkt sıe aber auch nicht, und ebensowenig bringt Unterord-

nung per se ein größeres Quantum von Mißvergnügen mit sich. (1) Die vermeintlichen Vorzüge der Macht: Der Standesunterschied als Differenz der Lebensform scheint dem Herrscher - betrachtet man das mit der Herrschaft verbundene hohe Ansehen an sich bereits eine höhere Lebensqualität zu garantieren. In Wirklichkeit aber - wie Schleiermacher unter Berufung auf Montaigne behauptet (vgl. 431,26f.)’2 - zieht der Mächtige seine Freude vorwiegend aus dem, was ihn mit den anderen Menschen verbindet (vgl. 431,24-26). Auch die Macht selbst als das Vermögen, Gewalt über andere auszuüben, sie für die eigenen

Zwecke zu instrumentalisieren, ıst nur vordergründig ein Vorzug. Denn mit einer solchen Vergrößerung der Sphäre der freien Selbstbestimmung geht einher der Verlust eines Umfelds gleichberechtigter und unabhängiger Persönlichkeiten; in der Einsamkeit ist aber der Genuß der Freiheit unmöglich, und im Kreise der Mächtigen verhindern die Fesseln der Konvention weit-

gehend 'informelle’, personale Beziehungen’?. Der beständige Umgang mit Abhängigen bringt zudem allerhand Mißliches mit sıch, das den daraus gezogenen Gewinn aufzehrt: Er konstituiert seinerseits eine lästige Abhängigkeit von den Untertanen. Er bedingt ein permanentes Mißtrauen gegen die Treue und Aufrichtigkeit der Untergebenen, ohne dabei je das Gefühl der Berechtigung von deren innerem und virtuell auch äußerem Widerstand völlig zu verlieren. Die Instrumentalisierung der Menschen zu einer »dienstbare(n) Maschine« (432,32) setzt zudem selber deren Verachtung aus sich heraus, die das Gefühl der Überlegenheit über sie schal werden läßt,

weil der Mächtige sie selbst gewissermaßen einer anderen und nicht satis-

72

Montaigne ıst nicht namentlich genannt; dıe Anspielung auf Essaıs 1,42 ıst vom Herausgeber G, Meckenstock aufgewiesen.

73

Vgl. aber unten unter (3).

368

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

faktionswürdigen Kategorie Mensch zugeordnet hat’*. Ebenso löst das dieser Instrumentalisierung entsprechende Verhalten der Menschen, ihr serviler Untertanengeist, beim Herrscher nur Mißvergnügen aus.

Im übrigen ruft gar nicht jede Form der Gewalt über andere Neid und Klage hervor. Die stellvertretende Gewalt ım Namen des Gesetzes bringt dem,

der sie innehat,

keine eigenen

Vorteile,

und die mit dem

Reichtum

gegebene Macht, andere zu Dienstleistungen sich willfährig zu machen, ist von beiderseitigem Nutzen, da die Dienstleistung bezahlt wird, und bewirkt

wechselseitige Abhängigkeit, da die Dienstleistung auch verweigert werden kann

bzw.

es dem

stellen wıll. unmittelbare oder minder Sie erscheint mischt, und Nachteile ıst

sie Änbietenden

freisteht,

wern

er sie zur Verfügung

Als Vorzug angesehen wird deshalb allein die eigenmächtige Gewalt, »welche die Handlungen und Kräfte des einen mehr eingeschränkt der Willkühr des andern unterwirft« (433,20f.). freilich immer mit einer oder beiden anderen Formen verüber die dennoch verbleibenden vermeintlichen Vorzüge oder »Gerechtigkeit des Schiksals« zu verteidigen (434,8):

(2) Die vermeintlichen Nachteile der Ohnmacht: Denn der Verlust der Freiheit und der darin liegenden Gestaltungsmöglich-

keiten ist nicht in jeder Hinsicht so unangenehm, wie das Vorurteil unterstellt. Beachtet man, daß dıe »Vortheile des geselligen Lebens« (434,14), nämlich ein »verhältnismäßigefr) Antheil an den Gütern des Lebens« (434,20), generell nicht ohne das Opfer eines »Theil(es) der ursprünglichen Ungebundenheit« (434,14f.) zu haben sind, so ıst die »unmittelbare Unter-

würfigkeit« (434,17f.) unter einen Mächtigen die einfachste und bequemste Form dieses Opfers. Die Integration in von Anderen geordnete und verantwortete Verhältnisse entlastet von aller »unmittelbare(n) eigne(n) Sorge« (434,18) und erleichtert die Lebensführung, zumal die mit der Unterwerfung verbundenen Verhaltensanforderungen in der Regel ganz konventionell

und mithin erwartbar und erträglich sind. Für den Fall freilich, daß der »Gewalthaber()«

(434,27)

Willkür freien Lauf läßt, nöte. Er muß behaupten, wegs unmittelbar diesen Aufbegehren gegen die

sich

nıcht

an die

Regeln

hält,

sondern

seiner

gerät Schleiermacher in schwere Argumentationsdaß das Leiden an solchen Verhältnissen keinesselbst entspringt, sondern einem unvernünftigen unvernünftige, einer Naturgewalt vergleichbare

Macht der Leidenschaft und deshalb auf das Konto des Leidenden selber geht, der durch geschicktes Lavieren zwischen »Widerstehen und Zurüktreten« (435,3) den Ausbruch der Gewalt unbeschadet hätte überstehen

74

Vgl. schon die Arıstoteles-Anmerkungen und dazu oben Kap. 1, 4.3.

2. Phänomenologie von Lebenssphären

369

können”?5. Jedenfalls zeigt nach Schleiermachers Überzeugung die Tatsache daß solche Verhältnisse akzeptiert werden, daß »die Theilnehmer selbst (...)

lieber mit der lebendigen als mit der leblosen Unvernunft wollen zu thun haben«

(434,11f.),

d.h.

daß

sie

lieber

einem

willkürlichen

Menschen

untertan sind, als »durch Mühe und Arbeit und Kampf gegen die leblose unvernünftige Stärke« der Natur nach Glückseligkeit zu streben (435,9f.).

Freilich kann nicht einmal der Hinweis auf den üblichen Zwangscharakter der Sklaverei Schleiermacher von der Behauptung abhalten, auch dem Sklaven seien vom Schicksal Glückseligkeitschancen resemiert, die er ohne den Zwang in die Sklaverei nicht hätte (vgl. 435,17-23). (3) Die vermeintlichen Nachteile des Mächtigen:

Der Zeitgeist im Herbst des Absolutismus macht es nötig, auch das entgegengesetzte Vorurteil zu widerlegen, nämlıch daß dıe Distanz zum bürgerlichen Leben und die steife Förmlichkeit und konventionelle Glätte bei Hof und in adlıgen Kreisen den Machtbesitz per se zu einer lusthemmenden und inhuman-bestimmungswidrigen

Lebensform

machten.

Schleiermacher

stellt

zwar nicht die Überlegenheit der bürgerlichen Ideale der hierarchiefreien innigen Beziehung zwischen einander wechselseitig als Menschen schlechthin und zugleich als Individuen erkennenden und anerkennenden Personen in Zweifel, nur besteht kein Grund, dem Mächtigen die Fähigkeit abzusprechen, »sich aus der Folterkammer der Etikette in die Arme der Natur (,) der

Freundschaft und der häuslichen Glükseligkeit zu retten« (432,3-5).

2.4.3. Reichtum und Ehre

Anders als das Streben nach Macht ımpliziert das Streben nach Reichtum und Ehre keine Rangdifferenz zwischen den Ständen, sondern eine Hierarchiebildung und Einflußerweiterung ınnerhalb des eigenen Standes. Ist es ungleich verbreiteter und populärer als jenes und gilt namentlich die ÖOrientierung an Ehre und Ansehen als ungleich seriöser als der Wille zur Macht, so erweisen sich doch die Probleme und Argumente in vieler Hinsicht als strukturanalog, geht es doch auch hier um eine vermeintliche Steigerung der Lebensmöglichkeiten durch Schaffung sozialer Überlegenheit und Dienstbarkeit. So scheint der Reichtum eine höhere »Befriedigung des Raffıinements über alle Arten sinnlicher Genüsse« (436,14f.) zu gewährleisten;

75

Vgl. 434,38

- 435,1:

»Es ıst das erste Gebot der Vernunft (,) sıch der unvernünftigen

Stärke zu unterwerfen, wo es seyn muß«.

370

Il. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

deren Zahl steigt, wie oben bereits dargelegt’®, dadurch jedoch nicht. Auch führt Reichtum schon deshalb nicht notwendig zu einer »freiere(fn) und ungehinderte(n) Befriedigung des Gefühls für Eleganz und Schönheit in allen Einrichtungen des Lebens« (436,29-31), weil das Bewußtsein unerschöpflicher Ressourcen zu einem »Leichtsinn des Geschmaks« (437,15), zum Streben nach flüchtigen und als flüchtig gewußten Vergnügensgegenständen

verleitet, während der Ärmere größere Geschmackssicherheit entwickeln muß, aus dem wenigen, was ıhm zu Gebote steht, zielsicher das wirklich Schöne und dauerhaft Freude Versprechende auszuwählen. Mag ferner der

Reichtum zwar das Ansehen innerhalb der eigenen Klasse erhöhen, so nähert sich der Reiche in seinem Lebensstandard doch immer mehr der nächsthöheren

Klasse

und

übernimmt

ın seiner Selbstwahrnehmung

deren

Beurteilungskriterien, denen gemäß er freilich mißlicherweise am unteren Ende der Skala erscheint. Schließlich wırd auch der vornehmste Zweck des Reichtums, eine »grössere Freiheit (,) meine geselligen Freuden auszubreiten und zu wählen« (437,28f.; Hervorhebung von mir), nicht erreicht, ohne

daß der Geselligkeit in Gestalt der geselligen Pflichten der ıhr zukommende Tribut an Freiheitsverzicht gezollt wurde, Dabei erleichtert Ansehen wohl die Ausrichtung der geselligen Gruppe nach den eigenen Interessen; es will aber beständig und unter Mühen erhalten sein. Ein »unbemerktes Hinschleichen unter dem Haufen« (438,29) bedeutet dagegen zwar den Verzicht auf

die Instrumentalisierung Anderer zum eigenen Glücksgewinn; es entlastet dafür aber von jenen Mühen. Überhaupt vermehrt Geselligkeit nicht an sich bereits die Glückseligkeitschancen; es ist »doch eben so gut allein und schwerer an meiner Glükseligkeit arbeiten, aber sıe reiner und ungestörter geniessen« (438,33f.).

2.4.4. Qualitative Differenzierung und quantıtative Nivellierung

Schleiermachers Verfahren zielt darauf hin, die qualitative Vielfalt gesellschaftlicher

Lebensformen

und

Erfahrungsmöglichkeiten

auszubreiten

und

zugleich in ihrem Wert für das individuelle Glück zu nivellieren. Gerade das Nivellierungsinteresse hilft dabei zu einer realistischen Erfassung der Wirklichkeit, dıe auf der einen Seite die ındıviduelie Lebensführung in soziale Einflußsphären eingebettet beschreibt und so eine abstrakte - die Einwirkungen jener Sphären

ihre

76

Bedeutung

Vgl. oben 2.4.1.

als

auf die individuelle

Gestaltungsräume

der

Entwicklung

Selbstbildung

ebenso

wie

übersehende -

2. Phänomenologie von Lebenssphären

371

Wahrnehmung von Individualität verhindert, auf der anderen Seite jedoch auch dıe mit jener - nıcht oder nur ın marginalen Bereichen oder bestimmten Ausnahmesituationen vermeidiichen, vielmehr je konstitutiven - Einbettung notwendig verbundenen spezifischen, je konkreten Risiken und

Einbußen an Lebensqualität präzise in den Blick nimmt’? sowie aufgrund der Fragılität und Variabilität der Lebensumstände vor einer Selbstbindung an bestimmte bereits erreichte oder ın der Erwartung konkret antizipierte Zustände oder Visionen gelungenen (oder auch nur angenehmen) Lebens warnt. Wenn aber jede Lebensstellung ihre eigene - qualitativ unvergleichbare, quantitativ aber bei allen ıdentische - Würde hat und sıch deshalb eıne Klage über das eigene Geschick ebenso verbietet wıe das neidische Schielen

auf das vermeintlich größere Glück Anderer oder der Stolz auf den errungenen eigenen Status, dann scheint jeder Impuls zur Verbesserung der eigenen Lage oder zur Reform der sozialen Verhältnisse unnötig und vergebens zu sein,

Schleiermacher erkennt das konservative Gefälle seiner Argumentation durchaus. Er diskutiert das Spannungsverhältnis zwischen Individualitätswahrung und Verallgemeinerung (Versittlichung; Realisierung von Gerech-

tigkeit, Gleichheit und Freiheit)’® anhand der Frage, wie sich angesichts der Gleichwertigkeit aller Lebensumstände der Kampf »unseres Zeitalters« (435,23)

gegen

die Sklaverei noch

verteidigen

lasse.

Jener Kampf

bedarf

nach seiner Überzeugung gar nicht des illusionären Motivs, »die Summe der Glükseligkeit für irgend eine Menschenklasse vermehren zu wollen« (435,26f.), vielmehr ist er »ohne diese Rüksicht« (435,28) durch den bloßen Rekurs

auf die Tugend um

so »reiner und heiliger« (435,27f.) begründet,

indem er »die Beleidigungen des moralischen Sinnes für den Zuschauer zu vermindern, und die äusseren Hindernisse freier Tugend für den leıdenden aufzuheben« strebt (435,28-30). Es ıst also die Erkenntnis und Realisierung

des Regelmäßigen,

Regelgemäßen’? in der Welt das Interesse, um des-

sentwillen die Unterdrückung der Freiheit Anstoß erregt, und es ist umgekehrt diese Hemmung regelentsprechender (d.h, freier und sittlicher) Selbsttätigkeit der Grund, für deren Aufhebung sich einzusetzen. Da die der

Tugendübung entspringende Glückseligkeit, wie Schleiermacher bereits ın

7

Vgl. analog bereits ın den Arıstoteles-Anmerkungen die Rede von den dem Menschen an sich nicht anhaftenden, der Gesellschaft zuzuschreibenden spezifischen Deformatio-

nen bzw. Begünstigungen. $. oben Kap. 1, 1.1.

78 Vgl. diese Problemstellung schon in AA. Vgl. oben Kap. 1, 1.2. und 4. 79

Vgl. oben 1.4. und schon Kap. 5, 7.

372

IIT. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

ÜdF gezeigt hat3°, in der Masse der Lust und Unlust bewirkenden Faktoren kaum ins Gewicht fällt und auch - wie aus dem vorstehenden Arbeitsgang geschlossen werden muß - von den mit dieser Tugendübung verbundenen Mühen aufgewogen wird, kann dieses Motiv 'Reformer' selbst als auch im Blick auf den

- sowohl im Blick auf den 'Leidenden’, zu dessen In-

Tätigkeit-Setzen die 'Reform’ dient - getrost vernachlässigt werden. Wichtig ıst freilich zu sehen, daß für Schleiermacher offenkundig gesellschaftliche Differenzen solche »äusseren Hindernisse« der Versittlichung darstellen und daß

mit der Beseitigung dieser Hindernisse bei Anderen

sowohl

diese

unmittelbar auf die Ebene der Gleichberechtigung emporgehoben als auch überhaupt jene Differenzen und sozialen Schichtungen relativiert werden. Dieser Gedanke des Zusammenhangs von sozialer Gestaltung eines sittlichkeitsförderlichen Umfelds und Entstehung eines Netzes der Kommunikation Gleichberechtigter ist den freundschaftstheoretischen Überlegungen der Ari-

stoteles- Anmerkungen näher als der Behandlung der Zurechnung in ÜdF. Dort werden zwar solche Bemühungen um das soziale Umfeld der Tugendübung nicht ausgeschlossen und liegen auch ım Gefälle einer Konzeption, die das Wissen der Unmöglichkeit beständiger Dominanz der Tugend mit deren unnachläßlichen Forderung verbindet; sie werden aber eben nicht ausdrücklich erwähnt®!: der Ton liegt eindeutig auf der Unabhängigkeit der Zurechnung von allen kontingenten Umständen. Blickt man von diesen Überlegungen her auf die Behandiung der sozialen Differenzen zurück, so stechen darin Momente ıns Auge, die einer einseitig

konservativ-quietistischen Deutung82 widerstreiten. So fällt auf, daß Differenzen hinsichtlich der Gelegenheit zu Häuslichkeit und Freundschaft nicht

eigens erörtert werden. Diese beiden Sozialformen stellen aber die intensivste Gestalt sozialer Existenz dar und entbinden die Kriterien 'eigentlicher', humaner,

um

ihrer

selbst

willen

anzustrebender

Sozialbeziehungen.

Daß

Schleiermacher ausdrücklich an diesen - Standesgrenzen transzendierenden, gleichberechtigte Kommunikation zwischen Menschen unter Wahrnehmung und zugleich unter Relativierung ihres Ranges und ihrer Herkunft intendie-

renden

- Kriterien

festhält und daß deren

gerade im Zusammenhang

anthropologische

Normativität

der Klage über die angeblich Freundschaft ver-

80 Vgl. 278,19-38 und dazu oben Kap. 5, 8. 81 Vgl. aber oben Kap. 5, 3. 82

Sje wird etwa vertreten von Nowak,

Schleiermacher und dıe Frühromantik,

a.a.0., 82.

2. Phänomenologie von Lebenssphären

373

hindernde Sphäre des Hofes®? aufleuchtet®?, gewinnt dann hohe Signifikanz. Denn

zum einen heißt das, daß es Sozialformen gibt, dıe eher anzu-

streben sind als andere, weil sie eher bestimmungsgemäße Lebensführung ermöglichen, ja bereits ein entscheidendes Moment dieser selbst sind. Es ist mithin nicht völlig beliebig, in welchen bzw. in wie gestalteten Verhältnissen man lebt. Zum anderen aber folgt daraus, daß es keine gesellschaftlichen Sphären gibt, die nicht intern so gestaltet werden könnten, daß ın ihnen humane Interaktion möglich ıst. Schleiermacher denkt aiso eıne Reformabilität der sozialen Verhältnisse von innen heraus, eine Applizierbarkeit universaler Kriterien auf die spezifischen sozialen Bereiche und deren jeweilige innere Umgestaltung, die keineswegs unmittelbar die

Nivellierung der Lebenssphären intendiert, vielmehr gerade deren Vielfalt und jeweilige Individualität respektiert und kultiviert, die aber gleichwohl offen ist hin auf eine Durchlässigkeit der Standesgrenzen, auf eine Aufhebung der Rangdifferenzen bzw. auf eine sukzessive Durchsetzung neuer, anthropologisch-universaler und zugleich individueller Rangkriterien gegen die alten, rein auf Herkunft und Schichtzugehörigkeit bezogenen. Zu dieser reformerischen Dynamık paßt nun durchaus die Einsicht, daß die Konzeption der Summeninvarianz möglicher Glückseligkeit ja keineswegs nur die vermeintlich Benachteiligten zur Zufriedenheit mit ıhrer Lage auffordert, sondern ebenso den (in ıhren eigenen Augen oder im Urteil Anderer)

gefühls

Begünstigten allen Grund und alle Sicherheit des Überlegenheits-

nimmt

und

sie so ihrerseits auf andere

Orientierungskriterien verweist, die dauerhafter Wohlstand, Ansehen und Macht.

Selbstbeurteilungsund

und

realistischer sind als

Man kann Schleiermachers Konzept als 'Inkulturation des Allgemeinen' bezeichnen. Dieser Ausdruck vermag dessen eigentümliche Zwischenstellung treffend zu charakterisieren: die Dominanz des Universalen bei Wahrung des Singulär-Besonderen, die Betonung des Allgemein-Individuellen bei Respektierung des Partikular-Sozialen, die Gleichheits-Dynamik bei Beachtung und Pflege der unaufhebbaren Differenzen. Sie kehrt wieder in und entspricht genauestens - dem Verhältnis von Tugend und Glückselig-

keit, Vernunft und Empfindung in der Bestimmung des Menschen. Es ist diese

83

spannungsreiche

Verbindung

{idealtypisch)

Im übrigen ein typischer Topos der Freundschaftstheorie. Rasch, a.a.0., 70 - 79, besonders 76 - 78.

84

von

Vgl. oben 2.4.2. unter (3).

85 Vgl. oben 1.5.

kantischen

mit

Vgl. Shaftesbury und dazu

374

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

(idealtypisch) aristotelischen Komponenten und Interessen®®, die auf der einen Seite Schleiermachers Sympathie für die Intentionen der Französischen Revolution und seine moralische Kritik an den Exzessen ihrer Durchführung verständlich macht3’, auf der anderen Seite aber erklärt, warum er

die determinierende und individuierende unaufhebbare Einbettung des Einzelnen in die vorgegebene Gemeinschaft des Weltteils, des Volkes, der

Sprache, des Staates, des Ortes und der Familie so stark hervorhebt®, War diese

Verbindung

schon

in

der

Freundschaftstheorie

der

Aristoteles-

Anmerkungen problembildend und darstellungsleitend, so erscheint sie jetzt einerseits im Begriff der Bestimmung des Menschen prinzipialisiert, andererseits in die kulturtheoretische Beschreibung der Vielfalt der menschlichen Lebenssphären ausgeweitet.

2.5. Differenzen der individuellen Vermögen und ihrer Entfaltung und Ausbildung

Schleiermacher hat - wenn auch nicht ohne jede Gewaltsamkeit®? - nachgewiesen, daß die äußeren Bedingungen individueller Glückseligkeit immer bzw. in summa ın einer niemanden benachteiligenden oder bevorzugenden Weise eingerichtet sind. Gilt dies aber auch für die »individuellen Umstände unter

welchen

es

[sc.

das

Schicksal]

jeden

ın sein

Verhältniß

einführt«

(439,11f.; Hervorhebung von mir)? Ist nicht jeder mit verschieden großen körperlichen, geistigen und seelischen Vermögen ausgestattet, »das Gute wirklich zu ergreifen und sich anzueignen, was ihm angeboten wird« (439,13f.)? An drei Bereichen läßt sıch diese vermeintliche Ungerechtigkeit festmachen: (1) »Das Schiksal hat den Zustand meines Körpers größtentheils in seiner Gewalt«, ebenso (2) »das Gelingen meiner Handlungen wel-

che auf Ergreifung der Glükseligkeit abzielen«; schließlich setzen (3) »Zeir und Umstände

in welche es mich sezt (...) der Ausbildung

meines Geistes

Gränzen« (439,19-23; Hervorhebungen von mir). Schon diese Aufzählung zeigt, daß die Unterscheidung zwischen inneren Vermögen und äußeren Verhältnissen gar nıcht sauber und eindeutig durchgehalten werden kann. Dies wäre auch nicht sachgemäß, da die Frage des Besitzes von Fertigkei86

Vgl. dazu oben die Einführung sowie Kap. 1., 5.

87 Vgl. etwa den Briefan den Vater vom 10.-14.2.1793; KGA V/1, 280f.: Brief 209, Z. 101-148. 88 Vgl. oben 2.1. unter (5). 89

Vgl. etwa oben 2.4.2. unter (2).

2. Phänomenologie von Lebenssphären

375

ten von der Frage ıhrer Entfaltung und Ausbildung nicht getrennt werden kann, die wiederum von externen Faktoren der Begünstigung und Behinde-

rung abhängig sind. Im Unterschied zum Bisherigen geht es jetzt aber darum, statt der ın den äußeren Verhältnissen selbst liegenden 'Lustqualität’ ıhre Auswirkung auf die Betätigung der menschlichen Vermögen und das daraus entspringende

Vergnügen

zu untersuchen.

Schleiermachers

Verfah-

ren bleibt dabei dasselbe". 2.5.1. Gesundheit

Zweifellos schränken körperliche Behinderung, Krankheit und Schmerz den Betätigungsspielraum ein. Aber keineswegs führen sie notwendig Glückseligkeitsdefizite herbei. Denn der Verlust etwa des Augenlichtes kann aufgrund der »Verwandtschaft (...) der Sınne« (441, 7f.) durch

Intensivierung

und Verfeinerung der anderen Sinne kompensiert werden, was zudem die Fantasie

anhand

beständig

anregt,

der Erinnerung

Wahrgenommenen

von

aufgrund

der eingegangenen

früher Gesehenem

Sinnesdaten

und

die optische Gestalt des

zu rekonstruieren. Ebenso kann das bei akuter Krankheit

erfahrene Leiden dadurch ausgeglichen werden, daß der Kranke im Verlauf seiner Genesung jede kleine Spur der Besserung intensiv empfindet und den Wiedergewinn der Erfahrungen und Tätigkeitsfelder genießt, die dem Gesunden zu selbstverständlich geworden sind, als daß er sie noch registriert. Überdies wird wohltätigerweise die wahre Tiefe der Krankheit in der Regel erst dann voll ermessen, wenn sie überwunden ıst. Die durch das Krankenlager erzwungene angeblıch »traurıge Unthätigkeit« (442,34) hın-

gegen ist gar nicht an sich verdrießlich, schädliche Abwechslung oder wol gar gegenüber dem Schlaf den Vorteil, daß auch bietet die offizielle Entbundenheit zur

äussern

Thätigkeit«

dıe

gilt [als] sie »von

Gelegenheit,

Muße doch anderwärts als »unGlük« (442,38f.), und hat sıe mit Bewußtsein verbunden ist; den meisten Verbindlichkeiten sıch

ın die

»ınnere

Weit«

der

»Ideen« zu vertiefen (443,9f.)?!. Das Argument des chronischen Siechtums schließlich schmettert Schleiermacher mit dem Hinweis ab, jedes Lebensverhältnis schränke in irgendeiner Weise die Entfaltung der Fähigkeiten ein; zudem

bringe die damit verbundene

»Schwäche

der Nerven«

eine »ausser-

ordentliche Reizbarkeıt für jeden Eindruk« mit sıch, die eine besondere »Delikatesse des Gefühls«, »Innigkeit des Genusses« und »Wahrnehmung 90 Vgl. oben 2.3. 91

Krankheit ermöglicht also Zäsurerfahrungen im oben (vgl. 1.1.) genannten Sınn.

376

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

von Unterschieden« bewirke, »welche andern verschwinden« (443, 19-25)?2.

Nach alldem leuchtet für Schleiermacher ein, daß das Leiden am eigenen Leiden nur selbstgeschaffen sein kann und keine Klage gegen das Schicksal begründet.

2.5.2. Begleitumstände Zum gleichen Ergebnis kommt Schleiermacher hinsichtlich der häufig vorgebrachten angeblichen Erfahrungstatsache, daß der Eine vom Schicksal durch der Realisierung seiner Pläne förderliche, der Entfaltung seiner Fähigkeiten günstige Begleitumstände durchgängig gefördert werde, während Anderen zur Umsetzung ihrer Intentionen in die Wirklichkeit beständig Mittel fehlten oder Hindernisse in den Weg träten. Hier begibt man sich jedoch auf ein Gebiet, wo »sich der Gang menschlicher Entwürfe und der natürliche Lauf der Dinge nothwendig auf mannigfaltige Weise durchkreuzen müssen«

(443,36 - 444,2).

Ein allgemeines

Urteil

(wie das der gene-

rellen Benachteiligung oder Bevorzugung) »über eine so complicirte Idee, wo jeder einzelne Fall eine andere Beurtheilung erfodert« (444,5-7), ist daher kaum möglich. Die unstrittige Singularıtät und Individualität der

kontingenten Umstände begrenzt auch die Reichweite der Geltung der sıe betreffenden Urteile und macht überhaupt jeden Vergleich unsicher. Deshalb können einzelne solcher Urteile nicht auf das Ganze eines Lebens hochgerechnet werden, geschweige denn daß Summenvergleiche hinsıchtlich der Einzelumstände im Leben verschiedener Menschen gezogen werden

könnten. Schleiermacher begnügt sich freilich nicht damit, apagogisch die prinzipielle Untauglichkeit des Rekurses auf die Umstände zur Behauptung der Ungleichheit der Lebenschancen aufzuweisen; er bucht vielmehr die Mehrdeutigkeit

und

Mehrwertigkeit

der Beurteilungsmöglichkeiten

durch-

gängig auf sein eigenes Konto: Ist die Unterscheidung des kontingent eingetretenen von selbstverschuldetem Unglück sehr schwierig, so lassen sıch offenkundig deformierende Faktoren um so leichter der Eigenverantwortung zuschieben; den augenfälligen Differenzen in den momentanen Umständen läßt sıch dıe Erwartung eines Ausgleichs in der Zukunft gegenüberstellen, die zwar keineswegs unwahrscheinlicher ist als die Behauptung definitiver Ungleichheit, aber ebenso fıktiv; diese Rechnung wird durch den Hinweis zusätzlich plausibilisiert, daß nıcht nur die Quantität, sondern auch

die Qualität gelungener oder mißlungener

92

Intentionsrealisierungen

Vgl. hier (443,25-29} die Anspielung auf Christian Garve.

mit in

2. Phänomenologie von Lebenssphären

Betracht gezogen unerheblicher

werden

Erfolge

müsse,

377

so daß eine Vielzahl auffälliger,

durchaus

durch

ein

einziges,

möglicherweise

aber un-

scheinbares, aber umso weiterreichendes und bedeutsameres Gelingen aufgewogen werden könne. Mit der sicheren Behauptung der Summeninvarianz überschreitet Schleiermacher hier die von ihm selbst gezogenen Grenzen der

Tragfähigkeit

des

Behauptung

jedenfalls

verdanken,

das

Urteils

kann

freilich

über

sich

die

nur

mittlerweile

Umstände;

seinem

durch

die

Sicherheit

vorgängigen

einige

der

»Gefühl«?

Argumentationsgänge

bestätigt und gestützt ıst; die Reflexion auf die Umstände gibt per se mehr als den apagogischen Nachweis nicht her.

2.5.3. Bildung »Bildung und Kultur soll das einförmige des Lebens hinwegschaffen (,) indem alle Gegenstände (,) welche es uns darbietet (,) mit einer Welt von

Ideen in Verbindung gebracht werden, welche nur durch sie nach und nach in unserer Seele erzeugt und zu dem schönen Gotteskinde ans Licht geboren werden

kann«

(449,32-36).

Entsteht nun Glückseligkeit aus der Abwechs-

lung und Differenziertheit der Vorstellungen?*, so scheinen Verstandesbildung und konventionelle Verfeinerung an sich bereits die Summe des Vergnügens zu erhöhen. Insofern aber die für die Aneignung von Kenntnissen und die Entwicklung von Lebensart erforderlichen individuellen Fertigkeiten sich nicht einfach entelechisch von selbst entfalten, sondern diese Entfaltung von einem gewissen Niveau der gesamtkulturellen Entwicklung, des gesellschaftlichen Wissensschatzes, des Freiraumes (der Muße) für dessen Erwerb und der dafür vorhandenen Bildungseinrichtungen sowie von einem gewissen Standard der Umgangsformen abhängt, scheint der Stolz des aufgeklärten Jahrhunderts auf sich selbst, das Überlegenheitsgefühl des Europäers gegenüber den 'unzivilisierten' Völkern, der Bildungsschicht

berechtigt,

gegenüber

und

zwar

den

eben

»rohen

nicht

nur

und

ungebildeten«

»in Rüksicht

(445,5)

meiner

Klassen

eigentlichen

Bestimmung zur theoretischen und praktischen Vernunftbildung«, sondern genauso »in Rüksicht meiner Glükseligkeit« (445,7-9). Es geht dabei nicht -

und

das

macht

Ansammlung

einer

werksmässige

die

Bildung

93 Vgl. oben 2.3. 94

Situation

Fülle

Vgl. oben 2.1. und 1.6.

noch

technischen

um

einiges

Wissens,

der Erkenntnißvermögen

prekärer

-

um

die »systematische,

zu einer oder

die hand-

mehreren

378

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Uleber den Werth des Lebens«

Wissenschaften

und Lebensarten« (445,14f.),

bei der immer der mühsame

und langwierige, in sich freudiose und entbehrungsreiche Erwerb mit in Rechnung gestellt werden muß und die immer nur zu singulären, partikularen und ersetzbaren Erfahrungen führt, sondern um das, was »alle einzelnen

Eindrüke erst zu Vergnügen und Glükseligkeit zusammensezt und gestaltet« und was deshalb »erst die rechte Würze des Lebens« (445,23-26) darstellt.

In Frage steht also nıcht ırgend ein Spezialaspekt, sondern das Ganze der Glückseligkeit.

Sollte

hier

tatsächlich

das

Hineingeborensein

ın

einen

bestimmten Kulturkreis und innerhalb dieses noch in bestimmte Stände die Glückseligkeitschancen signifikant beeinflussen, so wäre dıe Gerechtigkeit des Schicksals überhaupt aufgehoben, und die Allgemeingültigkeit des

Begriffs von der sittlich-sinnlichen

Doppelbestimmung

des Menschen?>

bliebe ein leeres Versprechen. Denn »bei weitem de(r) größte() Theil der Menschen« (446, 10f.) wäre, ın beengten Verhältnissen lebend, ohne eigenes Verschulden von jener »freiere(n) allgemeine(n) Entwikelung« der

»Erkenntnißvermögen« ausgeschlossen, »welche die Erweiterung der Menschenseele und ihrer Sphäre überhaupt zum Zwek hat« (445,2 1-23; Hervorhebung von mir). Die systematisch fundamentale Bedeutung des Bildungsthemas verschärft noch die Brisanz, die von der hohen Plausibilität und der alle Lebenssphären erfassenden Ausarbeitung des Urteils über die Vorzüge der Bildung ohnehin bereits ausgeht, und rechtfertigt, daß Schleiermacher es durch die Stellung am Schluß der Erörterung und durch besondere Ausführlichkeit hervorhebt. Dabei rekonstruiert er zunächst jenes Vorurteil in seiner ganzen

Breite, indern er gewissermaßen mit den Augen eines aufgeklärten Europäers des 18. Jahrhunderts sämtliche Äußerungsweisen und Gegenstandsberei-

che der menschlichen Seele? in ihrer Abhängigkeit von der Seelenbildung Revue passieren läßt. Ist doch dem »ungebildeten Menschen« (446,16) - der

ungebildet ıst, weil er in seiner Lebensführung auf die Bedürfnisse der unmittelbaren Daseinssicherung fixiert ist, und weil er ungebildet ist sich aus dieser Fixierung auch nicht lösen kann - schon (1) die »äußere Welt (...} mager und leer«.(446,15f.,; Hervorhebung von mir), indem er keinen »Sinn der Beobachtung« für die »feineren Unterschiede der Eindrüke«

(446, 18f.) mitbringt. Die fehlende Distanz zu den eigenen Lebensvollzügen verhindert

(2)

auch,

daß

diese

in

ihrem

Zusammenhang

mit

anderen

Geschehnissen und Erscheinungen wahrgenommen und schließlich in die Totalıtät des Kosmos integriert werden können. Ebenso führt die distanz95 Ygl. oben 1.5. 96

Vgl. oben 2.1.

2. Phänomenologie von Lebenssphären

379

lose Vertrautheit mit einigen wenigen alternativelosen Lebenssphären und Daseinsvollzügen (3) dazu, daß der Ungebildete sich kaum je angesichts unvertrauter Konstellationen

und neuer Aufgaben

der Regein

und

Gesetz-

mäßigkeiten seines Verhaltens vergewissern und diese auf die neue Situation übertragen und daraufhin erweitern oder modifizieren muß und daß er deshalb nicht die Fähigkeit zum Erwerb jener allgemeinen Kenntnisse der Struktur, des »Mechanismus der Natur« (424,33f.) gewinnt, die für die »Heitschaft« (446,30) über sie unerläßlich sind. Insofern (4) schon die

Selektion des einzelnen Sinnlichschönen aus der Masse der Eindrücke »ein gewißes Maaß von Beobachtung und Unterscheidung« (447,1f.) verlangt, um so mehr aber die Produktion eines »/dealfs) des Schönen« (447,8; Hervorhebung von mir) und einer dieses explizierenden Theorie dıe Abstraktion

von allen Einzeleindrücken erfordert, ıst der von der Bildung Ausgeschlossene auch daran gehindert. Er kann aber auch (5) kein »Interesse« und keine

»theilnehmende Lust« haben an dem »innern Wesen und Thun« der Natur (447,31f.; Hervorhebung von mir) und seiner selbst, indem er in seinen beengten Verhältnissen weder allgemeine »Meinungen über ihre [sc. der Natur]

Wirkungen

und

Kräfte« (447,33) vermittelt bekommt

und

sıe des-

halb auch nicht mit seinen »einzelnen Erfahrungen« vergleichen kann noch selber »Beobachtungen über ihre Mittel und Zweke, Sprünge, Uebergänge und Fortschrittex (447,34-36) anzustellen vermag. Um eine Differenz zwischen Oberflächeneindrücken und Erkenntnis des Wesens - und das heißt: der »Kräfte(), Bestandtheile() und Verrichtungen« (448,10f.) - der Dinge überhaupt erkennen zu können und mithin das zu entschlüsselnde »räthselhafte ın diesen Räthseln« allererst als solches zu sehen, fehlen ıhm

die »Vorstellungen« und das Bedürfnis (448,8f.): Der »größere Theil« der Menschheit

»ist sich

selbst

noch

nicht

aufgeschlossen

genug

(,) um

die

Schlüßel der geistigen oder körperlichen Natur auch nur zu suchen« (448,6f.). Darüberhinaus ermangelt er auch einer hinreichend elaborıerten und begrifflich durchgebildeten Sprache, sowohl eigene Wesenserkenntnis in Worte zu fassen als auch die Einsichten und Meinungen Anderer aufzunehmen und zu beurteilen. Da nun aber (6) »unstreitig Mittheilung und gegenseitige Beförderung jener Freuden der Bildung das beschäftigendste

Bestreben und ıhr gemeinschaftlicher Genuß die beste Unterhaltung aller Stuffen der Geselligkeit« ıst (448,23-26, Hervorhebung von mır), wird der

Ungebildete sowohl aufgrund seines Mangels an eigenen beizubringenden Bildungserfahrungen und subtil-differenzierten Eindrücken und Einsichten als auch aufgrund seiner Sprachlosigkeit, solche Erfahrungen

zu kommuni-

zieren bzw. die Erfahrungen anderer zu rezipieren, das im geselligen Kreise mögliche Vergnügen kaum völlig oder auch nur ansatzweise ausschöpfen

380

Ill. Lebenssphären - Kap. 6. »Ucber den Werth des Lebens«

können.

der

Dies gilt zumal deshalb,

Geselligkeit,

»Mittheilung

die

weil ihm auch für die intimste Funktion

»Beobachtung

dieser Bemerkungen«

anderer«

(448,29f.),

und

die

wechselseitige

die Voraussetzungen

abge-

hen, indem er weder anderen einen hinreichend vielfältigen und komplexen Stoff zur Beobachtung bietet noch seinerseits die Selbstbildung der Anderen subtil genug beobachten kann, um ihnen originelle Bilder ihrer selbst zuspiegeln zu können. Dementsprechend kann er auch nicht an einem »System der Geselligkeit« partizipieren, »dessen mannigfaltige, ineinandergreifende Theile doch eine so wesentliche Bedingung geselliger Glükseligkeit sind« (448,33-35; Hervorhebung von mir). Die sozialen Verbindungen des Ungebildeten dıenen denn auch ın allen ıhren Formen - also in Staat und Häuslichkeit ebenso wıe ın Freundschaft und Liebe - der gemeinsamen

physischen Selbsterhaltung oder der wechselseitigen Förderung der »Befriedigung thierischer Bedürfnisse« (448,40 - 449,1), wenn sie nicht gar in

»Tirannei«

oder

»gesezlose

Willkühr«

ausarten,

»in

welcher

nur

der

Zufall eine unsichre Ruhe und Ordnung erhält« (448,37f,); sie sind mithin nur wenig über die »Oekonomie der Thiere« (449,4) erhoben.

2.6. Relativierung der europäischen Verstandesbildung Schleiermacher ist weit entfernt davon, dıe auf alle Lebensbereiche sıch erstreckenden Vorzüge der Bildung in Äbrede zu stellen. Er kann freilich

nicht darauf verzichten, an der Gleichheit der Glückseligkeits- und mithin der

Bildungschancen

festzuhalten,

wenn

anders

die

Gerechtigkeit

des

Schicksals auch in dieser - für den Begriff der Bestimmung des Menschen konstitutiven - Hinsicht gewahrt bleiben soll. Dies kann nicht anders geschehen, als daß die Bildungschancen gewissermaßen demokratisiert werden, so daß Unbildung in die Verantwortung des Ungebildeten selbst fällt. Bezeichnenderweise löst Schleiermacher diese Aufgabe nicht dadurch, daß er ein soziales Reformprogramm propagiert, vermittels dessen die ungebil-

deten Massen auf das Niveau der als Idealtypus fungierenden aufgeklärten Bildungsschicht emporgehoben werden sollen. Genau umgekehrt enrkoppelt er vielmehr den Bildungsbegriff von dıesem Idealtypus und sucht zu zeigen, daß in jeder Lebensstellung derjenige Grad an Differenziertheit und Abwechslung der Phänomenwahrnehmung und diejenige noetische Durchdringung der Struktur der Wirklichkeit erreichbar sind, die die Voraussetzung einer glücklichen Lebensführung darstellen. Zu diesem Zweck legt er einerseits dar, daß der Verstand nicht die einzige »Quelle()« der »die äußre Welt

ordnenden,

vervielfältigenden

und genießbar machenden

Ideen« ist (450,

2. Phänomenologie von Lebenssphären

381

5f,), sondern daß ihm ın dieser Funktion die Fantasie an die Seite tritt und daß erst, wenn beide zusammenwirken, wahre Geistesbildung hervorge-

bracht wird. Damit kann er nun zwar die Einseitigkeit, Formalität und Theorielastigkeit der europäischen Verstandes- und Buchstabenkultur krıtisieren

(vgl.

450ff.}

und

die wirklichkeitsstrukturierende

Kraft,

die Erle-

bensintensität, Lebhaftigkeit und bunte Facettenfülle von Mythen, Fabeln, Volksaberglauben und anderen Produkten der individuellen oder kollektiven Fantasie beschwören?”; die Gleichheit der Bildungschancen ist jedoch erst dann vollständig demonstriert, wenn ebenso auf der anderen Seite in allen Lebensverhältnissen - also auch in solchen, in denen die Gelegenheit zu formaler Verstandesbildung fehlt - ein Rationalitätspotential ausgemacht

werden kann, das den Einzelnen zu jener Differenzierung sowohl der inneren Vermögen

und ıhrer Entfaltung als auch der äußeren Lebenssphären

in

ihrer Erfassung und Gestaltung befähigt, in der die wahrer Bildung inhärente Glückseligkeit besteht. Dieses Rationalitätspotential liegt einerseits ın den Mythen selbst, die durchaus ein »System der Naturerklärung« (454,19; vgl. 454,13f.: »jedes mythologische und magische System der Fantasie«) darstellen, andererseits in der praktischen Lebensklugheit, zu deren Ausbil-

dung nicht mehr als Jene allgemeinen Begnffe und Regeln erforderlich sınd, die jedem Menschen als die »ersten Geseze des Denkens« (451,4) zu Gebote

stehen, insofern jede Denkoperation ıhnen ipso facto gehorcht. Es ist eine spezifische Schwäche der europäischen Verstandesbildung, daß sıe ınfolge ıhrer Fixierung auf die begriffliche Abstraktion dıe ın anderen Kulturen

entwickelten komplexen Formen der Wirklichkeitswahrnehmung und Weltstrukturierung nicht einmal zu erkennen vermag und daß sie den Standard für Rationalität nach Maßgabe der Erfordernisse des »spekulirende(n) Verstand(es)« (450,28; Hervorhebung von mir) festsetzt und deshalb die Rationalität des Alltags nicht mehr als solche wahrzunehmen und in ıhrer

Suffizienz für eine differenzierte Lebensgestaltung ın der Interferenz von Selbstbildung und Weltgestaltung zu würdigen fähig ıst. Umgekehrt verbirgt sie sich mit diesen überzogenen Ansprüchen an die Formalität des Erkennens die anthropologische Relativität des Abstraktionsvermögens und dessen funktionale Zuordnung zum Ganzen der Lebensführung und verstellt sich damit den Blick auf dıe eigene Einseitigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit. Mag denn der daraus entstehende Bildungsstolz möglicherweise ın moralischer Hinsicht berechtigt sein (vgl. 451,23f.) - indem die Abstraktion von allen partikularen Gegenwartsinteressen Implikat einer reinen und das heißt reinvernünftigen Sittenlehre ist -, mag auch die solcherart rationale 97

Dies erinnert an Herder.

382

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

Durchdringung der Wirklichkeit methodische Transparenz, Objektivität und Sicherheit des Erkennens erhöhen (vgl. 451,15-18), mag also der in der abendländischen Kultur erreichte Fortschritt des Denkens durchaus von

hohem und keineswegs aufzugebendem Wert sein und eine Ausbreitung dieses

Denkens

als geboten

erscheinen

lassen

(vgl.

457,27

- 458,7;

ferner

451,23f.), so garantiert diese Überlegenheit doch in keiner Weise an sich bereits eine größere Vielfalt der Entfaltungsmöglichkeiten der Seelenvermögen und damit der Glückseligkeitschancen. Abgesehen davon, daß der Vollzug

der Abstraktion

und

sein Genußwert

selbst abhängig

ıst von

der

inspirierenden und heuristischen, Stoff beibringenden Funktion der Fantasie (vgi. 453,6-9), bedingt er vielmehr selbst eo ıpso zugleich mit dem Gewinn an Deutlichkeit einen Verlust an Differenziertheit und Vielfalt?® und mithin an Glückseligkeit, der dıe der Deutlichkeit entspringende Freude aufwiıegt, wenn nicht überwiegt. Eine »Kultur«, ın deren »ganze(m) Ton« sich

»abstrakte Begriffe und Geseze (...) herrschend zeigen« (451,15f.), riskiert damit, sowohl ıntern durch die Einseitigkeit der ın ıhr verbreiteten Bildungsideale und Persönlichkeitsbilder und durch die Ausbildungsgänge, die sie ihren Mitgliedern zukommen läßt und in denen sich diese Ideale konkretisieren, eine Verkümmerung der Vielfalt der Lebensmöglichkeiten und damit einen Verlust an Humanität herbeizuführen; auf der anderen Seite

schließt sie sich dadurch als ganze gegen andere Kulturen ab, begibt sich der Möglichkeit der Erweiterung des eigenen Horizontes durch Wahrnehmung anderer Lebensformen und durch deren wechselseitige Kommunikation und Aneignung, tendiert vielmehr zur kulturimpenalistischen Elimination und Assimilation des Fremden (vgl. 456,14 - 457,6). Schlei-

ermacher verknüpft hier in höchst interessanter Weise den Gedanken der Identität und Individualität verschiedener Kulturen als ganzer mit der anthropologischen Konzeption der vernünftig-sinnlichen Doppelbestimmung des Menschen, indem er zeigt, daß in der kulturellen Individualität des

Abendlandes bestimmte anthropologische Einseitigkeiten und Deformationen sich festgesetzt haben, die die Lebensführung und den Bildungsprozeß der Einzelnen prägen und ihre Bestimmungsadäquanz geradezu

behindern??.

Daß

diese

kulturelle

Determination

des

Einzelnen

nicht

vollständig ist, erhellt freilich bereits daraus, daß ja auch innerhalb der europäischen Kultur nur eine verhältnismäßig kleine Schicht zu solcher Verstandesbildung fähig ist und daß zudem bei weiter nicht alle Fähigen 98 Vgl. Eberhard, AThDE 77, und dazu oben Kap. 2, 2.2. - 2.4. 9

Analog läßt sıch das natürlich auch von den illiteraten Kulturen sagen, die die explizite Verstandesbildung vernachlässigen.

2. Phänomenologıie von Lebenssphären

383

sıch diesen Standards unterwerfen und sıch an ihnen orientieren. Ein generelles negatives Urteil gegen die in der europäischen Kultur - wie in jeder anderen - dem Individuum mögliche Glückseligkeit ist überdies durch die Annahme eines anthropologisch universalen hinreichenden Minimums an Differenzierungsfähigkeit bei jedem Einzelnen ausgeschlossen, die auch dem aufgeklärten Rationalısten seine Lebensferne und Erfahrungsarmut als

eigenes

Versäumnis

zuzuschreiben

und

nicht

als

kulturkreisspezifische

Unfähigkeit zu entschuldigen erlaubt.

Schleiermacher geht ın der Folge anhand des in der geschilderten Weise transformierten - 'demokratisierten' und von rationalistischer Einseitigkeit befreiten - Bildungsbegriffs die einzelnen Objekttypen bzw. Tätigkeitsformen der Seele noch einmal daraufhin durch, inwiefern die jeweils in ihnen angelegten Bildungschancen in spezifischer Weise jedem offenstehen; dabei demonstriert er, wie die behaupteten Vorzüge der Verstandesbildung hinsichtlich der Glückseligkeit jeweils entweder fıktiv sind und ihnen die Vorzüge anderer Bildungsformen gleichkommen, oder wie ihnen ipso facto bestimmte Differenziertheitsverluste anhaften, so daß die dabei mögliche Glückseligkeitssumme diejenige der angeblichen Unbildung nicht über-

steigt, oder schließlich wie die Verstandesbildung ohne die Fantasie gar nicht aktualisiert werden kann und nur deren Beteiligung die sie begleitende lustvolle Befriedigung verdankt. Führte das Vorurteil gegen die formal Ungebildeten deren angeblich mangelnde Differenzierungsfähigkeit auf ıhre Distanzlosigkeit gegen die

unmittelbaren Nötigungen der Lebenssicherung zurück, so distanziert umgekehrt die formale Verstandesbildung,

die »das ganze der Erscheinungen«

auf »wenige ursprünglich verschiedene Bestandtheile, wenig todte Kräfte, wenig allgemeine Geseze« (452,39 - 453,2) zurückzuführen sucht, so stark von der unmittelbaren Vielfalt und Erlebensintensität der Phänomene, daß sie ein reduktives und insofern ebenfalls differenzarmes Weltbild ausbildet. Von einem Reichtum der Rezeptivität für Einzeleindrücke (1) kann denn

auch hier - gewissermaßen per definitionem - nicht die Rede sein. Den Totaleindruck von der Zuträglichkeit der Welt in allen ihren Teilen für die individuelle Lebensführung (2) können hingegen Mythensysteme oder Sagenkränze oder andere von der Fantasie entworfene Weltbilder möglicherweise ebenso gut oder sogar noch besser und jedenfalls lebhafter vermitteln als dıe dürren Strukturbeschreibungen und Wesensanalysen der Wissenschaft.

Macht (3) dıe ratıonale Reduktion

mit den allgemeinen Prin-

zipien der Naturkräfte und mit dem überall wirkenden »Mechanismus« der Natur bekannt und begründet mithin deren universale Verfügbarkeit und

384

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

technische Bearbeitbarkeit!®, so geht dabei nicht nur die Empfindung für das Eıgenleben der dem Menschen zugänglichen und zuhandenen Außenwelt und für dıe nichtaustauschbare Individualität der Einzelgegenstände verloren - eine Sensibilität, die im Gegensatz dazu dem Mythos und überhaupt der Fantasie eignet, indem sie durch Personifikation von Naturerscheinungen die Zwietracht, die »die gänzliche Trennung des sinnlichen und übersinnlichen ın unsern Systemen verschuldet hat« (453,19f.), zumin-

dest augenblicksweise überwindet; ebenso bleibt nämlich bei der naturfernen und sich der Dienstleistungen Anderer bedienenden Lebensweise des Verstandesmenschen die erlangte Verfügungsgewalt fiktiv und rein theore-

tisch oder virtuell: Sie setzt keine wirkliche Erfahrung der Naturgestaltung aus sich heraus!0l. Für die Wahrnehmung und den Genuß des Schönen (4) ıst nicht das Gegebensein einer elaborıierten ästhetischen Theorie Voraussetzung. Wie Schleiermacher an der für das Kunstverständnis seiner Zeit idealtypischen griechischen Antike aufzeigt, ist weder die künstlerische Produktion noch der Kunstsinn in einer Gesellschaft an das Vorhandensein einer Theorie des Schönen gekoppelt. Wielmehr sei eine solche erst nach-

güngig entstanden, und zwar zu einer selbst den großen Haufen verlassen und schen zurükgezogen hatte« (451,36-38). Maßstäbe der modernen europäischen ästhetischen Erfahrung (und der darin

Zeit, »als der Sinn für das schöne sich in wenige betrachtende MenAus demselben Grund können die Ästhetik nicht zum Kriterium der implizit enthaltenen oder explizit

entwickelten Maßstäbe) anderer Völker und Kulturen gemacht werden.

Das

wäre selbst dann problematisch, wenn die gegenwärtig ausgebildete wissenschaftliche Ästhetik eine »absolute Theorie des aesthetischen Gefühls« (452,5f.) darstellte.

Unabhängig

davon,

daß eine solche überhaupt »wahr-

scheinlich unmöglich« (452,6) ist!®2, ist ihr derzeitiger Zustand weit entfernt von

solcher abschließenden

Vollkommenheit:

00 Djes ist bekanntlich das zentrale Argument wissenschaften.

»Jezt ist jedes System

für den Erfolg der neuzeitlichen

Natur-

lOlschleiermacher handelt die bisher genannten Aspekte an dieser Stelle nıcht ausdrücklich in dieser Reihenfolge ab; sıe können jedoch ohne Schwierigkeiten aus den allgemeinen Aussagen über das Verhältnis von Verstand und Fantasie sowie aus der Erörterung des fünften, des Wahrheits-Aspektes rekonstruiert werden. Schleiermacher mag aufgrund seiner Konzentration auf die intellektuellen Fähigkeiten an dieser Stelle eine solche Rekonstruktion der Auswirkungen der Bıldung auf die sinnliche Rezeptivität und die physische Gestaltung der Außenwelt für entbehrlich gehalten haben. Sıe ist aber gleichwohl nötig, wenn anders Bildung tatsächlich notwendige Bedingung für jede Form der Glückseligkeit ıst; vgl. oben 2.5.3. 102 Ein für Schleiermachers Wissenschaftsverständnis bezeichnender Zusatz, vgl. oben 1.4.

2. Phänomenologie von Lebenssphären

385

einer Kunst oder irgend einer Anwendung des Schönheitsgefühls nur hypothetisch und beruht immer auf Voraussezungen und Beobachtungen über das angenehme und schikliche (,) bei welchen gar keine Allgemeinheit möglich ıst« (452,8-12). Diese Voraussetzungen sind jeweils relativ zu »Lage und Denkungsart jeder Klasse und jeder Nation« (452,14f.), aber sie

ermöglichen eben dadurch auch eine diesen gemäße wirkliche Erfahrung des Schönen. Dabei kann keine Nation oder Klasse als solche eine besondere Intensität oder eine quantitative Überlegenheit der in ihr möglichen ästhe-

tischen Erfahrungen für sich beanspruchen; denn zwar befördert ein geselischaftlich etablierter, durch eine klar konturierte Theorie befestigter und mit überindividueller Geltung versehener Geschmack bei den Individuen die Ausbildung eines »zarter unterscheide(nden) (...) Gefühl(s)« (452,30f.) für das Schöne und eine Sensibilität für die Schönheit »gewisse(r) Gegenstände« (452,31f.); dies wırd aber ın Kulturen und Klassen mit weniger elaborierten

und öffentlich stabilisierten Geschmacksnormen dadurch ausgeglichen, daß mehr Gegenstände schneller und unmittelbarer als schön erscheinen kön-

nen!®3, Im Blıck auf dıe Wahrheit (5) wird das - für echte Geistesbildung

als

konstitutiv behauptete - Zusammenwirken von Vernunft (oder Verstand) und Fantasıe selbst thematisch. Denn die Wahrheit der Ideen trägt zur daraus

entstehenden Glückseligkeit wenig beil®*. Zwar hat die Fantasie bei der Gewinnung

von

Wahrheit

selbst - womit

die Vernunft

das menschliche

»Bedürfniß des innern (,) des übersinnlichen« befriedigt, dem disparaten »ganze(n) der Erscheinungen« »erst Leben (‚,) Zusammenhang und Kunst einzuhauchen« (452,39, 453,2-4) - nur die unerläßliche aber untergeordnete

gleichsam technisch-heuristische »Entdekung (,) Ausbildung und aber für den Genuß am Denken Ansätze, der Assoziationen und

Funktion der Anregung und Hilfe bei der Veränderung einzelner Theile« (453, 7f.); ist dies, ist die Vielfalt der Fragen, der Hypothesen, ist also der Weg des Suchens

und nicht das abschließende Resultat, sind schließlich die unendlichen und erhabenen, wenn auch nur skizzierten und unvollendeten »Bilder«, welche die Fantasie, »jenen vom Verstande erfundenen Gesezen gemäß, über den

Gang

und

die

Ordnung

des

Weltalls

im

Ganzen

oder

aus

einzelnen

103 Djes steht allerdings in einer gewissen Spannung zu der Aussage, daß die körperlich arbeitende Bevölkerung durchaus weniger und zudem kaum wechselnde Anlässe zur Glückseligkeit hat, daß diese sich gleich bleibenden Anlässe aber elemeniar und deshalb immer erneut befriedigend und daß sie weniger flüchtig und beliebig sınd und

daß sie intensiver und entschlossener gerurze werden; vgl. oben 2.4.1. 104 vgl. dazu die Bemerkung in ÜdF, die der Tugendübung selbst entspringende Glückseligkeit bedeute keinen nennenswerten Antrieb zur Tugend. Vgl. oben Kap. 5, 8.

386

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ufeber den Werth des Lebens«

Gesichtspunkten entwirft« (453, 12-14), schlechterdings entscheidend, Dabei überschreitet sie ständig die Grenzen des vor der Vernunft Verantwortbaren. Aber durch diese »Verräthereiı am Verstand« - indem sie etwa »ein selbstständiges Leben in die todten Massen und ein eigentümliches Begeh-

ren in die mechanischen Kräfte hineinschwärzt« (453,16-18) - ermöglicht sie ein komplexes »System der Naturerklärung« (454,19), das wenigstens momentweise den neuzeitlichen Dualismus zwischen dem denaturierten, zum reinen Bewußtsein entsinnlichten Menschen und der entseelten, zum

mechanischen Kausalkontinuum rationalisierten Welt überwindet. Gegensatz zur naturwissenschaftlich-mechanistischen Welterklärung,

Im die

alles Geschehen unter zeitlos und universal geltende, unveränderliche Gesetze stellt und insofern keine Überraschungen, Brüche oder Singularitäten

kennt bzw. diese auf das Altbekannte und Allgemeine zurückzuführen suchen muß, hat die »Fabellehre« zudem »für jede neue Entdekung in der Natur einen unendlichen Raum«

ständige gen des beläßt. Systeme

(454,8-11) und ermöglicht damit eine be-

Modifikation des Weltbildes durch eine Integration von ErfahrunUngewöhnlichen und Individuellen, die diesen ihren Eigenwert Verwürfe man ım übrigen die Wahrheitsfähigkeit dieser »schönen der Fantasie« (453,34) mit ihrer jeweils spezifischen »Mischung

von Verstand und Fantasıe« (454,18, Hervorhebung von mir) ın Gänze, so bliebe schließlich, da »dıe Entdekungen und Resultate des Verstandes über die Welt (...) nur wenigen begreiflich« sind (454,2f.), die »Sehnsucht des Menschen nach Erklärung der Natur« (454,9f,) bei den meisten ungestillt; die »erdichtete Welt, welche die Fantasie der äusseren Welt unterlegt«, ist hingegen »der Faßungskraft eines jeden angemessen« (454,3f.).

Ebenso wenig wıe für den Genuß der Schönheit ıst für das gesellige Ver-

gnügen (6) eine elaborierte Theorie Voraussetzung!®®. Deutlicher als bei der ästhetischen Erfahrung macht Schleiermacher hier, »daß die Lust an der Erkenntniß von ganz anderer Art, und ganz unterschieden ist von der Lust an den erkannten Gegenständen« (455,8-10) und daß deshalb »das deutliche Bewußtseyn der Theorie« (455,10), indem es die Unmittelbarkeit der Erfahrung aufhebt, den Genuß an den Objekten geradezu stört. Eines »unvermischten geselligen Genusses und einer reinen Anhänglıichkeit an

Menschen« (455,12f.) ıst man daher »nur in dem Maaß« fähig, »als man das scharfe Auge der Menschenkenntniß verschließt« (455,11f.).

Doch auch zu

dem für die Selektion geselligkeitswürdiger Anderer, für die Taxierung des wünschenswerten Grades der Annäherung an diese und für die eigene 105 Auffällig anders argumentiert Schleiermacher später in dem »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«; vgl. dazu unten Kap. 10.

2. Phänomenologie von Lebenssphären

387

Eignung zu geselligkeitsförderlichem Verhalten allerdings notwendigen Quantum an Menschenkenntnis ist eine Bildung in wissenschaftlicher Psychologie unnötig. Denn es »bildet sich norkwendig in jeder Seele ein System der Menschenkenntniß

und

Fertigkeit zur Beobachtung«

(455,39

- 456,1;

Hervorhebungen von mir), das hinreicht, »die Glükseligkeit des geselligen Lebens ın allen Modifikationen

Wissen und das aber gleichwohl wendigkeit unter fungsgeschichte,

zu befördern« (456,4f.). Dieses elementare

damit verbundene Vermögen sind mithin nicht angeboren, anthropologisch universal gegeben: Sie entstehen mit Notallen Lebensumständen im Verlauf der individuellen ReiDazu bedarf es keines vollständigen und formalen Systems

der an sich selber gedachten Begriffe, also keiner wissenschaftlichen Logik; dıe für die Identifizierung und Ordnung der verschiedenen »Bestandtheile

einzelner

empfangener

Eindrüke«

(455,18f.)

benötigten

»abstrakten

Be-

griffe()« (455,14) »erscheinen« nämlich »gleichsam nur in einem Augenblik

der Musterung vor der Seele« (455,17f.)106 und werden von dieser immer nur in dieser kontingenten ursprünglichen »genaue(n) Verbindung mit einzelnen Empfindungen« und darum ihrerseits »in Gefühle verwandelt« (455,20f.) appräsentiert. Durch Akkumulation solcher Einzelbeobachtungen, die allgemeine Begriffe mittransportieren, bilden sich nach und nach individuelle »allgemeine Eindrüke und Bilder über die menschlichen Dinge« (455,22f.), die wiederum zur Beurteilung von »Werth« und »Beschaffenheit« neuer »einzelne(r) Eindrüke« (455,23-25) von menschlichen Handlun-

gen verwendet (und - wie man hinzufügen muß - dadurch ihrerseits präzisıert, modifiziert oder erweitert) werden. Eine »Empfindung und ein praktisches Urtheil« über einen bestimmten Menschen insgesamt entsteht dann dadurch,

daß

die

Fantasie

dıe

Erinnerungen

einerseits

»der

successiven

Eindrüke von einem einzelnen Subjekt«, andererseits »der Resultate ıhres Werthes« »in eins zusammen« imaginiert (455,26-29).

Erst daraus, erst aus

»wiederholten und zusammengesezten Vergleichungen ähnlicher Art« entwickeln sich »Empfindungen und Urtheile über den Menschen überhaupt, über einzelne Theile und Kräfte desselben« (455,29-31;, Hervorhebung von

mir}, ebenso wıe »Angaben zur wahrscheinlichen Berechnung des Resultats einer gegebnen Vereinigung derselben unter gegebenen Umständen« (455, 31-33). Beschleunigt und in ihrer »Richtigkeit« gefördert werden diese Operationen dadurch, daß die Objekte der Beobachtung derselben Gattung wie der Beobachter selbst angehören, so daß Selbstbeobachtung und

106 $;je müssen also immerhin aller Erfahrung als Bedingung der Möglichkeit von deren Strukturierung und Deutung vorgegeben sein. Schleiermacher rekonstrutert hıer nur die Weise ihres Präsentwerdens und Präsentbleibens in der Einzelseele.

388

11l. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

Fremdbeobachtung 455,35-39).

Da

einander die

wechselseitig

Genese

von

stützen

und

Menschenkenntnis

befruchten mithin

(vgl.

auf

der

induktiven Verkoppelung elementarer Einzelbeobachtungen beruht, die immer und notwendig in der geschilderten Weise verlaufen, und da die mit dieser Verkoppelung eintretende Komplexitäts-, Deutlichkeitsund Allgemeinheitssteigerung ın der immanenten Logik der Akkumulation solcher Einzelbeobachtungen liegt und deshalb nicht als Aufgabe hingestellt, sondern als empirisch, aber notwendig sich vollziehende Entwicklung dargestellt wird, kann Schleiermacher jedem einzelnen ohne Rücksicht auf seine formale Verstandesbildung diejenige Differenziertheit der Menschenkenntnis,

diejenige

Schnelligkeit

und

Sicherheit

des

Urteils

über

Andere

unterstellen, die ihn dazu befähigen, (a) für den geselligen Umgang angenehme Genossen oder Kreise auszusuchen, (b) dıe der geselligen Glückseligkeit zuträgliche Nähe und Distanz zu diesen auszutarieren, (c) das eigene

gesellige Betragen so zu steuern, daß die Übereinstimmungen mit den Anderen betont werden, dem »Zusammenschlagen der Dissonanzen« (456,11) aber tunlichst ausgewichen

wird,

schließlich (d) durch den inneren

Reich-

tum der Beobachtungen einerseits Anderen ein differenziertes und ıinteressantes Bild ıhrer selbst übermitteln zu können, andererseits diesen selbst einen anregenden Stoff der Beobachtung und Kommunikation des Beobachteten darzubieten. Daß dies alles auch in ganz anders gearteten Kulturen möglich und wirklich ist, entgeht dem aufgeklärten Europäer nur deshalb, weil er seine eigenen Maßstäbe auf ganz fremde Lebensweisen appliziert und

damit

deren

interne

Differenziertheit,

dıe

dort

entwickelten

spezi-

fischen Formen der Artikulation und Kommunikation von "BildungsBildern’ gar nicht wahrzunehmen vermag und deshalb bei Anderen Monotonie konstatiert,

wo

er nur selber blind

ist107.

Wenn

also

»unter

allen

107 Allerdings schiebt Schleiermacher ein in gewisser Hinsicht gegenläufiges Zusatzargument nach, wonach eine Kultur, selbst wenn sıe eın in europäischen Augen weniger differenziertes Ideal der Glückseligkeit habe, gerade dadurch auch das Fehlen bestimmter Genußmöglichkeiten nicht registriere oder für bestimmte gesellige Deformationen und Verstimmungen unsensibel sei und muthin unterm Strich keineswegs ein schlechteres Verhältnis von geselligem Glück und Leiden an der Geselligkeit determiniere,

als

in der

europäischen

Bildungsschicht

herrscht.

Auch

hier

macht

sich

eine

gewisse Unausgeglichenheit der Argumentation bemerkbar zwischen der Behauptung, in allen Lebensverhältnissen sei die gleiche Summe an Glückseligkeit, und der anderen, das gleiche Verhältnis von Glück und Unglück möglich. - Ebenso fällt auf, daß der oben (vgl. 2.5.3.) als Vorzug der europäischen Verstandesbildung genannte Aspekt der Sprachfähigkeit hier unerwähnt bleibt. Angesichts der Korrespondenz von Sprache und »Denkungsart« mag er dem Argument der Summeninvarianz subsumiert sein. Macht man allerdings die Behauptung der inneren Vielfalt anderer Kulturen stark, so müßte entweder die Differenziertheit auch nicht-europäischer, illiterater Sprachen angenom-

2, Phänomenologie von Lebenssphären

389

Nationen theure und wolthätige Spuren der Humanität [zu] entdeken« sind (457,12f., Hervorhebung von mir), zu der mithin an prominenter Stelle die

wechselseitige differenzierte Wahrnehmung und Kommunikation von Individualität gehört!0®, so heißt das nicht, daß es in den anderen Kulturen gewissermaßen nur Spuren, in der europäischen aber die Vollgestalt huma-

ner Lebensgestaltung zu finden gäbe. Nach Schleiermachers Überzeugung ist das »Ziel« der menschlichen Gemeinschaft zwar »erreichbar()«, aber »allen gleich fern()«: »nur auf andern Wegen aber gleich wolthätig führt das Schiksal« die »Glükseligkeit« der verschiedenen

Nationen

herbei

(457,14-

16). Dies gilt aufgrund der sinnlich-sittlichen Doppelbestimmung des Menschen gerade auch dann, wenn die stärker entwickelte Verstandesbildung einen

höheren

Grad

der

»sittlichen

Vervollkomnung«

(458,1)

dokumen-

tieren sollte, wie das Schleiermacher an mehreren Stellen beiläufig andeutet (vgl. neben der ebengenannten noch 451,23f.)109%, da dieser nämlich unter gegenwärtigen Bedingungen kein ebenso hoher Grad der Glückseligkeit, vielmehr deren Minderung korreliert.

2.7. Harmonisierung der Lebenschancen als immanente Apokatastasis

Nicht von ungefähr erinnert die Aussage, auf ihre je spezifische Weise seien alle Kulturen in gleichem Maße vom Schicksal zur Erlangung der Glückseligkeit disponiert, an die philosophische Apokatastasis-Konzeption,

die Schleiermacher in ÜdF vertritt!!0. Schleiermacher selbst weist darauf hin, sein Nachweis der Gleichheit der Glückseligkeitschancen mache es un-

nötig,

»leere Theodiceen

abzufassen,

wo

kein

Klagepunkt

Statt

findet«

(459,7). Allerdings sind in der Argumentation erhebliche Verschiebungen festzustellen. Denn konstatiert die Freiheitsschrift durchaus Differenzen zwischen den Menschen hinsichtlich der Zuträglichkeit ihrer gegenwärtigen

Lebensumstände für ihre empirische Glückseligkeit und federt diese gegen men oder der Reichtum non-verbaler Kommunikationsformen - Gesten, Riten, Symbolhandlungen etc. - ın den Begriff der Sprache hineingezogen werden.

108 vg], oben Kap. 1, besonders 2.3. und 2.5. 109E5 ist dies allerdings nur dann plausibel, wenn »sittliche() Vervollkomnung« ın Kantischem Sinne nichts anderes bedeutet als die Reinigung der Verhaltens-Morive von allen empirischen Einflüssen und sich keineswegs notwendig auf eine vollständigere Realisierung des vom Sıttengesetz Gebotenen bezieht. Denn dann erlaubt die Behauptung sittlicher Fort- oder Rückschrittlichkeit keinen Rückschluß auf den realen Zustand einer Gesellschaft oder Kultur in Hinblick auf den Grad ıhrer humanen Bestimmungsadäquanz. NNOygı. dazu oben Kap. 5, 8.

390

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

die mögliche Klage über die diesbezügliche Ungerechtigkeit der Einrichtung der Welt einerseits durch den Hinweis auf die »Weisheit« des Schöpfers, der jedem einen seiner individuellen Bestimmung gemäßen Platz in der Welt zugeteilt habe, und andererseits durch die Prolongation des Beweiszeitraums für diese Behauptung ins Jenseits ab, wo nach seiner Überzeugung die sinnliche Bestimmtheit des Menschen zwar nicht aufgehoben, wo aber die empirischen Bedingungen seiner Bestimmungsadäquanz

gemäßer sind als im irdischen Leben, so gibt WL zwar auf der einen Seite zu bedenken, daß jemand - unbeschadet daß es prinzipiell eine auf seine Bedürfnisse genau zugeschnittene Weltstelle tatsächlich gibt - vom Leben an eine andere, ıhm prıma facıe weniger zuträgliche Stelle geworfen sein kann!!l, verzichtet auf der anderen aber darauf, die realisierte Gleichheit

der Lebensbedingungen im Eschaton zu verorten, und beansprucht gewissermaßen empirisch aufgewiesen zu haben, daß jeder Einzelne an seinem faktischen Ort die gleichen Chancen hat, glücklich zu werden, wie jeder Andere, Der Verzicht auf die entlastende Fortschreibung in die Zukunft und mithin auf die Einführung transempirischer Faktoren ın die 'Kostenrechnung’ verschärft freilich die Ansprüche an die Universalität der

Beschreibung gegenwärtiger Lebensbedingungen und an die Vollständigkeit des Nachweises von deren genereller Zuträglichkeit für die Lebensführung. Diesen Ansprüchen an die deskriptive Differenzierung wird Schleiermacher in hohem

Maße gerecht.

Der Preis dafür ıst jedoch eine stark harmonisie-

rende Tendenz beı der Erfassung von Konflikt-, Mangel- und Leiderfahrungen. Konnte ÜdF gegenwärtig aufbrechende existentielle Spannungen, Brüche und Verwerfungen noch stehen lassen im Lichte künftiger Erfüllung, so müssen diese hier entweder der Verantwortung des Betroffenen selbst zugeschrieben oder als nur scheinbare eliminiert oder als von

kom-

pensierenden Gestalten des Glücks begleitet nivelliert werden. Dies wird begünstigt durch zwei spezifische Unklarheiten, die an prekären Stellen die Argumentation verschwimmen lassen: Zum einen gleicht Schleiermacher sein Interesse an der gegenwärtigen Gleichheit der Glückseligkeitschancen nicht hinreichend aus mit seiner These der Identität der Summe möglicher Glückseligkeit bei allen Individuen in Blick auf deren ganzes Dasein; zum anderen unterscheidet er nıcht deutlich zwischen der Gleichheit der Summe möglicher Glückseligkeit und der Identität des Verhältnisses möglicher Glückseligkeit und möglichen Unglücks. Das erlaubt es ihm, bei evidenter und nicht harmonisierbarer Ungleichheit der gegenwärtigen Lebensverhältnisse dann doch in die Zukunft und den Totalitätsaspekt auszuweichen bzw. 1llvgr, 424,19-33 und dazu oben 2.2.

3. Rückblick

39]

im Lastcharakter vermeintlichen Glücks oder in den unscheinbaren Freuden vermeintlichen Unglücks sein argumentatives Heil zu suchen; die auffälli-

gen Gewaltsamkeiten des Vorgehens!!? haben hier ihren Grund.

3. Rückblick Die Schrift »Ueber den Werth des Lebens« wurde hier unter zwei Aspekten

interpretiert: der Entwicklung realistischer Selbstverhältmisse und der Entfaltung einer Phänomenologie der Lebenssphären. Angesichts der inneren Differenziertheit und des sachlichen Eigengewichts der phänomenologischen Darstellung droht freilich der Zusammenhang der beiden Komplexe aus dem Blick zu geraten. Die vollständige Darlegung der Betätigungsformen

und -sphären der Seele ist jedoch ın mehrerer Hinsicht an das Thema

realistischer

Selbstwahrmnehmung

rückgebunden:

Zum

einen

macht

das

Problem einer differenzierten und wahrhaftigen Perspektive auf das eigene

Dasein und der dafür entwickelte Begriff der sittlich-sinnlichen Doppelbestimmung des Menschen erst eine minutiöse Erfassung nicht nur der Handlungen,

sondern

auch der Handlungsumstände,

der Motive,

Empfin-

dungen etc. notwendig, und erst diese nötigt zu einer umfassenden Verteidigung der Gerechtigkeit der Einrichtung der Welt. Die Phänomenologie benennt also die Fülle der für die qualifizierte Rückschau auf das eigene Leben relevanten Faktoren. Sie illustriert dabei zum andern die Konsequenzen von einseitig nur auf Glückseligkeit, aber ebenso von einseitig nur auf

Sittlichkeit eigenen

bezogenen

Biographie,

Wahrnehmungskategorien für

die

eigene

für die

Verhaltensorientierung

Erfassung und

für

der die

Beobachtung Anderer und den Umgang mit ihnen sowie den Vergleich der eigenen Lebensverhältnisse mit den ihren, indem sie auf der einen Seite Glückserfahrungen als möglich, ja in gewisser Weise als unweigerlich

wirklich geworden und wirklich werdend aufzeigt und so eine moralistische Deutung des irdischen Lebens als Askese forderndes Jammertal gleichsam per Augenschein widerlegt, indem sie auf der anderen Seite aber die wesentliche Labilität, Momentaneität und Unbeständigkeit der Glück-

seligkeit in allen Lebensbereichen demonstriert und damit ebenso die Unmöglichkeit, mithilfe dieser Kategorie das eigene gelebte Leben zu strukturieren,

zu synthetisieren

und zu charakterisieren,

offenlegt,

wie sie

desillusioniert hinsichtlich der orientierenden Kraft von dergestalt entstan-

12 gi. etwa oben 2.4.2. unter (2).

392

III. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

denen fluktuierenden Persönlichkeitsbildern und hinsichtlich der Erwartungen von Glückseligkeit überhaupt. Sıe leistet darum schließlich auch dies, daß sie den Einzelnen für seine Verhaltensorientierung auf das gewisse, sich-selbst-gleiche, transsıtuative Kriterium der Tugend zurückwirft, freilich in einer Weise, die die Tugend der Glückseligkeit keineswegs exklusiv gegenüberstellt, sondern sie nicht nur von (ihr selbst innewohnendem oder mit ıhr kompatiblem)} Vergnügen begleitet sein läßt, vielmehr

der Glückseligkeit

eine konstitutive

Ausbreitung der Tugend

zuschreibt.

Funktion

bei der

Realisierung

Erst in beidem zusammen,

und

in der von

Glückserfahrungen begleiteten und geförderten Realisierung und Ausbreitung einer von Glückserfahrungen begleiteten, wenn auch nicht um dieser, sondern um ihrer selbst willen anzustrebenden Tugend, besteht und entsteht nach Schleiermachers Überzeugung »Humanität« (410,7, 457,13, Hervor-

hebung von mir). Nun will es scheinen, als verhinderte der fragmentarische Charakter des Werkes, genauer das Fehlen des zweiten Hauptteils, der die Frage behandeln sollte, ob das Leben den Einzelnen »der Vernunft (...) näher bring(e)«

und den »ewigen Gesezen« der Vernunft »einen immer weiteren Spielraum« in der

individuellen

Lebensführung

verschaffe

(414,1-4),

genauere

Auf-

schlüsse über die Bedingungen und den Vollzug dieses Humanisierungsprozesses selbst. Dilthey leistete dieser Meinung mit der Behauptung Vorschub, Schleiermacher folge in seiner Ausarbeitung exakt dem Aufriß der Neujahrspredigt und breche dabei ab, bevor die Predigt die realen Möglichkeiten der Förderung der Tugendübung behandele!13, Zurecht hat Meckenstock dagegen eingewendet, weder »folg(e) die Abhandlung genau dem Aufbau der Neujahrspredigt«, noch beschränke sıe sich »auf die im

ersten Drittel der Predigt geäußerten Gedanken«!1*, In der Tat läßt sich aus dem Text selbst - aus den begrifflichen Grundentscheidungen ebenso wie aus der phänomenologischen

Entfaltung

- einiges zu diesem

Thema

erhe-

ben. Zieht man noch die Ergebnisse der Interpretation der vorangegangenen Schriften (vor allem ÜdF) und einschlägige Aussagen der genannten Predigt hinzu, so ergibt sich doch ein recht präzises Bild. Man kann sogar vermuten, daß Schleiermacher aufgrund der Ausführlichkeit und thematischen Relevanz des ersten Teils in Schwierigkeiten geraten sein mag, den zweiten

Teil noch genügend umfangreich und eigenständig zu gestalten. Da zudem die Emphase der »Regeln des Verstandes fürs Leben« (470,20) eher dem Schluß eines ganzen Textes als dem eines Teilkapıtels angemessen ıst, ge113 Denkmale 47; belegt in KGA I/1, LXIV.

I14KGA 11, LXV.

3. Rückblick winnt man auch

393

formal fast den Eindruck eines abgeschlossenen, abgerun-

deten Werkes. Zunächst bedingt die Beschreibung der menschlichen Natur bereits eine Abhängigkeit der Realisierung der Tugend vom Streben nach Glückseligkeit

und von gegebenen Möglichkeiten zu dessen Befriedigung. Das anthropologisch-universale Bedürfnis nach einem ausgeglichenen, ohne Extreme und Einseitigkeiten angenehmen Seelenzustand und einer dieser gemäßen und förderlichen Lebenssphäre bereitet gleichsam das Terrain für eine Ausbreitung der orientierenden Kraft des zwar allgemeingültigen, aber nicht allgemeingeltenden Verhaltenskriteriums der Tugend über immer mehr See-

lenteile, Entscheidungsmomente,

Lebensbereiche!!5.

Glückseligkeit wirkt

dann nicht nur als Steigerung der Motivation zum Guten, sie schafft bzw. gestaltet vielmehr den Raum, in dem Tugend wirklich werden kann, sie ist gewissermaßen

das Transport- und Realisierungsmedium

der Tugend,

Die

Phänomenologie der Sphären möglicher Glückseligkeit gewinnt so den Charakter einer Theorie derjenigen Bereiche, in die Tugend hineinrealisiert wird, oder, abstrakter gesprochen, einer Theorie der Inkulturation des All-

gemeinen!1®, Allerdıngs kommt ım Fall der Tugendübung zu den vermeintlichen Differenzen hinsichtlich der Ausstattung mit förderlichen oder hindernden Faktoren als spezifisches, und gemäß der geleisteten Auflösung jener Differenzen als das recht eigentlich einzige wirkliche Hindernis der Ausbreitung der Tugend das Böse hinzu, das ın der »Versuchung« besteht, daß der Mensch »irgend etwas, das seiner Neigung schmeichelt, demjenigen vorziehen möchte, was er als gut und dem Willen Gottes gemäß erkannt hat«11?,

Diese Versuchung einer bewußten Entscheidung für die tugendwidrige Lust!18 wohnt freilich »allen Verhältnissen des Lebens in gleichem Maaß«

innel19, ebenso wie nach Schleiermachers Überzeugung jede Lebensstellung auch »Mittel an dıe Hand« gibt, sich aus der Versuchung »herauszuziehn«120, Zu diesen Mitteln, den Willen für eine Determination durch die Tugend zu öffnen und offen zu halten, zählt nun die einer tugendgemäßen Glückseligkeit förderliche Einrichtung der Welt und der menschlichen 115 Dies entspricht völlig der Bestimmung vgl. oben Kap. 4, 1.4.

der Funktion der Glückseligkeitsiehre in hG;

116 ygı. oben 2.4.4.

117 sw I1/7, 144. 118 vg, dazu insgesamt die Ausführungen von C. Meier-Dörken, a.2.0., 87-91.

I19sw 7, 144. 120 End.

394

Ill. Lebenssphären - Kap. 6. «Ueber den Werth des Lebens«

Fähigkeiten, dıe in der Religion zudem kompakt thematisch wird. Gewinnt deshalb zwar die Beschreibung des Lebens hinsichtlich der Tugendübung stärker den Charakter eines beständigen Kampfes - mit dem Psalmisten:

»Mühe und Arbeit« -, eines permanenten Auf und Ab, das unablässige Konzentration und Bereitschaft verlangt, so vollzieht sıch dieser doch ın den Sphären, die dıe phänomenologische Betrachtung abgesteckt hat. Der Aspekt der Sittlichkeit fügt diesen material nichts hinzu. Angesichts des Charakters des Textes als Selbstbetrachtung eines sıch von allen momentanen Umwelteinflüssen abschottenden Individuums überrascht, daß unter diesen Betätigungssphären und Resonanzfeldern die Geselligkeit durchgängig eine besondere Heraushebung erfährt. Die isolierte Reflexion auf sich selbst führt also gerade zur Einsicht in die konstitutive Bedeutung der Sozialität für die Genese und Bildung des Selbst überhaupt wie für die Entfaltung und Betätigung aller einzelnen Seelenvermögen ın den je konkreten Akten, worin sich diese Genese vollzieht. Dies dokumen-

tiert sion die die

der Text in zweifacher Hinsicht: Zum einen betont er die Sozialdimenaller Tätigkeitsarten der Seele - was am deutlichsten da wird, wo er Relevanz der kontingenten Oberflächenwirkungen der Außenwelt für Selbstbildung ausschließlich anhand gesellschaftlicher Differenzen

thematisiert!21; zum anderen behandelt er von diesen Betätigungsarten und -feldern

durchgängig

das

gesellige

Empfinden

und

die

gesellige

Sphäre

besonders ausführlich. Er schreibt der Geselligkeit eine besondere Nähe zur

Tugend zu!?2 und fächert zugleich die vielfältigen Formen sozialen Lebens auf, in denen auf jeweils spezifische Weise Glückseligkeit möglich ist!23; daraus }äßt sıch schließen, daß die Geselligkeit in eminentem Maße Gelegenheit zu einer von Vergnügen begleiteten Tugendübung und also zur Ent-

faltung von »Humanität« (457,13) gibt. Dabei gewinnen als die intensivsten und die Beteiligten am umfassendsten beanspruchenden Gestalten sozialer Beziehung Häuslichkeit (Familie, Ehe) und Freundschaft geradezu den Rang eines anthropologischen ldeals und eines Leitbildes für ein erfülltes und bestimmungsadäquates Dasein der Individuen. Dieser Rang wird auch nicht dadurch geschmälert, daß Schleiermacher um seines Beweiszieles der

Rechtfertigung des Schicksals willen die die Realisierung dieses Ideals faktisch verhindernden oder behindernden Faktoren bzw. die selbst diesen Lebensformen an sich selber unvermeidlich innewohnenden Glücksminderungen herausarbeitet: die faktischen Deformationen des gesellschaftlichen 121 vgl. oben 2.4. 122 Vgl. oben 2.1. unter (5).

123 vg1. ebd.

3. Rückblick Zustandes

überhaupt;

das

diesen

395

Deformationen

korrelierende

konträre

Leitbild von Sozialität als das Feld der Instrumentalisierung von Gesellschaft und Staat für die eigenen egoistischen Interessen; die ständischen und konventionellen Barrieren, die den innigen und gleichberechtigten Zusammenschluß Gleichgesinnter zu verhindern imstande sind oder aber umgekehrt in Verbindungen mit Ungeliebten hineinzwingen oder überhaupt jede Geselligkeit in den Fesseln der Etikette ersticken; die Aufwendigkeit und Labilität des Prozesses des Miteinandervertrautwerdens

und der Erhaltung

des gewonnenen wechselseitigen Vertrauens und infolgedessen die Seltenheit des Eintretens bzw. der Dauerhaftigkeit glücklicher Freundschaftsbeziehungen oder Familienverhältnisse; schließlich das gerade aus Zuneigung erwäachsende Leid am Leid der Menschen, mit denen man so innige

Gemeinschaft pflegt. Versperrt diese illusionslose Betrachtung auf der einen Seite den Weg in eine undifferenzierte Verallgemeinerung der Leitvorstellungen von Freundschaft und Liebe auf alle Sozialbeziehungen und deshalb in

überzogene

und

unrealistische

Erwartungen

an

das

geselischaftliche

Leben und nötıgt zur Entwicklung nüchterner, Funktion und Eigenart der verschiedenen sozialen Sphären berücksichtigender Regeln für den Umgang mit Anderen!2®, so führt auf der anderen Seite das Postulat der in allen Lebensbereichen

langen,

gegebenen

allgemeinen

angesichts der beobachteten

Zustandes

der

Gesellschaft

(und

Chancengleichheit,

Deformationen

dabei

namentlich

Glück

zu er-

des zeitgenössischen des

machtbesitzenden

Hofes und der tonangebenden aufgeklärten Bildungsschicht) Schleiermacher dazu, die Möglichkeit des nach dem Leitbild von Familie und Freundschaft gestalteten geselligen Glücks von allen spezifisch europäischen (und beson-

ders aufklärerischen, auf Verstandesbildung bezogenen) Voraussetzungen abzukoppeln und in allen Kulturen und Schichten zu verorten. Die Nähe dieser Konzeption zur Freundschaftstheorie der Arıstoteles-

Anmerkungen liegt am Tagel25. Die dort entwickelte komplexe Konfiguratıon von wechselseitiger Beobachtung der Sittlichkeit und Individualität des je Anderen und von wechselseitiger Kommunikation des Beobachteten ineins mit der wechselseitigen Selbstoffenbarung und Mitteilung von Selbstbildern zum Zwecke der freudebringenden wechselseitigen Bereicherung durch immer neue Eindrücke und der wechselseitigen Förderung

124 je »Regeln des Verstandes fürs Leben« (470,20) bestehen zu großen Teilen aus Ratschlägen zur Austarierung von Engagement und Distanz im geselligen Verkehr. Vgl. oben 1.6. 125 Vgl. dazu schon oben 2.6.

396

1ll. Lebenssphären - Kap. 6. »Ueber den Werth des Lebens«

tugendhafter Lebensführung26 kehrt hier wieder, besonders auffällig in der Beschreibung der intimsten Funktion der Geselligkeit, des Austausches von

Beobachtungen der Beteiligten!?’.

Vertieft und bis in die feinsten Ver-

ästelungen des Phänomenbestandes ausgeweitet ist dabei das Verständnis dessen, was in der geselligen Kommunikation beobachtet und mitgeteilt und was ebendabeı

selber gebildet wird, d.h., was die Chiffre Individualität in

sich begreift!28, Hinzugekommen ist auch ein elaborierter Begriff von der Bestimmung des Menschen, der in der Doppelung von Tugend und Glückseligkeit sowohl die Kopräsenz von Versittlichung und Individualitätswahrnehmung in der Freundschaftstheorie zu integrieren vermag als auch der dort zugrundegelegten Anthropologie von Selbstand und Bedürftigkeit ent-

spricht. Deutlicher offenbar geworden sind freilich ebenso die Grenzen der die Wahrnehmung und Mitteilung und insofern das Teilen der Fülle der individuellen Lebensäußerungen intendierenden Sozialformen und die Notwendigkeit weniger anspruchsvoller und aufwendiger gesellschaftlicher Interaktionen samt eines jeweils genau auf sie abgestimmten Verhaltens, wobei das Unmittelbarkeits-, Aufrichtigkeits- und Egalitätsideal der Freundschaft nur als subkutane VWeränderungsdynamik tendenziell zur Wirkung kommen kann. Doch trägt gerade dıes zur Erhöhung der Realıstik einer Beschreibung von Individualität bei, die diese nicht als reine Selbstbe-

ziehung, sondern als in und aus Kontexten sich bildend und gebildet begreift und deshalb als ihr Korrelat einer möglichst umfassenden und komplexen Theorie der (vor allem sozialen) Wirklichkeit bedarf. Darf bei dieser Übereinstimmung

auch die Grundkonstellation

der Ari-

stoteles-Anmerkungen, wonach der individuellen Versittlichung die drei fördernden Instanzen Religion, sittliches Gefühl und Freundschaft zugeord-

net sind, auf die Konzeption von WL übertragen werden!2?, so ist dennoch der in der großen Freiheitsschrift entwickelte Einspruch zu beachten, daß die Zurechnung von (Un-)Sittlichkeit unabhängig ıst vom faktıschen Gegeben-(gewesen-)Sein dieser Instanzen. Doch ist die Konsequenz daraus, daß

es nämlich keine definitiv Sittlichkeit verunmöglichenden Lebensumstände gibt bzw. daß jedenfalls die Verantwortung für das eigene Tun nicht auf solche Umstände abgewälzt werden kann, in WL sogar noch auf die Glückseligkeit ausgeweitet worden und umfaßt mithin die gesamte Bestimmung des Menschen:

Nicht nur wer untugendsam,

126 Vs]. oben Kap.

sondern

1, besonders 2.5.

12T vgl. oben 2.5.3. 128 Vol. dazu auch ÜdS; oben Kap. 3, 2.

129 Zur Religion vgl. die genannte Predigt SW 11/7, 135 - 152.

wer auch nur unzu-

3. Rückblick frieden ıst, hat es sıch selbst zuzuschreiben.

397 Ebenso wenig wie dıe Indivi-

dualität unabhängig ist von Zeit und Umständen, verschwindet sie in diesen. Es ist das Interesse an der Aufrechterhaltung, an der immer perspektivenreicheren phänomenalen Beschreibung und ım Gefolge davon an der immer präziseren begrifflichen Fassung dieser Bipolarität, was die Spannung gründet,

und

die Dynamik

von

Schleiermachers

Theorieentwicklung

be-

Siebentes Kapitel Historie und Recht als Faktoren von Selbstwahrnehmung und bestimmungsorientierter Existenz

Einleitung Im

Zusammenhang

seiner

Tätigkeit

als

Schulamtskandidat

in

dem

von

Friedrich Gedike geleiteten Königlichen Seminarium für gelehrte Schulen in Berlin (von September 1793 bis April 1794) hatte Schleiermacher regelmäBig schriftliche Ausarbeitungen zu pädagogischen, philologischen oder auch allgemein wissenschaftlichen Fragen anzufertigen, die in der »pädagogischen« oder der »Philologischen Sozietät« oder »Gesellschaft«! des Semina-

rums im Kreise des Kandidaten- und Lehrerkollegiums vorgetragen und diskutiert werden sollten und die auch für dıe halbjährlich erfolgende schriftliche Beurteilung des Kandidaten durch den Direktor ein wichtiges Moment darstellten?. Neben der rein philologischen und deshalb hier nicht zu behandelnden »Abschrift und textkritische(n) Erörterung von Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 2, 86 - 93« über Aristipp? gehören dazu die Abhandlung »Über den Geschichtsunterricht«* und der lateinische Text »Philosophia politica Platonis et Aristotelis«.

Zwar

handelt es sich dabei

um Pflichtaufgaben, und die Abhängigkeit vom Urteil Gedikes ist als mögliche Einschränkung der Freimütigkeit immer in Rechnung zu stellen; aber auf der anderen Seite sollten diese Ausarbeitungen nach Gedikes Vor-

stellung die Resultate eigenständigen »Privatstudirens«° dokumentieren und waren

I

hinsichtlich Wissensgebiet und Themenstellung völlig frei; überdies

F, Gedike,

Schulschriften.

2 Bände.

Berlin

1789

- 1795.

Band

KGA 1/1, LXXIV.

a

KGA 1/1, 487 - 497.

N

KGA 1/1, 473 - 485. KGA I/l, 499 - 509.

mn

a

Vgl. KGA I/1, LXVII.

Gedike, Schulschriften 2, 128f., zitiert nach KGA V/I, LXVIL.

2,

127f.

Zitiert nach

Einleitung

399

wird diese Freiheit dadurch belegt, daß Schleiermacher in der Schrift über die politische Philosophie ohne Bedenken als Sachkriterium der Beurteilung

diejenige restriktive Funktionsbestimmung des Staates einführt, die Kant in dem Aufsatz »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«’ entwickelt hatte - einer Schrift, die bekanntlich den Unwillen des preußischen Königs erregte®. Es spricht daher nichts

dagegen,

diese

Texte

im

Zusammenhang

von

Schleiermachers

Theorieentwicklung zu interpretieren - solange sich nicht bei der Interpretation selbst Einsichten ergeben, die zum Vorangegangenen oder zum Folgenden völlig disparat sind. Für die Schrift »Über den Geschichtsunterricht« gilt das keineswegs: In der Thematik der individuellen Selbsterfassung steht

sie in großer Nähe zu der Abhandlung »Ueber den Werth des Lebens«®, erweitert aber die für die Selbsterfassung relevanten Faktoren um die Geschichte insbesondere des eigenen Volkes, aber auch der Menschheit insgesamt (1.}. Schwieriger ist die Kontinuität festzustellen bei der Arbeit über die platonische und aristotelische Politik (2.): Hier scheint die Ausdifferen-

zierung des Rechtes aus der Sittlichkeit bzw. der menschlichen Bestimmung und die Begrenzung der Aufgabe des Staates auf die Unterstützung - statt auf die Lenkung und Normierung - der je individuellen bestimmungsadäquaten Lebensführung etwas völlig Neues darzustellen, das dem sozialtheoretischen Ansatz bei den intersubjektiven Verständigungsprozessen widerstreitet - zumal die arıstotelische Homogenität von freundschaftlicher

und bürgerlicher 506,19).

Verbindung

ausdrücklich

kritisiert wird

(vgl.

505,29

-

Aber abgesehen davon, daß die Disjunktion von Moral und Recht

seit Christian

Thomasius

wenn

nicht

gängige

Meinung,

so doch

eine

bekannte These in der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts war, hat ihr Schleiermacher schon ın den Aristoteles-Anmerkungen durch die

Unterscheidung zwischen freundschaftsinterner und gesellschaftlicher bzw.

?

8

Erstveröffentlicht in: Berlinische Monatsschrift 22 (1793), 201 - 284; Ak 8, 273 - 313; Weischedel, Band 9, 125 - 172.

Dabei spielt es keine Rolle, daß Kant den diesbezüglichen Briefwechsel mit Friedrich Wilhelm

II.

erst

nach

dessen

Tod,

ın

der

Vorrede

zum

»Streit

der

Facultäten«

(Königsberg 1798), publik machte (Weischedel, Band 9, 267 - 274). Jedem Verständigen mußte schon vorher klar sein, daß Kants Forderung der Iıterarıschen Meinungsund Publikationsfreiheit - damit begründet, daß die Obrigkeit selbst an Informationen über mißliche Folgen ihrer Gesetzgebung und überhaupt an deren Verbesserung interessiert sein müsse - ın dıametralem Gegensatz zumindest zur offiziellen Kirchen- und Religionspolitik (Wöllnersches Edikt; verschärfte Zensur) stand. 9

Vgl. oben Kap. 6.

400

III. Lebenssphären - Kap. 7. Historie und Recht

juridischer Beurteilung und Sanktionierung individuellen Fehlverhaltens!®, vor allem aber in der großen Freiheitsschrift durch die Unterscheidung von situationsunabhängiger sittlicher Zurechnung und situationsbezogener und -interessierter sozialer Wahrnehmung!! vorgearbeitet. Waren dort freilich Recht

und

Moral

als

allgemeine

Instanzen

dem

Individualitätsinteresse

gegenübergestellt worden, so daß ihre Differenzierung unterbestimmt blieb, so entwickelte die Schrift »Ueber den Werth des Lebens« einen Begriff von der Bestimmung

des Menschen,

die die Moralität stärker an die Individua-

litätsbildung zurückband!? - nicht ohne dieser die Geselligkeit als herausgehobene Förderungsinstanz und Realisierungssphäre zuzuordnen. In dieser Konstellation wırd nun die Frage nach der Funktion überindividueller,

Individualität per definitionem

ignorierender

(ohne

Ansehen

der Person

urteilender) und gleichwohl machtvoll auf sıe einwirkender Institutionen, nämlich des Staates und seiner Justiz, für dıe Selbstbildung virulent, und so

läßt sich auch die Fragestellung der philologisch-politischen Abhandlung als konsequente Weiterentwicklung ın den Umkreis von WL integrieren. Allerdings ist zu fragen, inwiefern die hier vorgenommene Funktionsbestimmung des Staates selbst vereinbar ist mit Schleiermachers späterer Integration des Staates in ein organologisches Konzept der Ethik und mit

der damit verbundenen Ablehnung eines liberalen Staatsverständnisses etwa Humboldtscher Prägung (»Nachtwächterstaat«), zumal diese Ablehnung bereits in WL (und schon in den Aristoteles-Anmerkungen!) ın der Kritik einer Instrumentalisierung des Staates für die partikularen Eıigeninteressen vorgebildet ist!3.

I. Geschichtliche Integration der Selbsterfassung: »Über den Geschichtsunterricht« Die Abhandlung »Über den Geschichtsunterricht« ist als pädagogische Arbeit entstanden und dokumentiert ohne Zweifel Schleiermachers hohes Interesse an und sein großes Problembewußtsein bei pädagogischen Fra-

IO vgl. oben Kap. 1, 2.3. Il vgl. oben Kap. 5, 3. l2 Vgl. oben Kap. 6, 1.4. und 1.5. 13

Vgl. oben Kap. 6, 2.2. unter (5).

1. »Über den Geschichtsunterricht«

40]

gen!#. Sie geht aber weit über schultheoretische und didaktische Überlegungen hinaus und bildet einen eigenständigen Beitrag zur Entfaltung und Weiterentwicklung von Schleiermachers sozial- und individualitätstheoretischer Ausgangskonfiguration. Ja, überhaupt iäßt sich von dieser her Schleiermachers pädagogisches Interesse ınsgesamt erklären. Denn die schulische

Bildung stellt (a) nur einen Spezialfall sprachlicher Verständigung dar, für die Schleiermacher in dem Aufsatz »Ueber den Styl« ansatzweise eine

Theorie entwickelt hat!5. Dort spielt neben der Verständlichkeit auch die Weckung

des Interesses für das Mitgeteilte eine wichtige Rolle für das

Gelingen der Kommunikation.

Wenn

Schleiermacher jetzt als das Interesse

der Schüler an der Geschichte die Erkenntnis des So-geworden-Seins des »jezige(n) Zustand(s) der Menschen« (493, 14f.) namhaft macht, so stellt er es (b) in den

Zusammenhang

des Konzeptes

realistischer Selbsterfassung

qua biographischer Rekonstruktion, das die Selbstreflexionen ın der Schrift

»Ueber den Werth des Lebens« bestimmte!®, Die Aussagen über Abläufe, Strukturen und Dependenzzusammenhänge ın der Geschichte weisen überdies (c) zurück auf das Konzept der Wirklichkeit überhaupt als Kausalkon-

tinuum interdependenter Reihenbildungen in der großen Freiheitsschriftl?. An diesen drei Hauptbezügen soll sich denn auch die Interpretation des Textes orientieren, Zu ihnen gesellen sich die Aspekte zum einen des offensichtlichen Interesses Schleiermachers an der Systematisierung des Wissens bzw. der internen Änordnung des Stoffes einer Wissenschaft, zum anderen

der Behandlung spezifisch geschichtswissenschafilicher Probleme)®, schließlich der Erörterung didaktisch-merhodischer Fragen des GeschichtsUnterrichts im engeren Sinn.

Schleiermachers lebenslange Beschäftigung mit der Pädagogik manifestiert sich ın vielen Teilen seines philosophischen und theologischen Werkes, etwa der »Praktischen Theologie« und der »Christlichen Sitte«, vor allem aber ın mehreren eigenständig pädagogischen Arbeiten, die ın einer Edition von E. Weniger zusarnmengestellt zugänglich sınd (2? Bände,

Frankfurt/M

- Berlin - Wien

1983/84);

dort (Band 2, 37 - 44) auch die

Erstpublikation des hier zu behandelnden Aufsatzes. Vgl. oben Kap. 3, 2. Dort auch dıe Rückbezüge auf die Aristoteles-Anmerkungen. 16

Vgl. oben Kap. 6, 1.

17

Vgl. oben Kap. 5, 6.

18

Diesen Aspekt beleuchtet ausführlich K. Nowak: Theorie der Geschichte. Schleiermachers Abhandlung »Über den Geschichtsunterricht« von 1793. In: G. Meckenstock; J. Ringleben {Hg.}: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums. Festschrift für A.-J. Bırkner.

Berlin - New

York

1991, 419 - 439.

402

III. Lebenssphären - Kap. 7. Hıstorie und Recht

1.1. Historie als Rekonstruktion der Genese »dessen, was ist«

Die Unbeliebtheit des schulischen Geschichtsunterrichts verdankt sich Schleiermacher zufolge einer falschen Zweckbestimmung: Denn sollen die Schüler lernen, »was nach und nach in der Welt geschehn ist« (492,25f.), so ist die Geschichte »unglüklicher Weise die Kenntniß dessen was richt ıst«

(492 ,27f£., Hervorhebung von mir) und erreicht die Herzen der Jugendlichen nicht, dıe doch »leben ın dem was ıst« (492,27) - ganz abgesehen davon, daß ein solches Geschichtsverständnis den Unterricht zu einem

Vortrag einer unabsehbaren Abfolge isolierter Fakten macht, der nur die Rezeptivität der Schüler beansprucht, ihre Selbsttätigkeit aber ungefördert läßt; der mangelnden sachlichen korrespondiert mithin eine ebenso defizi-

täre didaktische Motivation, die die Reizlosigkeit des Sujets noch potenziert. Dabei übersieht Schleiermacher die objektiven Schwierigkeiten der Vermittlung geschichtlichen Wissens keineswegs, daß zwar »bei Faktis« das »Einsehn »Ordnung«

(489,30f.),

(...) leichter [ist] als bei abstrakten Säzen«, hingegen die und der »Zusammenhang() derselben schwerer« zu behalten sei

weil

»die

eingesehene

Nothwendigkeit

der Verbindung«

als

Gedächtnishilfe nicht zur Verfügung steht (490, 1f.). Ebensowenig verkennt er die allgemeine Schwierigkeit, den »Eıfer der Jugend für irgend eine Wissenschaft« zu erwecken (490,27; Hervorhebung von mir). Denn zwar ıst es

»keine Kunst« (490,31), Jugendliche Annehmlichkeiten (,} dıe mit der Hervorhebung von mir) oder durch keit einer Wissenschaft kurzfristig

durch dıe Aussicht auf »Lust an äußern Erlernung verbunden sınd« (490,28f.;, den Aufweis der praktischen Nützlichfür den Unterricht zu animieren; allein

auf Dauer rächt es sich, die »Aufmerksamkeit« statt durch die »Sache selbst« (490,30) »durch Nebendinge zu fesseln« (491,6; Hervorhebung von mir), indem die Schüler im ersten Fall das mit Hintergedanken in Aussicht

gestellte Angenehme allzuwörtlich nehmen und als den eigentlichen Zweck mißverstehen oder im zweiten ihr Interesse an der Sache auf das ihnen nützlich Erscheinende limitieren (vgl. 491,8-17). All diese Schwierigkeiten können erst dadurch angegangen werden, daß den Schülern ein »erste(r)

Begrif« (492,21) von der Wissenschaft, also von der »Sache selbst« vermittelt wird, der ihnen etwa im Blick auf die Historie plausibel macht, daß eine unverzerrte und umfassende »Uebersicht über den Gang der Menschheit«

(491,25f.)

für das

Verständnis

ihrer

eigenen

Gegenwart

und

ihre

Orientierung darin von Bedeutung ist. Sie sollen mithin »lernen: wie der jezige Zustand der Menschen nach und nach entstanden ist« (493, 14f,, Hervorhebungen von mir), d.h. dıe Vergangenheit soll ım Lichte des Gegen-

wärtigen wahrgenommen

werden, als dessen »Grund« (493,31; Hervorhe-

I. »Über den Geschichtsunterricht«

403

bung von mir), der im Gegründeten real präsent ist. Geschichte ist dann »würklich dıe Wissenschaft dessen, was ist« (493,30, Hervorhebung von mir), und geht die Schüler deshalb unmittelbar an. Der Gedanke bei dieser Bestimmung des Nutzens der (nicht unmittelbar

utilitaristisch, sondern gerade um ihrer selbst willen vollzogenen) Historie für das Leben entspricht genauestens der Funktionsangabe der nach aligemeinen Kriterien erfolgenden biographisch-genetischen Rekonstruktion für die Selbstvergewisserung in der Schrift »Ueber den Werth des Lebens«!?. Er bereichert die dort vorgenommene Beschreibung der für dıe Selbstwahrnehmung relevanten Faktoren - die Formen von Tätigkeit und Erleben

sowie die diesen entsprechenden

Betätigungs- und Erlebens-Sphären?® -

freilich um die Dimension des geschichtlichen Geworden-Seins aller dieser Sphären ın ıhrer konkreten Gestalt und Zusammenordnung und der darın möglichen individuellen Seinsweisen und integriert damit dıe individuelle biographische Rekonstruktion in den Makrokontext der Geschichte des Volkes, Kulturkreises, schließlich der Menschheit überhaupt, ja legt die Folge-

rung nahe, daß die individuelle Biographie ohne deren Zuordnung zu diesen verschieden

weit

gespannten

Geschichtshorizonten

gar

nicht

zureichend

rekonstruiert werden kann. Nun hatte Schleiermacher ausdrücklich den selekriven Charakter der bıographischen Selbsterfassung betont und ausführlich nach angemessenen Kriterien solcher Selektion gesucht2!. Nach welchen Kriterien werden aber die für die Geschichtswahrnehmung und -darstellung relevanten Aspekte seligiert, und wie werden diese Kriterien gefunden? Ist die Geschichte eine

Funktion der Gegenwartsdeutung, so erscheint es sinnvoll, umgekehrt am »jezigen Zustand()« alles abzulesen, »was nur einen interessanten Vergleichungspunkt mit der Geschichte der vergangenen Zeit« abgibt (493, 18-20). Die Wahrnehmung der Gegenwart wird anschließend dadurch geschärft, daß der »muthmaßlich erste() Zustand der Menschen« (493,20f.) vorgestellt

wird. Denn der Kontrast der Gegenwart zur Vergangenheit macht auf die Besonderheit,

gegenwärtigen

die

Nichtselbstverständlichkeit

Faktizität

aufmerksam.

Diese

und

das

Gewordensein

Einführung

einer

der

fiktiven

Kontrastfolie?2 hindert auf der einen Seite daran, die an der Gegenwart ab-

19

Vgl. oben Kap. 6, 1.

20

Vgl. oben Kap. 6, 2.

21 Vgl. oben Kap. 6, 1. 22

Eine Abhängigkeit von Kants Aufsatz »Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte« (Weischedel, Band 9, 83 - 102) ıst ım übrıgen nicht zu erkennen. - Gattungsevolutio-

404

III. Lebenssphären - Kap. 7. Historie und Recht

gelesenen Aspekte unvermittelt in die Vergangenheit rückzuprojizieren; auf der anderen Seite ermöglicht die Annahme eines gleichsam leeren UTsprungszustands, die Genese der gegenwärtigen Ausdifferenzierung der »Gesichtspunkte()

aus

denen

sich

der

Zustand

der

Menschen

betrachten

läßt« (494 ,2f.) und die Abfolge der diesen »Hauptmomente(n)« (493,33) zuzuordnenden Ereignisse mit dem Anspruch der Vollständigkeit zu rekonstruieren, sie eröffnet mithin eine »Vorstellung von dem ganzen Umfang der Wissenschaft« (493,28) hinsichtlich des Zeitraums der zu erfassenden

Ereignisse, ebenso wıe sıe die Totalıtät der Sachgesichtspunkte für die Erfassung, also die Vollständigkeit der »Form« (493,32, Hervorhebung von mir) der Darstellung sichert.

1.2, Stetigkeit des Geschichtskontinuums und perspektivische Selektion gegenwartsrelevanter Ereignisse

Das Insistieren auf der Totalität der Menschheitsgeschichte impliziert im Kontext der Frage nach der Funktion und Plausibilität des Geschichtsunterrıchts, daß alle Ereignisse der Vergangenheit in irgendeinem Grad und irgendeiner Perspektive relevant sınd für das Verständnis der Gegenwart und für die Selbstwahrnehmung und Selbstorientierung der einzelnen in ihr,

mehr noch daß dıe Bedeutung der Einzelereignisse sıch erst erschließt durch ihre Stellung im - sich mit jeder Gegenwart weiterbildenden und verändernden und daher auch von dieser her jeweils wieder neu zu erschließenden Ganzen der Geschichte. Zugrunde liegt also die Konzeption eines vollständigen und lückenlosen Kontinuums der geschichtlichen Wirklichkeit, das insofern als /nterdependenz-Zusammenhang bezeichnet werden kann, als zwar die temporale Abfolge eine einlinige Abhängigkeit Ges Späteren vom Früheren indiziert, aber dıe Bedeutung eines Ereignisses - ohne welche es ein bloßes, ısoliertes, abstraktes und insofern realitätsloses Faktum wäre erst rekursiv aus seinem Zusammenhang mit dem Folgenden erhellt. Schleiermacher erörtert diese Unterscheidung zwischen (Kausal-) Konti-

nuum und Bedeutung durch dıe Unterscheidung von Ordnung und Zusammenhang von Ereignissen so, daß die Bedeutung eines Ereignisses nicht primär von seiner diachronen und synchronen Einordnung in ein lückenloses Kontinuum und damıt ın abgestufter Intensität von den näheren Ursachen stärker als von den entfernteren abhängt; vielmehr ist für die Deutung schon der Vergangenheit und genetischen Abhängigkeit eines näre Ausführungen finden sich allerdings bereits ın der Schrift «Ueber Gut«. Vgl. oben Kap. 4, 1.2.

das höchste

1. »Über den Geschichtsunterricht«

405

Ereignisses die Selektion relevanter Fakten, die auch zeitlich weiter zurück und räumlich weit entfernt liegen können, mithin die Etablierung und Rekonstruktion eines Zusammenhangs, der die Bedeutsamkeit des Ereignısses trägt, nötig.

Ein Ereignis ist also erst durch seine Integration in die je aus der Perspektive der Gegenwart betrachtete Totalität der Geschichte und durch die Selektion von für seine Bedeutsamkeit relevanten Faktoren konstituiert wobei jene Selektion eine Deutung des Ereignisses bereits voraussetzt und insofern der Totalintegration nachgeordnet ıst. Das heißt nıcht, daß der Zusammenhang das Kontinuum aufhöbe - auch die entfernteren Ursachen können

nur vermittelt über kontinuierliche Übergänge

wirksam

werden

-;

Schleiermacher erhält damit aber die Möglichkeit, unter der Totalıtät der beeinflussenden Momente Gewichtungen vorzunehmen, anstatt nur positivistisch die ununterbrochene Abfolge von Fakten zu referieren. Für die Anlage des Geschichtsunterrichts bringt dıeses Verständnis von Ereignis, Ordnung und Zusammenhang gewichtige Schwierigkeiten und Konsequenzen: Wenn die Einsicht in die Bedeutsamkeit einzelner Begebenheiten erst aufgrund der Erkenntnis des Ganzen der Geschichte möglıch ıst, dann muß der Erörterung des Einzelnen ein Überblick über das Ganze vor-

hergehen; wenn zudem Ereignisse nıcht primär durch ihren unmittelbaren Kontext, sondern durch ihren spezifischen Zusammenhang mit anderen Ereignissen konstituiert sınd, dann kann der Vortrag sıch nıcht darın erschöpfen, pedantisch und gleichförmig eine Begebenheit an dıe andere zu reihen. Schon der allgemeine Überblick über das Ganze muß deshalb die Fülle des Stoffes wenigstens grob strukturieren, indem er dıe großen Epochenschwellen benennt (vgl. 494,9-16), den »Charakter jedes Zeitraums und jedes Volks in diesem Zeitraum« vorher festsetzt (495, 1f.; vgl. 494,19-21)

und die »allgemeinsten Hauptbegebenheiten« (494,22f.) jeder Epoche, d.h., die diese in besonderem

Maße

prägenden

Ereignisse vorbringt.

Damit

ist

den Schülern ein Gerüst an die Hand gegeben, mit dessen Hilfe sie die in der nun folgenden zusammenhängenden Darstellung des Geschichtsablaufs vermittelten 'Fakten' selbständig in ıhrer Bedeutung für den bzw. ıhrer Stellung zum »Geist der Zeit« (495,5), also zum Charakter der jeweiligen Epoche beurteilen können. Diese Darstellung verbindet chronologische mit

»pragmatische(r}« (auf Einzelereignisse bezogener) Methode (vgl. 495, 8-11). Die Schüler können dabei sehen, »welchen Beitrag« die betreffenden Ereignisse zur Bildung der Epoche »geliefert« haben (495,4); sıe können aber auch

erkennen,

ob ein Ereignis eher noch

der vergangenen

Epoche

zugehört oder bereits auf eine zukünftige vorausweist oder auch nur kurzfri-

406

III. Lebenssphären - Kap. 7. Historie und Recht

stig und

folgenlos

aufglänzt

wie ein »vorübergehende(r)

Meteor()«

(495,

6f.). Es ergibt sich ihnen mithin eine höchst differenzierte und dynamisierte Geschichtsschau, die mit der "Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen' rechnen,

feine,

Teilbereichen

kaum

merkliche

Übergänge,

einer oberflächlich

(noch)

Verschiebungen,

homogen

Neuansätze

erscheinenden

in

Gesell-

schaft wahrnehmen, ineins mit den Übergängen und Veränderungen aber ebenfalls die Kontinuitäten der Entwicklung festhalten kann, Die strenge Hinordnung des Geschichtsstudiums auf die Gegenwartsdeutung ebenso wie umgekehrt die Bestimmtheit der Gegenwart durch das Ganze der Geschichte verhindert dabei, daß - unerachtet aller notwendigen Gewichtung - das Interesse der Schüler bei einer bestimmten Lieblingsperson, »Lieblings Nation und Periode« (495,13) zur Ruhe kommt, der propädeutische Über-

blick über das Ganze ermöglicht ihnen darüberhinaus eine kritische Außenperspektive auf eventuelle Einseitigkeiten der Darstellung durch den Lehrer - eine Außenperspektive,

dıe nicht möglich

wäre,

wären

sie allein auf

dessen sukzessiven Vortrag angewiesen.

1.3. Hinführung zu selbständiger Seibstorientierung

Die Vorschaltung eines Überblicks über das Ganze ist mithin keine bloße didaktische Kunstregel zur Verbesserung der Faßlichkeit des disparaten Stoffes; sie verdankt sıch aber auch nicht allein der immanenten Logik der Geschichtserkenntnis.

Sie hat vielmehr

ebenso eine präzise pädagogische

Pointe, die in direktem Zusammenhang steht mit der konstitutiven Funktion der Geschichtsbetrachtung für die individuelle Selbsterfassung. Denn mit dem gewissermaßen natürlichen Bedürfnis realistischer Selbstwahrnehmung ist dann immer ein Interesse an der Geschichte mitgesetzt, das zur selbsttä-

tigen Entfaltung erweckt werden kann. Dies wird deutlicher, wenn man sieht, daß Schleiermacher schon die Entwicklung des ersten Begriffs und des Strukturgerüstes der Geschichte nicht als Vorgabe des Lehrers einführt, sondern den Schülern zu finden selbst zumutet und zutraut. Er wendet sich dabei gegen das Vorurteil, die Jugend entbehre der »Fähigkeit (,) ein Interesse am Systematischen zu fassen« (492,5f.), und müsse durch äußerliche

Anreize dazu motiviert bzw. durch den Vortrag des Lehrers dazu instruiert werden, Bildung bedeutet so nicht autoritative Vermittlung von Wissen, sondern Katalysieren der im Jugendlichen gegebenen Fähigkeit zur selbstän-

digen Orientierung über die eigene Stellung in der Welt, die eigene Aufgbe und die eigene Bestimmung. Die Förderung des "Selbstdenkens' entspricht nämlich

insofern

der menschlichen

Bestimmung,

als diese dıe Unvertret-

2. »Philosophia polıtica Platonis et Arıstotelis«

407

barkeit und je individuelle Perspektive jener Orientierung impliziert, wobei gerade das individuelle Interesse an realistischer Selbsterfassung die Entwicklung 'unparteiischer', überindividueller Wahrnehmungs- und Beurtei-

lungskriterien und systematischer, d.h. die Totalität des Materials umfassender und methodisch transparenter Darstellungsformen erforderlich macht. Ebenso wie die materiale Ausdifferenzierung des schulischen Fächerkanons

(und darin des Geschichtsunterrichts) ist also auch die päd-

agogische Methode anthropologisch fundiert: Die Bestimmung zu selbsttätiger Selbstorientierung ım umfassenden Sinne und zur Selbstbildung, d.h.

zur möglichst ausgebreiteten Entfaltung aller Seelenvermögen??, trägt beide und bildet ihr Kriterium.

2. Staat, Recht - und bestimmungsgemäße individuelle Existenz: Die Abhandlung »Philosophia politica Platonis et Aristotelis« In der Abhandlung »Über den Geschichtsunterricht« erschien die Geschichte der »bürgerlichen Gesellschaften« (494,5f.), d.h. die Geschichte der Menschheit Sachaspekt

ım staatlichen Zustand (vgl. 494,11f.15f.), als so dominanter der Geschichtsbetrachtung, daß die »Einbildungskraft« als

»Hülfsmittel« bemüht werden mußte, »um die Einseitigkeit zu verhindern welche daraus entsteht daß die Geschichte gewöhnlich nur politisch behandelt wird« (495,31-33). Umgekehrt erörtert der lateinisch verfaßte, wiederum unvollendete Vergleich der Platonıschen und Arıstotelischen politischen Philosophie die Frage der Gegenwartsbedeutung der Behandlung

jener klassischen Positionen und ıst damit an die Problemlage des Geschichtsaufsatzes zurückgebunden. Diese inhaltliche Verzahnung der beiden Texte, die der formalen Analogie ihrer äußeren Entstehungsumstände zur Seite tritt24, ist freilich nicht die einzige Verbindung der politischen Abhandlung mit den anderen bisher behandelten »Jugendschriften« Schleiermachers und mit dem herausgearbeiteten Profil seiner Theorieentwick-

lung. Die zentrale Bedeutung des Begriffs der Bestimmung des Menschen

23

Schleiermacher »nothwendig=

betont, (!}

»die

»bei einem Vernunft

systematischen

durch

Aufsuchen

Gange von

des

Gründen

Unterrichts und

würden

Folgen,

der

Verstand durch das Subsumiren einzelner Dinge unter allgemeine Begriffe, die Einbildungskraft dusch das entgegengesezte Verfahren« - also durch das Suchen von Indıvi-

duationen und Konkretionen allgemeiner Begriffe - »oder durch das Erfinden neuer Kombınatsonen« beschäftigt (493,3-7; Hervorhebungen von mir).

24 Vgl. oben die Einleitung zu Kap.7.

408

Il. Lebenssphären - Kap. 7. Historie und Recht

(vel. 503,27; 504,2.16-18; Umkreis der Schrift »Ueber sozialen Vollzüge, die der äußerlich zu schützen, nicht

508,5f. u.ö.) stellt den Text vielmehr in den Werth des Lebens«; dies erlaubt in Staat nach Schleiermachers Vorstellungen aber zu normieren und zu erzwingen die

den jene nur Auf-

gabe hat, eine umfassendere Einsicht, als der spätere Text selbst gewährt. Plastischer wird dadurch, wie Schleiermacher durch seinen geselligkeitsund interaktionstheoretischen Ansatz dazu ınstand gesetzt wırd, die neuzeit-

liche Ausdifferenzierung von Funktionalisierung des Staates Wenn Schleiermacher sich jetzt schen Schriften des Aristoteles

Staat und Gesellschaft bzw. genauer die hin auf die Gesellschaft mitzuvollziehen. wieder der Interpretation der ethisch-politizuwendet, so bedingt das Bewußtsein der

epochebildenden Bedeutung jener Ausdifferenzierung eine ungleich stärkere

Distanz zu dessen Staatstheorie, als sıe zu seiner Freundschaftstheorie gegeben war, die allerdings von ıhrem Gegenstand - Nahbereichsinteraktion her 'zeitloser' war und so unmittelbare "phänomenologische' Applikation erleichterte (oder auch nur zu erleichtern schien). Der Vergleich mit der zur gleichen Zeit entstehenden Übersetzung und

Kommentierung der Aristotelischen Politik durch Johann Georg Schlosser? zeigt, daß dieses Distanzbewußtsein keineswegs selbstverständlich war. Schlosser

verwendet

nämlich

Arıstoteles'

Theorie

der

Herrschaftsformen

und ihrer Deformationen als aktuelles Kriterienraster zur Deutung und Kritik der Französischen Revolution und der damit verbundenen Auflösung der Einheit von Staat und Gesellschaft; er versucht so die im 18. Jahrhundert in

Deutschland dominante arıstotelisierende politische »Lehrtradition«26 und die dieser korrespondierende Leitkonzeption einer formıerten, aus »Gesell-

schaften« (Ständen) bestehenden?’ »Staatsgesellschaft« über die Krise der Revolution hinüberzuretten. Schleiermacher hingegen besitzt schon über die 25

„Aristoteles Politik und Fragment der Oeconomuk, aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und einer Analyse versehen«, Lübeck und Leipzig 1793 (Vorarbeiten seit 1789). Vgl. dazu M. Rıedel: Arıstotelische Tradition und Französische Revolution. Zur ersten deutschen Übersetzung der »Politik« durch Johann Georg Schlosser. In: Ders.: Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Arıstoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie. Frankfurt (M) 1975, 129% - 168. - Auch Christian Garve arbeitete an einem analogen Projekt, konnte jedoch nur die Übersetzung vollenden

(veröffentlicht

1799);

»Entwürfe

und

Bruchstücke

zum

Anmerkungsband«

(Riedel, 141) gab Georg Gustav Fülleborn 1802 heraus (»Die Politik des Aristoteles, übersetzt von Christian Garve, herausgegeben und mit Anmerkungen und Abhandlungen begleitet von Georg Gustav Fülleborn«, 2. Theil, Breslau 1802). - Schleiermachers eigene (Teil-JÜbersetzung ist noch unveröffentlicht {vgl. KGA U/L, LXXIVF.).

26 Riedel, a.2.0., 149. 27 Vgl. Riedel, a.2.0., 147 - 149.

2. »Philosophta polıtica Platonıs et Aristotelis«

sich als Alternative zur ständischen

Formierung

verstehende

409

und

stilisie-

rende Freundschaftstradition eın Interesse und eın Sensorium für das Zerbrechen jener Formen und für die Überwindung einer diese festhaltenden Theorie. Interessanterweise verknüpft sich bei der positiven Fassung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft der interaktionstheoretische Ansatz

mit Kantischem Rechtsdenken?3. 2.1. Die 'Historisierung' der Klassıker Die Behandlung von Platon und Aristoteles als Positionen der Vergangenheit bedeutet keineswegs eo ıpso den Verlust von deren Gegenwartsrelevanz. Diese ergibt sich freilich nıcht mehr aus der unmittelbaren sachlichen

Valenz der Theorien, sondern aus der Bedeutung der Geschichte überhaupt für das Verständnis und die Vergewisserung der Gegenwart und für die Orientierung darin. Entsprechend begründet Schleiermacher - in Übereinstimmung mit der in ÜdG entwickelten Funktionsbestimmung und Methodik der Geschichtsbetrachtung - den Nutzen der Erforschung der Antıke ım allgemeinen damit, daß dadurch die Gegenwart »gleichsam in einem Spiegel zu sehen« lerne, »welche Fortschritte das Menschengeschiecht seitdem gemacht hat oder inwieweit es beklagenswerterweise« hinter den damals

bereits erreichten Stand »zurückgefallen ist« (501,11-13)29.

Die Griechen

eignen sich als solche Kontrastfolie deshalb, weil sie »für uns die Urheber aller Weisheit und aller Annehmlichkeit des Lebens sınd« (501,13f.; Her-

vorhebung von mir); das gilt insbesondere für die Praxis und Theorie des »bürgerlichen Lebens« (501,14). Es ıst also die Beziehung auf den Ursprung der eigenen Kultur, was die historische Betrachtung der Antike

attraktiv und notwendig macht?", Für die politische Wissenschaft ist dieser Ursprung - wegen der Theorielosigkeit der frühen Gesetzgeber, wegen des Verlustes sehr alter Texte und wegen fehlender wissenschaftstheoretischer Reflexion bei manchen Autoren (vgl. 501,21-25) - erst bei Platon und Arıstoteles greifbar.

Schon die präzise historische Erfassung des 'Literalsinnes’ und des jeweiligen inneren Zusammenhanges ihrer Lehren begegnet aber erheblichen Schwierigkeiten aufgrund verschiedener Mängel der Durchführung bei

28

Es überrascht deshalb, daß Meckenstock in seiner Schleiermachers Auseinanderseizung mut Kant in den Jahren bis 1794 gewidmeten Arbeit diesen Aufsatz nıcht behandelt.

29

Zitate werden hier wie im folgenden in deutscher Übersetzung wiedergegeben.

36

Vgl. schon oben 1.1.

410

If. Lebenssphären - Kap. 7. Historie und Recht

beiden: Beı Platon nennt Schleiermacher die »poetische« und mithin begrifflich und argumentativ nicht ganz klare und konsistente »Weise des Philosophierens«, die die »Grenzen der menschlichen Dinge« transzendie-

renden und deshalb entsprechend der Kantischen Vernunftkritik keine sichere Erkenntnis gewährleistenden Mythen, die Verstreuung politischer Passagen »über drei oder vier untereinander kaum verbundene Bücher«, in denen »die Weise der Behandlung der Politik und das Ziel der Behandlung«

überdies »keineswegs jeweils identisch« ist (501,26 - 502,3)31; bei Aristoteles die nur scheinbare Klarheit der Definitionen und Schlüsse und deren permanente Revision, die Sprunghaftigkeit und Inkonsistenz der Argumentatıonsgänge, das Eindringen von schlechterdings Widersprüchlichem grund einer Anpassung an den Zeitgeist (vgl. 502,3-14). Sie können

aufalso

nicht aus sich selbst heraus als Systeme erfaßt werden. Nach Schleiermachers dem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis verpflichteter Überzeugung gewinnen Einzeleinsichten aber erst in einem vollständig bestimmten Zusammenhang

Wissenschaftscharakter.

Die Darstellung

muß

deshalb die

platonischen bzw. aristotelischen Texte einem ihnen selbst fremden Systemanspruch unterstellen, um sie verstehbar, untereinander vergleichbar und beurteilbar zu machen. Dieser Systemanspruch ist freilich keineswegs nur formal; er ist vielmehr verbunden

mit einer sachhaltigen Bestimmung

von Wesen

und

Auf-

gabe des Staates, die als normatives Kriterium der sachlichen Beurteilung der einzelnen Positionen fungieren kann. Selbst wenn sich mithin die fehlende Konsistenz als kontingentes Darstellungsproblem erwiese und eine

systematische Form der politischen Theorie rekonstruiert werden könnte?2, wäre damit noch nichts über deren sachliche Angemessenheit ausgesagt. Es ıst deshalb nicht unerheblich, daß Schleiermacher nicht nur den Systemanspruch, sondern auch das Sachkriterium der Darstellung und Beurteilung von der gegenwärtigen Staatsphilosophie entnimmt, und dabeı insbesondere von deren avanciertester Ausprägung, von Kant. Es setzt dies

nämlich die Überzeugung voraus, daß die politische Wissenschaft in der Gegenwart eine Qualität erreicht hat, dıe sie dazu instand setzt, als nicht mehr nur seinerseits historisch-kontingentes, sondern als zeitübergreifendsachadäquates Wahrnehmungs-

38

und Beurteilungsraster für historische Posi-

Schleiermacher selbst zieht neben der »Politeia« die »Nomoi« und den »Politikos« heran; der Bandherausgeber von KGA 1/I nennt ın der Anmerkung zu der Stelle als jene drei oder vier Bücher »Respublica, Critias, Leges, Minos« (KGA [/I, 502).

32 Wie sich zeigen wird, gelingt dies Schleiermacher bei Platon. Vgl. unten 2.3.

2. »Philosophia politica Platonis et Arıstotelis«

all

tionen zu dienen??. Eindeutiger als in den früheren Texten, etwa ÜdF, zeigt sich hier, da eine interne Meta-Kritik der gegenwärtigen Lehre selbst fehlt, ein Zäsurbewußtsein und eine Selbstzuordnung Schleiermachers zur

wissenschaftlichen Avantgarde?#,

2.2. Die Begründung des Staats auf das Recht und die Ausdifferenzierung von Staat und individueller anthropologischer Bestimmung Die politische Theorie {theoria politica; 502,22) ist nach Schleiermacher in der Gegenwart ein »wesentlicher (essentialis) Teil der praktischen Philosophie« (502,22f., Hervorhebung von mir). Denn unabhängig von allen Dif-

ferenzen hinsichtlich des Ursprunges der »Einrichtung Gesellschaft« (502,23f.; vgl. 502,23 - 503,2) erkennt er Konsens die Überzeugung, »ein festes und ewiges Prinzip der /dee des Rechts gesetzt«, die »aus dem Begriff des

der bürgerlichen als grundlegenden aller Politik sei in vernunftbegabten

Seienden (...) klar abgeleitet« sei (503,2-5). Diese vermeintlich bare Bestimmung impliziert eine massive Funktionsveränderung

unscheindes Staa-

tes, eine drastische Einschränkung der Zugriffs- und Einflußmöglichkeiten der Obrigkeit auf Weltanschauung und Lebensführung der einzelnen Untertanen.

Der Staat hat dann nämlich

nicht mehr

die Befugnis

und die

Aufgabe, der Gesellschaft und den Einzelnen ın ihr eine allgemeine anthropologische

Bestimmung

normativ

vorzugeben

und die Einzelnen

zu deren

Anerkennung zu nötigen und eine dieser gemäße und ınsofern tugendhafte Lebensführung zu erzwingen. Er hat vielmehr nur »mit Hilfe der gewaltund machtbewehrten Gesetze jedem seine Rechte gegen jeden unabhängig von

Zweifel

und

Gewalt

Einzelner«

zu sichern

(503,6-8).

Die

moderne

Staatslehre macht »über die gute oder böse Veranlagung des Menschen außerhalb des bürgerlichen Lebens« keine Aussage, sie hält nur fest, daß ohne »Gesetze und Öffentliche Herrschaft jedermanns Rechte immer der Gewalt und dem Irrtum Anderer ausgesetzt sınd« (509,13-15) und die Eın33

Die Notwendigkeit eines solchen sıtuationsunabhängigen Rasters schon für die aspektreiche Wahrnehmung, um so mehr aber für die Beurteilung der Vergangenheit hatte Schleiermacher ın WL ausführlich herausgearbeitet; vgl. oben Kap. 6, 1. (besonders

34

Freilich ist diese Zäsur in der Gegenwart auch hier keineswegs so scharf und eindeutig,

1.3.). daß man sie strikt zwischen Schulphilosophie und Kant ziehen könnte. So ıst etwa der $ystemanspruch bei der Darstellung historischer Positionen ein genuines Charakteristikum won Eberhards »Allgemeiner Geschichte der Philosophie= (vgl. oben Kap. 4, 1.5.3.2; vgl. auch Moxter, Güterbegriff, 54), und Kant wird auch nur als ein Beispiel für »unsere Philosophen« eingeführt (502,22).

412

III. Lebenssphären - Kap. 7. Historie und Recht

zelnen an der Verfolgung ihrer individuellen Ziele gehindert würden. Das machtbewehrte Recht dient also nicht der Normierung und Homogenisierung individueller Lebenspläne und Lebensführung, sondern geradezu der Sicherung der Realisierungsmöglichkeiten von Individualität. Insofern ist es notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung des individuellen ‘guten Lebens’ (vgl. 508,5f.),. Das bedeutet nun freilich gerade nicht, daß

die individuelle Lebensführung der völligen Willkür und Beliebigkeit überlassen wäre,

sondern nur, daß die Einsicht in die eigene Bestimmung

und

die dieser gemäße Existenz aus der Vormundschaft und den Zwangsmitteln des Staates entnommen und in die Zuständigkeit und Freiwilligkeit des Einzelnen übertragen sind.

Diese Befreiung der Lebensführung aus vorgeformten invariablen Orientierungen entspricht sehr genau dem bipolaren Begriff von der Bestimmung des Menschen selbst, wie ihn Schleiermacher in der Abhandlung »Ueber

den Werth des Lebens« entwickelt hatte3?. Denn auf der einen Seite sicherte dort die Tugend eine überindividuelle, situationsübergreifende Verbindlichkeit ın der Lebensgestaltung, die aber zugleich als öffentlich-allgemeine die Individuelle Einsicht und dıe Selbsttätigkeit des Einzelnen ansprach und so Autoritätsgründe

und

erzwungenes

Handeln

ausschloß.

Auf

der

anderen

Seite aber integrierte die Glückseligkeir indıviduelle Formen des Erlebens, kontingent-situative Bindungen ın den Begriff der mung und verortete dadurch diesen ınsgesamt -

menschlichen Bestimund mithin auch die

Konkretion der Tugendübung - am Ort des Individuums und seiner Lebenssphären. Das heißt nun aber, daß die Instanzen der Behinderung und Beförderung

bestimmungsgemäßer

Erlebenssphären nommenem

und

Lebensführung

deren je-gegenwärtigem,

in

diesen

Betätigungs-

je-perspektivisch

und

wahrge-

Zustand und deren kontingent-konkreter Konstellation zu finden

sind. Nach allem Bisherigen hat dabei die Gesellschaft, d.h. die Möglıchkeit oder Verhinderung freier, standesunabhängiger Vergesellung, sowie zu

deren Deutung die freundschaftstheoretische Leitkonzeption der kontingentsituativen wechseiseitigen Kommunikation eigener und fremder Individualität und wechselseitigen Förderung des Wissens und der Realisierung der Tugend entscheidende Bedeutung?®. Der Staat ist zwar auch in die Abfolge

der Konkretionsstufen der Lebenssphäre der Sozialität eingeordnet??, aber er hat - wie Schleiermacher jetzt deutlicher herausarbeitet - eben nicht die Funktion der unmittelbaren Förderung und schon gar nicht der Normierung 35

Vgl. oben Kap. 6, 1.5.

36

Vgl. oben Kap. 6, 3. und Kap. 1, 2.5.

37 Vgl. oben Kap. 6, 2.1. unter (5).

2, »Philosophia polıtica Platonıs et Arıstotelis«

413

bestimmungsgemäßer Lebensführung, sondern nur dıe der Sicherung jener Bedingungen, der Erhaltung der Lebens- und Funktionsfähigkeit jener

Instanzen und Medien, in denen sich diese Förderung vollziehen kann, mithin der vielfältigen Formen freier Vergesellung?®, sowie die Aufgabe der Gewährleistung der ungehinderten Betätigung der individuellen Begabungen.

Im historischen

Kontext führt dıes genau zu den Erwartungen

an

die Obrigkeit, wıe Kant sie in dem Gemeinspruch-Aufsatz formuliert: Sie soll alle Standesschranken aufheben (was sowohl die Freiheit der Gruppenbildung als auch den ungehinderten Zugang zu allen Berufen impliziert); sie

soll allen Einfluß auf die vor allem religiöse Meinungsbildung der Einzelnen aufgeben; besonders soll sie aber durch Gewährung der Publikationsfreiheit und Verzicht auf Zensur die Etablierung einer literarischen Öffent-

lichkeit ermöglichen, in der ein ungezwungener, uneingeschränkter Diskurs

über moralische und religiöse Fragen stattfinden kann??.

Allerdings ist

Schleiermachers Konzept der Geselligkeit gefüllter als das Kants; es enthält nicht nur den Diskurs über Sachfragen, sondern auch die Wahrnehmung und Kommunikation individueller Gesten, Empfindungen etc. - Eın derartıges Staatsverständnis entgeht auch der in WL vorgetragenen Kritik an

einem Staatsbegriff, der den Staat für dıe egoistischen Zwecke der Eınzelnen instrumentalisiert. Denn der Staat greift nach Schleiermacher zwar nicht in die individuellen Zwecksetzungen ein; er schützt diese aber nur so lange, wıe sıe nicht selbstbestimmte Lebensführung Anderer behindern, und begrenzt dadurch gerade die Partikularinteressen, er setzt mithin eine an nıcht-partikularen Standards sıch orıentierende Struktur der Selbstbestimmung als formale Bedingung zu duldender gesellschaftlicher Freiheit voraus, ohne selbst die materialen Konkretionen dieser Struktur zu determinieren.

2.3. Darstellung und Beurteilung von Platon und Aristoteles Anhand

dieser »Ideen« untersucht Schleiermacher

nun »die ersten Begriffe

der Politik und deren, wie man sagt, a priori gesetzten Prinzipien« (so die Überschrift des ersten - und einzigen - Teiles, 502,20f.) bei Platon und Aristoteles.

38 Zu diesen zählen auch Ehe und Familie, obwohl dies faktisch oft nicht der Fall ist. Vgl. oben Kap. 6, 2.2. unter (3).

39 Vgl. Kant, Gemeinspruch, 263 - 268 (Weischedel, Band 9, 160 - 163).

414

Ill. Lebenssphären - Kap. 7. Historie und Recht

2.3.1. Platon: Die Tyrannıs der Tugend Im

Gegensatz

zur Moderne#®

gehört nach

Schleiermacher

für Platon

die

Staatstheorie keineswegs norwendig zur praktischen Philosophie. Erst die Bestreitung der ın seiner Pflichten- und Tugendlehre behaupteten konstitutiven Bedeutung der »Ideen des Gerechten und Angemessenen« (iusti et aequi; 503,18) für die individuelle Glückseligkeit durch die Sophisten - dıe diese Ideen als Ideologie denunzierten, mit der dıe Mächtigen das Volk »Tuhig zu halten« (503,21) suchten, um desto ungestörter ihrem Eigennutz

nachgehen zu können (vgl. 503,19-25) - habe ihn dazu genötigt, »die 'ratio' des von der Natur den Menschen gesetzten Zweckes im Blick auf die Ein-

richtungen des bürgerlichen Lebens« zu untersuchen (503,27 - 504,1). Dabei lehrte er, »der Zweck des Staates seı derselbe wıe der jedes einzelnen recht

Empfindenden,

werden

und

was

zur

Bewahrung

der

Republik

eingerichtet

müsse, das befördere ın hervorragender Weise auch Tugend

Glückseligkeit der einzelnen Bürger« (504,16-18). zwischen Staatslehre und Ethik könne »nur ın verzerrten über das natürliche Ziel des Menschen oder über die schaft begründet« sein (504,5-7). Daß der Staat die

und

Eine Disharmonie Begriffen entweder bürgerliche Gesellindividuelle Selbst-

bestimmung freigibt und sich auf die rechtliche Absicherung dieses Freiraumes beschränkt, ist dann nicht mehr möglich, ja nicht mehr nötig; denn das autoritäre Handeln des Staates auf den Einzelnen als des Ganzen auf den

Teil entspricht dann ganz dessen recht verstandener Bestimmung. Der Staat ist denn auch die Totalität der das tugendhafte Leben der Einzelnen bedingenden und fördernden Faktoren; es erübrigt sich eine Unterscheidung zwischen ungeschriebenen, traditionellen Verhaltensregeln und Sitten, die auch schon

das

Zusammenleben

ım

vorbürgerlichen

Zustand

regeln,

und

ge-

schriebenem, positiven Recht, das erst den Übergang zum Staat markiert: Schon das gesetzlose Zusammenleben an einem Ort verdient den Namen des Staates, und die Ausarbeitung von Gesetzen ist »nicht früher angezeigt,

als wenn

den Menschen

der Sinn verkehrt ist und sie sich den Lastern

zuwenden« (509,8f.). Ganz konsequent stellt Platons Staatsideal »die bei weitem schlimmste Tyranneı von allen« dar (509,23f.), indem der Einzelne

den

das

Gestaltung

Ganze

repräsentierenden

bezweckenden

Führern

tugendhaften nichts

und

die

entgegenzusetzen

tugendgemäße hat:

Platos

Idealstaat ıst eine totalitäre Tyrannıs der Tugend.

40

Vom Sinn her ist die Annahme eines solchen Gegensatzes geboten. Der Text selber stellt hingegen mit »non secius« (503,12) eın Entsprechungsverhältnis her.

2. »Philosophia politica Platonis et Arıstotelis«

415

2.3.2. Aristoteles

Sehr viel ausführlicher behandelt Schleiermacher Aristoteles*!. vermöge

den Zusammenhang

zwischen

Auch er

Ethik und Staatstheorie nıcht als

notwendig auszuweisen: Die empirisch-klassifikatorische Abzweckung der »Politik«, »alles, was jemals zur Verbesserung des bürgerlichen Lebens sei es ın Staaten tatsächlich eingerichtet ses es von Platon und anderen erdacht

wurde, an einem geeigneten Ort zusammenzustellen und mit der kritischen Peitsche zurechtzuweisen« (505,5-7), bleibe der Ethik äußerlich, und auch seın

Versuch,

am

Ende

der

Nikomachischen

Ethik

(NE

X,10)

auf die

»Politik« als deren notwendige »Fortsetzung« vorauszuweisen, da »die meisten Menschen nicht durch Vernunft und Argumente, sondem nur durch Gewalt und positive Gesetze zur Tugend gebracht werden« könnten (505, 12-15), scheitere daran, daß die Ethik gar nicht zeige, »wie jemand andere zur Tugend führen könne, sondern in welchen Dingen die Tugend selbst

gesetzt sei« (505,17f,). Die Verbindung der Frage nach der Tugend mit der Frage nach deren Realisierungsbedingungen führt nach Schleiermacher jedenfalls nicht über die Staatslehre. Umgekehrt verbindet freilich der Staatsbegriff der »Politik« die Funktion des Staates mit der individuellen bestimmungsgemäßen Lebensführung, indem der Staat als eine Gesellschaft genau derjenigen Größe bestimmt ıst, die allen Einzelnen »alles zum guten Leben Notwendige bereitstellt« (506,11f.) und dıe insofern autark ıst (vel. 507,12), ım Gegensatz zu den in der umfassenden Gesellschaft des Staates

enthaltenen kleineren 'Gesellschaften' wie Familie und Dorf (vgi. 506,510). In dieser normativen

Ausrichtung auf das tugendhafte eu zen der Ein-

zelnen unterscheidet sıch das Arıstotelische Staatsverständnis nicht von dem des Platon und verfällt derselben Kritik (vgl. 508,17-23).

Die Bestimmung

des Staates als Gesellschaft nach Analogie interaktionszentrierter Kleingruppen verhindert zudem die Ausbildung eines spezifischen Staatsbegriffs in Unterscheidung zur Gesellschaft über das Medium des Rechts.

Allerdings spielt de facto das Recht

in Aristoteles‘

Staatstheorie eine

große Rolle, und er gelangt dabei zu Einsichten, die ihn zu einem angemesseneren prinzipiellen Staatsverständnis hätten führen können (vgl. 506,2022). So nennt er etwa die veränderte Herrschaftsform als das »sicherste Zeichen« für eine Veränderung des Staates selbst (vgl. 506,22-28). Ebenso

unterscheidet er die »bürgerliche Vereintgung« (unionem cıvılem) durchaus von einfachen Vertragsverhältnissen, indem sıe durch einen »allen gemein41

Die größere Intensität der Beschäftigung mit diesem zeigt auch die ausgearbeitete Über-

setzung an (vgl. oben Anm. 25).

416

IIl. Lebenssphären - Kap. 7. Historie und Recht

samen und für alles zuständigen Magistrat« charakterisiert seı (506,28 507,2; Hervorhebung von mir). Zudem zeigt die Ausgrenzung derjenigen, deren »Hilfeleistungen« für das 'gute Leben' doch »am meisten notwendig sind«, nämlich der Techniker (artium cultores), Handwerker und Tagelöhner, aus dem Staatsvolk, daß der Staat durchaus nicht alle das gute Leben

betreffenden Lebensvollzüge erfaßt (vgl. 507,5-8) und daß umgekehrt unter diesen Umständen die Totalıtät der Ermöglichungsbedingungen des eu zen nicht mehr den Namen einer umfassenden Gemeinschaft verdient (vgl. 507,10-13). Der Zusammenhang zwischen Autarkie, Gesellschaft und Staat ıst also brüchig. Mehr noch: In einer Art glücklicher Inkonsequenz lehrt Aristoteles selbst, allein diejenigen »konstituierten in Wahrheit« den Staat

im engeren Sinn, »in deren Macht die Verteidigung, die Beratung und die Rechtsprechung«

stünden

(507,15f.).

Von

hier her hätte er dazu

kommen

können, nicht mehr nur jene untergeordneten Tätigkeiten und Berufe, sondern überhaupt alle sozialen Vollzüge aus dem Begriff des Staates auszuschließen und diesen ganz von der Funktion der Sicherung der Freiheit jener Vollzüge durch Beratung, Gesetzgebung und Rechtsprechung her zu verstehen

(vgl.

507,16-19).

Der

Staat wäre dann

nicht

mehr

selbst eine

Gesellschaft, sondern eine spezifische Funktion für die Gesellschaft. Die anthropologische Notwendigkeit einer solchen durch die Institution des Rechtsstaates gesicherten und geregelten Vergesellungsform

habe Aristote-

les selbst bestätigt durch die Sentenz vom Menschen als zoon politikon von Natur

aus,

die allerdings

ohne

klare

Begründung

bleibe

(vgl.

507,29

-

508,5). Schleiermacher gelangt mit dieser Schrift einen wichtigen Schritt hinaus über eine rein am Freundschafts-Paradıgma orientierte Sozialtheorie und Anthropologie.

Zum

ersten

Mal

würdigt er dıe Bedeutung

des formalen,

von aller Individualität, aller personalen Interaktion abstrahierenden Rechtes für die soziale Existenz. Zugleich aber wird eben durch die geförderte

Formalität und Außerlichkeit von Recht und Staat der anthropologische Ansatz bei der Bildung des Selbst ın freier Vergesellung und Betätigung der

eigenen Fähigkeiten, in wechselseitiger Wahrnehmung und Förderung von Individualität geradezu in Kraft gesetzt; der Staat hat ja die Aufgabe, das freie Fließen sozialer Kontakte, Gruppenbildungen, Gruppenauflösungen etc. zu schützen und durch den Abbau rational (anthropologisch) nicht begründbarer Barrieren (Standesgrenzen) die Möglichkeiten personaler Interaktion zu vermehren. Die Schrift negiert mithin keineswegs die bisher

erarbeitete geselligkeitstheoretische Perspektive, den Ansatz bei der wechselseitigen, differenzierten, sich permanent anreichernden und in der Zeit

2. »Philosophia politica Platonis et Aristotelis«

modulierenden erhöhtem

Individualitätswahrnehmung;

sozialtheoretischem

Niveau

417

sie reflektiert

vielmehr

die Realisierungsbedingungen

auf einer

solchen Konzeption des sozialen Lebens. Wenn der traditionelle, metaphysisch stabilisierte 'ordo' einer Gesellschaft nicht mehr trägt, bedarf es anderer Instanzen, die ein völliges Zerfließen des Zusammenlebens ın ein momentbezogenes Attrahieren und Repulsieren verhindern und dıe Erwartbarkeit von Verhalten sichern, ohne aber die Freiheit der Vergesellung einzuschränken; diese Funktion übernimmt das Recht.

Schleiermacher hat die Beschäftigung mit rechtstheoretischen Fragestellungen im Zusammenhang der Interaktions- und Institutionentheorie fortgesetzt, besonders um

Fragmenten

den Notizen

und

zur Vertragstheorie®? sind dabei auch die »Gedanken«

1796 sogar intensiviert:

Neben

zur

rechtlichen Behandlung des Konkubinats im Vergleich zur Ehe*#? zu nen-

nen#®, Inwieweit diese Linie durch Schleiermachers Eintritt in den Kreis der Frühromantiker tatsächlich zurückgedrängt worden ıst zugunsten eines volleren Verständnisses intimer Verständigung, wird zu untersuchen sein. In dem behandelten frühen Text ist von einer Konkurrenz zwischen persona-

ler Interaktion und Recht jedenfalls nichts zu spüren,

42 KGA 172, 51 - 74. 43 KGA 12, 4,19 - 7,24. 44

Vgl. unten Kap. 9, 1.

45 So Nowak, Frühromantik, 286.

Vierter Teil

Metaphysik des Endlichen

Achtes Kapıtel Phänomenalität von Individualität, kulturelle Determination und unmittelbares Realitätsbewußtsein:

Schleiermachers Jacobi- und Spinoza-Studien

Einleitung Die literanschen Dokumente von Schleiermachers Jacobi- und SpinozaStudien!, die vermutlich im Winterhalbjahr 1793/94 während Schleier-

machers Aufenthalt in Berlin entstanden?, haben in der neueren Forschung zu Schleiermachers Frühwerk hohe Beachtung gefunden. Vor allem Eilert Herms? hat die epochale Bedeutung dieser Studien für Schleiermachers l

Schleiermacher konnte Spinoza nur aus der zweiten, um ausführliche »Beylagen« erweıterten Auflage von Jacobis »Uleber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herm Moses Mendelssohn« (Breslau 1789) studieren, da er sich keine Originaltexte beschaffen konnte {vgl. KGA

1/1, LXXVII;

vgl. Meckenstock,

Deterministische Ethik,

181).

Die erste Auflage dıeses Werkes hatte er bereits 1787 gelesen, aber Jacobıs unklare

Begrifflichkeit kritisiert und deshalb eine genauere Beurteilung erneuter Lektüre vorbehalten (vgl.

den Brief an den

Vater vom

14.8.1787,

KGA

V/L,

92:

Brief 80,

Z. 48-

52). »Spinozismus«, KGA V/1, 511 - 558. »Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems«, KGA 1/1, 559 - 582. »Über dasjenige in Jacobis Briefen und Realismus, was den Spin02a nıcht betrifft, und besonders über seine eigene Philosophie«, KGA 1/1, 583 - 597 (@Realısmus« ıst Chiffre für Jacobis Schrift: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch. Breslau 1787). - Zur (schwierigen) Datierung vgl. die Historische Einführung zu KGA Vt, LXXV - LXXXIU. Herkunft (1974),

119 - 163. - Dies zeigt, daß das Interesse für diese Studien nicht erst

durch die vollständige Edition der Quellen bewirkt werden mußte; denn Herms hatte neben Diltheys »Denkmalen« nur die Edition der »Kurzen Darstellung« in SW IIl/4.1., 283 - 311 (als Anhang zur »Geschichte der Philosophie«), die Teilveröffentlichung von »Spinozismus« durch H. Mulert (in: Chronicon Spinozanum. Den Haag 1923, 295 316) - der freilich Schlesermachers wichtige »Überlegungen zu Personalität und Individualität« fehlten (Meckenstock, KGA 1/1, LXXX) - und allerdings »eine Xerokopie der bisher unveröffentlichten Jacobiexzerpte« (Herkunft, 18) zur Verfügung. - Allerdings hat unabhängig von Herms zur gleichen Zeit auch E.H.U, Quapp (Christus im Leben Schleiermachers. Göttingen 1972) die Spinoza-Jacobi-Studien eingehend bearbeitet und

422

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobı/Spinoza-Studien

»wissenschaftliche() Biographie«* entschieden betont. Aber auch Quapp® stellt die Spinoza-Jacobi-Rezeption ins Zentrum einer umfassenden Interpretationsthese der Frühentwicklung Schleiermachers, indem er diesen »Vom

Herrnhuter zum Spinozisten« werden läßt (so der Untertitel der genannten Arbeit).

Sehr viel zurückhaltender

- ohne freilich die theoretische

Valenz

der Texte zu leugnen - urteilt Meckenstock’. Zurückhaltung scheint jedenfalls angebracht angesichts des Charakters und der Abzweckung dieser Texte. Sie sind teils Exzerpte, teils Kommentare zu Spinoza und Jacobı mit dem primären Interesse, deren jeweiliges »System« (563,3 u.Ö.), deren »eigene Philosophie« (585,3) zu rekonstruieren. Freilich tritt dabei die Intention hinzu, neben der Binnenkonsistenz auch die

Sachhaltigkeit jener Systeme zu überprüfen, was im Medium des Vergleichs mit anderen relevanten Systemen (im Blick auf Jacobi: mit Kant; im

Blick

auf Spinoza:

mit

Kant

und

Leibniz)

geschieht;

dabei

verweist

Schleiermacher an einigen Stellen auch auf sein eigenes System (vgl. etwa 525, 7£.). Die Interpretation steht deshalb vor der großen hermeneutischen Schwierigkeit zu identifizieren, welche Aussagen der historisch-systematischen Rekonstruktion fremder Theoriegebäude, welche der Etablierung einer eigenen Theorie zuzuordnen sind, oder noch fundamentaler: das Verhältnis von Rekonstruktion und eigener Theorie, oder die Funktion jener für diese zu klären. Das gilt besonders für die kurzen und kaum kommentierten Jacobi-Exzerpte. Wie gehen die genannten Autoren diese Schwierigkeit an? Während Quapp die positiven Aussagen in der »Kurzen Darstellung des Spinozistischen Systems« umstandslos als »Schleiermachers Lehre«® beansprucht und damit das Problem gewissermaßen im Handstreich eliminiert, begründet Herms ausführlich sein Vorgehen, den Einfluß Jacophis als den entscheiden-

den zu behandeln. Er hebt Schleiermachers spätere und durch zeitlich breit dabei sogar dıe Quellen erstmals vollständig - wenn auch unzureichend (vgl. Meckenstock in KGA

I/l, LXXX

und LXXXIIf.)

- ediert. - Die neueste ausführliche Behand-

=

Herkunft, 121.

tin

Vel. aber schon Dilthey, Leben Schleiermachers, 174 - 179, sowie Denkmale, 64 - 69.

SB

lung des Komplexes durch G. Meckenstock (Deterministische Ethik [1988], 181 - 217) erfolgte auf der Basıs der von ihm selbst besorgten Edition für die Kritische Gesamtausgabe.

Quapp, Christus, 232 und 233; Hervorhebung von mir.

Vgl. Anm. 3. Deterministische Ethik, 184.

Einleitung

423

gestreute Belege dokumentierte Hochschätzung für Jacobi hervor?, die es ihm erlaubt, Schleiermacher generell und dauerhaft ein Interesse an und ein sachliches Nähebewußtsein

zu Jacobis Philosophie als solcher zu unterstel-

len, Das ermöglicht ıhm, die quantitative Dürre der Jacobi-Exzerpte und das weitgehende Fehlen von Jacobi-Kommentaren auszugleichen durch Rückgriffe auf die von Schleiermacher gelesenen und exzerpierten Werke Jacobis insgesamt (also die Spinoza-Briefe und das Hume-Gespräch) und die aus diesen rekonstruierte Konzeption auf ihre Funktionalität für Schleiermächers »wissenschaftliche Biographie« hın zu überprüfen und somit Schleiermachers Jacobi-Rezeption auf breiterer Basıs zu erhellen. Das Schleiermachers Theoriebildung weiterführende Ergebnis dieser Studien, die (modifizierte) Übernahme von Jacobis Theorie der »unmittelbaren Realitätsgewißheit«, sucht er zu verifizieren durch den Aufweis von termi-

nologischen und sachlichen Veränderungen ın den Predigten dieser Entwicklungsphase!0. Die Spinoza-Kommentare liest er dann nicht als philosophiehistorische Darstellung, sondern als sachhaltige Explikation der im

Jacobi-Studium errungenen Einsicht!!. Im Gegensatz dazu betont Meckenstock

die dürftige Textbasıs

für so weitreichende

Schlüsse,

referiert

nur

kurz die wenigen ın das Jacobi-Exzerpt eingestreuten Anmerkungen Schleiermachers und verwendet dıe Jacobı-Studien überhaupt nıcht für die Interpretation der Spinoza-Texte. Diese versteht er vielmehr auf der einen Seite ganz als Vertiefung der »Auseinandersetzung des frühen Schleiermacher mit Kant«!2, strukturiert ihre Behandlung auch nach den an den vorangegange-

nen

Texten

gewonnenen

Schwerpunkten

(Deterministische)

Erhik

und

(Kritische) Theologie; auf der anderen Seite interessieren sie ihn zur historischen und sachlichen Aufhellung der ebenso auffälligen wie kryptischen

doppelten Nennung Spinozas in den Reden »Über die Religion«13. Die drei Interpretationen unterscheiden sich also deutlich durch die jeweils zugrundegelegte Referenztheorie: Spinoza, Jacobi oder Kant, Dabei überzeugt Quapps Spinozismus-These wegen ihrer Undifferenziertheit und hermeneutischen Unbekümmertheit kaum. Meckenstocks Geringschätzung der Bedeutung

der Jacobi-Exzerpte scheint hingegen

umgekehrt

das Argu-

Sie kulminiert 1819 in dem nur durch Jacobis Tod unausgeführt gebliebenen Plan, Jiesem dıe Glaubenslehre zu wıdmen (vgl. Herms, Herkunft, 122; M. Redeker: Einleitung zu: F. Schleiermacher: Der Christliche Glaube. 7. Auflage Berlin 1960, XXVD.

10 vgl. Herkunft, 136 - 138. I} vgl. Herkunft, 144. So ım Untertitel der ganzen Arbeit; Hervorhebung

13 Ygl. KGA 1/2, 213,26-33 und 245,9-25.

von mir.

424

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

ment der Dürftigkeit der expliziten Quellen überzustrapazieren - wenngleich ihm in seiner Kritik an Herms' Methode, Schleiermacher ein präsentes Wissen der (von Herms selbst herausgearbeiteten) Grundstruktur des 'Systems’ Jacobis als Ganzen zuzuschreiben, und an den äußerst weitreichenden

Schlüssen, die Herms aus der dergestalt unterstellten und rekonstruierten Jacobi-Rezeption für Schleiermachers Denkentwicklung zieht, zuzustimmen ist, zumal Herms' Belege aus den Landsberger Predigten einigermaßen un-

spezifisch wirken!*. Unerachtet dieser Bedenken hat Herms freilich völlig zurecht Schleiermachers artıkuliertes Interesse an Jacobis »eigene(r) Philosophie« aus dem Zusammenhang von Schleiermachers wissenschaftlicher Biographie und in Hinblick auf die mögliche Erklärungsleistung des JacobiEinflusses für die Bewältigung von Aporien und die weitere Durchbildung von Schleiermachers Denken untersucht. Allerdings ist zu fragen, ob die

Konzentration auf die Gewinnung der Einsicht der unmittelbaren Selbstund Objektivitätsgewißheit tatsächlich den Skopus und das Profil der Frühgestalt der Theorie Schleiermachers überhaupt trıfft und ob angesichts der Quellenlage der Nachweis der so frühen Erlangung dieser Einsicht im Zuge der Jacobi-Studien als gelungen gelten darf. Hier dürfte Meckenstocks

grobe,

aber

integrative Schwerpunktsetzung

näherhin seine Hervorhebung

Ethik

der Themenbereiche

und

Theologie

Personalität,

sowie

Individua-

lität und Kosmo-Theologie in den Spinoza betreffenden Texten dem Quellenbefund eher entsprechen. Die vorliegende Untersuchung geht für die Interpretation von Schleiermachers Jacobi- und Spinoza-Studien aus (A) von textinternen Indikatoren, die auch verweisen auf Momente der vorher entstandenen Arbeiten und daher als implizite Selbstkommentare entschlüsselt werden können, und (B)

vom im Bisherigen herausgearbeiteten Theorieprofil der Jugendschriften. (A) An solchen Indikatoren wäre zu nennen (1) Schleiermachers mehrmaliger affirmativer Hinweis auf seinen Determinismus, der vom völligen

Fatalismus wohl zu unterscheiden seı, ın den Spinoza-Kommentaren ebenso wie in den Jacobi-Exzerpten, wo er zwar nicht der Herleitung, aber dem Resultat der Jacobischen Thesenreihe zur Unfreiheit ausdrücklich beistimmt (vgl. 592,1). Dies belegt eine deutliche und bewußte Kontinuität zur Deter-

minismus-Konzeption der großen Freiheitsschrift!5, (2) bildet auch die fortdauernde intensive Beschäftigung mit Kant eine Konstante zu den (oben im 4. Kapitel behandelten) Arbeiten hG, FG und UdF und ermöglicht über 14 vgl. Herkunft, 138, Anm. 14. 15

Vgl. oben Kap. 5.

Einleitung

425

den Vergleich der jeweiligen Stellung zu Kant Aufschlüsse über Kontinuität oder Veränderungen des Denkens. Die aus Kantischen Motiven gespeiste

Leibniz-Kritik (3) Näßt hingegen Einblicke in Schleiermachers Verhältnis zur (Leibniz-Wolffschen) Schulphilosophie erwarten, von deren empiristisch angereicherter Spätgestalt in der Lehre Eberhards er ja ausgegangen war (AA;

noch

FG);

zudem

unterscheidet

sie sich auffällig von

der Leibniz-

Apologie Jacobisl®. Aus dem Bisherigen bekannt ist ferner (4) auch Schleiermachers systematisches Interesse für historische Theorienvergleiche (vgl. etwa hG). (5) schließlich weisen die thematischen und sachlichen Schwerpunkte der Jacobi- und Spinoza-Studien selber starke Bezüge zu den früheren Arbeiten auf: (a) Die von Jacobi betonte Determination des Menschen durch Kultur und Geschichte (vgl. 585,12-24) kommt Schleierma-

chers in WL entwickeltem und in ÜdG um die Dimension des Geschichtlichen vertieftem Konzept der Lebenssphären, ın denen sich das menschliche Dasein vollzieht und auslegt, entgegen.

Diesem evolutionären

Konzept der

Selbst-Bildung entspricht (b) dıe radıkale Phänomenalisierung von Personalität und Individualität, die Schleiermachers von hG an präsente Krıtik dogmatistischer Reste bei Kant selbst positiv fruchtbar macht für eine Theorie nicht-substantialer Selbstverhältnisse und Individualitätswahrnehmungen!’. Die radikale Scheidung von Phänomen- und Noumensphäre indiziert auch (c) dıe bleibende Präsenz der Kantıschen Erkenntniskritik, wıe sie sich zumal ın der Widerlegung von Hemsterhuis’ (und Jacobıs) Beweis der Realitätshaltigkeit der Gegenstandswahrnehmung äußert (vgl. 596,30 - 597,26). Auf der anderen Seite löscht die deterministische Option (d) die Virulenz des Problems von Freiheit und sittlicher Selbstbestimmung nicht aus, wie

gerade die Abgrenzung gegen den Fatalismus (vgl. 525,7-10) sowie das Abschreiben von Jacobis die Freiheit begründender Thesenreihe (vgl. 592,8 - 594,26)

knüpfenden

zeigen.

(e) Das Problem

unmittelbaren

des Selbst- und Realıtätsgewißheit ver-

Realitätsbewußtseins

als

eines

vorreflexiven

Gefühls (sentiment de l'&tre) verbindet Erkenntniskritik und Freiheitsinter-

esse, stellt aber im Zusammenhang von Schleiermachers Frühentwicklung

etwas Neues, wenngleich nicht völlig Unvorbereitetes dar!®. Dasselbe gilt schließlich (f) für den Neuansatz einer philosophischen Gotteslehre im An-

schluß an Spinoza, womit Schleiermacher reagiert auf seine eigene Kritik

16

Vgl. Jacobi, Hume-Gespräch,

144 - 173a. - Durch einen Paginierungsfehler erscheinen

die Ziffern 171 - 176 ın der Erstauflage zweimal. Die zweite Verwendung wie im folgenden durch ein hinzugefügtes a gekennzeichnet. 17

Vgl. auch WL (oben Kap. 6, 1.).

18 Vgt, Herms, Herkunft, 154 - 156.

wird hier

426

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobı/Spinoza-Studien

der überkommenen Theologie und auf die unzureichende Ausarbeitung und mangelnde Kompatibilität seiner eigenen Versuche und Andeutungen eines seinen theoretischen Einsichten angemessenen Wiederaufgreifens des theologischen Themas. (B) Blickt man über diese einzelnen Indikatoren und Bezüge hinaus auf

den

herausgearbeiteten

konzeptionellen Zusammenhang

der Frühentwick-

lung Schleiermachers, so werden dıe ımmanenten Gründe für Schleiermachers Interesse an Jacobı und $pınoza, und werden Kontinuität, Variation und Neueinsatz seines Denkens angesichts der Beschäftigung mit diesen

noch deutlicher werden, werden sıch schließlich Anordnung und Gesichtspunkte der detaillierten Interpretation ergeben. Ging Schleiermacher nämlich aus von der 'Leitimagination' der Freundschaft als wechselseitiger Kommunikation und Steigerung (sozialer Förderung) von Individualität, die zugleich als empirisch reale wahrgenommen und auf ihre 'ontologische Verwirklichung’, d.h. ihre Versittlichung hın ausgerichtet verstanden wird, so hält sıch das Konzept ın sozialen Kontexten und (Inter-)Dependenzen sıch kontingent bıldender und gleichwohl einer allgemeinen Bestimmung

zustrebender personaler Individualität im weiteren durch. Es wird vertieft durch die psychologische Rekonstruktion der innerseelischen Prozesse und Vermögen, die jener Resonanzsensibilität entsprechen!?. Soziale Kontextualität und innere Resonanzsensibilität ziehen freilich die Fragen nach sittlicher Orientierung und Verantwortung und nach personalem Selbstand nach sich, die in ÜdF

so beantwortet wurde, daß ein radikaler Determinis-

mus, der absoluten Selbstand und absolute Selbstbestimmung ım Endlichen nicht kennt,

mit sittlicher Zurechnung

nicht unvereinbar

ist, da diese nur

die anthropologisch-prinzipielle, nicht aber die aktuelle Realisierbarkeit des vernünftig-sittlich Geforderten

voraussetzt.

WL

bildete das problematische

Verhältnis von Determinismus und Personalität ab auf die umfassende Beschreibung jener kulturellen Lebenssphären, ın denen sich menschliche Exıstenz vollzieht und auf deren konkret-geschichtliche Gegenwartsgestalt hin sich menschliche Selbstauslegung und steuernde Verhaltensorientierung zu beziehen hat, die ihr situationstranszendentes Kriterium in einem Begriff

von der sittlich-sinnlichen Doppelbestimmung des Menschen findet, dem diese sıtuative Bindung an die Lebenssphären gerade wesentlich ist. Selbstand äußert sich demnach ın der Hınordnung auf ein ausstehendes Telos, dem aber gerade die individuelle Verortung des Weges dorthin nicht äußerlich ist und dessen allgemeines Merkmal seine je individuelle Realisierungs-

gestalt ist. In ÜdG

wird die genetisch-biographische Perspektive der

19 Vgl. hG, FG und ÜdF; oben Teil II.

Einleitung

427

Selbstwahrnehmung eingebettet in das Kontinuum der (Volks-, Kulturkreis-, Menschheits-) Geschichte. - Auf all diesen Entwicklungsstufen er-

schienen Religion und Theologie als ein ımmer auf die Kontingenz, Defizienz und Fragilität der menschlichen Existenz bezogener Seitenaspekt: als Faktor der Förderung der Realisierung von Sittlichkeit (AA), als Implikat des nıcht eliminierbaren Verhaftet-Seins menschlicher Existenz am Glückseligkeitsmotiv (h6), als Vergewisserung einer die Glückschancen gleichmä-

Big und gerecht verteilenden Einrichtung der Welt (WL; vgl. ÜdF) - wobei der Nachweis

einer solchen Wohlordnung

umgekehrt die Funktion einer

Theodizee erhält, die mithin der von Schleiermacher kritisierten (hG; Briefe) dogmatischen und rationalen Theologie nicht mehr bedarf. Von dieser Skizze her fällt es leicht, die Motive für Schleiermachers Interesse an Spinoza und Jacobi festzustellen. Sein Dererminismus mußte

ihn über kurz oder lang zur Beschäftigung mit Spinoza bringen. Das Konzept der Resonanzsensibilität und kontextuellen Bildung des Individuums konnte die radikale phänomenale Deutung von Spinozas Individualitätstheorie bedingen. Die kulturelle und geschichtliche Auslegung des Determi-

nismus in WL ebenso wıe der Bezug des Freiheitsthemas auf den radikalen Determinismus in ÜdF konnten das Interesse an Jacobi wecken. Die Kritik der rationalen Theologie und die Bindung des Religionsthemas an die Kontingenz von Welt und menschlicher Existenz konnten die Augen öffnen für den diesbezüglichen 'Mehrwert' der Spinozischen /nhärenz-Theologie,

ebenso aber für eine Deutung von Jacobis Theorie des unmittelbaren Realitätsbewußtseins als präreflexives Gewahrsein des Unbedingten. Diese Motivzusammenhänge sollen im folgenden an der Interpretation der Spinoza- und Jacobi-Studien bewährt werden. Dabei legt die sachliche Nähe zu WL es nahe, mit den Jacobi-Exzerpten zu beginnen, die unter dem

zentralen Gesichtspunkt der Abkünftigkeit und Geschichtlichkeit der Existenz betrachtet werden (1.). Dem schließt sich zwanglos die Behandlung der an Spinoza entwickelten radıkalen Phänomenalisierung von Personalität und Individualität an (2.). Den dritten Schwerpunkt bildet die Verhältnisbestimmung des dergestalt phänomenalen Endlichen (Bedingten) zum Unendlichen (Unbedingten) mittels des Spinozischen Inhärenzgedankens sowie die spezifische Weise der 'Erkenntnis' des Unbedingten mittels des Jacobischen unmittelbaren Realitätsbewußtseins (3.).

428

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobı/Spinoza-Studıen

1. Geschichtlichkeit der Vernunft, unmittelbares Selbst- und

Objektivitätsbewußisein und vorreflexive Gottes- und Freiheitsgewißheit: Die Jacobi-Exzerpte Erster und neben den spärlichen Kommentaren wichtigster Anhaltspunkt für die Deutung von Schleiermachers Jacobi-Exzerpten ist die in diesen auszu-

machende thematische Selektivität?O und gegebenenfalls die Neuformierung eines Zusammenhanges der aus ihrem angestammten Kontext herausgenommenen Zitate. Dabei fällt die Konzentration der Notate auf den Gedanken der Abkünftigkeit und Abhängigkeit der menschlichen Existenz auf, der in vielfältigen Aspekten aufgenommen wird: die Geschichtlichkeit und Kontextualität des ındıviduellen Daseins, die Nachgängigkeit aller Erkenntnis hinter einer ursprünglichen »Offenbarung« - was expliziert wird durch den Hinweis auf die Geschichte als die wahrhaft »lebendige Philosophie« -, die Abhängigkeit des Werdens der Menschheit (und damit aller Einzelexemplare der Gattung) von einer nıchtmenschlichen Ursache. Diesem Gedanken

treten zur Seite die Fragen nach sittlicher Freiheit und Selbstbestimmung und nach wirklicher Selbst- und Welterkenninis. Wird die eine durch die Behauptung der unmittelbaren Evidenz der willentlichen Verhaltensbestimmung beantwortet - welche Evidenz per analogiam die Zuschreibung des Willens auch an die Gottheit legitimiert -, so die andere durch die Theorie der ebenfalls unmittelbaren Gewißheit der Nicht-nur-Idealität, der

substanzialen Realität der Objekte der sinnlichen Wahrnehmung. Das ın beiden genannten Schwerpunkten präsente theologische Thema wird in einer stichpunktartigen Zusammenfassung der von Jacobı ausführlich wıedergegebenen

Geschichte

des Theismus

und

Atheismus

von

Hemsterhuis

eigens behandelt. Schließlich sammelt Schleiermacher aus Jacobis SpinozaBriefen historische Informationen über die Entwicklung von Leibniz' Philosophie.

Entsprechend dieser sachlichen Gewichtung wird im folgenden zunächst der Aspekt der Geschichtlichkeit (1.1.), daraufhin die Frage der sittlichen

Selbstbestimmung (1.2.) und endlich das Erkenntnisproblem (1.3.) behandelt, wobei jeweils der theologische Bezug mitberücksichtigt wird.

20

Freilich scheint der Textbestand nicht vollständig überliefert; vgl. Herms, 137 und 139.

Herkunft,

t. Die Jacobi-Exzerpte

429

1.1. Geschichtlich-kulturelle Determination als anthropologisches Axiom Nukleus von Jacobis Philosophie ist der Satz: »ich bin nicht durch mich selbst«

(586,9f.).

Aus

ihm

lassen

sich

alle

Grundentscheidungen

seines

Denkens entwickeln, um ihn herum alle relevanten Themenbereiche gruppieren. Die Abkünftigkeit des Daseins insgesamt impliziert nämlich einerseits dıe Abhängigkeit

»aller menschlichen

Erkenntniß

und

Wirksamkeit«

(585,9) von einer vorgängigen, Erscheinung und ontologische Realität?! der äußeren Gegenstände ineins appräsentierenden und vergewissernden »Öffenbarung«, was andererseits die Depotenzierung rationaler Beweisführung zu einer nachgängigen Reflexion von vorrational im Medium des Glaubens bereits Bekanntem und Gewissem nach sich zieht und mithin die Leistungskraft der Vernunft rıgide auf den Bereich der noetischen Strukturierung des sinnlich Wahrgenommenen begrenzt. Daraus wiederum folgt

dıe psychologische Privilegierung des Willens als des realitätschaffenden Seelenvermögens vor der nur realitäterfassenden Vernunft, wobei freilich das Tätigsein dieses Willens sich nur jeweils der unmittelbaren Evidenz der Selbsterfahrung erschließt. Rettet der so prominent und so spezifisch präsente Wille die Behauptung der - im innerweltlichen Determinismus und in dessen Abbildung in rationalen Deduktionen zum Verschwinden bestimmten - Freiheit

als

Willenskausalität

und

bildet

in dieser

Verbindung

von

Freiheit und Kausierung gleichsam das 'urbildliche Abbild’ und den analogischen

Erkenntnisgrund

Weltschöpfer,

für

den

absoluten,

transmundanen,

personalen

so macht die Abkünftigkeit des individuellen Daseins nicht

allein dessen geschichtlich-kulturelles Geprägtsein plausibel, sondern nötıgt über die Rückfrage nach der Herkunft der Gattung zur Annahme einer nicht-menschlichen Ursache der Menschheit, dıe Jacobi unter Berufung auf

den consensus gentium nicht in einem bloßen »Ohngefähr« (585,28) erblicken zu dürfen meint, sondern mit dem personalen Weltschöpfer ıdentifiziert,

Interessanterweise verbindet Schleiermacher durch die bloße Zusammenstellung von Zitaten den erkenntnistheoretischen Aspekt der Unabschließbarkeit alles verständigen Argumentierens und dessen Angewiesenheit auf

vorgängige sachhaltige unmittelbare Realitätsappräsentation (vgl. 585,5-11) mit dem Aspekt der geschichtlich-kulturellen Determination (vgl. 585,1224), und zwar in zweierlei Hinsicht:

Zum sophie

einen erscheint dadurch alle Reflexion und also auch dıe Philoauf

ıhren

geschichtlichen

21 Vgl. Herms, Herkunft, 122 - 128.

Moment

und

ihre

kulturelle

Verortung

430

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

bezogen;

Philosophie

ist dann perspektivische

Gegenwartsdeutung,

»eın

jedes Zeitalter« hat deshalb »wie seine eigene Wahrheit, deren Gehalt wie der Gehalt der Erfahrungen ist, eben so auch seine eigne lebendige Philosophie (,) welche die herrschende Handlungsweise dieses Zeitalters in ihrem

Fortgange darstellt« (585,17-20). Diesem Gegenwartsbezug alles Denkens wird ein Vergangenheitsbezug zugeordnet, indem »die lebendige Philosophie, oder dıe Denkungsart eines Volkes

sıch aus seiner Geschichte

oder

Lebensweise ergiebt«, welche sich wıederum »aus seinem Ursprung, aus hervorgegangenen Anstalten und Gesezen« herleitet (585,21-24). Zum andern aber legt sich durch diese Zitatencollage die Vermutung nahe, »Geschichte« fungiere bei Jacobi (oder beı Schleiermacher) als Explikation des-

sen, was im Begriff der aller Erkenntnis vorgängigen und von dieser nur klar und deutlich dargestellten »Offenbarung« begriffen ıst. Die »OffenbaTung« vergewisserte dann den Einzelnen der Realität seines konkreten geschichtlichen Ortes (und ineins damit seiner selbst an diesem Ort) und machte diesen damit durchsichtig hin auf seine 'wesentliche', "substanziale' Wirklichkeit.

Es liegt auf der Hand, daß diese Gedankenformation eine große Nähe zu Schleiermachers Entwurf »Ueber den Werth des Lebens« samt den sachlich

damit zusammenhängenden Arbeiten aufweist?2, ist dieser doch seinerseits bereits als kulturell-geschichtliche Explikatıon des ın der großen Freiheitsschrift entwickelten Determinismus?? aufzufassen. Die Bestimmung der kulturellen Tätigkeits- und Erlebenssphären als des Mediums der Selbstwahrnehmung

und

als des

Gegenstandsbereiches

für dıe allerdings

nach

situationsexternen (allgemeinen) Kriterien erfolgende Selbstbeurteilung fındet hier ihre Bestätigung. Allerdings fällt im Vergleich dazu eben die /ntegration des Denkens in die Situation auf, dıe die bei Schleiermacher immer schon problematische Objektivitätsvergewisserung qua begrifflicher Allgemeinheit auflöst und diese Vergewisserungsfunktion dem unmittelbaren Gefühl überträgt. Ebenso deutet sich freilich angesichts der Resultate von Schleiermachers Kant-Studien eine Differenz zu Jacobi an hinsichtlich der Möglichkeit, ob diese Realitätsvergewisserung wirklich zum "Wesen', zur

‘Substanz’ der Gegenstände und des Selbst durchzudringen vermöge oder ob sie nicht vielmehr an den Phänomenen verhaftet bleibe, zumal Schleier-

macher

mit Jacobis

22 Vgl. oben Teil III. 23

Vgl. oben Kap. 5.

Kant-Kritik

zwar

im

Blick auf die inkonsequenten

l. Die Jacobi-Exzerpte

Bestimmungen

am

431

Ding-an-sich übereinstimmt2®,

sich aber Jacobis Idea-

lismus-Vorwurf nicht zu eigen macht?5. 1.2. Ursprüngliche Abhängigkeit und wesentliche Freiheit Psychologisch artikuliert sich die Vorgängigkeit der Realität vor der Reali-

tätserkenntnis und die Offenbarungsbedürftigkeit dieser Erkenntnis in der Vorordnung des Willens vor den Verstand, der »sein Leben, sein Licht« eben »nicht in ihm selbst« hat (586, 1f.), sondern der sich durch den Willen »entwikelt«

leuchtet

(586,2).

nur dann

Diese

ein,

kultureller Determination,

Entsprechung

wenn

der Wille

von

Offenbarung

dem

Kontinuum

auf das sich der Verstand

und

Willen

geschichtlich-

bezieht,

ın gewisser

Weise entzogen ıst. In der Tat bezeichnet Jacobı ihn als »Funke aus dem ewigen reinen Licht, und eine Kraft der Allmacht« (586,4). Damit aber ent-

steht das Problem, wıe dıe Annahme einer solchen Repräsentation des göttlichen Willens - der »alles was geschieht, jede Veränderung und Bewegung« bestimmt (586,5) - im menschlichen Willen, wie mithin die Annahme einer Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung des Menschen sich verhält zu dem deterministischen Verständnis der Ermöglichung des »Daseyn(s) aller uns bekanten einzelnen Dinge« durch das »Mitdaseyn anderer einzelner Dinge«, des Geprägiseins der »Existenz« eines einzelnen Dinges durch seine »mannichfaltigen Beziehungen (...) auf Coexistenz« (588,21-26,; Hervorhebungen von mir). Dieses Problem behandelt Jacobi ın einer den Spinozabriefen programmatısch

vorangestellten Thesenreihe

über dıe menschliche

Freiheit, die Schleiermacher nahezu vollständig (mit wenigen und

Raffungen)

abgeschrieben

hat (vgl. 588,18

- 594,26).

Kürzungen

Diese Thesen-

reihe besteht aus zwei Teilen mit den entgegengesetzten Überschriften »Der Mensch hat keine Freiheit« (588,20 - 592,7) und »Der Mensch hat Freiheit« (592,8 - 594,26). Die Thesenzählung erfolgt jedoch durchgehend, so daß

nicht der Eindruck einer unaufhebbaren Antinomie von Freiheit und Unfreiheit, sondern derjenige ıhrer Vereinbarkeit in einem einheitlichen Argumentationszusammenhang entsteht. Dabei mußte die Methode der psychologischen Rekonstruktion Schleiermachers besonderes Interesse wecken, hatte er diese doch in ÜdF am selben Problemkomplex angewendet.

24 Vgl. unten 2.1. 25

Dieser Vorwurf ist am besten greifbar ın der Beilage «Ueber den Transcendentalen Idealismus« in dem Hume-Gespräch, 209 - 230.

432

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

Im Unfreiheits-Teil der Thesenreihe bezieht Jacobi zunächst die durch die "koexistenten' anderen Dinge »in lebendigen Naturen« (These 2) ausge-

lösten »Empfindungen« (ebd.) auf einen »ursprünglichen natürlichen Trieb« (Th. 4), dessen einzelne Manifestationen

nennt und als »Bewegung«

- die er »Begierde und Abscheu«

qualifiziert (Th. 3) - mit den Empfindungen

»mechanisch verknüpft« sind (Th. 3, Hervorhebung von mir). Macht dieser ursprüngliche Trieb, diese »Begierde a priori« (Th. 5), »das Wesen selbst«

'seines' Dinges aus und hat er seine Aufgabe darin, »das Vermögen dazuseyn« seiner »besondern Natur (...) zu erhalten und zu vergrößern« (Th. 4),

so setzt er immer bereits etwas Bestimmtes voraus (vgl. Th. 7), ohne welches es ja nichts im Sein zu bewahren gäbe.

Da Jacobi diese Bestimmtheit

als Geserzmäßigkeit identifiziert (vgl. Th. 7), kann er sagen, auch die Begierde a priori setze immer schon »Geseze a priori« voraus und verdanke sich also nıcht absolut sıch selbst. Wille ist nun der ursprüngliche Trieb vernünftiger Naturen (Th. 11), die sich vor den anderen Naturen durch einen »höhern Grad() des Bewußtseyns« auszeichnen und deshalb näherhin auch eın Bewußtsein von ihrer »/dentität« in der zeitlichen Erstreckung ihres Daseins besitzen (Th, 8 und 9; Hervorhebungen von mir), was dieses Dasein als »persönliches Daseyn« zu bezeichnen erlaubt {ebd.). Personalität als Identitätsbewußtsein »beruht« darum »auf Gedächtniß und Reflexion« (Th. 12), die über »Begriffe()« und

folglich über »Abstraktion« und Wort-, Schrift- oder andere »Zeichen« eine »eingeschränkte, aber deutliche Erkenntniß« der personalen Identität ermöglichen26. Ist nun der Trieb der Erhaltung und Steigerung des Selbstseins beim Menschen als Wille bezogen auf das zu bewahrende und zu

intensivierende Bewußtsein der personalen Identität und konkretisiert sich dieses Bewußtsein in »Begriffen der Uebereinstimmung und des Zusammenhanges« (Th.

13; Hervorhebungen von mir), so kann es als das dem Willen

vorgegebene Gesetz gelten, nach solchen Begriffen zu handeln. Indem er diese Begriffe als »Grundsäze()« und infolgedessen das Gesetz des Willens als »das Vermögen praktischer Principien« (ebd.) bezeichnet, kann Jacobi den ursprünglichen Trieb vernünftiger Naturen ethisch fassen als die Begierde, die eigene Identität zu bilden durch permanente und kohärente Orientierung

an

(allgemeinen

und

vorgegebenen)

Prinzipien;

umgekehrt

besteht dann Identität in jener Permanenz und Kohärenz der Prinzipienentsprechung. Prinzipienwidrige, nicht ın die Kohärenz zu integrierende

26

Diese reflexive und synthetisch-approximative Struktur der Selbstwahrnehmung begegnet bei Schleiermacher in der biographischen Rekonstruktion in WL. Vgl. oben Kap. 6, 1.

l. Die Jacobi-Exzerpte

433

Willensbestimmungen unterbrechen dann freilich die »Identität des vernünftigen Daseyns« (Th. 15; im Original teilweise gesperrt); sie können nur

deshalb der Person zugeschrieben werden, weıl Jacobı gegen seine eigene Bestimmung des persönlichen Daseins (vgl. Th. 8f.) zur Rettung der sittlichen Zurechnung nun behauptet, die Person bestehe nicht nur aus der vernünftigen Begierde. Damit unterläuft er - wie Schleiermacher in einer ausführlichen Anmerkung herausarbeitet - seine eigene Behauptung, »das ganze System der praktischen Vernunft« seı »nur über Einem Grundtriebe erbaut« (Th.

18), da sıch die Einsicht ın dıe eigene

Unsittlichkeit aus der

Wahrnehmung der daseinsmindernden (vgl. Th. 15) Differenz zu den eigenen Grundsätzen und mithin aus diesen ergebe. Schleiermacher kritisiert (vgl. 590,20 - 591,7) die »Amphibolie« ın Jacobıs Verhältnisbestimmung von Identitätsbewußtsein und vernünftigem Grundtrieb: Besteht auf der einen Seite Personalität im Identitätsbewußtsein, so können nur Handlungen

der Person zugeschrieben werden, die ın dıe Identität integrierbar sind; also können unsittliche Handlungen (wenn anders sie zugerechnet werden sollen) die Identität gar nıcht unterbrechen, und es muß auch die Befriedigung unvernünftiger Begierden als personsteigernd gelten, was die Behauptung der

Moralität des einen Grundtriebs aufhebt. Geht man aber auf der anderen Seite vom vernünftigen Trieb als dem einzigen Grundtrieb des Menschen aus, dann können die unvernünftigen Handlungen nicht mehr zusammen mit den vernünftigen zu einer personalen Einheit gebündelt und also auch nicht mehr zugerechnet werden. Diese Amphibolie widerlegt auch Jacobis Behauptung, aus dem auf dem vernünftigen Trieb gegründeten Selbsterhaltungsstreben »fließ(e) eine natürliche Liebe und Verbindlichkeit gegen andere«, da das vernünftige Wesen sich »in der Abstraktion« der Orientierung an allgemeinen Prinzipien »als solches nicht von einem andern unterscheiden« könne und daher Selbstliebe und Liebe zum Ändern konfundierten (Th. 23; Hervorhebung von mir). Diese »Identifikation mit andern vernünftigen Wesen« - so Schleiermachers Einwand in einer weiteren Anmerkung am Ende des ersten Teils (592,1-7) - zerszört nämlıch »meın

besondres Daseyn«

und widerstreitet damit dem

Selbsterhaltungstrieb,

so

daß aus diesem geradezu eher »ein Trieb und Verbindlichkeit zur Ungerechtigkeit zu fließen [scheint], als zur Gerechtigkeit« (592,3f.,; Hervorhebung von mir). Schleiermacher übernimmt mithin nicht Jacobis These, Personali-

sierung vollziehe sich über die Steigerung der Orientierung an allgemeinen Prinzipien

vernünftige

als

Entindividualisierung

Grundtrieb

(vgl.

nicht der einzige

Th.

Grund

23);

der

jedenfalls

kann

individuellen

der

Per-

sonbildung sein: Jacobis »System (...) scheint so sehr als ırgend eines (,) obgleich etwas verstekter (,) auf zwei Grundtrieben zu beruhen« (590,20f.),

434

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

nämlich dem der natürlichen individuellen Selbsterhaltung und dem der vernünftigen Personbildung. Die Ableitung der sittlichen Personalität aus der natürlichen Individualität ist Jacobı nıcht gelungen. Am Vergleich mıt ÜdF und WL leuchtet denn auch ein, warum Schleiermacher nur mit dem deterministischen Resultat der Jacobischen Thesenreihe übereinstimmt, der

»mit der Vernunft verknüpfte Grundtrieb« entwickle sich ganz mechanisch,

Freiheit sei bloßer »Schein«, nicht aber mit der Herleitung. In ÜdF hatte er nämlich die Unabhängigkeit der (auf dem allgemeinen Sittengesetz beruhenden) sittlichen Zurechnung von aller faktischen Determination und Kon-

textualität herausgestellt2’, und in WL

hatte er zwar die Personbildung

ähnlich wıe Jacobi als sukzessive Steigerung der Tugendorientierung be-

schrieben2®, ohne aber die Realisierung der Tugend von der Individualität jeder Realisierungsgestalt abzulösen??. Auf der Ebene der »Coexistenz«, der Interdependenz der Vermittlung ıst

Freiheit nach Jacobi also nicht möglich.

Andererseits ıst - so beginnt der

(von Schleiermacher unkommentiert abgeschriebene) zweite Teil von Jaco-

bis Thesenreihe - ein »schlechterdings abhängige(s) Wesen«

unvorstellbar

(Th. 24), »ein durchaus vermitteltes Daseyn oder Wesen ein Unding« (Th. 25). Denn es »müßte ganz paßiv seyn«, könnte als ein eigenständiges Wesen aber gar nicht ganz passiv sein, da es als bereits Bestimmtes jeder Einwir-

kung eine wie auch immer geringe Gegenwirkung entgegensetzt (vgl. Th. 24), Diese ursprüngliche, dem »Mechanismus« der Vermittlung vorausgesetzte Aktivität ist nun nach Jacobi »reine«, d.h. der Vermittlung enthobene, »Selbstthätigkeit« (Th. 25). Da deutliche Erkenntnis auf den Bereich des Vermittelten beschränkt ist, ıst die Möglichkeit dieser unvermittelten

Selbsttätigkeit nicht rational rekonstruierbar, ihre Wirklichkeit erschließt sich aber »unmitteilbar im Bewußtseyn« und beweist sich »durch die That« (Th. 26 - 29). Allerdings zeigt Jacobi hohe Unsicherheit, wenn es darum geht, das Verhältnis dieser absoluten, d.h. dem Dependenzzusammenhang entzogenen Selbsttätigkeit zu diesem Zusammenhang, auf den sıe doch einwirkt, zu bestimmen.

Einmal

den nun

im Gegensatz zum

auf einmal

heißt es, sie könne sich dem

Mechanismus

-

ersten Teil der Thesenreihe das

27

Vgl. oben Kap. 5.

28

Das entwertet in gewisser Weise Herms' Belege aus den Landsberger Predigten, die zeigen sollten, Schleiermacher seı durch dıe Jacobı-Studien auf dıe Konzeption einer sukzessiven Überwindung des sinnlichen Lebens durch {und hin auf) das geistige Leben gestoßen, - ganz abgesehen von der gemeinchristlichen Tradition dieser Dualität. Vgl. Herms, Herkunft, 137f.

23

Vgl. oben Kap. 6, 1.5.

1. Die Jacobi-Exzerpte

435

„sinnliche Daseyn des einzelnen Wesens ausmacht« (Th. 30; Hervorhebung von mir) - qualitativ-absolut »entgegensezen« (ebd.), ein andermal, sie könne ihn quantitativ-relativ »überwiegen« (ebd.). Wie verhält sich diese

»Freiheit« zu der der Sphäre des »Mechaniısmus« angehörigen vernünftigen Begierde, wenn diese (die Jacobi als Wille bezeichnet; vgl. Th. 11) doch der ebenfalls

im

Individuum

anzutreffenden

unvernünftigen

(sinnlichen?)

Begierde widerstreite, während die Freiheit nun geradezu ın »Unabhängigkeit des Willens von der [sc. auch der vernünftigen!] gierde« bestehen soll (Th. 32; ım Original alles gesperrt)? Es liegt jedenfalls unreflektiert ein doppelter Willensbegriff vor: auf der Ebene Vermittlung als Grundtrieb des vernünftigen Wesens, auf der Ebene Unmittelbarkeit

als diesen

Grundtrieb

'überwiegende'

»reine

der Behier der der

Selbstthätig-

keit« (Th. 33). Gemeinsam ist beiden Verwendungen nur das Moment des Bewußtseins (vgl. Th. 8-I1 und Th. 33). Gerade diese Gemeinsamkeit macht aber Jacobis Vorgehen problematisch, die Wirkung der Selbsttätigkeit auf das Determinierte als »Herrschaft des intellektuellen Wesens über das sinnliche« zu beschreiben (Th. 34-37; Hervorhebungen von mir). Dies ergibt nur dann Sinn, wenn alle auf der Ebene des »Mechanısmus« möglı-

chen Vollzüge und mithin auch deren verständige Darstellung als Funktionen der Sinnlichkeit bezeichnet werden können; dies entspricht zwar Jacobıs Theorie der Begrenztheit und immanenten Grundlosigkeit rationalen Demonstrierens,

aber

nicht seiner

Unterscheidung

zwischen

vernünftiger

und unvernünftiger Begierde im Bereich des Mechanismus selbst. Deutlich ıst jedenfalls,

nünftigen

daß die

Grundtriebes

'intellektuelle'

sein kann,

Selbsttätigkeit

nicht Effekt des ver-

daß sie sich vielmehr

einem

anderen

»Geist« als dem »bloße(n) Geist des Syllogismus« verdanken muß (Th. 38f.); dıesen anderen Geist nennt Jacobi den »Othem Gottes in dem Gebilde von Erde« (Th. 40f.). Dieser »bändigt (...) den Syllogısmus, indem er seine

Vordersäze niederschlägt« (ebd., Hervorhebung von mir). Er Ist evidentermaßen präsent in dem »unvertilgbaren Bewußtseyn« (Th. 40f.), »Intelligenz für sich allein sei wirksam«, und sie sei »die einzige uns wahrhaft bekannte« - wenngleich nicht deutlich erkennbare - »Kraft« (Th. 42). Die Benennung dieser Kraft als »Othem Gottes« erlaubt es Jacobi, in diesem Bewußtsein einer gegenwärtigen transmundanen Kraft »unmittelbar den Glauben an eine erste allerhöchste Intelligenz, an einen Gott, der ein Geist ist«, eingeschlossen zu sehen (Th. 42; Hervorhebung von mir); ebenso unmittelbar

wird das »Weltall« ın allen seinen Teilen als »die Wirkung einer freien Intelligenz« erschlossen (Th. 47f.), die qua Willensakt jeder »Creatur« ihre »ursprüngliche Richtung«, ıhr »ursprüngliches Gesez« gibt (ebd.). Wenn nun Jacobi dieses Gesetz mit dem »ursprängliche({n) Trieb«, dem »eigne(n)

436

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

Willen« des Geschöpfs

identifiziert

(ebd.),

so kollidiert er wiederum

mit

dem ersten Teil der Thesenreihe, wo er diese Begriffe ja für den mechanisch wirkenden Naturzusammenhang verwendet hatte, von dem er sie jetzt

als unvergleichbar abgrenzen muß (vgl. ebd.). Die problematische Mehrwertigkeit der Begriffe wird auch nicht dadurch aufgehoben, daß Jacobi dem Menschen nunmehr eine »doppelte Richtung« (ebd.) und entsprechend zwei Triebe zuschreibt: den auf das Endliche bezogenen sinnlichen Trieb als das »Princip der Begierde« und den (hier erstmals genannten) auf das Ewige ausgerichteten intellektuellen Trieb als das »Vermögen reiner Liebe« (Th. 49f.). Denn für dıe Kopräsenz dieser Triebe verweist Jacobi wiederum nur

auf die Evidenz der Selbstwahrnehmung und auf die wechselseitige soziale

Zuschreibung?®, ohne das Zusammenwirken

der Triebe genauer zu be-

schreiben (und ohne überhaupt zu erläutern, inwiefern die Ausrichtung aufs Ewige, in der doch die Freiheit besteht, als Trieb bezeichnet werden kann). Stattdessen endet die Thesenreihe mit einer Apotheose der dem intellektuelien Trieb entspringenden Gesinnungen und Handlungen, die Jacobi ausdrücklich »göttlichÜ« nennt und die begleitet sind von einer unvergleichlichen Freude: der »Freude, die Gott selbst an seinem Daseyn hat« (Th. 5lf.) und an der der aufs Ewige ausgerichtete Mensch nun partızipiert,

wodurch er selbst »Unsterblichkeit« gewinnt (ebd.). Man wird nicht erwarten dürfen, daß diese Bearbeitung des Problemkomplexes 'Freiheit und Determination' Schleiermachers hohen Ansprüchen, wie sie in ÜdF dokumentiert sind, gerecht wurde.

Allerdings enthält

sie durch die Unterscheidung zwischen Vermittlung und Unmittelbarkeit eine stärkere Erklärung des Freiheitsgefühls, das in ÜdF auf mangelhafte Kenntnis der determinierenden Faktoren zurückgeführt werden

mußte, weil

Freiheit nur als Implikat der unbedingten sittlichen Zurechnung und nicht als Gegenstand der Erfahrung erkannt und anerkannt werden konnte?!, während Jacobi den Realitätsgehalt des Freiheitsgefühls auf der Ebene der

Unmittelbarkeit emphatisch herauszustellen vermochte. Die Verbindung dieser Unterscheidung mit der Frage der Gotteserkenntnis konnte Schleiermacher auch Anstöße geben für einen die Kantısche Erkenntniskritik beachtenden Neuansatz der Theologie. Dies ist aber erst zu beurteilen ım

Zusammenhang

30

der Spinoza-Studien??.

Zuvor

muß

„Alle Menschen schreiben sich Freiheit zu und sezen in dem

noch der ursprüng-

Besiz derselben alleın ıhre

Ehre«, d.h. wollen von Anderen als Freie angesehen werden (594, 13f.). 31

Vgl. oben Kap. 5, 4.

32 Vgl. unten 2.

l. Die Jacobi-Exzerpte

437

liche, dem ethischen vorangehende Anwendungsbereich jener Unterscheidung betrachtet werden: die erkenntnistheoretische Frage der Vergewisserung der Realität der Außenwelt.

1.3. Vorreflexive Selbst- und Objektivitätsgewißheit Bekanntlich

kritisierte Jacobi

an

Kant,

daß

dieser

für seine Theorie

der

Anschauungsabhängigkeit der menschlichen Erkenntnis die Annahme eines Dinges-an-sich (bzw. von Dingen-an-sich} in Anspruch nehmen müsse, von

dem er aber nach seinen eigenen Vorgaben gar nichts aussagen könne??, so daß seine Behauptung der Kausalität der Dinge auf die Sinne in der Luft hänge - und mithin auch die Gewißheit der Realität des mit den Sinnen Wahrgenommenen.

Auf der anderen Seite stimmte er mit Kant darın über-

eın, daß Verstand und Vernunft keine 'ontologische‘ Gegenstandsgewißheit erzeugen

können.

Da

er aber als Realis! darauf nicht verzichten

konnte,

mußte er eine solche nicht- oder vor-rationale Erschlossenheit des Wesens der Dinge ın der Wahrnehmung ihrer Erscheinung annehmen, die die Kausierung der Erscheinung durch das Wesen einschließt und deshalb über die

Realität des Erscheinenden vergewissert. Genau dies soll Jacobis Theorie des »unmittelbaren Realitätsbewußtseins« leisten?*,. Jede rationale »Demonstration«, jeder »Erweis« setzt nach Jacobi »etwas schon erwiesenes voraus(}, wovon das Principium Offenbarung ist« (585,5-8, Hervorhebung von mir). Gegen Mendelssohns malızıöse Unterstellung, das gelte nur für den Christen, während er als Jude sich auf das vernünftige Argumentieren verlassen müsse?>, besteht Jacobi auf die universale Geltung dieses Prinzips

für alle Erkenntnis: Die Selbsterschließung der Wirklichkeit vollzieht sıch immer im Medium des Glaubens, das keineswegs - wie im gängigen Sprachgebrauch

- einen

geringeren,

sondern

im

Gegenteil

einen

höheren

Grad an Gewißheit impliziert als das Wissen, ja dem Wissen Gegenstand und Realitätsgewißheit allererst vermittelt (vgl. 595,23-25). Dieses Glauben interpretiert Jacobi als unmittelbares Bewußtsein oder als Gefühl. Es bezieht sich - wıe Jacobi in einer eigenwilligen Verteidigung von Leibniz’ Monadologie aufweist - nicht auf die variable und vergängliche Mannigfaltigkeit

33 Vgl. im Hume-Gespräch, Beylage, 223, die berühmte Aussage, »daß ich ohne jene Voraussetzung [sc. daß die Dinge-an-sich »Eindrücke auf die Sinne« kausieren, 222} ın das [Kantische] System nıcht hıneinkommen, und nit jener Voraussetzung darınn nicht bleiben konnte«. 34

Ich übernehme den Ausdruck von Herms; vgl. besonders Herkunft, 125, Anm. 35.

35 Vgl. Spinoza-Briefe, ed. Scholz, 168.

438

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

der Vorstellungsdata, sondern auf die »Form, welche ihre Einheit ausmacht« (Hume, 17136). Nun bildet diese »unsichtbare() Form« (Hume, 174) nur bei »organischen Maschinen (...)} eine solche innerliche Einheit (...), die wahrhaft objecriv und real ist« (Hume, 171; Hervorhebung von mir),

d.h. nicht nur ein Gedankenprodukt der synthetisierenden Vermunft. Paradigma eines solchen objektiven »compositum substantiale« (Hume, 172) ıst der Mensch

selbst, der dıe unendliche Menge der ıhm zugehörigen kör-

perlichen Tetle »ıin einem einzigen, unveränderlichen, untheilbaren Punkt« fühlt: dem Ich, das wıe ein »Wirbel mitten ın einem Strome« dıe kommen-

den und vergehenden Partikularmomente zu einer identischen Einheit formiert (Hume, 174)37. Diese Einheitsform ist zwar real, und von ihrer Realität hat der Einzelne »die vollkommenste Ueberzeugung« (Hume, 175), aber sıe ıst nıcht gegenständlich vorstellbar, da »das Eigenthümliche ıhres Wesens ıst, sich von allen Empfindungen und Vorstellungen zu unterschei-

den« (Hume, 175). Zugleich aber ist sie in diesen allen mitgesetzt und unthematisch mitpräsent und vergewissert den Einzelnen seiner leıblichseelischen

Realität.

Nur

»organische

Wesen«

mit einer solchen

»reale{n)

Individualität« können deshalb als existent, als »würkliche Dinge« bezeichnet werden (Hume, 171a); umgekehrt ist damit gesichert, daß jede »erschaffene oder endliche Substanz« ein solches organisches Wesen und als solches »nothwendig aus Leib und Seele zusammengesetzt seyn muß« (Hume, 171laf.) - wobei Seele klassisch als jene Eınheitsform des Leibes zu denken und keineswegs mit (Selbst-) Bewußtsein zu identifizieren ist. Problematisch ist dabei natürlich, wie der Mensch die Substanzialität

von ihm wahrgenommener Ensembles von »Empfindungen und Vorstellungen« (Hume, 175), die die Einheit von äußeren Gegenständen konstituieren, erkennen kann, d.h. wie er diese Einheiten als reale unterscheiden kann

von kontingenten, rein phänomenalen Eindrücken oder von subjektiv synthetisierten

Einheiten

seiner

zunächst mit einer Adaption

Einbildungskraft.

von Leibniz’

Darauf

antwortet

Lehre der angeborenen

Jacobi

Ideen

(vgl. Hume, 173a - 177) und destilliert aus der These, »(j)edes erschaffene einzelne Wesen bezieh(e) sıch auf eine unendliche Menge anderer einzelner Wesen, die sich hinwider auf dieses einzeine Wesen beziehen (,) und der

gegenwärtige Zustand eines jeden dieser einzelnen Wesen

36 37

Zur Paginierung vgl. oben Anm.

[werde] durch

16.

Vgl. den von Schleiermacher in seinen späteren Leibniz-Notizen teilweise exzerpierten

Satz Leibniz‘: »sı nullae essent animae, vel hıs analoga, tunc nullum esset ego, nullae monades, nullae reales unitates, nullaeque adeo multitudines substantiales forent, imo ommia in corporibus non nisi phantasmata essent« (zitiert nach KOA 1/2, 77).

l. Die Jacobı-Exzerpte

439

seinen Zusammenhang mit allen übrigen in jedem Augenblick auf das genaueste bestimmt« (Hume, 173af.), die »schlechterdings allgemeinen Begriffe()« (Hume, 173a) »von Einheit und Vielheit, Thun und Leiden,

Ausdehnung und Succession«, die immer »mitgesetzt« sein müssen, wenn ein leiblich-seelisch verfaßtes Individuum als dergestalt mit anderen solchen Individuen

Hume,

ın Kopräsenz

und

Interdependenz

stehend

gesetzt

wırd

(vgl.

174a), Das oben beschriebene unmittelbare »Gefühl von uns selbst«

(Hume, 175a) ımplizıert deshalb nach Jacobi eine Selbstunterscheidung »von etwas ausser uns« (ebd.), die die Außenwelt - als »ein Mannigfaltiges, Unendliches, ın dem wir selbst mit begriffen sind« (ebd.) - als ebenso wirk-

lich unmittelbar gewiß macht wıe das Ich selbst. Damit ıst allerdings über die Realıtät bestimmter Einzeldinge im Unterschied zu Phantasieprodukten und bloßen Eindrücken noch nıchts ausgemacht. Sie sucht Jacobı zu sichern

durch Rückgriff auf einen Gedanken Hemsterhuis', wonach »unsere Vorstellungen von den Gegenständen das Resultat der Beziehungen [sınd], welche sich zwischen uns und den Gegenständen und allem was uns von den Gegenständen trent befinden« (596, 18-20), dann läßt sıch nämlich dıe Veränderung der Wahrnehmung, wenn sowohl der Wahrnehmende als auch der

'Zwischenraum' zwischen ihm und dem Wahrgenommenen identisch geblieben sind, auf eine objektive Veränderung der Außenwelt zurückführen (vgl. 596,21-29). Genau diesen Schluß kritisiert Schleiermacher aber, indem er bezweifelt, daß auf dem Weg vom Gegenstand zur Vorstellung so klar unterschieden werden kann, ob eine Modifikation der Vorstellung dem vorstellenden und

wahrnehmenden Subjekt, dem Zwischenraum’ oder dem Gegenstand selbst (bzw. dem Wechsel des Gegenstands) zuzuschreiben ıst. Denn dieser Weg führt im Subjekt selber über mehrere Vermittlungs-Instanzen, wobei sıch

das Verhältnis von Außenwelt und Innenwelt im Verhältnis von äußerem (die Sinnesdaten rezipierendem) und innerem (»den körperlichen Eindruk vergeistig[endem]«) Organ innerseelisch abbildet (vgl. 597,16-20). Sollten deshalb zwar manche Vorstellungsmodifikationen als eindeutig der Außenwelt sıch verdankend kenntlich sein (eine für Schleiermachers eigene Position einigermaßen inkonsequente Konzession), so läßt sıch doch in jedem

Fall kaum eindeutig bestimmen, }ene Modifikation gehöre »dem

äußern,

diese dem innern Organ und diese endlich der lezten unbegreiflichen Operation der Seele« zu (597,24f.). Daher bleibt letztlich immer unklar, was an

der »eigentlichen Wahrnehmung« (597,18f,) konkret subjektunabhängig und was subjektive Hinzufügung, Deutung, Synthese ist, selbst wenn eine Objektivität der Gegenstandserkenntnis im allgemeinen zugestanden wird.

440

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

Wenn Schleiermacher hier unter ausdrücklichem Hinweis auf Kant (596,30 - 597,2) die Phänomenalität aller Gegenstandserkenntnis herausstellt, dann fragt es sıch, inwieweit und ın welcher Weise er sıch Jacobıs Theorie der unmittelbaren Realitätsgewißheit überhaupt aneignen konnte.

Jedenfalls kann sein Problem nicht dıe Substanzialität der Einzeldinge als Einzeldinge in der Außenwelt sein - denn deren Erschließbarkeit über die Erscheinungen leugnet er ja -, sondern nur die Erschlossenheit von Realıtät und Substanzialität überhaupt in Unterscheidung zu der Mannigfaltigkeit und Variabilität der prinzipiell endlichen Erscheinungen, auf die sich rationale Erkenntnis allein bezieht. Jacobis Theorie der unmittelbaren Selbstund Gegenstandsgewißheit müßte dann freilich umgedeutet werden zu einer Theorie des unmittelbaren

Gewahrwerdens

des Nicht-Raumzeitlichen,

des

Unendlichen im Endlichen, des Unbedingten im Bedingten. Dabei stellt sich jedoch die Frage nicht nur nach dem Status (d.h. der Beharrlichkeit und Identität) des Endlichen als Erscheinung ım allgemeinen,

sondern auch

näherhin nach der Bestimmtheit desjenigen Endlichen, das unerachtet seiner Endlichkeit und der Beschränktheit seiner Erkenntniskräfte auf das Endliche des Unendlichen inne zu werden vermag. Just dies, eine kritische Theorie der Individualität (und des principium indıviduatıonis) und der Personalität ım Rahmen einer metaphysischen Konzeption des Verhältnisses von Endli-

chem und Unendlichem, ist nun aber die Problemlage von Schleiermachers Spinoza-Studien, von denen her sich deshalb auch Aufschlüsse über die Tragweite der Jacobi-Rezeption erwarten lassen.

2. Der »Fluß der endlichen Dinge« In der »Kurzen

Darstellung des Spinozistischen

Systems«

versucht Schlei-

ermacher, das Grundmotiv auszumachen, das Spinoza zur Ausarbeitung seiner Metaphysik veranlaßt hat und deren eigentümliche Ausprägung hinreichend begründet. Er findet dieses Motiv nicht ın Spinozas Polemik gegen die rationale Theologie - denn die Ablehnung eines transmundanen, verstandes- und willensbegabten Gottes, der die Welt aus dem Nichts erschafft,

nötigt noch nicht zu Spinozas Inhärenz-Theologie,

kann vielmehr ebenso

gut einen »reinen Atheismus« (563,29; vgl. 564,9f,) oder zumindest die Arıstotelische Konzeption eines unbewegten Bewegers (vgl. 564,10f.) begründen -, sondern in der »Idee von dem Fluß der endlichen Dinge, deren

jedem für sich betrachtet keine Existenz zukomt« (564,23f.). Daraus läßt sich nämlich der »Hauptsaz« (561,6) des Spinoza ableiten, es müsse »ein

2. Der »Fluß der endlichen Dinge«

441

Unendliches geben, innerhalb dessen alles endliche ist« (564,21f.; im Onginal gesperrt), und zwar hinsichtlich seiner theologischen wie hinsichtlich

seiner kosmologischen Implikationen. Wie auch immer es um die hıstorische (und um die Spinoza-immanente)

Richtigkeit

dieser

Schleiermacher

Rekonstruktion

bestellt

sein

mag?®:

nicht nur eine einheitliche Darstellung

Sie

ermöglicht

der Spinozischen

Philosophie und gibt ihm Kriterien zum Verständnis schwieriger Detailpro-

bleme an die Hand, pretation; sie erlaubt Studien zu beziehen Theorieentwicklung,

zumal auch zur Beurteilung es ıhm vielmehr vor allem auf die Fragestellungen und und reflektiert darin deren

von Jacobis Spinozainterauch, die eigenen SpinozaResultate seiner bisherigen Kontinuität. Diese Rück-

bindung vollzieht sich zum einen ihematisch: Der »Fluß der endlichen Dinge« repräsentiert Schleiermachers Dererminismus, dem sich die Welt als

Sequenz unendlich vieler, interdependenter und wechselseitig ineinander eingreifender sowohl physisch-räumlicher als auch psychisch-zeitlicher Rei-

henbildungen gestaltet3®; das Problem des Selbstands von Einzelwesen in solchem Fluß aktualisiert, bezogen auf die Ontologie, dıe an der Freundschaftstheorie entfaltete Konzeption der Individuierung in und qua sozialer

Interdependenz*®;

die Frage der individuellen Personalität menschlicher

Einzelwesen schließt an die psychologischen und ethischen Überlegungen zu individueller Selbstwahrnehmung und sıttlicher Verantwortung besonders

in ÜdF und WL an®@l. Zum andern aber kann Schleiermacher durch seine Interpretationsperspektive Spinoza vergleichen mit anderen zentralen Theoriegestalten, die für seine Entwicklung von Wichtigkeit waren und sind: auf der einen Seite mit Kants erkenntniskritischer Unterscheidung des Empirisch-Phänomenalen vom Nichtempirisch-Noumenalen (über das das an die Empirie gebundene menschliche Erkenntnisvermögen nichts auszusagen weiß), auf der anderen Seite mit Leibniz als stärkstem Vertreter einer vor-

kritisch-klassischen Ontologie, die gerade die substantiale Individualität der Elementarteile der Wirklichkeit lehrte.

38 Dilthey (Denkmale, 66) gibt Schleiermacher bei dem polemischen Ausgangspunkt recht, nennt aber die Behauptung

von der Idee vom

Fluß der endlichen

Dinge als dem

metaphysischen Ausgangspunkt der Spinozischen Ethik »falsch«. Quapp stimmt ihm ın dieser Kritik zu (Christus, 233, Anm.

136), ohne zu beachten, daß er damit dıe Plausi-

bilität seines Spinozismus-Vorwurfs gefährdet. 39

Vgl. oben Kap. 5, 6.

A

Vgl. oben Kap. l.

41 Vgl. oben Kap. 5 und 6.

442

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

2.1. Radikale Phänomenalisierung der Einzeldinge Gerade in der Frage nach dem ontologischen Status der distinkten Gegenstände der Wahrnehmung zeigt sich die systematische Abzweckung dieses Theorienvergleichs.

Denn

die Widerlegung der gängigen

Überzeugung,

in

Hinblick auf das principium individuationis leiste Leibniz erheblich mehr als Spinoza (vgl. 547,7-29.30f.), vollzieht sich im Medium der Kantischen Erkenntniskritik als Explikation des Sachproblems, »wie und warum ich die äußern in der Erfahrung vorkommenden Gegenstände als von einander gesonderte Dinge betrachte,

wie ich dazu komme

(,) das Mannigfaltige der-

selben zur objektiven Einheit zu verbinden, und wovon es abhängt, daß ich grade soviel und grade dieses Mannigfaltige zusammen verknüpfe« (548,914). Für diese Frage ist der zwischen $pinoza und Leibniz strittige Punkt der Einheit oder Pluralität der Substanz nıcht unmittelbar wichtig; denn erst wenn vorab geklärt ıst, ob die wahrgenommenen Einzeldinge tatsächlich Substanz sind, d.h. ob sie nicht nur irgendwie an der Substanz Anteil haben, sondern »als Individua betrachtet für sich bestehende Dinge sind« (547,34), kann untersucht werden, »ob überhaupt eine Mehrheit abgesonderter Substanzen möglıch ist« (5483,18). Wenn Leibniz in seiner Mona-

dologie dies gegen Spinoza bejaht, bietet er bestenfalls eine »Hypothese« darüber, »wie in dem continuo der Ausdehnung und des Bewußtseyns mehrere einzelne Dinge möglich seyn können« (548,37-39), die freilich deswegen Monaden

»unvollkommen und zweideutig« bleibt, »weil das Vinculum der etwas so völlig unbekanntes und unbestimtes ist« (548,43 -

549,1). Doch für das Problem des Selbstandes der Wahrnehmungsobjekte trägt selbst dies nichts aus, da das Verhältnis der unter die Form von Zentralmonaden

gebrachten

Monadenagglomerationen

zu den auf die Identität

eines Gegenstandes hin gebündelten Ensembles von Vorstellungen und Empfindungen nicht erhellt werden kann. Diese Unmöglichkeit begründet Schleiermacher mit der Kantischen These der unüberbrückbaren Differenz von Phainomen-Sphäre und Noumen-Sphäre, wonach zwar »die Analogien der Erfahrung« dazu »nöthigen, (...) jeder Empfindung etwas reales und beharrliches unterzulegen« (549,14-18), über dies Substantielie an den

distinkten Wahrnehmungsobjekten aber schlechterdings gar nichts ausgesagt werden kann. Denn ebenso wie es denkmöglich ist, daß raumzaeitlich identisch Erscheinendem eine Mehrzahl von Substanzen entspricht, könnte umgekehrt eine empirische Vielheit der Einheit einer Substanz zugeordnet sein (vgl. 542,16-27). Mit dieser Einsicht ıst freilich nıcht nur der Monadologie ihre pluralitätslegitimierende Funktion entzogen; sie wendet sıch vielmehr auch gegen

2. Der »Fluß der endlichen Dinge«

443

Kants Annahme eines Adäquanz- und Abbildungsverhältnisses von Phainomena und Noumena (vgl. 573,35f.), da deren Pluralität nach Kants eigenen Grundsätzen gar nicht gewußt werden kann (vgl. 574,2-6.20-24) und da sich dabei außerdem der Widerspruch ergibt, daß Veränderungen oder Neubildungen im Phänomenbereich Veränderungen im doch der Zeit enthobenen

Allerdings

Noumenalbereich

'weıß'

numerische

menschlichen beiden

nach

ziehen

müßten

(vgl.

auch Spıinoza zu vıel von der Substanz,

Einheit

zuschreibt

(vgl.

Erkenntnisvermögens

(einzigen)

sich

realen

Attribute

574,24f.)

Denken

und

und

identifiziert

nach

574,6-10).

wenn

Ausdehnung (vgl.

er ıhr

Maßgabe

574,29

als -

des

ıhre

575,6).

Schleiermacher kritisiert dabei nicht, daß nach Spinoza diese beiden Attribute in jeder Modifikation (Konkretion, Bestimmung, Individuation) der Substanz für deren Stetigkeit jeweils kopräsent sein müssen und jeweils erst

in dieser Kopräsenz ein Einzelding konstituieren, wobei die Idee die Vorstellung des Ausgedehnten, dieses hingegen die Darstellung der Idee bildet (vgl. 530,17-30),

wohl aber, daß Spinoza diese Attribute auf die Subssanz

bezieht, anstatt sie erkenntniskritisch den subjektiven Anschauungsformen von Raum und Zeit und mithin der reinen Phänomenalıtät zuzuordnen und die Gegenstandskonstitution als »ursprüngliche() Synthesis der Einbildungskraft« zu interpretieren, »die dem Mannigfaltigen Einheit gebe« (550,

5-7742, Ist Individualität dergestalt ganz auf den Bereich der Empırie restringiert

und ist als principtum individuationis die synthetisierende Spontaneität des Subjekts festgemacht,

so scheint freilich die entscheidende Frage unbeant-

wortbar zu werden, nach welchen Kriterien die Einbildungskraft entscheidet, welche Empfindungen sıe zu Individuen synthetisiert und welche nicht,

wenn denn die substanzontologischen Hilfskonstruktionen Leibniz’ und auch Kants ausfallen, während Spinoza zwar das Fließen und die Nichtselbständigkeit der endlichen Dinge auszusagen und gleichwohl eıne Theorie der Individuation zu entwickeln vermag (vgl. 550f.), diese aber erkenntnistheoretisch naiv bleibt. Jedenfalls kann »im Erfahrungsgebrauch« der Individualitätsbegriff »kein geschloßner und vollkommen begrenzter Begrif« sein (551,15f.), da ım beständigen Wechsel keine Partikel mehrere Mo-

mente hindurch ganz dieselbe bleiben kann - bei gleicher »Masse« kann sich der »Charakter« des Gegenstandes verändern, bei gleichem Charakter umgekehrt die Masse - (vgl. 551,16-20) und da zudem angesichts der un-

42

Vgl. 552,25-27: »(...) unsere Art (,) das Ganze der Gegenstände in Indıvidua zu theilen [, ist] keinesweges eine Wirkung dieses Ganzen von außen, sondern eine Handlung von innen«.

444

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobı/Spinoza-Studien

endlichen Teilbarkeit der Materie die Entscheidung immer willkürlich ıst, »welche Masse als ein Individuum anzusehn ist« (551,21). Der Individualitätsbegriff ist mithin »rur ein Näherungs(-), ein Wahrscheinlichkeitsbegrif« (551,26f.; Hervorhebung von mir). Die Identifikation von distinkten Ge-

genständen, die Strukturierung der Erscheinungswelt ais Ensemble von Einzeldingen ist dann Resultat der Erfahrung, Produkt der Akkumulation von Erfahrungen, in deren Verlauf sich eben auch Kriterien der Interpretation von Erfahrungen bilden, welche Kriterien sich also ihrerseits der Erfahrung verdanken und auf deren genetisch-subjektive, individuellbildungsgeschichtliche

Struktur bezogen

bleiben.

Freilich erfoigt dıe Ent-

wicklung der distinkten Weltwahrnehmung nicht schlechterdings regellos und individuell beliebig; denn dann wäre eine intersubjektive Verständigung gerade über dıe Differenzen der Gegenstandserfassung unmöglich.

macher

nennt

ein doppeltes

Prinzip

der Trennung

Schleier-

der Objekte

in der

Außenwelt#3: Zum einen können Gegenstände entsprechend den »verschiedenen Arten der Wahrnehmung« (553,6) als »besonderes Objekt des Auges, des Ohres« etc. (553,10f.) unterschieden werden (vgl. auch 575,14-19).

Zum anderen erschließt allererst die Veränderung eines Raumes in der Zeit die interne Differenzierung dieses Raumes, ebenso wie umgekehrt erst ein Ortswechsel im Raum die zeitliche Strukturiertheit der Gegenstandswahrnehmung

solche

(bzw.

der wahrgenommenen

Kontinuitätsunterbrechungen

Gegenstände) offenbart.

und

deren

erinnernde

Nur durch

Akkumulation

zerfällt ein Raum nach und nach in distinkte, variable, als Individuen interpretierte Teile. Diese Abhängigkeit von den Sinnen bringt es mit sich, daß

üblicherweise der eigene Körper als Individuum behandelt wird, obwohl er doch eine sıch permanent wandelnde »Masse« mit »ganz fremdartig(en)« Teilen (vgl. 551,29-32) darstellt, aber nicht die Luft in einem umgrenzten Raum, obwohl sie sich doch von der Luft außerhalb eindeutig unterscheidet

(vgl. 551,32-36). Die Konventionalität der Individualitätszuschreibung darf deshalb nie absolute Geltung beanspruchen, wıe für Spinoza, so gibt es auch für Schleiermacher kein absolutes Individuum (vgl. 531,4). Diese relativistische Theorie der Individualität entspricht ganz dem konzeptionellen Profil von Schleiermachers Jugendschriften. Sie integriert sowohl den Gedanken der Genese (menschlicher) Individualität ın der Resonanz und Kontextualität (sozialer) Prozesse, wie ıhn Schleiermacher

bereits in den Aristoteles-Anmerkungen entwickelt hatte, als auch den Ge-

43

Er setzt dabei die »Unterscheidung innerer Empfindungen und äußerer Anschauungen«

voraus, ohne die Frage klären zu müssen, wıe es dazu »gekomen« ist (552,36f.): »durch dıe Natur oder durch Uehung und Konjektur« (553,1).

2. Der »Fluß der endlichen Dinge«

445

danken der Perspektivität, der Kontext- und Bildungsabhängigkeit der Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihrer individuierenden Strukturierung,

wie ihn von den Aristoteles-Anmerkungen über die kommunikationstheoretischen Erwägungen der Abhandlung »Ueber den Styl«, die große Freiheitsschrift bis hin zu der kulturellen bzw. geschichtlichen Situierung

individueller Lebensperspektiven in WL

und ÜdG

alle frühen Schriften

Schleiermachers reflektieren. Sie dokumentiert zudem, wie Schleiermachers ursprüngliche sozialtheoretische 'Leitimagination' Konsequenzen zeitigt für

die Rezeption, Kritik und Weiterführung wichtiger philosophischer Referenzsysteme. Sie zeigt überdies ein weiteres Mal, daß zumindest Schleiermachers frühe Theoriebildung mit dem Schlagwort vom "absoluten Wert des Individuums’ unzureichend, wenn nicht falsch charakterisiert wäre, ist doch das Interesse an der Individualität immer umgriffen von dem Interesse an der Darstellung der Relarionierung von Individuen und deren Bildung aus und ın solchen Relationsgeflechten. Mit der These der Unselbständigkeit des Individuums weist sie schließlich voraus auf die Ambiguität des

Individualitätskonzepts in den Reden »Über die Religion«, wo Schleiermacher einerseits die unaufhebbare Individualität der Religion betont und

auf dıeser Basıs dıe Bildung religiöser Sozıalität beschreibt, andererseits aber das eschatologische Aufgehen der isolierten Individuen in die Allein-

heit des Universums beschwört®?. 2.2. Personalität und Selbstbewußtsein

Wenn alle Identitätswahrnehmung auf den Bereich der Empirie beschränkt ist und dort nichts anderes als ein näherungsweises Urteil, mithin nur eine ungefähre und zeitbezogene Zuschreibung von Individualität sein kann, was bedeutet das dann für den Spezialfall der Selbsr-Erfassung des menschlichen Individuums als des Subjektes aller solchen Zuschreibungen - wobeı diese Selbsterfassung sowohl dıe konkrete Individualität als auch die Zugehörig-

keit zur Gattung umfassen muß und daher die Individualitätszuschreibung auch an Andere impliziert -? Wie läßt sich - anders gefragt - die transzendentale Frage nach dem Subjekt aller Erfahrung verhandeln, wenn diese Subjektivität wiederum nur ın ihren pluralen individuellen Konkretionen (Erscheinungen}

und

wahrgenommen

werden

deshalb

44

Vgl. oben die Einführung.

45

Vgl. unten Kap. 11, 2.3.

ıhrerseits nur als Gegenstand

kann?

Ist

also

Selbstbewußtsein

der Erfahrung

ebenfalls

nur

446

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

phänomenal, approximativ, »fließend« (549,9)? Schleiermacher widmet diesem Komplex unter dem Problemtitel Personalıtät und Person eine lange Anmerkung (538,32 - 545,28), und es wundert nıcht, daß sich diese nur locker an ein Problem der Spinozainterpretation und -kritik anlehnt?6, im weiteren sich jedoch ausschließlich mit Kanı und vor allem Jacobi beschäf-

tigt und damit auf erhöhtem Reflexionsniveau und in elaborierter Form die

Fragestellungen der Jacobi-Exzerpte aufgreift®?. Erst mit der Einsicht ın die radıkale Nichtsubstanzualität und Phänomenalität der Einzeldinge hat Schleiermacher nämlich die Möglichkeit einer präzisen

Beurteilung

von

Jacobis

Personalitätstheorie

gewonnen*3.

Diese

geht aus von dem Grundbegriff der Person als »Identität mit Bewußtseyn« (539,10f.).

Aus

der Tatsache

aber,

daß Jacobi

zwischen

subjektiver

und

objektiver Personalität unterscheidet und so die Möglichkeit einerseits eines bloß subjektiven, scheinbaren Bewußtseins der Identität des Selbstbewußtseins, andererseits einer objektiv-realen Personalität ohne Bewußtsein davon anerkennt, schließt Schleiermacher, daß Jacobis Personbegriff hinzielt auf ein ontisch-substanziales Substrat, auf das sich die Einheit des Selbstbewußtseins zu beziehen hat (vgl. 541,5-13). Denn erst dann ist es denkbar,

daß das Bewußtsein dieser Einheit entweder ohne Beeinträchtigung des objektiven Personseins fehlt oder umgekehrt unbegründeter Schein ist - ıst doch nach Schleiermacher die Einheit des Selbstbewußtseins selbst »empirisch gewiß«, indem »die verschiednen Actus des Bewußtseyns (...) durch die Identität des Subjekts (,) worauf die verschiednen Vorstellungen bezogen werden (,) mit einander verknüpft« sind (540,9-15, Hervorhebung

von mir), und sind auch gegen das Bewußtsein dieser Identität empirische Zweifel nicht möglich, da es das transzendentale Bewußtsein des einheitlichen Ichs ausmacht, das alle 'meine' Vorstellungen begleitet. Jacobıs For-

derung der Korrespondenz von Einheit des Selbstbewußftseins und Identität der Substanz eröffnet hingegen allererst dıe Möglichkeit der Nichtentsprechung und des Verfehlens. Sie ıst der Kantischen Unterscheidung und Zuordnung von empirischem und intelligiblem Subjekt »ganz parallel« (542,5),

freilich

ohne

Kants

kritische

Ausgrenzung

des Noumenalen

aus

dem Bereich des Erkennbaren. Jacobi lehrt deshalb nicht die schlechthin-

46

Es handelt sich um einen Satz aus der gegen Herders Gottesverständnis gerichteten 4. Beilage zur zweiten Auflage von Jacobis Spınoza-Briefen: »Von einer Intelligenz ohne Personalität hatte Jacobi 337}.

47

Vgl. oben 1.2.

48 Vgl. oben 1.3.

ıch

[sc.

Jacobi]

keinen

Begrif«

(KGA

1/1,

538,12f.,

zitierend

aus

2. Der »Fluß der endlichen Dinge«

447

nige theoretische Unerkennbarkeit der substanzialen Identität, sondern nur,

daß diese dem (541,27,

Menschen

Hervorhebung

»nicht aus denselben

Gründen

erkennbar

ist«

von mir) wie die empirische Einheit des Selbstbe-

wußtseins. Gemäß Jacobis Glaubensbewußtsein qua Realität der Erscheinungen der empirisch-kontingenten

Konzeption kommt hierfür nur das unmittelbare Offenbarung in Frage, das die ontologische vergewissert. Freilich muß das auf der Ebene Erfahrung, der verständigen Reflexion und der

sozialen Existenz, auf der nur historische oder Wahrscheinlichkeitsurteile möglich sind, verortet und operationalisiert werden, und dies geschieht hin-

sichtlich der eigenen Anderer:

in anderer Weise

als hinsichtlich

der Personalität

Schreibt jeder sich selbst unmittelbar Einheit des Selbstbewußt-

seins und nach der Analogie auch Identität der Substanz zu®?, so ist umgekehrt am Anderen unmittelbar (aufgrund der unmittelbaren Objektivitätsgewißheit) nur die Einheit der Substanz zugänglich, während ihm die (je unmittelbare, von außen nicht erfaßbare) Identität des Selbstbewußtseins nach Analogıe zur Selbsterfahrung zugeschrieben werden muß (vgl. 541,

25-33). Unerachtet der formalen Nähe dieses Gedankens zur kommunikationstheoretischen Konzeption des jungen Schleiermacher?®:

Ungleich deutlicher

als an den eigentlichen Jacobi-Exzerpten wird hier, daß Schleiermacher Jacobis Theorie der unmittelbaren Gewißheit der Substanzialität der Gegenstandswahrnehmung dezidiert richt übernimmt. Indem er Jacobis Identität der Substanz kantianisierend auf die Noumensphäre bezieht, macht er sie zum »leere(n) Begrif« (542,10); übrig bleibt »nur der phänomenische Begrif

der Personalität« (542,28 - 543,1; Zitatumstellung von mir). Damit fällt Jacobis Klassıfıkation subjektiver und zugleich objektiver, zur subjektiver und zur objektiver Personalität (vgl. 539,11-17) dahin. Innerhalb der Phänomenalıtät kann allerdings zwischen unvollkommener und vollkommener Personfalıtät)

unterschieden

werden:

»Continuität des Bewußtseyns«,

durch

die

die überhaupt »die ratio cognoscendi

Beide

sind

konstituiert

des

Selbst ist« und ohne die »dıe Vorstellung des Ichs und seiner numerischen Einheit nie zu Stande kommen könnte« (543,12-16); eben diese Vorstellung, dieses Bewußtsein der Einheit der eigenen Bewußtseinsakte, geht aber der unvollkommenen Person ab. Diese entspricht daher formal Jacobis

49

Problematisch ist allerdings, warum gemäß Jacobis eigener Theorie das unmittelbare Gewahrwerden der Einheit des eigenen Selbstbewußtseins nicht eo ipso - im Medium des Glaubens - über die entsprechende substanziale Identität gewiß macht, warum es also des Analogieschlusses bedarf.

50 vgl. oben Kap. 1 und passim.

448

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

bloß-objektiver Person, die nur das Prinzip der Personalität, nicht aber deren Aktualisierung repräsentiert. Schleiermacher beansprucht, mit dieser Personalitätstheorie teilweise

implizit gebliebene Motive Kants entfaltet Angesichts des Profils von Schleiermachers

zu haben (vgl. 543,17f.). bisheriger Kant-Rezeption>!

überrascht es freilich nicht, daß er Kants eigentliche Lösung des Personalitätsproblems ebenfalls verwirft: die Lehre von der moralischen Personalität. Denn der Begriff der moralischen Person kann weder mit der noumenischen

noch mit der phänomenischen

Person ıdentifiziert oder als mit einer von

diesen allgemein und notwendig verknüpft gedacht werden. Zwar ımplizieren die Prädikate der Selbstzweckhaftigkeit und der vernünftigen Selbst-

bestimmung eine »Unabhängigkeit« der moralischen Person »vom

Mecha-

nismus der Natur« (544,2), aber sie erhellen deshalb noch keineswegs das

unergründliche Dunkel der Noumenalsphäre und ıhrer Verbindung zu den Phänomenen,

so daß es unausgemacht bleiben muß, ob dıe vernünftige Wil-

lensbestimmung tatsächlich auf ein intelligibles moralisches Subjekt zurückverweist (vgl. 544,16-25). Ebenso wenig sind diese Prädikate mit der empirischen Bestimmung der Personalität als »Identität des Bewußtseyns« (544,1) zu identifizieren oder zu verknüpfen. Identität des Bewußtseins

»ınvolvirt« (544,7) weder notwendig die Tätigkeit eines »Begehrungsvermögen(s)« noch die Unabhängigkeit vom Naturmechanismus (vgl. 544,7-14). »Selbstbewußtseyn« beruht »nicht auf der Selbstbestimmung« (544,14-16;

Hervorhebungen

von mir)”;

»es kann sehr viele theoretische Personen

geben (,) welche keine praktischen sind, und es nie werden können« (545, 7f.). Umgekehrt setzt Seibstbestimmung hingegen Selbstbewußtsein voraus, so daß jedes moralische Subjekt immerhin empirische Person sein muß;

über eine noumenale

Identität ist damit

weiterhin

nıchts ausgesagt,

die

Unabhängigkeit der moralischen Selbstbestimmung vom Naturmechanismus

über dıe Etablierung eınes ıntelligiblen Subjektes jedenfalls auch auf diesem Weg nicht zu begründen.

Nur als Erscheinung, nur in der räumlichen und zeitlichen Erstreckung ist also individuelte Personalität, d.h. Identität des Selbstbewußtseins durch

alle Veränderungen

hindurch

und

Bewußtsein

dieser

Identität

möglich.

Dabei fällt die formale Struktur der allen Vorstellungen des Ichs vorausliegenden, ihnen zugrunde liegenden und sie begleitenden Selbstreferentiali-

tät-

in

Kantischer

Terminologie

die

transzendentale

Subjektivität,

ın

SI Vgl. oben Teil II. 52

Dies gilt, wie Schleiermacher eigens hervorhebt (vgl. 544,15), Deduktıon seldst.

auch in der Kantischen

2. Der »Fluß der endlichen Dinge«

449

Jacobis Diktion das unmittelbare Selbstbewußtsein als die Einheitsform des

Ichs?? - zusammen mit den je individuellen, kontingenten Selektions- und Syntheseprozessen, in denen der Einzelne je neu durch Auswahl und Verknüpfung von erinnerten und als eigene erfaßten Vorstellungen zu einer Reihe in der Zeit ein Bewußtsein seiner biographischen Identität produziert, einer Identität, dıe je gegenwartsfunktional perspektivisch sich wandelt, die unabschließbar - auch durch die Annahme eines substanzialen Substrats nicht definitiv zu sistieren ist. Es sind dies genau jene Prozesse der Erringung individueller Selbstverhältnisse, deren kontrollierten und 'realistischen' Vollzug Schleiermacher ın der Schrift »Ueber den Werth des Lebens« ausführlich beschrieben und erörtert hatte?*. Aber auch die 'Rekonstruktion' der biographischen Identität Anderer muß auf diese Weise, also perspektivischh momentbezogen und ohne definitive Festlegung erfolgen. Da zugleich unterstellt werden muß, daß der Andere sich selbst ın analoger Art synthetisiert, ergibt sich ın der sozialen Kommunikation die Aufgabe der je neuen Abstimmung der Perspektiven, die in gewisser Hinsicht die Personalität der Beteiligten je neu schafft. Die radikale Phänomenalisierung auch der Personalität erhöht deshalb die Bedeutung des sozialen Umgangs, der sozialen Interaktion und Resonanz für die SelbstBildung; sie bleibt damit der sozialtheoretischen Leitkonzeption der Ari-

stoteles-Anmerkungen verbunden und weist voraus auf den »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« als das Konzept einer spezifischen, nichtalltäglichen Sozialform, die freilich darın paradıgmatisch ıst, daß ın ıhr dıe

Sphären und

der beteiligten Individuen zugleich als solche erkennbar werden

bleiben

und

sich wechselseitig

durchschneiden

und

durchdringen,

so

daß etwas Neues, Eigenständiges, zugleich auf die Individuen verändernd und bildend Rückwirkendes entsteht: die Sphäre der Geselligkeit. Allerdings ist in den Spinoza-Anmerkungen der Aspekt der bei aller Reso-

nanzsensibilität unaufhebbaren artigkeit) der Individuen,

Selbständigkeit

und

Invarıabilität

also das, was Jacobi das allem

(Einzig-

Bestimmtwerden

vorausliegende ursprüngliche Bestimmtsein genannt hatte??, noch nicht hinreichend erfaßt: Im »Fluß der endlichen Dinge« stellen auch menschlichpersonale Individuen nur temporäre Partikelagglomerationen mit freilich relativ starken Bindungskräften dar; wenngleich der Gedanke des empirisch-evolutionären Charakters von Individualität zumindest einen relativen

53

Yel. oben 1.3.

54

Vgl. oben Kap. 6.

55 Vgl. oben 1.2.

450

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobı/Spinoza-Studien

'Selbstand-ım-Werden'

impliziert,

der dem

beständigen

Fließen jedenfalls

nicht völlig ohne Selbststeuerung ausgesetzt ist.

2.3. Metaphysik des Endlichen

Was unterscheidet Schleiermachers Konzeption hier noch von einem puren

Empirismus, den er doch sonst so emphatisch ablehnt?6? Schleiermacher eliminiert die Frage nach dem Wesen, nach dem Sein des Seienden, nach der Substanz keineswegs. Schon die Bezeichnung der Gegenstände der em-

pirischen Anschauung als erwfliche und dıe Behauptung ihrer ontologischen Unselbständigkeit erzwingt wenigstens die Frage nach dem selbständigen Grund des Unselbständigen, nach dem ontologisch Realen. Zwar kann das Wesen

gegen

Jacobı

nicht unmittelbar an den

Gegenständen

der empiri-

schen Anschauung abgelesen werden, und ebenso wenig können (gegen die vorkritische Tradition) spekulative Aussagen darüber ohne Anhalt an der Empirie gemacht werden; aber jedenfalls soviel läßt sich sagen, daß es zum Wesen wesentlich gehört, sıch ın die Pluralität der raum-zeitlichen Erscheinungen zu individuieren. Für die Erscheinungen bedeutet das umgekehrt,

daß ihre raum-zeitliche Konstituiertheit und ihr Erscheinungscharakter nicht bloß Funktion der Subjektivität des Betrachters, d.h., nicht bloße subjektive

Anschauungsform sind, sondern ihr eigentliches Wesen ausmachen. In der unendlichen Fülle des Endlichen macht sich das an sich vollkommen unvorstellbare Unendliche mittelbar vorstellbar; indem es sich dergestalt unendlich verendlicht, erweist es seine Fähigkeit, »dıe Form eines jeden Vorstel-

lungsvermögens Schleiermacher

anzunehmen« mithin dazu,

(575,14f.).

Die

Spinoza-Studien

Kant so (um)zudeuten,

führten

daß Jacobis Subjekti-

vismus- und Idealismus-Vorwurf nicht zutraf?>’. Dies ermöglichte ihm zudem, das am Paradigma der Sozialbeziehungen und der ınnerpsychischen Prozesse entwickelte Denken ın mehrstelligen Relationen und wechselnden Perspektiven ontologisch zu fundieren, ohne die Kantische Einsicht in die Phänomenalıtät (Bewußtseinsbezogenheit) des Erkennbaren preiszugeben und zu vorkritischen Ontologien zurückzukehren.

Es ist also ein eigenstän-

dig zugleich radikalisierter und ontologisch modifizierter Kant, dem Schleiermacher sich verpflichtet zeigt.

56

Vgl. etwa ım »Freiheitsgespräch«,

57 Vgl. dazu Herms, Herkunft, 148.

160,27f., und dazu oben Kap. 4, ?.

3. Inhärenz des Endlichen im Unendlichen

45]

3. Inhärenz des Endlichen im Unendlichen: Der Neuansatz der Theologie als Funktion der Kosmologie Schleiermacher kennzeichnet Spinozas Lehre vom »Unendliche(n) (...), innerhalb dessen alles endliche ist« (564,21; im Original gesperrt), aus-

drücklich als »Theologie«?8. Diese Pointierung der Spinozistischen Substanzmetaphysik auf ihren theologischen Aspekt wird besonders plastisch durch die Behandlung von Spinozas Kritik der traditionellen Lehre von den

göttlichen Eigenschaften und Außenrelationen (vgl. 563,13 - 564,11), welche Kritik nach Schleiermacher der historische Auslöser für Spinozas Systembildung war, wenn sie auch deren »thetische« (positive) Fassung nicht hinreichend erklärt (vgl. 563,2-7 und 564,11-13). Es ist primär diese Kritik, die den Vergleich mit Schleiermachers eigener bisheriger Thematisierung von Theologie und Religion ermöglicht und dadurch Aufschlüsse darüber erwarten läßt, welche spezifische Attraktivität Spinozas InhärenzTheologie für Schleiermacher gewinnen konnte. Freilich muß beides, die Kritik des klassischen (dogmatischen und/oder philosophischen) Theismus und der Neuansatz einer nichttheistischen, kosmologischen Theologie,

zusätzlich verglichen werden mit Jacobis ebenfalls orthodoxie- und rationalismuskritischem,

gleichsam

'nichttheistischem Theismus’

Schleiermachers Jacobi-Exzerpten,

wenn

(wıe er auch

auch nur beiläufig und

in

unkom-

mentiert, erscheint??), damit deutlich wird, ob und in welchem Umfang der Jacobı-Einfluß auch für dıe Theologie eine Rolle spielt und wıeweit die

Spinoza-Rezeption selbst dadurch bereits gebrochen und modifiziert isı®®.

3.1. Rekapıtulation von Schleiermachers bisheriger Kritik der Theologie und von seinen Versuchen eines Neueinsatzes Biographisch ist das Thema der Religion für Schleiermacher durchgängig

von höchster Bedeutung®!, und auch die theoretische Reflexion auf Religion und auf vorgegebene theoretische Erfassungen - theologische Selbstexplikationen und philosophische Rekonstruktionen - der Religion bricht nıe

58

So schon die Gliederung der »Kurzen Darstellung des Spinozistischen Systems=, 561,8; ansonsten aber passım.

9

Vgl. unten 3.3.

60

Das Letztere ist die Interpretation von E. Herms; vgl. Herkunft,

61

Dies zeigt S. Eck: Ueber die Herkunft des Individualitätsgedankens bei Schleiermacher. Giessen 1908, Darın hat auch dıe Interpretationsperspektive Quapps ıhr Recht.

144.

452

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobı/Spinoza-Studien

völlig ab,

wenngleich

sie in den

»Schriften

und

Entwürfen«

des Jugend-

werks in der Regel nur am Rande und unbetont erscheint. Die Äußerungen zur dogmatischen und philosophischen

Theologie sind dabei insgesamt von

scharfer Kritik geprägt, während überall die Mühe sichtbar wird, der Religion eine theoretische Valenz zu sichern oder neu zu gründen, die ihrer (unbestrittenen) Bedeutung für die Lebensführung entspricht und diese ausdrückt. Läßt sıch die subkutane Prägung von Schleiermachers Denken durch das Herrenhutische Gemeinschaftsleben kaum überschätzen®2, so zeigen auch Schleiermachers Erläuterungen zu seinem Bruch mit Herrenhut

ein charakteristisches Doppelgesicht: auf der einen Seite die intellektuellen Zweifel an der Lehre von der Gottessohnschaft Christi und von der Möglichkeit

und

Notwendigkeit

eines

stellvertretenden

Sühneleidens

Christi,

d.h. an Elementen der orthodoxen Dogmatik, auf der anderen Seite ein durchgehaltener Glaube an den Gott der Schöpfung und der Vorsehung®*. Ähnlich bedeuten auch später die Kritik an Kirchendogmatik überhaupt, aber ebenso an der rationalen Theologie der Neologen®®,

und die Elimina-

tion aller theologischen Begründungen

ın der Erhik (samt Kants subtiler

Wiedereinführung

in Gestalt eines notwendigen

des

Gottesgedankens

Po-

stulats der praktischen Vernunft)?” keine prinzipielle Verabschiedung der Religion. Im Frühwerk entwickelt Schleiermacher vielmehr mindest vier Ansätze zu Ihrer theoretischen Verortung: (a) In den Aristoteles-Anmerkungen und in den frühen Predigten erscheint die Religion neben dem Sittengefühl und der Freundschaft als

Instanz der Motivationsverstärkung der Realisierung von Sittlichkeit, was deswegen erforderlich ist, weil Schleiermacher im Gefolge von Eberhard

die Schwäche der Vernunft an sich bei der Willensbestimmung behauptet6® und weil die Grenzen der Handlungsfähigkeit des Einzelnen immer das vom vernünftigen

Sittengesetz Geforderte unterschreiten;

dıe Relıgıon

verstärkt

dabei einerseits am Ort des Individuums die innere Verbindlichkeit der praktischen Vernunft, während sie den Einzelnen andererseits über dıe

62 Vgl. Eck, Individualitätsgedanke, 26 - 59. 63 Vgl. KGA V/1, 50: Brief 53 an den Vater vom 21.1.1787, Z. 27-33. 64 Vgl. KGA V/l, 63: Brief 59 an den Vater (vor Mitte März 1787), Z. 20-29; ferner 182: Brnef 131 an den Vater vom 23.12.1789, 65

Vgl. KGA

V/1,

Z. 5-13.

152 - 154: Brief 1723 an Brinckmann vom 28.9.1789,

66 Vgl. KGA V/1, ebd. 67 Vgl. hG und dazu oben Kap. 4, 1. 68

Vgl. oben Kap. 1, besonders 1.2.2., und Kap. 2, 2.3.

Z. 65-117.

3, Inhärenz des Endlichen im Unendlichen

453

Endlichkeit seiner sittlichen Kräfte hinwegtröstet und die aus der Erfahrung des eigenen Ungenügens folgende Verzweiflung abfedert. (b) Der Abfederung eigener Unfähigkeit bzw. Abhängigkeit, nun aber speziell in der Jugend, dient die Religion auch ın »An Cecilie«. Sıe leistet das, indem sie dem jungen Menschen eine universale Ordnungsstruktur, ein umfassendes Deutungssystem anbietet, das seinen fehlenden Handlungsspielraum und seine subalterne Stellung durch eine noch größere Abhängiıg-

keit umgreift und damit tröstend relativiert6®. (c)

In durchaus

ähnlicher

Weise

wıe

in den

Arıstoteles- Anmerkungen

werden in hG die Ideen von Gott und Unsterblichkeit dem natürlichen und unabweisbaren

Interesse an der Glückseligkeit zugeordnet,

das wiederum

zwar unter keinen Umständen mit der reinvernünftigen Bestimmung des sittlichen höchsten Gutes vermischt werden darf, das aber eine anthropologische, gleichsam propädeutische Funktion für das sittengesetzgemäße Leben hat, indem das Streben nach Glückseligkeit als nach einer harmoni-

schen, ausgeglichenen, proportionalen Entfaltung «aller Seelenvermögen die Voraussetzung dafür schafft, daß das relatıv schwache das Sittengesetz repräsentierende Sittengefühl im Ensembie der Seelenkräfte bei der Verhaltensorientierung

und

Willensbestimmung

seine

Wirkung

entfalten

kann.

Religion hilft also ın einer unausgeführten Weise mit bei der Sedierung und Harmonisierung der Leidenschaften, wodurch - mit einem Ausdruck aus WL - bestimmungsgemäße Lebensführung allererst möglıch wird. Die Relıgıon ıst so aus der Metaphysik und der Ethik ın dıe Anthropologie überge-

wandert’o. (d) In ÜdF und WL schließlich soll der Gottesgedanke die Gerechtigkeit der Einrichtung der Welt garantieren, indem die göttliche Vorsehung nach Maßgabe des Begriffs der göttlichen Güte und Gerechtigkeit so gedacht werden muß, daß unerachtet der manifesten Differenzen der individuellen Lebensumstände und Lebensbedingungen die Lebenswege Aller zum selben guten Ziel führen werden.

Alle diese Ansätze verorten die Religion anthropologisch. Der vierte Aspekt erweitert die Individualperspektive freilich bereits ins "Universalanthropologische', gewissermaßen 'Menschheitsgeschichtliche'. Er bereitet damit den Überschritt des Religionsthemas in die Kosmologie vor, den die Spinoza-Studien nun vollziehen,

69

Vgl. oben Kap. 3, 3.

70 „An Cecilie« beschreibt den krisenhaften Vollzug deses Überganges.

454

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacoby/Spinoza-Studien

3.2. Spinozas Kritik eines persönlichen, extramundanen Gottes Nach

Schleiermacher entzündet sich Spinozas

Polemik gegen

die Vorstel-

lung eines weltdistanzierten Gottes mit bestimmter Identität an der Frage des Hervorbringens von Endlichem, genauer: des zeitlichen Aus-sichheraus-Schaffens von vorher nichtexistenten 'äußeren' Dingen durch das Unendliche. Dieser Gedanke der creatio ex nıhılo widerspricht dem Grundsatz des ex nıhılo nıhil fıt (vgl. 563,33 - 564,3). Er verletzt zudem die

Lehre von der Unveränderlichkeit Gottes, da er nach der Erschaffung eines neuen Einzeldinges ein im Vergleich zu vorher verändertes Verhältnis Got-

tes ad extra impliziert. Ist das aber unmöglich, dann kann Gott auch kein Wille und kein Verstand zugeschrieben werden. Denn Wollen ist »nur da, wo ein neues Verhältniß eines Dinges zu andern entstehn soll« (563,13f.),

und der Verstand ist abhängig von »Vorstellungen und Urtheile(n)« (563,17), die wiederum bei der Wahrnehmung eines solchen - durch den Willen oder durch äußere Verhältnisse hervorgerufenen - neuen Verhältnisses gebildet werden (vgl. 563,13-21), also nur im Bereich des Endlichen, räumlich-zeitlich Begrenzten und Variablen. Verzichtet man daraufhin nıcht völlig auf etwas »der Sinnenwelt zum Grunde liegende(s) an sich existirende(s)« (569,27f.) - und dieser Verzicht ist durch die These von der

Unselbständigkeit des Endlichen ausgeschlossen’! -, so kann dieses mithin jedenfalls nicht als die dem Endlichen äußerliche Kausalursache des Endlı-

chen aufgefaßt werden. Es bleibt der Weg über den /nhärenz-Gedanken. Die Kritik der traditionellen Theologie trifft auch Leibniz und Kant. Wenn

die unendliche

Monade

die endlichen

gegen das ex nihilo nihil. Außerdem die unendliche

Monade

qualitativ

geschaffen

hat,

verstößt

das

kann Leibniz nicht sagen, was denn

(und

nicht nur graduell)

von

der

Welt

unterscheidet, besteht diese doch ebenfalls aus Monaden. Körperlos kann die unendliche Monade jedenfalls nicht sein, da sie dann nichts vorstellen könnte, und so bleibt nur die Alternative, entweder Gott durch einen eigenen Monadenkörper zu individweren und damit zur von Spinoza verworfenen

Tradition

zuzuweisen

und

zurückzulenken

ihn dergestalt

oder

ıhm

(faktisch

»die ganze

spinozistisch)

Welt«

als »Körper«

mit der Welt

zu

identifizieren (vgl. 570,10-14). Auch Kant läßt es zu, »sich ein unbedingtes außer der Reihe zu denken« (während Spinoza das Unendliche nur als »Inbegrif des Bedingten« anerkennt; 570,22-24). Allerdings lehrt Kant dieses Unbedingte nicht als die »Ursach der Sinnenwelt« (570,29f.); diese

ist vielmehr

(570,30f.)

FL Vgl. oben 2.3.

»ein

Erzeugniß

der Verstandeswelt«

(was

wohl

3. Inhärenz des Endlichen im Unendlichen

455

bedeuten soll: der transzendentalen Kategorien) »und des Menschen« (d.h.: der

synthetisierenden

Anwendung

dieser

Kategorien

auf Wahrnehmungs-

data). Kants Unbedingtes soll den »ewigen Regressus« denn auch keineswegs aufhalten und »den Anfang der endlichen Dinge nicht erklären« (570, 27£,). Nur ein »inkonsequente(r) Rest des alten Dogmatismus« (570,38) ist es dann, der Kant veranlaßt, darüberhinaus »ein außerweltliches Ding als Ursach der Verstandesweli anzunehmen« (570,34f., Hervorhebung von

mir), obwohl er doch nach seiner eigenen Erkenntniskritik gar nicht wissen kann, »ob überhaupt die Kategorie der Causalität auf die Noumena anwendbar ist« und »ob jene Welt ein Bedingtes ist, wozu er ein Unbedingtes zu suchen

braucht«

(5370,35-37).

Deshalb

- so

Schleiermachers

Resümee -

müßte der Kantianismus, »wenn er sich selbst versteht« (570,25f.), ın der Ablehnung eines transmundanen Gottes auf Spinozas Seite stehen,

3.3. Jacobıs nıcht-theistischer Theismus

Inwiefern trifft diese Kritik auch Jacobi Jacobıis Theologie steht eigentümlich zwischen dem traditionellen Theismus und Spinozas Inhärenz-Theologie. Er teilt die Kritik an der rationalen Theologie, aber aus Gründen, die Spinoza selbst mittreffen, und mit einer Älternativkonzeption, dıe an der

Personalität und extramundanen bestimmten Identität Gottes gerade festhält. Er verneint nämlich die Erkennbarkeit und Begreifbarkeit Gottes mit den Mitteln der menschlichen Vernunft, die er bekanntlich als das Vermögen der sekundären (vermittelten) noetischen Strukturierung der sich den Sinnen erschließenden Außenwelt auffaßt??2, und diese erkenninistheoretische Relativierung der Vernunft impliziert eine Kritik Spinozas sogar noch mehr

als eine Ablehnung der rationalen Theologie, da Jacobi in Spinozas Metaphysik die Vollendungsgestalt des einen Totalzugriff auf die Wirklichkeit

sich anmaßenden Rationalismus erblickt?3. Vollzieht sich rationales Denken nach Jacobı mithin auf der Ebene des Endlichen im Modus von Vermittlungen, so muß die 'Erkenntnis' des Unendlichen im Modus der Unmittelbarkeit erfolgen. Sie muß als Implikat des unmittelbaren Realitätsbewußtseins gefaßt werden können. Die konkrete Bestimmtheit des Gottesgedankens muß sich daran erweisen. Wenn

Jacobi

also dabei

zu denselben

elementaren

Gottesprädikationen

kommt wie die Tradition (Extramundanität und Personalität Gottes), dann

72

Vgl. oben 1.3.

73

Vgl. Spinoza-Briefe, ed. Scholz, 173 - 180, vgl. Beylage VII, 263 - 279.

456

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

auf völlig anderem Wege.

Wie bereits dargestellt’”*, verbindet er zwei Ar-

gumentationsstränge: Zum einen schließt er von der geschichtlich-kulturellen Abhängigkeit jedes Einzelwesens (»Ich bın nıcht durch mich selbst«, 586,9f.) auf dıe Abhängigkeit der Welt überhaupt von einem nıcht zur Welt selbst gehörigen Wesen, dem Weltschöpfer. Indem er die Welt als umfassenden Dependenzzusammenhang sieht, zugleich aber im menschlichen Willen die Instanz erkennt, die diesem Zusammenhang enthoben ıst und

deshalb Freiheit garantiert, kann er - zum anderen - dem extramundanen Weltschöpfer in Analogie dazu einen Willen und damit distinkte Identität zuschreiben; umgekehrt kann er dann den menschlichen Willen als Repräsentanten oder genauer sogar als Erscheinungsweise, als »Othem« der

Gottheit bezeichnen, in der Ausrichtung der Willensbestimmung auf Gott partizipiert der Mensch an der göttlichen Liebe, die Äußerungen der Liebe sind begleitet von einer Freude, die - wie Jacobi mit einer fast Spinozischen Denkfigur sagt - die Freude ist, »die Gott selbst an seinem Daseyn hat« (Th. 5If.). Erfolgt der Schluß von der individuellen Abhängigkeit über die Abhängigkeit der Gattung auf die Notwendigkeit eines extramundanen Weltschöpfers zwar

nach

dem

Modell

der klassischen

Gottesbeweise,

er rekurriert

gleichwohl nur auf den consensus gentium und beansprucht mithin nicht strenge rationale Stringenz, verfällt deshalb Jacobis Vernunft-Verdikt nicht, kann umgekehrt freilich dıe Begründungslast für die Theologie nicht alleine tragen.

Diese

Begründungsfunktion

analogie zu. Das Faktum

fällt denn

auch

primär

der

Willens-

des Willens ist aber nicht "demonstrierbar',

es

erschließt sich nur unmittelbar, ıst genau aus diesem Grund jedoch von un-

bedingter Evidenz, Diese unmittelbare Gewißheit gilt nach Jacobi dann auch für die 'Erkenntnis' des personalen Weltschöpfers.

Ganz

offensichtlich

übernimmt

Schleiermacher

diese

Fundierung

des

Gedankens eines personalen, extramundanen Weltschöpfer-Gottes im Faktum des menschlichen Willens nicht; sie löst ja auch die von Spinoza aufge-

zeigten immanenten Aporien dieses Gedankens’> in keiner Weise. Wohl übernimmt er die formale Struktur dıeser Fundierung, nämlich daß Gotteserkenntnis - wie auch immer sie inhaltlich zu bestimmen sein mag - nicht über die diskursive Vernunft vermittelt sein kann, da diese sich nur auf Endliches bezieht, daß sıe deshalb unmittelbar sein muß. Änders als Jacobı

will Schleiermacher aber mit dem Gedanken des Unmittelbarkeits-Modus der Gotteserkenntnis nicht das traditionelle Weltkausierungsmodell über die 74 Vgl. oben 1.1. 75 Vgl. oben 3.2.

3. Inhärenz des Endlichen im Unendlichen

457

Klippe der Kantischen Erkenntniskritik hinweg retten; ım Gegenteil hält er

die Kritik dieses Modells sogar radıkaler als Kant selbst durch. Gerade der Gedanke

des

unmittelbaren

Innewerdens

des

Unbedingten

ermöglicht

es

ihm, das Unbedingte konsequent unter Vermeidung der Kausalitätskategorie zu denken: als das Ensemble, dıe Toralirät, den Inbegriff des Bedingten und Endlichen, nicht als dessen Hervorbringer. Insofern das Ganze kategorial etwas anderes ıst als seine ihm inhärierenden Teile, diese aber nicht erzeugt, insofern die Teile jedoch als endlich-begrenzte durch die ihrerseits

endliche und über Vermittlungen operierende Vernunft erkannt werden, kann die 'Erkenntnis’ des Ganzen gut der unmittelbaren Intuition zugeschrieben werden. Insofern das Ganze zudem die Subsistenz seiner Teile bildet, d.h. deren Sein als abhängıges Teil-$ein ausmacht, kann Schleiermacher auch beanspruchen, das Problem des substanzialen Haltes ım »Fluß

der endlichen Dinge« gelöst zu haben, welches Problem er - wie gezeigt ın Übereinstimmung mit seinem eigenen Theorieprofil?6 - als die Ausgangsfrage der Systementwicklung Spinozas identifiziert hatte. Die endlichen Dinge sind nicht an sich selbst substantial - sie sind veränderlich und vergänglich,

nur annäherungsweise

mit sıch selbst identisch

-, sondern

nur,

indem sie Moment der Totalität des Seins sind. Als solche Totalität bleibt aber umgekehrt das Unbedingte bezogen auf die Momente, deren Totalität es ist. Die Theologie wird zur Funktion der als Theorie der Erscheinungswelt verstandenen Kosmologie. Aussagen über "Gott an sıch', d.h.

abgesehen von dieser Bezogenheit, sınd leer (vgl. 567,5-13). Indem diese Bezogenheit nıcht als das Verhältnis eines extramundanen Weltschöpfers zu der von ihm ex nihilo geschaffenen, von ihm verschiedenen Wirklichkeit, sondern als Relation des Ganzen zu den ıhm immanenten Teilen gefaßt ist, fällt natürlich auch das Personalitätsprädikat dahın. Gott ıst keine distinkte Person, keine »Identität mit Bewußtsein«, auch kein sich selbst bestim-

mender Wille. Diese radikale Depersonalisierung des Gottesgedankens (fünf Jahre vor dem Atheismus-Streit!) liegt zwar durchaus auf der Linie von Schleiermachers Kritik der traditionellen Gotteslehre und entspricht der formalen Struktur der Funktionalisierung des Gottesgedankens, wie Schleiermacher ste durchgängig verwendet hatte; sie geht aber gleichwohl

weit über seine bisherigen theologischen Ansätze hinaus, indem sie den Überschritt von einer anthropologischen hin auf eine kosmologische Funktionalisierung des Gottesgedankens

widerspiegelt,

genauer:

indem

sie

die Auswirkungen dieses Überschritts für den Gottesgedanken selbst namhaft macht. Zurecht stellt sich hier die Assoziation des Zentralbegriffs 76

Vgl. oben ?.

458

IV. Metaphysik des Endlichen - Kap. 8. Jacobi/Spinoza-Studien

der Reden

»Über die Religion« ein: Gott ist keine Person,

»Universum«’?,

er ist das

In der Tat dokumentieren die Jacobi-Spinoza-Studien eine

wichtige Vorstufe zur Theologie der »Reden«.

Dies gilt nicht nur für die

Bestimmung des "Gegenstandes’ der Religion, sondern auch für die Bestim-

mung der Weise der Appräsentation dieses "Gegenstandes': nıcht über die Instanz der vermittelnden (theoretischen oder praktischen) Vernunft, nicht als Wissen oder Moral also, sondern unmittelbar über das Gefühl, als »Sınn

und Geschmak«’8. Was die Bedeutung von Jacobi und Spinoza für diesen theologischen Neueinsatz betrifft, so läßt sich pointiert resümieren: Während Schleiermacher sich ın der Frage der Gotteserkennetnis an Jacobis Unterscheidungen vermittelt/unmittelbar und Vernunft/Gefühl orientierte, wurde Spinoza für die kosmologische Funktionalisierung und die Deperso-

nalisierung des Gottesgedankens relevant. Erst die Verbindung dieser Einflüsse - zu denen natürlıch noch Kants Erkenntniskritik und Unterscheidung zwischen phainomena und noumena hinzugezählt werden muß begründet Theologie.

den

eigentümlichen

Charakter

von

Schleiermachers

früher

77 vgl. KGA 172, 214,9f. u.ö. Vgl. dazu auch Meckenstock, Deterministische Ethik, 215 - 217. 78 KGA 1/2, 212,32.

Fünfter Teil

Geselligkeit

Einleitung Die vorstehenden Untersuchungen haben ein klares Bild der Theorieentwicklung und des Theorieprofils Schleiermachers bis 1794 ergeben. Sie haben

den

Ausgang

von

der

freundschaftstheoretischen

Konzeption

der

wechselseitigen Kommunikation von (eigener und fremder) Individualität und von Sittlichkeit ın den Aristoteles-Anmerkungen als der Leitkonzeption dieser Entwicklung bestätigt und konnten die »Schriften und Entwürfe« jener Jahre einerseits als Erarbeitung der dieser Konzeption immanenten Theoriegrundlagen, andererseits als (materiale) Entfaltung und Ausdifferen-

zierung von Phänomensphären und entsprechenden Wissenschaftsbereichen, die Implikate, Erweiterungen oder kontrastierende Präzisierungen jener sozialtheoretischen Ausgangskonfiguration darstellten, erfassen. So verstärkten bereits die in Kapitel 3 behandelten frühen Texte die ın den Aristoteles- Anmerkungen ımmerhin angelegten Momente der Distanz ın der freundschaftsinternen

Unmitteibarkeit

und

Harmonie

sowie

der Relativie-

rung und Partikularisierung der Sozialform Freundschaft (ungeachtet des Anspruches auf allgemeine Normatıvität der in der Freundschaft geltenden und an der Freundschaft entwickelten Verhaltensstandards und anthropologischen Grundbestimmungen). Dies erweiterte bereits den Erfassungs-

bereich - und erhöhte die Differenziertheit der Deskniption des Sozialen; in der Briefsequenz »An Cecilie« griff Schleiermacher zudem mit dem Problem der Selbst-Bildung das Thema der Individualität und mit dem Problem der Emanzipation der Tugend von der Religion das Thema der Versittlichung

auf - beides

integriert

durch

die biographisch-genetische,

typisierend-individualgeschichtliche Betrachtungsweise. Damit waren grob die Bereiche markiert, die Schleiermacher in den fol-

genden

Textkomplexen

bearbeitete.

Die

zu

Teil

II zusammengefaßten

Schriften hG, FG und ÜdF entwarfen eine Sittenlehre, die anders als die Kantısche den sıttlichen Akt nicht einem transempirischen ıntelligiblen

Subjekt, sondern eben dem empirischen Einzelnen zuschrieb und deshalb dıe innerpsychischen und die sozialen Bedingungen des Zustandekommens sittlicher Entschließungen ebenso wie die Umstände von deren Realisierung

zu reflektieren gebot, was zur Entwicklung einerseits einer psychologischen Theorie der Seelenvermögen und ihrer Wirkungen und der wechselseitigen Beeinflussungen dieser Wirkungen, andererseits einer Theorie der Wirk-

lichkeit überhaupt nötigte, die das Wirklichwerden sittlicher Entschließun-

462

V. Geselligkeit

gen ineins mit deren eigener Genese zu beschreiben erlaubte. Die so geforderte Integration der Sittenlehre in die Psychologie oder umfassender in die Anthropologie leistete Schleiermacher ın FG, eine mit sittlicher Verantwortung kompatible, dıe Welt als stetiges Kontinuum unendlich vieler

interdependenter Ereignisreihen bestimmende umfassende Wirklichkeitstheorie entwickelte er in ÜdF. Die Schrift »Ueber den Werth des Lebens« bildet eine erste Synthese der genannten einzelnen Momente

dem

Leitgesichtspunkt

der

von Schleiermachers Theoriekonzept.

Erringung

realistischer

individueller

Unter

Selbst-

verhältnisse behandelte er zunächst erneut das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit und erhellte daraus die untergeordnete, aber konstitutive

Bedeutung der kontingenten und konkreten Lebensumstände bedingungen

sowie der empirischen

Motive

und Neigungen

und Lebensfür die indivi-

duelle sittliche Werhaltensorientierung bzw. für eine sich am Kriterium eines Tugend und Glückseligkeit verbindenden Begriffs der »Bestimmung des Menschen« messende Lebensführung; die Frage, ob die Kontextualität und Situativität der menschlichen Existenz nicht bestimmungsadäquantes

Leben des Einen fördere, des Anderen behindere und somit eine Ungerechtigkeit des »Schiksals« begründe, führte ihn dann zu einer Aufschlüsselung der verschiedenen menschlichen Tätigkeitsformen und Lebenssphären und zu einer deskriptiven Untersuchung der darın möglichen und gegebenen dif-

ferenten Realisterungen und Realıtäten. Dadurch konnte er auf der einen Seite unter der ethischen Fragestellung den psychologischen Gesichtspunkt mit dem sozialtheoretischen verbinden und diese sogar um den Aspekt der kulturkreisspezifischen

Relatıvität bereichern;

auf der anderen

Seite blieb

durch den Erweis der Gerechtigkeit der Verteilung der Glückseligkeitschancen die Theodizeefrage präsent, die schon in ÜdF in ähnlicher Funktıon erschienen war, und belegte Schleiermachers

fortwährenden

Versuch,

die Theologie am Ort der Anthropologie und der Kosmologie ın einer die sittliche Selbstverantwortung nicht aufhebenden und die Befreiung der Ethik von allen theologisch-dogmatischen Zusätzen nicht konterkarierenden Weise neu zu fundieren - eine Befreiung,

die er in hG,

Kant kritisch radikalısie-

rend, selbst durchgeführt hatte. Vertiefte die Schrift »Über den Geschichtsunterricht« die Behandlung der für die realistische individuelle Selbstwahrnehmung relevanten Aspekte um den Faktor der kollektiven Geschichte, und bestätigte die an Kant anschlieBende Ausdifferenzierung von Staat (bzw. Recht) und individueller Lebensführung (bzw. Moral) in dem Vergleich der Platonischen und Aristotelischen Staatsphilosophie mittelbar die Bedeutung der Gesellschaft (als der umfassenden Sphäre individueller Lebensführungen und ihrer Interferenzen)

Einleitung

463

als Integrationsbereich für Schleiermachers frühes Denken,

so verstärkten

die

Disjunktionen

in

der

Jacobi/Spinoza-Rezeption

neu

hervortretenden

Unmittelbarkeit/Mittelbarkeit und Unendliches/Endlich-Phänomenales auf der einen Seite die Verortung der Theologie in der Kosmologie - die Anthropologie trıtt hier zurück -; auf der anderen Seite trat durch die Beziehung des Unmitteibarkeitsbegriffs auf das Selbstbewußtsein ein im Vergleich zu WL neues Moment der Nichtgegenständlichkeit ın die Indivi-

dualitäts- und Selbsterfassungsproblematik hinein, das freilich noch in keinem geklärten Verhältnis stand zu der gleichzeitigen radıkalen Phänomenalisierung und damit Kontextualisierung und Relativierung der Begriffe von Personalität und Individualität - welche Phänomenalisierung gleichwohl ganz auf der Linie der herausgearbeiteten Theorieentwicklung lag.

Für den Zeitraum zwischen 1794 und 1796 sınd keine »Schriften und Entwürfe« Schleiermachers überliefert!. Es spricht für die Konsequenz von Schleiermachers

Predigerstelle

Denken,

in

Berlin

daß

1796

sich

in den

anhebenden

mit dem

Notizen

Antritt der

der

Charite-

verschiedenen

»Gedanken«-Hefte, in den Exzerpten und Entwürfen der Jahre 1796-98 und

in den ersten Veröffentlichungen Schleiermachers, den Athenäumsfragmenten und dem »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«, die Theorie-

konfiguration des Frühwerks wiederfindet bzw. daß auffällige Neuansätze und Umakzentuierungen in jenen Texte sich als problemorientierte Neufassungen, Verschiebungen, Präzisierungen, Differenzierungen dieser Konfı-

guration lesen lassen. Dies gilt es zunächst zu erhellen. Dazu sollen aus den »Gedanken«Heften und Entwürfen bis 1798 die thematischen Schwerpunkte erhoben und deren sachliche und methodische Vernetzung herausgearbeitet werden,

so daß dıe konzeptionelle Kohärenz - was nicht unbedingt heißt: dıe monozentrische systematische Einheit - der Resultate dieser Arbeitsphase deutlich wird, die als Projektierungsphase für sämtliche ausgeführten frühen Werke Schleiermachers (die Fragmente, der »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens«, die Reden »Über die Religion«, die Hausväter-Briefe, die »Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde« bis hın zur »Kritik der

Sittenlehre«) zu bezeichnen ıst und wobei der innere Zusammenhang jener Projekte möglicherweise noch deutlicher zum Vorschein kommt als in den Werken selbst, wo die einzelnen thematischen Stränge bereits in verschiedene Richtungen auseinandergezogen sind.

|

Als Dokumente jener Zeit sind neben den (wenigen) Briefen (vel. KGA V/l) vor allem zu nennen die Landsberger Predigten (SW 11/7, 203 - 380). Vgl. dazu Meier-Dörken, 2.2.0.,

LOl - 175.

464

V. Geselligkeit

Die »Gedanken« zuordnen:

lassen sich im wesentlichen sieben sachlichen Gruppen

Zu Beginn von Gedankenheft I dominieren Überlegungen (j) zur Staatstheorie und zum Recht.

Die Gedanken

zu Religion und Kirche (2) erschei-

nen zum Teil ebenfalls in diesem Zusammenhang (Bedeutung der Kirche für den juridischen Akt der Eheschließung), gehen dann aber über in eine ınstitutionskritische Ausdifferenzierung von Religion und Kirche. Die Notate zur Ethik und allgemein zur Wissenschafisform (3) sind zwar über das ganze Gedankenkorpus verstreut, erreichen aber quantitativ bei weitem nicht den Umfang der Aufzeichnungen zu Realität und Theorie der Geselligkeit, des geselligen Verhaltens und der Kommunikation

(4), denen auch

(5) Beobachtungen und Begriffsbestimmungen eines allgemeineren Bereichs nahe verwandt

sind, den

man Menschenkunde

nennen

könnte, ebenso

wie

(6) die Notizen zu Literatur und Literaturformen, Sprache und Rhetorik sich nicht etwa nur äußerlich dem Kontakt zu dem literarischen Frühromantikerkreis verdanken, sondern in einer engen inneren Verbindung zu dem Kommunikationsthema stehen. Einen letzten Schwerpunkt bildet schließlich (7) das Thema Ich, Selbst-Bildung, Individualität. In zwei eigenen Heften? hat Schleiermacher die Beschäftigung mit Leibniz weiterbetrieben, die sich schon 1793/94 bei seinen Jacobi-Studien in Exzerpten zur historischen Entwicklung von Leibniz’ Philosophie und ın einer Kritik der Leistungsfähigkeit der Leibnizischen Monadologie für die Erhellung der Individualıtät von Erfahrungsgegenständen niedergeschlagen hatte?. Der Ton der Notate ist auch Jetzt betont kritisch und ironisch. Neben einer Fülle von Äußerungen zur biographischen Zufälligkeit der Entwicklung und der Ausprägung von Leibniz" Denken sowie zu dessen fehlender Systematik” stehen Bemerkungen zu Leibniz‘ trenischem »Moderantismus=«, der alle Positionen miteinander zu vereinbaren sucht®; diese Haltung spiegelt sıch nach Schleiermacher ın Leibniz‘ Philosophie ın der Tendenz wider, qualitative Unterschiede als quantitative Übergänge zu beschreiben’. Dabei wolle er sogar »die opposition zwischen Ich und Nichtich aufheben» (L 136; 85,14f.). Das damit angeschlagene Thema der Individualität behandelt Schleiermacher zunächst ın

2

Leibniz I, KGA W2, 75 - 97: Leibniz II, KGA 172, 99 - 103.

3

Vgl. oben Kap. 8, 1. und 2.1.

4

Vermutlich

sind sie im

Herbst

1797

(so Meckenstock,

KGA

1/2,

XXVII,

und

schon

Dilthey, Denkmale, 71) ın Zusammenhang mit einem unausgeführten Plan Schleiermachers und Friedrich Schlegels entstanden, Leibniz‘ Philosophie »einer großangelegten Kritik [zu} unterziehen« (KGA 1/2, XXVT). Einzelne Notate sind in die AthenäumsFragmente eingegangen.

5

Vgl. L11.7.(9).10f.14-17.20.22f.(25).27.30.53.59-61.(69-74). Vgl. L1 8.38.41. vel. L119.28.36.45.

Einleitung

465

wenigen Äußerungen zu Bewußtsein, Intelligenz und Ich®, dies aber bereits in sachlichem Zusammenhang mit der Monadenlehre, der sich Schleiermacher ausführlicher zuwendet?; sein Interesse liegt hier auf der Untersuchung einzelner Momente der Monadenlehre, auf der historischen Erklärung mancher Eigentümlichkeiten, der Überprüfung der internen Konsistenz und der Sachhaltigkeit der Monadologie. Das Urteil, es gleiche das »Monadenreich« einem »Elfenreich« (L 137; 85,18), deckt sich mit der Aussage von 1793/94, die Monadologie biete hinsichtlich des principium individuationis bestenfalls eine »unvollkommen(e) und zweideutig(e)« »-Hypothese«r

(KGA

1/1,

548,43.37).

Stärker

von

sarkastisch

vorgetragener

Krıtik

sind

schließlich die Notate zu Leibniz’ Gottesbegriffl® und zur prästabilierten Harmoniell geprägt. Leibniz‘ Gott wird hier als beschränkt (vgl. L 1 29.33f.), als - seinem »Advokat« Leibnıız analoger - »moderantistischer Experimentator und daneben ein

Oekonom« (L 138; 86,2. 10) bespottet. Schleiermachers Leibniz-Kritik ist eindeutig kantianisch inspiriert. Bedenkt man freilich dıe strukturelle Nähe von Schleiermachers Konzeption der Welt als stetiges Kontinuum von ineinander übergehenden Elementarereignissen zur Monadologie, so legt sich der Eindruck eines Überbietungsanspruchs nahe: Schleiermacher bewegt sich ım von Leibniz aufgespannten Problemfeld, will es aber besser, d.h. konsistenter, systematischer, erkenntnistheoretisch seriöser bearbeiten als dieser. Ein solcher

Überbietungsanspruch gerade angesichts von sachlicher Nähe könnte sowohl die Schärfe der Kritik als auch die über Jahre hinweg erfolgende Wiederaufnahme der Verständnisbemühung erklären. Diese Deutung wırd gestützt einerseits durch Schleiermachers bleibende Prägung durch die (sich selbst auf Leibniz zurückführende) Schulphilosophie, andererseits durch die Analogie von Schleiermachers Ver-

hältnis zu Aristoteles: schroffe Kritik bei latenter Verbundenheit!2.

Zieht man ın Betracht, daß auch die Gedanken zu Staat und Recht soziale Beziehungen (etwa die Ehe oder das Verhältnis Herrscher - Untertanen) zum Gegenstand haben - wie auch dıe 1796 entstandenen Notizen und Entwürfe zur Vertragstheorie (KGA 1/2, 51 - 74) eine Theorie wechselseitigen

sozialen Handelns darstellen!? - und daß nach Gedanken I 15 alle Tugenden »an Sich selbst gesellig« sind (10,19f., Hervorhebung von mir), so zeigt sıch die Dominanz der Sozialrheorie im engeren Sınne wıe der Sozialdimension bei allen Gegenstandsbereichen in Schleiermachers Theorie auch dieser Arbeitsphase. Gegenüber den Frühschriften bis 1794 ergibt sıch aber ein schwerwiegender Wechsel des Leitparadigmas: Ging Schleiermachers TheoVgl . L12.3.52. 9

Vol

. L14.5.(24).37.40.(43).49.54.(55).62.

10 vg1 . L16.(21).26f.29.31-35.38.39.(46).47.49.(51).52.57. 1l

Vgl . L141.43f.47.50.56.

12 Vgl . oben Kap. 1, 3. und Kap. 4, 1.1.

13 vgl . dazu G. Meckenstock:

Schleiermachers naturrechtliche Überlegungen zur Ver-

tragslehre (1796/97). In: K.-V. Selge (Hg.): Schleiermacher-Kongreß. Band 1. Berlin New York 1985, 139 - 151, und unten Kap. 9, 1.1.

466

V. Geselligkeit

rieentwicklung aus von der Beschreibung zweistelliger intimer, freundschaftlicher Wechselseitigkeit der Selbstoffenbarung, so steht im Zentrum des Interesses jetzt eine komplexere, mehrstellige Sozialform, die weniger intim und privat ıst ferent ist gegen die Lebens und gegen beruflichen Existenz

als dıe Freundschaft, ebenso wıe ständischen Stratifizierungen des die funktionalen Zwänge und der Einzeinen ım bürgerlichen

dıese aber noch ındıfbürgerlich-staatlichen Vereinseitigungen der (oder auch im häusli-

chen) Leben!#. Nicht nur wird dadurch ein bisher negativ als Bereich der Konvention und der Uneigentlichkeit!? besetztes Phänomen positiv als eine der Sphären sittlicher Lebensführung qualifiziert und damit die Beschrei-

bung sozialer Realität um ein wichtiges Moment bereichert!®. Vielmehr ist Schleiermacher dadurch genötigt zu einer begrifflichen Erfassung mehrstelliger sozialer Wechselseitigkeit und komplexerer Wechselseitigkeitskonfigurationen bzw. ein- und wechselseitiger Wahrnehmungs- und Handlungsperspektiven (also etwa des Verhältnisses Einzelner zueinander in der - sie beobachtenden - Gruppe, des Verhältnisses des Eınzeinen als Individuum

zum Einzelnen als Gruppenmitglied - und zwar entweder in seiner Eigenperspektive oder in der Perspektive der anderen Gruppenmitglieder oder in seiner Äntızıpation jener Fremdperspektive[n] -, des Verhältnisses des Eınzelnen als Partizipıent mehrerer sozialer Systeme zu seiner Gruppenmit-

gliedschaft, der Entstehung von Gruppen innerhalb der Gruppe und ihres Verhältnisses zueinander und zum Gruppenganzen etc.). Dies führt zunächst unmittelbar zu einem anspruchsvolleren, relationen- und perspektivenreicheren Theoneprofil, es ermöglicht dabeı aber auch die stärkere Aus-

differenzierung

und zugleich

Einander-Zuordnung

verschiedener

Ebenen

oder Gravitationszentren der Theoriebildung, die damit zugleich eigenständig ausgebildet und in einer Weise aufeinander bezogen werden können, die

diese Gravitationszentren weder völlig unabhängig voneinander und für sich bestehend setzt noch völlig ineinander (bzw. eines in einem anderen oder alle in einem umfassenden) aufgehen läßt. Diese Koemergenz von Ausdiffe14 Diese Zentrierung auf die Geselligkeit markiert auch - bei aller sonstigen Verwandtschaft - eine deutliche Differenz zu dem Friedrich Schlegel der Athenäumsfragmente. 15

Vgl. nur »Ueber das Naive« und dazu oben Kap. 3, 1.

16

Daß dieses Moment, die Geselligkeit, für die Augen der gebildeten Zeitgenossen ein aktuelles war und auch ım sozialhıstorischen Rückblick als für die gesellschaftsstnukturelle Evolution höchst signifikant erscheint, belegt nicht etwa nur die Zeitgebundenheit von Schieiermachers Interesse - dıe sıch ja auch biographisch ın seiner Beteiligung an geselligen Zirkeln ausdrückt -, sondern vor allem die zeitdiagnostische Kraft Schleiermachers und seine Fähigkeit, eıne den Wandlungen und der wachsenden Komplexität 'seiner' Gesellschaft angemessene Theoriekonzeption zu entwickeln.

Einleitung

467

renzierung und Zuordnung erfolgt in der Geselligkeitstheorie ın Gestalt von Antinomien (vgl. etwa G I 77 u.ö.), dıe nicht ın einer übergreifenden

heit nıvellierend

aufgehoben

werden

können.

Am

deutlichsten

(und

Ein-

am

wichtigsten für die Genese des Theorienensembles) ist dies beim Verhältnis von Individualität und Sozialität (Gruppenorientierung) in der Gruppe: Beide Faktoren müssen wirksam sein, wenn anders die Geselligkeit nicht

entweder eine Agglomeration isolierter Einzelner oder eine gestaltlose Vermengung nicht individualisierter Beteiligter sein soll, beide können aber nicht zur gleichen Zeit in gleicher Hinsicht wirksam sein; sie sind immer nur approximativ miteinander zu vereinbaren. Wenn Individualität und Sozialität dergestalt nicht vollständig aufeinander abbildbar sind, so ist damit ein Problembezug angeboten für die schwierige Frage des Verhältnisses von Unmittelbarkeit bzw. Zeitenthobenheit des Ich und Situativität und Kontextualität des Individuums in Schleiermachers Entwürfen jener Jahre, einer Diastase, die durch fichteanisierende Denkfiguren in den

Gedankenheften nur noch stärker und auffälliger wird als ın den Jacobı/ Spinoza-Kommentaren. Die Orientierung an der Geselligkeit konkretisiert schließlich die für Schleiermachers

Theorieentwicklung

rungsbedingungen,

-umstände

konstitutive

Integration

der

und -resultate in die Ethik, indem

Realisie-

sie die

postulierte Sozialdimension aller Tugenden am Ort der Geselligkeit durch die Reflexion auf Takt, auf das Verhältnis von Selbstdarstellung und Konventionalität, von gestaltendem Eingreifen und Rücksichtnahme bzw. Selbstzurücknahme aufzusuchen erlaubt, indem sie also die bereits in den

Arıstoteles-Anmerkungen beobachtete Resonanzsensibtlität in dıe Ethik als Theorie sozialen Handelns einträgt und damit der Ethik einen Bereich erschließt, der bei Kant auf den Vorhof der Klugheitsregeln beschränkt geblieben war. Im folgenden gilt es diese Richtung und diesen Zusammenhang von Schleiermachers Denken an den Texten bıs 1798 selbst auszuweisen und darzustellen. Dabei zeigt sich die skizzierte Entwicklung nicht etwa nur im Vergleich mit den herangezogenen Jugendschriften, sondern auch innerhalb des betreffenden Textbestands selbst: Liegt 1796 in den staatstheoretischen Überlegungen zum Verhältnis Herrscher-Untertanen bzw. zur rechtlichen

Behandlung sexuell fundierter 'Zweierbeziehungen'

sowie in den Notizen

zur Vertragstheorie noch das Konzept dualer Wechselseitigkeit (wenngleich

angereichert und aufgebrochen durch die Beachtung der staatlich-rechtlichen Außenperspektive) zugrunde, so führen ab 1798 die Notizen zur Theorıe der Geselligkeit und der guten Lebensart das neue Konzept mehrstelliger Wechselseitigkeit herauf - möglicherweise ım biographischen Zusammen-

468

V. Geselligkeit

hang mit der Teilnahme an geselligen Zirkeln (etwa der Mittwochsgesellschaft) und Salons (besonders bei Henriette Herz) und mit der über dıe Bekanntschaft mit Friedrich Schlegel ab August 1797 vermittelten Integration ın den Frühromantıkerkreis. Analog dazu fällt auf, daß die ethischen

Reflexionen anfangs stärker auf Tugend und Pflicht und damit auf den Einzelnen ın seiner Ällgemeinheitsorientierung bezogen sınd, während später abgesehen von einer deutlich geringeren quantıtativen Bedeutung des ethıschen Themas - mit dem Problem der Bestimmung des Verhältnisses von

Mittel und Zweck, mit der Kritik der anthropologischen Implikate von Knigges Regeln des geselligen Verhaltens und überhaupt mit dem stärkeren Hervortreten des Anthropologischen, des Phänomenal-Menschenkundlichen und des Geselligkeitstheoretischen der Aspekt der Realisierung in den Mittelpunkt des ethischen Interesses tritt. Diese Entwicklungstendenzen bestimmen denn auch die Abfolge und die

Gliederung der Darstellung. Zunächst werden die gewissermaßen vorfrühromantischen Text-Passagen unter den Gesichtspunkten a) duale Wechselseitigkeit b) Staat und Recht c) Tugend und Pflicht erfaßt (Kap. 9). Daraufhin werden

dıe Notizen zur Theorie der Geseiligkeit und des geselligen

Betrages sowie die (fragmentarısch ausgeführte) Geselligkeitstheorie selbst als das für Schleiermachers Theorieentwicklung dieser Arbeitsphase basale Konzept mehrstelliger Wechselseitigkeit behandelt (Kap.

10).

Neuntes Kapitel Selbst-Bildung und Gestaltung der sozialen Welt: Die Entwürfe, Fragmente und Gedankenhefte 1796-99

1. Intersubjektivität und Recht

1.1. Soziale Verbindlichkeit von Selbstfestlegungen: Die Texte zur Vertragstheorie Die

»Notizen

und

Exzerpte«

sowie die Gliederung

einer Abhandlung

zur

»Vertragslehre«! dokumentieren Schleiermachers Interesse an rechtstheoretischen Fragestellungen

und damit - wie der im Vergleich der platonischen

mit der aristotelischen »Politik« aufgezeigte Zusammenhang von Recht und Staat deutlich

macht?

- an

Begründungen

und

Problemen

der

formalen,

äußerlichen Gestaltung des sozialen Lebens. Die Konzentration auf die Vertragstheorie markiert dabei freilich nicht bloß den konventionellen naturrechtlichen Versuch einer Begründung der’ Geltung der positiven Gesetzgebung auf einem ursprünglichen, vorgesellschaftlichen, unhintergehbaren Kontrakt; sie repräsentiert vielmehr erneut Schleermachers konzeptionelle

Leitimagınation des Denkens sozialer Wechselseitigkeit und Interdependenz, wie sie bereits die Freundschaftstheorie der Aristoteles-Anmerkungen geprägt hatte. Diese Leitkonfiguration

ist hier jedoch auf ıhre elementarsten

Momente

reduziert; es geht ja nicht um die Deskription einer bestimmten Form der Sozialbeziehung, nicht einmal um die Erörterung eines besonderen innergesellschaftlichen Rechtsverhältnisses, sondern um eine Begründung der Verbindlichkeit von Rechtsverhältnissen überhaupt ın den Implikaten einer ursprünglichen Sozialbeziehung, die nicht mehr ihrerseits auf einem Rechtsverhältnis gründet. Diese ursprüngliche Sozialbeziehung ıst die Selbstver-

l

KGA 12, 51-69 bzw. TL- 74,

2

Vgl. oben Kap. 7,2.

470

V. Geselligkeit - Kap. 9. Selbst-Bildung und Weltgestaltung

pflichtung gegen jemand Anderen, und Ausgangsproblem ıst dıe Frage, mit welchem Grund und unter welchen Bedingungen eine solche Selbstverpflichtung dem

Anderen

(bzw.

dann dem

Staat) das Recht gibt, die Erfül-

lung der Verpflichtung einzuklagen und zu erzwingen, anders gewendet mithin die Frage, wie ın dieser Relation der Selbstverpflichtung und ın welchen ihrer Momente ihre eigene Verbindlichkeit liegt. Diese Verbindlichkeit kann - wie Schleiermacher in kritischer Untersuchung klassischer und zeitgenössischer Positionen der Vertragslehre (vor allem Hufeland und Mendelssohn, ferner Schmalz, Feder, Garve, Pufendorf, Fichte, Hobbes) ausführt - jedenfalls nicht allein aus der Willenserklä-

rung des »Promittenten« erklärt werden; denn die Berechtigung zur Zurücknahme oder Veränderung der Willenserklärung - etwa unter Berufung auf Irrtum,

veränderte

Umstände

oder Pläne oder auch

nur unter ihrer nach-

träglichen Deklarierung als nıcht ernst gemeint - ist damit nicht begründet auszuschließen; bei Fichte führt die Zentralstellung der freien Willensbestimmung umgekehrt geradezu zur Verwerfung irreversibler Selbstverpflichtungen (vgl. 58,24 - 59,2). Auch die beim »Promissar« durch die Willenserklärung ausgelöste »Erwartung« und sogar seine förmlich deklarıerte Zurkenntnisnahme und Akzeptation der Willenserklärung verstärken

den Verpflichtungscharakter der Selbstbindung für sich allein nicht so, daß eine Willensänderung dem Adressaten der angekündigten Leistung nicht mehr ohne Verletzung seiner Rechte zugemutet werden dürfte: Daß Erwar-

tungen unerfüllt bleiben, ıst ein ganz alltägliches Phänomen und begründet für sıch keinerlei Anspruch, und auch seine Beistimmung zum Angebot legt den Beistimmenden nicht so fest, daß die vorenthaltene Erfüllung seine

Selbstbestimmung notwendig tangiert. Eben dies ist nun freilich nach Schleiermacher das entscheidende zusätzliche

Kriterium,

das

eine

Selbstverpflichtung

unwiderruflich

verbindlich

macht: Der Promissar muß sich in Erwartung der angekündigten Handlung des Promittenten ın seiner eigenen Selbstbestimmung bereits so festgelegt haben, er muß dıe angebotene (und von ıhm prospektiv förmlich angenommene) Leistung bereits so als notwendigen Faktor in die eigene Selbstbestimmung integriert haben, daß er durch dıe Verweigerung der Leistung an der Realisierung dieser Selbstbestimmung gehindert würde. Dann erst

kann er den Promittenten zur Realisierung seiner Selbstbestimmung zwingen bzw. zwingen lassen. Das heißt nun aber nicht, daß das Recht des Promissars auf Selbstbestimmung dem des Promittenten vorgezogen wird. Zum einen bestimmt

Schleiermacher

die Situation

näher und zeigt dabei,

der Kommunikation

von

Selbstbestimmung

unter welchen Bedingungen Selbstbindungen als ır-

1. Intersubjektivität und Recht

471

reversibel behandelt werden können. Zum anderen erörtert er über den Willensbegriff und die Diastase und Relationierung von Freiheit und Natur das Verhältnis von Selbstbestimmung und ihrer Realisierung und macht dabei deutlich, daß dıe Realisierung ein Implikat der Selbstbestimmung und

ihre Erzwingung

deshalb dıe Freiheitssphäre des Promittenten

gar nicht

verletzt, sondern umgekehrt die Selbstbestimmung geradezu zu sich selbst (zurück-)führt. Das setzt voraus, daß die Selbstverpflichtung eindeutig intersubjektiv

identifizierbar ist, und baut damit bereits auf der entfalteten Beschreibung der Situation auf. Denn die Wiıllensbestimmung des Promittenten muß erklärt, d.h. in einem allen Beteiligten gemeinsamen Verständigungsmedium entäußert, geäußert sein. Ein solches Verständigungsmedium sieht Schleiermacher

in

einem

basalen

allgemeinen

Zeichensystem

als

einem

anthropologischen Universale als ımmer schon gegeben an (vgl. 57,12153). Es besteht primär und zunächst in allgemein, kulturkreis- und epochenübergreifend unmittelbar verständlichen Geszen und Ritualen (etwa ge-

meinsames Essen, »Oelzweig statt der Waffe führen«, »Friedenspfeife rauchen«, »Handschlag« etc.; vgl. 57,25-37), die »symbolisch« sınd, d.h. »das (Dntellektuelle (...) durch Darstellung des ihm correspondirenden (S)innli-

chen« (58,3f.) anzeigen. Die dergestalt »nothwendige (,) a priori sich ergebende Hermeneutik«

(57,39 - 58,1),

Zeichen

und

ermöglicht

die die eindeutige Verstehbarkeit der

vorauszusetzen

erlaubt,

fehlt

bei

der

»Weort-

sprache«, da ın ıhr »gar keine psychologische Verbindung des Zeichens mit dem Bezeichneten Statt findet« (57,38f.). Sie ist daher weniger allgemein und weniger unmittelbar verständlich und eröffnet mehr Möglichkeiten des

Mißverstehens, der Deutungsdifferenzen, der nachträglichen interpretierenden Umdeutung etc.*. Gleichwohl kann auf sie nicht verzichtet werden, da sie sehr viel präziser und spezifischer und geeigneter ist zur Artikulation individueller Willensbestimmungen als die allgemeinen Zeichen und daher gerade zur Deutung von deren je konkreten Verwendungen benötigt wird.

Die vollständig definierte Situation der verbindlichen Selbstfestlegung besteht also in einer allgemein verständlich eindeutig artikulierten (und insofern nicht nur von den Vertragspartnern, sondern auch von Dritten, besonders von der Justiz beurteilbaren) Selbstverpflichtung zur Erbringung 3

„Jeder sieht sich also genöthigt zu streben nach verständlichen Zeichen seines Willens, und dıe praktische Vernunft postulirt hier also eine ursprüngliche allen übrigen zum Grunde liegende Gesellschaft, nemlich die Gemeinschaft der Zeichen.«

Dies entspricht dem Befund bei der Untersuchung sprachlicher Verständigungsverhältnisse in der Schrift »Weber den Styl«, wo allerdıngs der Verweis auf die basale, elementare Hermeneutik der Zeichen fehlt. Vgl. oben Kap. 3, 2.

472

V. Geselligkeit - Kap. 9. Selbst-Bildung und Weltgestaltung

einer Leistung für einen Anderen, der das Angebot akzeptiert und sich selbst daraufhin bereits im Vertrauen auf die im Angebot antizipierte Gabe bestimmt hat und eben dies - wie man hinzufügen muß - dem Versprechenden ın Wort oder Tat rückkommuniziert bzw. allgemein durch sein Handeln

dokumentiert hat. Die Willenserklärung ist dabei als Ausdruck von Selbstbestimmung identifizierbar und zurechenbar. Beides, die Zurechnung von Selbstbestimmung und die Annahme von deren intersubjektiver Kommunizierbarkeit und Identifizierbarkeit,

ıst ein Erfordernis der »Anerkennung

der Personalität«

(57,4). Personalität ıst nun ihrerseits auf der einen Seite Voraussetzung dafür, daß eine Selbstfestlegung überhaupt als verbindlich behandelt werden kann und nicht vielmehr bloß als vergängliches Moment eines beständigen Flusses von Bewußtseinskonsteliationen betrachtet werden muß; auf der anderen Seite verursacht sie allererst das Problem, einen Eingriff in fremde

Handlungskompetenz auf seine Berechtigung hin begründen zu müssen. Das Problem liegt darın, daß die Personalität auf der Freiheit des individuellen Willens, auf der Unabhängigkeit der Willensbestimmung als Selbstbestimmung von allen externen Faktoren beruht und somit den Einzelnen auf sıch

selbst stellt, während die Situation des Vertrages eine Limitation der Selbstbestimmung durch das Eingriffsrecht Anderer impliziert oder doch zu implizieren scheint. Die schwierige Aufgabe ist jedenfalls dies, die im Vertrag gegebene wechselseitige Determination und den selbst gegen einen veränderten Willen bleibend verpflichtenden Charakter der vertraglichen Selbstbindung festzuhalten, ohne die - ja gerade für die Verbindlichkeit selbst konstitutive! - Freiheit der Selbstbestimmung aufzuheben. Schleiermacher muß deshalb also versuchen, Selbständigkeit und Wechselseitigkeit, Unabhängigkeit der Selbstbestimmung und »Verschränkung der Handlungs-

sphären«® zusammenzudenken. Dies leistet er durch die Unterscheidung von innen und außen,

Zweck

und

Körper

Mittel,

zusammen

Freiheit

mit

und

Natur,

Wille

Vorstellungsvermögen),

und

Sinnlichkeit

welche

(d.h.

Unterscheidung

er

im

5

Hier diagnostiziert Dilthey den ındıvidualistischen Ansatz »des gesamten damaligen Naturrechts«: »isolierte, mut völliger Willkür ausgestattete Individuen, zwischen denen ein Zwangsrecht entspringen solls (Leben Schleiermachers, 222). Die »Voraussetzung« eines autonomen Subjekis seı aber »ırrig()«; auch Schleiermachers Versuch einer Begründung des Zwangsrechts müsse daher scheitern. - Dilthey faßt freilich als feste

6

G. Meckenstock: Schleiermachers (1796/97). In: K.-V. Seige (Hg.):

Position, was bei Schleiermacher als Problem erscheint.

York 1985, 139 - 151, hier: 148.

naturrechtliche Überlegungen zur Vertragsiehre Schleiermacher-Kongreß. Band I. Berlin - New

l. Intersubjektivität und Recht

473

Begriff der Handlung einer Person einander zuordnet’. Vorausgesetzt ist, daß das Zugriffsrecht auf Andere sich auf deren »äußre Person« (65,15; Hervorhebung von mir) beschränkt, da dıe Freiheit der »ınnern« Person

gewahrt bleiben muß. Die innere Person ist konstituiert durch den Willen. Zur Person überhaupt gehört aber nur, was mit der ınneren Person zusammenhängt. Die »organischen Kräfte« des »menschliche(n) Körper(s)« ebenso

wie die »Aeußerungen«

des »Vorstellungsvermögen(s)«

sind deshalb

nur

dann »Theil einer Person«, wenn sie »unmittelbar« mit dem Willen »verknüpft« bzw. diesem »unterworfen« sınd (65,2-8). Genau dann (und nur

dann) sind sie aber wie die Willensbestimmung selbst fremdem "Zugriff entzogen®. Genau dann sind sie jedoch zugleich auch erwartbar und einklagbar. Denn eine Handlung ist definiert - Schleiermacher kann geradezu sagen: sie ist »vollendet« (68,5) - durch die innere Willensbestimmung. »Was noch auf dieselbe folgt (,) ıst entweder körperlicher Mechanismus oder symbolische Darstellung« (68,6f.; Hervorhebungen von mir), Ist die Willensbestimmung daher eindeutig erklärt (vgl. 69,1-5), kann die kontingente Realisierung der so bestimmten Handlung gegen den veränderten Willen des »Promittenten« erzwungen werden, ohne dessen Freiheit aufzu-

heben, ja im Gegenteil sogar zu dem Zweck, diese Freiheit durchzusetzen gegen Irritationen des Willensvermögens, die damit ihrerseits als kontingent aufgefaßt und als »Naturbegebenheit« (65,16) behandelt werden. Hier zeigt sıch, daß die »Verschränkung der Handlungssphären« nicht etwa nur einseitig auf den Rechten des »Promissars« an der kontingenten Realisierung seiner aufgrund und unter Voraussetzung der Selbstbestimmung des »Promittenten« getroffenen eigenen Selbstbestimmung beruht und der Sicherung dieser Rechte dient, sondern daß sie auch die Personalität des Promittenten selbst wahrt, indem sie dıe äußere Manifestation seiner

inneren Selbstbestimmung gewährleistet und damit auch den anthropologisch gegebenen Entsprechungszusammenhang zwischen innerer und äußerer Person (vgl. 65,15f.) wıederherstellt. Eine solche Konzeption der Interdependenz von Akten ıindependenter Selbstbestimmung,

der Förderung und

Forderung der kontingenten Realısierung fremder Selbstbestimmung nicht nur zum Zwecke der Sicherung der Bedingungen für die Realisierung der eigenen Selbstbestimmung, sondern auch um der 'Humanität' der Personalität des Anderen willen, die dieser Förderung immer wıeder bedürftig ıst -

7 ö

Vgl. dazu vor allem 65, 1-24 und 68,5 - 69,15. Vorausgesetzt ist dabei natürlich, daß die Willensbestimmung wirklich ın sıch sitelich ist, und das heißt: daß sie wirklich frei erfolgt ıst. Ist das nicht der Fall, dann kann sie selbst als »Naturding« (65,20) behandelt werden.

474

V, Geselligkeit - Kap. 9. Selbst-Bildung und Weltgestaltung

eine solche Konzeption

entspricht strukturell dem

Muster

von

Schleier-

machers freundschaftstheoretischer Ausgangskonfiguration der wechselseitigen Kommunikation und Förderung von Individualität und der wechsel-

seitigen Versittlichung und dem dort zugrundeliegenden anthropologischen Grundsatz der Kopräsenz von sittlicher Selbstbestimmung (Freiheit) und Abhängigkeit (Bedürftigkeit)?. Sie entfaltet dieses Muster freilich in der Sphäre des Rechts, wo die Individualität nur formal (eben ım Bezug der Willensbestimmung auf das Je-selbst) und nur im Modus der Zuschreibung und Zumutung wahrgenommen wird!®, wo es also nicht um die Beschreibung

konkreter

Individualität

(und

Kontextualität)

geht,

sondern

um

dıe

formalen sozialen Bedingungen individueller Lebensführung und um ihre Sicherung!!, genauer um die Bestimmung eines äußerlichen sozialen Handlungszusammenhangs,

wobei

Grund,

Funktion,

Funktionsweise

und

Grenzen des Eingriffs in fremde - durch individuelle Willensbestimmung gestaltete

- Handlungssphären

behandelt

werden,

ohne

daß

die

soziale

Bedeutung des Individuellen selbst, seiner Kommunikation und Wahrnehmung in den Blick tritt. Die Zentralstellung des freien Willens ist im übrigen von der »deterministischen« Konzeption in ÜdF so weit nicht entfernt, wie es zunächst scheinen möchte.

Auch dort wurde die Möglichkeit sıtten-

gesetzgemäßer Selbstbestimmung und mithin der Überwindung der Neigungen durch den Willen um der sittlichen Zurechnung willen als prinzipiell immer

gegeben

unterstellt; umgekehrt

ist auch hier der Wille nicht derart

entweltlicht, daß die Willensbestimmung nicht zugleich ın ihrer Sittlichkeit begründenden und deshalb notwendig zu unterstellenden Selbständigkeit und

Unabhängigkeit

und

in

ihrer

psychologisch-determinierten

Genese,

nämlich als »Naturbegebenheit« im Konnex von Naturbegebenheiten erfaßt werden könnte. Allerdings ist eine Gewichtsverschiebung unverkennbar: Lag der Schwerpunkt in ÜdF auf dem Problem der sittlichen Zurechnung von

Handlungen

und

war dem

dıe (ggf.

sogar kontrafaktische)

Zuschrei-

bung von Willenskausalität zugeordnet, so wird in der »Vertragslehre« mit der Willenskausalität die Personalität begründet, deren Seibstbestimmung und Bestimmbarkeit im Zentrum der Erörterungen zur Erzwingbarkeit von

Handlungsvollzügen steht. Etwas pointiert läßt sich sagen: War vorher die Freiheit nur funktional unterstellt, so ist sie jetzt "an sich’ vorausgesetzt. Diese Gewichtsverlagerung deutet bereits hin auf die stärkere Ausdifferen-

9

Vgl. oben Kap. 1.

10 vgl. GedankenI 144! Il

Das liegt ganz auf der Linie von PPA. Vgl. oben Kap. 7, 2.

1. Intersubjektivität und Recht

475

zierung der Ich-Thematik aus der Ethik, der Rechts- und auch der Sozialtheorie, wie sie einzelne Notate der Gedankenhefte vollziehen!?.

1.2. Probleme der Legitimation politischer Herrschaft Daß Schleiermachers Interesse an rechtstheoretischen Fragestellungen gerade zu Beginn seiner Berliner Zeit nicht bloß punktuell war, zeigen die Gedanken 1, 2, 4 und 6 im Gedankenheft 113. Dabei behandeln I I, 2 und 4 am Beispiel der absoluten Monarchie Probleme des »rechtlichen Grund(es)« (4,5), der Legitimation politischer Herrschaft überhaupt, während I6 am Beispiel der rechtlichen Behandlung sexueller Beziehungen das Recht des

Staates auf Eingriffe in die Gestaltung der Privatsphäre seiner Bürger erörtert. Handelt es sich in diesem Fall um das Problem der normativen Regelung von Sozialformen innerhalb eines Staates, so in jenem um die srundlegendere Frage nach dem Zustandekommen, der Legitimität und der Gestalt staatlicher Normativität überhaupt. Er ıst deshalb zunächst zu betrachten.

In allen drei Notaten geht es um eine vertragsiheoretische Begründung der vollständigen und irreversiblen Rechtsentäußerung der Bürger an den Herrscher in der uneingeschränkten Monarchie. I I untersucht, in welchem Entwicklungsstand ein Volk zu einer so vollständigen Rechtsübertragung bereit sein kann, die in I4 zurecht als »Unterwerfungsvertrag« (4,7) bezeichnet wird. I 2 benennt ein theoretisches Dilemma, ın das die Annahme eines solchen Unterwerfungsvertrags jedenfalls dann führt, wenn dıe staats-

theoretischen Basaltheoreme der volonte generale und der Volkssouveränität festgehalten werden sollen. 14 schließlich kritisiert mittelbar die Behauptung einer notwendigen Irreversibilität und Unbedingtheit der Souveränitätsabtretung, indem es die Möglichkeit eines Unterwerfungsvertrages auf dıe (nach dem Bisherigen ja ın sıch höchst problematische) Staatsform der absoluten Monarchie beschränkt und Alternativen einer rechtlichen Begrün-

dung »des Verhältnißes zwischen Regıerern und Regıerten« (4,5f.) ın anderen Staatsformen, näherhin in der Republik (4,6) andeutet.

12

Vgl. unten 2.

13 Meckenstock zieht noch I 5 hinzu (vgl. a.a.O. [Anım. 6], 140, Anm. 2), das jedoch zwar dıe Institution Kirche kritisiert und der Vernichtung anempfiehlt, aber keineswegs rechtlich oder politisch argumentiert. - Die Gedanken I 2 und [6 sind datiert: auf den 16. September 1796 bzw. den 11. Januar 1797. Da [ I thematisch eng mit 1 2 zusammengehört, wird es wohl kaum früher entstanden sein, ebenso wie | 4 aus demselben Grund kaum sehr viel später als am 26. September 1796 (dem Datum von 1 3).

476

V. Geselligkeit - Kap. 9. Selbst-Bildung und Weltgestaltung

Daß diese Alternativen in konditionierten, an Maßstäben kontrollierbaren und

gef,

revozierbaren

Formen

der

Rechtsentäußerung

zu

suchen

sind,

zeigt sich bereits in I Il, wenn weder der vorstaatliche noch der gebildete Zustand einer menschlichen Gesellschaft als der evolutionäre Ort einer vertraglichen und d.h. freiwilligen völligen Unterwerfung unter den Herrscher plausibel erscheint. Denn wird im »Stande der Natureinfalt« (3,7) Rechtsverzicht noch überhaupt als gefährdend und deshalb unzumutbar empfunden, so behalten sich die Menschen

ım »Zustand der Bildung« (3,8) - wie-

der - Kautelen bei der Rechtsübertragung vor. Nur dazwischen,

ın einer

zwar schon staatlichen, aber noch ungebildeten Phase sind die Menschen so

sehr an der unmittelbaren Bedürfnis- und Lustbefriedigung (»panem et circenses«, 3,10f.) orientiert und so wenig der weiterblickenden, die Unmittelbarkeit unterbrechenden Überlegung fähig, daß eine vollständige Rechtsentäußerung um vermeintlicher oder wirklicher kurzfristiger Vorteile willen denkbar ist. Die absolute Monarchie ist mithin die Staatsform des »rohe(n) Haufe{ns)« (3,9).

Der nicht konditionierte Unterwerfungsvertrag ist aber auch staatstheoretisch nicht konsistent zu begründen. Dies erweist sich an der Frage, ob der unumschränkte Herrscher seinerseits als Bürger zum Volk gehört oder ob er ihm gegenübersteht. Denn im ersten Fall bleibt zwar die Volkssouve-

ränität im Volk und wird an ein Mitglied des Volkes delegiert; aber der »allgemeine()

Wille()«

(3,15)

gilt dann

nicht mehr

für alle, da der Herr-

scher ihm nicht unterworfen ist, und hat daher seine Allgemeinheit eingebüßt. Im anderen Fall ist umgekehrt die volont& generale zwar für das ganze Volk gültig, das Volk hat aber seine Souveränität im Wortsinn entäußert,

einer externen

Instanz übertragen

und damit verloren.

Ausnahms-

lose Geltung und Unveräußerlichkeit der kollektiven Selbstbestimmung sınd also in der unumschränkten

Monarchie

unvereinbar.

Beide

sind aber

für

Schleiermachers Staatsverständnis konstitutiv: Eine außer- oder übergesetzliche Stellung des Herrschers wäre ebenso unsittlich wie die freiwillige Preisgabe der Selbstbestimmung; nur die »Ausübung der Souveraenität« (3,20; Hervorhebung

von mir), nicht diese selbst, kann delegiert werden

-

und auch das nur innerhalb des Staatsvolkes und beı bleibender Unterordnung des Mandatars des allgemeinen Willens unter diesen. Modell der konstitutionellen Monarchie.

Es ist dıes das

Ob ein Volk als der eigentliche Souverän auch in dieser Staatsform »das Recht habe (,) seine Staatsverfaßung zu ändern« (4,9f.) oder ob unter den hier gegebenen

Einschränkungen

und

Konditionierungen

die

Übertragung

der Exekutivgewalt irreversibel, jedenfalls nıcht einseitig und willkürlich auflösbar ist, ıst eine - angesichts der Erfahrungen der Französischen

1. Intersubjektivität und Recht

477

Revolution keineswegs bloß akademische - Frage, die freilich in [4 nicht letztlich beantwortet wird. Schleiermacher kritisiert hier nur die logische Stringenz der Argumentation seines Lehrers Eberhard. Dieser hatte die Frage verneint unter Rückgriff auf den Unterwerfungsvertrag. Schon daß dieser sich allenfalls als vertragstheoretische Begründung der uneingeschränkten

Monarchie

eignet,

widerlegt

seine

allgemeine

Beweiskraft.

Greift man jedoch auf die vertragstheoretischen Überlegungen zur Verbindlichkeit von Selbstfestlegungen zurück!®, so scheint die Machtübertragung genau dann irreversibel zu sein, wenn der Herrscher die ihm in einem als solchen erkennbaren und inhaltlich präzise beschriebenen Akt der Selbstbestimmung angebotene 'Leistung' förmlich angenommen und sich in seiner Selbstbestimmung daran orientiert hat, diese Bedingung wäre mit dem Herrschaftsantritt erfüllt. Die Machtabtretung gälte dann jedenfalls so

lange, wie sich der Herrscher an die ın der Willenserklärung des Volkes definierte 'Stellenbeschreibung' hält. Unbenommen ıst davon natürlich dıe Möglichkeit, etwa in einer Republik (vgl. 4,6) in eine solche Stellenbeschreibung zeitliche Beschränkungen der Machtausübung oder Regelungen des Machtwechsels einzubauen; auch eine so bestimmte Herrschaftsform

wäre nicht willkürlich revidierbar.

1.3. Staat und Privatsphäre Staatliche Autorität ist nach dem Gesagten begründet in einer vertraglich gefaßten, wechselseitig verbindlichen, gleichwohl konditionierten und funktional präzise beschriebenen und limitierten Delegation von Macht durch den Souverän, das Volk, an eine ıhm zugehörige Partikularınstanz. Die Form dieser Macht ıst das Recht, und die hauptsächliche Limitation der

Macht liegt darin, daß die Machtträger selbst dem Recht unterstehen. Nun hat Schleiermacher in dem »Vergleich der Platonischen und der Aristotelischen Politik« unterstrichen, daß die Funktion staatlicher Macht nicht ın der Durchsetzung eines allgemeinverbindlichen, material bestimmten

Ethos' oder gar einer metaphysischen oder religiösen transzendenten Bestimmung des Menschen besteht, sondern im formalen Schutz der Integrität und der Entfaltungsmöglichkeiten individueller Lebensführungen und Zielsetzungen!®,

Das Recht samt seiner Exekution wird somit vom

normativen

Kriterium gelingenden Lebens zu einer Funktion der sich selbst organisie14 Vgl. oben 1.1. 15

Vgl. oben Kap. 7, 2.

478

V, Geselligkeit - Kap. 9. Selbst-Bildung und Weltgestaltung

renden

Gesellschaft,

und

es ist nicht mehr

die Frage,

wie

die einzelnen

Individuen und Teilgruppen der Gesellschaft durch staatliches Handeln zu einem normativ vorgegebenen homogenen Ganzen zusammengeführt werden können, sondern der Plausibilisierungsdruck hat sich umgekehrt: Es muß

immer

eigens

geklärt

und

begründet

werden,

welchen

Einfluß

der

Staat überhaupt noch auf die Selbstentwicklung der Gesellschaft mit ihren Teilen und der Individuen zu nehmen berechtigt ıst.

Erst unter dieser epochalen Umkehrung der Fragerichtung werden die Überlegungen denkbar, die Schleiermacher in I 6 zur rechtlichen Behandlung sexueller Beziehungen anstellt (4,19 - 7,24). Schleiermacher greift das Problem damit am extremsten, weil intimsten, privatesten, am wenigsten öffentlichen und deshalb dem Staat am weitesten entlegenen Fall auf, der

eben dadurch das Problem aber am deutlichsten erscheinen läßt. Das Un-

gewöhnliche - und bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein Anstößige!® an Schleiermachers Vorgehen ist, daß er nicht von der Institution Ehe als der vorgegebenen und einzig legitimen Form sexueller Beziehungen ausgeht, sondern von der Frage, ob der Staat überhaupt Formen für die Gestaltung sexueller Beziehungen vorgeben darf. Die Anstößigkeit wird durch Schleiermachers Bejahung dieser Frage nicht gemindert, sondern eher noch erhöht, da diese Bejahung

Ausprägung

der

Ehe

gründet,

wiederum

sondern

allen

nicht ın der traditionellen

ım

Recht

des

Staates,

»Vorschriften über die Form der Verträge zu machen« (4,20 - 5,1; Hervor-

hebung von mir), über die seine Justiz im Konflikt zu urteilen hat. Es geht also um dıe rechssinterne Aufgabe der formalen Typisierung und Präparation von Einzeifällen zum Zwecke ıhrer juridischen Vergleichbarkeit und Beurteilbarkeit. Auf dieser Ebene spricht aber nıchts dagegen, neben der

Ehe auch andere Formen sexueller Beziehung ın dieser Weise zu präparieren, d.h. vertragsförmig zu regeln, sobald sie sich gesellschaftlich etabliert haben und sofern juristischer 'Handlungsbedarf‘ entsteht. Denn der Staat hat nicht die Kompetenz, materiale Bestimmungen der sozialen Form sexueller Beziehung wie etwa deren Unauflöslichkeit normativ durchzusetzen; er kann nur verlangen, daß auflösliche Gestalten ınimen Zusammenlebens sich diejenige vertragliche Form geben, die er dafür zur Verfügung stellt (vgl. auch 7,16f.). Dies führt zu einer hochgradigen Sensibilisierung des Rechtes für gesell-

schaftliche Entwicklungen und zu einer radikalen kulturelten Relativierung rechtlich gefaßter Sozialformen. Sogar dıe Minderung der »übertriebenen Rechte (,) die aus einer förmlichen 16

Ehe für Gatte und

Dilthey übernahm den Text noch 1870 nıcht in die »Denkmale«!

Kinder herfließen«

l. Intersubjektivität und Recht (5,19f.),

oder die Abschaffung

der Regelung,

479

daß der Ehe-»Vertrag

nicht

ohne Anführung der einer fremden Beurtheilung anheim zu stellenden Gründe getrennt werden darf« (5,24-26), also die Aufhebung der Unauflöslichkeit der Ehe und die Beseitigung des staatlichen (vom Staat der Kirche übertragenen [vgl. 5,4f.]) Scheidungsverfahrens ist dann nur noch »(u)nter den gegenwärtigen Umständen« (5,22f.), d.h. solange dıe »Form« der Ehe »eine Religionshandlung ıst« (5,26), undenkbar, und es ıst nur konsequent, daß Schleiermacher auf andere Kulturen verweist, wo »die Familienverhält-

niße« nicht »nach unserer Weise« gestaltet sind (5,34) und wo deshalb das »Konkubinat« (5,32f. u.6.) auch nicht als »unmoralisch« gilt. Freilich darf es dazu auch nicht unmoralısch sein. Denn Schleiermacher

wendet einen Relativismus der faktischen Lebensverhältnisse durch Rekurs auf eine allgemeine, situationsindifferente Moral ab, die die Sittlichkeit der verschiedenen Sozialformen zu beurteilen erlaubt. »Unmoralisch« ist dem-

nach »ein Verhältniß, wenn dadurch Jemand außer Stand gesezt wird ((‚,) seine Pflichten zu erfüllen oder seine Rechte geltend zu machen (,) oder auch wenn der natürlichen Geneigtheit (,) sich den ersten zu entziehn und andern die lezteren zu beschränken (,) auf eine keine Gegenmittel zulaßende Weise Vorschub geschieht« (5,28-32}. Dies aber kann auf die

Ehe sogar noch eher zutreffen als auf das Konkubınat, sofern sie nämlıch »ein Werk der Uebereilung« ist (7,7,1.). Das Konkubinat hingegen »erfüllt alle Erfoderniße« der Moralität (7,6f.). Aufgabe des Staates kann deshalb nicht sein, dıe Ehe zu erzwingen, sondern vor allem der Schutz der »Unmündigen« (7,9) - und zwar um seiner eigenen Selbsterhaltung willen,

ist

doch

die

generische

Reproduktion

»der

erste

Grundpfeiler

seiner

Continuitaet« (7,9f.). Dieses Primärinteresse des Staates unterscheidet nicht

zwischen ehelichen und unehelichen Kindern, und die Bevorzugung jener im Erbrecht ist deshalb nicht einzusehen, »begünstigt« zudem »die Anhäufung

des

Vermögens

und

die

Trennung

der

Kasten«

(7,20f.),

stabilisiert also soziale Ungleichheit. Einen ähnlichen Zusammenhang zwischen Rechtsform und (verhinderter} gesellschaftlicher Entwicklung benennt Schleiermacher auch für die Stellung der Frau: Im Konkubinat wäre die Frau stärker auf sich selbst gestellt. Auf der einen Seite könnte sie dadurch weniger vom Sozialprestige ihres Mannes profitieren, auf der

anderen Seite hätte sie »Gelegenheit«, selber »Verdienste« zu erwerben und durch eigene Leistung »sich emporzuschwingen« (7,21-24). Allerdings geht es hier weniger um das gleichsam physische Selbsterhaltungsinteresse des Staates als um einen Aspekt seiner ethischen Aufgabe: individuelle, selbständige Lebensführung zu fördern und zu schützen.

480

V. Geselligkeit - Kap. 9. Selbst-Bildung und Weltgestaltung

Sicherlich unterscheidet sıch dıese nüchterne Betrachtung ıntımer Beziehungen - die ım übrıgen auch die »Hurerei« einschließt (vgl. 5,32-34; 7,10-16) - von dem hohen Pathos 'ganzheitlicher' wechseiseitiger Hingabe, das Schleiermachers Liebesideal nur wenige Jahre später kennzeichnet!?. Es ist aber zu beachten, daß Schleiermacher hier gar nicht beansprucht, eine

vollständige Theorie der Liebe und Ehe zu konzipieren.

Er beabsichtigt

keine Ethik der Ehe, sondern skizziert eher eine Abhandlung über Recht und Sexualität, also über die äußerliche, öffentliche Behandlung sexueller

Beziehungen ım allgemeinen, und auch dıe Ehe tritt nur unter diesem Aspekt in den Blick. Die Möglichkeit einer Ehe im Vollstnn dauerhafter personaler Wechselseitigkeit ist nirgends ausgeschlossen, sie wird nur abgehoben von den gegebenen rechtlichen Regelungen. Beı genauerer Betrachtung erfolgt die Kritik an der konventionellen Ehe sogar im Namen eines

Ideals "eigentlicher' Ehe, dıe nicht vorschnell - und d.h. nur aus gesellschaftlichen Gründen, ohne innere, überlegte Zustimmung beider Beteiligten - geschlossen ist (vgl. 7,7f.) und in der die Frau nicht im Ehestand verschwindet,

sondern

als

eigenständige

Person

bestehen

bleibt,

ja

sogar

gefördert wird (vgl. 7,21-24). Dies ist unter den »gegenwärtigen Umständen« (5,22f.) leichter zu realisieren ın der Form des Konkubinats,

das nur

durch das freiwillige, durch keine Konvention oder Familienraison erzwungene Zusammenfinden zweier Personen besteht. Doch

nicht nur deshalb

ıst es nıcht ratsam,

eine allzutiefe Zäsur zwi-

schen die rechtstheoretischen Erwägungen von 1796/97 und die 'frühromantische' Konzeption der Jahrhundertwende zu setzen!®. Zu deutlich sind die Verschränkungen:

Auf der einen Seite ist der Gedanke der wech-

selseitigen Bereicherung und Steigerung der Individualität und Personalität in der Freundschaft bereits ein basales Moment der frühen AristotelesAnmerkungen, wobei der Freundschaft eine paradigmatische Funktion für alle Sozialbeziehungen, eine besondere Nähe aber zu Liebe und (echter!) Ehe zukommt!?. Er ist also keineswegs an sich schon eine Frucht der Frühromantik, sondern prägt - wie diese Arbeit zu zeigen versucht -

Schleiermachers gesamte frühe Theorieentwicklung. Auf der anderen Seite ist das 'emanzipatorische', konventions- und institutionskritische Moment sowie die Differenzierung von Recht und individueller Lebensführung ın den

frühromantischen

Texten

ja

keineswegs

verschwunden.

besonders eindrucksvoll die in den Athenäumsfragmenten 17

Dies

Vgl. vor allem die Lucinde-Briefe, aber auch die Monologen. 5. dazu unten Kap.

18 So Nowak, Frühromantik, 286.

19 Vgl. oben Kap. 1.4.1.

belegt

veröffentlichte 11.

1. Intersubjektivität und Recht

481

(Frg. Nr. 364) »Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen«

(KGA 1/2, 153,19 - 154,11)20, Dort wird die Qualität der Beziehung zum Mann durchgängig am Kriterium des »Herzens« (153,31; viertes Gebot: Sabbatheiligung) gemessen und abgehoben von allen äußerlichen - konventionellen

oder

sekundären

- Gründen

und

Motiven

zur

Eheschließung.

Lieber »zu Grunde« gehen soll die Frau, als sich konventionellen Zwängen zu beugen, wenn sie sich von diesen nicht »frey« machen kann (153,32; viertes Gebot). Es ıst Sünde, eine Ehe zu schließen, »dıe gebrochen werden müßte« (153,35; siebentes Gebot: Ehebruch). Es ist Sünde, gegen die Stimme des Herzens sich hinzugeben »für Geschenke und Gaben, oder um nur in Ruhe und Frieden Mutter zu werden« (153,29f.; drittes Gebot: Miß-

brauch des göttlichen Namens). Das Ideal freier Selbstbindung geht also einher mit einer Kritik der gängigen (und gesellschaftlich wie juristisch sanktionierten) Praxis der Ehe. Vor allem aber entspricht es strukturell sehr genau

dem

vertragstheoretischen

Konzept

der

verbindlichen

Selbstver-

pflichtung von 1796/9721, was sich e negativo zeigt, wenn eine nur fingierte Wechselseitigkeit der Zuwendung abgewiesen Du sollst nicht geliebt seyn wollen, wo du nicht liebst«, 153,35f., achtes Gebot: Diebstahl!) und vor einer Idealisierung des Geliebten gewarnt wird (153,22-27; zweites Gebot: Bilderverbot); denn beides setzt die Bedingungen der wechselseitigen Selbstbindung in den Irrealis: das eine Mal bewußt, das andere Mal unbewußt, mit desillusionierenden Folgen dort für den unter fingierten Vorgaben sıch bindenden Anderen, hier für die sich selbst täuschende Liebende seibst. Ins Positive gewendet, heißt das: Erst eine freie, ungezwungene, aufrichtige, illusionslos-konkrete wechselseitige Selbstbindung konstituiert eine wirkliche Ehe; genau sie aber begründet ım Sinne der Vertragstheorie erst die Verbindlichkeit einer Selbstverpflichtung. Deshalb kann ein Konkubinat unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umständen den wahren ethischen Zweck der Ehe gegebenenfalls besser zur Geltung bringen als die Institution Ehe selbst. Deshalb auch ist das Konkubinat (oder

genauer:

die konkubinatsförmige Ehe) besser geeignet, die Selbsibestim-

mung der Frauen, ihre Befreiung »von den Schranken des Geschlechts« (154,8), ınre Wiıederannäherung an dıe »unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit annahm«

20

Das Verhältnis dieses Textes zur lutherischen und zur reformierten KatechismusTradition behandelt E.H.U. Quapp: Friedrich Schleiermachers Gebots- und Glaubensauslegung in seiner »Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen«. In: K.V. Selge (Hg.}: Schleiermacher-Kongreß. Band 1. Berlin - New York 1985, 163 - 192.

21 Vgl. oben 1.1.

482

V. Geselligkeit - Kap. 9. Selbst-Bildung und Weltgestaltung

(154,2-4), also ihren Weg zu einer der Stellung der Männer wirklich entsprechenden Selbständigkeit und Würde zu fördern - ein Ziel, das Schleiermacher,

im

übrigen

Gedankenheft schwört,

16,

ganz

im

analog

zu den diesbezüglichen

Glaubens-Teil

des

Katechismus

Andeutungen

emphatisch

in

be-

weil nur so wirkliche Wechselseitigkeit erreichbar ist, die ihrer-

seits die wahre Ehe konstituiert.

2. Ethik und Sozialität

Rechts- und Staatstheorie dominieren die zwischen September 1796 und Januar 1797 entstandenen Aufzeichnungen (G I 1-6) und die in denselben Zeitraum zu datierenden vertragstheoretischen Überlegungen. Bemerkenswerterweise tritt dieser Themenbereich aber nahezu völlig ın den Hintergrund, als Schleiermacher nach siebenmonatiger Unterbrechung im August

1797 (Datierung von G 17) die Arbeit im Gedankenheft wiederaufnimmt. Stattdessen stehen im Zentrum der Notate bıs etwa Herbst 1798 zunächst Probleme der Ethik als Wissenschaft, bald begleitet und quantitativ überflügelt durch Gedanken, die man in dem Sinn als 'menschenkundlich' bezeichnen kann, als sie menschliches Verhalten und menschliche Eigenschaften zu allgemeinen Sätzen zu typisieren versuchen. Diese Gedanken bilden bereits einen Übergang zu den Notizen zur Theorie der Geselligkeit und der guten Lebensart, die wahrscheinlich ım Herbst 1798 einsetzen (ab G I 84) und ın den im Januar und Februar 1799 publizierten »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« münden, indem diese nämlıch ebenfalls Gesetzmäßigkeiten und Regeln für das Verhalten (in einem bestimmten sozialen Kontext22) entwickeln. Auf der anderen Seite reflektieren diese

'menschenkundlichen' Sätze den die soziale Realisierung des sittlichen Handelns und deren Bedingungen und Umstände miterfassenden Ansatz von Schleiermachers Ethik und stehen deshalb auch zu den ethischen Überlegungen nicht in einem bloß äußerlichen Verhältnis. Da das Thema der Ethik die mit Sicherheit auf Spätsommer und Herbst 1797 zu datierenden Gedanken I 7-20 beherrscht, da zudem die Moral auch in den vertragstheoretischen Texten mitthematisiert war und sich deshalb Kontinuität und Differenz im

Übergang in die 'frühromantische’

Einflußsphäre - der durch die

Bekanntschaft mit Friedrich Schlegel seit August 1797 markiert ist - an diesem Thema möglicherweise besonders gut feststellen läßt, aus chronolo22 Den diese Regeln freilich allererst konstituieren; vgl. G I 104; 28,6-8, und dazu präzisıerend unten Kap.

10, 3.

2. Ethik und Sozualıtät

gischen

und sachlichen

Gründen

483

also sollen die ethischen

untersucht werden. In einer (allerdings erst frühestens im Herbst

Notate zuerst

1798 entstandenen)

Notiz

(159) unterscheidet Schleiermacher Moral, Naturrecht und Politik gemäß ihrem Gegenstand und ihrem Grund. Dabei ist das Ausgangsproblem der Moral das Gegebensein?? »der Thierheit neben der Menschheit in uns« (19,16f.), d.h. - ın Entsprechung zu Schleiermachers frühen ethischen Ent-

würfen - das Problem der Nicht-Selbstverständlichkeit moralischer Willensbesimmung und der Durchsetzung dieser Willensbestimmung im psychisch-physischen Organısmus, dem der Wille unentrinnbar verbunden ist. Da Schleiermacher die Willensbestimmung in den vertragstheoretischen Notaten als das eigentliche Handeln bezeichnet hatte, dem seine physisch-

soziale Realisierung bzw. Symbolisierung nur gleichsam immanent ist, leuchtet ein, daß er jetzt als Gegenstand (oder Abzweckung) der Moral eben das Handeln einführt, und es erhellt daraus umgekehrt, daß der Handlungsbegriff hier im selben Sinn wie dort verwendet ist?°. Ist Handeln aber als Willensbestimmung definiert, so eignet ihm /ntentionalität, es ist

auf Zwecke ausgerichtet, denen jeweils Mittel zuzuordnen sind. Der ZweckBegriff und die Zweck-Mittel-Relation stehen denn auch im Zentrum von Schleiermachers ethischen Reflexionen?®. Von hierher erklärt sıch zunächst der Status ethischer Sätze selbst.

Als

Aussagen über die Intentionalität des Handelns und über die Selektion von Handlungszwecken können sie dann nämlich keine empirischen Erfahrungssätze sein, die empirische Beobachtung hat kein Beurteilungskriterium ıhrer selbst in sıch. Dem Sein ıst zwar ein Gesetz, eine »Regel«, ein »Sollen« immanent - wie Schleiermacher unter Abgrenzung von Kant, implizit Jacobi

23

Schleiermacher redet im Zusammenhang des Grundes der jeweiligen Wissenschaft ım Sınne von Fichte immer von der »Deduktion« (19,16.17.18) als der theoretischen Ableitung und Rekonstruktion dieses Gegebenseins aus dem Eıinheitsgrund.

24

Vgl. oben 1.1.

25

Das Naturrecht bezieht sich hingegen auf das Sein und verdankt sich dem Gegebensein »der Menschheit außer uns«. Das auffällige Fehlen der Nennung der »Thierheit« ın der äußeren Menschheit weist darauf bin, daß das Recht sıch nur auf die Form des Daseins bezieht und die Menschen nur als Handlungssubjekte wahmımmt und nicht ın ihrer psychisch/physisch-geistigen Einheit und ıhrer konkreten sozialen Verflechtung. Genau dies tut vielmehr dıe Politik, die auf dem Erfordernis der Gestaltung der «Menschheit und Thierheit nach uns« (19,13f.) beruht und deshalb auf die Strukturierung der Veränderungen des sozialen Lebens hinzielt und als Gegenstand das Veränderliche, das Werden hat (vgl. 19,16).

26 Vgl. 133.(34f.).44-46.60f.90.103,

484

V. Geselligkeit - Kap. 9. Selbst-Bildung und Weltgestaltung

aufgreifend?? betont (vgl. II2

= Fre 355) -, aber dieses Sollen,

diese im

Sein inbegriffene Bestimmung muß aus Begriffen konstruiert werden, wenn anders sıe zur allgemeinen Orientierung der Lebensführung dienen können soll. Eben dies ermöglicht der Begriff des Zweckes. Die Pluralität der Zwecke bildet eine Totalität (vgl. 133), die eine Einheit ist (vgl. 1 10). Das entscheidende Kriterium für die Selektion und $et-

zung eines Zweckes ıst daher dıe Kompatibilität dieses Zweckes mit allen anderen Zwecken. Kollisionen der Zwecke (und der - auf eine dergestalt kohärente Setzung und Realisierung von Zwecken hingeordneten - Tugenden [vgl. 117]) darf es nicht geben. Die Erfüllung einer Pflicht darf zur Erfüllung anderer Pflichten nicht in Konkurrenz stehen. Dies erlaubt zum einen die Verabschiedung der traditionellen, auch von Kant verwendeten Unterscheidung von Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen Andere (vgl. 124 und Frg 371) und der damit unterstellten Entscheidungssituation zwischen beiden, die sich in der gängigen Hochschätzung einseitig altruistischer Haltungen wie »Hingebung, Aufopferung, Großmuth« (Frg 371; 154,23) dokumentiert. Wenn Schleiermacher diese Haltungen als »Fantome« bezeichnet (154,22f.), so heißt das nıcht nur, daß

es Hingabe ohne Selbstliebe nicht geben kann; vielmehr ist damit die Orientierung an solchen Alternativen überhaupt als »moralisches Unheil« (154,23f.) qualifiziert, Die Einheit der Zwecke ist erfaßt im Doppelbegriff der Bildung des Ichs bzw. der Menschheit und des Herrschaftsgewinns des sich bildenden Ichs über die mit ihm »verbundene Natur« (1 15; 9,13), also in der Korrespon-

denz von entweltender Selbstwerdung und nach Maßgabe des Selbsts welrgestaltender Naturbeherrschung. Die dem Zweck der Selbstwerdung - die immer als Menschwerdung ausgelegt ıst - zugeordnete Tugend nennt

Schleiermacher die »philosophische« Tugend der »reine(n? Menschenliebe«; dem Zweck der Naturgestaltung dient die »heroische« Tugend der »reine(n) Freiheitsliebe« (I 15; 9,9-13). Die Korrespondenz und Einheit dieser basa-

len Zwecke zeigt sıch daran, daß mit der heroischen Tugend das sıch bıldende und gebildete Ich seinem Organismus und seiner Welt seinen Stempel aufdrückt und eben damit sich in der Welt darstellt und daß diese Tugend die freie Selbst- und Weltbildung gegen externe, natural-kausale Abhängig-

keiten sichert und fördert, während umgekehrt die philosophische Tugend die Bestimmtheit

solcher Freiheitsrealisierung

erzeugt.

Aus

erklären

sich auch die Funktion

21

dieser Verschränkung

Vgl. oben Kap. 8.

von

der Welt

und Weltgestaltung

Entweltung

und

allererst

Weltgestaltung

für die Selbsr-Findung

und

die

2. Ethik und Sozualität

485

Veränderung des Weltverhältnisses durch diese (vgl. II6 = Frg 341; die folgenden Zitate 108,12-16): Die Welt ist der Ort der Selbstfindung, die darin besteht, daß der Einzelne »einen höheren Gesichtspunkt für sich

selbst« findet »als sein äußeres Daseyn«.

Von diesem »höheren Gesichts-

punkt« aus kann er dann »auf einzelne Momente die Welt aus sıch entfernen«; er bleibt also in der Welt, kann sich aber von ihr distanzieren und so

sıe (und sich ın ihr) gestalten. Umgekehrt ıst, wer sich noch nıcht gefunden hat, d.h.

wer gefangen

ist in seinem

»äußere(n)

Daseyn«,

gewissermaßen

noch gar nicht ın der Welt, genauer muß man sagen: er ist noch nicht er selbst in der Welt, er ist der Welt so ausgesetzt, daß er nur als Objekt und noch nicht als gestaltendes Moment in Erscheinung tritt. Die Aporie, daß er sich nur in der Welt finden kann, in der er aber als Subjekt gar nicht vorkommt, ist nur durch antizipatorische Imagination von Subjektivität zu lösen: »wıe durch einen Zauber« wird er »nur auf einzelne Momente {...) in

die Welt hineingerükt«, um dort sich wirklich zu finden, Die Verortung der Selbstbildung ın der Welt und die Verbindung von Selbstwerdung und Weltgestaltung implizieren denn auch die Ablehnung eines reinen Sollens (II2 = Frg 355). Der »sittliche Mensch« braucht keinen »Punkt außer der Erde (...,) den nur ein Mathematiker suchen kann«; er »Dewegt« sich »frei«

»aus eigner Kraft (...) um seine Axe«, ohne »die Erde verloren« zu haben (112; 107,12-14). Diese Selbstbildung gleichwohl »absolutÖ)« (115; 10,10.15),

von einer

'Darstellung'

oder Selbstsetzung ist freilich Schleiermacher unterscheidet sie

des Ich allein »nach

Maaßgabe

der empirischen

Verhältniße«, die Freiheit nicht erklären könne, wenn sie nicht gar zu Fata-

lismus führe (vgl. 1 15; 9,20-22). Selbstsetzung muß mithin strikt selbstreferentiell, konstruktiv gedacht werden. Die Tugend ıst deshalb auch keine extern bestimmte, von außen begegnende Größe, keine regulative Idee, der sich der Einzelne ımmer nur durch 'korrektes' Verhalten anzunähern vermöchte28; sie ist vielmehr eine konstitutive Idee, die der Einzelne selbst zu setzen und wobei er sich selbst zu setzen hat. Erst so ist er tugendhaft, wäh-

rend er »auf dem empirischen Standpunkt« (9,19f,) allenfalls tugendhaft, d.h. tugendgemäß /ebi (vgl. 10,3-5) und nicht sich selbst bildet, sondern ein allgemeines Bild nachbildet.

Ist die sittliche Aufgabe erfaßt als Darstellung der Totalıtät und Einheit untereinander kompatibler Tugenden, so ergibt sich zum einen (a) eine komplexere Konzeption der Mittel-Zweck-Relation, die das Modell der Zuordnung eines Mittels zu einem Zweck durch einen Handelnden weit über28

Genau dies wirft Schleiermacher - mit vorsichtigen Einschränkungen - Kant vor. Vgl. I 15; 9,22-25,

486

V. Geselligkeit - Kap. 9. Selbst-Bildung und Weltgestaltung

bietet; zum

anderen wird

(b) die Partikularität des Einzelnen

im Blick auf

diese Aufgabe und damit die Sozialdimension aller Tugend offenbar, (a) Wenn Klugheit als die »Richtung jeder einzelnen Handlung auf die Totalität der Zweke«

(1 33,

14,3f.; Hervorhebung

von

mir) zu bestimmen

ist, so kann sie als »Beobachtung des Gesezes der Sparsamkeit« (131; 13,20) sıch nicht darauf beschränken, »zu einem gegebnen Zweck die Mittel zu finden, welche ıhn, ohne Rücksicht auf etwas anders zu nehmen, am

vollkommensten

erreichen«

(Frg 362;

152,6-8).

Handlungen auf einen einzelnen Zwek«

(133;

Die

Fixierung

14,4) ist geradezu

»aller

Kennzei-

chen der List (zu der Dummheit ebenso wie Leidenschaft fähig ist, vgl. 1 35) und sollte auch terminologisch von der Klugheit abgehoben werden (vgl.

152,11f.).

Denn

diese muß

neben

der Relation

auf den

gegebenen

Zweck darauf achten, daß das gewählte Mittel nicht die Realisierung eines anderen

Zweckes

»hintertreibt«

(152,10)

bzw.

ein anderes

Mittel,

einen

anderen »Gegenstand für die Zukunft von unsern Bestrebungen ausschließt« (152,10f.). Bei der Realisierung des Zweckes A müssen immer die möglichen Folgen dieser Form der Realisierung für die Verfolgung der Zwecke

B, C etc. mit in Betracht gezogen werden??; Zweck und Mittel müssen also ın den

Zusammenhang

der Realisierung der Totalität der Zwecke

gestellt

werden, deren Einheit in der Selbstwerdung und Weltgestaltung liegt. Diese Hinordnung von Mitteln und Zwecken auf eine umfassende Ein-

heit?0 bringt es mit sich, daß Zwecke in anderer Hinsicht auch Mittel und umgekehrt Mittel auch Zwecke sein bzw. als solche behandelt werden können. Schleiermacher unterscheidet sogar Charaktertypen nach der Art, wie sie die Mittel-Zweck-Relation dynamisieren (Frg 428, 154,26 - 156,18): »Menschen, denen unter der Hand alles (,) was sie als Mittei behandeln,

zum Zweck wird« (155,3f.), stehen Menschen gegenüber, die »sehr ieicht das, was ihnen Anfangs Zweck war, nur als Mitte] für etwas andres behandeln« (155,25f.). Schleiermacher expliziert diese Charakterdifferenzierung mithilfe der Begriffspaare endlich/unendlich und mittelbar/unmittelbar und

bindet

sie damit

terminologisch

und

sachlich

an

die

Erörterungen

der

Jacobi/Spinoza Rezeption an3!: Besitzen die einen die »Fertigkeit (,) das 29

Dieser Gedanke erinnert an die Überlegung ın hG, wonach die Realısıerung einer Neigung die gleichzeitige Realisierung oder auch die zukünftige Entfaltung einer anderen be- oder verhindern kann; bei den Neigungen ist allerdings eine vollständige Realisierung prinzipiell unmöglich (vgl. oben Kap. 4, 1.2.), während sie bei den Tugenden nur durch die Wahl falscher Mittel konterkarıert wird.

30

Eine Denkfigur übrigens, die an die Hierarchisierung der Güter ım ersten Buch Nikomachischen Ethik des Aristoteles erinnert.

31

Vgl. oben Kap. 8.

der

2. Ethik und Sozıalität

Endliche als etwas Unendliches

zu behandeln«

487

(155,19f.) bzw.

»von dem

Interesse für etwas als Mittel in ein unmittelbares Interesse leicht und oft überzugehn« (155,22f.; Hervorhebung von mir), und werden so fähig, »Thätigkeiten« (155,13) und Lebensformen um ihrer selbst willen zu lieben und zu pflegen, so vermögen die anderen, »das Endliche wegzuwerfen, weil man auf das Unendliche losgeht« (155,34f,), endliche Zwecke je zu tran-

szendieren hin auf größere, letztlich auf unendliche Zwecke, ein falsches Sıch-zur-Ruhe-Setzen im Endlichen, im nur vermeintlich oder nur vorläufig Unmittelbaren zu verhindern durch Verflüssigung des selbstzweckhaft Fixierten, durch Überschreitung der Grenzen, »wo Andre einen geschloßnen Kreis zu sehen glauben« (155,36f.). Das »vollendete() praktische()

Genie« (156,15) verbinder die Eigenschaften dieser beiden Charaktertypen: die weise

(vgl.

145)

Zufriedenheit ın den Grenzen

der eigenen

Möglich-

keiten mit der Bereitschaft und dem Vermögen, »seine Endzwecke mit den Kräften

zugieich

zu erweitern«

(156,4),

»ruhige

Resignazion

des

in sich

gekehrten Gemüths« »mit der Energie eines äußerst elastischen und expansibeln Geistes« (156,5f.), Anerkennung der »Schranken des Augenblicks« (156,9) mıt der »Sehnsucht, sich weiter auszudehnen« (156,10). Wie in der

Schrift »Ueber den Werth des Lebens« beschreibt Schleiermacher also bestimmungsgemäße menschliche Existenz (»Humanıtät«) als Dialektik von Anerkennung der eigenen Partıkularität und Grenzüberschreitung, von demütiger Bejahung des eigenen Daseins als Gabe des »Schicksal(s)« (156,11)

und

permanenter

»Daseyns«

Forderung

zuzulassen

und

an

das

Schicksal,

zu ermöglichen,

von

eine

»Erweiterung«

geduldigem

Verharren

des ın

der Gegenwart und beständigem Ausgriff auf das, »was ein Mensch nur werden kann und zu werden wünschen mag« (156,13f.). Ein solcher Charakter vereint Natürlichkeit mit Selbstbestimmung (»Willkühr«), Instinkt mit Intentionalität (»Absicht«); in ihm erscheinen Natur und Freiheit, Sein und

Sollen versöhnt. Anders als ın WL sieht Schleiermacher jetzt freilich durch-

aus die Problematik einer Lebenshaltung, die ihre einzelnen Äußerungen in so hoher und durchgängiger Bewußtheit ın ein kohärentes Ganzes integriert bzw. daran orientiert (vgl. Frg 362; vgl. 152,6 - 153,18). Denn ein »ausgezeichnet Klugefr) (...), der seine Handlungen so abmißt, daß nichts dabey herauskommen kann, als was er selbst beabsichtigt« (153,9-11), kann

in Gesellschaft weder »durch das freye Naturspiel seines Gemüths und durch absichtslose und unverwahrte Aeußerungen ein Gegenstand des Wohlwollens und nach Gelegenheit auch ein Gegenstand für den Scherz oder den argiosen Spott werden« (153,4-7), noch läßt er sich unvermerkt für die »Absichten« Anderer »gebrauchen« (153,3f.). Er blockiert mithin

das freie Spiel der Geselligkeit (das ja gerade auch in der wechselseitigen

488

V. Geselligkeit - Kap. 9. Selbst-Bildung und Weltgestaltung

Mitteilung von ggf. unbekanntem, jedenfalls kontingentem

Individuellem

besteht) und macht sich damit »verhaßt« (152,34f.), wenn er nicht das »Wohlwollen«, sich freiwillig den Absichten anderer dienstbar zu machen,

und die Selbst-»Ironie« besitzt, »absichtlich sich aus seiner Klugheit herauszusetzen und sich mit Entsagung auf dieselbe als ein Naturwesen der

Gesellschaft zum beliebigen Gebrauch hinzugeben« (153,12-16)32. (b) In mehrfacher Hinsicht erhellt das bisher Gesagte bereits Schieiermachers Satz, es bedürfe keiner eigenständigen geselligen Tugend, da alle

Tugenden »an sıch selbst gesellig« seien (I 15; 10,19f.), den Schleiermacher hier damit

begründet,

daß

»ein

Mensch

nicht

möglich

ıst ohne

andere«

(10,18f.). Schon die Orientierung der Ethik auf die Realisierung der Universalität der Zwecke, ebenso aber die Bestimmung der Einheit der Zwecke

als Einheit von Selbstwerdung und Weltgestaltung verweist den Einzelnen auf seine

Partikularität

und

seine

Unfähigkeit,

die Totalität

der

Zwecke

allein zu realisieren. Die komplexe Zwecke-Mittel-Relation ermöglicht zudem zugleich neben einer präzisen Beschreibung der Vernetzung der verschiedenen Zwecke und Mittel und der verschiedenen individuellen Zwecksetzungen und Mittelwahlen die Lösung des Problems, wie die Freiheit der

individuellen Weltgestaltung zu vereinbaren ıst mıt dem Gegebensein mehrerer freier Individuen in der einen zu gestaltenden Welt, indem nämlich dem zum absoluten Ich und damit zum Selbstzweck und in die Freiheit hinein sich entweltenden Einzelnen zugemutet wird, sich von Anderen auch

als Mittel gebrauchen zu lassen. Wenn dies ın freier Beistimmung geschieht, dann ıst trotz der eingegangenen Bindung die 'Absolutheit' ge-

wahrt; analog zu den vertragstheoretischen Überlegungen?? sind Freiheit und Abhängigkeit als miteinander vereinbar gedacht. Schleiermacher nennt

die der Weltbeherrschung zugeordnete heroische Tugend unter ıhrem geselligen Aspekt »kosmopolitisch()« (10,16f., Hervorhebung von mir) und markiert damit den sozialen Charakter, die menschheitsumfassende Dimension

der Aufgabe der Weltgestaltung.

Bemerkenswerterweise bezeichnet er die

gesellige Seite der philosophischen Tugend als »religiös()« (10,14; Hervorhebung von mir). Religion (oder Religiosität) ist damit integriert in die Bezugsfelder der »Sezung [des] absoluten Ichs« (10,15) und der Gesellig-

keit, Religion hat im System der Realisierung der Zwecke dann den Ort der sozialen Förderung der entweltenden Selbstwerdung: Die sich selbst gefunden haben, streben danach, »auch andren Individuen« beı der Selbstfindung

32

Dies hebt freilich das Kalkulierende und Gekünstelte dieses Charakters nicht auf ‚ bestä-

tigt es vielmehr sogar.

33 Vgl. oben 1.1.

3. 'Menschenkunde‘

»behilflich zu seyn« (10,15f.).

489

Diese Hilfe ist nötig, da den »meisten Men-

schen (...) die Kraft fehlt() (,) sich wieder zu erzeugen« (1 47; 17,1f.).

3. 'Menschenkunde'

Es gibt in Schleiermachers Gedankenheften einen Komplex von Aufzeichnungen, die sich weder der Ethik zuordnen lassen noch bereits als Vorüberlegungen und Beobachtungsnotizen auf dıe Theorie der Geselligkeit zentriert sınd. Es handelt sich dabei um (teilweise ironisch pointierte) Bemerkungen zu menschlichem Verhalten, die aber nicht bemerkenswerte Einzelfälle erfassen, sondern Typen von Verhalten, bestimmte menschliche

Eigenschaften oder Haltungen bündig zu definieren suchen. Sie gliedern sıch damit jenen typologisierenden anthropologischen Deskriptionen mittlerer Abstraktion - d.h. zwischen reinen Vernunftsätzen und bloßen Abbildungen der Empirie - ein, die schon in den frühen Aristoteles-Anmerkun-

gen einsetzen?*, den Aufsatz »Ueber das Naive« bereits in der Themenstellung deutlich prägen?

und vor allem in den breiten Verhandiungen der

verschiedenen Lebenssphären in der Schrift »Ueber den Werth des Lebens« dominieren.

Sıe sollen hier als menschenkundlich bezeichnet werden;

man

könnte sıe aber auch ın dem Sinn 'weisheitlich' nennen, daß sie empirisches Verhalten ın die Form einer Regelhaftigkeit gießen, ın der es noch als kontingentes erkennbar bleibt, zugleich aber erwartbar wird. Sie repräsentieren also - umgekehrt gesagt - eine Gestalt des Welt- und Orientierungs-Wissens,

das auf Einzelsituationen bezogen bleibt, ohne sich in deren Singularität zu erschöpfen. In gewisser Weise bilden sie durchaus das Substrat für die Theorie der Geselligkeit, indem sie nämlich vielfach soziales Verhalten, soziale Verhältnisse, soziale Urteile thematisieren; doch ist die Theorie der Geselligkeit nur eine mögliche Systematisierung solcher menschenkundli-

cher Sätze: ebenso wäre eine psychologische oder eine ethische Verarbeitung denkbar. Zu diesen Sätzen zählen vor allem Aussagen über Menschengruppen (Es giebt Menschen

die ...« [1 28;

vgl.

144],

»Manche

Menschen

...« [1 29],

34

Die in den Beschreibungen von Aspekten der Freundschaft gelegene sozial- und kommunikationstheoretische Konzeption mußte ja allererst erhoben, rekonstrutert werden. Vgl. oben Kap. |.

35

Bezeichnenderweise begegnet 1 53 (vgl. 11 33 und III 13) eine sarkastısche Kurzdefinition des Naiven: »was man für eine Satyre nehmen müßte, wenn es nicht unwillkührlıch wäre«,

18, 1f.

490

V. Geselligkeit - Kap. 9. Selbst-Bildung und Weltgestaltung

»viele Menschen ...« [137], »die Weiber ...« [138]), Definitionen von menschlichen Eigenschaften vermittels von Aussagen über das Verhalten von Menschen mit diesen Eigenschaften (»Liebenswürdig ist wer ...« [1 48],

»Schlau ist derjenige welcher ...« [150] etc.) oder gleich vermittels von Nominaldefinitionen (»Klugheit ist ...« [1 31.33], »Weisheit besteht darın daß ....« [132]), Vergleiche verschiedener Eigenschaften untereinander (etwa 130: Enthusiasmus und Leidenschaft) bzw. ihrer Relation zu einer

Relation auf einem anderen Gebiet (etwa der Chemie: »Streitigkeiten verhalten sich zur Illiberalität wie salzsaure Schwererde zur Vitriolsäure«

[1 41; 15,14f.])36. Viele dieser Definitionsversuche von Verhaltensweisen wie

Eitelkeit

(I 12),

Gutmütigkeit

(I 16),

Klugheit

(131

u.ö.),

Weisheit

(1 32), Intrige (I 43.46.49), List (1 33.46.49), Schlauheit (IT 50), Originalıtät

(151),

Artigkeit

(152),

Naivität

(153),

Bescheidenheit

(154),

Stolz

(155a), Arroganz (11 5), Menschenfreundlichkeit (II 14) sind freilich ironisch

verfremdet

und

implizieren

eine Kritik der gesellschaftlichen

Kon-

ventionalität. Näherer Betrachtung erweisen sich nämlich die ab der Originalıtät genannten 'Definitionen' als verschlüsseltes Referat der Urteile der Gesellschaft über selbstbewußt-humanes Verhalten, das sich nicht den herr-

schenden

Selbstdemütigungsforderungen

unterstellt (vgl.

v.a.

152,

155a

und II 5, aber auch schon I 13 und I 16), oder als sarkastischer Kommentar

der Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Ideologie und der damit gedeuteten Wirklichkeit

{II 14:

»Menschenfreundlich

ist« - d.h.

als menschen-

freundlich gilt, darf sıch ausgeben -, »wer einige Prot&ges hat und eine Rubrik für Arme in seinem Contorbuch«, 110,13f.). Die Stoßrichtung dieser Kritik ist dieselbe wie die der späteren Kritik an Knigges Regeln des

Betragens in Gesellschaft?’. Die in den Definitionen’ erhobenen RegelmäBigkeiten sind freilich nicht unmittelbar verhaltensorientierend gemeint, sie sind noch keine Kunstregeln des geselligen Verhaltens; sıe wirken vielmehr ın desillusionıerender Weise erwartungsleitend ım Blick auf dıe Teilnahme am gegenwärtigen gesellschaftlichen Leben. Sie führen mit sich und verstärken denn auch eine skeptische Haltung zur Welt, deren resignativen

Tenor II 13 (= Frg 356) bündig und sarkastisch formuliert: »Die Welt kennen heißt wissen (,) daß man nicht viel auf derseiben bedeutet, glauben daß kein philosophischer Traum darin realisirt werden kann (,) und hoffen daß sie nie anders werden wird, höchstens nur etwas dünner« (110,9-12; vgl. 151,13-16). Es leuchtet ein, daß eine solche »Welt« keinen Lebensraum darstellt für einen Menschen, der dasein wıll, »ohne um Erlaubniß zu bit-

36 Eine im übrigen in der alttestamentlichen Weisheit beliebte Figur. Vgl. etwa Spr 26.1. 37

Vgl. unten Kap.

I0, 3.

3. 'Menschenkunde'

491

ten« (1 55a; 18,6), also für das sich-selbst-bildende - weltgestaltende Individuum. Eine diesem Menschenbild angemessene (Gegen-)Öffentlichkeit bildet erst die freie Geselligkeit, deren Theorie sich Schleiermacher ab Herbst 1798 zuwendet (nachdem er die Praxis bereits ab Sommer 1797 kennengelernt hatte). Dabei wırd freilich dıe diagnostische Potenz der menschenkundlichen Sätze nicht außer Kraft gesetzt; dıe skeptische Welterfahrung dient

vielmehr

als die

realistische

Kontrastfolie,

vor

der

sich

die

freie

Geselligkeit als Gegen-Modell und als partikulare Sozialform allererst abzeichnet und

deutlich wird.

als Aufgabe,

als nicht natural gegeben

sondern

zu erzeugen

Zehntes Kapitel

Geselligkeit: Individualität und Öffentlichkeit T. Kritik der unmittelbaren Selbstexpression Schleiermachers Aufzeichnungen zur »gute(n) Lebensart«, d.h. zum rechten Verhalten in Gesellschaft und in der Folge dann auch zur Theorie der Geselligkeit als Sozialform setzen ein mit I 84 (25,1f.}!. Dies geschieht

aber nicht unvorbereitet. Abgesehen von der Kritik der gesellschaftlichen Konventionalität, die schon die Kontrastfolie für die frühe Freundschaftstheorie abgab?, und von der generell resonanzorientierten, sozial- und

kommunikationstheoretischen

Ausprägung

von

Schleiermachers

früher

Theorieentwicklung überhaupt, läßt sich der Übergang vom die Darstellung integrierenden Paradigma der Sozialform der intimen Freundschaft - wobei

andere soziale Relationen negativ ausgegrenzt bzw. als nach Maßgabe der anthropologischen Implikate der Freundschaft zu reformieren behandelt werden - hın zum Leitbild der freien Geselligkeir - die in einer spannungsvollen Stellung zwischen Intimität und sozialer Rollenfestlegung steht und deshalb eine positive Gestalt nicht-freundschaftlicher Sozialıtät zur Darstellung bringt - eindrücklich studieren an Frg 336 (146,1

- 148,17)?, das die

Offenheit in Gesellschaft behandelt. Dabei differenziert Schleiermacher zunächst zwischen der Freundschaft, wo intime wechselseitige Selbstoffenbarungen »Ergießungen«, 146,37) ıhren Ort haben, und der »Gesellschaft« (146,3), wo eine solche Selbstpreisgabe (vgl. 146,15) fehl am Platz ist,

nicht nur weil sie von der unwürdigen Vorstellung ausgeht, in dem Individuum

sei nichts,

was nicht jedermann

zugänglich

sein dürfte (vgl.

146,9-

Allerdings gehört bereits I 77 (23,12-15) in diesen Zusammenhang. Dort wird anläßlich einer Frage der Höflichkeit ım sozialen Umgang erstmals dıe »allgemeine() Antinomie des Gefühls und Begriffs« angesprochen, die später (l 137) neben dıversen anderen Antinomien des geselligen Lebens (vgl. I 90) wieder erscheint. Die Form der Antınomue stellt dıe zentrale Denkfigur auch des »Versuch(s) einer Theorie des gesclligen Betragens« dar. Vgl. unten 2. und }. 2

Vgl. oben Kap. I.

3

Vgl. die Vorstufe IE 3 (107,6f.) sowie das später entstandene G 1 65 (21,7-10).

l. Kritik der unmittelbaren Selbstexpression

493

14), sondern auch weıl es die Anderen der Mühe des Verstehens enthebt (vgl. 146,6-9). Scheint diese Unterscheidung noch ganz im Rahmen des Bisherigen zu bleiben, so öffnet Schleiermachers Kritik der »Selbstbeschreibungen« (146,16) bzw. seine Relativierung ıhrer Bedeutung für die

Individualitätswahrnehmung den Weg

zum

Verständnis einer Sozialform,

die das Offenbarwerden von Individualität mit gesellschaftlicher Öffentlich-

keit so verbindet, daß äußert und angeschaut

Individualität sich in geselliger Kommunikation werden kann, ohne sich selbst auslegen (»re-

censiren«, I 65; 21,7) zu müssen. Denn »Selbsterklären« (146,21f.) ist nach Schleiermacher insofern »überflüßig« (146,22), als es rein analytisch-sezierend vorgeht und »das Einzelne aus der Verbindung, in der es allein schön und verständlich ıst, herausreiß(t)« (146,24f.);, es ist Ausdruck eines sistierten »innere(n) Leben({s)« (146,27) und deshalb »der jämmerlichste

Selbstmord« (146,28); es erreicht mithin per definitionem den »Standpunkt« nicht, auf dem »das Ganze« eines Individuums »übersehns werden kann (146,18f.). Für einen Betrachter bildet es nur eine weitere partikulare

Facette in dem Bild, das er von dem Anderen gewinnt. Von einem »Karakter« in seiner Ganzheit, Einheit und Einzigkeit gibt es jedoch »keine andre Erkenntniß als Anschauung«

(146,17f.,

Hervorhebung

von mir), die

einen unmittelbaren Totaleindruck imaginiert, der es erlaubt, »aus den Erscheinungen das Innere nach festen Gesetzen und sıchern Ahndungen zu konstruiren« (146,20f.). Offenheit ım geselligen Verkehr bedeutet dann nur, sich anschaubar zu machen, gelassen, unbefangen und unverstellt einfach da zu sein (vgl. 146,28-32). Schleiermacher vergleicht diese Form der Präsenz,

der

Selbstappräsentation

ohne

Selbstrepräsentation,

mit

einem

»Kunstwerk, welches im Freyen ausgestellt Jedem den Zutritt verstattet, und doch nur von denen genossen und verstanden wird, dıe Sinn und Studium mitbringen« (146,29-3|;, Hervorhebung von mir). Kann Individualität so wahrgenommen werden“, dann gibt es in der Tat eine soziale Sphäre, die durch die Präsenz von Individuen als Individuen und durch dıe wechselseitige Wahrnehmung und das sensible Sich-Einlassen auf Indivi-

dualität geprägt, ja konstituiert ist, die aber gleichwohl keine völlige Transparenz intendiert und keine intime Selbstentblößung fordert. Freundschaft ist dann durchaus noch eine Form gesteigerter Intimität der Individualiıtäts-

wahrnehmung,

4

da Selbstoffenbarungen

zusätzliche

Informationen

ın das

Vgl. die Texte der Spinoza-Jacobi-Rezeption, wonach das Zusprechen von Individualität immer ein (durch Akkumulation von Beobachtungen sukzessive, aber nur je approxımatıv stabilisiertes) Wahrscheinlichkeitsurteil ist. Vgl. oben Kap. 8, 2.1.

494

V. Geselligkeit - Kap. 10. Individualität und Öffentlichkeit

offenbare Bild des Individuums einbringen und dieses damit verdichten insofern karın Schleiermacher sıe an anderer Stelle zurecht als »Annäherung zur Individualitaet ins Unendliche, und daher selbst ins unendliche theılbar

und perfectibel« bezeichnen und in diesem kommunikativen Prozeß der Annäherung an den Anderen ipso facto »Annäherung zu sich selbst« bewirkt sehen (I 170, 38,15-17). Gerade dıese gesteigerte Intimität partikularisiert

sie aber auch ın erhöhtem Maße, macht sıe ungeeignet als Paradigma der Darstellung anderer Sozialformen; sıe ist dazu auf der einen Seite zu differenziert, zu aufwendig, zu anspruchsvoll, auf der anderen Seite aber zu exklusiv, zu viele Faktoren und Bezüge ausschließend, also zu selektiv. Umgekehrt abstrahiert das bürgerliche (staatliche, rechtlich geformte)

Leben eo ipso von der Individualität der Beteiligten - im Staat ist man »nicht grade in sofern Mitglied (...), als man Individuum ist« (I 144; 34,2f.), im Staat wird wie in der (konventionellen) Gesellschaft »jede erledigte Stelle so gleich wieder besezt (,) und die Organe der Gesellschaft bemerken die Verschiedenheit, welche daraus entsteht, nur selten« (I 7; 7,26f.)> -, und die beruflichen Funktionen sind darin zudem so spezifiziert,

daß es als umfassendes Betracht kommt.

Geselligkeit zwischen zum

Leitbild der Beschreibung des Sozialen

Es ist deshalb die inklusive Zwischenstellung

Intimität und

Öffentlichkeit,

was

nicht in der freien

sie prädestiniert

Paradıgma des Sozialen schlechthin und zur paradigmatischen

Sozıal-

form. Nicht zufällig gerät sie mithin ins Zentrum von Schleiermachers Interesse. Dieses Interesse artikuliert sich in einer Fülle von Notaten zum Thema der »guten Lebensart« vor allem in Gedankenheft I und kulminiert ın dem (Fragment gebliebenen) »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« (KGA V/2, 163 - 184), der in systematischer Absicht den Begriff der freien Geselligkeit und die ın dieser gültigen und für deren Erzeugung und Erhaltung nötigen Verhaltensregeln zu konstruieren unternimmt. Im folgenden sollen zunächst vorwiegend anhand der Notate die Probleme und Perspektiven der Darstellung der freien Geselligkeit benannt werden deren systematische Bearbeitung untersucht wird (3.).

5

(2.), ehe

Aus dieser Bemerkung vom 18. August 1797 wird deutlich, daß Schleiermacher hier noch nicht das Bild einer »freien«, gerade die Individualität der Beteiligten zur Enifaltung bringenden »Geselligkeit« vor Augen hat.

2. Die Sozialform der freien Geselligkeit

495

2. Die Sozialform der freien Geselligkeit Die Verbindung von Individualität und Öffentlichkeit in der freien Geselligkeit stellt erhöhte Anforderungen

an die Darstellung, da keiner der beiden

Pole in den anderen aufgelöst oder ıhm untergeordnet oder zwischen beiden ein Mischverhältnis hergestelit werden darf, bei dem beide etwas von dem Ihren

zurückstellen

(vgl.

172,31

- 173,32).

Der Einzelne

muß

ın Gesell-

schaft zugleich ganz als Einzelner in Erscheinung treten und vollständig sich in das Ganze der Gesellschaft integrieren. Schleiermacher entspricht dieser Problemlage dadurch, daß er eine Serie von »Äntinomien« oder »Widersprüchen« anführt, d.h. von verschiedenen, intern dipolar strukturierten Aspekten

der

Geselligkeit

bzw.

des geselligen

Betragens,

beide Pole des Gegensatzes zugleich gültig sein müssen. nomie Einzelner - Ganzes

(vgl.

1 90.144.150) bzw.

wobeı

jeweils

Neben der Anti-

Indıvidualıtät - Sozıa-

lität (vgl. 197.109.112b.136.144) nennt Schleiermacher etwa Gefühl - Begriff (vgl. 177.137), Mittel - Zweck (vgl. 190.102.103.143,151.160.189), Buchstabe

- Geist (vgl.

190.92.95.117),

Wechselwirkung

1 117.118.146-148.158.168), Wesen - Schein natürliche - positive gute Lebensart (vgl. I 90).

(vgl.

- Freiheit (vgl.

192.98.116)

sowie

Nun ist zu beachten, daß es Schleiermacher hier nicht um die Beschreibung einer gegebenen Sozialform geht, sondern um die Konstruktion des Begriffs einer Sozialform, die der ethischen Bestimmung des Menschen ın

seiner notwendigen Sozialität (vgl. I 15; 10,18f.) entspricht und die insofern die »Repraesentation

des ethischen

Zustandes«

(I 110;

29,6f.)

bildet

und deren Realisierung deshalb selber sitrliche Aufgabe ist. Nach den Äußerungen zur Ethik bedeutet das, daß in der so bestimmten Geselligkeit die Einheit von Selbstbildung und Weltgestaltung, die Verschränkung von Selbstbestimmung und Integration in ein Netz der Resultate der Selbst-

bestimmungen Anderer zur Wirklichkeit kommen soll. Die »Grund Antıthese« der Geselligkeitstheorie ist nach Schleiermacher denn auch die, »daß jeder zugleich Zweck und Mittel ist« (I 143; 33, 12f,), daß mithin, wie oben ausgeführt”, jeder unbeschadet seiner Selbstzwecklichkeit sich der Selbstbildung Anderer dienstbar zu machen hat und natürlich auch umgekehrt

Andere ohne

Aufhebung

von deren Selbstbestimmung in den Dienst der

eigenen Selbstbildung stellen mit Freiheit, so legt es deren

kann. Identifizierr man Selbstzwecklichkeit Antithese zur Wechselwirkung nahe, Wech-

selwirkung und Sich-dem-Anderen-dienstbar-Machen ın einem wechselseiti6

Vgl. oben Kap. 9, 2.

7

ygl. ebd.

496

V. Geselligkeit - Kap. 10. Individualität und Öffentlichkeit

gen Explikationsverhältnis zu interpretieren. Dabei pointiert die Wechselwirkung stärker die Aspekte der Reziprozität und der darin liegenden Gesetzmäßigkeit (vgl. 1 118; 31,4), die der Freiheit kontrastiert, aber jedenfalls das Gefühl der Freiheit (vgl. 31,5; vgl. 1117; 31,3) nicht aufheben

soll. Über die Frage des Verhältnisses von Aktivität (Tätigkeit) und Passivität ın der Wechselwirkung trıtt zudem wieder das ethische Problem in den

Blick, daß Sittlichkeit nur als /ntentionalität und mithin als Handeln gefaßt werden kann und daß darum jedes Einwirken auf Andere zugleich als deren Tätigkeit (oder: nur ineins mit deren gleichzeitiger Tätigkeit) gedacht werden darf: Auch dıe 'passıve' Rezeption der Einwirkung ist actio (Handlung; d.h. Selbstbestimmung), wenn anders sıe sittlich sein soll, und die Legitimatıon der Einwirkung ist auch nur die, daß sıe aktiviert, Tätigkeit und

Selbstbildung herausfordert und fördert (vgl. 170,1-3)8. Bıs hierher sind die Bestimmungen noch ganz formal und gehen auch noch keineswegs über die Bestimmungen dualer Wechselseitigkeit hinaus, die - wie an den vertragstheoretischen Notizen deutlich wurde? - für alle personalen Beziehungen gelten bzw. um der Sittlichkeit willen als geltend unterstellt werden müssen. Erst zwei Näherbestimmungen lassen die Besonderheit der Sozialform Geselligkeit hervortreten: Zum einen wird sıe über die Antithese von Individualität und Sozielitär als der Ort definiert, wo die

Einzelnen zugleich ganz im spezifischen Geist einer Gruppe aufgehen und dabei dennoch ganz bei sich bleiben, zu sich finden, sich artikulieren

mitteilen.

Zum

und

anderen wird eben dies, dıe wechselseitige »Mittheilung«

(170,14) von Eigenem, Individuellem, als der einzige Zweck und Inhalt, als das Konstituens der freien Geselligkeit eingeführt: Die Gesellschaft der Individuen ıst sıch selbst Zweck, ıhr Selbstvollzug dient allein ıhrer eigenen

Reproduktion unterscheidet

und Selbststeigerung als Gesellschaft der Individuen, das sıe von allen »Gemeinschaften« als »durch einen äußern

Zweck gebundenen und bestimmten geselligen Verbindung(en)« (169,3537) und hebt sıe ab vom bürgerlichen und häuslichen Leben (vgl. 165,2-

17). Geselligkeit als freie wird denn auch dadurch konstituiert, daß Individuen »auf eine Zeitlang« die ıhren »häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse(n)« notwendig anhaftenden »Beschränkungen« abstreifen (165,32f.) und sich ganz in die »intellektuelle() Welt« (165,29) begeben, wo dıe »Thätigkeit höherer Kräfte« nicht »aufgehalten [wırd] durch dıe Aufmerksamkeit, die überall, wo auf dıe Außenwelt gewirkt werden soll, dem Geschäft

der niederen [sc. Kräfte] gewidmet werden muß« (165,26-29), wo sie ihre 8

Ein ähnlicher Gedanke erscheint schon in ÜdG; vgl. oben Kap. 7, 1.3.

9

Vgl. oben Kap. 9, 1.1.

2. Die Sozialform der freien Geselligkeit

497

individuellen Kräfte, Fähigkeiten und Begabungen ın einem wirklich »freien Spiel«

(165,30;

Hervorhebung

von

mir)

nach

allen Seiten

entfalten

kön-

nen - während in Haus und Beruf unter dem Druck der äußeren Notwendigkeit einseitige und auf einer niedrigen Stufe verharrende Bildungen forciert werden und das soziale Leben zudem in einem engen Bereich begrenzt bleibt -, wo sie sich mithin »dem höheren Ziele des menschlichen (165,7) schneller (vgl. 165,6) zu nähern vermögen,

Daseins«

Aus dieser Charakterisierung der freien Geselligkeit wird mehreres deutlich: Zum einen ist die höhere Bildung des Menschen zwar bestimmt als 'Vergeistigung', als Heraustreten aus den einengenden Bezügen des äußeren Daseins, dies aber eben nicht als solitäre Selbstgenügsamkeit und Unbedürftigkeit eines sıch ganz aus sıch selbst von selbst entfaltenden Individu-

ums. Selbstbildung vollzieht sich vielmehr als bereichernde Erweiterung der eigenen »Sphäre« (165,18) durch Wahrnehmung der individuellen Sphären anderer,

ebenfalls

höher

Erweiterung wiederum,

Gebildeten

bzw.

sich

höher

Bildenden,

welche

wenn sie von diesen Anderen aufgrund von Mit-

teilung oder durch Anschauung wahrgenommen

wird, deren eigene Sphäre

erweitert, verändert, weiter bildet. Genau diese Mitteilung und Anregung von Mitteilungen möglichst »mannigfaltige(r) Anschauungen der Menschheit und ihres Thuns« (165,15) ist durch die Zwänge, Bedürfnisse und Einseitigkeiten des äußeren Lebens behindert, auf partikulare Bereiche limitiert, wo der Einzelne über seinen Alltag kaum hinausblicken und deswegen auch Anderen keine Erweiterung ıhrer Perspektiven bieten kann, ebenso wenig wie er deren Perspektiven umfassend

wahrzunehmen

diese

Schranken

denn

nicht

ohnehin

Lebenskontextes gefangen

bereits

in

den

des

vermag (wenn

gemeinsamen

und deshalb gar keine Sphärenerweiterung

mehr

zu bieten geeignet sind). Da also diese selbstbildende Sphärenerweiterung nur in sozialem Kontakt und zwar von solchen Individuen geschehen kann, die ihre äußeren Bezüge transzendiert haben bzw. transzendieren können oder jedenfalls wollen, muß es einen sozialen Ort geben, wo diese Kontakte

möglich sind, eine eigene Sozialform, die um dieser Kontakte willen und durch diese konstituiert wird, bei der zudem die Wechselwirkung

von Mit-

teilung eigener und Wahrnehmung fremder Individualität eben diese jeweils individualitätssteigernde Mitteilung und Wahrnehmung,

diese Perspektiven-

verschränkung ihrerseits selbst katalysiert und reproduziert und damit den ıindividualitätserweiternden Effekt potenziert. Diese Sozialform »ergänzt« (165,18) freilich die kontextuellen Lebenssphären nur; sie negıert die in diesen gegebenen Lebens- und Selbstbildungsmöglichkeiten nicht, soll nur helfen, die (Selbst-)Verabsolutierung der partikularen Lebenswelten) zu durchbrechen, indem sie eine zusätzliche (und durchaus ihrerseits partıku-

498

V. Geselligkeit - Kap. 10. Individualität und Öffentlichkeit

lare,

zeitlich begrenzte)

Gestalt

sozialen

Lebens

bildet,

die eben

dadurch

bestimmt ist, daß die anderwärts gültigen sozialen Beurteilungsstandards, Rollen- und Funktionsbeschreibungen, Hierarchien und anderen Einteilungskriterien

hier und

vorderhand

rur hier keine

Bedeutung

haben.

Die

freie Geselligkeit ermöglicht eine Enräußerung, eine Darstellung des inneren, des intellektuellen, des eigentlichen individuellen Lebens in der äußeren Welt, eine Gestaltung der äußeren Welt nach Maßgabe der inneren und ein Gestaltgewinnen der Innen-Außen-Einheit der Individuen in ihrem, ja allererst durch ihr Zusammensein mit anderen Individuen. Sie soll (und

kann) die anderen Sozialformen nicht ersetzen, Allerdings repräsentiert sie (bzw.

soll

im

Idealfall

repräsentieren

[vgl.

165,34-36})

die

vollständige

(und also soziale!) Entfaltung der menschlichen Bestimmung, der Humani-

tärl®. Die in ihr geltenden Verhaltensstandards und für ihr Bestehen maßgebenden

Gesetzmäßigkeiten,

deren

Inbegriff

die »gute

Lebensart«

ist,

haben nıcht nur »interimistische« Bedeutung, sondern zielen »eigentlich« auf

den »häußliche(n) und bürgerlich(n) Zustand«, sie sollen also das gesamte soziale Leben prägen (I 156; 36,13-16). Insofern ist die freie Geselligkeit keine bloße Notlösung, die auf den Mangel unverstellter Kommunikation in einer noch ständisch strukturierten und konventionell entleerten Gesellschaft

reagiert und die »sich selbst vernichtet (,) wenn die Menschen klug genug« (1 156; 36,14) geworden sind, sondern in ıhr wird ein die Vielfalt der indı-

viduellen Gaben und deren Kommunikation förderndes Verhalten beispielhaft realisiert, das in alle Lebensbereiche ausstrahlen soll!!.

10 Der Begriff in I 116 (30,7-10) und I 146 (34,11). Schon in WL erscheint der Humanitäts-Begriff in zentraler Stellung. Ygl. KGA I/I, 410,5-11 und oben Kap. 6, 1.4. und 1.5.

Allerdings

zeigt

Schleiermacher

bei der Bestimmung

dieser Außenbeziehung

der

Geselligkeit eine gewisse Unsicherheit. Denn wenn es stimmt, daß die »Ausbeute an mannigfaltigen Anschauungen der Menschheit und ıhres Thuns (...} um so geringer [wird,] je rechtlicher alles hergeht, und je mehr die sittliche ÖOekonomie vervollkommnet tst« (165,14-17), dann wırd problematisch, wıe denn diese Ausstrahlung der an Individualität orientierten Verhaltensstandards in per definitionem von Individuellem absırahierenden Lebensformen und Beurteilungsrastern überhaupt aussehen soll. Sieht man freilich, daß das Recht und deshalb der Staat nach Schleiermacher auf die Funktion der Sıcherung Individueller Lebensmöglichkeiten restringiert ıst (vgl. oben Kap. 7, 2.) und daß beim beruflichen und häuslichen Leben nur die fakrische Totalisierung eines Lebensbereiches und die daran entstehende Verkümmerung vielfältiger indıvidueller Begabungen kritisiert wird, so wırd jedenfalls die Richtung deutlich, in der nach Schleiermacher die Entwicklung auch der an äußeren Zwecken orientierten sozialen Formationen zu denken sein wird: Die nicht-seibstzwecklichen Sozialbeziehungen

sollen als Moment der umfassenden Entfaltung der individuellen Begabungen aufge-

2. Die Sozialform der freien Geselligkeit

499

Diese Struktur und diese Funktion der Geselligkeit entspricht sehr genau dem, was in den frühen Arıstoteles- Anmerkungen als Struktur und Funktion der Freundschaft erkennbar wurde!?. Die damit markierte Verschiebung des sozialtheoretischen Leitparadıgmas verdrängt, wie sich jetzt gezeigt hat, keineswegs das Konzept der Individualitätssteigerung durch wechselseitige

Kommunikation von Individualität; sie schiebt dieses Konzept nur mit sich von der reinen Intimität der Freundschaft hinaus in die relative Öffentlichkeit der freien Geselligkeit. Was bisher in der negativen Entgegensetzung von Intimität und Außenwelt getrennt war, gerät dadurch jetzt freilich ın eine spannungsreiche Kopräsenz. Es genügt nun nicht mehr, eine aufgrund ihrer Intimstät nicht entfremdete (das Individuum nicht von sich selbst entfremdende) Sozialform von allen anderen, Individualität negierenden Sozialformen positiv abzuheben. Die Geselligkeit ıst eine Öffentliche Sozıalform neben anderen, und sie verlangt von den Beteiligten eine Assımilatıon an den 'Geist des Ganzen’. Die Wahrung der Individualität der Einzelnen gegen die oder besser in der Individualität des Ganzen wird dann jedenfalls

problematisch,

ebenso die Abgrenzung

nicht-entfremdeter,

volikommener

und vervollkommnender Formen der öffentlichen Existenz der Einzelnen von entfremdenden, weniger vollkommenen - bzw. die Zuordnung dieser

zur Bestimmung der Individualität, um die es ja ın jenen gehen soll. Dieser Problematik - die entsteht, weıl jede Gesellschaft nur als konkrete, bestimmte existiert (vgl. 170,20-31) - trägt Schleiermacher durch das Denken

in Antinomien Rechnung. Individuum ist ein Mensch, wenn »alles in ihm zusammenhängt, einen Mittelpunct hat und sich gegenseitig bestimmt und erklärt« (172,12f.).

Dieser Zusammenhang ist singulär sowohl in Hinsicht auf seinen "Inhalt' als auch ın Hinsicht auf sein Relationierungsprinzip. Jeder Mensch hat als Individuum mithin »seine bestimmte Sphäre, innerhalb der er allein denken und

handeln,

und also auch

sich

mittheilen

kann«

(171,10-12,

Hervorhe-

bung von mir), und ın dieser Sphäre eine eigene Weise der Behandlung der darın enthaltenen Inhalte. Niemand stimmt mit einem Anderen in materialer

Extension

und

Beziehung

notwendig

ın Perspektive

völlig

überein.

Inkommunikables,

und

Es gibt ın jeder es

bedarf

immer

sozialen auch

bei

Gemeinsamem der Perspektivenabstimmung. Jede Gesellschaft enthält deshalb notwendig immer weniger als die Summe der 'Inhalte' der beteiligten Individuen; sie bildet gewissermaßen die Schnittfläche der individuellen faßt, eben diese Entfaltung soll durch jene Beziehungen gefördert und gesichert werden. 12

Ygl. oben Kap. 1.

500

V. Geselligkeit - Kap. 10. Individualität und Öffentlichkeit

Sphären der Teilnehmer (vgl. 165,18-20). Daraus scheint nun aber zu folgen, daß für die Gesellschaft nicht der »ganze() Mensch()« (172,6) interessant ist, sondern nur das an ihm, was er mit allen Anderen gemeinsam hat.

Dann kann freilich die Geselligkeit die Funktion der Erweiterung der je individuellen

Sphären

durch

Begegnung

mit anderen

Individuen

gar nıcht

erfüllen; die Orientierung am Ganzen bedingt dann eine Gesellschaft des kleinsten gemeinsamen Nenners, die jene Langeweile ausstrahlt, die Schleiermacher

an

den

höfischen

Gesellschaften

kritisiert

(vel.

173,14-16).

Umgekehrt scheint die Orientierung am /ndividuellen - das ja Voraussetzung und Zweck der freien Geselligkeit ist - die Gesellschaft eo ipso zu parzellieren ın solche, dıe eben dieses individuelle verstehen,

und solche,

zu deren Sphäre es nicht gehört (vgl. 172,36-39). Zudem ist unklar, wıe dıe Schnittfläche der Individualıtäten überhaupt zu bestimmen sein soll, wenn sie allererst durch die Kommunikation der Individuen gebildet sich aber in der Kommunikation bereits daran orientieren sollen.

wird,

die

Schleiermacher löst diese Aporie, indem er die Orientierung am Individuellen und die Orientierung am Ganzen aus Ihrer Konkurrenzstellung befreit, so daß die eine nicht mehr notwendig die andere konterkariert. Dazu greift er auf den hier »Relationierungsprinzip« genannten zweiten Aspekt von Individualität zurück. Nicht die einzelnen Inhalte sind es strenggenommen, die die Individualität ausmachen - für sich genommen können sie immer auch bei Anderen (aktuell oder virtuell Anwesenden) gefunden werden -, sondern die Weise und Behandlung ihrer Relationierung. Selbst wenn ein Individuum also nicht alle seine Inhalte in die Geselligkeit einbringen kann, macht es doch schlicht durch dıe Art, wie es dıe allen gemeinsamen Inhalte behandelt, seine Individualität geltend. Schleiermacher nennt dies dıe »Manier« (174,12) eines Einzelnen in der Gesellschaft. Eine

Gesellschaft ist nun aber nicht durch die 'Manieren' der an ıhr Beteiligten definiert, sondern durch einen bestimmten

/nhalt oder Stoff, der allen Be-

teiligten gemeinsam sein muß. Schleiermacher spricht hier - »etymologisch richtig, aber nicht so ganz dem Sprachgebrauch gemäß« - vom »Torn« einer Gesellschaft (174,27f.). Ist deshalb für die Identität der jeweiligen Gesellschaft die Bestimmtheit der Manieren der Beteiligten kontingent, so umgekehrt für das Individuum der jeweilige Charakter der Gesellschaft (173,39 174,3; vgl. 1144). Eben darum ist es dem Individuum zuzumuten, sich

dem jeweiligen »Ton« - der in der Regel durch ein Themengebiet, Kunst, Politik oder Philosophie (vgl.

etwa

174,15-17.42f.), bestimmt ıst - anzu-

passen, da darunter seine Individualität gar nicht leiden kann (wenn anders es

zu

diesem

Themengebiet

Nicht zurücknehmen

überhaupt

etwas

darf der Einzelne dagegen

Eigenes

beizutragen

seine Manier;

denn

hat).

die

2. Die Sozialform der freien Geselligkeit

501

vermeintlich taktvolle Einschränkung der Selbstentfaltung auf ein angeblich

der Gesamtheit zuträgliches Maß zerstört geradezu die Funktion der Gesellschaft, die Individualitätswahrnehmung. Es ist nicht seine Aufgabe und darf nicht seine Sorge sein, dieses Maß der eigenen Zuträglichkeit für die Gesellschaft selbst und daraufhin das oder Sperriges an Geselligkeit (also

und vor allem vorgängig festzustellen oder festzulegen eigene Engagement zu restringieren. Eventuell Störendes der individuellen Manier erweist sıch erst im Prozeß der erst, wenn die Individualität sich bereits geäußert har)

und wird dann von den anderen Beteiligten wahrgenommen und als störend behutsam rückkommuniziert, so daß der Betreffende sich daran in seinen folgenden Selbstäußerungen orientieren kann. Diese Selbstäußerungen hören aber dadurch nicht auf, individuell im vollen Sinne zu sein; denn die-

ser Prozeß der Resonanzkontrolle, der »Uebung« (175,16) gehört seinerseits zum Prozeß der Individualitätsbildung, um dessentwillen die Geselligkeit aufgesucht wird, ja der unabhängig von Sozialität überhaupt nicht und außerhalb von freier Geselligkeit nur als eingeschränkt und behindert gedacht werden kann. Wie entsteht aber der spezifische Ton einer Gesellschaft? Oder anders gefragt:

Wie

wird aus einer Ansammlung

von

Anwesenden

ein geselliger

Kreis? Das Problem besteht dabei darın, daß das "Thema' des Gespräches diesem nicht vorgegeben sein darf, da dies einen den Beteiligten äußerlichen Zweck der Vergesellung bedeuten und die Selbstbestimmung der Einzelnen beschränken, also gar keine Sozialform des Typs freie Geselligkeit konstituieren würde; das Thema zugleich mit dem Gespräch aktual möglichen individuellen Beiträgen diese aber bekannt, oder woraus

muß vielmehr im Gespräch oder sogar emergieren, und es muß zudem aus den aller Beteiligten stammen. Woher sind zu erheben‘ Hier wird eine schwer zu

bearbeitende Spannung im Begriff der Gesellschaft-der-Individuen virulent: Auf der einen Seite gehört zum Individuum, wenn es denn der zentrierte vollständige

Zusammenhang

aller

seiner

Lebensvollzüge

ist,

auch

seine

berufliche und/oder häusliche Existenz, die dann aber auch für die Geselligkeit eine Rolle spielen muß; auf der anderen Seite soll in der Geselligkeit nun gerade davon abstrahiert werden, um die Fixierung der Selbstwahrnehmung auf berufliche Funktion und soziale Stellung aufzubrechen und eine Erweiterung der individuellen Sphäre über den durch äußere Bedingungen

definierten

Bereich

hinaus

zu ermöglichen.

Orientiert

man

sich daher bei der Wahl des Gesprächsgegenstandes an der äußeren »Anschauung« der Beteiligten - die primär durch ihre bürgerliche Stellung geprägt ist -, so findet sich zwar bei ähnlichen Berufen sehr schnell eın allen gemeinsames Thema aus diesem Bereich, oder man einigt sich bei

502

V. Geselligkeit - Kap. 10. Individualität und Öffentlichkeit

sehr verschiedenen

doch

Professionen leicht auf den allgemeinsten

alle irgendwie

betreffenden

öffentlichen

Bereich,

und zugleich

die Politik

(vgl.

177,17 - 178,1); die individualitätssteigernde Überschreitung der durch die

äußere Existenz gezogenen Grenzen findet dabei aber kaum statt. Unterstellt man dagegen bei allen Beteiligten a limine eine bereits so gebildete und d.h. über den Bereich des Beruflichen und Häuslichen hinausgekommene - Individualität, daß sıe bei jedem angeschlagenen Thema etwas Eigenes beizutragen wissen, so entspricht dies zwar dem /dea! der freien Geselligkeit weit eher (vgl. 178,38f.), übersieht aber die fakrischen

Grenzen der Kapazität der je Einzelnen, am Spezialwissen der Anderen produktiv Anteil zu nehmen, und führt dazu, daß eine alle erfassende Kommunıkation möglıcherweise gar nıcht zustande kommt, da einige von dem angesprochenen Fachgebiet berufs- und herkunftshalber überhaupt nichts

verstehen (vgl. 178,25 - 179,6). Das heißt aber: Bei der Wahl des Gesprächsgegenstands müssen sowohl die faktischen Kapazitätsgrenzen der Beteiligten als auch der Zweck der Geselligkeit, diese Grenzen zu erweitern, muß also sowohl die konkrete, durch die bürgerlich-häusliche Stellung erheblich geprägte individuelle Ganzheit der Beteiligten als auch deren

Bedürfnis nach ınnerer Differenzierung und äußerer Entfaltung ihrer Individualität über ihren jeweiligen Status hinaus beachtet werden. Es muß daher in jeder Geselligkeit Grenzen geben, wenn anders sie aus konkreten Individuen besteht; diese Grenzen dürfen aber nie definitiv fixiert sein, sondern müssen durch sensibles Austesten des Zumutbaren im Akt der Kom-

munikation selbst je neu bestimmt werden - und zwar mit der Tendenz der Vermehrung des allen zugänglichen Stoffes. Die Individualität einer Gesellschaft

ist also

immer

im

Werden,

sie ıst immer

nur antizipatorisch

und

mithin im Wortsinn vor-läufig erfaßbar, und sie ist immer nur approximariv realisierbar. Dies ıst der Grund, warum auch die Einheit einer Gesellschaft immer nur gewissermaßen eine regulative Idee darstellt (vgl. 184,17-21;

vgl. 1190): Die Notwendigkeit des 'Austestens' der Grenzen führt notwendig »Augenblicke« herbei, wo die Gesellschaft »eigentlich ın mehrere Theile getheilt ist« (184,21f.). Eben diese Unabschließbarkeit des Prozesses der Bestimmung einer Gesellschaft bedingt aber auch, daß die Geselligkeit

überhaupt als Ort freier Selbsttätigkeit auf Dauer bestehen kann; denn eine vollständig bestimmte Gesellschaft böte den Einzelnen nur noch die Möglichkeit der Anpassung und der Reproduktion, nicht mehr die der Gestaltung. Nur eine nicht vollständig bestimmte, das Individuum nicht vollständig determinierende Gesellschaft ist im übrigen auch ohne Schaden der Beteiligten beendbar.

3. Theorie des geselligen Betragens

503

3. Theorie des geselligen Betragens Was hier als Konzept nach seinen verschiedenen Aspekten und Problemen vorgestellt wurde, gießt Schleiermacher in die Gestalt einer Theorie im emphatischen Sinn. Hierfür gibt er zwei verschiedene Begründungen bzw. Funktionsangaben:

In den Gedankenheften

stellt er fest, daß anders als ın

der Ethik, wo die Praxis der diese beurteilenden Theorie immer vorausgehen müsse, bei der Geselligkeit dıe Theorie die Praxis allererst ermögliche (vel. 1104; 28,6-8). Die Geselligkeitstheorie reflektiert also nicht eine bereits bestehende soziale Praxis, sondern sie konstruiert eine Sozialform, dıe es ohne sıe gar nicht oder zumindest so nicht geben würde. Die Theorie

impliziert

mithin

ein Bildungsprogramm.

Pointe der wesentlich

zurückhaltenderen

Genau

dies ist aber auch

Funktionsbesimmung

die

in der aus-

geführten Theorie selbst. Dort wird gegen die Theoriebedarf negierenden »Dilettanten« und »Virtuosen« der Geselligkeit (vgl. 166,17 - 168,6) darauf hingewiesen, daß ebenso wıe »die Häuslichkeit und der bürgerliche Verein« auch die »freie() Geselligkeit« die ihrem »sittliche(n) Zweck« entsprechende Vollendungsgestalt gegenwärtig noch nicht erreicht habe (vgl. 165,34 -

166,1), daß eine »Verbesserung« aber »wegen des nothwendigen Mangels einer öffentlichen Gewalt« auf diesem Felde nur durch das Handlen der Einzelnen erreicht werden könne, indem jeder »sein gesellschaftliches Betragen diesem Zweck gemäß einrichte« (166,4-9). Dieser Verbesserung ıst die Theorie funktional zugeordnet. Denn wenn jeder ın der Geselligkeit »für

sıch

selbst

Gesetzgeber

seyn«

muß

(166,5),

muß

er deren

Zweck

(@Ziel[]«) »begriffen« haben und die »Annäherungspunkte« an dieses Zie] kennen (166,11-13); nur wenn Zielbestimmung und Weg-Orientierung aber ın einem einheitlichen und vollständigen, also systematischen Zusammen-

hang erfaßt sınd, kann das gesellige Verhalten durchgängig an der Idee der freien Geselligkeit abgestimmt werden, kann dergestalt dıe reale, konkrete Gesellschaft »auf eine stetige Weise« (166,11f., Hervorhebung von mir) ihrer Vollendungsgestalt angenähert werden, Allein solche Kontinuierlichkeit führt jedoch

zu wirklicher

»Verbesserung«

des geselligen

Zustandes.

Deshalb gilt, wenn die gesellige Praxıs nıcht bloß eine »blinde unzusammenhängende Empirie« (167,29f.) sein soll, bündig: »keine Verbesserung ohne Theorie« (166,14)13. 13

Das Fehlen einer die »einzelnen Beobachtungen« anhand von »bestimmten Gesichtspunkten und Beziehungen« zusammenziehenden Theorie kritisiert Schleiermacher an Knigges erstmals 1788 (in Hannover) erschienenem Werk »Ueber den Umgang mit Menschen« {die 5. Auflage 1796 jetzt wiederveröffentlicht: Stuttgart 1991), mit der er

sich schon ın Gedankenheft I auseinandergeseizt hatte (vgl. 1 95-99. 101-103. 104.1 14f.

>04

Y. Geselligkeit - Kap. 10. Individualität und Öffentlichkeit

Der Systemanspruch verlangt bei dieser Theorie zunächst einen einheitlichen Begriff der freien Geselligkeit. Die Praxisorientierung macht zudem eine Einheit (Kompatibilität) der dem »Betragen« ın Geselligkeit zugrundeliegenden Gesetze und Regeln sowohl untereinander als auch im Verhältnis zum Begriff erforderlich. Aus der Grundbestimmung der freien Geselligkeit als wechselseitiger Mitteilung von Individuellem leitet Schleiermacher nun wie er betont: rein analytisch (vgl. 170,10f.} - den formalen Aspekt der Wechselwirkung und den materialen Aspekt der Mitteilung von Individuellem ab und ordnet diesen die allgemeinen Gesetze aller »geselligen Thätigkeit« zu (170,8f.): »Alles soll Wechselwirkung seyn« (170,12f.) bzw. »Alle sollen zu einem freien Gedankenspiel angeregt werden durch die Mitthei-

lung des meinigen« (170,13-15). Diese Gesetze sınd aber für die Verhaltensorientierung ın einer bestimmten Gesellschaft noch ungeeignet, weil zu allgemein. Es muß noch ein quantitativer Aspekt hinzutreten, der den »eignen Umriß«, das »eigne() Profil« einer Gesellschaft erfaßt (170,28)

und der sich in dem »quantitative(n)« (170,33) Gesetz niederschlägt: »deine gesellige Thätigkeit soll sich immer innerhalb der Schranken halten, in denen alleın eine bestimmte Gesellschaft als ein Ganzes bestehen kann« (171,5-8; im Original gesperrt). Dieses Gesetz ist das »Gebot der Schicklichkeit«

(171,30).

Die Bestimmung

der Grenzen

einer konkreten

Gesell-

schaft ıst nun freilich »die Bedingung der Anwendbarkeit« der beiden all119.159). Knigge gebe nur »gleichsam abgerissene Theile, in denen nur der Kritiker ein Ganzes ahnden, und es nicht ohne eigne Ergänzung daraus zusammensetzen kann« (167,39-41),

und obwohl

seine »dıcken Bücher (...) mit der Anmaßung

eines Systems«

aufträten, biete er «nur formlose Sammlungen, wo die Regeln und die Grenzbestimmungen der geselligen Mittheilung mit Vorschriften, die in Sittenbüchlein für Kinder gehören, zusammengeworfen, wo alle Begriffe auf den Kopf gestellt sind« (167,41 168,2}, vor allem aber bestimme er der Geselligkeit einen externen Zweck und mache sie damut zu einem nur bedingt - nämlich nach Maßlgabe ihres Nutzens für das »Glück, welches damit

keineswegs um wie

ın der Welt

zu machen

ıst« (168,5;

Hervorhebung

von

mir)

- und also

ihrer selbst willen anzustrebenden Ziel. Die Geselligkeit wird dann -

Schleiermacher

ın

G I 102

(28,1f.)

anmerkt

- zu

einer

Funktion

des

Egoismus

(»Mittel für den Egoismus«). Dementsprechend kann Knigge dıe Maxime ausgeben: »Sey, was Du bist, immer ganz, und immer Derselbe!« (Umgang 1, 60; zitiert nach KGA 1/2, 27) - ein »Princip«, das Schleiermachers Individualitats- und Geselligkeitskonzept gänzlich widerspricht (vgl. 197; 27,3-7). - In der Tat verfolgt Knigge über weite Strecken seines Werkes die defensive Strategie der Entfremdungsminimterung und der Wahrung des gesellschaftsextern gedachten Eigenen ın der (bzw. sogar vor der) Gesellschaft. Sein emanzipatorischer Impetus bezieht sıch nicht auf eine positive Würdigung der Sozialform Geselligkeit und ıhrer Bedeutung für die Selbstbildung, sondern auf eine Verbesserung der Chancen sozial oder individuell benachteiligter Einzelner, sich ın der weiterhin als entfremdet und entfremdend empfundenen Gesellschaft

selbst

durchzusetzen,

ohne

ıhre

Integrität

einzubüßlen.

Er

Diastasen-Modell verhaftet, das Schleiermacher gerade überwinden will.

bleibt

einem

3. Theorie des geselligen Betragens

505

gemeinen Gesetze (170,38), und so ist dıe Erfassung und Wahrung des »Schicklichen« (171,29) das erste und entscheidende Problem der »Theorie

des geselligen Betragens«!®. Eine Gesellschaft

vollzieht sich durch die auf sie bezogene

und an ıhr

orientierte freie Tätigkeit der Beteiligten, umgekehrt konstituiert aber diese Tätigkeit allererst die Besrimmtheit der Gesellschaft. Das gesellige Betragen muß sich also auf der einen Seite am bereits bestimmten - oder genauer: am nıcht durch den Einzelnen alleın bestimmbaren - Charakter des Ganzen ausrichten; auf der anderen Seite muß es an dieser Bestimmung seinerseits mitwirken. Mıt dieser Dualıtät gewinnt Schleiermacher zunächst das Glie-

derungsprinzip, anhand dessen er die Antinomien des geselligen Lebens und die diesem korrespondierenden widersprüchlichen Verhaltensmaximen behandeln kann. So steht die Forderung der Einpassung in ein vorgängig bestimmtes (oder jedenfalls nicht durch unmittelbare individuelle Selbstbestimmung allein bestimmbares) begrenztes Ganzes zu dem Anspruch, in der Geselligkeit den »ganzen Menschen« (172,6) in der Fülle seiner »Individualität« und »Eigenthümlichkeit« (172,9) zur Geltung zu bringen,

in einer

Spannung, die sich ın den entgegengesetzten Maximen der das Eigene nach Maßgabe der supponierten Identität des Ganzen tunlichst zurücknehmenden »Selbstbeschränkung« (173,23) und der von gesellschaftlichen Rücksichten möglichst wenig eingeschränkten individuellen »Selbstthätigkeit« (ebd.) niederschlägt. Schleiermacher bringt diese Maximen, wie oben dargestellt, so zur Einheit, daß beide zugleich und beide uneingeschränkt gelten: näm-

lich durch Unterscheidung der Gesichtspunkte, unter denen sie Jeweils Geltung haben. Ebenso entsteht bei der Bestimmung des spezifischen »Tones« der Gesellschaft eine Spannung zwischen dem Ausgang von der Erscheinung bzw. umfassender vom offenbaren Starus quo der Beteiligten und der Orientierung an der Abzweckung der Geselligkeit, den Status quo gerade zu transzendieren, was wiederum zwei entgegengesetzte Maximen nach sich zieht: den Charakter der Gesellschaft nur aus dem der Erscheinung aller Be-

teiligten Gemeinsamen zu bestimmen oder umgekehrt allen zuzumuten (zu unterstellen), daß sie zu jedem Stoff etwas zu sagen hättenl®,

Diese Span-

14 Es ist deshalb kein schwerer Mangel, daß Schleiermacher nur die Behandlung des quantıtativen Gesetzes wırklich ausgeführt hat. Denn dabeı kommen notwendig die beiden Aspekte der Wechselwirkung und der Individualitätsmitteilung zur Sprache. Möglicherweise ist dies auch ein innerer Grund dafür, daß Schleiermacher das Projekt nicht zu Ende führte. Dann läge ein ähnlicher Fall vor wie bei WL (und auch bei UdF). 15

Vel. oben ?.

16 vgl. ebo.

306

V. Geselligkeit - Kap. 10. Individualität und Öffentlichkeit

nung löst Schleiermacher,

indem er dıe beiden Maxımen

als Minimum

und

Maximum einer Skala auffaßt und daraufhin dıe Eine »zur Bedingung oder zur Grenze« der Anderen macht (179,10f.). Das heißt: Der Einzelne darf, wenn er das Ganze der Gesellschaft projektiert, um diesem gemäß das Ge-

spräch zu gestalten, genau dann »von dem Stoff ausgehn, den die bürgerliche Lage« der Anwesenden »als nothwendig in ihnen vorhanden anweist« (179,15f.), wenn er zugleich unterstellt, daß sie diesen Stoff »so weit kulti-

virt« haben, »daß er zum Zweck der freien Geselligkeit geeignet sie zu solchen Ansichten und Kenntnissen davon gelangt seyen, mein interessant sind« (179,17-19; Hervorhebung von mir). darf der Einzelne von der idealen Bestimmung der Geselligkeit unbeschränkten die faktischen

ist, indem die allgeUmgekehrt als Ort der

Kommunikation von Individuellem ausgehen, wenn er nur Verstehensgrenzen in Rechnung stellt, die den anderen

Anwesenden aufgrund der Einseitigkeiten ihrer bürgerlichen Existenz gezogen sind. Transzendiert jenes Verfahren das Minimum ın Richtung auf das Maximum, so bindet dieses das Maxımum an das Mınimum oder jedenfalls

an die faktische Minderstufigkeit der geselligen Realität zurück. Beide Verfahren können dann zugleich angewendet werden, weil beide zwischen Minımum

und Maximum

»schweben« (180,8) und genau jenes

'ÄAustesten’

ermöglichen, das »die Sphäre der Gesellschaft zwischen den angegebenen Grenzen

immer genauer

zu bestimmen«

erlaubt

(180,12f.;

Hervorhebung

von mir)!?. Die Einheit des quantitativen Gesetzes bzw. der diesem zugeordneten Verhaltensmaxımen ıst freilich erst dann gesichert, wenn das Gebot, die Grenzen der konkreten Gesellschaft nicht zu überschreiten, und die unabschließbare Aufgabe, diese Grenzen im Vollzug der Geselligkeit

allererst und immer genauer zu bestimmen, ihrerseits noch einmal als Einheit begriffen werden können. Grenzbeachtung und Grenzbestimmung müssen sıch eodem actu vollziehen. Jede gesellige Tätigkeit muß mithin den Charakter der konkreten Gesellschaft zugleich wahren und weiterbilden. Dies entspricht der grundlegenden Bestimmung, eine Gesellschaft müsse immer zugleich »als seyend und als werdend« (168,27), »Bilden und Unterhalten« müsse bei ihr »als eines gedacht werden« (168, 19f.)18, Jede Weiter-

bildung der Gesellschaft muß dann ihrer Erhaltung dienen; das bedeutet, daß

das

Gespräch

nıcht

mit

dem

Maxımum

des

allgemein

Zumutbaren

begonnen werden darf, sondern an das Minımum des offenbaren Status quo anschließen soll, um eine kontinuierliche, stetige Entwicklung zu gewährleisten (vgl. 181,15-28). Damit gewinnt die Erhaltung der Geselischaft eine 17

Vgl. ebd.

I8 Vgl. die Einheit von Schöpfung und Erhaltung in der »Glaubenslehre«!

4. Rückblick

507

gewisse Priorität für die Verhaltensorientierung; das Bemühen um das »nähere Bestimmen der gesellschaftlichen Sphäre« (181,15f.) darf jedenfalls immer »nur ein Nebengeschäft desjenigen seyn, was ıch eigentlich thue, um dıe

Gesellschaft

zu

unterhalten«

(181,32-34).

Alle

»gesellschaftlichen

Aeußerungen« müssen deshalb eine »doppelte Tendenz, gleichsam einen doppelten Sinn haben« (181,34f.): Sie müssen zunächst schlicht der konkreten Gesellschaft angemessen sein und diese ın ihrem gegenwärtigen Zustand kontinuieren; sie müssen zugleich unterschwellig transparent sein hın auf eine gleichsam »höhere()« Entwicklungsstufe (181,38), die aber erst

dann wirklich erreicht wird, wenn Ändere den »nur aufs ungewisse hingeworfen(en)« Faden »aufnehmen« (181,38f.), d.h. wenn sie die in einem Betrag zu einem bestimmten Thema angelegten Assoziationen und Konnotationen anderer, verwandter Gegenstandsbereiche aufgreifen und offenbar

machen und mit ıhren Beiträgen dorthin übergehen. Gesellschaftsadäquat sind solche 'doppelsinnigen' Äußerungen freilich nur, solange die Gesellschaft auch in dem Fall ungestört weiterexistiert, daß der Faden nicht aufgegriffen wird. Außerdem ist vorausgesetzt, daß das assoziierte Themenfeld ebenfalls von so allgemeinem Interesse ist, daß die Beschäftigung damit die Gesellschaft nicht aufsplittert in Experten und notwendig unbeteiligte Unwissende. Die Einheit der Gesellschaft muß nämlich nur dann nicht unbedingt gewahrt werden, wenn diese offensichtlich aus äußerlichen Grün-

den - der Gastgeber will sich nur »einiger Verbindlichkeiten entledigen, oder eine Ausstellung seines Hausraths und seines Geschmacks veranstalten« (183,36f.) - zusammengerufen ist (vgl. 183,34 - 184,8).

4. Rückblick

Mit diesem »Versuch« hat Schleiermacher seine sozial- und kommunikationstheoretischen Anfänge eingeholt und in ein komplexeres Konzept der Sozialität aufgehoben. Die »Theorie des geselligen Betragens« bildet damit gewissermaßen den /nbegriff von Schleiermachers früher Theorieentwicklung.

Sie bietet eine erste elaborierte Theorie des Sozialen,

die das Pro-

gramm »Individuum unter Individuen«!? auf eine perspektivenreiche, nichtreduktive, aber trotzdem systemorientierte Weise verwirklicht. Sie versucht dabei zwei entgegengesetzte Engführungen zu vermeiden:

Weder erfaßt sie

die Gesellschaft als eine Agglomeration voneinander isolierter Individuen, 19

Vgl. den Hinweis bei Herms, Herkunft,

116. Die Formulierung stammt allerdings von

Dilthey (Denkmale, 46); sie stimmt aber sachlich mit KGA

L/L, 343, 11f. überein.

508

V. Geselligkeit - Kap. 10. Individualität und Öffentlichkeit

die über ihre Individualität hinaus auch noch in Kontakt zu anderen Indivi-

duen treten, und macht sie so zu einem kontingenten Sekundärphänomen ohne Eigenstand, noch hypostasiert sie umgekehrt die Gesellschaft dergestalt, daß die Individualität der Beteiligten in sie gleichsam aufgesogen und für ihren Bestand und ihre Gestalt irrelevant wird. Geselligkeit ıst eine Sozialform, die durch die individuelle Selbsttätigkeit der Anwesenden kon-

stituiert und ihrerseits ındıvidualisiert wird, die aber eben damit eine eigenständige Gestalt gewinnt, dıe den Anwesenden als solche dann auch gegenübertritt,

so daß sie sich nıcht nur zu den anderen beteiligten

Individuen,

sondern zugleich immer auch zum Charakter der Versammlung dieser Individuen verhalten müssen. Dies ıst aber kein den Individuen äußerlicher Zwang, dem sıe sıch aus kontingenten Gründen etwa der Wohlstandssteigerung unterzögen, ohne dadurch in ihrem Selbstsein beeinflußt zu sein; sondern es ist eine »ınnere Tendenz« der Individualität selbst, die in diesem Heraustreten aus der eigenen Sphäre sıch allererst bildet, ohne freilich

dadurch konstituiert zu sein: Geselligkeit ist die Weise des Prozessierens von Individualität. Eine solche Sozialform erfordert ein hohes Niveau des Problembewußt-

seins und eine große Komplexität der Darstellung. Sie ermöglicht nämlich ja ıst konstituiert durch ein hohes Maß an interner Differenzierung, die nicht ins Ganze und in die Einheit der Gesellschaft aufgehoben werden darf, obwohl eine solche Einheit immer vorausgesetzt und in jedem geselligen Akt als je noch ausstehend im Ausgriff je neu angestrebt werden muß. Ihre Darstellung verlangt mithin das Denken der Kopräsenz des Differenten ohne Verzicht auf, ja gerade unter der Bedingung von Einheit. Sie verlangt eine Konzeption des Individuellen, dıe dessen Selbstrealisierung nicht in der Selbstverabsolutierung der individuellen Perspektive und in der Homogeni-

sierung der Umwelt nach eigenem Bilde erblickt, sondern ın der Wahrnehmung und Förderung der Präsenz anderer Individuen ın der eigenen Welt, in der Erweiterung und Gestaltgewinnung der eigenen Perspektive durch die

kontrastierende Erfahrung pluraler anderer Perspektiven und durch die kommunikative wechselseitige Abstimmung mit diesen, kurz in der Schaffung und Gestaltung einer sozialen Welt vielstelliger, wechseiseitiger füreinander offener, 'resonanzsensibler', enthierarchisierter Nichr-Identität. Damit ıst aber zugleich ein prozessuales Denken gefordert, das die

Geschichte der Individuen und deshalb auch die Geschichte ihrer kommunikativen Vollzüge als für ihr Sein wesentlich erfaßt. Der Begriff der als Prozeß gedachten (Selbst-) Bildung gewinnt so zentrale Bedeutung; er wird

4. Rückblick

509

aber zugleich schon im Ansatz vor einer hermetisch-solipsistischen oder, wıe Schleiermacher an Knigge moniert, egoistischen Engführung bewahrt.

Gewissermaßen

eine Selbstanwendung

dieses Theorieprofils

ıst dann,

daß Schleiermacher die Sozialform der Geselligkeit ihrerseits als partikula-

res Moment des (seinerzeitigen?) sozialen Lebens und als Ferment gesellschaftlicher Evolution identifiziert. Gewährleistet die Betonung der Partikularıtät die Konkretheit und geschichtliche Individualität auch der sozialen Formen, die und in denen sıch Individuen bilden, so markiert die Forderung der Ausstrahlung der ın der freien Geselligkeit gegebenen Verhaltensstandards in andere Lebensbereiche ein Programm makrogesellschaftlicher Entwicklung, in der die Konkretisierung, Vergeschichtlichung, kurz die Individualisierung (Steigerung der individuellen Lebensmöglichkeiten) der

Individuen

wiederum

Realisierung,

geschichtlich-sukzessive zur immer

zur immer vollkommeneren

Erscheinung

voilständigeren

kommt,

ın der das

soziale Leben schließlich selber aus der Starrheit ständısch-stratifikatorıscher Strukturen in die Freiheit individuell-pluraler Gestaltgewinnung und Gestaltung nach Maßgabe der geschichtlich-konkreten Gegebenheiten und Begabungen übergeht.

Erfordernisse,

Ein solches Programm war schon in der freundschaftstheoretischen Konzentration der frühen Aristoteles-Anmerkungen angelegt?%. Durch den Übergang auf das Paradigma der Geselligkeit hat es aber an Realistik, Integrationskraft und Applizierbarkeit auf verschiedene Lebensbereiche gewonnen, man kann sagen: die Differenzierungsleistungen, die Schleiermacher in seinen vielfältigen »Schriften und Entwürfen« zwischen 1789 und 1799 erbracht hat?!, haben dadurch Eingang gefunden in die Einheit der Sozialtheorie. Gleichwohl sind die Grenzen auch dieser Konzeption unübersehbar. Die Geselligkeit erfaßt per definitionem nur den Bereich des sprachlichen oder - ın der Terminologie von Schleiermachers späteren EthikVorlesungen - darstellenden Handelns, sie lebt von der temporären Herauslösung aus den Sphären des herstellenden oder organısierenden Handelns, die tendenziell sogar als beengend, vereinseitigend, die 'Bildung des ganzen Menschen' be- oder verhindernd negativ qualifiziert sind. Schleiermacher hat noch kein Konzept gefunden, von wo aus er den Zusammenhang des

symbolisierenden und des organısierenden, des darstellenden und des herstellenden Handelns konstruieren könnte, und auch noch keine Terminologie, die diese Zuordnung ermöglicht. Er bietet also noch keine

20

Vgl. oben Kap. 1.

21

vgl. oben Kap. 3 -9.

510

V. Geselligkeit - Kap. 10. Individualität und Öffentlichkeit

umfassende und allgemeine Theorie des sozialen Handelns und des sozialen Lebens überhaupt.

Den Schritt dorthin vollziehen erst die Ethik-Vorlesun-

gen.

5. Zwischen Konvention und Authentizität: Anstand und Schamhaftigkeit Zwei kürzere Texte aus dem Jahr 1800 ıllustrieren noch einmal eindrucksvoll Schleiermachers Interesse an den Grenzlagen von Ethik und Geselligkeitstheorie, an der sozialen Darstellung und Wahrnehmung (Resonanz) der sittlichen Selbstbildung der Individuen, an den Abstimmungsproblemen zwischen konventioneller Selbstverleugnung und authentischer Selbstzurücknahme ım geselligen Leben. Sıe sollen deshalb am Ende der eingehen-

den Textinterpretationen, ehe im Schlußteil der Arbeit Linien von Schleiermachers

Frühwerk

hinein

in

sein

frühes

Hauptwerk

gezogen

werden?,

noch eigens angesprochen werden. Behandelt der Dialog »Über das Anständige« (KGA 1/3, 73 - 99) die Funktion des Anstandes an der Nahtstelle von sıttlicher Selbst-Bıldung und den Ansprüchen gesellschaftlicher Fremdwahr-

nehmung (5.1.}, so untersucht der ın dıe »Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde« eingeschobene »Versuch über die Schaamhaftigkeit« (KGA 1/3, 168 - 178) Grenzen und Einschränkungen des Mitteiibaren im geselligen Umgang (5.2.).2?

5.1. Habitualisierte Sittlichkeit

Ȇber

das

Anständige«

besteht

zunächst attraktiv erscheinende

aus

einer

Theorie des

kritischen

Demontage

Anstandes,

der ın mehreren,

einer

teils aporetisch verlaufenden Schritten eine Älternativkonzeption gegenübergestellt wird, Der Gesprächsteilnehmer Kallikles bestimmt Anstand zunächst

eher

negativ

als

Anpassung

des

Verhaltens

an

den

jeweiligen

22

Vgl. unten Kap. 11.

23

Der Dialog »Über das Anständige« weist zudem formal (bis hin zum Namen Sophron für den sokratisierenden Hauptredner} so stark auf das »Freiheitsgespräch« von 1789 zurück (vgl. oben Kap. 4, 2.), der »Versuch über dıe Schaamhaftigkeit« erfaßt so deutlich ein Problem des geselligen Lebens, das in der frühen Brieffolge »An Cecilie« ın einer paradıgmatischen Situation dargestellt wurde (vgl. oben Kap. 3, 3.), Ja diese beiden Werkpaare geradezu eıne Klammer um das Frühwerk bilden, die die zwischen den Arıstoteles-Anmerkungen und dem »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« herausgearbeitete grundlegende konzeptionelle Korrespondenz unterstützt.

5. Zwischen Konvention und Authentizität

sozialen

Kontext

und

die eigene

Funktion

darin

(vgl.

sl]

76,29-37);

diese

Anpassung empfindet er als unproblematisch und daher zumutbar, da sie nur das kontingente Außerliche betrifft (vgl. 76,42f. mit 78,2-4). Später er-

faßt er auch die positive Bedeutung dieser Anpassung, die sich in gefälligem Verhalten gegen andere konkretisiert (vgl. 88,10-12; 90,22-24), für das soziale Leben: Ebenso wie »Recht und bürgerliche Verfaßung« ın der zweck- und handlungsorientierten Gemeinschaft (vgl. 88,16-18), so restrin-

gieren die Regeln des Anstands in der »freie(n) Gemeinschaft« (88,15) die »ungebundene Wiltkühr und uneingeschränkte Mannigfaltigkeit« (88,29f.) der Verhaltens- und Verhaltensdeutungsmöglichkeiten, machen den geselligen Umgang damit regelmäßig und für den Einzelnen taxierbar und gewährleisten so Öffentliche 'Erwartungskultur‘.

Der »eigentliche und lezte

Zwek des Anständigen« ist nach Kallıkles nämlich, »daß ein Jeder gleich wiße (‚) wen er vor sıch, und gewißermaßen

warten

habe« (89,3-6).

auch was er von

Da nun aber »das Urbild

ihm zu er-

Alles gesezmäßigen

in

menschlichen Handlungen« das Sittliche ıst, muß sıch »dasjenige (,) was die

Art und Weise der menschlichen

Handlungen

in Gleichförmigkeit bringt,

(...) von selbst der Sittlichkeit nähern« (89,16-20). Diese Konzeption wird von Sophron mit einer Vielzahl von Argumenten

kritisiert. Indem sie das Anständige mit dem Gebräuchlichen und Üblichen identifiziere (vgl. 90,7f.), lasse sie die Mannigfaltigkeit der Verhaltensmöglichkeiten durch kontingent Gegebenes eingeschränkt sein anstatt aufgrund einer »Idee« (90,11); deshalb seien die Anstandsregeln selbst kontingent und variabel und nur bei vorgängiger Kenntnis der konkreten Situation

anwendbar, i4).

bewirkten

Anstand

mithin gar keine Erwartungssicherheit (vgl. 91,11-

dürfe zudem

nicht rein sozial als Anderen-zu-Gefallen-Sein

definiert werden. Denn zum einen müßte dann die Verweigerung eines Gefallens für unanständig gelten, obwohl sie doch siztlich gefordert sein kann (vgl.

91,5-7).

Zum

anderen

könnte ein nicht auf Andere

bezogenes

Ver-

halten nicht mehr als anständig oder unanständig qualıfıziert werden, was aber doch mit Recht getan wird (vgl. 90,22-31). Vor allem aber fördert die

Orientierung am Status quo einer gegebenen Gesellschaft keineswegs die anvisierte Versittlichung des einzelnen sich Anpassenden, der anderen Mitglieder der Gesellschaft wie der Gesellschaft überhaupt. Des Einzelnen: denn die Anpassung bleibt seiner Selbstbildung äußerlich, 'Entweltung' und 'Weltgestaltung' korrespondieren einander nicht2*, deshalb kann Anstand auch in die Nähe der »Heuchelei« (82,20) rücken. Der Anderen:

denn unter

dem Banner der Rücksichtnahme schützt dıe Akkommodation vielmehr die 24

Zur Terminologie vgl. oben Kap. 9, 2.

512

V, Geselligkeit - Kap. 10. Individvalität und Öffentlichkeit

»Gemeinheit« und »Trägheit« der Anderen; die Gefälligkeit reicht ihnen eine »Krüke«, statt sie das Gehen zu lehren (vgl. 92,26-31). Im Hinblick schließlich auf die Evolution der Gesellschaft insgesamt verhindert der als

Anpassung an das Hergebrachte verstandene Anstand, daß eine Zeit herbeigeführt wird, »da Jeder stark und gebildet genug sein wird Eigenthümlichkeit des Andern zu ertragen (,) ohne sich dadurch aufhalten zu laßen« (92,34-36). Solcher Anstand nıvelliert die also, vermindert ihre Sensibilität und ihre Toleranzbereitschaft

(,) um die stören und Menschen für andere

Individuen und hält sie von der Artikulation ihrer eigenen Individualität ab; er hintertreibt also jene Humanisierungs- und Individualisierungsdynamik, in der allein die sittliche Durchbildung des sozialen Lebens sich vollzieht. Schwer fällt es Sophron aber, seinen hohen Anspruch theoretisch einzulösen, den Anstand als »Vollendung des Menschen« (77,19), als höchste Schönheit des menschlichen Lebens (vgl. 78,11f.), mithin als Krönung der Selbstbildung zu erweisen. Anstand muß dann nämlich jedenfalls in engster

Verbindung zum scheidbar

Sittlichen stehen, muß aber zugleich von diesem unter-

bleiben.

Er

muß

deshalb

so

auf das

bekanntlich

als

interne

Willensbestimmung und darum als intentional definierte Handeln bezogen sein,

daß

er nicht

mit der

Sittlichkeit der Willensbestimmung

kollidiert,

ohne freilich selbst auf solcher Willensbestimmung zu beruhen. Es muß also ein sozial wahrnehmbares Verhalten eines Menschen geben, das seine Handlungen begleitet, selbst aber nicht intendiert ıst. Dieses Verhalten ıst nicht in der »mechanischen« (95,22) Ausführung der Willensbestimmung gefunden, da dafür weniger Zierlichkeit, Anmut und Unanstößigkeit als Richtigkeit und »Geschiklichkeit« erfordert wırd (95,26).

Sophron

greift

zur

Klärung

auf

die

anthropologisch-psychologische

Grundaussage zurück, daß der Mensch in jedem Augenblick nicht bloß als wollend, sondern ımmer auch als »anschauend« und »erinnernd« existiert (95,38f.). Dabei entstehen permanent »Vorstellungen« (95,39) in »freie(m) Spiel« (96,3), d.h. unabhängig »von dem bestimmten Wollen eines jeden Augenblikes« (96,1), also unwillkürlich. Da aber im menschlichen Gemüt

alles zusammenhängt, wenn anders man nicht »zweı Seelen annehmen« will (96, i1f.),

müssen

diese

Vorstellungen,

obgleich

selbst

»im

Innern

des

Gemüthes« bleibend (96,5f.), sich Jedenfalls desjenigen ın den Handlungen »bemächtigen und darauf wirksam sein« (96,16f.), was im jeweiligen Moment

weder

durch

Sittlichkeit

noch

durch

Geschicklichkeit

bestimmt

sein kann. Es gibt an dem Wırkungszusammenhang von innerer Willensbestimmung und äußerer Willensausführung Begleitumstände, dıe zwar für die Handlung selbst kontingent sind (sie bleibt auch unter entgegengesetzten Begleitumständen dieselbe), aber etwas über den Handelnden aussagen. Im

5. Zwischen

Konvention und Authentizität

513

Gespräch etwa hat der »gemäßigte(} Ton [der] Stimme«, der »ruhige() Cha-

rakter [der] begleitenden und

zurückhaltende,

Bewegungen«

nicht spöttische

(96,25f.),

und

die höfliche

(fragende

lautstark widerlegende)

Art der

Artikulation von Widerspruch zwar keinen Einfluß auf den Wahrheitsgehalt der Aussagen. Gerade weil dies alles aber außerhalb der Kontrolle des Willens erfolgt, erlaubt es sogar einen unverstellteren Aufschluß über die sittli-

che Bildung des Handelnden als die Beurteilung der Handlung selbst: Als unwillkürliches Verhalten kann Anstand gar nicht geheuchelt, d.h. bewußt vorgetäuscht werden. Über die sirzliche Bildung kann die Wahrnehmung des Anständigen informieren, da ihr Beurteilungskriterium die Sittlichkeit bleibt, andernfalls Anstand und Sitte ın Widerstreit geraten könnten. Anstand ist dasjenige »unabsichtlich vorkomm(ende)« Verhalten, das, »wenn es

zum Absichtlichen und ausdrüklich Gewollten gehörte«, sittliich zu nennen wäre (97,29-31).

Er ıst habitualısierte, zur Gewohnheit, gewissermaßen zur

Natur gewordene Sittlichkeit. In ihm zeigen sich »die Spuren einer langen standhaften Uebung« im Sittlichen »und immer gegenwärtiger Grundsäze und Begriffe« (97,36f.). Deshalb ist er die »Vollendung des Menschen« (77,19). Deshalb ıst er aber auch nicht unmittelbar lehr- und lernbar, sondern »nur durch freie Selbstthätigkeit und Uebung« (98,35) im Sittlichen,

also durch beständige sıttliche Selbstbildung zu erwerben, als deren Nebenprodukt und zugleich Indikator er dann gelten kann.

Freilich ist die Erkenntnis des Anständigen aufwendig und von Voraussetzungen abhängig, die nur von ihrerseits bereits Anständigen erbracht

werden

können?>.

Sittliche Selbstbildung

Genese eigenen und der Erkenntnis fremden

mithin

möglicherweise

Verhaltensstandards;

Uneingeweihten

als

ist demnach Anstandes.

Bedingung Anstand

Akkommodation

in Wirklichkeit ist er die routinisierte,

an

der

erscheint

externe

internalisierte

Form des Umgangs sittlich Gebildeter und gewährt diesen insofern durchaus 'Erwartungssicherheit', aber nıcht aufgrund äußerlicher Regeln, sondern weil er die Vertrauenswürdigkeit der Haltung und der Gesinnung der

Beteiligten symbolisiert. Diese selbstverständliche und gelassene Sittlichkeit der Gebildeten kann denn auch auf Andere ausstrahlen und es ıhnen attrak-

25

Schleiermacher analysiert dıe einzelnen Schritte der Identifikation des Anständıgen ın einer der Beschreibung der sıttlichen Beurteilung des Verhaltens und des »Werthes« einer Person in ÜdF (vgl. oben Kap. 5, 2.) eng verwandten Weise: 1) Ausgrenzung des Sittlıchen einer Handlung zur Bestimmung des »Gebiet(s) des Anständıgen« an ıhr, 2) Rückschluß von den äußerlichen Gesten etc. a) auf die » Vorstellungen (...), welche dabei

thätıg

sind«,

b) »auf die

Spuren

öfterer

und

früherer

Willensbestimmungen«,

3}

Beurteilung der Sittlichkeit der so erschlossenen Vorstellungs- und Erinnerungsgehalte. Vgl. 98,12-19.

514

V. Geselligkeit - Kap. 10. Individualität und Öffentlichkeit

tiv erscheinen lassen, »vom Schein zur Wahrheit und von der Sklaverei der

Gewohnheit

und willkührlichen Sazungen

zum

freien Dienste des Guten

und Schönen« überzugehen (99, 17f.), denn während der Zwang

zur Anpas-

sung an die Konvention die Entfaltung individueller Selbsttätigkeit unterbindet, anımiert die Anziehungskraft der ım anständıgen Umgang kulminierenden Geselligkeit der Gebildeten zum freien, selbsttätigen und selbstbildenden Mitvollzug, in dem letztlich eine größere Situationsvertrautheit und ein größeres Zutrauen in die Stabilität der sozialen Relationen zu erlangen ıst als in den streng reglementierten, aber auf Mißtrauen und Verstellung aufbauenden Umgangsformen der konventionellen Geselligkeit. Ein solcher Anstand

erfüllt

mithin jene

unsicherheitsabsorbierende

Funktion,

auf die

Kallikles so hohen Wert gelegt hatte, sogar besser als eine Akkommodation an allgemeine Konventionen, ohne ın den entgegengesetzten Fehler zu verfallen, den Schleiermacher in GB Knigge vorgehalten hatte, den äußeren,

geselligen Umgang

als Raum der Gefährdung des Selbsts aufzufassen, in

dem der Einzelne, wenn er sıch schon daran beteiligen müsse, seine Indivi-

dualität gegen den Geist der Gruppe zu bewahren habe?6. Sophrons Konzept des Anstandes ıntendiert eine Selbstzurücknahme ohne Selbstverleugnung; es erlaubt, das äußere Verhalten ın seiner Wahrnehmbarkeit und

damit soziale Prozesse der Resonanz in das ethische Konzept der SelbstBildung zu integrieren. Der Preis für die Befreiung der taktvollen sozialen Rücksichtnahme von konventionellem Nivellierungsdruck ist allerdings die

fehlende "Technisierbarkeit' des Anstandes: Anstand ıst die Weise des Umgangs der Gebildeten, derer also, die jene Fähigkeit zur Rücksichtnahme bereits besitzen, die bei den Anderen durch Konventionstegeln substituiert

wird. Diese Anderen werden mit der Auskunft beschieden, Bildung werde nur durch Bildung erlangt; Substitutionsformen werden nicht einmal in ihrer gewissermaßen minimalistischen, äußerlich friedenserhaltenden Funktion gewürdigt,

den

sozialen

Umgang

auf einem

Niveau

zu erhalten,

auf

dem Bildungsprozesse jedenfalls einsetzen können. Schleiermachers im Bildungs-Begriff konkretisierter verstärkter Konzentration auf Genese und Vollzüge intimisierter Öffentlichkeit oder sich aufschließender Intimität, sprich: auf die Bestimmung und Beschreibung freier Geselligkeit, korrespondiert eine Tendenz, objektivierte Orientierungen, Normen und Formen

des sozialen Lebens im Namen der freien Individualitätsbildung zurückzudrängen und ihnen auch keine relativ stabilisierende oder interimistische Funktion zuzubilligen. Das hochintegrative und teleologisch dynamısierte

26

Vgl. oben 3.

5, Zwischen Konvention und Authentizität

Bildungskonzept

hat jedenfalls

nicht zu übersehende

und totalisıerende Unterströmungen,

dıe am

515

entdifferenzierende

deutlichsten

vielleicht ın den

Monologen spürbar werden??. 5.2. Authentische Selbstzurücknahme

Ist freie Geselligkeit charakterisiert durch die Kommunikation ındıvidueller Beiträge zu einem Gegenstandsbereich, zu dem alle Beteiligten etwas Eige-

nes zu sagen wissen2®, so entsteht dabei jeweils die Aufgabe der Wahl geeigneter Themen. Während der »Versuch einer Theorie des geselligen Betragens« dıe auf eine konkrete Geselligkeit bezogenen Aspekte dieser Aufgabe erörterte (Wie wird eine Spaltung der Gesellschaft ın Experten und Unkundige vermieden? Unter welchen Umständen und in welchem Maße kann die berufliche Existenz der Beteiligten ins Gespräch gebracht werden?

etc.)2?, behandelt der »Versuch über die Schaamhaftigkeit« das Problem, daß konventionellerweise ein Vorstellungsbereich, zu dem ın jedem Menschen unvermeidlich Vorstellungen sich entwickeln (vgl. 168,24f.), gänzlich aus dem

Bereich

des

Ansprechbaren

verbannt

ist, nämlich

die (von

Schleiermacher als Einheit von Geist und Sinnlichkeit verstandene?®) Erotik. »Schaamhaftigkeit« heißt die Fähigkeit, dieses Thema in Gesellschaft zu vermeiden, um beı anderen nicht den Übergang vom Raisonnieren ins Begehren auszulösen (vgl. 171,22-33). Darf aber ein so wichtiger Lebensbereich tatsächlich a priori (und also heteronom) aus dem möglichen Gesprächsstoff ausgeschieden werden, und zudem: warum gerade dieser?

Sollte es demnach schlechterdings keine sittliche Weise des Redens über Erotik geben, und kann umgekehrt nur dieses scharnlos sein? Schleiermacher behandelt dieses Problem in ungemein charakteristischer Weise: Er geht aus von dem sittlichen Gebot der Rücksicht auf die freie Selbstentfaltung der Individualität Anderer als dem Grundgebot des geselligen Umgangs gebildeter Menschen und fragt in doppelter Richtung weiter: l} welche Formen und Inhalte der Kommunikation hindern unter welchen Umständen Ändere an ihrer freien Selbst-Bildung, und 2) gehört das Ge-

spräch über Erotisches notwendig zu solchen Selbstentfaltung hemmenden Faktoren? 27

Vel. unten Kap. 11,3.

28 Vgl. oben 2. 29

Vgl. oben ?2. und 3.

30 Vgl. 193,34 im Zusammenhang von 193,22 - 194,13; ferner 150,32 - 151,5.

516

V. Geselligkeit - Kap. 10. Individualität und Öffentlichkeit

Zunächst

befreit Schleiermacher

den

Begriff der Schamhaftigkeit

von

seiner isolierten Anwendung auf das Gebiet des Sexuellen und auf den Übergang vom Wissen ins Begehren (vom Vorstellungs- ins Begehrensver-

mögen): Schamlos ist jeder 'Sprechakt', der den Anderen gegen seinen Willen oder ohne seine Zustimmung zu einer Änderung seiner Geistestätigkeit nötigt (vgl. 172,24-26 und 173,4-8). Gemäß dieser Generalisierung gıbt es keinen Gesprächsbeitrag und kein Thema, die nicht schamlos in die Selbstbestimmung Anderer unterbrechend eingreifen könnten, und umgekehrt muß Erotik keineswegs notwendig diese Wirkung haben. Dies gilt zumal deshalb, weil nicht nur der unerwünschte Übergang vom distanzierten Wissen ıns beteiligte Begehren, sondern ebenso umgekehrt die Unterbrechung des Begehrens durch Reflexion 'schamlos' sein kann (vgl. 173,37-42)

- was

Schleiermacher

just

am

Gegenstand

der

Liebe

exem-

plifiziert (vgl. 175,7-19). Schamhaftigkeit ist mithin ganz allgemein die Fähigkeit, auf den momentanen Gemütszustand und die gegenwärtige Ausrichtung Anderer so Rücksicht zu nehmen, daß sie in ıhrer individuellen Selbstentwicklung nıcht ırrıtiert werden. Dafür ıst freilich bereits eine gewisse

Vertrautheit

mit dem

Anderen

erforderlich;

man

seine Freiheit am unbefestigtsten und verwundbarsten schonen«

nicht von

(172,42f.).

vornherein

muß

Das bedeutet aber, daß die Grenze zum

feststeht,

sondern

Geselligkeit eigens gefunden werden

muß,

für jeden

»wissen,

wo

ist, um sie dort zu Schamlosen

Menschen

bzw.

jede

und auch dies nicht ein für alle

Mal, sondern je neu nach Maßgabe seines Entwicklungsstandes. Dieses beständige "Austesten' der Grenzen darf nicht durch Orientierung an allgemeinen Schicklichkeitsstandards umgangen werden, da dies zum einen die gesellige Intimität aufheben,

zum

anderen aber die individuellen

Entwick-

lungsmöglichkeiten des Anderen ignorieren, zu seiner Förderung jedenfalls nichts unternehmen würde, Daß die Schamhaftigkeit ihre Funktion im Zusammenhang der Förderung der individuellen Selbst-Bildung hat, wird daran deutlich, daß sie im Zustand vollendeter Bildung ihr Ende findet (vgl. 177,12-14). Die für die Grenzerforschung nötige Verbindung von Unbefangenheit und Sensibilität schreibt Schleiermacher eher den Frauen zu, die

sich darum als Lehrerinnen der Schamhaftigkeit eignen (vgl. 177,31-42). Auch die Kunst kann mit schönen Darstellungen der Liebe in dieser Hinsicht vorbildlich sein; denn da wahre Kunst Vorstellungen und Neigungen zugleich anregt, kann sie gar keine abrupten Unterbrechungen der Seelenvollzüge auslösen: nur schlechte Kunst kann schamlos wirken. Deshalb kann Schleiermacher Schlegels »Lucinde« provokatıv als unschuldiges Werk preisen (vgl. 152,31-33 und 153,12-17), das die Bildung der Menschheit fördert, indem es Bilder für die leib-seelische Einheit der Liebe darbietet

5. Zwischen Konvention und Authentizität

(vgl.

177,43

- 178,24

und

150,24

- 151,22).

Kritiker des Werkes

ungewollt

ıhre eıgene

sie

»Lucinde«

pure

selbst

aus

der

517

Hingegen

entlarven

latente Schamlosigkeit,

Lüsternheit

herauspräparieren

175,35 - 176,20) und also die anstößige Unterbrechung selbst hervorrufen, die sie dem Werk vorwerfen.

die

indem

(vgl.

ihrer Seelenruhe

Schamhaftigkeit ıst, so läßt sıch resümieren, wie der Anstand ein Aspekt des geselligen Umgangs gebildeter resp. in Bildung begriffener Individuen. Während der Anstand jedoch gewissermaßen das Ende des Bildungsprozesses antizipiert, die Natur gewordene Sittlichkeit, ist die Schamhaftigkeit ein Moment des Vorantreibens dieses Prozesses selber, ein Moment, das die Bedürftigkeit der

Einzelnen

nach

sozialer Förderung

ıhrer Selbst-Bildung

widerspiegelt, das aber in dieser Förderung gerade den Respekt vor der Andersheit des Anderen und die sensible Wahrnehmung seines konkreten Entwicklungsstandes und seiner spezifischen Entwicklungsbedingungen festhält. Insofern erweist sich in den Überlegungen zur Schamhaftigkeit Schleiermachers Bildungs-Konzept besonders deutlich als Fortschreibung der Freundschafts-Konzeption der frühen Aristoteles-Anmerkungen.

Sechster Teil Ausblick

Elftes Kapitel

Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung im Universum: Ausblick auf »Reden«, »Monologen« und »Vertraute Briefe«

Einleitung

Es kann im folgenden nicht darum gehen, Schleiermachers frühes Hauptwerk, seine ersten großen Publikationen - die Reden »Über die Religion«, die »Monologen«, die »Vertrauten Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde« - und die im selben Zeitraum entstandenen kleineren Veröffentlichungen der Aufsatz »Über das Anständige«,

Rezensionen

zu Kant,

Garve,

Engel,

Fichte, die Hausväter-Briefe - ebenso detailliert zu interpretieren wie die »Schriften und Entwürfe« der Zeit bis 1799. Das frühe Hauptwerk soll auch nicht als das Ziel aufgewiesen werden, auf das das Frühwerk teleologisch hingeordnet wäre, so daß dieses von da her als Sequenz von Vorstufen bzw. Vorstudien zu diesem Ziel erkennbar würdel. Vielmehr soll am Schluß der Untersuchung

die bereits aus den

Aristoteles-Anmerkungen

erhobene,

als

Motor von Schleiermachers Denkentwicklung ausgemachte und als in dieser Denkentwicklung sich selber entfaltend und differenzierend dargestellte Ausgangskonfiguration an den Schriften von 1799 und 1800 reidentifiziert und in ihrer auch sie prägenden Bedeutung aufgewiesen werden. Damit kann zum einen ersichtlich werden, wie Schleiermacher etwa ın den »Reden« an Probiemkonstellationen weiterarbeitet, die er schon in den frühen

Texten in hochdifferenzierter Weise aufgespannt und beschrieben hatte. Die Verknüpfung mit dem Frühwerk legt deshalb motivische und strukturelle Momente, Akzente, Verbindungen im frühen Hauptwerk offen als für Deshalb hat sıch die vorliegende Arbeit auch nicht an Schleiermachers eigenen rückblickenden, mit teleologischen Epochenbildungen arbeitenden Selbsthistorisierungen orientiert, sondern ging gewissermaßen ınduktiv der Sequenz der Texte nach (zu denen freilich fast von Anfang an Selbstthematisierungen, Selbstkommentierungen, Reflexıonen auf den eigenen Weg gehörten; vgl. nur »An Cecilie«), in relativer Unabhängigkeit von Schleiermachers eigener Selektion eigener Vergangenheit.

522

VI. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

Schleiermachers (mindestens frühes) Denken überhaupt charakteristisch und verstärkt dadurch die Plausibilität der Hervorhebung gerade dieser Motive

und Strukturen für die Deutung der Reden, Monologen und Lucinde-Briefe. Umgekehrt werden dadurch zum andern die weithin unbekannten und unrezipierten, trotz Diltheys (Teil-)Publikation auch nahezu wirkungsgeschichtslosen frühen Texte angebunden an die Produkte von Schleiermachers jedenfalls wirkungsmächtigster Arbeitsphase; dadurch werden sie der Esoterik einer reinen Frühwerksforschung entnommen und dem umfangreichen und kaum überschaubaren

der Reden‘ werkes

kann

erschlossen.

Forschungskontext zum

"Schleiermacher

Das differenziert aufgefaltete Tableau des Früh-

dabei auch

als Kontrollinstanz

dafür dienen,

Engführungen,

Schwerpunktverschiebungen, falsche oder übermäßige Selektionen und Abstraktionen bei der Interpretation des Hauptwerkes zu identifizieren, Freilich

ıst das unveröffentlichte

Frühwerk

ım

veröffentlichten

frühen

Hauptwerk nicht gleichsam vollständig "aufgehoben! und absorbiert. Weder ist ausgeschlossen, daß Schleiermacher in den Reden, Monologen etc. leistungsfähige Perspektiven, Darstellungsformen, Erkenntniszusammenhänge aufgrund veränderter Gesprächskonstellationen nıcht mehr wahrnimmt, die er im Frühwerk bereits entwickelt hatte, noch, daß von den Lösungsansät-

zen im Hauptwerk rekursiv Licht auf Aporien des Frühwerkes fällt, das plausibel macht, warum Schleiermacher bestimmte Linien nicht mehr weiterverfolgte, bestimmte Konzepte nicht mehr verwendete. Es muß also immer Kontinuität und Diskontinuität von Schleiermachers Denkentwicklung beachtet werden:

Gerade wenn

das Frühwerk als Kontrollinstanz

für

die Deutung des Hauptwerkes fungieren soll, muß sein Zigenprofil gewahrt bleiben, gerade wenn die Einheit des Problembewußtseins in Schleiermachers Theorieentwicklung herausgearbeitet werden soll, müssen die Verschiebungen zwischen Frühwerk und Hauptwerk namhaft gemacht und ggf. kritisch auf das Frühwerk rückgewendet werden.

Entsprechend den im bisherigen gewonnenen Einsichten werden die Texte von 1799 und 1800 zunächst auf ihre im engeren Sinne sozialtheoretischen Ansätze hin untersucht, ehe in einem zweiten Schritt die Sozialdimension als konstitutives Moment aller elementaren Theorieoperationen

in den Blick tritt. Beide Aspekte hängen zusammen, insofern Freundschaft, Geselligkeit, 2

Liebesehe

und

Staat als real-ıdeale Sozialformen

erscheinen,

Weitgehend ausgeblendet werden muß die Frage nach Außeneinflüssen theoretischer wie lebensweltlicher Art, die solche Verschiebungen ausgelöst oder gefördert haben könnten. Dazu würden etwa gehören die Freundschaft mit Friedrich Schlegel, überhaupt der Kontakt mit Literaten, der Umgang mut Henriette Herz und das Leben der

Salons, die Philosophie Fıchtes und des jungen Schelling.

i. Partikulare Realisierungen der Bestimmung des Menschen

523

in denen jene Koevolution von Individualisierung und sozialer Vernetzung, jene Verbindung von individueller Perspektivität und allgemeiner (sozialer)

Vergewisserung,

jener Zusammenhang

spektivenverschränkung,

von

von Selbstreferentialität und

Selbstbildung

und

der

Emergenz

Per-

von

be-

stimmtem sozialem Leben partikular realisiert werden bzw. werden können. Umgekehrt ıst es dieses Theorieprofil, das die Beschreibung (bzw. - wie ım

Falle der freien Geselligkeit - die programmatische Hervorbringung) von Sozialformen ermöglicht, in denen die plurale Vernetzung von Individuen als Medium für deren Selbstbildung dient, so daß Individualität ohne eine komplexe Wahrnehmung sozialer Systembildungen gar nicht beschrieben werden kann. Von dieser Koppelung von Theorieprofil und Sozialtheorie ist dann auch

Schleiermachers harsche Kritik seiner Gegenwart

zu verstehen,

die die Deformationen der elementaren Sozialformen ebenso umfaßt wie Erstarrungen und Fehlorientierungen des Denkens. Trifft dies alles aber zu, so ist Schleiermacher in sehr viel stärkerem Maße als gängig als einer der ersten und zugleich einer der subtilsten Theoretiker der modernen

schaft anzusprechen; (oder

als

Gesell-

seine Charakterisierung als Individualitätstheoretiker

eigenständiger

Vertreter

einer

transzendentalen

Subjektivitäts-

theorie) ist dann jedenfalls bis zur Irreführung unterbestimmt und erfaßt die spezifische Problem-Konstellation dieses Denkers nicht.

I, Partikulare Realisierungen der individuell-sozialen Bestimmung des Menschen Die Untersuchung war ausgegangen von Schleiermachers frühen Überlegungen zur Sozialform Freundschaft. Sie hatte anhand dieser Überlegungen

eine Konzeption von Freundschaft als prozeßhaft-dynamisch gedachte Verbindung von wechselseitiger Kommunikation eigener und (von Bildern) fremder

Individualität

mit wechselseitiger Versittlichung

herausgearbeitet.

Sie hatte zudem Schleiermachers Interesse am Freundschaftsthema bezogen auf die zeitgenössische Freundschaftpraxis und Freundschaftssemantik und gezeigt, daß Freundschaft im 18, Jahrhundert eine elementare Gestalt der Neuformierung sozialen Lebens nach dem Plausibilitätsverlust übergreifender ontologischer oder religiöser Orientierungen und der damıt stabilisıerten sozialen

Autoritäts-

und

Hierarchieverhältnisse

darstellt,

die ihre Existenz gerade nicht externen Voraussetzungen

3

Vgl. dazu auch oben die Einführung.

eine Sozialform,

der Teilnehmer

524

VI. Ausblick - Kap. Il. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

(ihr Beruf, ihr Stand etc.) oder gesellschaftlich vorgegebenen

Funktions-

bestimmungen (eine Leistung für die societas zu erbringen) verdankt, sondern die emergiertt aus dem Zusammenfinden von Menschen »als

Menschen«

unabhängig von Herkunft und Stand und die (wie nun bereits

unter Rückgriff auf Schleiermachers Konzeption zu formulieren ist) besteht in deren Miteinander-vertraut-Werden und wechselseitiger Individualıtäts-

und zugleich Intimitätssteigerung - freilich so, daß die in der freundschaftlichen Kommunikation

geltenden Verhaltensstandards

und Wertzuschreibun-

gen zwar als faktisch nur partikular geltend, den Freundeskreis von der gesellschaftlich-konventionellen wie von der staatlich-hierarchisierten Welt unterscheidend gewußt werden, aber doch unter dem Anspruch universaler Geltung,

der

Durchdringung

aller sozialen

Lebensverhältnisse.

Schleier-

machers Freundschaftskonzeption widerspiegelt mithin eine unscheinbare, gleichwohl elementare gesellschaftsstrukturelle Entwicklungstendenz seiner Zeit und 'faßt' sie zugleich "in Gedanken’. Deshalb ist es von um so größerer

Bedeutung,

daß

diese

Verankerung

der

Theoriebildung

ım

Problem

authentischer Sozialität Schleiermachers gesamten frühen Entwicklungsgang prägt und begleitet (und darum

als Leitproblem

zu dessen Entschlüsselung

beständig herangezogen werden muß). Entgegen Schleiermachers eigener Retrospektive in den »Monologen« (vgl. KGA 1/3, 17,30 - 19,17) spielten die Wahrnehmung fremder Individualität und die Prozessualität, soziale Interferenz und deshalb partielle Unverfügbarkeit der Genese (und des Zusammenhangs)

von

Willensbestimmung

und

Handlungsrealisierung

sowie

des Aufbaus von individueller Biographie in der Sukzession solcher Willensbestimmungen und Handlungen (bzw. umfassender: in der Sukzession und Selektion von Erfahrungen) selbst in jenen Texten eine wichtige Rolle,

die sich (im Umkreis der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Kant) der 'Entdeckung' der allgemeinen (prinzipiell sıtuationstranszendenten)

Vernunft verdanken (»An Cecilie«; hG, FG, ÜdF)*. Einige Arbeiten dokumentieren ein Bewußtsein von der unaufhebbaren Partıkularıtät der Sozialform Freundschaft und deuten das Ausstrahlen des 'Prinzips' Freundschaft 4

Vgl. oben Kap. 3, 3. und Teil Il. Es ıst jedoch zu bemerken, daß Schleiermacher bereits in den Gedankenheften, vollends aber in den Monologen beansprucht, erst jeizt die Sitwationstranszendenz von Individualität erkannt und damit die Individualität von der Kontingenz der Lebensumstände abgehoben zu haben. Er transponiert also das

Kantische Interesse an Situationstranszendenz in .den Individualitätsgedanken. Nur so meint er den Gedanken der freien (d.h. zurechenbaren und zumutbaren) Selbst-Bildung fassen zu können, der nun den Inbegriff der Ethik bildet. Freilich enthält dieser Gedanke selbst einen prozessualern Aspekt (Bildung!), und die Selbst-Bildung vollzieht sich notwendigerweise in einer »Gemeinschaft der Geister«, Jie ganz im Schema der Freundschaftssemantik gedacht ıst.

l. Partikulare Realisierungen der Bestimmung des Menschen

525

in andere Sozialformen an (UdN; die Predigt über die allgemeine schenliebe; aber auch PPA, wo Staat und Gesellschaft ausdifferenziert den unter Orientierung am Problem des Rechtes, das alle Bürger Abstraktion von Stand und Herkunft behandelt). In WL wird erstmals

Menwerunter aus-

führlich das Verhältnis von Freundschaft und zwischengeschlechtlicher, auf Ehe und Familie hingeordneter Liebe thematisiert - eine Fragestellung, die ın den Lucinde-Briefen wiederkehrt. Einen wichtigen Entwicklungsschritt bildet freilich der Übergang vom Leitparadigma der (weitgehend, wenn auch unter sensiblem Grenzbewußtsein zweistellig gedachten) Freundschaft zum Paradigma der freien Geselligkeit, die eine Zwischenstellung einnimmt zwischen der Privatheit und Intimität der Freundschaft und der von der

Individualität abstrahierenden Öffentlichkeit des bürgerlichen Lebens: Die Geselligkeit ist schon öffentlich, aber noch bezogen auf dıe Individualität der Beteiligten;

sie setzt wie die Freundschaft die an ihr Beteiligten

unab-

hängig von ihrer bürgerlichen Stellung (und kann die Freundschaft deshalb ın ıhrer gesellschaftsevolutionären Funktion ersetzen), hat aber wie das bür-

gerliche Leben /ntimitätsbeschränkungen; sıe erzeugt sıch wıe dıe Freundschaft durch sich selbst, ist aber anders als diese keine auf Permanenz ausgerichtete, sondern eine als je und je verabredete (wenngleich

durchaus

regelmäßige) Zusammenkunft anderweitig Gebundener konstituierte Sozialform. Sie eignet sich deshalb besser als Leitparadıgma zur Darstellung von intimen

und von

Öffentlichen

Sozialformen

und

zur Behandlung

von

Ab-

grenzungs- und Übergangsproblemen zwischen beiden. Daß diese Transformation der Leitvorstellung auch das Verständnis der Sozialform Freundschaft berührt, zeigt sich am deutlichsten in den »Ver-

trauien Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde« (VB). Freundschaft gerät hier ihrerseits in eine eigentümliche Zwischenstellung zwischen Liebe und Geselligkeit. In Auseinandersetzung mit der Behauptung von Schlegelis Held

(und alter Ego) Julius,

Frauen

seien zur Freundschaft jedenfails mit

Männern unfähig, da diese bei ihnen immer sogleich in Liebe übergehe?, entwickeln Schleiermachers 'Ich'-Briefsteller und dessen Geliebte Eleonore die Gegenthese, daß Frauen erst nach und aufgrund der Erfahrung (einen, entscheidenden, ewigen) Liebe zu Freundschaft (mit Männern

der wie

mit Frauen) als einer kategorial anderen Sozialform als der Liebe fähig werden, die aber gleichwohl ın abgestufter Weise das Reziprozitätsideal der Liebe repräsentiert, während für Männer Freundschaft eine Vorstufe zur Liebe darstellt, dıe auch neben der Liebe fortdauern kann (vgl. 1/3, 196,34 - 198,25). Ist damit zwar das Intimitätsideal von der Freundschaft auf die

5

Vgl. Lucinde, KA 5, 34.

526

VI. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationterung

Liebe übergegangen und die Freundschaft der Sphäre relativer Öffentlichkeit, also der Geselligkeit, nähergerückt, so ıst doch zugleich der Intimrelation der Liebe aus der Freundschaft

ein Partikularitätsbewußtsein

mit

zugewachsen, das eine Außenwirkung ins bürgerliche Leben gegen Schlegel als notwendiges Komplement und als konstitutiven Effekt der Liebe sehen lehrt. Die Liebe ist nicht alles, aber sie färbt alles nach sich ein. Liebe entnimmt die Liebenden den Kontexten und Beurteilungskriterien bürgerlichen Welt (vgl. 147,8-26, 152,7-9, 214,2-5), sie motiviert befähigt aber zu "schönen Taten’ ad extra, zur Neu- und Umgestaltung

zu Die der und der

Welt

der

nach

den

Kriterien

der liebevollen

Reziprozität

zum

Zwecke

Selbst-Bildung, die als Bildung der Menschheit in sich verstanden wird (vgl. 162,23 - 164,14). Der geliebte Andere wird sogar zum Medium der Entdeckung der Menschheit und der Welt (vgl. 2. Rede, 1/2, 227,35 -

228,17), dıe partikulare Liebe dergestalt zur präsentischen Realgestalt der Menschheitsliebe. Dem entspricht präzise, daß Schleiermacher in den Monologen (ohne dies weiter zu entfalten) den Staat als »das schönste Kunstwerk des Menschen« (l/3, 33,34f.) einführt: Die Bestimmung des Staates ist die Hervorbringung (oder nur Ermöglichung?) eines durchgebil-

deten Gemeinwesens gebildeter und sich in wechselseitiger Kommunikation bildender Individuen. Er ıst mithin die eschatologische Vollendungsgestalt jener »Gemeinschaft der Geister« (1/3, 10,15f.; vgl. 21,4), die Schleierma-

cher in den Monologen als die Gemeinschaft der bisher wenigen bestimmt, die

sich

selber

bereits

'gefunden’'

und

dıe

dıe

Zerstreuung

In

einzelne

Tätigkeiten mit empirisch-kontingent-partikularen Bestimmungsgründen, wie sie das Leben des Einzelnen vor der Selbstfindung prägt, überwunden haben. Diese Gemeinschaft ıst keine permanente Lebensgemeinschaft, da ihre

einzelnen

Masse

der

Glieder

faktischen

unter

der

gewissermaßen

Gesellschaft

verstreut

noch

leben

vor-individuellen

müssen

(vgl.

1/3,

31,30-33 und 10-15) und sogar Schwierigkeiten haben, einander zu erkennen (vgl. 1/3, 36,12-21; vgl. 31,2-5). Diese Einsamkeit-in-Gesellschaft (vgl. 1. Rede, 1/2, 194,33 - 195,2)0 darf aber nicht durch Rückzug aus der Gesellschaft und Gruppenbildung In einem Garten des Epikur aufgehoben werden; sie hat eine missionarische Funktion für die Durchdringung der Gesellschaft mit dem Impuls der Selbstfindung und Selbstbildung; erst mit der Vollendung dieser Mission, also im Staat, wird die »Gemeinschaft der Geister« eine (dann umfassende) Lebensgemeinschaft. Ist der Staat somit das Ideal der Erhik, das Zıel alles Handelns, das

eschatologische 6

Zusammenfallen

aller individuellen

Übrigens ein gängiger Topos der Freundschaftssemantik!

Selbst-Bildungen

mit

l. Partikulare Realisierungen der Bestimmung des Menschen

527

einer umfassenden Sozialgestalt, so erzeugt die Religion eine Form der Vergesellung, die als Vollendung der freien Geselligkeit anzusprechen ist (vgl. 4. Rede, 270,9). Wenngleich Religion nicht Thema konventioneller

geselliger Konversation sein kann, wo der Ernst immer mit Witz verbunden erscheint und ständiger Wechsel von Rede und Gegenrede herrscht (vgl. 4, Rede, 268,23 - 269,2), während die »Anschauung des Universums« doch in so striktem Sinne individuell ıst, daß darüber nıcht raısonniert werden,

sondern eine jede davon bei ıhrer Mitteilung nur andächtig und kommentarlos entgegengenommen werden kann, - so denkt Schleiermacher wahre Kirche dennoch als hierarchiefreie Gemeinschaft zur wechselseitigen Kommunikation solcher individuellen Universumsanschauungen, die prinzipiell alle von gleicher Dignität sind, so daß die Gegenüberstellung von Redner und Hörern nie durch die Unterscheidung von Amitsträger und Laien auf

Dauer gestellt werden darf, sondern immer bezogen ist auf eine bestimmte Redesituation und deshalb beständig wechselt. Nicht von ungefähr nennt Schleiermacher die Kirche denn auch ein »Chor von Freunden« (4. Rede,

291,21, Hervorhebung von mir). Dies bestätigt nicht nur die oben herausgearbeitete Nähe von Freundschaft und Geselligkeit. Es unterstreicht auch die freundschafts- und geselligkeitstheoretisch grundierte Bestimmung der Kirche als freies, sich selbst konstituierendes, organisierendes und durch fortgesetzten Selbstvollzug kontinuierendes Gewoge von wechselseitigen

Mitteilungen von Individualität (in Gestalt von Anschauungen des Universums, von Integrationen des Einzelnen in das kosmische Ganze). Wie bereits in den Aristoteles-Anmerkungen wird dabei die Bedürftigkeit des Einzelnen hervorgehoben, dıe ıhn zur Mitteilung seiner ınnersten Gefühle nötigt: Erst die Mitteilung (also die Versprachlichung) und die darauf fol-

gende affırmative soziale Resonanz vergewissern dieser Gefühle

(vgl. 4. Rede,

267,20-26,

über die Menschlichkeit

bes. 25f.). Die Religion erzeugt

und verstärkt sogar aus sich selbst heraus das Bewußtsein, daß der Mensch »sich selbst aus sıch allein nicht erkennen kann« (4. Rede, 267,41f.), daß er

mithin jener Selbstvergewisserung in der Kommunikation des Eigenen und der

Erweiterung

der eigenen

Sphäre

durch

Hören

der Selbstmitteilungen

Anderer bedarf. Die Religion zeigt dem Menschen an, daß er sich nur in solcher Kommunikation selbst erkennen kann. Es entspricht dann freilich ebenfalls Schleiermachers Freundschafts- und Geselligkeits-Konzept, daß er die wahre, freie, »sich selbst constituir(ende)« (273,27) Kirche als religiöse

Geselligkeit nicht vollends ausspielt gegen die institutionalisierte Großkirche.

Deren

Existenz erkennt er ebenso an, wie er neben der Freundschaft

andere Sozialformen in ihrem Eigenprofil und ihrer spezifischen Funktionalıtät wahrgenommen

hatte.

Das

Verhältnis

wahre

Kirche

- Großkirche

528

VI. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relatiomierung

korrespondiert mithin dem Verhältnis der Freundschaft zu anderen Sozialformen. Das hindert nicht eine scharfe Kritik der gegenwärtigen sozialen Verhältnisse.

Im Gegenteil kritisiert Schleiermacher bekanntlich dıe Fixie-

rung der Religion auf eine bestimmte Gestalt der Gemeinschaftsbildung und des sprachlich objektivierten Lehrbestandes und führt diese Fixierung darauf zurück, daß der Staat einen bestimmten Entwicklungsstand der Kirche sistiert und zur Norm erhoben und damit eine der Individualität der Religionen der Einzelnen angemessene Weiterentwicklung der religiösen Gemeinschaft unterbunden habe (vgl. 281,25 - 282,6). Kirche ist damit von

einer freien, durch die individuellen Beiträge ihrer Mitglieder gestalteten Kommunikationsgemeinschaft zu einer vom Staat gesteuerten, für die Stabi-

lisierung von Moral, Recht und Wissen funktionalisierten, von der religiösen Interaktion abgekoppelten Institution geworden (vgl. 282,6 - 283,39). Die

Aufhebung

dieser

zuwiderlaufenden’) Forderung

zur

(im

übrigen

auch

Fremdbestimmung

Erneuerung

der

Kirche

der

Bestimmung

ist deshalb (vgl.

des

Staates

Schleiermachers

237,3-5).

Damit

wird

erste die

Großkirche nicht überflüssig, ebenso wenig wie der Aspekt des Institutionellen eo ıpso als zu überwinden

gilt. Vielmehr ermöglicht die Befreiung

der wahrhaft Religiösen vom Zwang zur Anpassung an äußere Formen, die ihrer Religion fremd sind, allererst die Erfüllung der eigentlichen Funktion der Großkirche, den Religion Suchenden einen Ort der Anschauung von Religion zu bieten, indem nämlich wahrhaft Religiöse sıch dazu bereit fin-

den,

als Amtsträger

ın der gottesdienstiichen

Verkündigung

ihre eigene

Religion frei mitzuteilen (vgl. 277,4-10 und 284,34-39 sowie 276,8-11). Dies ist in der Gegenwart deshalb nicht gewährleistet, weil der Staat seine (!) Geistlichen nach sachfremden Kriterien rekrutiert (vgl. 285,1-10) so daß keineswegs notwendig der Amtsträger auch wahrhaft religiös ist

(vgl. 278,38 - 279,2) - und zudem selbst religiöse Amtsträger durch Dogmenzwang (Wöllnersches Religionsedikt!) an der freien individuellen Religionsmitteilung hindert (vgl. 276,8-15 mit 279,8-11)8. Ist bereits für die Kirche die Gegenwartskritik am Ideal freier Geselligkeit orientiert {und selbst die empirische Kirche ın ihrer eigentlichen Be-

7

Vgl. schon PPA schnitt oben).

8

Zur Schleiermachers Forderung der Trennung von Kirche und Staat vgl. schon $tubenrauchs skeptische Replık, der Neffe möge sıch von derartigen organısatorischen Veränderungen

(dazu oben Kap. 7, 2.) und zudem Monologen

nicht allzu viel

Brief 212 vom 18.2.1793.

für dıe Erneuerung

der Kirche

(vel. ın diesem Ab-

erwarten;

KGA

V/l,

2872f.:

l. Partikulare Realisierungen der Bestimmung des Menschen

529

stimmung zielt ja auf die Herbeiführung dieses Ideals), so überrascht nicht, daß Schleiermacher ın den Monologen Freundschaft, Geselligkeit, Liebe/ Ehe und Staat überhaupt als Indikatoren für die Beurteilung seiner Gegen-

wart verwendet. Der gegenwärtige Zustand dieser Sozialformen entspricht dem Stand der Menschheitsentwicklung: Ebenso wie die Menschheit nach Schleiermacher

überwunden

in

und

ihrer bisherigen

die Herrschaft

Geschichte

die

Herrschaft

über dıe Natur errungen

der

Natur

hat (vgl. 1/3,

29,19-32 und 30,12-14.20-22; vgl. auch, etwas vorsichtiger, 2. Rede, 224, 3-7 und weiter 7-15), ebenso »suchet und findet der Mensch von Heute in Freundschaft, Ehe und Vaterland« nur »vermehrten äußern Besiz des

Habens und des Wißens,

Schuz und Hülfe gegen Schiksal und Unglück,

vermehrte Kraft ım Bündniß zur Beschränkung der Andern« (1/3, 34,10-13; Hervorhebung von mir); ebenso wie die Menschheit den zweiten großen

Entwicklungsschritt von der Weltbeherrschung zur Selbst-Bildung noch nicht vollzogen hat, ebenso bewirken die genannten Sozialformen noch »nicht Hülfe und Ergänzung der Kraft zur eignen Bildung, nicht Gewinn an neuem innerm Leben« (34,13-15; Hervorhebung von mir). Freundschaft ist dann nicht wechselseitige Mitteilung und Wahrnehmung von Individualität,

wechselseitiges Respektieren und Fördern der "inneren Natur‘ des Freundes, sondern sie gipfeit in der Selbst-Aufopferung zum irdischen Dienst am Anderen,

fühlen

sie besteht in der Mitteilung von (materialer) Erkenntnis, in Mit-

und

Freundschaft

Linderung nicht

von

(einzelnen)

in wechselseitiger

Gefühlen.

Jeder muß

Seldst-Offenbarung

dabei

besteht

- da - »von

seiner Eigenheit dem Ändern opfern, bis beide sich selber ungleich [und] nur einander ähnlich sind« (32,22-24; Hervorhebung von mir), Kaum noch zu erkennen ist dann »der Grundriß des eignen Wesens, beschnitten von der

Freunde Hand, und überklebt mit fremdem Zusaz« (32,32f., Hervorhebung von mir). Umgekehrt kommt es in der Ehe nicht zu einer harmonischen und in sich wiederum individuellen, mit »eigner Seele« versehenen Einheit der beteiligten Willen (vgl. 33,8-10), sondern beide Beteiligten behalten ihren Eigenwillen und bleiben in einer individualistischen Distanz zu ihrem Verheiratet-Sein, rechnen den mit der Ehe erlangten Gewinn gegen den damit verbundenen Verlust »an baarer Freiheit« (33,5) auf und suchen jeder ın der

Ehe Dominanz über den Anderen zu gewinnen. Der Staat wird schließlich statt als sich um

als »der höchste ein nothwendiges nicht als »Theil« gedachten Staates,

Grad des Daseins« für den Menschen (33,17f.) »nur Uebel betrachtet« (33,36). Der Einzelne empfindet der »Kraft und Fantasie und Stärke« des als Individuder dem Menschen »den höchsten Grad des Lebens«

530

YT. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

gewährt und den der Mensch deshalb mehr lieben soll als sein »alte(s) eigene(s) Bewußtsein« (33,19-21}; im Gegenteil wird ein abstrakter, alle individuellen Bildungen nivellterender Idealstaat konstruiert (vgl. 33,25-32), als

dessen besondere Qualität es gilt, wenn man ıhn »am wenigsten empfindet«, »und der auch das Bedürfniß, daß er da seyn müße, am wenigsten empfinden« läßt (33,32-34)., In der 3. Rede erscheint diese Gegenwartsdiagnose

verallgemeinert Endliche,

als Kritik an der aufklärerischen

das Praktische,

Nützliche,

prinzipialisiert und

Beschränkung

Sozialverträgliche,

wodurch

auf das die Ent-

faltung der bei jedem Menschen vorhandenen Anlage zur Religion, d.h. zur Anschauung des Unendlichen be- oder verhindert wird. Diese vermeintlich pragmatische Diktatur des nur Vorfindliches analytisch zerstückelnden Verstehens über den das Einzelne als individuelles Moment des Ganzen ıdentifizierenden und dadurch erst als Einzelnes konstituierenden Sir taugt freilich ganz entgegen dem Aufklärungspathos gar nicht zur Weltorientierung,

von

da sie das Einzelne nur höchst einseitig, nämlich

seiner

vielperspektivischen

Einbindung

Anstatt für das Einzelne-im-Ganzen

in

das

unter Abstraktion

Ganze

wahrnimmt.

zu sensibilisieren, dissoziiert die Auf-

klärung mithin die Aufmerksamkeit des Menschen in eine wirre Fülle isolierter Bruchstücke, die ın keine Einheit zu überführen Mensch sich darin verliert, anstatt sıch zu finden.

ist,

so daß

der

Diese umfassende Zeitdiagnose erklärt zum einen die Einsamkeit der wahrhaft Religiösen und Gebildeten und auch ihrer Gruppierungen und zugleich ihre katalysatorisch-avantgardistische Bedeutung für den zweiten Schub der Menschheitsentwicklung, der charakterisiert ist durch die Korrespondenz von Selbstbildung und Entgrenzung hin auf das Unendliche. Diese

Korrespondenz ist schon in der Anrede an die »Gebilderen« als die faktischen (ohne Wissen, sogar wider Willen) Träger der »Palingenesie der Religion« (1/2, 260,8; vgl. 263,30: »Auferstehung der Religion«) indiziert; denn ın der gegenwärtigen Lage ist die Kunst, genauer die hochartifizielle, gebildete Literatur des frühromantischen Freundeskreises Schleiermachers die einzige Instanz, die der Beschränkung auf das Endliche faktisch entgegenarbeitet. In den Monologen stellt Schleiermacher freilich der Werkbildung, der Schaffung eines äußeren künstlerischen Werkes die innere (jedoch notwendig gesellige!) Selbst-Bildung, die Erzeugung der Menschheit ın sıch, als seine Weise der Selbst- und Weltgestaltung zur Seite (vgl. 1/3, 19,37 - 20,14 und 11,28-31). Er scheint dabei an zwei verschie-

dene Arten von Bildungsprozessen zu denken, die nicht zugleich vollzogen

2. Singularität und Relationierung

53]

werden?, aber am Ziel ineinander übergehen können (vgl. 20,8-10 und

52,13-16)10,

2. Singularität und Relationierung

Schleiermacher selbst hat den Gedanken der »Eigenthümlichkeit« als seinen entscheidenden Erkenntnisfortschritt über die Entdeckung der allgemeinen und 1/3,

alles gleichmachenden Vernunft hinaus bezeichnet (vgl. Monologen, 18,36 - 19,1). Die Untersuchung von Schleiermachers Frühwerk hat

ergeben, daß dieser Gedanke durchaus auf der Linie von Schleiermachers Theorieentwicklung lag. Umgekehrt zeigte sich, daß auch in den frühen Hauptwerken der Sozıalform der Freundschaft bzw. der freien Geselligkeit

die paradigmatische Funktion einer Leitimagination für die Theoniebildung zukam. Bereits jetzt ıst mithin deutlich, daß Schleiermachers 'frühromantısche' Konzeption nicht abstrakt vom Gedanken der Individualität her rekonstruiert werden darf, sondern daß dieser umgekehrt sıch allererst erschließt in dem

komplexen,

keineswegs

monozentrischen

Gewebe,

das

Schleier-

machers Theorie von früh an darstellt und dessen Entfaltung, Anreicherung und Ausweitung die vorliegende Arbeit aufzuzeigen und nachzuvollziehen unternahm.

Die

Kontinuität,

die Komplexitätswahrung

in der Theoriebil-

dung soli deshalb abschließend am frühen Hauptwerk unter dem leitenden Gesichtspunkt der Koemergenz von /ndividualisierung und Relationierung aufgewiesen

werden,

und

zwar zunächst an den

theoretischen

Elementar-

operationen des Ausgangs vom je einzelnen Moment und der evolurionären Genetisierung des Aufbaus von Komplexität und Struktur (2.1. und 2.2.), dann an der sozialtheoretischen Verschränkung von Individualisierung und Vergesellung, an dem religionstheoretischen und psychologischen Zusammenhang von individueller Universumsanschauung und eben damit vollzo-

gener Entindividualisierung ins Universum hinein (2.3.), schließlich an der Autonomisierung und Relationierung menschlicher Vermögen, menschlicher Lebenssphären und sozialer Institutionen (2.4. und 2.5.).

9

Vgl. auch 3. Rede, 1/2, 260,33 - 261,27 das Lob der »Selbstbeschränkung« im Gegensatz zu einem »fruchtlose(n} encyclopädische(n) Herumfahren«.

O0 vVgt. Schleiermachers Zuversicht, dereinst selbst künstlerisch tätig zu werden, und die verheißungsvolle Bedeutung seines Planes, einen Roman zu schreiben: Monvlogen, 1/3, 52,16-18; vgl. G1 187 (KGA 1/2, 42, 11-20)!

532

VI. Ausblick - Kap. 1}. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung 2.1. Evolutionäre Rekonstruktion

Schleiermachers Denken ist von Anfang an gekennzeichnet durch das Problem der Strukturgenese angesichts der Momenthaftigkeit und Perspektivität

aller Elementarereignisse der Wirklichkeit. Dies zeigt sich schon in der Freundschaftstheorie an der Hervorhebung des Vertraut-Werdens der Freunde im Verlauf einer gemeinsamen Geschichte wechselseitig kommunizierter einzelner Indıvidualitätswahrnehmungen und Individualitätsstilisie-

rungen und an der Bedeutung der gemeinsam je neu zu vollziehenden rekursiven Appräsentation dieser Geschichte für die Stabilisierung, Formung und Kontinuierung der Freundschaft selbst!!; ferner an der Rekonstruktion des innerpsychischen kontingenten Dominantwerdens vernünftiger Verhaltensorientierungen und -motivierungen im Ensemble der Seelenvermögen in ÜdF sowie an der subtilen Behandlung des Problems der Entwicklung »realistischer Selbstverhältnisse« und des Aufbaus von zugleich

selektiv-synthetischen

und

phänomenreich-erinnernden

biographischen

Selbstthematisierungen und Selbsthistorisierungen, die zugleich stabil und revisionsoffen sind, in WL. Besonders deutlichen Ausdruck fındet das Denken in Elementarereignissen und deren je perspektivischer Relationierung in

der Individualitätskonzeption der Spinozarezeption, wo Individualität nıcht als ontologisch-unwandelbare Einheit erscheint, sondern ganz der Sphäre des Endlich-Phänomenalen

zugeordnet und daher immer nur je zeitstellen-

und perspektivenrelativ, und d.h. immer nur vorläufig, in beständiger, auf Erfahrungen

aufbauender

Approxımatıon

an ein (wiederum

perspektiven-

relatives”?) Idealbild je dieses Individuums bestimmt wird. Diesem relativistischen Individualitätsgedanken kontrastiert freilich immer ein Programm radıkaler ethischer Verallgemeinerung, das dıe Verhaltensbeurteilung ganz von der je faktischen Situierung des Verhaltens (und vom faktischen Gege-

bensein oder Fehlen der Intentionalität, dıe ein Verhalten erst zur Handlung macht) ablöst - wobei allerdings die vorgängige Verhaltensorientierung zwar anhand der situationstranszendenten Standards des allgemeinen Sittengesetzes erfolgen soll, die dafür nötige Situationsdistanzierung jedoch nur nach Maßgabe der faktisch-kontingenten innerpsychischen und äußeren Verhältnisse gelingt!?, deren Gestaltung nun aber durch Übung und den

Erwerb von Erfahrung, mithin durch den Aufbau eines individuellen Fundus’ von erfahrungsgesättigten Kenntnissen über sich selbst und die eigenen Fähigkeiten, über die Chancen, Bedingungen und Umstände des DomiIl vgi. oben Kap. 1, besonders 2.4.2. sowie 2.3. unter (c).

t2 Vgl. oben Teil II.

2. Singularität und Relationierung

533

nantwerdens der Vernunft in der Seele und des Wirklichwerdens vernünftig bestimmter Handlungen in der Welt erleichtert wird.

Diese Konstellation scheint durch dıe "Entempirisierung' des IndividuaIıtätsgedankens vor allem in den Monologen zu zerbrechen. Ist das Ich der Zeit enthoben

und wird es nicht durch seine Raum-Zeit-Stelle bzw. durch

die Sequenz seiner Stellungen in Raum und Zeit in seiner Individualität bestimmt, sondern durch seine "an sich! gegebene, absolute »Eigenthümlichkeit«, so scheint Individualität weder mit evolutionärer Genese noch mit Relationalität und Kontextualität mehr verbunden werden zu dürfen. Individualität gehört nun mit Situationstranszendenz zusammen, während empirische

Situationssensibilität

eine

beliebige

Formbarkeit

und

mithin

eine

virtuelle Austauschbarkeit und dergestalt eine abstrakte Gleichheit aller Einzelnen mit sich bringt. Doch tatsächlich holen die Begriffe des SichFindens und der (Selbst-)Bildung den Gedanken der biographischen Evolution in die Konzeption der 'Ewigkeit des Ichs’ wieder ein, und die Vorstellung der »Gemeinschaft der Geister« knüpft über das Konzept der wechselseitigen geselligen Mitteilung von Individualität die individuelle Selbstbildung notwendig an den Gedanken sozialer Relationalität. Die ethische Verhaltensortentierung wechselt schließlich zwar von der Bezugsgröße allgemeines Sittengesetz auf die Bezugsgröße Individualitätsbildung über; aber gerade in dieser Umstellung des Bezugs, in der Schleiermacher die Neukonstitution der Moral realisiert erkannte und von der aus er die »Im-

moralität« aller bisherigen Moral kritisch diagnostizieren wollte!3, bleibt das Kriterium der Situartionstranszendenz gewahrt. Das Sich-Finden, die Entdeckung der eigenen Individualität, ist ein konkreter bıographischer

Moment,

ıst also Teil der Lebensgeschichte.

Es ıst

zwar durch innere und äußere, sogar durch epochenspezifische, den engeren Umkreis des Einzelnen übergreifende Umstände und Bedingungen zu behindern oder zu fördern - das eine etwa durch die aufklärerische

Diktatur des Verstehens!#, das andere z.B. durch pädagogische Hinführung zur Konzentration auf die Selbst- und Menschheitsbildung, durch Vorbilder oder durch Mitteilung von Individualität -, aber nicht aus diesen Umständen

und Bedingungen herleitbar (vgl. etwa Monologen, 1/3, 16,32 - 17,1). Das 13

Vel. KGA 1/2, XIII den Hinweis auf eine verlorengegangene »wirklich große Skizze« Schleiermachers »über die Immoralität aller Moral« (so Fr. Schlegel in einem Brief an A.W. Schlegel vom 31.10.1797). Vgl. GI 25 (KGA [/2, 12,17-20) die Polemik gegen die »angewandte Morai«: Sie sei »höchst ımmoralisch«, da sie sich empirisch auf vorfindliche »Verhältniße« beziehe, anstatt diese allererst zu »machen«, d.h. zu konstruieren.

14

Vel. oben 1.

534

VI. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

stellt Schleiermacher noch deutlicher heraus für die Epiphanie der für ein Individuum entscheidenden und prägenden religiösen Zentralanschauung (vgl. 5. Rede, 1/2, 304,33-43). Im Unterschied zur Religion, wo das Universum sich dem Individuum selbst erschließt (offenbart), ist das Sich-

Finden freilich als freie Tat der primären, ursprünglichen und irreversiblen Selbst-Bestimmung (vgl. Monologen, 1/3, 16,28 - 17,4) dem Einzelnen selbst zuzurechnen!?; es ist also mehr ein Sich-selbst-Gründen als ein Sich-

aus-Vorhandenem-Entgegennehmen, wenngleich keine voraussetzungslose, leere Selbstkonstitution, sondern eine biographisch verortete selbsttätige Synthese, Integration und deutende Identifikation von 'Vorhandenem'. Als Ursprungstat ist sie nun freilich leitend für alle folgenden Selbstthematisierungen, Selbstbeschreibungen, Selbstorientierungen;, ste kann durch keine neue Erfahrung überholt werden, dient vielmehr umgekehrt der Selektion und Strukturierung von Selbst- und Weltwahrnehmungen der Deutung und Integration bzw. Ausgrenzung von Erfahrungen aus dem Selbst-Bild, der Orientierung für die Gestaltung des eigenen Lebens. Eben diese Selektions-, Deutungs- und Orientierungsprozesse erfaßt der Begriff der Bildung, und zwar erfaßt und stilisiert er sie als kontinuierliche, einzeilne Erfahrungen bewußt aneinander anschließende, aufeinander aufbauen-

de, von Einheit auf Einheit ausgehende Enrwicklung, genauer als Entfaltung des einmal entdeckten Selbsts ın alle konkreten Lebensvollzüge hinein, als Realisierung

und

zugleich

Darstellung

der

eigenen

Individualität

in der

Welt. Da Selbst-Bildung nach Schleiermacher immer zugleich Bildung der Menschheit-in-sich ist, da sie zudem sich durchaus ın äußerem, wahrnehmbarem, auch auf Andere und Anderes sich beziehendem Handeln und Ver-

halten artikuliert, ist sie immer auch Welt-Bildung, Weltgestaltung, Beteiligung an der Vervollkommnung und Vollendung der Welz; und da sie, wie eben angedeutet, sich nur im Medium der geselligen Kommunikation von Individualität,

der

wechselseitigen

Erweiterung

der

Individualitätssphären

durch (selbst- und fremd-) erkenntnissteigernde Mitteilung je eigener Selbst- und Fremdbeobachtungen vollzieht, kann sie nicht als vermeintlich autistisch-selbstbezügliche Selbst-Realisierung kritisch ausgespielt werden gegen ein Konzept resonanzsensibler, kontextorientierter Personifikation qua Sozialisation:

Das Individuum

wird, was es immer schon ist, In seiner

Welt und vermittels des gebenden und nehmenden Austauschs mit dieser.

15

Allerdings kann Schleiermacher diesen »freie(n) Entschluß (...,} ein Mensch zu sein«, an der zitierten Stelle durchaus als »Offenbarung«

der Menschheit

bezeichnen

(16,33);

diese Offenbarung kommt freilich ungenötigt »(v)on innen«, aus dem Selbst, in einem »helle(n) Augenblick«.

2. Singularität und Relationierung

535

Auffällig ist freilich, daß ın den Monologen (und ıhrem Umfeld) die Darstellung und wechselseitige Zuordnung der verschiedenen Realisierungssphären der Selbstbildung fast vollständig in den Hintergrund tritt; es geht Schleiermacher hier um eine Focussierung der Ethik, um eine Reduktion der Ethik auf die elementaren Strukturen und Vollzüge, nicht um ausgebreitete und vollständige Darstellung. Schleiermachers an den Frühschriften herausgearbeitetes

Interesse an solcher

Darstellung

verschafft

sich

wieder

Geltung in den Ethik-Vorlesungen!®. Um so wichtiger ist, daß selbst in der reduktiven Ausführung der Ethik Prozessualität und Relationalität der individuellen Lebensvollzüge festgehalten sind. Bleibt damit die biographische Sequenzierung und Epochenbildung, wie sie in den frühen Entwürfen theoretisch reflektiert (WL!)

und in Selbstthe-

matisierungen praktiziert wurde (An Cecilie!), auch unter dem Vorzeichen eines emphatischen Individualitätsbegriffes erhalten, ja ist für Schleiermacher die Entdeckung dieses Individualitätsbegriffes ihrerseits als neue Lebens-Epoche biographisch erfaßbar (vgl. Monologen, 1/3, 18,17-21), so erweist nicht nur dıe umfassende

den Reden

und den

Kritik an der zeitgenössischen

Monologen!?

die bleibende Bedeutung.

Kultur ın

historisch-

epochengeschichtlichen Denkens auch in Schleiermachers frühem Hauptwerk, nachdem in den Jugendschriften kultur- und theoriehistorische Ablaufskizzen (hG) bzw. typologisierende Längsschnitte durch die Philoso-

phiegeschichte unter bestimmtem Aspekt (ÜdF) breiten Raum eingenommen hatten!® und die Schrift »Ueber den Geschichtsunterricht« eine Theorie der Epochengliederung und der Funktion der Historie ‘für das Leben’ darbot!?,. Vielmehr bezeugen etwa Überlegungen zum Gang der Menschheits-

geschichte wie deren bereits genannte?0 grobe und universale Zweiteilung ın die Zeıt der Erringung der Herrschaft über dıe äußere Natur und dıe Zeit

von da an bis zur menschheitsumfassenden Vollendung der inneren Bildung oder die Reflexion auf die Entstehungs- und Ausbreitungsbedingungen sowie die Entwicklungstendenzen

konkreter

Religionen

bzw.

Religionsge-

meinschaften ein bleibend starkes Interesse an historischen Prozessen und an der

Erfassung

Veränderungen

transindividueller,

und

Entwicklungen

kulturkreisumfassender

großflächiger

ın ihrer

wie

Individualität

ın ıhren

16 Brouillon zur Ethik (1805/6) (jetzt Hamburg 1981); Ethik (1812/13) (jetzt Hamburg

1981). 17 Vgl. oben 1.

18 Vgl. oben Teil II. 19

Vgl. oben Kap. 7, 1.

20 Ygt. oben 1.

536

VI. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

Gesetzmäßigkeiten. Die ındividuelle Seibst-Bildung wird dabei sogar als soziales Leitbild einer ganzen Epoche, als Signum einer großgeschichtlichen Epochenschwelle

kenntlich;

Beschreibung

individueller

Prozesse,

Zeitdia-

gnostik und das Aufzeichnen einer Entwicklungsdynamik der Menschheit konvergieren so zu einer historisch verorteten, sich selber als Resultat eines menschheitlichen Entwicklungsganges mitthematisierenden Anthropologie.

2.2. Moment und Kontinuierung Die 'Verkürzung' der elementaren Leitgröße für die Theoriebildung auf den sıngulären, partikularen Moment (statt etwa auf 'das Ganze’, 'die Person’, 'den Staat‘ etc.) macht eo ipso die Frage der Strukturgenese, der Kontinuie-

rung in der Zeit, der Übertragung von Identischem von einem Moment in den nächsten, der Bildung von synchronen Agglomerationen individueller Momente (bzw. Elementarentitäten) und der diachronen Erhaltung solcher (wiederum individuellen?} Agglomerationen zum theoriemotivierenden Hauptproblem21. Diese Problemkonfiguration ließ sich im Bisherigen auf verschiedenen Ebenen identifizieren: auf der Ebene der Sozıal- bzw. Kommunikationstheorie (AA;

ÜdS;

GB),

auf der Ebene

der Psychologie

(FG;

ÜdF), auf der Ebene der Ontologie (Spinoza-Rezeption). Dabei ist wichtig zu sehen,

daß ein Letztelement auf einer Ebene

auf einer anderen

Ebene

weiter dissoziierbar sein kann: So ist etwa Freundschaft oder Geselligkeit als (ihrerseits individuelle) Gemeinschaft von individuellen Menschen durchaus noch in Kommunikationen, psychische Funktionen oder ontologische Elementarmomente auflösbar. Deshalb kann auf den verschiedenen

Ebenen auch Verschiedenes als Individuum ausgezeichnet werden??. Diese Mehrreferentialität des Individualitätsbegriffs ermöglicht es Schleiermacher in den Monologen, die »Eigenthümlichkeit« des Ichs an theoriestrukturell zentraler Stelle einzuführen, ohne deshalb dieses Ich als hermetisch in sich gekehrtes, in sich struktur- und bewegungsloses Ganzes beschreiben und soziale Kontakte und Vergesellungen als sekundäre und dem Individuum äußerliche kontingente Verbindungen ohne individuellen Selbstand bestimmen

zu müssen.

Noch

deutlicher trıtt die theorıeprägende

Funktion der Leitfigur "Individualisierung und Sitrukturgenese' in ihrer Ebenendifferenzierung in den Reden zutage. Religion wird hier in doppelter 21

Das analoge Problem stellt sich in Leibniz’ Monadologıe. hellsichtige Bemerkungen ın »Spinozismus« (KGA

22

Vgl. dazu Schleiermachers

1/1, 548,2-14;, 548,24 - 549,3).

vgl. etwa in WL, wo die Individualität von Völkern herausgestrichen wird (vgl. oben Kap. 6, 2.6.). Ähnlich dann 2. Rede, 1/2, 233,24-26.

2. Singularıtät und Relationierung

337

Weise individuell definiert: als in sich singuläre, einzigartige, nicht identisch

wıederholbare

einem

bestimmten

zugeschrieben

»Anschauung

Menschen

werden

kann.

als

des

eine

Universums«,

seiner

Problematisch

die

wiederum

nur

Universumsanschauungen

ıst dabei

dann

zum

einen

die

Relation der vielen religiösen Anschauungen und Gefühle eines Menschen zueinander und zur Einheit bzw. Kontinuität von dessen individuellem Leben, zum anderen aber die Mitteilbarkeit religiöser Anschauungen und vor allem die Möglichkeit einer konkreten,

distinkten

und dauerhaften

Sozıal-

gestalt von Religion, Schleiermacher bearbeitet alle diese Probleme im Zusammenhang seiner Konzeption der religiösen Zentralanschauung (v.a. in der 5. Rede, 1/2,

303,23 - 304,15). Damit ist gemeint, daß ein Individuum eine seiner Universumsanschauungen in freier Willkür, also ohne daß diese an sich irgendwie hervorgehoben wäre, als den Mittelpunkt seiner Religion setzt und alle

seine religiösen Anschauungen und Gefühle fortan darauf bezieht. Diese Setzung fällt zusammen mit dem Erwachen der individuellen Religion dieses Individuums selbst; die Zentralanschauung ist mithin zugleich die Ursprungsanschauung dieses Menschen. Diese »Fundamental-Anschauung« (305,32)

bleibt

strikt

individuell,

selbst

wenn

sie

anknüpft

an

die

Ursprungsanschauung eines anderen Individuums. Durch solche freie und willkürliche Anknüpfung von Ursprungsanschauungen mehrerer Individuen an die bestimmte Ursprungsanschauung eines Anderen entstehen nach Schleiermacher konkrete Religionsgemeinschaften, diese tragen also den Charakter, den Ton, dıe Stimmung der Religion ihres 'Zentralindividuums'

und vervielfältigen diese ın je eigentümlicher Weise. Es gibt also keine Religionsstifter, die kraft ihrer Autorität andere zur Gefolgschaft nötigen; vielmehr wırd der 'Meister'

Meister allererst dadurch,

daß andere sıch ın

freiwilliger Entsprechung selbst zu seinen Jüngern machen (vgl. 3. Rede, 251,13-20). Insofern die Religion der Tünger freilich immer Je individuell

bleibt, d.h.

mit der Zentralanschauung des 'Meisters'

nie völlig zur

Deckung kommt, ist auch die konkrete Religionsgemeinschaft immer in Bewegung, immer in einer Weiterentwicklung begriffen, die nicht aus der Ursprungsanschauung vollständig deduziert werden kann. Die konkrete

Religionsgemeinschaft

bildet vielmehr eine Individualität,

individuellen Beiträge der 'Jünger'

dıe durch

nıcht minder charakterisiert und

die

konti-

nuiert wird als durch die Zentralanschauung des 'Meisters', Als solcher Meister und Ankristallisationspunkt für Religion eignet sich die Gestalt eines Mittlers,

wie Schleiermacher

sıe in der Ersten

Rede be-

schreibt. Ein Mittler ist nicht primär dadurch ausgezeichnet, daß er zwischen Gott resp. dem Universum und dem Individuum vermittelt - denn das

538

Y1. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

geschieht in jeder religiösen Anschauung -; ebenso wenig homogenisiert er die Universumsrelationen Anderer durch sein Vorbild oder seine Tätigkeit. Denn Schleiermacher arbeitet mit zwei ontologischen bzw.

kosmologischen

Voraussetzungen: Zum einen bestimmt er Anziehung und Abstoßung als die beiden Elementarkräfte alles Weltgeschehens, die in jedem Ereignis beide in jeweils spezifischem Mischverhältnis vorhanden sein müssen; zum anderen müssen in der Welt alle möglichen Mischverhältnisse irgendwann irgendwo einmal erfüllt sein. Wenn der Mittler dann die Funktion hat, das Ideal der Vereinbarung und des Ausgleichs extremer Mischungsverhältnisse an sich darzustellen (vgl. 192,40 - 193,4), so soll er damit nicht die Realısierung extremer Einzelmomente verhindern, vielmehr soll die Wahrnehmung der Mitte an der Gestalt des Mittlers eine Lebensbewegung der

extremer veranlagten Individuen auslösen, die sie dazu bringt, auch Lebensmomente zu realisieren, in denen die bisher vernachlässigte andere elementare Seinskraft stärker präsent ist, um so (in gleichwohl bleibender Partikularität und Perspektivität) mehr von der Fülle des Seins zu erfassen und

zu verwirklichen

als bisher.

Schleiermacher

zeigt diese Lebensbewe-

gung in beiden Richtungen auf: Die Empiriker, deren Lebensorientierung in der Attraktion und Absorption, in der Aneignung und Inbesitznahme von

möglichst vielem Endlichen, Einzelnen und Äußerlichen bestand, werden durch die Anschauung des Mittlers über sich selbst und ıhre unmittelbaren Selbsterhaltungs- und imperialen Adaptatıons-, Bemächtigungs- und Ver-

einnahmungsinteressen hinausgewiesen hin auf das Gelten- und Sein-Lassen des Anderen, des Differenten im umfassenden Zusammenhang des Universums (vgl. 193,22-27); umgekehrt werden die /dealisten, die sich vom Einzelnen,

Beschränkten,

Distinkten

abstießen

zugunsten

des

entselbstenden

Eingehens in das Eine und Ganze, rückgebunden an das Endlich-Partikulare,

'mit

der

Erde

versöhnt'

(vgl.

193,17-22).

Deutlich

entspricht

die

damit als Leitbild der Lebensorientierung markierte Vermittlung, wechselseitige Limitation und zugleich Transformation von Ideal und Empirie der in den frühen Schriften und Entwürfen, am eindrücklichsten ın WL,

propa-

gierten Lebenshaltung einer skeptisch an die realen Verhältnisse und Gestaltungsmöglichkeiten rückgebundenen, an einem als regulative Idee und mithin als nie vollständig realisierbar gedachten Ideal orientierten Ent-

wicklungsdynamik??. Hier liegt auch der Skopus jenes »höhern Realismus« (2. Rede,

213,22), den die religiöse Anschauung

des Ganzen

des Kosmos

gewährt. Denn die Religion vergewissert allererst über die Realität der Welt, in der der Einzelne sıch vorfindet und deren Gestaltung er unter-

23 Vgl. oben Kap. 6, 1.4. - 1.6.

2. Singularität und Relationierung

539

nımmt; erst die religiös vermittelte Realitätsgewißheit macht diese Gestaltung zu einer 'realen', nicht nur äußerlich, sondern notwendig mit der Selbstbildung des Individuums verbundenen Aufgabe.

2.3. Individualisierung und Vergesellung Im Verlauf der Untersuchungen hat sich die These vielfach bestätigt, daß Schleiermacher Individualität bzw. Individualisierung immer in konstitutivem Zusammenhang mit Vergesellung und der Bildung sozialer Strukturen denkt. Dies gilt es hier, nachdem oben unter 1. bereits ausführlich Schleier-

machers Ausführungen zu den konkreten Sozialformen erörtert wurden, nur noch unter zwei Aspekten zu verdeutlichen. Bei der Beschreibung des mit der Erringung der Herrschaft über die äußere Natur erreichten Menschheitszustandes in den Monologen?* expliziert Schleiermacher einen Sachverhalt, der bereits in den AristotelesAnmerkungen angedeutet erschienen war2?: den kooperativen Aufbau sozialer Wirklichkeit durch Funktionsdifferenzierung, ın der Einzelne Beiträge zur Gestaltung der Gesellschaft leisten, die die notwendige Voraussetzung bilden für die Beiträge Anderer und ihrerseits von wiederum anderen Leistungen abhängen (vgl. Monologen, 1/3, 29,32-41; 31,28-33; 10,26-31; 11,11-20). Diese Vernetzung von Abhängigkeiten ist, indem sıe Spezialisierung und (mutuelie oder auf verschiedene Beteiligte diversifizierte) soziale

Dependenzen verbindet, selbst ein Ausdruck der Koemergenz von Individualisierung und Vergesellung. Diese Struktur wird nun aber auch abgebildet auf die zweite Phase der Menschheitsentwicklung, die innere Selbst-Bildung. Sie setzt die Resultate der ersten Phase voraus?®, reproduziert sie aber unter Abstraktion von allen externen (den Beruf, den bürgerlichen Stand, die Herkunft etc. betreffenden) Bindungen als Vernetzung der Seibst-Bildungs-Prozesse von Indivi-

duen rein als solchen. Entsprechend ist die freie Geselligkeit (in der oben?’ dargestellten Vertiefung durch das Liebes-Ideal) das Paradigma der Vergesellungsform sich bildender Individuen, Dabei geraten freilich das reprodu-

24

Vgl. 1/3, 29,19 - 30,18 und dazu oben 1.

25 Vgl. oben Kap. 1. 26

Vgl. auch ın den Reden (l/2, 290,9-38) die emphatisch vorgebrachte Erwartung, mit dem Verschwinden bzw. der Beseitigung äußerer Not und Bedrückung werde eine innere Befreiung, eine religiöse Erneuerung einhergehen.

27

Vgl. oben }.

540

VI. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

zierte (Inter-}Dependenzkonzept und das Programm ungezwungener SelbstBildung in Spannung zueinander. Außerdem bleibt die Frage, ob bzw. inwieweit Individualität bzw. Individualitätsbildung tatsächlich unter Abblendung der externen Bezüge gedacht werden kann. Deutlich bündeln sich

hier die Probleme, tischen

Notizen

die Schleiermacher

von

179628,

andererseits

einerseits in den vertragstheorein dem

»Versuch

einer Theorie

des geselligen Betragens«2? bereits erfaßt hat. Es ist allerdings der Problemtitel Freiheit und Abhängigkeit, unter dem Schleiermacher in den Monologen auf die in den vertragstheoretischen Notizen im Zuge der Klärung des Handlungs-Begriffes?V entwickelte Unterscheidung von innerer Willensbestimmung und äußerer Darstellung bzw. Realisierung dieser Willensbestimmung zurückgreift. War dort mit der

inneren Willensbestimmung die Handlung bereits konstituiert, so daß sobald der Wille öffentlich mitgeteilt war und daran sich die Willensbestimmung eines Anderen angeschlossen hatte - die äußere Realisierung ohne Verletzung der Integrität des Willenskundgebers auch erzwungen werden konnte, so ist jetzt dıe innere Selbstbildung als das Reich unumschränkter Freiheit angesprochen, während für die äußere Mitteilung des Inneren und für die gemeinsame Gestaltung des Sozialraumes der Geselligkeit die Krite-

rien der Rücksicht auf die Freiheit des Anderen und der wechselseitigen Dienstbarkeit bei der Realisierung der freien Selbstbildung gelten. Der absoluten Freiheit im Inneren korrespondiert also eine relative Abhängigkeit und Eingeschränktheit im sozialen Vollzug, der aber für die innere Selbstbildung als notwendig gedacht werden muß. Das Individuum muß deshalb um seiner eigenen Selbstbildung willen die Verschränkung seiner 'Außensphären' mit denen Anderer bejahen und sıch die Förderung der (Bedingungen der) Selbst-Bildung anderer angelegen sein lassen. Hier ist mithin der Ort für Notwendigkeit, Einschränkung, Unverfügbarkeit auch für jene, die

sich selbst gefunden haben. Auffälligerweise scheint auf sie freilich die Pro-

blematisierung der inneren Willensbestimmung, wie sie ÜdF konzis vorgenommen hatte?!, nicht mehr zuzutreffen. Es ist deutlich, daß sich dies der oben?2 angesprochenen Entempirisierung des Ichs verdankt, aufgrund deren die Situationstranszendenz als Voraussetzung der Ethik nicht mehr auf das

28

Vgl. oben Kap. 9, 1.1.

29 Vgl. oben Kap. 10. 30y g!. dazu den Vortrag von G. Meckenstock (Schleiermacher-Kongreß 1, 139 - 151). 31

Vgl. oben Kap. 5, 1.

32

Unter 2.1.

2. Singularität und Relationierung

541

dem Individuum äußerliche allgemeine Sittengesetz, sondern auf die SelbstBildung des '"ewigen' Ichs bezogen wird. Problematisch bleibt dabei jedoch der Verlust an Realistik der Beschreibung innerpsychischer Prozesse, der

nicht dadurch aufgewogen wird, daß die karge Stimmung des Determinismus?3 ersetzt ist durch das helle Pathos der Freiheit. In der 2, Rede erscheint das Verhältnis von Individualisierung und Interferenz nicht in Gestalt der Unterscheidung von innerer, freier Willens-

bestimmung und interdependenter Kontextualität der äußeren Realisierung, sondern als Unterscheidung zweier Perspektiven auf ein Individuum in bezug auf ihr Verhältnis zur Menschheit: Abstrahiert man nämlich - einerseits - von der Interferenz eines Menschen mit (allen) anderen Menschen, dann wird jeder (gleichviel ob 'gebildet' oder nicht) als notwendiges singu-

läres Moment der Menschheit betrachtet, die ja ım Verlauf ihrer Geschichte alle Momente einmal realisieren muß. Der Gebildete ıst dabei nur dadurch ausgezeichnet, daß er in seiner Individualität zugleich alle Momente der Menschheit in sich enthält. Die Isolierung des Einzelnen als singuläres Element der Menschheit ıst durch diese interne Abbildung der Menschheit aber nicht aufgehoben. Diese Konzeption erinnert stark an Leibniz’ Mona-

dologie. Betrachtet man den Einzelnen hingegen - andererseits - nach seiner totalen Interferenz mit allen Anderen, so wird dıe wechselseitige Verwiesenheit der Einzelnen aufeinander offenbar. Die Individuen bilden sich faktisch selbst ın beständigem Austausch mit ıhrer humanen Umwelt, in

beständiger wechselseitiger Bereicherung und Erweiterung der individuellen Sphäre

durch

kommunikative

Wahrnehmung

von

anderen

Momenten

der

Menschheit. Diese beständige Integration von anderen Gestalten des Menschlichen wirkt der Isolierung des Einzelnen gegen dıe Menschheit entgegen und stellt

ihn ın eine Fülle externer Bezüge. Es ıst aber leicht zu sehen, daß ın einer solchen Entschränkungsbewegung die »Umriße der 231,27f.) an Bestimmtheit verlieren; ındem zu den

Persönlichkeit« (1/2, integrierten Mensch-

heitsgestalten immer auch mitkommunizierte Fremdbilder des eigenen Selbsts gehören*, ist dadurch sogar die soziale, zeitgeistbestimmte Beeinflussung und entsprechende Fluktuation individueller Selbstwahrnehmungen und Selbstthematisierungen erfaßbar (vgl. 231,28f.}.

Hier leuchtet zwar das

Individualitätskonzept der Spinoza-Jacobi-Rezeption wieder auf?>; es ist

33

Diese Stimmung hat plastisch beschrieben Haym, Romantische Schule, 457 - 459.

34

So schon AA; vgl. oben Kap.

35

Vgl. oben Kap. 8.

1.

542

VI. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

aber nicht zu erkennen,

wie

vereinbaren sein soll. Schleiermacher bearbeitet

damit dieses

das

starke Selbst-Bildungs-Ideal

Problem,

ındem

er dıe das

zu

Einzelne

fixierende und aus seinen faktischen Relationen lösende Perspektive auf die Moral,

die in die Totalität der Menschheit und des Universums entschrän-

kende Perspektive aber auf dıe Religion bezieht (vgl. 230,29 - 231,10 und 36-39 einerseits, 231, 10-36 andererseits). Insofern im Selbstbildungsprozeß der Einzelne die Fülle der Menschheitsmomente in sich abbildet und repräsentiert, ıst dıe diesen Prozeß steuernde Moral unerachtet der durch sie gewirkten Isolierung des Einzelnen zurecht als »Vorhof()« der Religion

angesprochen

(231,37);

die Religion

selbst hat die Doppelfunktion,

als

individuelle Universumsanschauung den Einzelnen einerseits in das Univer-

sum zu integrieren und ihn seiner selbst als partikulares Moment des Universums ansichtig zu machen, ıhn andererseits aber zugleich angesichts der Fülle des Universums, der er angehört, über seine Partikularıtät zu trösten und ihn davor zu bewahren, seine Personalıtät gegen das Universum stabilisieren

und

festhalten

zu

wollen

(vgl.

246,13-18).

Damit

aber

leistet die

Religion nichts anderes, als die allem eigenen Handeln vorgängige, 'panentheistische' Ewigkeit des gleichwohl partikularen Ichs zu vergewissern, indem sie dessen Aufgehobenheit ım Universum unbeschadet seines depersonalisierenden Eingehens ins Universum im Tode fühlen läßt. Der Tod ist für die Religion denn auch keineswegs der erschreckende Verlust individueller Selbsthabe und Selbstwahrnehmung,

Hoffnung auf individuelle Auferstehung

246,9 - 247,4); er ist vielmehr die Chance

windung gegen

das

der Grenze Universum.

zum Das

Universum:

der durch dıe orthodoxe

kompensiert werden

müßte (vgl.

zur Entschränkung,

zur Über-

Er beendet die Selbstabgrenzung

Einzelne wird

so ganz

Universum -

freilich:

ganz Teil des Universums, So ist das Einzelne im Doppelsinn aufgehoben: ım Ganzen verschwunden und bewahrt. Die moralische Selbst-Bildung gründet dann ın dieser religiösen Gewißheit der universalen Integration,

der Verortung

und totalen Interferenz des

Einzelnen im All. In ihr bildet sich der Einzelne zu dem Moment des Universums, das er immer schon ist, (vgl. Monologen, 1/3, 42,27£.: »Immer mehr zu werden f,] was ich bin«) und bildet dabei die Fülle der Momente

der Menschheit in charakteristischer Formation

und Perspektivität ın sıch

ab?6. Deshalb kann Schleiermacher den Einzelnen (und zwar jeden, da ja 36

Bezeichnenderweise spielen für den, der sich selbst gefunden bat und sich deshalb selbst bilden kann, weder das Lebensalter (vgl. den V. Abschnitt der Monologen: »Jugend und Alter«, 7/3, 53 - 63) noch der eigene Tod eine Rolle (vgl. Monologen,

2. Singularität und Relationienung

543

jeder zur Selbst-Bildung bestimmt ist) als »Compendium der Menschheit« (2. Rede, 1/2, 232,20f.) bezeichnen: Er enthält komprimiert in sich die un-

endliche

Fülle

der

Menschheit,

ebenso

wie

umgekehrt

die

unendliche

Innerlichkeit eines Individuums in der Menge und Vielfalt der Menschheit veräußert erscheint (vgl. 232,5-24). Entsprechend korrespondieren denn

auch die Entwicklungstendenzen von Individuum und Menschheit (vgl. 233,24-26): Wıe dıe Biographie des Einzelnen so strebt auch die »Geschichte« (232,38) der Menschheit hın auf organische Bildung, d.h. durchgängige Bestimmtheit; Schleiermacher nennt dies »erhöhtes Leben« (234,27; vgl. überhaupt 234, 19-32).

Freilich schließt das ein, daß auch der Menschheit als ganzer (wıe übrigens auch einzelnen Völkern und Geschichts-Epochen) Individualität zuge-

schrieben werden muß, die dann ebenfalls hinein in die schlechthinnige Totalıtät des Universums transzendiert werden kann. Entgegen manchen Äußerungen Schleiermachers, die eine synonyme Verwendung von Menschheit und Universum nahezulegen scheinen (vgl. etwa 228,27-30),

fallen diese Größen nıcht vollständig (oder: nicht in jeder Hinsicht) ineins. Die Menschheit

ist »nur eine einzelne Form« des Universums,

sie ist nur

»Darstellung einer einzigen Modification seiner Elemente« (235,2f.). Sie ist daher nur ein »Mittelglied zwischen dem Einzelnen und dem Einen« (235,5f.),

geben,

und

es

»durch

muß

welche

andere,

umfassendere

sie umgrenzt,

'Formen

und denen

des

Universums’

sie also entgegengesezt

wird« (235,4f.). Es muß also »noch ein höherer Charakter gefunden werden

ım Menschen

als seine Menschheit (,) um ihn und seine Erscheinung un-

mittelbar aufs Universum zu beziehen« (235,7-9). Allerdings bleibt dies bei

Schleiermacher ein zwar konsequenter, aber kaum explizierter Abschlußund Grenzgedanke; religion.

Schleiermachers

Hauptinteresse

gilt der

Menschheits-

2.4. Autonomisierung und Vernetzung Konkretisierte sich die Grundfigur 'Singularität und Relationierung' ın bezug auf die Elementarereignisse der Wirklichkeit als der Zusammenhang

von 'Moment und Kontinuierung'?’ und in bezug auf die Anthropologie als 51,11 - 52,24); nur der vorzeitige Tod Anderer, etwa der Freunde, reißt in die Harmonie der »Gemeinschaft der Geister« eine schmerzhafte Lücke, die von den Hinterbliebenen als Minderung der Lebensfülle und ınsofern selbst als rörend empfunden wird (vgl. 51,14-26).

37 Vgl. oben 2.2.

544

der

VI. Ausblick - Kap.

Zusammenhang

von

11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

'Individualisierung

und

Vergesellung

bzw.

Ent-

schränkung'?3, so zeigt sich dieselbe Figur im Blick auf die menschlichen Vermögen,

Verhaltenssphären

und

sozialen

Institutionen

als der

Zusam-

menhang von Autonomisierung und Vernetzung. So bezweckt die berühmte Befreiung der Religion aus ihrer Funktionalisierung für Moral oder Metaphysik in der Zweiten Rede (passim) und ihre Bestimmung als eigenständige und anthropologisch konstitutive »Provinz« des Menschlichen

(1. Rede,

204,35) keineswegs eine Entkoppelung dieser

drei Bereiche oder einen Relevanzverlust sei es der Religion, sei es der Moral oder der Metaphysik. Vielmehr ermöglicht gerade dıe klare Spezifikation der für die Leistung eines Bereiches jeweils zuständigen Vermögen (Religion: Fühlen, Moral: Handeln, Metaphysik: Wissen) bzw. dieser Leistungen selbst und die Aussonderung der den jeweiligen Bereichen durch

ihre Vermischung mit anderen Bereichen geschichtlich zugewachsenen Leistungen (bei der Religion etwa: moralische Erziehung, bei der Moral: funktionale Verortung der Religion, bei der Metaphysik: denkerische Erfassung des Unbedingten,

Unendlichen,

also des "Gegenstandes’

der Religion)

die präzise Beschreibung des mittelbaren Zusammenwirkens der sich unmittelbar autonom, selbstgesteuert vollziehenden Vermögen und Sphären. Erst wenn

die Religion keine Leistungen

mehr

mit der Moral

gemeinsam

hat, kann die Bedeutung ihrer eigentümlichen Leistungen für Moral und Metaphysik ın den Blick treten; erst wenn das Fühlen eindeutig und vollständig von Handeln und Wissen unterschieden ist, kann die Kopräsenz und Interferenz dieser drei Vermögen angemessen wahrgenommen werden. Das setzt natürlich voraus, daß keiner der dreı Bereiche die anderen beiden ın

sich integriert und dergestalt ihre Einheit oder ihren Grund bildet. Die ihnen gemeinsame Bezugsgröße ist vielmehr in der Psyche des Menschen gegeben. Sie unterscheiden sich laut der Zweiten Rede dadurch voneinander, daß sie sich in je verschiedener Weise aufs Universum beziehen: Die Religion schaut das Universum passıv an, dıe Metaphysik konstruiert es denkerisch, dıe Moral bilder und vollendet es durch Handeln. Die Komplementarität dieser drei Weisen des Verhältnisses zu und des Umgehens mit dem 'Ganzen' wird an dieser Stelle nur in bezug auf die Religion ausgeführt: Die Moral bedarf der Religion, weil allein in ihr der Mensch sıch als individueller Teil des Universums erfährt und so sich als das Individuum empfängt, als das und zu dem

es sich zu bilden gilt. Moral

ohne Religion

isoliert zum einen den Einzelnen gegen das Universum in abstrakter Selbstbildung; zum anderen aber homogenisiert sie die Einzelnen, die nun nicht 38 Vgl. oben 2.3.

2. Singularität und Relationierung

545

mehr als bestimmte Momente des Universums erscheinen, sondern als aller Bestimmtheit enthobene, formal-identische 'Individua'. Die Meraphysik hingegen bedarf der Religion, weil sie über die Realität der spekulativen

Gedanken über das Universum vergewissert, Religion allein also gewährleistet jenen »höhern Realismus« (213,22), der den Idealismus 'mit der Erde versöhnt' (vgl. 193,21f.)39. Da aber die Religion notwendig mit Mitteilung verbunden ist und Mitteilung als symbolisierendes Handeln Gegenstand der Ethik ist, ıst die Religion ın ıhrem sozialen Vollzug auf Moral (auf Praxis) angewiesen. Ist dies schon erst in den späteren Ethik-Vorlesungen entfal-

tet40, so wird die Bedeutung der philosophischen Theologie als spekulativer Erfassung des Unendlichen für die als Kunstlehre der Kirchenleitung auf den sozialen Vollzug des religiösen Lebens bezogene theologische Wissenschaft erst in der Enzyklopädie »Kurze Darstellung des theologischen Studi-

ums« ihematisch@!. Unabhängig von solchen Abhängigkeiten nehmen die einzelnen Bereiche zudem einander ın ıhrer jeweiligen Perspektive als Teil ihres Gegenstandsbereiches wahr.

Schleiermacher hatte 1800 noch keine ausgeführte Systematik sozialer Lebensformen,

Lebenssphären oder gar Institutionen,

Gleichwohl

läßt sich

die Ausdifferenzierung und Relationierung sozialer Instanzen in den »Reden« an einem hervorgehobenen Beispiel studieren: an der Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat (4. Rede, 1/2, 278,18 - 292,3). Wenn der Staat die Kırche für seine eigenen Zwecke funktionalisiert, indem er sıe

einerseits mit an sich staatlichen Aufgaben betraut - nämlich der Erziehung (vgl. 282,37f.), der moralischen

Unterweisung »in den Pflichten, dıe seine

Geseze nicht faßen« (283,1), und der darauf bezogenen Motivationsförderung, schließlich der Verstärkung des Wahrhaftigkeitsdrucks bei Aussagen vor der staatlichen Justiz durch die religiöse Eidesformel

(vgl. 283,2-4) -,

andererseits ihre ureigenen Aufgaben, Taufe, Konfirmation, Eheschließung und Begräbnis als die »innersten Mysterien der religiösen Geselligkeit«, gemäß seinen

»Intereße« mit einer politischen Sekundärdeutung belegt und

sie dadurch »verunreinigt« (vgl. 283,12-26), dann bewirkt er, daß es in der Kirche

33

nıchts

mehr

gibt,

»was

sıch

auf

dıe

Religion

alleın

bezöge«

Schleiermacher vergißt aber nıcht hinzuzufügen, daß auch über den Umweg über dıe Religion keineswegs die Realität des Universums 'an-sich" bewiesen werden könne: Auch die Religion bezieht sıch nur auf das Handeln des Universums auf uns, nicht auf ein An-Sıch. Vgl. 214,9-18.

40 Vgl. etwa Brouillon zur Ethik, Hamburg 1981, 100 - 123, besonders 105f. und 113 123.

41 Val. KD 88 32 - 38.

546

WI. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

(283,32f.). Damit aber verhindert er nicht nur, daß die Kirche »die eigent-

liche Gesellschaft der religiösen Menschen« (284,7f.) wird und so ihrer Bestimmung entspricht; ebendamit wırd er vielmehr zugleich seiner eigenen Aufgabe untreu, die je individuellen Entwicklungen und Selbstvollzüge der in ihm existierenden Einzelnen und Vergesellungen zu schützen und zu för-

dern@2, Die Entfunktionalisierung der Kirche befreit also nicht nur diese von

Fremdbestimmung;

kommnungsinteresse

des

sie liegt Staates

im

Selbstbildungs-

selbst.

Zudem

und

können,

Selbstvervollda

die

Religion

bzw. dıe Anlage dazu sich erst ın der freien Geselligkeit entfalten kann, dıe oben angeführten Leistungen der Religion für Moral und Spekulation erst nach der Entlassung der Kirche aus Fremdverpflichtungen wirksam werden;

gerade das Interesse an diesen Leistungen müßte den Staat daher zur Selbstzurücknahme, zum Verzicht auf unmittelbares Eingreifen veranlassen. Freilich bedingt die 'Autonomisierung' der Kirche keine positive 'Relationierung' zum Staat. Denn dıe wahrhaft Religiösen bilden zwar eın »Chor von Freunden«, einen »Bund von Brüdern« (291,21.30); aber sie haben »ın ıhrer reinen Geselligkeit (,) in der sıe nur ıhr ıinnerstes Dasein ausstellen und mittheilen wollen, eigentlich nichts gemein (...), deßen Besiz ihnen geschüzt werden müßte durch eine weltliche Macht« (284,15-18): Sie brauchen nichts als »eine Sprache (,) um sich zu verstehn, und einen Raum (,) um bei einander zu sein« (284,19f.; Hervorhebungen von mir). Und auch die »Mißion eines Priesters in der Welt«, also die Verkündigung an die

Religion Suchenden soll keinen festen institutionellen Rahmen haben: »Näher gebracht wird der allgemeinen Freiheit und der majestätischen Einheit der wahren

Kirche die äußere Religionsgesellschaft nur dadurch,

daß

sie eine fließende Maße wird, wo es keine Umriße giebt, wo jeder Theil sich

bald

hie bald

dort

befindet,

und

alles

sıch

friedlich

unter einander

mengt« (288,2-6; Hervorhebung von mir).

2,5. Liebe als Prinzip des universalen Zusammenhangs Schleiermachers Leitprobiem ın dieser Arbeitsphase, das ın allen soeben aufgezeigten Facetten durchscheint, ist die Frage, wie sich Vereinzelung, Individualisierung, Autonomisierung zusammendenken läßt mit Relationierung, Integration,

struktureller genügt

42

Entschränkung, ja genauer, wie sıch ein genetischer und

Zusammenhang

dieser

beiden

nicht die abstrakte Behauptung

Vgl. dazu schon PPA {oben Kap. 7, 2.).

Aspekte

eines solchen

denken

läßt.

Dabeı

Zusammenhangs.

Es

3. Interaktion und Institutionen

547

muß vielmehr gezeigt werden, wie auf der einen Seite die Vergesellungstendenz im Selbstvollzug des Einzelnen selbst repräsentiert ist und wıe auf der anderen Seite die Integration in ein Ganzes und schließlich ın das Ganze die Singularität des Einzelnen nicht beseitigt, sondern fördert und bewahrt. Genau diese doppelte Leistung ist bei Schleiermacher, wie besonders die Monologen

und

die

Vertrauten

Briefe

deutlich

machen,

ım

Begriff

der

Liebe chiffriert. In den Monologen wırd der Zusammenhang von Selbstbildung und Sensibilität für das »Fremde()« (1/3, 21,18) präzise erfaßt: »Wer

sich zu einem bestimmten Wesen bilden will, dem muß der Sinn geöfnet sein für Alles was er nicht ist« (21,38-40; Hervorhebungen von mir). Deshalb ıst die »höchste Bedingung der eigenen Vollendung im bestimmten Kreise (...) allgemeiner Sinn« (22,8f., Hervorhebungen von mir). Dieser

Sinn bedarf nun der Liebe als der »anziehende(n) Kraft der Welt« (22,14). Die Liebe verbindet den Einzelnen mit der Welt; zugleich appräsentiert sie ıhm die Welt als harmonische Einheit in distinkter Mannigfaltigkeit, Ohne Liebe müßte alles »ın gleichförmige rohe Malss]je zerfließen« (22,15f.); es wäre dann aber auch das unterscheidbare Gegenüber zum Ich verloren, in

welchem das Ich allererst sich selbst bilden kann. In der Liebe sind demnach Selbstüberschreitung hin auf die Welt,

Vereinigung mit der Welt und

Selbstempfang als individuelles Moment der Welt vereinigt. Die Sozialform der Liebe ist deshalb die freie 'Verschmelzung' zweier Menschen »zu Einem Wesen« (47,4f.), in der aber die »Harmonie« (10,17) dıe Wahrnehmung des Andern als Andern, mithin die Wahrnehmung von Differenz und Individualität, keineswegs verhindert oder verschleiert, sondern geradewegs fördert, freilich mit dem Ziel der möglichst umfassenden Integration von »Verschiedenheiten« (Vertraute Briefe, 1/3, 207,20) zu einer in sich bestimmten, stimmigen, harmonischen Einheit und Ganzheit. Dieser entschränkende und integrierende, zugleich aber individuierende Charakter der

Liebe rückt auch die Liebe als innigste Form der Beziehung zweier Menschen zueinander in die Nähe der Religion:

Am

Ende seiner Rezension von

Schlegels Lucinde hebt Schleiermacher hervor, durch dıe Liebe werde das Werk »nıcht nur poetisch, sondern auch relıgiös«, indem dıe Liebe »überall auf dem Standpunkte gezeigt wird, von dem sie über das Leben hinaus ins Unendliche

sieht«

(1/3,

223,23-26,

vgl.

Vertraute

Briefe,

194,22-29),

Wenn Schleiermacher hinzufügt, die Liebe mache das Werk auch »moralısch«, indem sie »von der Geliebten aus sich über dıe ganze Welt verbreitet, und für Alle, wie für sich selbst, Freiheit von allen ungebührlichen Schranken und Vorurtheilen fordert« (223,26-28), so betont er hier den

universale Durchbildung der Welt anstrebenden Charakter der Moral; der Gedanke, dal Moral ohne Religion entindividualisiert und nivelliert, tritt in

548

den

VI. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

Hintergrund,

ist möglicherweise

durch

die vorausgesetzte

Amalga-

mierung von Liebe und Religion implizit berücksichtigt. Als Sozialform der Freiheit ist die Liebe schließlich ausgezeichnet durch vollendete Rezipro-

zität:

Da

»Geben

ausgeglichen

sind,

schaftsverhältnisse;

und

Empfangen«

gibt

es

der/die

keine

(Monologen,

Asymmetrien,

Geliebte

1/3,

22,10f.)

in

Dankesschulden,

ıst zugleich

Adressat

der

ihr

Herr-

eigenen

Selbstmitteilungen und der/diejenige, dessen resp. deren Selbstmitteilungen

rezipiert werden (vgl. 21,1 - 22,25),

3. Interaktion und Institutionen

Der

emphatische

Lobpreis

der

Liebe,

in

dem

Schleiermachers

frühes

Hauptwerk kulminiert, belegt noch einmal eindrücklich, wie sich die an den Aristoteles-Anmerkungen aufgewiesene Konfiguration der Freundschaft als Verbindung von wechselseitiger Kommunikation eigener und fremder Individualität und wechselseitiger Versittlichung in verschiedenen Modifikationen - Präzisierungen, Erweiterungen, Umbildungen, Neuformulierungen durch Schleiermachers gesamtes frühes Werk hindurch verfolgen läßt, und

zwar als prägendes Paradigma seiner Theorieentwicklung. Es kann nun als erwiesen gelten, daß Schleiermachers Denken nicht vom erkenntnistheoretischen Problem der Objektivität subjektiven Wissens, nicht von der Frage der Konstitution von Subjektivität und auch nicht von der Aufgabe religiöser Vergewisserung seinen Ausgang nahm und von da her seine Gestalt gewann;

Schleiermachers ursprüngliches und ım Frühwerk durchgehaltenes

Interesse galt vielmehr der theoretischen Erfassung der mehrstelligen Verschränkung individueller Sphären in wechselseitiger kommunikativer Selbsterschließung und wechselseitiger Erschließung von Welt. Es muß nıcht mehr wiederholt werden, wie diesem Interesse dıe Studien zur Spra-

che (ÜdS) und zum gesellschaftlichen Leben (UdN; GB; UdA; VSch), die subtilen Untersuchungen zur sozialen moralischen Zuschreibung von Handlungen (ÜdF), zur Genese und zu den Bestimmungsfaktoren innerpsychischer Verhältnisse (FG; ÜdF) sowie zur Individualitätsbildung (Monologen), das Panorama menschlicher Lebenssphären (WL) und die Konzeption

der

Religion

als individueller,

gleichwohl

mitteilbarer

Anschauung

des

Universums (Reden) zuzuordnen waren. Ein Problem soll aber noch einmal

aufgegriffen werden, das die vorstehenden Untersuchungen beständig begleitete: Wenn Schleiermacher ausgeht von ınteraktionsnahen, sich aus permanenten aktualen Leistungen der beteiligten Individuen konstituieren-

3. Interaktion und Institutionen

549

den und reproduzierenden, nur auf individuelle zwanglose Selbstfestlegungen aufbauenden, in beständigen Neuarrangements, Assimilationen an und Adaptationen von neuen Situationen befindlichen Sozialgestalten, wie kann er dann die 'Objektivität', Unverfügbarkeit, Interaktionsresistenz oder

-indifferenz im sozialen Leben beschreiben, ohne sie nur negativ als Entfremdungsformen individueller Selbstentfaltung zu qualifizieren, also etwa gesellschaftliche /rsziturionen, an denen der Einzelne zudem nicht aufgrund seiner Individualität beteiligt ist, sondern aufgrund einer Funktion, die er zu erfüllen, einer Leistung, die er zu erbringen hat”? Arbeitet Schlei-

ermacher nicht mit illusionären Vorgaben hinsichtlich der Veränderlichkeit und der individuellen Gestaltungskompetenz in der Gesellschaft, die eine realistische,

also

nıcht

nur

abstrakt-programmatische,

sondern

zugleich

deskriptive wie entwicklungsleitende Theorie der Gesellschaft verhindern? Und liegt das nicht an dem allzu virtuosen, zu viel Freiraum und Verfügung über Zeit, zu viel Disponibilität und Offenheit unterstellenden Leitbild der Freundschaft oder der freien Geselligkeit?

Schon früh relativiert Schleiermacher die Erwartung einlinig-stetiger Verallgemeinerbarkeit der Freundschaftspraxis, wenn er etwa in ÜdN Naivität als zumindest ambivalent zu beurteilende kontrafaktische Unterstellung von Authentizität und Individualitätsorientierung ın einem konventionell geprägten geselischaftlichen Kontext bestimmt und, indem er diese Differenz benennt und zu berücksichtigen auffordert, immerhin bereits eine

Doppelperspektive auf die Gesellschaft entwickelt, die unerachtet des Geltungsanspruchs des Freundschaftsideals zumindest eine gewisse Brechung der Realisierungsdynamik kennt, ohne sich ın der bloßen Diastase von gutem (partikular realisiertem) Ideal und schlechter Realität zu erschöpfen. Eine Perspektivendifferenzierung zwischen Intimität und Allgemeinheit

zeigt auch ÜdF, wenn dort unterschieden wird zwischen der die konkreten Umstände einer Tat und die Biographie des Täters berücksichtigenden Würdigung und Beurteilung von Tat und Person durch den Freund und der davon abstrahierenden moralischen Beurteilung durch das allgemeine Sittengesetz, an die dıe öffentliche Moral und dıe Justiz anschließen. Die hıer

sich andeutende Autonomisierung des Rechts wird weitergeführt in PPA, wo als die Funktion des (Rechts-)Staates ausdrücklich zung einer allgemeinen Bestimmung des Menschen,

nicht die Durchsetsondern allein der

Schutz individueller Selbstbestimmung erscheint; die Beachtung der Lebensumstände hingegen wird in WL als große (wenngleich noch nicht systematisch durchgebildete} 'Phänomenologie der Lebenssphären' umfassend durchgeführt. Auch das Konzept der freien Geselligkeit in GB negiert nicht die Außenrelationen der daran Beteiligten - es ist ja verbunden mit einem

550

VI. Ausblick - Kap. 11. Selbst-Bildung und Selbst-Relationierung

alle

Lebensvollzüge

Verständnis

von

des

Einzelnen

Individualıtät

-,

integrierenden sondern

regelt

und nur,

relationierenden daß

allein

solche

Außenbezüge in der geselligen Runde im Wortsinn zur Sprache gebracht werden dürfen, die die Einheit des Kreises nicht sprengen; außerdem ist die freie Geselligkeit von vornherein als zemporäre

Unterbrechung des bürger-

lichen oder häuslichen Lebens gekennzeichnet. Immer jedoch bleibt dabei das Motiv der Durchbildung, der Durchdringung, der durchgängigen Bestimmung des gesamten sozialen Lebens nach Maßgabe des Freundschafts- oder Geselligkeitsideals leitend. Insofern Schleiermacher selbst in WL die Bestimmung des Menschen mit dem Terminus »Humanität« belegt (vgl. KGA

Motiv

her durchaus

bereits

[/l, 410,7), kann man von diesem

Schleiermachers

unter der Überschrift »Universalisierung

von

Jugend-

und

Humanität«

Frühschriften

(M.

Welker)

fassen. Freilich trıtt unter der Dominanz des Seldst-Bildungs-Gedankens ın den Monologen die Entfaltung und Zuordnung der abgestuft zu durchdringenden sozialen Sphären in den Hintergrund zugunsten der Konzentration auf die elementare Figur der Selbstbildung in der Gemeinschaft der Geister. Man könnte diese "Elementarisierung' mit denselben Gründen verteidigen, dıe Schleiermacher in den »Vertrauten Briefen« zugunsten des Fehlens von

Weltbezügen und Weltbeschreibung in Schlegels »Lucinde« aufführt: Die Fülle der Bezüge hätte von einer präzisen Wahrnehmung der Grundfigur abgelenkt (vgl. 17/3, 151,22 - 152,21 sowie 213,19 - 214,11). Ebenso wenig

jedoch wie Schleiermachers Bedenken gegen die Lucinde durch diese Antwort vollständig zum Schweigen gebracht wurden*3, ebenso wenig läßt sich übersehen, daß Schleiermacher mit der in den Monologen vorgenommenen Reduktion die Differenziertheit und Spannbreite unterbietet, die seine

Theorie in den Jugendschriften bereits erreicht hatte.

Erst in den Ethik-

Vorlesungen gelingt es ıhm, durch die Koppelung des Duals von Individua-

lität und Allgemeinheit mit der Unterscheidung von organısierendem (d.h. herstellendem) und symbolisierendem Handeln ein Viererschema zu erstel-

len, das nach seiner Überzeugung nicht nur alle Formen menschlichen Handelns,

sondern auch alle objektivierten, nämlich durch Handeln

reali-

sierten und für Handeln offenstehenden Sphären des sozialen Lebens zu erfassen erlaubt. Mit diesem Schema ist ein Gegengewicht geschaffen gegen die einseitige Privilegierung der freien Kommunikation, wie sie ım Früh-

43

Vgl. nur in der Rezension 222,15-!8. Zur in diesen Bedenken angelegten bleibenden grundlegenden Differenz zu F. Schlegel vgl. überhaupt H. Dierckes: Die problematısche Poesie. Schleiermachers Beitrag zur Frühromantik. In: K.-V. Selge (Hg.): Schleiermacher-Kongreß.

Band

1. Berlin - New York

1985, 61 - 98.

3. Interaktion und Institutionen

551

werk zumindest tendenziell anzutreffen war. Hier liegt die Vollform der Theorie der durch menschliches Handeln gestalteten und zu gestaltenden Welt vor, die zugleich dıe Faktoren der Beschreibung gegenwärtiger sozialer Wirklichkeit wie auch die Parameter der Entwicklung und Weiterbildung dieser Wirklichkeit vermittelt. Geht auch das Frühwerk keineswegs vollständig

in dieser

'Kulturtheorie’

auf*®,

so

erweist

es

sich

doch

als

durchgängig von jenem Interesse bestimmt, das in der Ethik sich systematisch entfaltet hat.

44

Die Beziehungen

des Frühwerks etwa auf die Hermeneutik oder die Psychologie des

reifen‘ Schleiermacher lohnten eine Untersuchung.

Anhang

Verzeichnis der für Werktitel verwendeten Abkürzungen AA

Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomach. Ethik 8-9 .... KGA 1/1, 1 - 43

hG

Ueber das höchste Gut ...............2202c22ssunaseneenenn ann KGA V/1, 81 - 125

FG

Freiheitsgespräch ........cszss2sss0sssessesenennensenennennn KGA L/t, 135 - 164

ÜdN ÜdF

Über das Naive........uuceeseeeenseesennnneneeenneeneeeneen KGA I/1, 177 - 187

ÜdS

Ueber den Styl ................2cssssenansenseenenennersnrenn KGA 1/1, 363 - 390

WL

Über den Werth des Lebens ...........cnnann. KGA I/1, 391 - 471

ÜdG

Über den Geschichtsunterricht .....................2.00... KGA I/1, 487 - 497

PPA

Philosophia politica Platonis et Aristotelis.............. KGA I/1, 499 - 509

GI

Gedanken 1...............2uszss224ne en unennnen rennen ernennen KGA 1/2, 1-49

Über die Freiheit...............uuuncueasseeeeeeennneee nen KGA 1/1, 217 - 356

GI

Gedanken 11.................2-..2220ssssserseenenen rennen ea en KGA V2, 105 - 115

Gi

Gedanken I.............cezs2c@enaesereneseessnenennnanenne KGA 172, 117 - 139

LI

Leibniz I......eesseneesensenneenennensnenernnnnnan nenn nen ernennen KGA

1/2, 75 - 97

LI

Leibniz I................2222222202 22002 eenennnnneesnennnaeneeen KGA

1/2, 99 - 103

Frg

Athenäums-Fragmente ...........eerserennenuessneren een KGA 1/2, 141 - 156

GB

Versuch einer Theorie des geselligen Betragens....... KGA 1/2, 163 - 184

ÜdA

Über das Anständige.................cccccsenseenneseenaranann KGA 1/3, 73 - 99

VB

Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde ... KGA 1/3, 139 - 216

VSch

Versuch über die Schaamhaftigkeit....................... KGA 1/3, 168 - 178

SW

Friedrich Schleiermacher’s sämmtliche Werke

NE

Aristoteles: Nikomachische Ethik

AThDE

J.A. Eberhard: Allgemeine Theorie des Denkens und Empfindens

SaY

J.A. Eberhard: Sittenlehre der Vernunft

AGPh

J.A. Eberhard: Allgemeine Geschichte der Philosophie

KrvV

l. Kant: Kritik der reinen Vernunft

KpV

I. Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Literaturverzeichnis

!. Primärquellen

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Andreas Arndt und Wolfgang Virmond. Bertin - New York 1988. Band W/3: Briefwechsel 1799 - 1800 (Briefe 553 - 849). Herausgegeben von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond. Berlin - New York 1992. Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen. Erster Band: Von Schleiermacher’s Kindheit bis zu seiner Anstellung in Halle, October 1804. Berlin 18602 (Nachdnuck Berlin - New York 1974), Friedrich Schleiermacher's sämmtliche Werke. Zweite Abtheilung: Predigten. Siebenter Band: Predigten in den Jahren 1789 bis 1810 gehalten von Friedrich Schleiermacher. Aus Schleiermacher's handschriftlichem Nachlasse und aus Nachschriften der Hörer herausgegeben von Ad. Sydow. Berlin 1836. [Kurztitel: SW 11/7] Bauer, Johannes {Hg.): Ungedruckte Predigten Schleiermachers aus den Jahren 1820 - 1828. Leipzig 1909. Monologen nebst den Vorarbeiten |sc.: Neujahrspredigt von 1792; Über den Wert des Lebens (Auszug)]. 3. Auflage Hamburg 1978 (= PhB 84). Unveränderter Nachdruck der von Hermann Mulert besorgten 2., erweiterten und durchgesehenen Auflage Hamburg 1914. Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. In: Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher:

Werke.

Auswahl

in vier

Bänden,

Herausgegeben

von

Otto

Literaturverzeichnis Braun

und Johannes

Bauer.

Erster Band.

Aalen

557 1967 (Nachdruck

der 2. Auf-

lage Leipzig 1928), 1 - 346. Brouillon zur Ethik (1805/06). Herausgegeben von Hans-Joachim Birkner. Hamburg 1984 (= PhB 334). Ethik (1812/13). Herausgegeben von Hans-Joachim Birkner. Hamburg 1981 (= PhB 335). Christliche Sittenlehre, Einleitung. Herausgegeben von Hermann Peiter. Mit einem Nachwort von Martin Honecker. Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz 1983. Die christliche Sitte. Aus Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von L. Jonas. Zweite Auflage Berlin 1834. (= Schleiermacher's sämmtliche Werke. Erste Abtheilung. Band 12). Der Christliche Glaube. 7. Auflage, herausgegeben von M. Redeker. Berlin 1960. Ueber meine Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Herrn Dr. Lücke. In: Friedrich Schleiermacher's sämmtliche Werke. Erste Abtheilung. Zur Theologie. Zweiter Band. Berlin 1836, 575 - 653 [SW 1/2]. Jetzt in: KGA 1/10: Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften. Herausgegeben von Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst. Berlin - New York 1990, 307 - 394 Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Kritische Ausgabe herausgegeben von Heinrich Scholz. Darmstadt 1982 (unveränderter Nachdruck der dritten, kritischen Ausgabe Leipzig 1910). (Kurztitel: KD] Pädagogische Schriften. Herausgegeben von E.Weniger. 2 Bände. Frankfurt/M Berlin - Wien 1983 - 1984.

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558

Anhang

Eberhard, Johann August: Sittenlehre der Vernunft. Verbesserte Auflage Berlin 1786. [Kurztitel: SdV] Eberhard, Johann August: Allgemeine Geschichte der Philosophie zum Gebrauch academischer Vorlesungen. Halle 1788. [Kurztitel: AGPh] Fichte, Johann Gottlieb: Versuch einer Kritik aller Offenbarung

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(1792).

Hamburg

(Berlin 1800) Stuttgart

Die Politik des Aristoteles, übersetzt von Christian Garve,

ausgegeben und mit Anmerkungen und Abhandlungen Gustav Fülleborn. 2. Theil. Breslau 1802. Gedike, Friedrich: Gesammelte Schulschriften. 2 Bände,

begleitet

von

her-

Georg

Berlin 1789 - 1795,

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(Erster

559

Teil).

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1983,

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Über

das

schaften. Erweiterte Fassung. Theil. Berlin 1771, 153 - 2. Reinhold, Carl Leonhard:

Erhabene

In: Ders.:

und

Naive

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Philosophische

schönen

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560

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und

insonderheit

dem

von der Menschen Thun und Lassen, [Deutsche Ethik]. Gesammelte Werke. 4. Hildesheim New York 1976. von dem gesellschafftlichen Leben der

gemeinen

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[Deutsche

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sammelte Werke. I. Abteilung: Deutsche Schriften. Band 5. Hildesheim - New York 1975.

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Erster Halbband

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Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Bd. XIH/1). [Kurztitel: Leben Schleiermachers]

Dilthey, Wilhelm: Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert durch kritische Untersuchungen. Mit eigener Paginierung versehener Anhang zu: Ders.: Leben Schleiermachers. Erste Auflage Berlin 1870 (in den folgenden Auflagen nicht mehr abgedruckt). [Kurztitel: Denkmale] Eck,

Samuel:

Ueber

die

Herkunft

des

Individualitätsgedankens

bei

Schleier-

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Ulrich:

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und

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Versuch

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Kritik der Theorie

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Handelns.

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Namensregister Kursiv gedruckte Seitenangaben beziehen sich auf Fußnoten.

759

Adelung, J. Chr.

Anselm von Canterbury 285

Aristoteles 4f., 9-16, 17, 20, 25ff,,

28, 32, 34, 36, 42, 43, 48, 50,

52, 53, 56, 62, 63, 78,

79, 81,

89ff., 94-97, 9Bff., 101f., 106, 117, 119£., 122£.,

104, 147,

148f., 153, 154, 158, 159, 163, 181, 185, 190f., 193f., 198f., 212, 214, 218, 227, 222f., 224f., 241f., 248, 262, 2T2f., 274, 292f., 300, 305, 306, 308, 312, 315f., 318, 320, 329, 337, 345f., 354f., 365, 368, 371, 372, 374, 395f., 398ff., 401, 407-410, 413, 415f., 440, 444f., 449, 452, 461f., 465, 467, 469, 477, 480, 486, 489, 499, 509, 510, 517, 521, 527, 539, 548 8, 28, 42, 43, 45

Arndt, H.W.

Bardili, Chr. G.

Barth, U.

Bauer. J.

294

2

226 108, 109 77, 401

Birkner, H.-J.

Blackwell, A. 18,

/68, 248

309

294

72, 18, 750, 158, 195,

199, 392, 421f., 441, 464, 472,

478, 507, 322 Dirlmeier, F.

28, 42, 63

Dohna, Grafen zu Duns Scotus 284

26

158, 226

Eberhard, J.A. 13ff., 17, 19, 21, 25ff., 28, 30, 32, 34, 35, 36, 37, 42, 43, 45, 72, 86, 87, 94, 98147, 148, 163, 170, 173, 117, 178, 181, 189, 192, 193ff., 199, 203, 206, 208, 212, 220-224, 229, 230-233, 237, 238, 239, 245, 249, 2T1, 284, 289, 291296, 298, 306f., 316, 331, 338, 340, 355, 382, 411, 425, 452, n We a cK,>.

Eibl, K. 6

‚Sl.

Feder, 1.G.H. ,

470

29,

470,

483,

Friedrich II. von Preußen

93

Friedrich Wilhelm IL.

399

Fülleborn, G.G. 408 Garve, Chr, 376, 408, 470, 521 Gedike, F.

398

Gleim, J.W.L.

Cramer, K. 2 Dellbrück, H.

/56, 550

Dilthey, W.

von Preußen

26, 168, 770, Brinckmann, C.G.v. 195, 229, 232, 294, 310, 452 Cassirer, E.

Dierckes, H.

Mens: 1.G.

Baumgarten, A.

Braun, OÖ.

7

Descartes, R,

294

Adam, H.

Graf, F.W.

|

74

1,30

521,

Namenstegister

Grimminger, R. Grotius, H.

Knigge, A.v. 514

6, 3/

9

Habermas, J.

Lange, D,

547

Lehnerer, Th.

Hegel, G.W.F.

20

Heinrich von Navarra

Hemsterhuis, F.

93

425, 428, 439

381, 446

Herms, E. 4, 13, 17, 18., 39, 99, 106, I28, 189, 200, 226, 295, 421, 422-424, 425, 429, 434, 437, 450f., 5307 Herz, H.

Hinrichs, W.

93

77

Hobbes, Th.

8, 102, 108, 470

Hufeland, G.

470

Hume, D. 438f. Husserl, E.

421, 423, 425, #31, 437, 39

Leibniz, W. 9, 42, 110, 131, 147, 195, 216, 294, 422, 425, 428, 44lff., 454, 464f., 536, Leuze, R.

/67

Lücke, F.

3

von Frankreich N.

119, 125, 249, 285, 437, 438, 541

Maclntyre, A. Mauser, W.

/74

6, 39, 44

20 6f., 34 2, 4, 12, 17,

26, 94, 151, 158, 168, 189, 192, 195, 211, 229, 236, 245, 246, 284f., 289, 310f., 316, 367, 392, 421, 422ff., 472,475, 540 Meier-Dörken, C. 463

Jenisch, D.

Meyer, E.R.

Kant, 1. #, 13ff., 18-21, 92, 94, 96, 99, 101, 107, 108, 726, I3I, 132, 147, 150, 167, 180, 7/82, 186, 189-192, 193ff., 199£., 204, 207-217, 219ff., 224, 227, 228, 229, 230-235, 240ff., 247, 249, 252, 256, 265, 271f., 279, 280f., 282, 288-296, 298, 302, 306-310, 31l, 315ff., 323, 327, 335, 340, 373, 389, 399, 403, 409f., 41T, 413, 422-425, 430, 436, 437, 440-443, 446ff., 450, 452, 454f., 457f., 461f., 465, 467, 483, 484, 485, 521, 524

509,

Ludwig XVlI.

Jacobi, F. 11, 14, 16, 18f., 27, 175, 226, 228, 294, 312, 421-440, 441, 446-450, 451, 455-458, 463., 467, 483, 486, 493, 541 26, 7/22

503,

/

Meckenstock, G.

#

490,

2

Luhmann,

468, 522

Herzog von Sully Hirsch, E.

468,

7, 20, 10/

Haym, R. 18,

Herder, J.G.

569

Mendelssohn,

M.

18f.,

175, 780, 223, 226, 272, 280, 318, 337, 458, Jögf.,

12,

340,

393,

151f.,

#21,

437,

470 /68&

Montaigne, M.

de 367

Moxter, M. 20f., 94, 96, 132, 190, 199, 229, 233, 41] Mulert, H.

7/7, 421

Nowak, K. 17, 18, 167f., 174, 372, 401, 417, 480 Platon

16,

/7,

9%,

195,

198ff.,

2l2ff., 219., 221f., 231, 281, 292, 296, 305, 312, 398f., 407, 409f., 415, 462, 477 Pufendorf, S. 9, 470 Quapp, E.H.U. 451, 481

427,

422£.,

441,

570

Namensregister

Rasch, W. Redeker,

Sommer, M.

6, 8f., 74, 373 M.

#23

Reinhold, C.L. 249, 251, 252, 257, 271, 288, 293ff., 336 Rendtorff, T.

Riedel, M. Riemer,

/0/

408

M.

7/7

Ringleben, J.

7/7, 401

Rohls, J. 2 Ryan, M.D.

102

Schiller, F.

522

81

Schlegel, F.

533 12, 14, 16f., 756, 167,

463, Jöd, 51i6, 521, 550, 533

466, 522,

Schlosser, J.G.

468, 525,

482, 526,

510, 547,

408

750, 318, 322, 528

6

Tetens, J.N.

233

F.

Weber, F.

4, 18

167,

174,

Shaftesbury, A., Earl of 9, 115, 373

102, 399

9

Weischedel, W. 126, /31, 180, 212, 216, 233, 249, 335, 399, 403, 413

Wenz, G.

437

213, 222

Ueberweg,

Weniger, E.

2/2

16, 287, 436, 451, 493,

76

Tenbruck, F.

Welker, M.

470

Selge, K.V. 2, 17, 156, 465, 472, 481, 550 Sokrates

20

Thomasius, Chr.

Schlegel, A.W.

Scholz, H.

Spaemann, R.

Spinoza, B.de 4, 8, 11, 14, I8f., 139, 147, 226, 228, 312, 421-427, 428, 431, 437, 440-444, 446, 440f., 453-458, 463, 467, 4856, 532, 536, 541 Stubenrauch, $.

211, 316

Schelling, F.W.J.

Schock, W.

20, 101

Steinvorth, U.

Rousseau, J.J.

Schmalz, Th.

92

Soosten, J.v.

2, 17, 550 #0] 106

Wolft, Chr. 8,9, 28, 42f., 45, 108, 195, 216, 294, 425 Wöllner,J. Chr.

528

Zinzendorf, N.v.

8