Geschlechtergeschichten der Neuzeit: Ideen, Politik, Praxis 9783666370335, 9783525370339, 9783647370330

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Geschlechtergeschichten der Neuzeit: Ideen, Politik, Praxis
 9783666370335, 9783525370339, 9783647370330

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)

Band 213

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

Gisela Bock

Geschlechtergeschichten der Neuzeit Ideen, Politik, Praxis

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

Mit 4 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-37033-0

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Die französische Suffragistin Hubertine Auclert (Mitte)  mit Mitgliedern der Gruppe »Suffrage des femmes«, die in den Pariser Arrondissements für die Wahlen von 1910 kandidieren. Links von Auclert (aus der Blickrichtung): Gabrielle Chapuis, rechts von ihr vermutlich Madame Marsil und Madame Louis. Informationen von Annie Metz (Bibliothèque Marguerite Durand, Paris, Dossier »Votes des femmes 1910«). © ullstein bild – Roger-Viollet / Albert Harlingue © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: e Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

Inhalt »Multiple Stories«: Perspektivenwandel in der Frauenund Geschlechtergeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Entwürfe Frauengeschichte und Geschlechtergeschichte: Aspekte einer internationalen Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Fragwürdige Dichotomien: eine Herausforderung für die Geschlechtergeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Begriffe und Geschichten Die Querelle des Femmes in Europa. Eine begriffs- und forschungsgeschichtliche Einführung (gemeinsam mit Margarete Zimmermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Begriffsgeschichten: »Frauenemanzipation« im Kontext der Emanzipationsbewegungen des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 100

Wege und Bewegungen Frauenrechte als Menschenrechte: Olympe de Gouges’ transnationale Wiederentdeckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Das politische Denken des Suffragismus: Deutschland um 1900 im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Wege zur demokratischen Bürgerschaft: transnationale Perspektiven . . 204

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Arbeit und Armut, Sozialstaat contra Rassenstaat Labor of Love: Zur Entstehung der modernen Hausarbeit in den Vereinigten Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Weibliche Armut, Geschlechterbeziehungen und Rechte von Müttern in der Entstehung der europäischen Sozialstaaten, ca. 1880–1950 . . . . . 259 Nationalsozialistische Sterilisations-und Geburtenpolitik . . . . . . . . . 302 Ganz normale Frauen: Täter, Opfer, Mitläufer und Zuschauer im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Rückblicke und Ausblicke Zukunft braucht Vergangenheit. Women’s History zwischen Amerika und Europa: Nachruf auf Gerda Lerner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Grenzübergänge und Hegemonien: Lokale und europäische, transnationale und globale Geschlechtergeschichten . . . . . . . . . . . . 378

Erstdrucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

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»Multiple Stories«: Perspektivenwandel in der Frauenund Geschlechtergeschichte✳ 1

Dieser Band führt einige Texte zur Historischen Frauen- und Geschlechter­ forschung beziehungsweise Frauen- und Geschlechtergeschichte zusammen, die in den letzten vier Jahrzehnten entstanden sind, also in dem Zeitraum, als sich auch in Deutschland dieses Forschungsfeld entfaltet hat. Knapp die Hälfte davon sind Neudrucke von früher veröffentlichten Aufsätzen, ein Drittel sind deutsche Übersetzungen von Texten, die auf Englisch verfasst worden waren, bei vieren handelt es sich um Beiträge, die eigens für diesen Band verfasst wurden, davon zwei auf der Grundlage älterer unveröffentlichter Texte. Dass ich den Mut gefasst habe, sie zusammenzustellen und zum Druck zu bringen, schulde ich einer Reihe von Freunden und Kollegen, die mich dazu ermuntert oder gar gedrängt haben. Danken möchte ich für solche Ermutigung an erster Stelle Juliane Jacobi, die mich aus ihrem Gebiet der Historischen Pädagogik, und Irmela von der Lühe, die mich als Literaturhistorikerin immer wieder inspiriert und viele der Texte kritisch gelesen haben. Besonders danke ich auch Dieter Langewiesche für sein unermüdliches Drängen und seine hilfreichen Kommentare; Reinhard Rürup dafür, dass er mir meinen Aufsatz für seine Geburtstagsfestschrift gleichsam zurückgegeben hat; der Romanistin Margarete Zimmermann, dass sie dem Abdruck unseres Aufsatzes über die mittelalterlich-frühneuzeitliche »Querelle des femmes« zugestimmt hat; Ida Blom, ­Birgit Lulay, Karen Offen und Françoise Thébaud für vielfältige Inspiration; Gunilla Budde und Jürgen Kocka als Mitherausgebern der »Kritischen Studien zur Geschichts­ wissenschaft« für wertvolle Ratschläge und schließlich, wie immer, Volker­ Hunecke. Auch möchte ich hier nochmals meinen Dank ausdrücken an diejenigen, die zu Beginn der einzelnen Kapitel genannt werden. Die hier versammelten Texte sind zum einen Ausdruck der Entwicklung der Frauen- und Geschlechtergeschichtsschreibung in jenem Zeitraum, und zum anderen haben sie zu dieser Entwicklung beigetragen. Das bedeutet auch, dass ihr methodischer oder theoretischer Hintergrund sich aufgrund des Zeitenwandels und einschlägiger Debatten teilweise verschoben hat, und erst recht hat ✳ Ein

Teil  dieser Einführung basiert auf meinem unpublizierten Vortrag »Multiple Stories: Changing Perspectives on Women and Gender since the 1970s« zu der Tagung »Gendering Historiography« (Hamburg 2007); vgl. Angelika Epple u. Angelika Schaser (Hg.), Gendering Historiography: Beyond National Canons, Frankfurt a. M. 2009.

7 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

meine Freude daran, bei meinen Studien durch Zeiten und Räume zu wandern, die Erkenntnis befördert, dass die Geschichte der Geschlechterbeziehungen nicht etwa statisch, holzschnittartig oder modellhaft verstanden werden darf (ein solches Modell war einst die Unterdrückung »der« Frauen durch »die« Männer, aber schon früh wurde es beiseite gelegt). Vielmehr zeigt sie sich als eine große Vielfalt, deren Erschließung einer auf Dauer angelegten Forschungstätigkeit bedarf: als »multiple stories«, wie sie die Frühneuzeitlerin, Frankreich-, Europa- und Filmhistorikerin Natalie Zemon Davis kennzeichnet, deren Werk so viel zur Mannigfaltigkeit jener Geschichte beigetragen hat. Immer wieder hat Davis auf die Notwendigkeit eines komparativen Vorgehens hingewiesen, durch Vergleiche von Ländern, Religionen, Kulturen und eben der Geschlechter; außerdem hat sie immer wieder die unbedingt erforderliche Öffnung der Geschichtsschreibung für außereuropäische und nichtwestliche Kulturen sowie die multiplen Stimmen und Erzählungen betont, die uns sowohl aus der europäischen Vergangenheit als auch aus jenen Weltgegenden erreichen.1 Natalie Zemon Davis, Gerda Lerner und die Renaissance-Historikerin Joan Kelly – alle drei übten auch in Deutschland und Europa großen Einfluss aus, für neuere ebenso wie ältere Epochen – waren unter Historikerinnen diejenigen, die erstmals öffentlich, zwischen 1974 und 1976, die Geschichte von Frauen als Geschichte eines Geschlechts konzipierten (zuvor hatte man Kategorien wie »sex«, »Klasse«, »sex class« oder gar »Minderheit« benutzt). »Geschlecht« als ana­lytische Kategorie wurde hier in kontextabhängiger Relation zu vielen anderen gesellschaftlichen Beziehungen und grundlegenden Konzepten gesehen, an erster Stelle zum »anderen« (hier: männlichen) Geschlecht, aber ebenso sehr zu Kategorien wie Klasse, Nationalität, »Rasse«, Religion, Zeiten und Räumen (ob Regionen, Länder oder Kontinente). Der Begriff »gender«, der nun diese Relationalität und Historizität von »Geschlecht« sowie dessen Interaktion mit sonstigen sozialen Größen auszudrücken bestimmt war (und der über die traditionelle Bestimmung von Frauen als »Geschlechtswesen« beziehungsweise »sex« hinausgehen sollte), rückte jetzt ins Zentrum.2 Gefordert war nun, wiederum am deutlichsten von Natalie Zemon Davis, einerseits das Studium der Unterschiede ebenso wie der Ähnlichkeiten der (als prinzipiell vielfältig verstandenen) Frauengeschichte im Vergleich mit der Geschichte von Männern (die schon immer als komplex verstanden wurde) und andererseits der Machtverhältnisse 1 Vgl. Natalie Zemon Davis, Women’s history, multiple stories, in: In de Ban van het verhaal: Elfde Jaarboek voor Vrouwengeschiedenis, hg. v. Mirjam de Baar u. a., Amsterdam 1990, S. 99–106; dies., A Passion for History. Conversations with Denis Crouzet, Kirksville, MO 2010 (frz. Original: L’histoire tout feu tout flamme, Paris 2004), vorletztes Kapitel. Vgl. ­Gisela Bock, Women and Other Multiple Stories in Natalie Zemon Davis’ Historical Craft, in: Annual of Medieval Studies at Central European University 12 (2006), S. 201–207. 2 Vgl. Natalie Zemon Davis, »Women’s History« in Transition: The European Case, in: FS 3/3–4 (1976), S. 83–103; Gerda Lerner, Placing Women in History: Definitions and Challenges, in: FS 3/1–2 (1975), S. 5–14, hier S. 9, 12; Joan Kelly-Gadol, The Social Relations of the­ Sexes: Methodological Implications of Women’s History, in: Signs 1 (1976), S. 809–823.

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sowohl zwischen den Geschlechtern als auch innerhalb der Geschlechter; vor allem aber war die Historisierung von »Frauen« und »Männern«, »Geschlecht« und »Geschlechtern« gefordert. Spätestens ab 1980 wurden diese Ansätze auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern aufgegriffen, sowohl in der Forschung als auch in der akademischen Lehre. 1981 geschah das auf dem »3. Arbeitstreffen zur Frauengeschichte« an der Universität Bielefeld, und 1983 erschien das erste deutsche Plädoyer für die Einführung von »Geschlecht« als historischer, sozialer, analytischer »Kategorie« in die Geschichtswissenschaft, neben und in Interaktion mit allen sonstigen gesellschaftlichen Beziehungen.3 Nach mancherlei diskursiven Weiterentwicklungen (darunter vor allem Joan W. Scotts Text »Gender: A Useful Category of Historical Analysis« von 1986)4 erschien jenes Plädoyer 1989 in überarbeiteter Form im Eröffnungsheft der Zeitschrift Gender & History und ist nun als erster Beitrag in den vorliegenden Band aufgenommen. Während dieser Text (»Frauengeschichte und Geschlechtergeschichte«) hauptsächlich das Verhältnis des neuen Forschungsfelds zur herkömmlichen Geschichtswissenschaft thematisiert, behandelt der zweite Text (»Fragwürdige Dichotomien«) stärker die Frage, wie Geschlechtergeschichte zu konzeptionalisieren sei. In diesem seit Mitte der 1980er Jahre international expandierenden Forschungsfeld von Theoriediskussion und Geschichtsschreibung wurde jahrzehntelang darüber diskutiert  – in Nordamerika allerdings noch stärker als in Europa –, ob »Frauen«- oder »Geschlechter«-Geschichte intellektuell radikaler sei; ob sie sich gegenseitig ausschlössen, ergänzten oder zusammengehörten; ob die Einbeziehung von Männern »als Geschlecht« die Frauengeschichtsschreibung, der diese »Kategorie« ja entstammt, revolutioniere oder bloß modifiziere (und ob umgekehrt diese Einbeziehung, verstanden als »Männergeschichte«, die traditionelle »Allgemein«-Geschichte, welche klassischerweise ebenfalls von Männern handelt, revolutioniere oder bloß ergänze). Oder aber es ging darum, in welchem Maß wahrhafte »Geschlechtergeschichte« von Männern handeln 3 Vgl. Karin Hausen, Women’s History in den Vereinigten Staaten, in: GG 7 (1981), S. 347– 363; Gisela Bock, Historische Frauenforschung: Fragestellungen und Perspektiven, in: Karin Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte, München 1983, S.  22–60, bes. S.  33–46 (»Geschlecht als soziale Kategorie«). Leider lesen Karen Hagemann und Jean H.  Quataert diesen Band als triviale »herstory« und bloße »identitätsstiftende ›additive‹ Frauengeschichte«: dies., Geschichtsschreibung und akademische Kultur in Westdeutschland und den USA im Vergleich, in: dies. (Hg.), Geschichte und Geschlechter. Revisionen der neueren deutschen Geschichte, Frankfurt a. M. 2008, S. 11–63, hier S. 25 f. Auch trifft es nicht zu, dass Karin Hausen und ich in »den späten 1970er Jahren« unsere Dissertationen über »konventionelle« Themen schrieben: Belinda Davis, Das Private ist Politisch, in: ebd., S. 161 f. 4 Joan W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: AHR 91 (1986), S. 1053–1075. Zu den Weiterentwicklungen gehört auch mein Aufsatz: Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: GG 14 (1988), S. 364–391. Vgl. auch Françoise Thébaud, Écrire l’histoire des femmes et du genre, Lyon 20072 (19981); Giulia Calvi (Hg.), Innesti [»­Pfropfreise«]. Donne e genere nella storia sociale, Rom 2004; Laura Lee Downs, Writing Gender History, London 2004; Claudia Opitz, Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M. 2010.

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müsse und von Frauen handeln dürfe.5 Häufig erhebt sich heutzutage – meines Erachtens zu Unrecht  – die Klage darüber, dass die Begriffe »Geschlechtergeschichte« oder »gender history« dafür missbraucht würden, als irreführendes Etikett für »bloße« Frauengeschichte zu dienen. Hintergrund dessen ist, dass einerseits beide Begriffe inzwischen öffentlich und akademisch weithin akzeptiert sind, während man andererseits das Studium der Geschichte von »Frauen« oft als Überbleibsel rückständig-feministischer Identitätssuche einstuft und die »Kategorie Frauen« vielfach nicht nur für überholt hält, sondern sogar abgeschafft sehen möchte. Aber auch »gender« wird seit der Jahrtausendwende wieder in Frage gestellt, zumal von der Historikerin und Philosophin, die für ihr Plädoyer zugunsten von »gender as a useful category of historical analysis« berühmt geworden ist. Weil »gender« allzu sehr Mainstream und orthodox geworden sei, um noch feministisch-kritische Wissenschaft zu ermöglichen, und weil die »Kategorie« meist als Synonym für nicht-dekonstruierte »Frauen und Männer« herhalten müsse, hat Joan Scott postuliert: »Gender is not a particularly useful category.« Stattdessen müsse eine wahrhaft feministische Geschichte konzipiert werden.6 Doch zum Glück zeigt die praktische historiographische Erfahrung, etwa mit Blick auf die Titelgebung und den Inhalt der einschlägigen historischen Zeitschriften, dass jene »Kategorien« durchaus vielfältig und ausbalanciert, mit hohem Bewusstsein für ihre diskursive Konstruktion, historische Flexibilität und ihren wechselseitigen Bezug benutzt werden.7 Dafür steht in der Regel der Begriff »Frauen- und Geschlechtergeschichte«, den etwa ­Natalie­ Zemon Davis sehr prononciert verwendet und der auch in diesem Band benutzt wird, um anzudeuten, dass »Geschlechtergeschichte« die Geschichte von »Män5 Mit dieser Ambivalenz spielt der Titel von Anne-Marie Sohn (Hg.), Une histoire sans les hommes est-elle possible? Genre et masculinités, Lyon 2014. Zu transnationalen Debatten über »gender« vgl. Gisela Bock, Geschlechtergeschichte auf alten und neuen Wegen: Zeiten und Räume, in: Jürgen Osterhammel u. a. (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 45–66, hier S. 63–66. 6 Joan W. Scott, Millennial Fantasies: The Future of »Gender« in the 21st Century, in (auch auf Deutsch): Claudia Honegger u. Caroline Arni (Hg.), Gender – die Tücken einer Kategorie: Joan W. Scott, Geschichte und Politik. Beiträge zum Symposium anlässlich der Verleihung des Hans-Sigrist-Preises 1999 der Universität Bern an Joan W. Scott, Zürich 2001, S. 19–37, Zitat S. 26, vgl. bes. S. 22, 28 f.; vgl. dies., Feminism’s History, in: JWH 16 (2004), S. 10–29, bes. S. 20 f.; dies., Gender: Still a Useful Category of Analysis?, in: Diogenes 225 (2010), S. 7–14; AHR Forum: Revisiting »Gender: A Useful Category of Historical Analysis«, in: AHR 115 (2008), S. 1344–1429. 7 Die Titelgebung ist durchaus illustrativ für die Debatte um Benennung und Grundsätze; sie reicht von Signs und Gender & History über Journal of Women’s History bis zu Women’s History Review, vom Jaarboek voor Vrouwengeschiedenis über Clio: Femmes, Genre, Histoire bis zu L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, von Arenal: Revista de historia de las mujeres und Genesis: Rivista della Società italiana delle storiche bis zu Aspasia: The International Yearbook of Central, Eastern and Southeastern European Women’s and Gender History.

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nern« einschließt, aber keineswegs »Frauengeschichte« ausschließt (heutzutage scheint das betont werden zu müssen). Mit anderen Worten, dem Vorwurf eines Etikettenschwindels möchte ich entgegensetzen: Frauengeschichte kann nicht ohne Männergeschichte konzipiert werden (und ist ohne sie weder konzipiert noch praktiziert worden), und Frauengeschichte ist Geschlechtergeschichte par­ excellence.8

Die Entstehung der Frauen- und Geschlechtergeschichte als transnationaler Prozess Von nicht geringerer, sondern eher größerer Bedeutung ist der Wandel der räumlichen Dimensionen, in denen sich die Frauen- und Geschlechtergeschichte in den letzten Jahrzehnten entfaltet hat. Dieser Wandel ist auch in die meisten der folgenden Beiträge eingegangen: als europäische oder vergleichende, transnationale oder transatlantische Geschichte. Bevor das letzte Kapitel dieses Bands noch näher auf jenen Wandel eingeht, möchte ich zeigen, dass die Entstehung der Frauen- und Geschlechtergeschichte keineswegs, wie oft angenommen oder impliziert, eine Summe einzelner nationalstaatlicher Entwicklungen war, sondern sich einem transnationalen Prozess verdankt. Dabei können hier nur die neueren Zeiten, nicht aber die älteren Epochen berücksichtigt werden, und die Auswahl der Aspekte ist, wie kaum vermeidlich, von meinen eigenen Forschungsinteressen mitgeprägt. 1. Grenzüberquerungen Fünf Aspekte mögen das andeutungsweise illustrieren. Erstens war der Hauptgrund dafür die – hier nicht weiter darzustellende – Transnationalität, gar Globalität, der die Frauengeschichte anfangs inspirierenden feministischen Bewegung seit den 1960er Jahren.9 Zweitens: Gewiss konzentrierte sich die Forschung anfänglich stark auf Nationalgeschichte oder auf Lokalgeschichte im nationalen Kontext, gewöhnlich des eigenen Landes. Aber zugleich bemühten sich zahlreiche Historikerinnen und auch manche Historiker, durch ihr grenzüberschreitendes Interesse transnationale Brücken zu schlagen. Der Brite Richard Evans publizierte 1976 sein Werk über die klassische (»bürgerliche«) Frauen8 So auch in meinem Text von 1989 (s. u.). Vgl. Davis, Passion (wie Anm.  1), ferner Bonnie G. Smith, Women’s Studies: The Basics, London 2013. 9 Vgl. Ilse Lenz u. a. (Hg.), Frauenbewegungen international. Eine Arbeitsbibliographie, Opladen 1996, Kap.  4 (»Gegenwärtige Frauenbewegung«); dies. (Hg.), Die Neue Frauen­ bewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008; Bonnie G. Smith (Hg.), Global Feminisms since 1945, London 2000.

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bewegung in Deutschland, 1977 folgte das über den internationalen Feminismus und 1979 das nächste über die frauenemanzipatorischen Bestrebungen der älteren deutschen Sozialdemokratie. Die umfangreiche Dissertation der amerikanischen Historikerin Amy Kathleen Hackett über die deutschen »bourgeois feminists« wurde, wenngleich nur als Dissertationsdruck, fast ebenso einflussreich wie Evans’ Schriften. 1977 folgte Marion Kaplans eindrucksvolle Dissertation, publiziert 1979, über die deutsch-jüdische Frauenbewegung. Ebenfalls in Amerika verfasste 1978 die Deutschlandhistorikerin Jean H. Quataert zusammen mit der Frankreichhistorikerin Marilyn Boxer, die schon 1975 über die Begegnung von Sozialismus und Feminismus in der Dritten Republik promoviert worden war, ihren gemeinsamen Band über den einstigen »sozialistischen Feminismus«, und 1979 folgte Quataert mit ihrer Dissertation über die sozialistischen »Feministinnen wider Willen«.10 Auch wuchs (allerdings erst langsam) die Zahl der Werke, die systematisch komparativ vorgingen, indem sie das eigene Land mit einem anderen verglichen.11 Weitere Beispiele ließen sich nennen – besonders etwa im Vorfeld des Bicentenaire der Französischen Revolution, für den sich nicht nur Französinnen rüsteten –, und es entwickelte sich auf diese Weise ein informelles internationales Netzwerk. Dieses wurde, drittens, verstärkt durch eine wachsende Zahl von formellen internationalen Tagungen: angefangen von der zweiten Berkshire Conference on the History of Women (1974) über eine von Michelle Perrot  – neben Yvonne Knibiehler war sie die aktivste Promotorin der damaligen Frauengeschichtsbewegung in Frankreich – organisierte und in mehreren Etappen 1979–1981 stattfindende internationale Tagung in Paris und der Normandie12 bis hin zu den »Historikerinnen­ treffen« in Deutschland, Österreich und der Schweiz, an denen immer auch internationale Gäste und Beiträge präsent waren; außerdem diverse Tagungen am Europäischen Hochschulinstitut (Fiesole) seit 1985 und später, ebenfalls in Italien und großenteils inspiriert von der früh verstorbenen eindrucks­vollen 10 Richard J. Evans, The Feminist Movement in Germany 1894–1933, London 1976; ders., Sozialdemokratie und Frauenemanzipation im deutschen Kaiserreich, Berlin 1979; ders., The Feminists. Women’s Emancipation Movements in Europe, America and Australasia ­1840–1920, London 1977; Amy K. Hackett, The Politics of Feminism in Wilhelmine Germany, 1890–1918, PhD Diss. Columbia U. 1976; Marion A. Kaplan, Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904–1938, Hamburg 1981 (engl. Original: Westport, CT 1979); Marilyn Boxer, Socialism Faces Feminism in France, 1879–1913, PhD Diss. UC Riverside 1975; dies. u. Jean H. Quataert (Hg.), Socialist Women: European Socialist Feminism in the 19th and Early 20th Century, New York 1978; Jean H. Quataert, Reluctant Feminists in German Social Democracy, 1885–1917, Princeton, NJ 1979 (PhD Diss. UCLA 1975). In diesen Jahren arbeitete ich selbst über Arbeiterschaft und Frauenbewegung in den USA. 11 Etwa Wiebke Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat. Schweden und die Bundesrepublik im Vergleich 1945–2000, Frankfurt a. M. 2002; vgl. auch Anne Cova (Hg.), Histoire comparée des femmes. Nouvelles approches, Lyon 2009 (erweitert gegenüber der engl. Fassung 2006). 12 Vgl. Marie-Claire Pasquier u. a. (Hg.), Stratégies des femmes, Paris 1984; Judith Friedländer (Hg.), Women in Culture and Politics: A Century of Change, Bloomington, IN 1986.

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Historikerin Annarita Buttafuoco, die Aktivitäten der Società italiana delle Storiche. Von Bedeutung waren, viertens, Übersetzungen: Zahlreiche grundlegende Texte erschienen nicht nur in ihrer Ursprungssprache, sondern auch in anderssprachigen Zeitschriften, wurden intensiv rezipiert und konstituierten somit eine transnationale Debatte.13 Während es sich in der Frühphase weitgehend um einen transatlantischen Austausch handelte, der den Atlantik von West nach Ost überquerte, begannen Texte allmählich auch in die umgekehrte Richtung zu wandern (wobei hier die deutschen Beiträge zu Nordamerika­ studien, etwa von der früh verstorbenen Christiane Harzig, nicht eigens aufgeführt werden können).14 Und, fünftens, auch Personen wanderten: So wirkten bedeutende amerikanische Historikerinnen und Philosophinnen in Deutschland – etwa Carroll Smith-Rosenberg, Alice Kessler-Harris und Jane Flax, später Bonnie G. Smith und Ann Taylor Allen, außerdem die karibisch-amerikanische Schriftstellerin Audre Lorde – und stießen hier auf ein großes Echo.15 2. Geschlecht, Arbeit und Klasse Transnational zirkulierten nicht nur Akteurinnen, Sprachen, Interessen, sondern auch wichtige inhaltliche Ausrichtungen. Im ersten Jahrzehnt dominierte vielerorts die Frage nach dem Verhältnis von Klasse und Geschlecht, Arbeit und Armut. Joan W. Scott hat kürzlich daran erinnert, dass die Frauen- und Geschlechtergeschichte »immer parasitär« in Bezug auf die Disziplin Geschichte sei: Sie kritisiert und übernimmt zugleich und vermag sogar, jedenfalls zuweilen, jene Disziplin zu transformieren.16 In diesem Sinn verhielt sich die Frauengeschichte zu der noch jungen Sozialgeschichte »parasitär«, indem sie deren Fixierung auf ein an Männern ausgerichtetes Klassenmodell in Frage stellte und stattdessen Frauen (meist der Unter- und Mittelschichten) ins Zentrum rückte; in mancherlei Hinsicht waren auch hier Amerikanerinnen für die deutsche 13 Interessant wäre eine genauere Untersuchung zu diesem Thema. 14 Ein Vortrag von mir auf der Konferenz der National Women’s Studies Association im Jahr 1981 erschien unter dem Titel Racism and Sexism in Nazi Germany: Motherhood, Com­ pulsory Sterilization, and the State, in: Signs 8/3 (1983), S. 400–421; er wurde, neben Aufsätzen von Karin Hausen, Elisabeth Meyer-Renschhausen und Annemarie Tröger, wieder abgedruckt in: Renate Bridenthal u. a. (Hg.), When Biology Became Destiny: Women in Weimar and Nazi Germany, New York 1984, S. 271–296. 15 Bonnie G. Smith und Ann Taylor Allen lehrten in den frühen 1990er Jahren längere Zeit an der Universität Bielefeld (im Rahmen des SFB »Bürgertumsgeschichte«), Carroll Smith-Rosenberg am John F. Kennedy-Institut der FU Berlin (1976). Hier wirkte auch Audre Lorde 1984–1992; vgl. Dagmar Schultz’ Film »Audre Lorde: The Berlin Years« (2013). 1984 sprachen auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien Jane Flax zu Gender as a Problem: In and For Feminist Theory und Alice Kessler-Harris zu Women’s History, Women’s Studies, American Studies: The Cultural Connection, beide in: Amerikastudien/ American Studies 31/2 (1986), S. 193–214 u. 215–228. 16 Scott, Feminism’s History (wie Anm. 6), S. 25.

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Geschichte die Vorreiter, etwa Barbara Franzoi und Kathleen Canning.17 Das schon genannte breite Studium der »bürgerlichen« Feministinnen und der Sozialistinnen in Europa war Teil dieser Orientierung an »Klasse«. Einige Hinweise mögen genügen. Einflussreich war Gerda Lerners Studie von 1969 über »The Lady and the Mill Girl« im 19. Jahrhundert, und ähnlich wirksam waren ihre Reflexionen von 1970 über den Mittelschichts- oder »bürgerlichen« Charakter der großen amerikanischen Frauenbewegung; diese kontrastierte Lerner mit der deutschen, die sie damals für stärker sozialistisch orientiert hielt.18 Kaum weniger einflussreich war das Werk von T ­ homas Dublin, der damals die Frauen im amerikanischen Industrialisierungsprozess studierte.19 Richard Evans’ Werke etablierten Deutschland als den (so glaubte man damals) international paradigmatischen Fall von hochgradig antagonistischen Be­ziehungen zwischen »bürgerlichen« Feministinnen und sozialistischen Frauen. Durchaus anders verfuhr das erste breit rezipierte Frauengeschichtsbuch, das 1983 von Karin Hausen herausgegeben wurde und ebenfalls vorwiegend Klassendifferenzen unter Frauen (Bauernmägde, Arbeiterinnen, Dienstmädchen, Beamtenfrauen), klassenspezifische Frauenarbeit und Frauenbewegungen behandelte; und Hausens wegweisende Analyse der polarisierten Geschlechts­charaktere (1976) hatte dieses Phänomen explizit dem Bürgertum zugeschrieben.20 In Großbritannien entstand die Frauengeschichtsbewegung in engster Verbindung mit der History Workshop-Bewegung und der sozialistischen, später sozialistisch-feministischen Zeitschrift »History Workshop«; dementsprechend stand auch hier die Frage nach klassenbezogenen Geschlechterverhältnissen im Zentrum, und auch in Deutschland wurde dies rezipiert.21 Eine Parallele dazu findet sich in Frankreich mit der Zeitschrift »Le mouvement social«, und in der griechischen Geschlechterhistoriographie blieb die Frage nach »Klasse« ein dauerhafter Schwerpunkt.22

17 Vgl. Barbara Franzoi, At the Very Least She Pays the Rent. Women and German Industrialization, 1871–1914, Westport, CT 1985; Kathleen Canning, Languages of Labor and Gender: Female Factory Work in Germany, 1850–1914, Ithaca, NY 1996. 18 Gerda Lerner, The Feminists: A Second Look (1970/1979); dies., The Lady and the Mill Girl (1969), beide in: dies., The Majority finds its Past, New York 1979. 19 Vgl. Thomas Dublin, Women at Work. The Transformation of Work and Community in Lowell, Massachusetts, New York 1979 (19942). 20 Hausen (wie Anm. 3); dies., Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«: Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, jetzt in: dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 19–49. 21 Vgl. z. B. Logie Barrow u. a. (Hg.), Nichts als Unterdrückung? Geschlecht und Klasse in der englischen Sozialgeschichte, Münster 1991. 22 Vgl. Efi Avdela, Le genre entre classe et nation. Essai d’historiographie grecque, Paris 2006; dies., L’histoire des femmes au sein de l’historiographie grecque contemporaine, in: Gisela Bock u. Anne Cova (Hg.), Écrire l’histoire des femmes en Europe du Sud: XIXe-XXe siècles/ Writing Women’s History in Southern Europe, 19th-20th Centuries, Oeiras 2003.

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3. Geschlecht und »Rasse« Im zweiten Jahrzehnt und weit darüber hinaus, seit den 1980er Jahren, dominierte vielerorts eine zweite thematische Ausrichtung: das Verhältnis von Geschlecht und »Rasse«. Seit Beginn der Historischen Frauenforschung in den Vereinigten Staaten war nicht nur die Frage nach Klassendifferenzen, sondern auch nach Rassendifferenzen zwischen Frauen machtvoll aufgeworfen worden, manchmal von »weißen« Historikerinnen wie Gerda Lerner,23 doch häufiger und insistierender von afro-amerikanischen Historikerinnen, denen zufolge die Frauenforschung ebenso wie die Frauenbewegung von »weißen MittelklasseFeministinnen« beherrscht werde. »Black women’s history«, so wurde gefordert, solle nicht nur als Spezialthema anerkannt werden, »but as an integral part of Afro-American, American, and women’s history.«24 Ihren Platz reklamierten diese Historikerinnen zwischen der afro-amerikanischen Geschichte (bzw. der damaligen Bewegung für »black studies«), die gewöhnlich die Geschlechts­ zugehörigkeit ausklammerte, und der Frauengeschichte, die umgekehrt dasselbe mit der Rassenzugehörigkeit tat. »Rasse« beziehungsweise Rassenzugehörigkeit sollte ihrer Ansicht nach als historische Kategorie aufgegriffen, gar ins Zentrum gestellt werden. Die Rezeption dieser Perspektive blieb längst nicht nur auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Vor allem zwei weitere Dimensionen sind hier zu nennen: Zum ersten ist es die Historiographie zum Nationalsozialismus, wo die Kategorie »Rasse«, genauer: wo Rassismus, Antisemitismus und der Holocaust bis dato eine allzu bescheidene Rolle gespielt hatten – außer unter Historikern jüdischer Herkunft. Doch seit den 1980er Jahren rückten Rassenpolitik und Holocaust in der Geschlechtergeschichte des 20. Jahrhunderts ins Zentrum (ebenso wie in der geschlechterneutralen Historiographie: Auch hier war das, mit Joan Scott zu sprechen, »parasitäre« Verhältnis zwischen den beiden Blickweisen deutlich). Der dritte Bereich, in dem das Konzept »Rasse« und seine Interaktion mit Geschlecht seit den 1980er Jahren in den Vordergrund rückte, war das Aufkommen einer neuen, postkolonialen Imperialismusgeschichte und der Frage nach dem Verhältnis von »gender and empire«, von der einige Dimensionen im letzten Kapitel dieses Bands umrissen werden sollen. Unter nationalsozialistischer Herrschaft wurden die Unterschiede zwischen Frauen (und zwischen Männern) nach »rassischem Wert« bestimmt und wurden so scharf wie der Unterschied zwischen Leben (für die »Hochwertigen«) und Tod (für Jüdinnen und manche anderen Gruppen). Eine Geschlechter23 Zu Lerners zahlreichen Studien über afro-amerikanische Frauen vgl. das vorletzte Kapitel in diesem Band. Ähnlich wie Lerner setze ich hier den Begriff »Rasse« in Anführungs­ zeichen, weil er im Deutschen aus bekannten historischen Gründen nur schwer benutzbar ist (anders als in den USA). 24 Evelyn Brooks Higginbotham, Beyond the Sound of Silence: Afro-American Women’s History, in: G&H 1/1 (1989), S. 50–67, Zitat S. 50.

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geschichte des Holocaust entstand, vorwiegend getragen von Historikerinnen jüdischer Herkunft, seit 1983 in den Vereinigten Staaten, bald auch in der Bundesrepublik und spätestens seit 1995 in Israel.25 Auch ich habe mich 1978 der Interaktion von Geschlecht und »Rasse« im Nationalsozialismus zugewandt, vor allem mit Blick auf weibliche Zwangsarbeiter und die Politik der Zwangssterilisation (»Hitlerschnitt« wurde diese einst genannt, im Kontrast zum »Kaiserschnitt«). Nicht zuletzt inspirierten mich die US-amerikanischen Forschungen über rassistischen Missbrauch von Sterilisation und Abtreibung in Vergangenheit und Gegenwart. Damals war ich noch erstaunt zu erfahren, dass in den USA um 1930 ernsthaft diskutiert wurde, zehn Millionen Amerikaner zu sterilisieren, notfalls zwangsweise (hatte uns nicht »der« Feminismus gelehrt, dass Frauen zum Kinderkriegen abgerichtet werden?).26 Und unvergessen blieb dann der Satz, der in einer heftigen Diskussion während der »Sommeruniversität für Frauen« in Berlin 1976 gefallen war und dessen politische Untertöne noch lange, auch in akademischen Forschungen, fortschwingen sollten: »Wer im Faschismus Kinder macht, ist eine Faschistin!« Innerhalb von zweieinhalb Jahrzehnten wurde in diesem Feld eine große Bandbreite von geschlechtergeschichtlichen Themen aufgerollt, einschließlich – und für viele an erster Stelle – der Frage nach den »Täterinnen« oder, in jenen Worten, »Faschistinnen«. Aus unterschiedlichen Fragestellungen erwuchsen vielfältige Themen, »multiple stories« und »widerstreitende Geschichten«, deren Präsentation zuweilen zu heftiger, wissenschaftlich nicht immer fruchtbarer Polemik führte.27 So wurde mir der – gänzlich abwegige – Vorwurf gemacht, ich hielte, weil ich die Nazi-Steri­ lisationspolitik untersucht habe, sämtliche Frauen für Opfer des National­ 25 Vgl. Esther Katz u. Joan Miriam Ringelheim (Hg.), Women Surviving the Holocaust: Conference Proceedings, New York 1983; Sybil Milton, Women and the Holocaust: The Case of German and German-Jewish Women, in: Carol Rittner u. John K. Roth (Hg.), Different­ Voices: Women and the Holocaust, New York 1993, S. 213–249 (Erstdruck in: Bridenthal u. a. wie Anm. 14], gekürzte dt. Fassung in: Dachauer Hefte 3 [1987]); Dalia Ofer u. ­Lenore J.  Weitzman (Hg.), Women in the Holocaust, New Haven, CT 1998; Marion A. Kaplan, Between Dignity and Despair. Jewish Life in Nazi Germany, New York 1998 (dt.: Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland, Berlin 2001); Gisela Bock, Frauen im Holocaust. Einführung zu dies. (Hg.), Genozid und Geschlecht. Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem, Frankfurt a. M. 2005. 26 Vgl. z. B. Linda Gordon, Woman’s Body, Woman’s Right. A Social History of Birth Control in America, New York 1976, S. 311; dies., The Politics of Population: Birth Control and the Eugenics Movement, in: Radical America 8 (1974), S. 61–97; Committee for Abortion Rights and Against Sterilization Abuse (Hg.), Women Under Attack: Abortion, Sterilization Abuse, and Reproductive Freedom, New York 1979; Allan Chase, The Legacy of Malthus. The Social Costs of the New Scientific Racism, New York 1977. »Hitlerschnitt«: Richard Grunberger, Das zwölfjährige Reich. Der deutsche Alltag unter Hitler, Wien 1971, S. 344. 27 Zur Einführung: Birthe Kundrus, Widerstreitende Geschichte. Ein Literaturbericht zur Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus, in: Neue Politische Literatur 45 (2000), S. ­67–92; Ulrike Weckel u. a., Einleitung zu: Kirsten Heinsohn u. a. (Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a. M. 1997, S. 7–23.

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sozialismus.28 Deutlich genug war indessen, dass ich hier über »die Frauen« gar nicht geschrieben hatte, sondern über die antinatalistische Politik der Geburtenverhinderung in ihrem Kontext, der von der Geburtenpolitik bis zum Genozid reichte, und eben deshalb mehr über Männer als über Frauen schreiben musste, genauer: über Opfer wie Täter beiderlei Geschlechts. Dieser Band nimmt beides auf: einen Text über die Politik der Geburtenverhinderung und einen über »die«, die »ganz normalen« Frauen. Meine Erkenntnisinteressen waren, »vergessene Opfer« (und damit auch Täter) sichtbar zu machen; die Opfer nicht nur »als Opfer« zu zeigen, sondern auch als Handelnde und Sich-Wehrende, außerdem in ihrer Vielfalt (trotz ihrer stereotypen Nazi-Etikettierung); den Begriff »Frauen« von seiner jahrzehntelangen Reduzierung auf die Angehörigen der »rassischen« Mehrheit (also »deutschblütige und erbgesunde«) zu lösen und somit die »Anderen«, Frauen wie Männer, einzubeziehen oder gar ins Zentrum zu stellen. Auch hier lernte ich von Natalie Zemon Davis, die eine Sicht »von den Rändern der Gesellschaft« her praktizierte und randständige Menschen ins Zentrum rückte. Manchen schienen jene Anliegen irrrelevant oder gar moralisch-politisch verwerflich; andere wollten nicht akzeptieren, dass der alte Mythos von der nationalsozialistischen Geschlechterpolitik als »Pronatalismus und Mutterkult« abgesetzt werden muss; denselben oder anderen erschienen meine Anliegen als Gegensatz zu dem Interesse an »Täterinnen« (aber gibt es Täter ohne Opfer?). Bezüglich solcher, oft recht diffuser »Täterschaft« (sie reicht von manifesten Verbrechen über Mutterschaft bis zu der einst gänzlich anders konnotierten »agency«) stellte sich allerdings bald heraus, dass ihr Merkmal keineswegs darin bestand, dass sie »im Faschismus Kinder gemacht« oder gehabt hätten. Der weithin exklusive Fokus auf »Täterinnenforschung« führt inzwischen oft zu einem Narrativ, das die Verfolgten erneut unsichtbar macht. Dass sie aus Sprache und Begrifflichkeit geradezu ausgeklammert werden, und zwar unter dem Titel »Nationalsozialismus und Geschlecht«, wird zuweilen mit ebenso wünschens- wie beklagenswerter Deutlichkeit formuliert: »Mit Frauen sind im Folgenden deutsche nichtjüdische Frauen gemeint.« Denn: »Die diffusen Vorstellungen, die im deutschen Faschismus von ›der jüdischen Frau‹ herrschten, bedürften darum einer gesonderten Betrachtung.«29 Wirklich Sonderbehandlung? »Jüdische Frauen« keine Frauen und »Frauen« keine jüdischen? Opfer-Geschichte als bloße Minderheiten-Geschichte und nicht, wie es einst für die afro-amerikanische Frauengeschichte gefordert worden war, als »integraler Bestandteil« der deutschen bzw. deutsch-jüdischen Geschichte? Nach wie vor, wenn auch mit einer zunehmenden Zahl von 28 Die einschlägige Literatur ist leicht zu finden, und die Behauptung findet sich zuweilen bis heute. Vgl. dagegen z. B. den Beitrag »Ganz normale Frauen« in diesem Band, bes. Anm. 64; Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, München 2000 (20052), Kap. V. 29 Weil sie »diffamierend« gewesen seien: Elke Frietsch u. Christina Herkommer, Nationalsozialismus und Geschlecht: eine Einführung, in: dies. (Hg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945, Bielefeld 2009, S. 9.

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Ausnahmen, bleibt »die Distanz deutscher Historikerinnen zur Problematik des Judaeozids auffallend«, jedenfalls im Rahmen der Geschlechtergeschichte, und dasselbe gilt für die Geschichte von Roma-Frauen.30 ✳ ✳ ✳

Die beiden Studien zum Nationalsozialismus in diesem Band stehen an der Seite von zweien, die andere Länder und weitestgehend kontrastierende Verhältnisse betreffen: die Vereinigten Staaten und die europäischen Sozialstaaten im späten 19. und 20. Jahrhundert. Voran gehen die beiden schon genannten methodischen Beiträge, an denen sich die heutige Nähe oder Ferne der Geschlechtergeschichte zu ihren Anfängen messen lässt. Zwei begriffsgeschichtliche Untersuchungen  – über den französischen Begriff »Querelle des femmes« in der Frühen Neuzeit und den deutschen Begriff »Frauenemanzipation«, der sich im 19. Jahrhundert entfaltete – präsentieren »multiple voices« (Natalie­ Zemon Davis), Frauen- wie Männerstimmen, in einer jahrhundertelangen europäischen Debatte. Schließlich untersuchen drei teils vergleichende, teils transnational vorgehende Texte – über die späte Wiederentdeckung von Olympe de Gouges sowie über die vielfältigen Wege zum Frauenwahlrecht – das Denken und Handeln von Menschen, welche die Geschlechterordnungen ihrer Zeit in Frage stellten. Ein Rückblick auf das Wirken von Gerda Lerner, der großen amerikanischen Mitschöpferin, Akteurin und Promotorin der Historischen Frauenforschung, und ein Ausblick auf transnationale und transkontinentale Forschungsrichtungen schließen den Band ab. Ungeachtet der Unterschiedlichkeit dieser Themen sind diese Studien für mich durch viele Fäden miteinander verwoben, die vielleicht auch den Leserinnen und Lesern deutlich werden.

30 Kundrus (wie Anm. 27), S. 68. Ähnliches zeigen Susanne Lanwerd u. Irene Stoehr, Frauenund Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren, in: Johanna Gehmacher u. Gabriella Hauch (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen, Innsbruck 2007, S. 22–68, hier S. 39–41, 46 f. Ausnahmen sind Barbara Distel (Hg.), Frauen im Holocaust, Gerlingen 2001; Linde Apel, Jüdische Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück 1939–1945, Berlin 2003; Bock (wie Anm. 25). Vgl. auch Kirsten Heinsohn u. Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte als Geschlechtergeschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2006. Vgl. ferner Theresia Seible, »Aber ich wollte vorher noch ein Kind«: Zwangssterilisation von Zigeunerinnen im Nationalsozialismus, hg. v. Gisela Bock, in: Courage 6/5 (1981), S. 21–24. Der Text entstand als Vortrag in einer meiner Lehrveranstaltungen (neben Vorträgen z. B. von Krystyna Zywulska und Margarete Buber-Neumann) und wurde zwar gern nachgedruckt, aber es wurde kaum mehr zu Roma-Frauen geforscht.

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Entwürfe

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Frauengeschichte und Geschlechtergeschichte: Aspekte einer internationalen Debatte✳

Noch vor wenigen Jahren war die Frage »Gibt es eine Geschichte von Frauen?« weit entfernt davon, bloß eine rhetorische zu sein. Denn die herkömmliche Historiographie hat Frauen nicht nur versehentlich, sondern oft auch programmatisch von der »allgemeinen« Geschichte ausgeschlossen.1 Inzwischen ist die Frage teilweise durch eine wachsende Forschung beantwortet worden, außerdem durch die – wenngleich noch bescheidene – Auswirkung der Frauen­ geschichtsschreibung und die ihrer Akteurinnen und Akteure auf die historische Profession. Mehrere anerkannte historische Zeitschriften in den Vereinigten Staaten, in der Schweiz, in Italien, Schweden und Dänemark haben sogar den doppelten Schritt gewagt, der Frauengeschichte und einer neuen Generation von Historikerinnen eigene Hefte zu widmen.2 Es wurde entdeckt, dass Frauengeschichte nicht erst in den letzten zwei Jahrzehnten aufgekommen ist, sondern dass es eine lange Tradition von Historikerinnen gegeben hat, welche die Geschichte von Frauen erforschten – eine Tradition, die von dem akademischen Establishment der historischen Profession ausgelöscht oder in den Hintergrund gedrängt worden war.3 Die Suche nach der Geschichte von Frauen hat ✳

Dieser Text (hier erstmals auf Deutsch) erschien in G&H 1/1 (1989), S. 7–30. Die einst sehr breiten Anmerkungen sind stark gekürzt. Ich danke den beiden Herausgeberinnen Leonore Davidoff und Nancy Hewitt, außerdem Liana Borghi, Jan Lambertz, Irmela von der Lühe, Lyndal Roper und Valeria Russo. Der Text geht zurück auf einen Beitrag zum 3. westdeutschen Historikerinnentreffen, Bonn 1981. 1 Vgl. Carl N. Degler, Is There a History of Women?, Oxford 1975; Michelle Perrot (Hg.), Une histoire des femmes est-elle possible?, Paris 1984. Laut Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, München 1925 (19111), S. 6 f., hatte Boccaccio mit seinen Frauenbiographien (De claris mulieribus) »das Gebiet der Geschichte überhaupt verlassen« (S. 6 f.). 2 Vgl. AHR 89/3 (1984); Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 34/3 (1984); Quaderni storici 44 (1980); Historisk tidsskrift 3 (1980) und 1 (1987); Den jyske Historiker 18 (1980); Historievidenskab 21 (1980). 3 Kathryn K. Sklar, American Female Historians in Context, 1770–1930, in: FS 3/1–2 (1975), S. 171–184; Natalie Z. Davis, Gender and Genre: Women as Historical Writers, 1400–1820, in: Patricia H. Labalme (Hg.), Beyond Their Sex: Learned Women of the European Past, New York 1980, S. 153–182; Bonnie G. Smith, The Contribution of Women to Modern Historiography in Great Britain, France, and the United States, 1750–1940, in: AHR 89 (1984), S. 709– 732; Joan Thirsk, Foreword, in: Mary Prior (Hg.), Women in English Society 1500–1800, London 1985, S. 1–21; Karen Offen, The Beginnings of »Scientific« Women’s History in France 1830–1848, in: Proceedings of the 11th Annual Meeting of the Western Society for French History, Lawrence, KS 1984, S. 255–271.

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Reflexionen darüber gefördert, wie eine solche Geschichte aussehen könnte, welche Implikationen sie für die übrige Historiographie hat und was ihr Verhältnis zu einer wahrhaft allgemeinen Geschichte sein sollte: eine Geschichte, in der Frauen und Männer gleichermaßen einen Platz haben. Die Suche danach, »der Geschichte die Frauen wiederzugeben« (»restoring women to history«) führte bald zu Bemühungen, »den Frauen die Geschichte wiederzugeben« (»restoring history to women«).4 Frauen und die weibliche Erfahrung haben eine Geschichte, die  – auch wenn sie von der Geschichte der Männer nicht unabhängig ist – gleichwohl eine Geschichte eigener Art ist, von Frauen als Frauen. Um sie zu erforschen, mussten die Hierarchien zwischen dem, was als historisch wichtig und unwichtig gilt, umgekehrt werden. Untersucht und neu bewertet wird, was Frauen getan haben, tun sollten und tun wollten. Ungeachtet der zahlreichen, heterogenen und oft auch kontroversen Ergebnisse dieser Forschungen können zwei gemeinsame Merkmale festgehalten werden, auf die Maïté Albistur hingewiesen hat: »Ohne Zweifel ist der Verlauf der Geschichte von Frauen nicht weniger komplex als derjenige der Männergeschichte. Aber wir können heute davon ausgehen, dass die Zeit, wie sie vom weiblichen Teil  der Menschheit gelebt worden ist, nicht denselben Rhythmen folgt und nicht auf dieselbe Weise wahrgenommen wird wie bei der Geschichte von Männern.«5 Die Geschichte von Frauen gleicht derjenigen von Männern insofern, als sie ebenso vielfältig und kompliziert ist und nicht geradlinig, logisch oder einheitlich verläuft. Gleichzeitig aber ist sie anders als die Männergeschichte; eben wegen dieses »Anders«-Seins verdient sie, erforscht zu werden – und das mag nicht nur die Inhalte der historischen Erfahrung betreffen, sondern auch die Erfahrung von historischer Zeit. Der eigenständige Charakter der Frauengeschichte, ihr »Anders«-Sein im Verhältnis zur Geschichte von Männern, bedeutet nicht, dass sie weniger wichtig oder bloß ein »besonderes« oder »frauenspezifisches« Problem wäre; zu Unrecht werden Frauen oft als bloßer »Sonderfall« gesehen. Vielmehr müssen wir 4 Joan Kelly-Gadol, The Social Relation of the Sexes: Methodological Implications of Women’s History, in: Signs 1 (1976), S. 809–824, Zit. S. 809. 5 Maïté Albistur, Catalogue des archives Marie Louise Bouglé à la Bibliothèque historique de la ville de Paris, Typoskript, S. 2. Wichtige Überblicke sind Natalie Z. Davis, »Women’s His­ arroll tory« in Transition: The European Case, in: FS 3/3–4 (1976), S. 83–103; Berenice A. C (Hg.), Liberating Women’s History, Urbana 1976, S.  400–430; Susan C. Rogers, Woman’s Place: A Critical Review of Anthropological Theory, in: CSSH 20 (1978), S. 1223–1262; Jane Lewis, Women Lost and Found: The Impact of Feminism on History, in: Dale ­Spender (Hg.), Men’s Studies Modified: The Impact of Feminism on the Academic Disciplines, Oxford 1981, S. 55–72; Nancy A. Hewitt, Beyond the Search for Sisterhood: American Women’s History in the 1980s, in: SH 10 (1985), S. 299–321; Karin Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, München 1983; Ute Frevert, Be­ auphin wegung und Disziplin in der Frauengeschichte, in: GG 14 (1988), S. 240–262; Cécile D u. a., Culture et pouvoir des femmes: essai d’historiographie, in: Annales E. S. C. 41 (1986), S. ­271–293.

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erkennen, dass einerseits die allgemeine Geschichte bisher im Wesentlichen eine männer-spezifische war und, andererseits, dass die Geschichte von Frauen als genauso allgemein wie diejenige des »anderen« Geschlechts gelten muss. Überdies soll die Unterscheidung zwischen Frauen- und Männergeschichte keineswegs implizieren, dass die Geschichte für alle Frauen identisch wäre: vielmehr haben keineswegs alle Frauen dieselbe Geschichte. Das Bewusstsein vom Anders-Sein, den Unterschieden, der Ungleichheit zwischen weiblicher und männlicher Geschichte wurde ergänzt durch ein Bewusstsein und die historische Erforschung vom Anderssein, den Unterschieden und den Ungleichheiten unter den Frauen selbst. In diesem Sinn widmete Memoria, die italienische Zeitschrift für Frauengeschichte, eines ihrer Hefte dem Thema »piccole e grandi diversità« (kleine und große Unterschiede).6 Die Unterschiedlichkeit weiblicher Erfahrungen und Situationen, die zutage gefördert worden ist, ergab sich unter anderem aus dem Umstand, dass die Frauengeschichtsschreibung sich auf so gut wie alle Bereiche der Gesellschaft bezieht: auf solche, wo es nur Frauen gibt (etwa Frauenorganisationen, Frauenkultur, moderne Hausarbeit), wo Frauen die Mehrheit stellen (beispielsweise Hexenverfolgung oder Armenpflege), wo es ebenso viele Frauen wie Männer gibt (Familien, Sexualbeziehungen, Klassen, ethnische Minderheiten), wo Frauen gegenüber Männern eine Minderheit sind (etwa Fabrikarbeit oder Geschichtsschreibung) und solche Bereiche, wo sie gänzlich abwesend waren (etwa das »allgemeine« Wahlrecht im neunzehnten und in großen Teilen des zwanzigsten Jahrhunderts). Mit anderen Worten: die Geschichte der Frauen kann nur im Plural, nicht im Singular erfasst werden, aber ihre Variationen stehen im Kontext der komplexen Geschichte des gesamten weiblichen Geschlechts. Frauengeschichtsschreibung hat sich aller historiographischer Methoden und Herangehensweisen bedient, einschließlich biographischer, anthropologischer, Wirtschafts-, Politik-, Kultur-, Ideen- und Mentalitätsgeschichte, ebenso wie spezifisch sozialgeschichtlicher Methoden wie Mobilitätsstudien, historische Demographie oder Familiengeschichte.7 In der Tat liegt die Originalität der Frauen- und Geschlechtergeschichte nicht so sehr in ihren Methoden oder in irgendeiner einzelnen Methode, als vielmehr in ihren Fragestellungen und Perspektiven. Wie in der übrigen Geschichtsschreibung sind Fragen und Perspektiven nicht neutral, und ihre Wahl gründet sich auf vorausgehende, bewusste oder unbewusste, politische oder theoretische Entscheidungen; in Bezug auf sie beginnen die Quellen zu uns zu sprechen. Frauengeschichtsschreibung ist beeinflusst von feministischer Erfahrung und feministischem Denken, oft auch von dem Wunsch, zu sozialem Wandel beizutragen. Solche Motive können eine Quelle der Erkenntnis sein, aber 6 Memoria: Rivista di storia delle donne 2 (1981). 7 Zum letzteren vgl. Louise A. Tilly, Women’s History and Family History: Fruitful Collaboration or Missed Connection?, in: JFH 12 (1987), S. 303–315; Barbara Caine, Family History as Women’s History: The Sisters of Beatrice Webb, in: FS 12 (1986), S. 294–319.

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auch – historiographisch gesehen – eine Schwäche, vor allem dann, wenn heutige Ideale und Werte schlicht in die Vergangenheit zurückprojiziert werden, also einen Anachronismus darstellen. Zu Recht warnte uns eine Historikerin, dass wir der Berufsblindheit so mancher Historiker erliegen können, wenn wir die Vergangenheit bloß als eine Funktion oder ein Instrument der Gegenwart sehen und somit »einen wahrhaften Dialog mit den Frauen der Vergangenheit« verhindern.8 Diese Vielfalt von Situationen und von Methoden mag ein Beispiel illustrieren, das Unterschiede zwischen der Geschichte von Frauen und von Männern ebenso wie unter Frauen selbst verdeutlicht. Im frühneuzeitlichen Italien, vor allem im 16. und 17. Jahrhundert und in Zeiten von Wirtschaftskrise, Epidemien und städtischer Überbevölkerung, entstanden neue Formen der Armenpflege. Bisher sah man dies als ein grand renfermement, eine »große Einsperrung« (Foucault), welche die Grundlage für den Aufstieg des Kapitalismus und der dafür nötigen männlichen Arbeitskraft legte, indem diejenigen, die wirklich oder angeblich die Arbeit verweigerten, terrorisiert oder als »unwürdige Arme« stigmatisiert wurden. Bei näherem Hinsehen wurde jedoch deutlich, dass die große Mehrzahl derer, die eingeschlossen wurden, Frauen waren – und zwar solche, die traditionell zu den »würdigen Armen« gezählt wurden. Und viele jener Institutionen blieben bald ausschließlich Frauen vorbehalten, so etwa das Ospedale dei Mendicanti in Florenz. Während männliche Armut, vor allem männliches Betteln, als Arbeitsverweigerung betrachtet wurde, wurden weibliche Armut und weibliches Betteln als Verlust oder drohender Verlust »weiblicher Ehre« definiert. Dieser onore femminile wurde als sexuelle Integrität verstanden und somit an einem sozialen Kriterium gemessen, das auch für alle anderen Frauen galt.9 Ein zunehmend differenziertes Netz von klosterähnlichen Institutionen wurde in Städten etabliert, wo »irreguläre« Frauen – geschlagene, eheverlassene und aufsässige Ehefrauen, Ehebrecherinnen, einstige Prostituierte, Witwen, Greisinnen, Waisen und Töchter armer Eltern – Schutz suchten oder für unterschiedlich lange Zeit zwangsweise untergebracht wurden. Oft und besonders im Fall junger Frauen nahm die Anstalt nur solche auf, die man für schön hielt, denn die sexuelle Ehre von verkrüppelten, kranken oder hässlichen Frauen schien nicht bedroht zu sein: »Arme Mädchen, die keine andere Mitgift oder Unterstützung als ihre Schönheit haben« – so notierte ein Autor im Jahr 1674 –, sollten nicht »ihr einziges Kapital, ihre Keuschheit, zu einem elenden Preis verkaufen müssen, bloß um einen einzigen Tag zu überleben.«10 Aufgabe dieser In 8 Gianna Pomata, Comment, in: La ricerca delle donne, Turin 1987, S. 119–120. 9 Hierzu und zum Folgenden vgl. inzwischen Gisela Bock, Frauenräume und Frauenehre: Frühneuzeitliche Armenfürsorge in Italien, in: Karin Hausen u. Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M. 1992, S. 25–49. 10 Zit. in: Luisa Ciammitti, Quanto costa essere normali. La dote nel Conservatorio femminile di Santa Maria del Baraccano (1630–1680), in: Quaderni storici 53 (1983), S. 469–498, Zitat S. 470.

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stitutionen war es, die weibliche Ehre zu erhalten oder wiederherzustellen – deshalb hießen sie conservatori –, indem sie die Familie ersetzten, die üblicherweise als Beschützerin der Ehre fungierte. Außerdem sollten sie den Bewohnerinnen helfen, Mittel für die Rückkehr in ein normales Leben zu finden: eine Mitgift für eine Eheschließung oder den Eintritt in ein Kloster oder die Unterstützung bei der Suche nach einer Stelle als Dienstmädchen. In Florenz stellten im Jahr 1632 Frauen drei Viertel der Bewohner sämtlicher Armenpflege-Institutionen, und ihre Zahl betrug ein Zwanzigstel der weiblichen Bevölkerung. Insgesamt war die weibliche Erfahrung von Armut und Armenpflege eine andere als die von Männern, und sie betraf nicht alle Frauen, sondern eine Minderheit. Und doch stand die Erfahrung dieser weiblichen Minderheit in engem Bezug zum Bild und der Realität des weiblichen Geschlechts insgesamt.

Geschlecht als soziale, kulturelle, historische Kategorie Ausgangspunkt für viele Überlegungen zum Verhältnis der Geschichte von Frauen zu der von Männern und zur »Geschichte überhaupt« war die Fest­ stellung, dass Frauen die Hälfte der Menschheit sind und in manchen Ländern und Zeiten auch mehr als die Hälfte; ein einflussreicher Beitrag trug dem­ entsprechend den Titel »The Majority Finds Its Past«.11 Methodisch gewendet, ergibt sich aus jener Feststellung der folgende Grundsatz: Frauengeschichte von der allgemeinen Geschichte abzutrennen, ist nicht weniger problematisch, als die Geschichte von Männern – und erst recht die wirklich allgemeine Geschichte  – von der Frauengeschichte getrennt zu sehen. Und das wiederum heißt: Frauengeschichte betrifft nicht nur die halbe Menschheit, sondern die ganze. Im Zuge der Bemühungen, die Geschichte der einen Hälfte auf die der anderen Hälfte und beide Hälften auf »Geschichte überhaupt« zu beziehen, war wohl der wichtigste Schritt derjenige, Frauen als sozialkulturelle Gruppe: nämlich als Geschlecht zu konzipieren, wodurch dann auch Männer als Geschlechtswesen sichtbar werden. Daraus folgt, dass es bei der neuen Perspektive nicht bloß um Frauen und Frauenfragen geht, sondern um sämtliche historische Fragen.12 Seit Mitte der 1970er Jahre wurde Geschlecht (gender, genre, genere, geslacht) als grundlegende Kategorie sozialer, kultureller und historischer Realität, Wahrnehmung und Forschung eingeführt, wenngleich die neue Terminologie, die in manchen Sprachen eine Verschiebung von einem grammatischen zu einem umfassenden soziokulturellen Konzept bedeutet, in verschiedenen Sprachen

11 Vgl. Gerda Lerner, The Majority Finds Its Past: Placing Women in History, New York 1979. 12 Vgl. dazu etwa Elizabeth Grosz, What is Feminist Theory?, in: Carole Pateman u. Elizabeth Grosz (Hg.), Feminist Challenges, Sydney 1986, S. 194.

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unterschiedliche semantische und kulturelle Konnotationen trägt.13 Einer der wichtigsten Gründe für die Einführung von »Geschlecht« in diesem weiteren Sinne und – im Amerikanischen und Englischen – für die überaus rasche Aus­ breitung von gender anstelle des traditionellen sex (sowie schließlich für die internationale Verbreitung des englischen gender, das in zahlreiche andere Sprachen integriert wurde) lag in dem Insistieren darauf, dass Frauengeschichte und Frauenstudien nicht reduziert werden dürfen auf Geschlecht (sex) im Sinn von Sexualität (»Geschlechtswesen«), sondern dass sie alle Bereiche der Gesellschaft umfassen, einschließlich der gesellschaftlichen Strukturen. Somit impliziert das neu verstandene Konzept »Geschlecht« (bzw. gender), dass die »allgemeine Geschichte« auch als Geschichte der Geschlechter gesehen werden muss: als Geschlechtergeschichte (gender history, storia di genere oder storia sessuata, histoire sexuée oder histoire genrée). Im gleichen Maß, wie das Bedürfnis zur Erforschung von Geschlecht für viele Menschen selbstverständlich wurde, konnten Geschlecht bzw. die Geschlechter nicht mehr als Selbstverständlichkeit gelten: nicht mehr als vor­ gegebene sogenannte Tatsache oder apriorische Gegebenheit. Es ist deutlich geworden, dass die Begriffe, die Voraussetzungen und die Konsequenzen einer geschlechtergeschichtlichen Sichtweise neu entworfen, erforscht und ausge­ arbeitet werden müssen, denn sie gehörten bis vor kurzem nicht zum selbst­ verständlichen Vokabular der Historiographie. So kommt in dem fundamentalen Werk Geschichtliche Grundbegriffe neben  – beispielsweise  – »Arbeit«, »Rasse«, »Revolution« das Stichwort »Geschlecht« nicht vor, ebenso wenig wie »Frau« und erst recht nicht das Stichwort »Mann«. Und ungeachtet jahrtausendealter philosophischer Spekulationen über die Geschlechter kommt im Historischen Wörterbuch der Philosophie »Geschlecht« ebenfalls nicht vor, während unter »Geschlechtlichkeit« Zellplasma, Gene und Hormone aufgeführt werden.14 Doch beides – die Auslassung von Geschlecht und seine Reduktion auf scheinbar Naturwissenschaftliches oder »Biologisches« – wird von der frauenund geschlechtergeschichtlichen Forschung verworfen. Wir haben, erstens, zu sehen gelernt, dass einerseits alle uns bekannten Gesellschaften geschlechterbestimmte Bereiche, Verhaltensweisen, Tätigkeiten kennen und dass überall geschlechterbestimmte Differenzierungen existieren. Aber andererseits sind deren konkrete Manifestationen nicht überall gleich, sie sind also nicht universal. 13 Vgl. Joan W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: AHR 91 (1986), S. 1053–1075; Gisela Bock, Historische Frauenforschung: Fragestellungen und Perspektiven, in: Hausen, Frauen (wie Anm. 5), S. 22–60, hier S. 33–46; Paola di Cori, Dalla storia delle donne a una storia di genere, in: RSC 16 (1987), S. 548–559, bes. S. 554–557. Das deutsche Geschlecht bezeichnet die grammatische ebenso wie die körperliche Dimension sowie psychische und soziale Aspekte, aber auch Generation und Generationenfolge bzw. Abstammung; »Menschengeschlecht« entspricht dem Begriff »human race« oder »humankind«. Zum Französischen vgl. jetzt Françoise Thébaud, Écrire l’histoire des femmes et du genre, Lyon 2007. 14 Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1974, S. 443.

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Die Variationen in der Stellung des weiblichen Geschlechts sind ebenso vielfältig wie die in der Stellung des männlichen, und der konkrete Inhalt davon, eine Frau oder ein Mann zu sein, ist historisch und kulturell höchst variabel. Zweitens haben wir zu trennen gelernt zwischen der Frage nach der geschlechterbestimmten Differenzierung und der Frage nach der geschlechterbestimmten Hierarchie, also dem Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen. Nicht immer und nicht notwendig sind die Differenzierung und die Hierarchie miteinander verbunden oder gar identisch  – so bedeutet z. B. eine geschlechter­ spezifische Arbeitsteilung nicht per se eine geschlechterspezifische Verteilung von Macht und Ressourcen. Drittens hat man sehen gelernt, dass die Wahrnehmung der Forscher und Forscherinnen, die meist westeuropäisch-nordamerikanischer Herkunft sind, oft geprägt ist von dem Geschlechterverhältnis ihrer Herkunftskultur, von dem verbreiteten Ethno- und Eurozentrismus oder auch von unterschiedlichen Auffassungen über Stellung und Emanzipation der Frauen. Die heute noch gängige Wahrnehmung der Geschlechter und unsere Begriffe dafür sind weitgehend ein Produkt der Kultur-, Wissenschafts- und Geschlechtergeschichte seit dem 18. Jahrhundert.15 Deshalb müssen die Geschlechter und ihre Beziehungen als soziale, politische und kulturelle Größen wahrgenommen werden; sie sind also weder auf außerhistorische Größen reduzierbar noch auf eine einzige und einheitliche, »ursprüngliche« oder »wesensmäßige« Ursache oder Bestimmung. Ist in diesem Kontext von Geschlecht als »Kategorie« die Rede, so meint dieser Terminus eine Weise der Wahrnehmung und Erforschung von Menschen, ein analytisches Werkzeug, das uns hilft, vernachlässigte Bereiche der Geschichte zu erkennen, eine begriffliche Form sozialer und kultureller Analyse. Sie stellt die Geschlechterblindheit der herkömmlichen Geschichtsschreibung in Frage. Wichtig ist es zu unterstreichen, dass die Kategorie Geschlecht kontextspezifisch und kontextabhängig ist bzw. gedacht werden muss.16 Zwar bietet sie fundamentale Erkenntnismöglichkeiten in Bezug auf praktisch alle historischen Phänomene, aber sie sollte nicht als ein fixes oder ursprungsmythisches Modell zur Erklärung der Fülle historischen Geschehens verstanden werden. 15 Rayna Rapp, Anthropology, in: Signs 4 (1979), S. 497–513; Carol MacCormack u. Marilyn ­ arriet Strathern (Hg.), Nature, Culture and Gender, Cambridge 1980; Sherry B. Ortner u. H Whitehead (Hg.), Sexual Meanings: The Cultural Construction of Gender and Sexuality, Cambridge 1981; Martine Segalen, Mari et femme dans la société paysanne, Paris 1980; Louise Lamphere u. Michelle Z. Rosaldo (Hg.), Woman, Culture and Society, Stanford 1974; Nicole-Claude Mathieu, Ignored by Some, Denied by Others: The Social Sex Category in Sociology, London 1978; Gianna Pomata, La storia delle donne: una questione di confine, in: Giovanni de Luna u. a. (Hg.), Il mondo contemporaneo: Gli strumenti della ricerca, Florenz 1983, S. 1434–1469; Rogers (wie Anm. 5). 16 Jane Flax, Gender as a Problem: In and For Feminist Theory, in: Amerikastudien/American Studies 31 (1986), S. 193–213; Scott (wie Anm. 13); Themenheft von Nuova donnawomanfemme 22 (1983), S. 12, 43, 131; Sandra Harding, The Instability of the Analytical Categories of Feminist Theory, in: Signs 11 (1986), S. 645–664.

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Ihr Potential dient nicht zur Elimination – indem Geschichte auf ein Modell reduziert wird –, sondern zur Illumination, als Mittel zur Erschließung historischer Varietät und Variabilität. Geschlecht ist eine »Kategorie« nicht im Sinn einer allgemeinen Aussageform, sondern – der griechischen Herkunft des Wortes entsprechend – im Sinn von »öffentlicher Widerrede«, öffentlicher Anklage, von Streitgespräch, Protest, Prozess im doppelten Wortsinn.17 Diese Widerrede richtet sich vor allem gegen die Kategorie »Biologie«: ein fixes und reduktionistisches Modell, das historische Erkenntnis behindert. Geschlecht als sozialkulturelle Kategorie ernst zu nehmen, heißt vor allem, die sozialkulturelle Kategorie »Biologie« zu begraben und auf den damit verbundenen Begriffsapparat zu verzichten: also darauf, Geschlecht im Allgemeinen oder etwa den weiblichen Körper, die Sexualität und ihre Organe, Gebären oder Mutterschaft als »Biologie« wahrzunehmen und zu bezeichnen. So zeigt etwa das Buch »Naissances« von Mireille Laget, wie ein eminent körperbezogenes Thema ohne Rekurs auf »Biologie« behandelt werden kann und muss.18 Kritische Studien gerade solcher historischer Figuren und Prozesse, die sich solcher »Biologie« bedienten (etwa im Nationalsozialismus), sollten den Begriff analysieren, übersetzen und nicht einfach wiederholen. Spricht man hingegen in solchen Zusammenhängen von »Biologie«, so meint das Wort nicht, wie es nahezulegen sucht, etwas Nicht-Soziales, Prä-Soziales oder gar Naturwissenschaftliches, sondern es ist selbst eine genuin soziale Kategorie mit einem genuin sozialen Sinnzusammenhang, der das Geschlechterverständnis und Geschlechterverhältnis, ebenso wie die Beziehungen anderer Gruppen, seit wenigen Generationen geprägt hat. Das Wort »Biologie« wurde im frühen 19. Jahrhundert von deutschen und französischen Gelehrten erfunden und hatte bald diverse Bedeutungen, von denen die meisten heute nicht mehr existieren. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wurde es gängig.19 Vorher gab es also im begriffsgeschichtlichen Sinn keine »Biologie«, erst recht nicht für die Dimension der Geschlechter, für die man andere Worte benutzte. Während im 20. Jahrhundert der Begriff allmählich  – und über so gut wie alle politischen Richtungen hinweg  – auch für jene Dimension benutzt wurde, verzichtete die Frauenrechtsbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts beinahe vollständig auf ihn und drückte ihre Visionen der Geschlechterverhältnisse, einschließlich der Mutterschaft, in kulturellen Termini aus. 17 Vgl. dazu Klaus Heinrich, Tertium datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik, Basel 1981, S. 36–40, 195. 18 Mireille Laget, Naissances: L’accouchement avant l’âge de la clinique, Paris 1982. 19 Zum Begriff »Biologie« vgl. die Sprachwörterbücher: Oxford English Dictionary, Grand Larousse de la langue française, Duden, Grande dizionario della lingua italiana. Charakteristischerweise benutzen die Sachwörterbücher den Begriff »Biologie« anachronistisch, etwa für Naturphilosophie, Botanik, Zoologie und menschliche Physiologie seit der Antike, und erwähnen nicht, wann er erfunden und benutzt wurde. Vgl. z. B. Philip P. Wiener (Hg.), Dictionary of the History of Ideas, Bd. I, New York 1968, S. 229–246.

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Heutzutage hat »Biologie« eine derartige Vielfalt von Bedeutungen, dass eine Benutzung des Wortes in der Historiographie mehr verwirrt als erklärt. Es kann eine Naturwissenschaft bezeichnen, insbesondere Genetik, mit der Historiker nicht umgehen. Es bezeichnet auch die vielfältigen und inkohärenten Objekte jener Naturwissenschaft: Leben und Tod, Anatomie und Physiologie, Gene und Gehirne, Pflanzen und »biologische« Ernährung, Tiere und Menschen. Auch stellt sich neuerdings die Frage, ob eine »biologische« Mutter die genetische oder die schwangere Mutter ist. »Biologie« kann sich auf eine Weise des Denkens und Handelns gegenüber Menschen und anderen Lebewesen, Objekten und Aktivitäten beziehen (»Biologismus«) und kann von physiologischem Determinismus bis zu physiologischem Wandel reichen. Seit der Ausdruck gängig wurde, bezog er sich auf eine innere, unveränderliche Konstante hinter kulturellen Phänomenen (und ähnelte hierin oft, aber nicht immer dem Konzept »Natur«). Aber vielleicht häufiger noch implizierte solche Biologie eine Perspektive sozialen Wandels durch »biologischen«, also körperlichen Eingriff. Der soziokulturelle Charakter der Kategorie »Biologie« wird auf diversen Ebenen deutlich. So trägt sie ein deutliches Geschlechtervorurteil in sich, denn der Begriff kommt gewöhnlich nur im Fall des weiblichen Geschlechts ins Spiel, nicht im Fall des männlichen. Etwas Ähnliches hat z. B., lange bevor es eine »Biologie« gab, Jean-Jacques Rousseau in sozialkulturellen Termini ausgeführt: »Der Mann ist nur in gewissen Augenblicken Mann; die Frau ist ihr ganzes Leben lang Frau« (er war allerdings vorsichtig genug, eine kleine, aber aufschlussreiche Einschränkung zu machen: »… oder doch wenigstens während ihrer ganzen Jugend«).20 Biologie ist eine moderne Metapher für die alte Annahme, dass Männer keine Geschlechtswesen seien und Frauen ausschließlich Geschlechtswesen (oder gar, wie es lange Zeit im Englischen hieß, »the sex«) und dass Männer das »eine« und Frauen das »andere« Geschlecht seien. Vor allem aber impliziert diese Annahme ein Werturteil. »Biologie« kann mit Hoffnungen und Ängsten aufgeladen sein, als Hindernis und als Ressource gesehen werden; sie hat spezifische, aber variable Inhalte. Der Inhalt, der historisch und politisch am folgenreichsten war, ist ein negativer Wertbegriff; hier ist »Biologie« eine Metapher für »Minderwertigkeit«. Sie wurde für jene Bereiche und Aktivitäten im Leben von Frauen benutzt, denen geringerer Wert zugemessen wird als den männlichen Bereichen und Aktivitäten, so etwa Gebären, Kindererziehung, Hausarbeit, und die nicht als Arbeit gelten – obwohl z. B. in der traditionellen Gynäkologie »Gebärarbeit« ein gängiger Terminus technicus war und im Englischen, Französischen und Italienischen das Gebären als Arbeit bezeichnet wird (labour, travail, travaglio). Dieser Verwendung des Biologie-Begriffs liegt die Annahme zugrunde, dass physische (»biologische«) 20 Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart 1963, S. 726. Zu Rousseaus komplexen Vorstellungen vgl. z. B. Joel Schwartz, The Sexual Politics of Jean Jacques Rousseau, Chicago 1984; Sylvana Tomaselli, The Enlightenment Debate on Women, in: HW 20 (1985), S. 101–124.

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Unterschiede zwischen Personen soziale und politische Ungleichheit rechtfertigen und dass Gleichheit nur denen zugestanden werden solle, die einander physisch gleichen. Das »biologische« Problem erweist sich als eines sozialer und kultureller Geschlechterbeziehungen: »the peculiar arrangement whereby many women receive economic rewards for their social contribution (in child care, homemaking, and community work) only indirectly, via their husband’s income, is neither morally nor practically required by the fact (if indeed it is a fact) that women are biologically better parents than men.«21 Nicht die Anatomie ist der Grund für die geringe oder fehlende Entlohnung jener Frauen, sondern Kultur in der Form »biologischer« Werturteile. Dass »Biologie« vor allem ein Wertbegriff ist, kann man außerdem daran sehen, dass das »biologische« Denken sich nicht nur auf Frauen bezog, sondern auch auf andere soziale Phänomene, die aus dem Bereich des Sozialen ausgegrenzt werden: etwa die soziale Frage der »Irren« und der »Dummen«, der Kranken, der (genetischen oder sonstigen) Vererbung, von Leben und Sterben, von Körper und Körperlichkeit, von ethnischen Gruppen und »Rassen«. Offenbar bezog sich die Entstehung von Biologie als einer sozialkulturellen Kategorie und Perspektive sozialer Intervention seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auf all jene Phänomene, die über die traditionelle »soziale Frage« und jene Objekte, die innerhalb der traditionellen Sozialwissenschaft und -politik erfasst werden konnten, hinausgingen. In diesem Zusammenhang lässt sich aus dem rassis­ tischen Biologie-Begriff viel über seine sexistische Variante lernen, denn beide entwickelten sich parallel und überschnitten sich. Selbstverständlich sind schwarze Menschen physisch nicht »gleich« wie weiße, sondern in einem Punkt »anders«. Selbstverständlich sind Frauen physisch nicht in jeder Hinsicht »gleich« wie Männer, sondern in vier oder fünf Punkten »anders«. Aber das punktuelle und physiologische »Anders«-Sein ist weder Grund noch Erklärung für das Verhältnis zwischen Weißen und den »fremden« Rassen und zwischen dem einen und dem »anderen« Geschlecht: »Biologie an sich ist stumm« (»biology itself is mute«), wurde mit Recht gesagt.22 Sexismus und Rassismus beruhen nicht auf physischen Unterschieden, sondern punktuelle physische Unterschiede werden benutzt, um präexistente Sozial­beziehungen  – insbesondere Machtbeziehungen  – zu legitimieren. So-

21 Helen H. Lambert, Biology and Equality, in: Signs 4 (1978), S. 97–117, Zit. S. 115 f. 22 Rapp (wie Anm. 15), S. 503. Zur Kritik aus philosophischer Sicht vgl. Flax (wie Anm. 16): »Gender is not biology: but biology is not ›natural‹ either« (S. 706), und aus naturwissenschaftlicher Sicht: Anne Fausto-Sterling, Myths of Gender: Biological Theories about Women and Men, New York 1986; Ethel Tobach u. Betty Rosoff (Hg.), Genes and Gender, Bd. I, New York 1978; Ruth Hubbard u. Marian Lowe (Hg.), Genes and Gender, Bd. II, New York 1979; dies. (Hg.), Woman’s Nature. Rationalizations of Inequality, New York 1983; Ruth Hubbard u. a. (Hg.), Women Look at Biology Looking at Women, Cambridge 1979; Ruth Bleier, Science and Gender. A Critique of Biology and its Theories on Women, New York 1984; Evelyn Fox Keller, Reflections on Gender and Science, New Haven 1985.

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genannte biologische Unterschiede werden Metaphern für wirklich oder angeblich unterschiedliche Lebensweisen. Sowohl der moderne Rassismus als auch der moderne Sexismus stufen die als »fremd« oder »anders« definierte Gruppe als minderwertig ein und sprechen ihr nicht nur das Recht auf »Gleichheit« ab, sondern auch – und wohl noch wichtiger – das Recht, ungestraft »fremd« oder »anders« zu sein. In anderen Worten: sie diskriminieren diejenigen, die körperlich, geistig, seelisch – also kulturell – wirklich oder angeblich anders leben, leben müssen, leben wollen als die Gruppe, welche die kulturellen Normen und Werte setzt. Es gibt manche neuere Bemühungen von (Sozio-)Biologen und Historikern – und keineswegs nur von konservativen oder sonstwie rückwärtsgewandten –, »Biologie« in der Geschichte zu suchen, und sie wird natürlich auch gefunden.23 Doch auch in feministisch orientierten Frauenstudien wird die Dimension des weiblichen Körpers, seiner Aktivitäten und seines Umfelds oft als »Biologie« identifiziert. Meistens bezieht sich solche Biologie schlicht auf Mutterschaft, so etwa in der Vision, die weibliche »Biologie« durch (»biologische«) Techno­logie abzuschaffen, speziell Retortenbabies, und daraus die erstrebte Geschlechtergleichheit entstehen zu sehen.24 Eine französische Historikerin meint, dass der Befreiung der Frauen vor allem das »Hindernis« ihrer »fatalités biologiques« entgegenstehe; da auf ihnen sich die Männerherrschaft begründe, müssten sich Frauen von ihrer »Biologie« emanzipieren.25 Solche Werte und Begriffe sind jedoch problematisch, allein schon deshalb, weil heutzutage die weibliche »Biologie« nur allzu leicht mit Hilfe der modernen Wissenschaft Biologie abgeschafft werden kann. Zu erinnern wäre hier an Hannah Arendts Kommentar von 1972 zu solcher Befreiung: »The real question to ask is, what will we lose if we win?«26 Wichtiger noch für historisches Denken, insofern es Vergangenheit zu begreifen sucht, ist das Problem, dass solche Werte und Begriffe, in die Geschichte projiziert, anachronistisch sind und deshalb den realen Erfahrungen von Frauen nicht gerecht werden. So haben die rund 200.000 Frauen, die unter nationalsozialistischer Herrschaft sterilisiert wurden, diese Abschaffung ihrer »fatalités biologiques« keineswegs als Befreiung empfunden. An ihnen und 23 Z. B. auf dem Historikertag 1984 in Berlin (Thema: »Anthropologie«) unter dem Titel »Geschichte und Biologie«; dabei ging es u. a. um »negative Reaktionen gegenüber den ›Andersartigen‹«, um »Zweigeschlechtlichkeit« und gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Frauen. Während hier nur Männer vortrugen, gab es auch eine Historikerinnen-Sektion (»Frauenräume«), in der Biologie nicht vorkam. Die letzteren Beiträge in Hausen u. Wunder (wie Anm. 9), die erstgenannten in: Saeculum 36/1 (1985). 24 Shulamith Firestone, The Dialectic of Sex, Toronto 1970. Für Janet Sayers, Biological Politics: Feminist and Anti-Feminist Perspectives (London 1982), ist alles, was mit dem weiblichen Körper zu tun hat, »Biologie«. 25 Yvonne Knibiehler, Chronologie et Histoire des femmes, in: Perrot (wie Anm. 1), S. 55. 26 Zit. in: Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt. For Love of the World, New Haven 1982, S. 513; zu ihrer Skepsis gegenüber Retortenbabies: Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben [1958], München 1985, S. 9.

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an vielen anderen Opfern des Nationalsozialismus wird deutlich, dass sexis­ tische und rassistische Biologie eine Perspektive gesellschaftlicher Veränderung durch »biologische« Maßnahmen war. Dass überdies infolge der Zwangssterilisation einige Tausend Frauen starben, weil die Sterilisation von Frauen anatomisch dramatischer ist als diejenige von Männern, hat ebenfalls nichts mit weiblicher »Biologie« zu tun; vielmehr war es das Resultat des Machtverhältnisses zwischen den vorwiegend männlichen Akteuren und ihren Opfern, die zur Hälfte Frauen waren.27 Und ebenso wenig wie in solchen Fällen Kinderlosigkeit und Tod Produkt von Biologie sind, ebenso wenig sollte in anderen Fällen das Kinderkriegen der Biologie zugeschrieben werden; vielmehr ist es ein Produkt von Geschlechterbeziehungen. Die häufige Reduktion – seitens von Feministen wie Nicht-Feministen beiderlei Geschlechts – von (weiblicher) Körperlichkeit, und besonders von Mutterschaft, auf »Biologie« oder »biologisches Geschlecht« ist irreführend, weil sie verdeckt, was Frauen- und Geschlechtergeschichte sichtbar zu machen sucht: die konkreten, vielfältigen und sich wandelnden Formen der Erfahrung, Aktivität und Repräsentation von Körperlichkeit bei Frauen und Männern; sie sind keineswegs säuberlich von anderen Arten von Erfahrung, Aktivität und Repräsentation zu trennen.28 Dieselbe problematische Reduktion zeigt sich – und wird theoretisiert – in der neuerdings vorgeschlagenen und gängig gewordenen Dichotomie von »(biological) sex« (im Deutschen: »biologisches Geschlecht«) und »(social) gender« (»soziales Geschlecht«) und in der parallelen Hypothese von einer »transformation of raw biological sex into gender«; schließlich auch in der daraus folgenden Debatte darüber, was genau und wie viel davon der einen oder der anderen Dimension zuzuschlagen sei.29 Diese Sex-/Gender-Unterscheidung löst nicht die alte Kontroverse »nature vs. nurture«, sondern formuliert sie lediglich auf (scheinbar) neue Weise. Sie ist ambivalent und problematisch, weil sie einerseits Geschlecht (»gender«) zu einer soziokulturellen Kategorie erhebt, während sie andererseits Geschlecht (»sex«) auf eine »biologische« Kategorie reduziert und damit traditionelle Wahrnehmungen von Geschlecht bestätigt. Oft und aus guten Gründen wurde die Dichotomie als analytisch und empirisch irreführend erkannt. Sogar eminente Geschlechtertheoretikerinnen erkennen das, insistieren aber darauf, dass es unumgänglich sei und zwar wegen politisch motivierter Befürchtungen gegenüber einem biologisch-deterministischen

27 Vgl. dazu unten, das Kapitel Sterilisationspolitik in diesem Band. 28 Vgl. Susan R. Suleiman (Hg.), The Female Body in Western Culture, Cambridge 1986; Themenheft von Representations 14 (1986): The Making of the Modern Body; Gisela Bock u. Giuliana Nobili Schiera (Hg.), Il corpo delle donne: immagini e realtà storiche, Ancona 1987; Elizabeth Spelman, Woman as Body: Ancient and Contemporary Views, in: FS 8 (1982), S. 109–131; dies., Theories of Race and Gender: The Erasure of Black Women, in: Quest 5 (1982), S. 36–62. 29 Gayle Rubin, The Traffic in Women, in: Rayna R. Reiter (Hg.), Toward an Anthropology of Women, New York 1975, S. 157–210.

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Backlash.30 Aber politische Motive, die uns dazu führen, wichtige Erkenntnisse zu verweigern, führen vermutlich nicht zu den besten politischen Ergebnissen für Frauen. Vielleicht ist es Zeit zu realisieren – vor allem mit Blick auf eine allmählich besser bekannt werdende Vergangenheit –, dass soziokulturelle Bedingungen keineswegs leichter und schneller zu verändern sind als solche, die wir biologisch nennen. In der Tat sind beide, die Sex-/Gender-Dichotomie und der biologisch-deterministische Backlash, in der entgegengesetzten Annahme verwurzelt: nämlich dass soziokulturelle Bedingungen sich leichter ändern lassen, während »Biologie« unveränderlich bleibe. Und jedenfalls führen politische Motive, die theoretische Erkenntnisse blockieren, in der Regel nicht zu historischen Erkenntnissen. Was die Erforschung der Vergangenheit in einer Geschlechterperspektive betrifft, so scheint es nützlicher, ohne »Biologie« auszukommen und »Geschlecht« in einem umfassenden Sinn zu gebrauchen: in einem Sinn, der nicht nur jenen Teil des Lebens von Frauen und Männern meint, der überzeugenderweise kulturell konstruiert ist, sondern auch denjenigen, der wirklich oder scheinbar außerhalb davon liegt. Nur dann kann Geschlecht im vollen Sinn eine historische Kategorie werden. Bezüglich der Wirkmächtigkeit der materiellen und körperlichen Welt in uns und außerhalb von uns, die menschlicher Vernunft und historischer Erkenntnis zu widerstehen scheint, sollten wir imstande sein, andere Worte zu finden als jene, die von der biologischen Tradition bestimmt werden. Einige dieser Worte finden sich gerade in solchen historischen Arbeiten, die zuweilen als Forschungen über die »Biologie« von Frauen wahrgenommen werden: beispielsweise über Mütter, Gebären, Hebammen, Ammen, Prostituierte. Oft genug zeigen sie, dass der weibliche (wie auch der männliche) Körper historisch und kulturell variabel geprägt ist.31 Sichtlich sind sie eine Domäne nicht von biologischer Forschung, sondern von historischer Frauen- und Geschlechterforschung.

30 Harding (wie Anm. 16), S. 662. 31 Z. B. Laget (wie Anm.  18); Françoise Thébaud, Quand nos grand-mères donnaient la vie, Lyon 1986; Themenheft von Quaderni storici 44 (1980): »Parto  e maternità«; Catherine M. Scholten, Childbearing in American Society, 1650–1850, Ann Arbor 1985; Fanny FaySallois, Les nourrices à Paris au XIXe siècle, Paris 1980; Volker Hunecke, Die Findelkinder von Mailand, Stuttgart 1987; Annarita Buttafuoco, Le Mariuccine. Storia di un’ istituzione laica – l’AsiIo Mariuccia, Mailand 1985; Claudia Pancino, Il bambino e l’acqua sporca. Storia dell’assistenza al parto dalle mammane alle ostetriche, secoli XVI–XIX, Milano 1984; Mary Gibson, Prostitution and the State in Italy, 1860–1915, New Brunswick 1986; Judith R. Walkowitz, Prostitution and Victorian Society: Women, Class, and the State, Cambridge 1980; Lyndal Roper, Discipline and Respectability: Prostitution and the Reformation in Augsburg, in: HW 19 (1985), S. 3–28.

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Geschlecht als soziale, kulturelle, historische Beziehung »Geschlecht« bzw. »die Geschlechter« meint weder einen Gegenstand, noch viele Gegenstände, sondern ein komplexes Geflecht von Beziehungen und Prozessen: »Denken in Beziehungen«32 ist nötig, um Geschlecht – als analytische Kategorie wie als kulturelle Realität, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart – zu ergründen. Eine solche Auffassung von Geschlecht kann für alle Formen von Geschichtsschreibung, wie sie heute praktiziert werden, nützlich und wirksam sein. Geschlecht als Beziehung, oder: Frauengeschichte als Geschlechtergeschichte. Versteht man Geschlecht als soziale und komplexe Beziehung, so heißt das, dass die Suche nach Frauen in der Geschichte nicht einfach die Suche nach einem bisher vernachlässigten Gegenstand ist, sondern die Frage nach bisher vernach­lässigten Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen. In den Worten der 1981 verstorbenen Anthropologin Michelle Zimbalist Rosaldo: Frauen müssen »in ihrer Bezogenheit verstanden werden, nämlich in Bezug auf andere Frauen und auf Männer, und nicht in Termini von Unterschied und Segregation.«33 Rosaldo wies damit auf eine wichtige und oft übersehene Dimension hin, die über die zur Selbstverständlichkeit gewordene Forderung hinausweist, dass die Frauengeschichte durch das Studium der Beziehungen zwischen Frauen und Männern in die allgemeine Geschichte integriert werden soll. Nicht nur müssen wir die Beziehungen zwischen den Geschlechtern erforschen, sondern auch die Beziehungen innerhalb der Geschlechter, nicht nur diejenigen von Frauen zu Männern und von Männern zu Frauen, sondern auch diejenigen unter Frauen und unter Männern. Mancherlei Beziehungen unter Männern waren bisher das Hauptobjekt der Geschichtsschreibung, vor allem politische, militärische und ökonomische, aber auch Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen, wenngleich sie nur selten als Beziehungen innerhalb eines Geschlechts (als gleichsam intrageschlechtliche Beziehungen) und in Bezug auf ihre (gleichsam intergeschlechtliche) Auswirkung auf Frauen erforscht wurden. Ebenso wichtig ist es jetzt, auch die Beziehungen zwischen Frauen und Frauen zu untersuchen, z. B. zwischen Hausfrauen und Dienstmädchen, zwischen Müttern und Töchtern, zwischen Müttern, Ammen und Hebammen, zwischen Sozialarbeiterinnen und armen Frauen, zwischen Missionarinnen und den Frauen kolonisierter Völker, zwischen Frauen im beruflichen Leben und solchen in der Politik – und dabei gleichermaßen Konflikte und Solidarität zu entdecken. Die Geschichte weiblicher Verwandtschaft, von Freundschaft und Liebe unter Frauen ist zu einem bedeutenden Forschungsbereich geworden.34 32 Flax (wie Anm. 16), S. 199; Scott (wie Anm. 13). 33 Michelle Z. Rosaldo, The Use and Abuse of Anthropology, in: Signs 5 (1980), S. 409. 34 Carroll Smith-Rosenberg, Disorderly Conduct: Visions of Gender in Victorian America, New York 1985; Martha Vicinus, Independent Women: Work and Community for Single

34 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

Auf der Bedeutung der Erforschung von Beziehungen innerhalb der Geschlechter und insbesondere zwischen Frauen zu insistieren, ist umso wichtiger geworden, als in den 1980er Jahren das Konzept Geschlecht/gender geradezu eine Mode zu werden drohte, die oft genug die Herausforderung der Frauengeschichte zu dämpfen sucht, indem sie eine geschlechterneutrale Rede über Geschlecht anbahnt.35 Aber wenn vergessen wird, dass sich die Entdeckung der sozialen, kulturellen und historischen Beziehungen zwischen den und innerhalb der Geschlechter dem Blick von Frauen auf Männer und auf Frauen verdankt, so wird auch das Ziel verfehlt: nicht ein geschlechterneutraler, sondern ein geschlechterübergreifender Blick auf »Geschichte überhaupt«. Frauengeschichte ist Geschlechtergeschichte par excellence. Wie wenig selbstverständlich es ist, Geschlechtergeschichte – gerade in Bezug auf Frauen  – auch als Geschichte der Beziehungen innerhalb der Geschlechter zu sehen, zeigte kürzlich der britische Historiker Lawrence Stone. Als Experte für »Family, Sex and Marriage« hat er ein Feld erforscht, in dem die Bedeutung von Geschlechterbeziehungen unübersehbar ist und wo Frauen die Hälfte der untersuchten Personengruppen ausmachen. In seinem Aufsatz »Only Women« gab Stone sich als Historikergott und stellte »zehn Gebote« für die Frauengeschichtsschreibung auf, die – überraschend gerade für einen Historiker – »zu jeder Zeit und an jedem Ort« zu gelten hätten. Davon das erste: »Du sollst nicht über Frauen schreiben außer in Bezug auf Männer und Kinder.«36 Zwar sah Stone hier, korrekterweise, dass es bei den neuen Fragen um Beziehungen und deren Geschichte geht. Aber er vermochte nicht zu sehen, dass Frauen nicht nur von ihren Beziehungen zu Männern geprägt werden, dass die Beziehungen von Frauen zu anderen Frauen ebenso wichtig sind wie diejenigen zu Männern, dass auch Kinder keine geschlechtsneutralen Wesen sind und dass die Geschichte von Männern auch ihr Verhältnis zu Frauen einschließen sollte. Geschlechtergeschichte als Männergeschichte. Männer nach ihren Beziehungen zu Frauen zu befragen, bedeutet, das, was bisher als Gegenstand der »allgemeinen« Geschichte galt, geschlechtergeschichtlich und damit »männerspezifisch« zu sehen: Geschichte von Männern als Männer. Als Geschlechterfrage hat man bisher meist nur das weibliche Geschlecht oder die »Frauenfrage« bestimmt. Männer schienen im gleichen Maß außerhalb des GeschlechterverhältWomen, Chicago 1985; Lillian Faderman, Surpassing the Love of Men. Romantic Friendship and Love between Women from the Renaissance to the Present, New York 1981; Yvonne Verdier, Façons de dire, façons de faire: La laveuse, la couturière, la cuisinière, Paris, 1979; Patricia Hill, The World Their Household. The American Foreign Mission Movement, Ann Arbor 1985; Helen Callaway, Gender, Culture and Empire: European Women in Colonial Nigeria, Urbana 1987; Dorothee Wierling, Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Berlin 1987. 35 Vgl. Scott (wie Anm. 13), S. 1056; Susan Magaray, Australian Woman’s History in 1986, in: Australian Historical Association Bulletin, Okt. 1987, S. 5–12. 36 Lawrence Stone, Family, Sex and Marriage in England 1500–1800, Harmondsworth 1979, S. 447; ders., Only Women, in: New York Review of Books 32/6 (11 April, 1985), S. 21.

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nisses zu stehen, wie sie es dominierten. Es erscheint als selbstverständliches Erfordernis, Frauengeschichte immer (auch) auf die Geschichte von Männern zu beziehen, aber bisher wird das Umgekehrte noch kaum für wichtig gehalten. Militär- und Kriegsgeschichtsschreibung sind Beispiele dafür. Hier ging es bisher ausschließlich um Männer, und zwar aus guten Gründen: war doch die Kriegführung in der westlichen Welt (jedenfalls innerhalb Europas) in der Regel eine Form der direkten Konfrontation zwischen Gruppen von Männern. Trotzdem wurden an diesen Bereich selten explizit männerspezifische Fragen gestellt, zum Beispiel nach seinem Zusammenhang mit der Geschichte von Männlichkeit. Kriege haben überdies eine enorme Bedeutung für Frauen bzw. für die Beziehungen zwischen den und innerhalb der Geschlechter. Zu erinnern ist dabei etwa an die stark geschlechterbezogene und sexuelle kriege­ rische Symbolik und Sprache – in Befreiungs- und Bürger- wie in Angriffs- und Verteidigungskriegen  –, an die frühneuzeitlichen Heere mit ihrem großenteils weiblichen Tross, an die Frauenfriedensbewegung vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg oder an neue Formen der Prostitution im Ersten und Zweiten Weltkrieg.37 Seit den späten 1970er Jahren verbreiten sich »Männerstudien« (men’s ­studies), anfänglich meist von männlichen Autoren verfasst, die über Beziehungen von Männern zu Frauen und zu Männern handeln. Manche Autoren untersuchen den Zusammenhang zwischen Krieg und der sozialen Konstruktion von Männlichkeit und unterstreichen, dass diese nicht als »biologische« Gegebenheit verstanden werden dürfe. Was schon die Frauenforschung zeigte, zeigt nun auch die Männerforschung: Geschlechtliche Norm und geschlechtliche Realität sind keineswegs identisch, und sie unterliegen historischem Wandel. Männlichkeit, so ein französischer Historiker, habe im 19. Jahrhundert für Männer nicht nur Macht, sondern auch Leid bedeutet. Auch Vaterschaft wurde als historisches Thema entdeckt. Manche dieser Untersuchungen sind, wenn von Männern verfasst, inspiriert von aktuellen Forderungen nach männlicher Partizipation an weiblicher Erfahrung (»Schwangere Männer: Wie Väter die Erfahrungen von Schwangerschaft und Geburt genießen und teilen können«) und/oder auch nach »Männerrechten«: eine Tendenz, die den feministischen Forderungen nach Frauenrechten nicht nur entspricht, sondern auch  – wie kaum anders zu er­ warten – widerspricht.38 Obwohl die Männerstudien manche Fragen aufgewor37 Vgl. Margaret R. Higonnet u. a. (Hg.), Behind the Lines: Gender and the Two World Wars, New Haven 1987; Anne Wiltsher, Most Dangerous Women: Feminist Peace Campaigners of the Great War, Henley-on-Thames 1985; Carol R. Berkin u. Clara M. Lovett (Hg.), Women, War, and Revolution, New York 1980; Carola Lipp (Hg.), Schimpfende Weiber und patrio­ tische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution von 1848/49, Moos 1986. 38 So z. B. die Kritik an der Verpflichtung von Männern zur Alimentenzahlung und an dem – weitgehend von der älteren Frauenbewegung erkämpften – weiblichen Sorgerecht für Kinder: Eugene R. August, Men’s Studies: A Selected and Annotated Interdisciplinary Biblio­ graphy, Littleton 1985. Vgl. Alain Corbin, Le »sexe en deuil« et l’histoire des femmes au ­ aris XlXe siecle, in: Perrot (wie Anm.  1), S.  141–154; Daniel Roche, L’amour paternel à P

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fen und beantwortet haben, bleibt noch viel zu tun, besonders in historischer Perspektive. Weitgehend um Männergeschichte handelt es sich auch bei einer Frage­ stellung, die gewöhnlich noch unter »Frauengeschichte« rubriziert wird: die Weise, in der berühmte  – also männliche  – Philosophen und andere Denker über Frauen, die Geschlechter, Sexualität und Familie gedacht und geschrieben haben. Männer-, nicht Frauengeschichte ist diese Thematik aus Gründen, die in verschiedenen Zusammenhängen diskutiert wurden: dass solche Schriften primär den Blick von Männern auf Frauen präsentieren, dass ihr Bild von den Geschlechtern und deren Beziehungen meist nicht deskriptiv ist, sondern normativ und präskriptiv, und dass die Normen für Frauen sich meist nicht nur von den Normen für Männer unterscheiden, sondern auch von den Lebensrealitäten der Frauen. Das Studium des geschlechterbezogenen Denkens von Männern hat sich im vergangenen Jahrzehnt außerordentlich differenziert, hat Kom­ plexitäten und Widersprüche – zwischen verschiedenen Denkern und innerhalb des Denkens einzelner Männer – zutage gefördert.39 Solche Studien haben auch den Sinn geschärft für ein spezifisch historio­ graphisches Methodenproblem, auf das etwa Arlette Farge hingewiesen hat: nämlich die Fragwürdigkeit einer Geschichtsschreibung, die sich in der Präsentation und Wiederholung des wirklich oder vermeintlich Schrecklichen bzw. Frauenfeindlichen, das im Lauf der Jahrhunderte von Männern geschrieben wurde, erschöpft; dieses Verfahren führt oft von der Empörung über die Denunziation zu einer Art Faszination und wird im gleichen Maß anachronistisch, wie es darauf verzichtet, solche Texte nach ihrem historischen Kontext, nach ihrer sozialen, politischen und kulturellen Bedeutung, nach ihrem Stellenwert in einem Gesamt-Œuvre zu befragen und auch ihre Rezeption seitens von Zeit­ genossinnen zu untersuchen.40

au XVe siècle, in: ADH 1983, S.  73–80; Jochen Martin, Zur Stellung des Vaters in antiken Gesellschaften, in: Hans Süssmuth (Hg.), Historische Anthropologie, Göttingen 1984, S. ­84–109; Yvonne Knibiehler, Les pères aussi ont une histoire, Paris 1987; Michael S. Kimmel (Hg.), Changing Men: New Directions in Research on Men and Masculinity, Newbury Park 1987. Neuerdings vor allem: Thomas Kühne (Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte: Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a. M. 1996. 39 Vgl. oben, Anm. 20; Susan M. Okin, Women in Western Political Thought, Princeton 1979; Nicole Loraux, Les enfants d’Athéna: idées athéniennes sur la citoyenneté et la division des sexes, Paris 1981; Ian Maclean, The Renaissance Notion of Woman: A Study in the Fortunes of Scholasticism and Medical Science in European Intellectual Life, Cambridge 1980; ­Arlene W. Saxonhouse, Women in the History of Political Thought: Ancient Greece to Machiavelli, Berkeley 1984; Heidemarie Bennent, Galanterie und Verachtung. Eine philosophiegeschichtliche Untersuchung zur Stellung der Frau in Gesellschaft und Kultur, Frankfurt a. M. 1985; Thérèse Moreau, Le sang de l’histoire. Michelet, l’histoire et l’idée de la femme au XlXe siècle, Paris 1982; Louise M. Newman (Hg.), Men’s Ideas, Women’s Realities: Popular Science 1870–1915, New York 1985. 40 Arlette Farge, Pratique et effets de l’histoire des femmes, in: Perrot (wie Anm. 1), S. 30 f.

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Wenden sich geistes- oder ideengeschichtliche Forschungen den (wenigen oder meist weniger berühmten) Philosophinnen oder auch dem Denken und Urteilen anderer Frauen zu, so finden sich  – hinsichtlich von Geschlechterwie von anderen Beziehungen  – zuweilen signifikante Differenzen zu männlichem Denken und Urteilen. Zu denken wäre hier an Hannah Arendts Zentralbegriff der »Natalität« – das Prinzip und die Fähigkeit von Menschen, auf neue Weise zu handeln, als Konsequenz ihres Geboren-Seins – und ihre Konzeption menschlicher Pluralität, die sie in der Pluralität der Geschlechter symbolisiert sah. Ein weiteres Beispiel wären Carol Gilligans Erkenntnisse über eine »andere Stimme« von Frauen in Bezug auf moralisches Urteilen, die nicht weniger gewichtig ist als die von Männern.41 So zeigt auch die Intellectual History, dass Männergeschichte als solche erst recht sichtbar wird, wenn sie in Relation zu Geschichte und Denken von Frauen gesetzt und somit in einer Perspektive von Geschlechtergeschichte gesehen wird. Geschlechtergeschichte und Sozialgeschichte. Verstehen wir Frauen- und Geschlechtergeschichte als Geschichte sozialer Beziehungen, so müssen wir auch über ihr Verhältnis zur Sozialgeschichte nachdenken. Insofern die Geschlechter soziale Größen sind, ist in der Tat die gesamte Frauen- und Geschlechtergeschichte in einem gewissen Sinn auch Sozialgeschichte. Aber diese Bestimmung unterscheidet sich gravierend von dem, was seit den 1960er Jahren als »Neuere Sozialgeschichte« entstanden ist. Ihr klassischer Gegenstand sind die Klassen, und dementsprechend definiert sie das »Soziale« im Wesentlichen als Klassen bzw. Schichten und die allgemeine Geschichte als eine von Klassenstrukturen bestimmte Gesellschaftsgeschichte. Aus Frauensicht hat sie also ein zu enges Verständnis vom Sozialen als dem Feld zwischenmenschlicher Beziehungen, und die überaus häufige Gleichsetzung des Begriffs »sozial« mit »klassen- und schichtspezifisch« hat dazu beigetragen, dass andere Sozialbeziehungen – z. B. zwischen Rassen und zwischen den Geschlechtern – als Prä-Soziales oder gar als »Biologie« gesehen wurden. Gerade in den letzten Jahren diskutierten Historiker die Frage nach dem Verhältnis von Klasse und Geschlecht. Oft hieß es, Klasse sei wichtiger als Geschlecht, und die folgende Annahme ist ein charakteristisches Beispiel dafür: »Vielleicht bestehen ja gewisse sozial relevante Gemeinsamkeiten von Frauen als Frauen einer bestimmten Zeit, aber doch – und das war und ist für Selbstverständnis und Lebenspraxis, Erfahrungen und Interessen der meisten Frauen trotz irgendwo ähnlicher Sozialisations- und Ausgrenzungserfahrungen viel wichtiger  – in konkreten und damit sehr verschiedenartigen, vor allem wohl von Klassen- und Schichtzugehörigkeit abhängigen Ausprägungen. Hat nicht die junge, gebildete Adlige in der Hauptstadt des neugegründeten BismarckReichs mit ihrem etwa gleichaltrigen Bruder sehr viel mehr gemein als mit einer älteren, verwitweten, aus ärmsten Verhältnissen stammenden, weder lese41 Arendt (wie Anm. 26); Carol Gilligan, In a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge, MA 1982 (dt. Übers. 1982).

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noch schriftkundigen polnischen Saisonarbeiterin, wie sie zur selben Zeit all­ sommerlich in Sachsen zu finden war?«42 Während dieses Bild zwar plastisch tiefe und tatsächliche Unterschiede zwischen Frauen zeigt, tut es das doch mit Mitteln, die gerade keine Klassenunterschiede sind. Die Adlige ist jung, die Arbeiterin alt; die Adlige ist gebildet, die Arbeiterin kann nicht lesen und schreiben; die Adlige ist ledig, die Arbeiterin verwitwet; die Adlige ist deutsch, die Arbeiterin polnisch; die Adlige lebt in der Stadt, die Arbeiterin auf dem Land. Doch Alter, Familienstand, ethnisch-nationale Zugehörigkeit, städtisches oder ländliches Milieu sind keine Klassenkriterien, und im 19. Jahrhundert auch kaum mehr die Lesefähigkeit. Soweit das Bild besagt, dass es Frauen der Arbeiterklasse schlecht gehe, adligen Frauen aber gut, lässt es sich auch umkehren, z. B. im Vergleich einer deutschen, jungen, lebensfrohen, glücklich mit einem durch Sozialversicherung einigermaßen abgesicherten deutschen Arbeiter verheirateten städtischen Hausfrau und einer armen Witwe des absteigenden polnischen Landadels. Sagt das Bild also nichts aus über das Verhältnis von Klasse und Geschlecht, so besagt es doch etwas anderes und Wichtiges: Die genannten Unterschiede bezeichnen ebenso große Unterschiede innerhalb eines Geschlechts wie innerhalb einer Klasse. Tatsächlich beziehen sich weder Klasse noch Geschlecht auf homogene Gruppen und noch weniger auf vorgegebene Solidaritätsbindungen, aber sowohl Klasse als auch Geschlecht sind wichtige kontextspezifische und kontextabhängige Kategorien und Realitäten der sozialen Beziehungen zwischen und innerhalb sozialkultureller Gruppen. Deshalb handelt die historische Frauenforschung auch von Klassen und tut das in zahlreichen Studien über Arbeiterinnen, Arbeiterfrauen, bürgerliche oder adlige Frauen. Viele von ihnen befassen sich mit drei grundsätzlichen Problemen, die sie zu lösen suchen: erstens die unterschiedliche Konzeptualisierung von Klasse für Männer, wo das Haupt­ kriterium deren Beziehung zu Kapital, Produktion, Markt oder Beruf ist, und für Frauen, für welche die Klassenzugehörigkeit gewöhnlich an ihrer Beziehung zu den Männern ihrer Familie gemessen wird, insbesondere Ehemann und Vater (nur selten an ihrem eigenen Beruf); zweitens die unterschiedliche und geschlechtsgeprägte Erfahrung von Klasse, die im Fall der Frauen, nicht aber der Männer, die Haus- und Familienarbeit einschließt; und drittens die Beziehungen zwischen Frauen verschiedener Klassen, die nicht selten anders sind als diejenigen zwischen Männern verschiedener Klassen.43 42 Jürgen Kocka, Frauengeschichte zwischen Wissenschaft und Ideologie, in: Geschichtsdidaktik 7 (1981), S. 104. 43 Leonore Davidoff u. Catherine Hall, Family Fortunes: Men and Women of the English Middle Class, 1780–1850, London 1987; Bonnie G. Smith, Ladies of the Leisure Class. The Bourgeoises of Northern France in the 19th Century, Princeton 1981; Ruth Koeppen, Die Armut ist weiblich, Berlin 1985; Judith L. Newton u. a. (Hg.), Sex and Class in Women’s History, London 1983; Caroline Davidson, Woman’s Work is Never Done: A History of Housework in the British Isles 1650–1950, London 1982; Susan Strasser, Never Done: A History of American Housework, New York 1982.

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Was geschlechterbestimmte Unterschiede in der Erfahrung von Klasse betrifft, so möge für sie das Beispiel von Clarissa Graves Perceval stehen, die einem der ältesten englischen Adelsgeschlechter entstammte und im Jahr 1845 den bürgerlichen Historiker Leopold Ranke heiratete. Durch diese Heirat war er allein verfügungsberechtigt über ihr Vermögen von 2.300 Pfund (heute etwa 300.000 Euro); er ging nicht nur als einer der bedeutendsten Historiker in die Geschichte ein, sondern auch als einer der reichsten.44 Erst zwei Jahrzehnte nach der Heirat wurde Ranke geadelt, und dieser klassenspezifische Vorgang hatte eine wichtige geschlechterspezifische Seite: Denn wäre Leopold eine Frau gewesen und Clarissa ein Mann, so wäre Leopold zwar weniger reich gewesen, aber schon durch die Heirat geadelt worden. Denn ein Mann konnte seinen Adel auf eine bürgerliche Ehefrau übertragen, nicht jedoch eine adlige Frau auf ihren bürgerlichen Ehemann. Frauen waren also gleichsam etwas weniger adlig als adlige Männer (z. B. als der oben genannte Bruder des Berliner Adelsfräuleins). Geschlechterbeziehungen und andere sozialkulturelle Beziehungen. Ver­stehen wir Geschlecht als sozialkulturelle Beziehung, so wirft dies auch ein neues Licht auf das Verhältnis zwischen Geschlecht und zahlreichen anderen sozial­ kulturellen Beziehungen; neben Klasse sind das zum Beispiel Rasse, Alter, Sexu­alität, Kultur, Sprache, Freiheit, Religion, Familie, Wirtschaft. Ähnlich wie in der Debatte »Klasse vs. Geschlecht« wird auch für andere Dimensionen häufig eine Art Konkurrenzverhältnis aufgebaut, und es wird nicht nach der Verschränkung unterschiedlicher Beziehungen gefragt, sondern danach, welche fundamentaler, realitätsmächtiger, wichtiger sei. Dies meint beispielsweise Lawrence Stone in seinem siebten Gebot: »Du sollst bezüglich der Vergangenheit nicht die Wichtigkeit von Geschlecht übertreiben im Vergleich mit der Wichtigkeit von Macht, Status und Reichtum, auch wenn alle Frauen dasselbe biologische Schicksal erfahren.« Die Behauptung jedoch, geschlechterneutrale Faktoren seien gewichtiger als geschlechterbestimmte (Stone: »biologische«), sieht davon ab, dass jeder einzelne jener Faktoren für Frauen historisch anderes bedeutet als für Männer. Deutlich ist das z. B. im Fall von Macht und von Reichtum. Im Fall von Macht nicht bloß deshalb, weil gewöhnlich Männer mehr Macht als Frauen und zumal Macht über Frauen haben. Ebenso wichtig ist, dass unterhalb der Ober­ fläche des formellen Machtgefälles zwischen den Geschlechtern oft auch Frauen eigene Formen von Macht hatten, die meist eher informeller Art waren, Macht – oder eher, wie französische Historikerinnen sagen, »Mächte« –, die unterschiedliche Formen annehmen konnte: Partizipation an der Macht von Männern, Macht gegenüber anderen Frauen, Selbstbehauptung als Frauen. Geschlechtergeschichtliche Studien haben dazu beigetragen, das Phänomen Macht als hoch-

44 Gisbert Bäcker-Ranke, Rankes Ehefrau Clarissa geb. Graves Perceval (Historisch-politische Hefte der Ranke-Gesellschaft 21), Göttingen 1967, bes. S. 5.

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gradig differenziert zu erkennen, und eine Form der Legitimierung von Macht war Geschlecht.45 Im Fall von Reichtum sind die geschlechterspezifischen Dimensionen überdeutlich. Frauen haben als soziale Gruppe ein geringeres Einkommen als Männer und zwar – jedenfalls im 19. und 20. Jahrhundert – in dreierlei Hinsicht: als Hausarbeiterinnen hatten sie kein Einkommen, als Erwerbstätige der Unterund Mittelschichten hatten sie ein geringeres Einkommen als die Männer ihrer Schicht, und als Erwerbstätige in höheren Einkommensgruppen stellen sie traditionell nur einen verschwindend geringen Anteil (so 1988 in der Bundes­ republik vier Prozent der Hochschullehrer im Fach Geschichte). Und umgekehrt stellten Frauen traditionell einen hohen, oft überwiegenden Anteil an der Armutsbevölkerung. Somit bedeutet jede soziokulturelle Beziehung Unterschiedliches für Frauen und für Männer. Doch müssen wir darüber noch hinausgehen und erkennen, dass jede einzelne der nur scheinbar geschlechterneutralen Dimensionen im Verhältnis zwischen Menschen auch durch die Geschlechterbeziehungen mitbestimmt wird; diese sind einer der konstituierenden Faktoren in allen anderen Beziehungen. So ist etwa die Geschichte der Religion – von den antiken Göttern bis zu denen des 20. Jahrhunderts – geschlechterneutral in vielerlei Hinsicht gar nicht zu verstehen. Dasselbe gilt für die ethnischen Minderheiten, deren Geschlechtergeschichte seit den 1970er Jahren besonders in den Vereinigten Staaten erforscht wird; auch in und für Deutschland wird die Geschichte von Jüdinnen, Roma-Frauen, schwarzen und anderen rassisch diskriminierten Frauen zum Thema. Und diese Geschichte unterscheidet sich sowohl von derjenigen der Frauen der Mehrheit wie von derjenigen der Männer ihrer Minderheit.46 Andererseits ist die Sprache des Rassismus geradezu besessen von Geschlechtern und Geschlechtlichkeit, von einer eigentümlichen Mischung aus Sexualität, Blut und Gewalt. Betroffene Zeitgenossen diagnostizierten den nationalsozia­ 45 Vgl. Scott (wie Anm.  13), S.  1073; Michelle Perrot, Les femmes, le pouvoir, l’histoire, in: dies. (wie Anm. 1), S. 205–222; Dauphine u. a. (wie Anm. 5), S. 282–289; Susan C. Rogers, ­Female Forms of Power and the Myth of Male Dominance, in: American Ethnologist  2 (1975), S.  727–756; Ruth Bordin, Women and Temperance: The Quest for Power and Liberty ­1873–1900, Philadelphia 1981; Nancy F. Cott, The Bonds of Womanhood, New Haven 1977. 46 Vgl. z. B. Caroline W. Bynum, Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Stanford 1982; Marion A. Kaplan, Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland: Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904–1938, Hamburg 1981; Jacqueline Jones, Labor of Love, Labor of Sorrow: Black Women, Work, and the Family from Slavery to the Present, New York 1985; Gloria T. Hull u. a. (Hg.), All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave, New York 1982; Katharina Oguntoye u. a. (Hg.), Farbe bekennen: Afro-deutsche Frauen. Auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin 1986;­ Doris Kaufmann, Frauen zwischen Aufbruch und Reaktion: Protestantische Frauenbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, München 1988.

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listischen Judenhass zu Recht auch als »Sexual-Antisemitismus«.47 Historiker des europäischen und speziell des deutschen Rassismus – genauer: Männer, die zu seinen Opfern gehörten – haben gezeigt, dass im rassistischen Weltbild der »nordische Mensch« oder »der echte Arier ein Abendländer männlichen Geschlechts« war.48 Rassismus ist nicht zu begreifen, wird nicht auch seine geschlechtergeschichtliche Dimension, die ihn mitkonstituiert, begriffen. Und werden, umgekehrt, in die Analyse der Geschlechterbeziehungen bzw. des Sexismus auch die Rassenbeziehungen bzw. der Rassismus einbezogen, so können sich neue und ungewohnte Einsichten ergeben: etwa dass die Geschlechterdimension der spezifisch nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik nicht so sehr »Pronatalismus und Mutterkult« hieß, sondern in viel stärkerem Maße Antinatalismus und Männerkult. Und Heinrich Himmler zufolge war die Geschlechterdimension auch ein konstitutives Element des Holocaust, in dessen Zentrum Frauen standen: »Wenn ich irgendwo gezwungen war, in einem Dorfe gegen Partisanen und gegen jüdische Kommissare vorgehen zu lassen […], so habe ich grundsätzlich Befehl gegeben, auch die Weiber und Kinder dieser Partisanen und Kommissare umbringen zu lassen […]. Glauben Sie mir: Dieser Befehl ist nicht so leicht gegeben […], wie er konsequent richtig gedacht […] ist. Aber wir müssen immer mehr erkennen, in welch einem primitiven, ursprünglichen, natürlichen Rassenkampf wir uns befinden.«49 ✳ ✳ ✳

Geschichte ist also nicht nur Geschichte von männlicher, sondern ebenso eine von weiblicher Erfahrung.50 Sie sollte nicht nur in männlicher oder scheinbar geschlechtsneutraler Perspektive studiert werden, sondern auch in weiblicher und geschlechtergeschichtlicher  – also geschlechterübergreifender  – Perspektive. Dies sollte nicht eine schlichte Umkehrung des traditionellen Postulats bedeuten, dass andere zwischenmenschliche Beziehungen wichtiger seien als Geschlechterbeziehungen  – etwa dass Geschlecht wichtiger sei als alles andere (obwohl diese Provokation unsere Sinne für viele historische Entdeckungen erst geöffnet hat). Vielmehr bedeutet es, dass Geschlechterbeziehungen ebenso wichtig sind wie alle anderen menschlichen Beziehungen und dass sie in allen sonstigen Beziehungen wirksam sind und sie mitprägen; umgekehrt wirken alle sonstigen Beziehungen auch auf die Geschlechterbeziehungen und bestimmen sie mit. 47 Comité des Délégations Juives (Hg.), Die Lage der Juden in Deutschland 1933 [Original: Paris 1934], Frankfurt a. M. 1983, S. 468. 48 George L. Mosse, Rassismus, Königstein 1978, S. 103; Léon Poliakov, Der arische Mythos, Wien 1977, S. 317. 49 Bradley F. Smith u. Agnes F. Peterson (Hg.), Heinrich Himmler: Geheimreden 1933–1945 und andere Ansprachen, Frankfurt a. M. 1974, S. 201. 50 Vgl. dazu neuerdings Ute Daniel, Die Erfahrungen der Geschlechtergeschichte, in: Marguérite Bos u. a. (Hg.), Erfahrung: Alles nur Diskurs? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Geschlechtergeschichte, Zürich 2004, S. 59–69.

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Auf der Hypothese zu insistieren, dass andere Beziehungen fundamentaler seien als Geschlechterbeziehungen, ist zugleich ideologisch und historisch unproduktiv. Es erinnert an die Situation Kassandras in Christa Wolfs Er­ zählung.51 Kassandra träumte, richten zu müssen in der Frage, ob Mond oder Sonne »heller strahlen könne«. Eine einfache und weise Frau lehrte sie, es handle sich hierbei um das irreführende »Bemühn, auf eine ganz und gar verkehrte Frage doch eine Antwort zu versuchen.« Als Kassandra schließlich verstand, dass sie »berechtigt, ja vielleicht verpflichtet [war], sie zurückzuweisen,« wurde ihr diese Einsicht zu einem befreienden Schritt in dem Bemühen, ihre Geschichte zu begreifen.

51 Christa Wolf, Kassandra, Darmstadt 1983, S. 100 f.

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Fragwürdige Dichotomien: eine Herausforderung für die Geschlechtergeschichte✳

Die Historische Frauenforschung hat einen weiten Weg zurückgelegt. Vor zwei Jahrzehnten schrieb Gerda Lerner: »Das Auffallendste an der Geschichtsschreibung über Frauen ist die allgemeine Vernachlässigung dieses Gegenstands seitens der Historiker.«1 Die Geschichtsschreibung war weit entfernt davon, objektiv oder universal zu sein, denn sie gründete auf männlicher Erfahrung, stellte Männer ins Zentrum, sah sie als das Maß der menschlichen Dinge und schloss dabei die Hälfte der Menschheit aus. Seit Lerners Diktum hat sich das beträchtlich geändert. Eine wachsende Anzahl von Forschungen hat Frauen sichtbar gemacht, ins Zentrum gestellt und als Subjekte gesehen; ihr Handeln und Wollen wurde neu bewertet im Hinblick auf sozialen, politischen und kulturellen Wandel, auf eine Verbesserung ihrer Lage, auf mehr Freiheit und Gerechtigkeit. Historisch sichtbar gemacht wurden zuerst ihr Objektstatus und ihre Unterwerfung, dann aber auch ihr Subjektstatus und ihre Handlungsmacht (agency); denn Frauen sind nicht nur Opfer, sondern auch Akteure und gestalten ihr eigenes Leben, die Gesellschaft und die Geschichte. Ein großer Teil dieser Forschungen war von drei konzeptionellen bzw. theoretischen Herangehensweisen bestimmt, die von vielen Wissenschaftlerinnen, vor allem Historikerinnen, in den vergangenen zwei Jahrzehnten benutzt worden sind und die im ersten Teil dieses Beitrags umrissen werden. Sie verweisen auf drei Dichotomien im traditionellen Denken über Geschlechterbeziehungen, und alle drei wurden dabei nicht nur benutzt, sondern auch grundsätzlich in Frage gestellt. Im zweiten Teil geht es um drei weitere Dichotomien, die in der ✳

Der Text (hier erstmals auf Deutsch) entstand für die Konferenz des Nordic Research Council über »Strategies for Women’s Studies in the Humanities« (Helsinki 1989): Challenging Dichotomies: Perspectives on Women’s History, in: Writing Women’s History: International Perspectives, hg. v. Karen Offen u. a. im Auftrag der International Federation for Research in Women’s History, London 1991, S. 1–23, sowie in: Framtidsstrategier för humanistisk kvinnoforskning, Helsinki 1991; und im Jaarboek voor Vrouwengeschiedenis 11 (1990), S. 79–97. Ich danke Ida Blom, Mineke Bosch, Rosi Braidotti, Annarita Buttafuoco †, Sara Matthews Grieco, Karen Offen, Ruth Roach Pierson, Marjan Schwegmann, Françoise Thébaud und Heide Wunder für hilfreiche Kommentare. 1 Gerda Lerner, New Approaches to the Study of Women in History [1969], in: dies., The Majority Finds its Past. Placing Women in History, New York 1979, S. 3. Zu dem im Folgenden umrissenen Wandel vgl. inzwischen Marilyn Jacoby Boxer, When Women Ask the Questions. Creating Women’s Studies in America, Baltimore 1998.

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Entwicklung der neueren Frauengeschichtsschreibung erst später auftraten und gegenwärtig die Frauenforschung weitgehend prägen und lenken. Alle diese Dichotomien sind international diskutiert worden, aber es gibt auch einige interessante nationale Unterschiede sowohl in den Debatten selbst als auch in ihrem zeitlichen Ablauf. Besonders bemerkenswert ist der Sprachwandel, der sich in diesem Zusammenhang durchsetzte. Er ist natürlich jeweils national verschieden, aber er zeigt auch, in welchem Maß die historische Frauenforschung nationale Grenzen überschritten hat.

Objekte, Subjekte und Subjektivitäten 1. Natur versus Kultur. Um 1970 wurde besonders in den Vereinigten Staaten das Verhältnis der Geschlechter als Verhältnis – oder eher: Dichotomie – von »nature and nurture« oder »Natur« und »Kultur« diskutiert. Männer und ihre Aktivitäten wurden als Kultur gesehen, sie erschienen von kulturellem Wert, während Frauen und ihre Aktivitäten als natürlich gesehen wurden, außerhalb von Geschichte und Gesellschaft stehend, immer gleich und deshalb nicht des wissenschaftlichen, politischen oder theoretischen Interesses oder Studiums würdig. Außerdem waren es die Beziehungen der Geschlechter, und ganz besonders ihr Verhältnis von Über- und Unterordnung, welche einer Natur zugeschrieben wurden. »Natur« hieß in diesem Kontext meist Sexualität zwischen Männern und Frauen, der weibliche Körper, die Gebärfähigkeit und Mutterschaft. Vaterschaft hingegen wurde gewöhnlich nicht als natürlich gesehen, sondern als »sozial«. Wissenschaftlerinnen stellten diese traditionelle Dichotomie in Frage. Sie argumentierten, dass Natur in diesem Zusammenhang faktisch eine Minderbewertung von allem bedeutete, wofür Frauen standen, dass »›Natur‹ immer eine soziale Bedeutung« habe,2 dass sowohl »Natur« als auch »Kultur« zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten und für die verschiedenen Geschlechter Unterschiedliches bedeute und dass der weibliche Leib und seine körperlichen Fähigkeiten nicht immer und überall als Schwächen gesehen wurden, sondern auch als Grundlage gewisser Arten informeller Macht und öffentlicher Aktivitäten.3 Die Dichotomie Natur/Kultur wurde als eine spezifische 2 Carole Pateman, Feminist Critiques of the Public/Private Dichotomy, in: Anne Phillips (Hg.), Feminism and Equality, New York 1987, S. 103–126, hier S. 110. Vgl. Sherry Ortner, Is ­Female to Male as Nature is to Culture?, in: Michelle Z. Rosaldo u. Louise Lamphere (Hg.), Woman, Culture and Society, Stanford 1974, S. 67–87, hier S. 72; Nicole-Claude Mathieu, Man-­ Culture and Woman-Nature?, in: WSIQ 1 (1978), S. 55–65. Zur Bedeutung von Dichotomien vgl. Nancy Jay, Gender and Dichotomy, in: FS 7/1 (1981), S. 38–56. 3 Vgl. Gianna Pomata, La storia delle donne: una questione di confine, in: Giovanni de Luna u. a. (Hg.), Il mondo contemporaneo: Gli strumenti della ricerca, II, Florenz 1983, S. 1434– 1469; Marilyn Strathern (Hg.), Dealing with Inequality: Analysing Gender Relations in Melanesia and Beyond, Cambridge 1987.

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und vielleicht spezifisch westliche Art interpretiert, die Hierarchie zwischen den Geschlechtern auszudrücken. Die binären Termini dieser Dichotomie beziehen sich nur scheinbar auf antagonistische und unabhängige Größen; tatsächlich beziehen sie sich auf eine Hierarchie von sozialen Realitäten und kulturellen Bedeutungen, und zwar zwischen eng miteinander verflochtenen und voneinander abhängigen Termini. Mit anderen Worten: es gibt keine solche Natur ohne eine solche Kultur, keine solche Kultur ohne eine solche Natur. Eines der sprachlichen Ergebnisse solcher Einsichten ist es, dass der Begriff »Natur« nunmehr meist in Anführungszeichen gesetzt wird. Die Erforschung der Identifikation von Frauen mit Natur, von weiblicher Körperlichkeit und körperbezogenen Aktivitäten, etwa Mutterschaft und Fürsorge, brachte eine Reihe wichtiger Studien über diese ausgeprägt weiblichen Bereiche hervor. Von französischen Historikerinnen stammen einige der frühen Untersuchungen über die Geschichte von Müttern und Mutterschaft. Bald darauf haben Forschungen über den weiblichen Körper gezeigt, in welchem Maß er historisch geprägt und abhängig vom kulturellen Kontext ist.4 Feministische Philosophinnen, vor allem in Frankreich, entwerfen Theorien, die gerade von der weiblichen Erfahrung ausgehen, und diese Herangehensweise stieß besonders in den Vereinigten Staaten auf großes und kontroverses Interesse.5 Andererseits haben französische und andere Historikerinnen argumentiert, dass eine solche Konzentration auf weibliche »Natur« politisch kontraproduktiv sein könne, weil sie traditionelle Stereotypen bestärke, denen zufolge Frauen als primär durch ihren Körper, Mutterschaft und Sexualität definiert erscheinen, und weil sie die bedeutsameren politischen Dimensionen der Frauengeschichte übergehe.6 2. Arbeit versus Familie. Eine zweites theoretisches Konzept, das Frauen sichtbar machen und ihre Identifizierung mit dem bloß Natürlichen, Unveränderlichen und deshalb Uninteressanten dekonstruieren sollte, bot die Konzentration auf die ihnen eigentümlichen Arten von Arbeit. Was als Natur erschienen war, wurde jetzt als Arbeit gesehen: Gebären (im Englischen heißt es auch­ labour), das Aufziehen von und die Fürsorge für Kinder, die Versorgung des Ernährer-Ehemannes und anderer Familienangehöriger. Diese Tätigkeiten »Arbeit« zu nennen bedeutete, die Dichotomie »Arbeit und Familie« in Frage zu 4 Vgl. Yvonne Knibiehler u. Catherine Fouquet, L’histoire des mères du moyen-âge à nos jours, Paris 1980; Françoise Thébaud, Quand nos grand-mères donnaient la vie, Lyon 1986; Susan R. Suleiman (Hg.), The Female Body in Western Culture, Cambridge 1986. 5 Vgl. z. B. die Themenhefte von Signs 5/4 (1980) u. 6/1 (1980): Women: Sex and Sexuality; und 7/1 (1981): French Feminist Theory; Elizabeth Grosz, Philosophy, Subjectivity and the Body: Kristeva and Irigaray, in: Carole Pateman u. Elizabeth Grosz (Hg.), Feminist Challenges: Social and Political Theory, Sydney 1986, S. 125–143. 6 Michelle Perrot (Hg.), Une histoire des femmes est-elle possible?, Paris 1984; Cécile Dauphin u. a., Culture et pouvoir des femmes: essai d’historiographie, in: Annales: E. S. C. 41 (1986), S. 271–293.

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stellen (weil für Frauen Familie Arbeit heißen kann), aber ebenso die Dichotomie »Arbeit und Muße« (weil die Muße der Männer für Frauen Arbeit bedeuten kann) und schließlich »arbeitende Männer und versorgte Ehefrauen« (weil Ehefrauen durch ihre Arbeit die Männer versorgen). Es bedeutete, die Auffassung in Frage zu stellen, dass nur dort gearbeitet wird, wo es gegen Bezahlung geschieht. Aber Frauen haben immer gearbeitet, und unbezahlte Arbeit war und ist in hohem Maße Frauenarbeit. Offensichtlich wird Männerarbeit höher bewertet als Frauenarbeit. In theoretischer und ökonomischer Hinsicht wurde gezeigt, dass die Arbeit von Frauen seitens männlicher Arbeits- und Wirtschaftstheoretiker übersehen wurde und warum dies geschah; dementsprechend wurde der Wert oder die »Produktivität« häuslicher Arbeit diskutiert und rekonstruiert.7 In historischer Hinsicht wurde gezeigt, dass solche Arbeit außerordentlich veränderlich war, sowohl im Lauf der Zeit als auch im Vergleich verschiedener Kulturen. So wurden in den britischen und australischen Volkszählungen Hausfrauen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in die Kategorie der »Beschäftigten« aufgenommen und erst dann aus ihr ausgeschlossen; um dieselbe Zeit forderten in Deutschland und anderswo radikale Feministinnen, dass die häusliche Arbeit in das Bruttosozialprodukt aufgenommen werde.8 Man fand, dass die geschlechterspezifische Arbeitsteilung nicht lediglich eine Teilung, sondern eine Hierarchisierung der Arbeit war, und nicht nur eine der Arbeit, sondern vor allem eine geschlechterspezifische Hierarchisierung von Wert, Erwerb und Lohn. Die Niedrigkeit des Werts von Frauenarbeit setzt sich – durch ökonomische und kulturelle Vermittlung – in der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit fort. Hier, wo Frauen ebenfalls immer schon gearbeitet haben, verdienten sie in westlichen Ländern im 19. und 20. Jahrhundert nur fünfzig bis achtzig Prozent des Erwerbs von Männern, mit Veränderungen über Raum und

7 Vgl. Mariarosa Dalla Costa u. Selma James, The Power of Women and the Subversion of the Community, London 1975; Ellen Malos (Hg.), The Politics of Housework, London 1980; Luisella Goldschmidt-Clermont, Unpaid Work in the Household. A Review of Economic Evaluation Methods, Genf 1982; Bettina Cass, Rewards for Women’s Work, in: Jacqueline Goodnow u. Carole Pateman (Hg.), Women, Social Science and Public Policy, Sydney 1985, S. 67–94; Gisela Bock u. Barbara Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit (1977): vgl. dazu unten, Kapitel »Labor of Love«, hier auch zur nordamerikanischen Forschung über häusliche Arbeit; Karin Hausen, Große Wäsche. Technischer Fortschritt und sozialer Wandel in Deutschland vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, in: GG 13 (1987), S. 273–303; Sibylle Meyer, Das Theater mit der Hausarbeit. Bürgerliche Repräsentation in der Familie der wilhelminischen Zeit, Frankfurt a. M. 1982; Caroline Davidson, Woman’s Work is Never Done: A History of Housework in the British Isles 1650–1950, London 1982. 8 Vgl. Desley Deacon, Political Arithmetic: The 19th-Century Australian Census and the Construction of the Dependent Woman, in: Signs 11/1 (1995), S. 27–47; Edward Higgs, Women, Occupations and Work in the 19th-Century Censuses, in: HW 23 (1987), S. 59–80; Martine Martin, Menagère une profession? Les dilemmes de 1’entre-deux-guerres, in: MS 140 (1987), S. 89–106. Zum Memorandum deutscher Feministinnen an das Kaiserliche Statistische Amt: Die Frauenbewegung 3 (1.2.1901).

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Zeit.9 Beschäftigung in den Fürsorge-, Pflege- und Versorgungsberufen (care work), wo Frauen die überwiegende Mehrheit stellen, garantiert ihnen nur selten ein Einkommen, das mit Anstand fürs Überleben ausreicht,10 wofür der Krankenschwesterstreik von 1989 in Westdeutschland als Beispiel gelten kann. Die neuerliche Zunahme der Zahl alleinerziehender Mütter hat zu einer »Feminisierung der Armut« geführt, die sogar über das traditionell hohe Ausmaß weiblicher Armut hinaus geht.11 Die scheinbare Dichotomie zwischen »Arbeit und Familie«, zwischen Männern als Arbeitenden und Frauen als »Nicht«-Arbeitenden, zwischen solchen, die »arbeiten«, und solchen, die »zuhause bleiben«, erweist sich als eine zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit, zwischen unterbezahlter und an­ständig bezahlter Arbeit, zwischen dem höheren bzw. dem minderen Wert von Männer- bzw. Frauenarbeit. Offenbar ist die zugrundeliegende Annahme von sich gegenseitig ausschließender Höherwertigkeit und Minderwertigkeit ein weiteres Merkmal solcher geschlechtsbestimmter Dichotomien. Die Herausforderung, welche die Frauenforschung an solche binären Oppositionen stellt, ist offensichtlich verbunden mit den politischen und wirtschaftlichen Heraus­forderungen, die unbezahlte Arbeit zu bezahlen, das Einkommen von Frauen in unterbezahlten Jobs zu erhöhen und sie in höherer Zahl in gutbezahlten Berufen zuzulassen. Sie hat auch manchen Sprachwandel bewirkt. Obwohl im Englischen die Begriffe »working woman« und »working mother« immer noch für Erwerbstätige reserviert sind und obwohl nichterwerbstätige Frauen immer noch oft als »non-working« bezeichnet werden, werden die Begriffe »work and family« zunehmend durch »paid and unpaid work« ersetzt. Im Deutschen unterscheiden Historikerinnen und Historiker der Frauengeschichte meist systematisch zwischen »Arbeit« und »Erwerbstätigkeit«, und anstelle von »Arbeitslosigkeit« heißt es »Erwerbslosigkeit«. 3. Öffentlich versus Privat. Ein dritter konzeptioneller Rahmen für Frauengeschichte ist das Verhältnis zwischen »öffentlich« und »privat« oder dem Politischen und dem Persönlichen oder der Sphären von Macht und von Häuslichkeit. Traditionelle politische Theorie sah hier wiederum eine Dichotomie sich gegenseitig ausschließender Dimensionen, identisch mit der weiblichen »Sphäre« bzw. der männlichen »Welt«. Frauenforschung hat diese Sichtweise tiefgreifend in Frage gestellt und ihre Unzulänglichkeit für das Verständnis 9 Vgl. z. B. Alice Kessler-Harris, Out to Work. A History of Wage-Earning Women in the United States, Oxford 1982; Julie A. Matthaei, An Economic History of Women in America, New York 1982; Angela V. John, Unequal Opportunities: Women’s Employment in England 1800–1918, Oxford 1986; Ann Curthoys, Equal Pay, a Family Wage or Both: Women Workers, Feminists and Unionists in Australia since 1945, in: Barbara Caine u. a. (Hg.), Crossing Boundaries. Feminisms and the Critique of Knowledge, Sydney 1988, S. 129–140. 10 Vgl. Regina Morantz-Sanchez, Nurses and their History, in: WRB 6/4 (1989), S. 12–14. 11 Hilda Scott, Working Your Way to the Bottom: The Feminization of Poverty, London 1994; Wolfram Fischer, Armut in der Geschichte, Göttingen 1982; Bettina Cass, The Feminisation of Poverty, in: Caine u. a. (wie Anm. 9), S. 110–128.

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von Politik und Gesellschaft aufgezeigt. Der Slogan »das Persönliche ist politisch« verweist darauf, dass die Frage der Macht nicht auf »große Politik« beschränkt ist, sondern auch innerhalb der Geschlechterbeziehungen auftritt. Männer bewohnen beide Sphären und herrschen in beiden, während als richtiger Ort der Frauen nur die häusliche Sphäre und ihre Unterordnung unter den Vater oder Ehemann zu gelten pflegte. Das bedeutet – einerseits –, dass die Dichotomie nicht eine zwischen zwei autonomen, symmetrischen und äquivalenten Sphären ist, sondern eine komplexe Beziehung von Über- und Unterordnung, Macht und Machtlosigkeit.12 Andererseits haben Frauenforschungen gezeigt, dass die öffentliche »Welt« wesentlich auf der häuslichen »Sphäre« beruht. Männliche Arbeiter, Politiker, Gelehrte und Wissenschaftler vermögen ihren Aufgaben nur deshalb nachzugehen, weil Frauenarbeit sie geboren, aufgezogen und versorgt hat. Die Grenzen zwischen Öffentlich und Privat haben sich über die Zeit und die Kulturen hinweg vielfach verschoben, so etwa zwischen »privater« Hilfstätigkeit und »öffentlicher« Fürsorge; in beiden spielten Frauen eine bedeutsame Rolle.13 Staatliche Politik hat Frauen keineswegs übersehen, sondern hat ihre persönlichen Umstände durch öffentliche Intervention geprägt, beispielsweise durch Gesetzgebung hinsichtlich von Vergewaltigung oder Abtreibung und auch durch das Vermeiden von gesetzgeberischer Intervention. Die modernen Sozialstaaten haben in der Regel Frauen im Bereich von Altersrenten und Erwerbslosenunterstützung diskriminiert; sie haben Mutterschaftsurlaub für erwerbstätige Frauen eingeführt, ohne deren Verdienstausfall zu kompensieren – in Europa änderte sich das großenteils durch die Kämpfe der ersten großen Frauenbewegungen seit der Jahrhundertwende –, und Reformen der Einkommensteuer haben Ehemänner und Väter unterstützt, nicht aber Ehefrauen und Mütter.14 Der Sozialstaat hat die weibliche Sphäre nicht ausgeschlossen, sondern sie – als private – eingeschlossen und damit impliziert, dass sie unter der ehemännlichen Herrschaft steht. Der nationalsozialistische Staat ging weit darüber hinaus, denn seine Intervention zerstörte tendenziell die Privatsphäre – allerdings nicht, wie oft zu hören ist, durch die Beförderung von Mutterschaft, sondern durch die Beförderung des genauen Gegenteils: eine Politik 12 Vgl. Carole Pateman, The Sexual Contract, Cambridge 1988, bes. Kap. 1. Der Slogan »the personal is political« trat im Jahr 1970 auf (in: Notes from the Second Year. Women’s Liberation); vgl. URL: http://www.carolhanisch.org/CHwritings/PIP.html. 13 Leonore Davidoff u. Catherine Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class, 1780–1850, London 1987; Frank Prochaska, Women and Philanthropy in 19th-Century England, Oxford 1980; für Deutschland vgl. Iris Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914, Frankfurt a. M. 2001. 14 Carole Pateman, The Patriarchal Welfare State, in: Amy Gutman (Hg.), Democracy and the Welfare State, Princeton 1987, S. 231–60. Vgl. auch Jane Lewis (Hg.), Women’s Welfare, Women’s Rights, London 1983; Cora V. Baldock u. Bettina Cass (Hg.), Women, Social Welfare and the State in Australia, Sydney 1983; Jennifer Dale u. Peggy Foster (Hg.), Feminists and State Welfare, London 1986; Helga Maria Hernes, Welfare State and Women Power, Oslo 1987; Seth Koven u. Sonya Michel, Gender and the Origins of the Welfare State, in: Radical History Review 43 (1989), S. 112–119.

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der zwangsweisen Massensterilisation für Frauen und Männer, die als rassenhygienisch »minderwertig« galten. Diese antinatalistische Politik gründete sich explizit auf die Lehre, dass »das Private politisch« sei und dass die Bestimmung der Grenzen zwischen dem Politischen und dem Privaten Sache der Politik sei. Nationalsozialisten zufolge war es die Sterilisationspolitik, die den »Primat des Staats auf dem Gebiet des Lebens, der Ehe und der Familie« etablierte.15 Die Historische Frauenforschung hat auch entdeckt, dass das, was von den einen als »privat« wahrgenommen wird, anderen als »öffentlich« gilt. So betonten viele Feministinnen der klassischen Frauenbewegung die öffentliche Bedeutung der häuslichen Aufgabe, Kinder zur Welt zu bringen und aufzuziehen. Sie verlangten, dass diese Aufgabe neu bewertet werde, und viele gründeten ihre Forderung nach gleichberechtigter politischer Bürgerschaft auf die Vision einer solchen »Sphäre«, die in ihrer Beziehung zur bürgerlichen Gesellschaft allerdings nicht als Dichotomie sich wechselseitig ausschließender und hierarchischer Termini verstanden wurde, sondern als Quelle von gleichen Rechten und gleicher Verantwortung des weiblichen Geschlechts.16 Auf dieser Grundlage stellten sie nicht nur und nicht so sehr die geschlechterbestimmte Arbeitsteilung, sondern die geschlechterbestimmte Machthierarchie in Frage. In diesem Sinn argumentierte die kürzlich verstorbene Anthropologin Michelle Zimbalist Rosaldo, dass Frauen die männliche Herrschaft in Frage stellen konnten – und das taten –, indem sie sich entweder um Zugang zur spezifisch männlichen Sphäre bemühten oder indem sie die Wertschätzung ihrer eigenen Sphäre verlangten oder aber beides zugleich taten.17 Historikerinnen der Frauengeschichte haben außerdem gezeigt, dass die traditionelle, viktorianische (»bürgerliche«) Version der weiblichen »separaten Sphäre«, die des 19. Jahrhunderts, keineswegs in einem simplen Sinn Unterdrückung bedeutete, sondern oft auch einen beträchtlichen Freiraum für weibliche Subjektivität beließ oder eröffnete, für Frauenfreundschaften und die Entwicklung einer Frauenkultur.18 ✳ ✳ ✳ 15 Für jene Lehre beriefen sich die Autoren des Sterilisationsgesetzes von 1933 auf Carl Schmitt; vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus: Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986 (20102), Zitate S. 87 (89). 16 Karen Offen, Depopulation, Nationalism, and Feminism in Fin-de-Siècle France, in: AHR 89 (1984), S. 648–676; Paula Baker, The Domestication of Politics, in: ebd., S. 620–647, bes. S. 646; Karen J. Blair, The Clubwoman as Feminist, New York 1980; Barbara Leslie Epstein, The Politics of Domesticity, Middletown 1981; Mary Madeleine Ladd-Taylor, Mother-Work: Ideology, Public Policy, and the Mothers’ Movement, 1890–1930, PhD Diss. Yale University 1986 (erschienen 1994). 17 Rosaldo u. Lamphere, Introduction, in: dies. (wie Anm. 2), S. 37–38. 18 Carroll Smith-Rosenberg, Disorderly Conduct: Visions of Gender in Victorian America, New York 1985; Linda Kerber, Separate Spheres, Female Worlds, Women’s Place: The Rhetoric of Women’s History, in: JAH 75/1 (1988), S. 9–39; Lois W. Banner, Women’s History in the United States: Recent Theory and Practice, in: Esther Katz (Hg.), Recent Work in Women’s History: East and West = Trends in History 4/1 (1985), S. 93–122.

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Diesen drei Dichtomien sind offenbar einige wichtige Merkmale gemeinsam. Sie sind in hohem Maße geschlechterbezogen, und als solche haben sie ferne Wurzeln in europäischen und westlichen Traditionen der Wahrnehmung von Geschlecht. Sie sind in der neu entstehenden Historischen Frauenforschung aufgegriffen und als wesentliche analytische Konzepte benutzt worden; zugleich wurde ihre althergebrachte anscheinende Gültigkeit für die Wahrnehmung von Geschlechterbeziehungen gründlich in Frage gestellt. Diese Infragestellung betraf die Analyse, Historisierung und Dekonstruktion von Charakter und Bedeutung dieser drei binären Oppositionen ebenso wie der Verbindungen zwischen ihnen, und sie zog die traditionelle Annahme in Zweifel, dass diese Dichotomien Ausdruck  – natürlicher und notwendiger Ausdruck  – von Geschlechterdifferenz seien. Gefragt wurde auch, ob diese Dichotomien bloß einige Beispiele unter vielen ähnlichen binären Oppositionen und dualistischen Modi des westlichen Denkens im Allgemeinen seien oder ob ihr geschlechterbezogener Charakter sie ganz besonders kennzeichne. (Natürlich haben auch andere klassische Dichotomien, etwa »subjektiv/objektiv« oder »rational/emotional«, geschlechtergeprägte Bedeutungen angenommen, wenn auch nicht alle von ihnen gleichermaßen bedeutsam für historisch-analytische Konzepte wurden; andererseits sind die oben besprochenen Dichotomien durchaus auch in Zusammenhängen von Bedeutung, die nicht primär geschlechtergeprägt sind.) Aber wann immer sie zur Beschreibung von Geschlechterbeziehungen benutzt werden, verweisen sie nicht so sehr auf separate, autonome, unabhängige, äquivalente duale Sphären als auf hierarchische Beziehungen: auf Hierarchien von Sphären, Bedeutungen, Werten, von Minderwertigkeit und Höherwertigkeit, von Subordination und Macht; mit anderen Worten: auf Beziehungen, wo »Natur« der »Kultur« untergeordnet wird, wo die Welt der »Arbeit« gegenüber derjenigen der »Familie« und das »Politische« gegenüber dem »Privaten« dominiert.

Geschlechtergleichheit, Geschlechterdifferenz und Autonomie Bemerkenswerterweise hat derselbe Prozess, durch den Frauen historisch (und nicht nur historisch) sichtbar wurden, indem diese binären Oppositionen oder Dichotomien kritisch in Frage gestellt wurden, wiederum zu einer Reihe neuer Dichotomien geführt, von denen in der ersten Phase der Frauenforschung wenig oder nichts bekannt war. Erst später wurden sie entwickelt, und zwar im Kontext gerade von feministisch inspirierter Wissenschaft. Teilweise sind sie das Ergebnis von Versuchen, die früheren binären Setzungen mittels neuer Konzepte und Theorien aufzulösen. Es scheint, dass zukunftsorientierte Strategien für die Historische Frauenforschung erneut genau in der Möglichkeit und Notwendigkeit liegen, diese neueren Dichotomien in Frage zu stellen. 51 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

1. »Sex« versus »Gender«. In den 1970er Jahren wurde der Begriff »gender« als eine soziale, kulturelle, politische und historische Kategorie in die Frauenforschung eingeführt, um der Erkenntnis Ausdruck zu verleihen, dass die weibliche Unterordnung, Inferiorität und Machtlosigkeit nicht von Natur aus vorgegeben, sondern soziale, kulturelle, politische und historische Konstruktionen sind. Während »gender« sich zuvor hauptsächlich (wenn auch nicht ausschließlich) auf linguistisch-grammatische Konstruktionen bezogen hatte, bezeichnete das Wort nunmehr ein bedeutendes theoretisches Konzept.19 Einer der Gründe dafür, dass es erfolgreich den Begriff »sex« ersetzte, lag in dem Beharren darauf, dass die Befassung mit Frauen keineswegs bloß das »Geschlechtswesen« meine, nicht bloß mit Sexualität, Hausfrauendasein und Mutterschaft zu tun habe, sondern mit Frauen in jedem Lebensbereich. Frauenforschung betrifft im Übrigen nicht nur die Hälfte der Menschheit, sondern die ganze, denn nicht nur Frauen sind Geschlechtswesen, sondern ebenso auch Männer, und diese sind deshalb weit davon entfernt, die Menschheit im Allgemeinen zu repräsentieren. Dementsprechend entstanden »Männergeschichte« und »Männerforschung«, die Männer »als Männer« zum Gegenstand haben. Das Konzept »gender« radikalisierte und universalisierte die Bemühungen, Frauen sichtbar zu machen, und die Einsicht, dass Geschlecht eine ebenso grundlegende wie flexible gesellschaftliche Struktur ist, bedeutete, dass Frauen- und Geschlechtergeschichte grundsätzlich jeden Bereich oder Gegenstand historischer (und auch nicht-historischer) Wissenschaft betrifft.20 Aber die neue Terminologie brachte auch beträchtliche Probleme mit sich. Sie ergeben sich aus der Tatsache, dass das Konzept »gender« in der Form einer Dichotomie eingeführt wurde. Es unterscheidet kategorisch zwischen gender und sex, wobei sex als »biologisch« und gender als »sozial« oder »kulturell« verstanden wird, und beide sah man kombiniert in einem »sex/gender-System«, in dem »raw biological sex« irgendwie in »social gender« transformiert werde (so die berühmten Formulierungen von Gayle Rubin, 1975). Die dichotomische Struktur des Paares war seit den 1950er Jahren offenkundig, als sie – schon bevor sie von der feministischen Wissenschaft aufgegriffen wurde – von männ19 Vgl. z. B. Ann Oakley, Sex, Gender and Society, London 1972; Gayle Rubin, The ­Traffic in Women: Notes on the Political Economy of Sex, in: Rayna Reiter (Hg.), Toward an Anthropology of Women, New York 1975, S. 157–210; in den 1970ern beispielsweise bei Natalie ­Z emon Davis: Gisela Bock, Women and Other Multiple Stories in Natalie Zemon ­Davis’ Historical Craft, in: Annual of Medieval Studies at Central European University, Bd.  12 (2006), S. 201–207; vgl. dies., Historische Frauenforschung: Fragestellungen und Perspektiven, in: Karin Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte, München 1983, S.  22–60, bes. S. ­33–50; Joan W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: AHR 91 (1986), S. ­1053–1075. 20 Vgl. etwa Elizabeth Grosz, What is Feminist Theory?, in: Pateman u. Grosz (wie Anm.  5), S.  194. Zu »Männergeschichte« vgl. David Morgan, Men Made Manifest: Histories and Masculinities, in: G&H 1 (1989), S. 87–91; Lois W. Banner (wie Anm. 18), S. 119 f.; dies., Book Review, in: Signs 14/3 (1989), S. 703–708; Marilyn Lake, The Politics of Respectability: Identifying the Masculinist Context, in: Historical Studies 22/86 (1986), S. 116–131.

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lichen Experten für Inter- und Transsexualität theoretisiert wurde.21 Aber diese Dichotomie zwischen dem »Biologischen« und dem »Sozialen« löst nicht den alten Streit um Natur-versus-Kultur, sondern erneuert ihn bloß. Wiederum wird die Dimension von weiblichem Körper, Sexualität, Mutterschaft und physischer Geschlechterdifferenz einer vermeintlich vor-sozialen Sphäre zugeschrieben, und schon gar nicht wird mit dem »sex/gender-System« die Frage genau be­antwortet, welcher Teil der weiblichen Erfahrung und Aktivität »biologisch« und welcher »sozial« oder »kulturell« sei. Überdies unterscheidet sich die neue Dichotomie in einem wesentlichen Element von der traditionellen. Sie reduziert die weibliche Körperlichkeit nicht mehr auf eine traditionelle Natur, sondern auf eine moderne »Biologie«. Heutzutage ist »Biologie« bei feministischen Wissenschaftlerinnen geradezu überraschend gängig, und sie verweist fast immer auf den weiblichen Körper und ganz besonders auf Mutterschaft. Der Begriff Natur wird jetzt regelmäßig in Anführungszeichen gesetzt, nicht aber »Biologie«, deren Bedeutung selbstverständlich zu sein scheint. Und doch ist sie weit davon entfernt, selbstverständlich zu sein, denn historisch und kulturell war »Biologie« selbst eine sozio-kulturelle Kategorie, ein Diskurs und eine Strategie für eingreifendes Handeln. Der Begriff begann sich im Deutschen erst um 1900 wirklich (und auch politisch) zu verbreiten, im Englischen und Französischen nur wenig früher, wie sich etwa an der Auseinandersetzung zwischen John Stuart Mill und Auguste Comte ablesen lässt, in deren Folge Mill mit Comte brach, weil dieser Frauen auf »Bio­logie« reduzierte.22 Der Begriff wurde von Linken und Rechten aufgegriffen und bedeutete in zahlreichen Zusammenhängen »Minderwertigkeit«. Moderne »Biologie« ist ebenso wenig selbstverständlich wie »Natur« in der traditionellen Sprache, aber sie hat vermutlich bedrohlichere Konsequenzen für Frauen­studien und Frauenbefreiung, insbesondere angesichts zunehmender Infragestellung von Natur in den Naturwissenschaften (und besonders der Biologie). Der neue feministische Gebrauch von »Biologie« im Unterschied  – und Gegen­satz – zu Geschlecht als soziale Kategorie hat es möglich gemacht, dass Geschlecht nicht nur als radikalisierende Waffe in der intellektuellen Debatte genutzt wird, sondern auch als Mittel, Frauen erneut unsichtbar zu machen. Zuweilen hat Geschlecht einen geschlechterneutralen Diskurs ermöglicht, der impliziert, dass Frauen und Männer nicht einem »sex« zugehören, sondern einem »gender«, nämlich in dem Sinne, dass sie in Wirklichkeit nichts anderes als essentiell identische »Individuen« seien und dass »sex« bedeutungslos sei, weil es 21 Robert Stoller, A Contribution to the Study of Gender Identity, in: International Journal of Psychoanalysis 45 (1964), S. 220–226; vgl. bes. Donna Haraway, »Gender« for a Marxist Dictionary: The Sexual Politics of  a Word, in: dies., Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York 1991, S. 127–148. 22 Hierzu jetzt: Vincent Guillin, Auguste Comte and John Stuart Mill on Sexual ­Equality. Historical, Methodological and Philosophical Issues, Leiden 2009.

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»Biologie« sei und deshalb sozial irrelevant.23 Auch hier drückt die Dichotomie tatsächlich eine Hierarchie aus: »gender« scheint nun wichtiger als »sex«. Andererseits gibt es feministische Versuche, diese Hierarchie umzukehren und den weiblichen Körper als eine Ressource gegenüber einer übermächtigen männlichen Kultur zu sehen (hier verweist man allerdings weniger auf »Biologie« als auf altmodische »Natur«). Beide Sichtweisen neigen dazu, derartige »Biologie« nur Frauen zuzuschreiben und die männliche »Biologie« unbefragt und un­analysiert zu belassen; außerdem wird nicht nur auf die Historisierung von »gender« verzichtet, sondern auch auf diejenige von »sex«. Feministische Wissenschaftlerinnen, die auf der Dichotomie »sex versus gender« oder »Biologie versus Kultur« insistieren, wenngleich sie sich der damit verbundenen Probleme bewusst sind, tun das zuweilen, weil es als politisch nützlich oder taktisch klug erscheint, besonders bezüglich der immer wiederkehrenden Versuche, Frauen auf ihre »biologische« Sphäre zu reduzieren, wie sie meist von antifeministischen Anhängern eines biologischen Determinismus vorgebracht werden. Doch das ist lediglich eine defensive Position, nicht ein Schritt voran. Solange nämlich intellektuelle und historische Erkenntnisse aus Gründen verworfen werden, welche von Antifeministen diktiert werden und nicht von feministischen und Frauen-Erfahrungen, werden sie nicht zu intellektuell, historisch und politisch besseren Ergebnissen führen. Und so hat etwa Mary Midgley argumentiert, dass das, was »biologischer Determinismus« genannt wird, nicht notwendig eine schärfere Attacke auf die Freiheit sei als der soziale oder ökonomische Determinismus, der in den Sozialwissenschaften durchweg akzeptiert werde, und was wirklich gefährlich sei, sei »fatalism, the pretence that problems which are in our control lie outside it and are uncurable.«24 Schließlich ist die dichotomische Unterscheidung zwischen sex und gender großenteils ein spezifisches Phänomen der englischen Sprache. Es wurde versucht, sie in andere Sprachen einzuführen – sesso versus genere im Italienischen, sexe versus genre im Französischen –, aber ihre sprachlichen Dynamiken und Konnotationen können sehr unterschiedlich sein (auch hatte die traditionelle Kontroverse »nature versus nurture« geringere Wirkung in Italien und anderen romanischsprachigen Ländern als in den englisch- und deutschsprachigen sowie den skandinavischen Ländern). So wird das englische »gendered being« im Italienischen wohl weiterhin ein »essere sessuato« bleiben.25 Beispielsweise türkische (und viele andere)  Wissenschaftlerinnen müssen schlichtweg beide Termini auf Englisch benutzen, weil ihre eigene Sprache andere Ausdrücke für Geschlechterbeziehungen hat. Im Deutschen gibt es nur einen einzigen Begriff 23 Vgl. Pateman (wie Anm. 12), S. 225. 24 Mary Midgley, On Not Being Afraid of Natural Sex Difference, in: Morwenna ­Griffiths u. Margaret Whitford (Hg.), Feminist Perspectives in Philosophy, London 1988, S. 38 f. 25 Vgl. Paola Di Cori, Dalla storia delle donne a una storia di genere, in: RSC 16 (1987), S. 548– 559, hier S. 548 f.; Les Cahiers du Grif 37–38 (1988), Themenheft zu Le genre de I’­histoire.

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für beide, den alten Terminus »Geschlecht«, der sich auf das grammatische Geschlecht, die sexuelle Physiologie, die beiden Geschlechter, Familien- und Generationengeschlechter ebenso bezieht wie auf die Menschheit insgesamt, das »Menschengeschlecht«. Wer die deutsche Sprache benutzt, sieht sich somit in der gleichermaßen schwierigen wie vielversprechenden Lage, mit dieser Terminologie nicht scharf (und problematischerweise) zwischen Physiologie und Kultur unterscheiden zu können.26 Viele deutsche Theoretikerinnen und auch Historikerinnen ziehen es allerdings vor, statt die Dichotomie zu hinterfragen, sie mittels plakativer und wenig hilfreicher Adjektive noch zu radikalisieren (als »biologisches« und »soziales« Geschlecht). Doch in dieser Situation sollte weder die Dichotomie radikalisiert noch etwa das Konzept »gender« in Frage gestellt werden (wie manche feministischen Historikerinnen es offenbar gern sehen würden); in Frage gestellt werden sollte vielmehr die sprachliche und theoretische Dichotomie von sex und gender. Vor allem in der Geschichtswissenschaft sowie den Geistes- und Sozialwissenschaften könnte sie durch ein Verfahren herausgefordert werden, das schon auf fruchtbare Weise in der Geschichtsschreibung benutzt worden ist: Der Begriff »Biologie« im Sinn von weiblichem Körper, von dessen Wahrnehmungen und Aktivitäten sollte schlichtweg fallen gelassen werden (es gibt durchaus andere und bessere Begriffe); »Geschlecht« ebenso wie »gender« sollten in einem umfassenden Sinne benutzt werden, der gleichermaßen die physische wie die kulturelle Dimension einschließt, und »sex« kann im selben Sinn wie »gender« benutzt werden; dadurch wird Raum für Kontinuitäten anstelle von Polaritäten in der Bedeutung der Begriffe geschaffen.27 2. »Gleichheit« versus »Differenz«. Die Problematik der sex/gender-Dichotomie ist eng verwandt mit derjenigen einer weiteren Dichotomie, die uns heute auf eine neue Weise entgegentritt, in einer internationalen Debatte, die in verschiedenen Ländern unterschiedliche Formen und Phasen angenommen hat: die­ jenige von »Gleichheit« und »Differenz«. Die Frauenforschung beruhte großenteils auf dem Konzept von Gleichheit der Geschlechter (»sexual« oder »gender equality«) als analytischem Instrument, und physiologische Unterschiedlichkeit wurde als unbedeutend heruntergespielt, weil sie so oft zur Legitimierung der Diskriminierung von Frauen benutzt worden war. In dieser Perspektive wurde gefordert, dass Frauen genauso behandelt werden wie Männer, als ob sie Männer wären, und dass neue Gesetze und Reformen geschlechterneutral formuliert werden (so etwa in der Frauenrechtskommission des Europäischen Parlaments), 26 Das betont auch Haraway (wie Anm. 21). 27 In einem nicht-dichotomischen Sinn wurden Geschlecht, gender und genre auch früher schon benutzt; vgl. z. B. Scott, Gender (wie Anm.  19), S.  1053, und Karen Offens Studien zum 18. und 19. Jahrhundert, jetzt bes. in: dies., European Feminisms, 1700–1950: A Political History, Stanford, CA 2000, z. B. S. 32, 409; Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, München 20052, S. 20.

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um auf diese Weise Geschlechterdifferenz auszuschalten und Männlichkeit wie Weiblichkeit politisch irrelevant zu machen. Andere feministische Autorinnen argumentieren hingegen, dass brennende Fragen wie Vergewaltigung, sonstige Gewalt gegen Ehefrauen oder Abtreibung nicht adäquat auf geschlechterneutrale Weise behandelt werden könne; dass weibliche »Differenz«, physische wie soziale, nicht ausgelöscht, sondern – in historischer, philosophischer und rechtlicher Sicht – anerkannt werden solle; dass sie nie eine Chance hatte, autonome politische und kulturelle Formen zu entwickeln, außer etwa in sozialen Nischen und in Opposition zur dominanten Kultur; dass eine kritische Bewertung der eigentümlichen Bedürfnisse und Aktivitäten von Männern einhergehen müsse mit einer Wertschätzung der eigentümlichen Bedürfnisse und Aktivitäten von Frauen, um auf diese Weise Alternativen sowohl zu weiblicher Inferiorität als auch zu einer Assimilation von Frauen an Männer zu eröffnen. Die bekannteste Vertreterin einer ausschließlichen Orientierung auf »Gleichheit« war Shulamith Firestone mit ihrem Bestseller »The Dialectic of Sex« (1970). Geschrieben zu einer Zeit, in der das Wort »gender« noch nicht sehr verbreitet war, wurde in dem Buch vorgeschlagen, die weibliche »Biologie«  – Geschlechtsunterschied, Schwangerschaft und physische Mutterschaft  – abzuschaffen, nämlich mittels moderner Technik, die damals noch mit dem Stichwort »Retorten­baby« bezeichnet wurde, und der Kinderversorgung durch andere als die »biologische« Mutter; erst dann, befreit vom Anders-Sein, könnten Frauen den Männern wirklich gleich werden (»the end goal of feminist revolution« sei »not just the elimination of male privilege but of the sex distinction itself: genital differences between human beings would no longer matter culturally«).28 Auf der anderen Seite, und ebenfalls international diskutiert, stehen vor allem Carol Gilligans psychologische Studien der 1980er Jahre über die »andere Stimme« von Frauen. Sie vermied »biologischen« Reduktionismus und argumentierte, dass die eigentümliche Entwicklung des moralischen Urteils bei jungen Frauen  – im Vergleich zu demjenigen bei jungen Männern  – weniger die Werte von individuellen Rechten und Ansprüchen hervorhebt als diejenigen von Sorge für andere (care), Verantwortung und mitmenschliche Beziehungen. Doch keineswegs sollten diese Werte als minderwertig gegenüber denen der Knaben gelten (wie es in der damaligen Psychologie der Fall war), sondern sie sollten als gleichwertig anerkannt, respektiert und auch von Männern übernommen werden.29 Die Verschiebung des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses an »Gleichheit« zu einem an »Differenz« ist besonders sichtbar und kontrovers 28 Shulamith Firestone, The Dialectic of Sex. The Case for Feminist Revolution, New Haven 1970, Zitat S. 11; dt. (übers. v. Gesine Strempel): Frauenbefreiung und sexuelle Revolution, Frankfurt a. M. 1975. 29 Carol Gilligan, In  a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge 1982; dt. (übers. v. Brigitte Stein): Die andere Stimme: Lebenskonflikte und Moral der Frau, München 1984.

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in den Vereinigten Staaten.30 Aber sie ist keineswegs neu. In den 1960er Jahren war die Frage von der Frauenbewegung und der Frauenforschungsbewegung aufgeworfen worden. Sie stellten die damals vorherrschende Annahme in Frage, dass »gleiche Rechte« allein schon die Befreiung der Frauen mit sich bringen können. Manchmal wurde diese Annahme auch als spezifisch für die Kultur der Weißen gesehen; 1968 formulierte dies die afroamerikanische Feministin Margaret Wright so: »In black women’s liberation we don’t want to be equal with men, just like in black liberation we’re not fighting to be equal with the white man. We’re fighting for the right to be different and not be punished for it.«31 In Italien wurden feministische Geschichtsschreibung, Philosophie und Feminismus überhaupt lange Zeit als il pensiero della differenza sessuale bezeichnet, sowohl bei Feministinnen als auch in der Alltagssprache: nämlich Denken und Handeln in Termini von sexueller Differenz, wobei man auf einer weiblichen Subjektivität insistierte, die eine Assimilation (»Homologisierung«) an männliche Versionen von Subjektivität verweigerte, etwa Werte und Rechte wie Konkurrenz, Besitz, Herrschaft. Die Betonung von »differenza«, so heißt es, bedeute keineswegs Schwäche oder Resignation; vielmehr sei sie ein wirkmächtiges Werkzeug der Frauenbefreiung, und man unterscheidet diese Art von Feminismus vom »Emanzipationismus« (emancipazionismo), der lediglich dieselben Rechte und dieselbe Behandlung fordert, wie sie Männer erfahren – und das heiße: zu wenig.32 Die Politikwissenschaftlerin Carole Pateman hat dar­gelegt, dass »Frauen Merkwürdiges passieren kann, wenn man von der Annahme ausgeht, dass die einzige Alternative zur patriarchalen Konstruktion von Geschlechterdifferenz das vermeintlich geschlechtsneutrale Individuum« sei.33 Eine dieser Merkwürdigkeiten ist das Argument, das der U. S. Supreme Court in den 1970er Jahren benutzte, dass nämlich die Diskriminierung von Schwangeren und jungen Müttern, denen Mutterschaftsurlaub und Wochengeld vorenthalten wird, nicht als Diskriminierung aufgrund von Geschlecht gelten könne, weil viele Frauen weder schwanger noch Mütter sind; in anderen Worten: Mutterschaft habe nichts mit Frau-Sein zu tun. Andere Beispiele sind die Sozialpolitiken europäischer Staaten, die monetäre Mutterschaftsleistungen zwar mit weniger Problemen zubilligen als die USA, aber sie auf der Grundlage gewähren, 30 Kontrovers vor allem im Kontext der Niederlage des Equal Rights Amendments, des Prozesses von U. S. Equal Employment Opportunity Commission gegen Sears and Roebuck (vgl. dazu bes. Jacquelyn Dowd Hall, Women’s History Goes to Trial, in: Signs 11 [1986], S. 751– 779, und Stephanie Riger, Comment, in: 13/4 [1988], S. 897–903) sowie des Rechtsstreits um Urlaub und monetäre Leistungen im Fall von Mutterschaft erwerbstätiger Frauen; vgl. Joan Hoff-Wilson, The Unfinished Revolution: Changing the Legal Status of U. S. Women, in: Signs 13/1 (1987), S. 7–36. 31 Margaret Wright, I Want the Right to Be Black and Me, in: Gerda Lerner (Hg.), Black­ Women in White America, New York 1972, S. 608. 32 Vgl. z. B. Adriana Cavarero u. a., Diotima. Il pensiero della differenza sessuale, Mailand 1987. 33 Pateman (wie Anm. 12), S. 187.

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dass Schwanger­schaft und Geburt eine Krankheit seien.34 Diese Argumente und Praktiken entstammen den Bemühungen männlicher paternalistischer Politiker, die weibliche Erfahrung von Mutterschaft mit der männerzentrierten Politik und Erfahrung der Krankenversicherung zu homologisieren, die Frauen und Mütter nicht in ihrem eigenen Recht anerkannte (und den weiblichen und feminis­tischen Bemühungen, finanzielle Unterstützung für erwerbstätige Mütter inner­halb des etablierten Versicherungssystems zu erwirken). Manche Wissenschaftler glauben, dass die Dichotomie »Gleichheit versus Differenz« lediglich eine falsche sei, mehr das Ergebnis von Missverständnissen als von Erkenntnis. Aber andere insistieren auf dem sich gegenseitig ausschließenden Charakter der Beziehung zwischen »Gleichheit« und »Differenz« und deshalb auf der Notwendigkeit einer Entweder-Oder-Wahl. Die Histo­ rikerin Joan Hoff-Wilson drängt darauf, dass vor allem seitens feministischer Führungsgestalten eine Entscheidung getroffen werde, nämlich zwischen entweder »Gleichheit zwischen den Geschlechtern, die auf vorherrschenden maskulinen Gesellschaftsnormen beruht,« oder aber »Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, die auf einer Anerkennung von gleichen, aber trotzdem unterschiedlichen sozialisierten Verhaltensmustern basiert«.35 Auf der anderen Seite hält die Historikerin Joan Scott dies für »eine unmögliche Wahl« und stellt genau diese Dichotomie selbst in Frage.36 Auch ich halte jene Wahl für in­ akzeptabel, unter anderem deshalb, weil sowohl das »Differenz-Dilemma« (dass »Differenz« offen oder implizit dazu benutzt wird, die Minderwertigkeit von Frauen im Vergleich mit Männern zu behaupten) als auch das »Gleichheits-­ Dilemma« (dass »Gleichheit« offen oder implizit dazu benutzt wird, Geschlechterunterschiede zugunsten von weiblicher Assimilation an männliche Gesellschaftsnormen auszuschalten) bisher keineswegs ausreichend ausgelotet sind.37 Solche Auslotung sollte auf die Agenda der künftigen Historischen Frauen­ forschung gesetzt werden. Warum, zum Beispiel, scheinen sich »Gleichheit« und »Gerechtigkeit« im Fall von Männern gegenseitig zu ergänzen, aber im Fall von Frauen einander auszuschließen? Warum wird »Differenz« nur einer Hälfte der Menschheit zugeschrieben und nicht der anderen? Warum ist »Gleichheit«  – 34 Zu den juristischen und politischen Debatten um die Entscheidungen des Supreme Court vgl. Wendy W. Williams, The Equality Crisis: Some Reflections on Culture, Courts, and Feminism, in: Women’s Rights Law Reporter 7/3 (1982), S. 175–200; dies., Equality’s Riddle: Pregnancy and the Equal Treatment/Special Treatment Debate, in: New York University Review of Law and Social Change 13 (1984/85), S. 325–380; Sylvia A. Law, Re­t hinking Sex and the Constitution, in: University of Pennsylvania Law Review 132 (1984), S. 955–1040; Herma Hill Kay, Models of Equality, in: University of Illinois Law Review 1 (1985), S. 39–88; Lucinda M. Finley, Transcending Equality Theory: A Way Out of the Maternity and the Workplace Debate, in: Columbia Law Review 86 (1986), S. 1118–1183. 35 Hoff-Wilson (wie Anm. 30), S. 36. 36 Joan W. Scott, Deconstructing Equality-versus-Difference: or, The Uses of Poststructuralist Theory of Feminism, in: FS 14/1 (1988), S. 43. 37 Zum »difference dilemma« vgl. ebd., S. 48 u. 39. Zu »Wollstonecraft’s dilemma« vgl. Pateman (wie Anm. 14), S. 252.

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bekanntermaßen seit der Französischen Revolution, aber durchaus auch schon in früherem politischen Denken – derart eng mit »Brüderlichkeit« verbunden, aber nicht mit Schwesterlichkeit?38 Wiederum scheint der einzige Weg nach vorne der zu sein, die Dichotomie selbst in Frage zu stellen, und das zu tun, indem die sexistischen Konstruktionen sowohl von Differenz als auch von Gleichheit analysiert und demontiert werden: einer Gleichheit also, die bloß auf »vorherrschenden maskulinen Gesellschaftsnormen beruht,« und einer (weiblichen) Differenz, die bloß als »sozialisierte Verhaltensmuster« verstanden wird. Eine italienische Philosophin der differenza sessuale unterstreicht, dass es durchaus möglich ist, »sowohl different als auch gleich zu sein«, wenn nämlich Gleichheit nicht heißt, »eine der beiden unterschiedlichen Größen in der anderen aufzulösen«, wenn »jede der beiden differenten Seiten frei ist und wenn das Konzept von Gleichheit seine Fundierung in der Logik der abstrakten Universalisierung des männlichen Einen radikal verabschiedet.«39 Carole Pateman hat diese Dichotomie untersucht und hinterfragt durch eine Kritik an der traditionellen Konstruktion von Gleichheit als Beziehung zwischen »Individuen«, die wesentlich dem gleichen – männlichen – Geschlecht angehören, und die Differenz ausschließt, also Frauen. Pateman hat außerdem eine Kritik der traditionellen Konstruktion von Differenz geliefert, die keineswegs in Termini von Natur definiert wird, sondern in den politischen Termini von Unterordnung, Minderwertigkeit und Machtlosigkeit.40 Die Debatte scheint von besonderer Bedeutung für die Frauen- und Geschlechtergeschichte zu sein, nicht zuletzt wegen des Umstands, dass die Er­ forschung von Frauen und Geschlechtern nicht nur in solchen historischen Situationen wichtig ist, wo Frauen und Männer unterschiedlich behandelt wurden, sondern auch dort, wo sie weitgehend identisch behandelt wurden – so bei den Opfern des nationalsozialistischen Antisemitismus und Holocaust, die ungeachtet ihres Geschlechts zu Opfern wurden.41 Aber Geschichte kann auch für die heutigen Versuche, jene Dichotomie in Frage zu stellen, nützlich sein, und drei historische Themen mögen zeigen, dass wir keineswegs die erste Generation sind, die sich damit auseinandersetzt. Karen Offen, Annarita ­Buttafuoco und Jane Rendall haben kürzlich darauf hingewiesen, dass die westlichen Frauen­bewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Theorie und Praxis genau damit befasst waren, und sie bemühten sich darum, ein neues Verhält38 Vgl. Pateman (wie Anm. 12), bes. S. 3 u. Kap. 4. 39 Adriana Cavarero, Equality and Sexual Difference: Amnesia in Political Thought, in: Gisela Bock u. Susan James (Hg.), Beyond Equality and Difference. Citizenship, Feminist Politics and Female Subjectivity, London 1992, S. 32–47, Zitat S. 45. 40 Carole Pateman, Equality, Difference, Subordination: the Politics of Motherhood and­ Women’s Citizenship, in: ebd., S.  17–31. Vgl. dies., Sexual contract (wie Anm.  12); Jean Bethke Elshtain, The Feminist Movement and the Question of Equality, in: Polity 2/4 (1975), S. 452–477; Douglas W. Rae u. a., Equalities, Cambridge 1981. 41 Vgl. Gisela Bock, Gleichheit und Differenz in der nationalsozialistischen Rassenpolitik, in: GG 19/3 (1993), S. 277–310.

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nis zwischen den hierarchischen und scheinbar sich gegenseitig ausschließenden Dimensionen herzustellen. Diese Bewegungen forderten gleiche politische Bürgerschaft und gleichen Zugang zu gutbezahlten Berufen ebenso wie gleiche Anerkennung des Werts der eigentümlichen (»differenten«) Leistungen von Frauen, wo eine sexuelle Arbeitsteilung existiert. Sie taten das in den Vereinigten Staaten und in Europa, auf Seiten der radikalen ebenso wie der moderaten Feministinnen. Zu den Konzepten, die für diese Herangehensweise gleichermaßen wichtig waren, gehören Gleichheit, Gleichwertigkeit, Billigkeit und »Gleichheit in der Differenz« sowie, vielleicht, »Differenz in der Gleichheit«.42 Diese Debatten über das Verhältnis von Gleichheit und Differenz haben eine ihrer Wurzeln in der frühneuzeitlichen »Querelle des femmes« in Europa; im 17. Jahrhundert wurde das Konzept »Gleichheit« gelegentlich explizit im Rahmen von Bemühungen um die Verbesserung der Lage von Frauen benutzt und löste teilweise eine ältere Kontroverse über die jeweilige Superiorität des weiblichen bzw. des männlichen Geschlechts ab.43 Neue und zuweilen dichotomische Formulierungen jenes Verhältnisses entstanden im 19. Jahrhundert, oft verbunden mit neuen feministischen Ideen und Praktiken zur Verbesserung der Lage von Müttern, insbesonderen solchen, die in Armut lebten, und vor allem im Kontext von Forderungen nach monetärer staatlicher Unterstützung und von Arbeiter- und Arbeiterinnenschutzgesetzgebung. In den 1920er Jahren, und besonders in den USA und Großbritannien, spalteten sich die Frauen­ bewegungen entlang von Trennlinien, die jeweils auf »Gleichheit« oder »Differenz« ausgerichtet waren.44 Die Termini dieser historischen Debatte sind noch nicht ausreichend erforscht, aber es scheint deutlich, dass wir es hier mit einem weiblichen und feministischen Erbe zu tun haben, das sowohl akzeptiert als

42 Karen Offen, Defining Feminism: A Comparative Historical Approach, in: Signs 14/1 (1988), S. 119–157; dies., Ernest Legouvé and the Doctrine of »Equality in Difference« for Women: A Case Study of Male Feminism in 19th-Century French Thought, in: JMH 58 (1986), S. 452–484. Vgl. Annarita Buttafuoco, Cronache femminili. Temi e momenti della stampa emancipazionista in Italia dall’Unità al fascismo, Siena 1988; Jane Rendall (Hg.), Equal or Different. Women’s Politics 1800–1914, Oxford 1987. 43 Vgl. dazu das folgende Kap. in diesem Band, außerdem Bock (wie Anm. 27), 1. Kapitel. Marie de Gournay war die erste, die »égalité« als Schlüssel- und Titelkonzept benutzte: Égalité des hommes et des femmes (1622). 44 Jane Lewis, Models of Equality for Women: The Case of State Support for Children in 20thCentury Britain, in: Gisela Bock u. Pat Thane (Hg.), Maternity and Gender Policies. ­Women and the Rise of the European Welfare States 1880s-1950s, London 1991, S.  73–92; Suzy­ Fleming, Introduction to: Eleanor Rathbone, The Disinherited Family [19241], Bristol 1986, S.  9–120; Susan Pedersen, Eleanor Rathbone and the Politics of Conscience, New Haven 2004, bes. Kap. III; Susan Kingsley Kent, The Politics of Sexual Difference. World War I and the Demise of British Feminism, in: JBS 27 (1988), S. 232–253; Nancy F. Cott, The Ground­ ing of Modern Feminism, New Haven 1987; Ladd-Taylor (wie Anm. 16); Jennifer Friesen u. Ronald K. L. Collins, Looking Back on Muller v. Oregon, in: American Bar Association Journal 69 (1983), S. 294–298, 472–477.

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auch überwunden werden sollte, weil wir es uns nicht leisten können, in der Falle einer unmöglichen Wahl zu verbleiben. Ein weiteres historisches Beispiel betrifft die Fragen, die von Margaret Wright aufgeworfen wurden: Wem wollen wir gleich sein? Was ist das Verhältnis zwischen dem Recht, gleich zu sein, und dem Recht, anders zu sein? Was ist legitime »Gleichheit« und legitime »Differenz«? Neuerdings sind die geschlechterspezifischen Annahmen und Anwendungen des Konzepts Gleichheit vielfach studiert worden, vor allem im Kontext der Französischen Revolution. Der Fortschritt der Frauen hin zu dem großen Ziel von gleichen politischen Rechten im späten 19.  und frühen 20. Jahrhundert ist oft mit den vorangegangenen Aus­weitungen des Wahlrechts von den männlichen besitzenden Klassen auf die männliche Arbeiterklasse verglichen worden. Aber ein anderer Vergleich scheint noch erhellender zu sein: der Vergleich mit der Emanzipation von Gruppen, die von gleichen politischen und sozialen Rechten auf eine Weise ausgeschlossen waren, die dem Ausschluss von Frauen glich und sich vom Ausschluss der Arbeitermänner unterschied, nämlich der Emanzipation ethnischer Minoritäten, den männlichen und weiblichen Opfern von Rassismus. So beruhte das Konzept der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert, wie es hauptsächlich von nichtjüdischen deutschen Männern formuliert wurde, auf einer Gleichheit, die explizit Differenz ausschloss. Männliche Juden wurden als deutsche Bürger akzeptiert, wenn sie – jedenfalls vorgeblich – ihr Jüdischsein aufgaben, eine Assimiliation an Nichtjuden akzeptierten. Unter Juden selbst schlug sich diese Situation in einem Diktum nieder, das charakteristischerweise eine der Dichotomien aufgreift, von denen oben die Rede war, nämlich »Öffent­lich versus Privat«: »Sei draußen ein Mensch und zu Hause ein Jude.« Jüdische Männer sollten (nichtjüdischen Männern) gleich werden, um als Gleiche akzeptiert zu werden. Unter anderen (zum Beispiel verschiedenen Strömungen des jüdischen kulturellen und politischen Revival) war es die deutschjüdische Frauenbewegung im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts, die jene Sicht von Gleichheit in Frage stellte. Während sie oft auf Parallelen zwischen jüdischer und Frauen-Emanzipation verwies, insistierte sie in beiderlei Hinsicht auf dem Recht auf Gleichheit und dem Recht auf Differenz: darauf, anders als Männer und anders als Nichtjuden zu sein.45 Später schloss der nationalsozialistische Rassismus und insbesondere sein Antisemitismus Juden nicht nur von dem Recht auf Gleichheit mit den Nichtjuden aus, sondern auch von dem Recht darauf, als Juden anders zu sein. Ein drittes historisches Beispiel bezieht sich auf unser spezifisch euro­päisches Erbe des politischen Denkens. Es gibt einen Grund dafür, warum die Betonung 45 Vgl. Shulamit Volkov, Jüdische Assimilation und jüdische Eigenart im Deutschen Kaiserreich, in: GG 9 (1983), S. 331–348, Zitat S. 339; Marion A. Kaplan, Tradition and Transition. The Acculturation, Assimilation and Integration of Jews in Imperial Germany: A Gender Analysis, in: YBLBI 27 (1982), S. 3–35; dies., Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland: Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904–1938, Hamburg 1981.

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von Geschlechtergleichheit so oft die allein wirkmächtige Waffe und Strategie für Frauenbefreiung und Frauenforschung zu sein scheint, trotz des Bewusstseins dafür, dass sie eine Anpassung an vorherrschende androzentrische und unhinterfragte Gesellschaftsnormen implizieren mag, die nicht alle Frauen (und Männer) teilen möchten: nämlich den Umstand, dass seit der Zeit der griechischen Polis demokratische und sozialistische Bewegungen ihre Ziele unter dem Banner der Gleichheit verfolgten (und reaktionäre Bewegungen sie deshalb angriffen). Dieses Banner ist somit nicht nur ein höchst kostbares Erbe des westlichen politischen Denkens, sondern auch eines seiner bestetablierten und bestakzeptierten Konzepte. Es gibt indessen auch ein anderes und gleichermaßen kostbares Erbe: das Konzept der Toleranz, wie es aus den blutigen Religionskriegen im frühneuzeitlichen Europa hervorging. Toleranz betonte, jedenfalls in ihren frühen und radikalen Formulierungen, Freiheit, Gerechtigkeit und gegenseitigen Respekt, verstanden als Anerkennung sowohl von Differenz als auch von Gleichheit. Allerdings waren Toleranz und Freiheit, ebenso wie Gleichheit, für männliche oder männerdominierte Gruppen reserviert und sollten in dieser Perspektive analysiert und historisiert werden. Gleichwohl könnte und sollte die Idee und Realität einer neukonzipierten Toleranz, anstelle eines gegenseitigen Ausschlusses, zu einer sinnvollen Herausforderung an die geschlechterbestimmte Dichotomie »Gleichheit versus Differenz« werden.46 In anderen Worten: Die Aufgabe sollte sein, »Gleichheit« sowohl anzuerkennen als auch zu dekonstruieren und ebenso »Differenz« sowohl zu dekonstruieren als auch anzuerkennen. Idee und Praxis der Toleranz von Anders-Sein haben viele Bedeutungen und wichtige Implikationen für Frauen und Frauenforschung an wissenschaftlichen Institutionen. Als in Deutschland in den 1890er Jahren die Zulassung von Frauen zur Universität diskutiert wurde – erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde sie hier wenigstens teilweise verwirklicht –, förderte eine Umfrage unter rund hundert Professoren zu Tage, dass viele von ihnen die Wissenschaft entschieden für »Männerwerk« hielten, die Universitäten für »Männeruniversitäten« und sich selbst für Heroen der Bewältigung des »Jochs der Wissenschaft«; Frauen hätten hier nichts zu suchen. Einige akzeptierten die Zulassung von Frauen, weil sie die gleichen Fähigkeiten und Rechte wie Männer hätten. Nur einer von ihnen, offenbar ein jüdischer Gelehrter, hieß Frauen gerade deshalb willkommen, weil sie vielleicht nicht nur gleiche, sondern auch andere Fähigkeiten hätten; er hoffte, sie würden zur »Belebung erstarrter Institutionen« beitragen und als »treibendes Element« wirken, das sich »mit überlebter Methodik 46 Vgl. Hans R. Guggisberg, Religiöse Toleranz. Dokumente zur Geschichte einer Forderung, Stuttgart 1984, bes. S. 9–11; ders., The Defence of Religious Toleration and Religious Liberty in Early Modern Europe: Arguments, Pressures, and Some Consequences, in: History of European Ideas 4/1 (1983), S. 35–50; John Horton u. Susan Mendus (Hg.), Aspects of Toleration: Philosophical Studies, London 1985; William J. Sheils (Hg.), Persecution and Toleration, Oxford 1984; Jay (wie Anm. 2), S. 54.

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und Autoritäten anders abfindet als die von Jugend auf zu eiserner Disziplin erzogenen Männer.«47 3. »Integration« versus »Autonomie«. Eine analoge Argumentation erscheint in einem weiteren Bereich sinnvoll: den Problemen von »Integration« oder »Autonomie« der Frauenforschung in Bezug auf die Wissenschaft insgesamt und von Frauen in Bezug auf die akademischen Institutionen. Trotz der Expansion von Frauenforschung und obwohl sie heutzutage gelegentlich wenigstens als »subdisciplinary specialisation« anerkannt wird,48 sind ihre Auswirkung auf und Integration in die akademischen Disziplinen bisher minimal geblieben, und was »mainstreaming« genannt wird, ist noch weit von seiner Verwirklichung entfernt, wenn es hierin auch große Unterschiede zwischen verschiedenen Disziplinen und Ländern gibt. So rechtfertigte etwa ein deutscher Historiker in einem Essay über Edith Stein, die katholische Philosophin jüdischer Abkunft, die von den Nazis ermordet worden war, sein Interesse an ihr damit, dass sie »nicht nur eine bedeutende Frau« gewesen sei, sondern auch »ein bedeutender Mensch«.49 Offenbar sind Frauen immer noch nicht um ihrer selbst des Interesses wert und sind nicht einmal notwendig »Menschen«, wenn sie nicht »großen Männern« zu gleichen scheinen. Andererseits ist Historische Frauenforschung imstande, auch die Forschung in anderen historischen Bereichen zu modifizieren, wenn auch nur langsam und zuweilen auf paradoxe Weise. Beispielsweise schreiben Historiker immer noch über das »allgemeine Wahlrecht« für die Zeit, in der Frauen davon ausgeschlossen waren und auch schon den Ausschluss ebenso wie jenen Begriff in Frage stellten.50 Viele andere nennen das Gemeinte inzwischen auch »allgemeines Männerwahlrecht« – aber das macht lediglich die Annahme explizit, dass männliche Aktivitäten als »universal« gelten. Wenn stattdessen der korrekte Begriff »Männerwahlrecht« benutzt wird, zeigt dies, dass ein zunehmendes Bewusstsein für die Geschichte von Frauen auch ein solches für die Geschichte von Männern als Männer (und nicht bloß

47 Zit. in: Karin Hausen, Warum Männer Frauen zur Wissenschaft nicht zulassen wollten, in: dies. u. Helga Nowotny (Hg.), Wie männlich ist die Wissenschaft?, Frankfurt a. M. 1986, S. 31–40, Zitate S. 34, 38 f. 48 Anna Yeatman, Women, Domestic Life and Sociology, in: Pateman u. Grosz (wie Anm. 5), Zitat S.  177. Eine erhellende Diskussion über das Verhältnis von Autonomie, Integration und »mainstreaming« von Frauengeschichte findet sich bei Louise A. Tilly, Gender, Women’s History, and Social History, in: Social Science History 13/4 (1989), S. 439–462, und in den Antworten von Gay L. Gullickson u. Judith M. Bennett, ebd., S. 463–477; vgl. auch Gerda Lerner, Priorities and Challenges in U. S. Women’s History Resarch, in: Perspectives (April 1988), S. 17–20. 49 Ulrich von Hehl, Edith Stein und die Deportation der katholischen Juden aus den Niederlanden, Frankfurter Allgemeine Zeitung 30.3.1987. 50 Z. B. Klaus Erich Pollmann, Arbeiterwahl im Norddeutschen Bund 1867–70, in: GG 15/2 (1989), S. 165.

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als »Menschen«) mit sich bringt.51 Aber das führt noch nicht selbstverständlich zur Integration der Kämpfe um das Frauenwahlrecht in Studien zur politischen Geschichte im Allgemeinen; sie werden immer noch – allenfalls – als ein separates und segregiertes Forschungsfeld behandelt. Offensichtlich muss die Frauenforschung als ein integraler Teil der Wissenschaft anerkannt werden. Aber ein solches »mainstreaming« riskiert vielleicht auch, in eine Dynamik einbezogen zu werden, die Frauen erneut unsichtbar macht. In einer zunehmenden Zahl von Fällen wird »Geschlechtergeschichte« auf dichotomische Weise der »Frauengeschichte« entgegengesetzt und werden Professuren in »Frauengeschichte« abgelehnt, aber Professuren in »Ge­ schlechtergeschichte« begrüßt.52 Als ein institutionelles Problem kann man die letztere Situation je nach den institutionellen Umständen beurteilen, aber das theoretische Problem bleibt und verdankt sich großenteils einer spezifischen Definition von »gender«, welche die Geschlechterdifferenz – und damit Frauen – ausschließt, indem sie sie als »biologisch« und deshalb als sozial und historisch irrelevant klassifiziert. In einer solchen Sicht riskiert das Versprechen der Geschlechtergeschichte, die Frauengeschichte zu erweitern und zu radika­ lisieren, unterlaufen zu werden, indem die Frauengeschichte erneut auf einen bloßen Appendix einer angeblich »allgemeineren« Geschlechtergeschichte reduziert wird. Deshalb bedarf die Historische Frauenforschung auch der Autonomie gegen­ über männlich dominierter Wissenschaft, in institutioneller ebenso wie – und besonders  – in intellektueller Hinsicht, um ihr volles Potential entwickeln zu können. Aber auch »Autonomie«, wiederum eine zentrale Tugend des Erbes von Renaissance und Aufklärung, muss umdefiniert werden.53 In der Praxis besteht die schwierige Frage darin, die feine Linie – sie ist zugleich eine tiefe Kluft – zu erkennen, welche Autonomie von Segregation trennt, von dem Ghetto, in das Frauenforschung oft verbannt wird. Es scheint, dass das Problem »Autonomie versus Integration« nicht angemessen durch terminologische Distinktionen behandelt oder gar gelöst werden kann, etwa zwischen Frauengeschichte, feministischer Geschichte und Geschlechtergeschichte oder, in der Terminologie der französischen Debatten, zwischen histoire des femmes, histoire féminine, histoire féministe, histoire des (rapports des) sexes und – so muss neuerdings hinzugefügt werden – histoire du genre,54 oder aber zwischen all diesen und Geschichte tout court. Und das Problem ist auch nicht identisch mit der Debatte pro und contra »Institutionalisierung«, welche in der Bundesrepublik Deutschland über ein Jahrzehnt lang die hauptsächliche theoretische und politische 51 »Male suffrage« z. B. in Peter Flora, State, Economy and Society in Western Europe 1815– 1975, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1983, S. 91. 52 Ein solcher Fall wird von Susan Magaray für Australien analysiert: vgl. Anm. 35 im vorigen Kapitel. Ähnliche Beispiele gibt es auch in den USA und Deutschland. 53 Zum Versuch einer Neudefinition vgl. Midgley (wie Anm. 24), S. 39, and Pateman (Anm. 12). 54 Vgl. Françoise Thébaud, Écrire l’histoire des femmes et du genre, Lyon 2007 (19981); Giulia Calvi, Innesti. Donne e genere nella storia sociale, Rom 2004.

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Frage in diesem Bereich war. Bedeutende frauenzentrierte und geschlechterbewusste Forschung ist unter all diesen Titeln entstanden, und sogar außerhalb von ihnen,55 in Universitäten, feministischen Institutionen und außerhalb männerdominierter oder weiblicher Institutionen. Dichotomien in Frage zu stellen oder herauszufordern, erscheint als eine Hauptaufgabe der wissenschaftlichen wie politischen Agenda von Historischer Frauen- und Geschlechterforschung ebenso wie von anderen Bereichen von Frauenforschung. Der Akt der Herausforderung macht natürlich weitere Untersuchungen des genauen Charakters der entgegengesetzten Kategorien nötig, der Besonderheiten und der Dynamik der dichotomen Beziehung und der Form und des Charakters der Herausforderung selbst. Was den Charakter der geschlechterbestimmten Dichotomien betrifft, besteht offensichtlich ein deutlicher Unterschied zwischen der ersten Dreiergruppe, um die es im ersten Teil ging, und der späteren Dreiergruppe. Dieser Unterschied spiegelt unter anderem den zunehmend komplexen Charakter der Katgorien wider, unter denen Geschlechterbeziehungen betrachtet und studiert werden. Die Dichotomien Natur/Kultur, Arbeit/Familie, Öffentlich/Privat wurden entsprechend einer (vermeintlich) fixen Grenzlinie zwischen Frauen und Männern konstruiert, wobei es sich auf beiden Seiten um innerlich vermeintlich homogene Kategorien handelte, die entweder Frauen oder Männern zugeordnet wurden. Doch im Fall von sex/gender, Gleichheit/Differenz, Integration/Autonomie beziehen sich beide (anscheinend)  entgegengesetzte Termini auf beide Geschlechter. Es handelt sich dabei also nicht bloß um Beziehungen zwischen den Geschlechtern, sondern um Beziehungen zwischen Beziehungskategorien; und nicht bloß um (scheinbare) Kontraste zwischen Frauen und Männern, sondern um entgegengesetzte oder scheinbar entgegengesetzte Konzeptualisierungen und Praktiken der Geschlechterbeziehungen. Somit haben uns also die Frauenforschung und die Suche nach neuen Visionen von Geschlecht  – trotz oder sogar wegen divergierender Herangehensweisen  – auf wenigstens einen gemeinsamen Boden geführt: Geschlechterfragen sind Fragen, die komplexe menschliche Beziehungen betreffen, Beziehungen sowohl zwischen den Geschlechtern als auch innerhalb der Geschlechter. Und was könnte oder sollte der Charakter der Herausforderung sein? Sie erfordert kontinuierliche Arbeit an der Demontierung, Historisierung und Dekonstruktion der vorgegebenen Bedeutungen der diversen Kategorien. Meines Erachtens impliziert sie auch die Zurückweisung von sich gegenseitig ausschließenden Hierarchie-Ebenen, vor allem auch von »entweder/oder«-Lösungen zugunsten von »sowohl-als-auch«-Lösungen. Und sie impliziert die Ablehnung des Prinzips tertium non datur. Im Fall der beiden letzten Dilemmata liegt es uns besonders nahe, ihre gegenseitige Ausschließung in Frage zu stellen und 55 So unterstreicht Jill Stephenson mit Blick auf ihr bedeutendes Buch, dass es nicht »intended to be of the ›women’s history‹ genre«: The Nazi Organisation of Women, London 1981, S. 11.

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»Gleichheit in der Differenz« sowie »Differenz in der Gleichheit« zu reklamieren, »Autonomie in der Integration« und »Integration in der Autonomie«. In beiden Fällen ließe sich einwenden  – und wurde eingewandt  –, dass Frauen nicht alles auf einmal und gleichzeitig haben können (das englische Sprichwort heißt: »you can’t have your cake and eat it too«). Aber allzu lange haben Frauen den Kuchen gebacken und nur das kleinste Stück davon selbst essen können.

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Begriffe und Geschichten

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Die Querelle des Femmes in Europa Eine begriffs- und forschungsgeschichtliche Einführung✳ gemeinsam mit Margarete Zimmermann

1. Querelle des Femmes und Querelle du Féminisme »Ich habe lange gezögert, ein Buch über die Frau zu schreiben. Der Gegenstand hat etwas Irritierendes, vor allem für die Frauen, und er ist nicht neu. Der Femi­nismus-Streit (la querelle du féminisme) hat schon genug Tinte fließen lassen; heute ist er so gut wie beendet: Sprechen wir also nicht mehr darüber. Aber trotzdem spricht man immer noch über diesen Streit, und es hat keineswegs den Anschein, als hätten die dickbändigen Dummheiten, die während des vergangenen Jahrhunderts verbreitet worden sind, dieses Problem wirklich erhellt.«1 Mit diesen Worten eröffnet Simone de Beauvoir ihren Essay »Le Deuxième Sexe« (1949), und es ist gewiss nicht zufällig, dass sie gerade in der programmatischen Einleitung von querelle du féminisme spricht. Mit querelle evoziert sie, erstens, die lange Tradition des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschlechterstreits in Text und Bild, der seit der letzten Jahrhundertwende  – ausgehend von Frankreich  – als Querelle des Femmes oder auch, umfassender und adäquater, als Querelle des Sexes bezeichnet wird und sich bis vor kurzem hauptsächlich auf die französischen Stimmen in diesem Streit bezog.2 ✳ Erschienen

in: Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert (= Querelles, Bd. 2, 1997), S. 9–38; im Folgenden zit. als: Geschlechterdebatten 1997. Der Text ist hier im Wesentlichen unverändert abgedruckt, doch um einige Neuerscheinungen ergänzt. 1 Simone de Beauvoir, Le Deuxième Sexe, Bd. 1, Paris 1971 (19491), S. 11. Die deutschen Übersetzungen von Texten, die nach den originalsprachlichen Ausgaben zitiert werden, stammen, falls nicht anders angegeben, von den Verfasserinnen. Wir danken Joan DeJean und Claudia Ulbrich für wichtige Hinweise. Gedankt sei ferner den Teilnehmerinnen an der Konferenz »Superiority and Inferiority in the European Querelle des Femmes« (Europäisches Hochschulinstitut, Florenz 1989): Adriana Chemello, Françine Daenens, Maria Luisa Doglio, Elisabeth Gössmann, Constance Jordan, Madeleine Lazard, Ian Maclean, Sara Matthews Grieco, Marie-Françoise Piéjus, Hilda L. Smith, Heide Wunder, Marina Zancan. 2 Abel Lefranc führte 1904 den Terminus gleichsam als Gattungsbegriff ein: Le Tiers-Livre du »Pantagruel« et la Querelle des femmes, in: Revue des Etudes rabelaisiennes 2 (1904); wiederabgedr. in ders., Grands Ecrivains Français de la Renaissance, Paris 1914, ND Paris 1969, S. 251–303, und in ders., Œuvres de François Rabelais. Le Tiers Livre, Paris 1931. Vgl. Emile

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Der ent­sprechende Streit in Italien wurde seit dem späten 19. Jahrhundert als »Polemik um das weibliche Geschlecht« bezeichnet.3 Zweitens greift Beauvoir mit »Feminismus« jenen Begriff auf, der  – ebenfalls in Frankreich  – im späten 19. Jahrhundert für die modernen Tendenzen der Frauenbewegung geprägt wurde, dessen Definition von Anfang an umstritten war, der sich seit der Jahrhundertwende international verbreitete, aber erst von der neueren Frauenbewegung explizit und umfassend appropriiert wurde. Drittens bezieht sie féminisme, gleichsam ante litteram, auf die große Debatte um die »Frauenfrage«, die das gesamte 19. Jahrhundert durchzog und weit ins 20. Jahrhundert hinein andauerte. In ihrem historischen Abriss hält Beauvoir dann zwar Rückschau auf den »alten Streit« (la vieille querelle),4 aber ohne ihn oder die historischen Zäsuren dieser Geschlechterdebatte näher zu bestimmen. Beauvoirs Umgang mit der Querelle des Femmes ist in mehrfacher Hinsicht symptomatisch, verweist er doch darauf, dass der Terminus zwar inzwischen mit großer Selbstverständlichkeit verwendet wird, seine inhaltliche und (begriffs-)geschichtliche Bestimmung jedoch immer noch unklar ist. Der Versuch einer Präzisierung ist umso naheliegender, als dieser Band in einem Jahrbuch zur Frauen- und Geschlechterforschung mit dem Titel »Querelles« erscheint, das sich mit seiner Betonung von Debatte, ja Streit, unter anderem in die Tradition der historischen Querelle stellt. Der Terminus ist bereits hinsichtlich seiner sprachlichen Gestalt mehr­deutig: In der Nominalkonstruktion Querelle des Femmes/des Sexes kann der Genitiv sowohl einen Genitivus subjectivus (Streit der Frauen beziehungsweise der Geschlechter) als auch einen Genitivus objectivus (Streit um die Frauen beziehungsweise um die Geschlechter) meinen, und somit können Frauen sowohl Subjekte als auch Objekte der Debatte sein. In der Tat mehrten sich, seit Christine de Pizan als erste (überlieferte)  weibliche Stimme in den Streit eingriff, die Frauenstimmen, wenngleich noch lange Zeit die Stimmen von Männern – gegen oder zugunsten von Frauen – überwiegen sollten. Im Deutschen wird der Begriff meist übersetzt mit »Debatte um die Frauen«, mit »Frauenstreit« oder

Telle, L’Œuvre de Marguerite d’Angoulême, Reine de Navarre, et la Querelle des Femmes, Toulouse 1936, ND Genf 1969. »Querelle des sexes« oder »quarrel of the sexes« findet sich z. B. bei Blanche Hinman Dow, The Varying Attitude Toward Women in French Literature of the Fifteenth Century: The Opening Years, New York 1936, S. 48, und bei Michael A. Screech, Rabelais, de Billon and Erasmus. A Re-examination of Rabelais’s Attitude to Women, in: Biblio­t hèque d’Humanisme et Renaissance 13 (1951), S. 241–65, hier S. 241. 3 G. Battista Marchesi, Le polemiche sul sesso femminile ne’ sec. XVI  e XVII, in: Giornale­ storico della letteratura italiana 74–75 (1895), S.  362–369; ähnlich Giorgio Spini, Ricerca dei libertini. La teoria dell’impostura delle religioni nel Seicento italiano, Casellina 1983, S. 220 ff. Französisch schreibende Autoren bezeichnen auch die italienische Polemik als Querelle des femmes, z. B. Eugène Anitchkoff, Le »Roland furieux« et la Querelle des Femmes au XVIe siècle, in: Revue du XVIe siècle 19 (1932/33), S. 262–272. 4 Beauvoir (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 128 f.; vgl. Bd. 1, S. 77 ff.; zur Querelle des Femmes: S. 126 ff.

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»Geschlechterstreit«.5 Im Englischen ist oft die Rede von »quarrel of the sexes«, zuweilen auch von »Krieg« oder gar »Bürgerkrieg«.6 In den drei Sprachen – nicht so im Italienischen – ist der französische Terminus neuerdings weithin gängig geworden, im Englischen vor allem in der Folge von Joan Kellys breit rezipiertem Beitrag »Early Feminist Theory and the Querelle des Femmes, 1400–1789« von 1982.7 Auf jeden Fall darf nicht aus dem Blick geraten, dass die LexemKombination Querelle des Femmes als solche ein komplexes Gefüge mit einer eigenen Geschichte ist: Die Bedeutung von querelle ist selbst einem historischen Wandel unterworfen. Weder Sprachlexika noch Nachschlagewerke verschiedener Disziplinen vermögen aus dem Dickicht begrifflicher Unschärfen und Verwirrungen herauszuhelfen. Denn einerseits stellt die Querelle des Femmes ein derart umfassendes Phänomen der europäischen Kulturgeschichte dar, dass es im Rahmen einer Einzeldisziplin nicht adäquat zu beschreiben ist; andererseits fehlt es immer noch weitgehend an verlässlichen Handbüchern zur Frauen- und Geschlechter­ geschichte. Am ehesten sind verschiedene Formen von querelles noch als ein konstantes Merkmal der französischen Literatur zu erfassen, wie es Augustin Simon Irailh in seiner weitausholenden Synthese »Querelles littéraires« (1761) versucht; allerdings bleibt auch dieses Werk stumm im Hinblick auf die literarischen Va-

5 Katharina Fietze, Frauenbildung in der Querelle des Femmes, in: Elke Kleinau u. C ­ laudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd.  1, Frankfurt a. M. 1996, S. 237–251 (»Debatte um die Frauen«); Lieselotte Steinbrügge, Vom Aufstieg und Fall der gelehrten Frau. Einige Aspekte der »Querelle des femmes« im XVIII. Jahrhundert, in: Lendemains 25/26 (1982), S. 157–167 (auf S. 157 ist von Querelle des Femmes zugleich als »Frauenstreit« und als »Frage nach der Gleichheit der Geschlechter« die Rede); Sigrid Metken, Der Kampf um die Hose. Geschlechterstreit und die Macht im Haus. Die Geschichte eines Symbols, Frankfurt a. M. 1996. Heide Wunder, »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 63: Die Querelle als »Streit um die Natur der Frau«. Ähnlich im Amerikanischen: Merry E.Wiesner, Women and Gender in Early Modern Europe, Cambridge 1993, S.  15–21. Die Querelle als Streit von Männern über Frauen: Claudia­ Honegger, Die Ordnung der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991, S. 45 f., 75, 140 (Deutschland um 1800). Vgl. auch Natalie Z. Davis, Die aufsässige Frau, in: dies., Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt a. M. 1987, S. 136–170. 6 Vgl. oben, Anm. 2; Keith Moxey, Peasants, Warriors, and Wives. Popular Imagery in the Reformation, Chicago 1989, Kap.  5 (»The Battle of the Sexes and the World Upside Down«);­ Jerome Nadelhaft, The Englishwoman’s Sexual Civil War: Feminist Attitudes Towards Men, Women, and Marriage, in: Journal of the History of Ideas 43 (1982), S. 555–579; Laure Beaumont-Maillet, La guerre des sexes. XVe–XIXe siècles, Paris 1984; Betty Travitsky, The Lady Doth Protest: Protest in the Popular Writings of Renaissance Englishwomen, in: English Literary Renaissance 14 (1984), S. 255–283. 7 Joan Kelly, Early Feminist Theory and the Querelle des Femmes, 1400–1789, in: Signs 8 (1982), S.  4–28, und in dies., Women, History and Theory, Chicago 1984, S.  65–109. Der Terminus Querelle des femmes spielt keine Rolle in dem für Italien grundlegenden Werk: Marina­ Zancan (Hg.), Nel cerchio della luna: Figure di donne nel XVI secolo, Padua 1983.

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rianten der Querelle des Femmes.8 Deshalb will der Band, dem diese Einführung ursprünglich vorangestellt wurde, dazu beitragen, die historischen Konturen der Querelle des Femmes präziser hervortreten zu lassen, um der wissenschaftlichen Verwendung des Terminus ein verlässlicheres Fundament zu geben und zu weiteren Forschungen anzuregen, denn, so Marc Bloch, »die beste Art, nicht auf ein Wort hereinzufallen«, besteht darin, »seine Geschichte zu betrachten.«9 Zugleich geht es uns um eine doppelte historische Kontextualisierung. Zum einen sind die Inhalte und Formen der Querelle des Femmes je nach Kontext, vor allem zeitlich und räumlich – und besonders in den verschiedenen nationalsprachlichen Zusammenhängen – wandelbar und variabel. Zum anderen bedarf auch die wissenschaftliche Verwendung des Begriffs einer Historisierung, da auch sie eine ihr inhärente Dynamik und Geschichte besitzt, innerhalb derer sich jeder (reflektierte) Rekurs auf die Querelle des Femmes heute zu situieren hat. Es geht also darum, dem Sprechen über die Querelle jene okkasionelle Unbedachtheit zu nehmen, die es oft kennzeichnet, und auf diese Weise einem bedeutsamen Begriff der Geschlechtergeschichte die ihm angemessene Dignität zu verleihen. Ferner gibt der Band einen Einblick in die internationalen und multidiszi­ plinären Verzweigungen dieser Debatte, wenn auch unsere zugrundeliegende Auswahl keine umfassende Repräsentativität beansprucht (und angesichts der Breite des Phänomens ohnehin nicht bieten kann): Der Schwerpunkt liegt  – ungeachtet des gesamteuropäischen Titels – aus Gründen der zeitlichen Priorität auf den romanischen (französischen, italienischen und spanischsprachigen) Varianten der Querelle, ferner auf ihrer englischen Ausprägung. Beiträge zu Ost- und Ostmitteleuropa fehlen bisher, während Forschungen zu Verbreitung, Formen und Auswirkungen der Debatte in Mitteleuropa, vor allem im deutschsprachigen Raum, seit längerem vorliegen und neuerdings viele weitere Erkenntnisse gebracht haben.10 8 Mit Ausnahme der Kontroverse zwischen »Jean de Meun et les femmes de la cour de Philippe-le-Bel«, bei der Irailh auf Charles Sorels La Bibliothèque Françoise, Paris 16672, S. 247, zurückgreift. Vgl. Augustin Simon Irailh, Querelles littéraires ou mémoires pour servir à l’histoire des révolutions de la République des Lettres, depuis Homère jusqu’à nos jours, 2 Bde., Paris 1761, Bd. 1, S. 94–105 (ND Genf 1967, S. 33–36). 9 Zit. in: Ulrich Raulff, Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch, Frankfurt a. M. 1995, S. 118. 10 Vgl. vor allem Elisabeth Gössmann (Hg.), Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung, Bd. 1–4, München 1984–1988 (im Folgenden: Archiv); Cornelia Plume, Heroinen in der Geschlechterordnung. Weiblichkeitsprojektionen bei Daniel Casper von Lohenstein und die »Querelle des Femmes«, Stuttgart 1996; Anne Conrad, Zwischen Kloster und Welt. Ursulinen und Jesuitinnen in der katholischen Reformbewegung des 16./17. Jahrhunderts, Mainz 1991, bes. Kap. 5; Wunder, Er ist die Sonn und Metken, Kampf (wie Anm. 5); zahlreiche Einzelstudien in: Gisela Engel u. a. (Hg.), Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne: Die Querelle des Femmes, Königstein i. T. 2004. Zu England s. unten, Anm. 34; vgl. auch neuerdings: Revisiter la »querelle des femmes«: Discours sur l’égalité/inégalité des sexes, 3 Bde., hg. v. Éliane Viennot u. Armel Dubois-Nayt ­(1400–1600), Danielle Haase-Dubosc u. a. (1600–1750), Evelyne Berriot-Salvadore u. a. (1750–1810), Paris 2012–2014.

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Lediglich andeuten können wir die gesamteuropäische Zirkulation und Wirkung mancher Texte wie zum Beispiel des Traktats »Declamatio de nobilitate et praecellentia foeminei sexus« von Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, 1509 verfasst und auf lateinisch 1529 erschienen, auf deutsch 1540,11 dessen Einfluss auch in Italien recht gut erforscht ist.12 Europaweit verbreitet war auch die »Disputatio nova contra mulieres, qua probatur eas homines non esse« von 1595, die den Frauen das Menschsein absprach und damit zahlreiche Gegenschriften provozierte.13 Vier Jahre später erschien in Italien das Pamphlet »I donneschi diffetti« von Giovanni Passi und spitzte die dortige Querelle zu.14 Besonders enge Beziehungen des Austauschs und der Beeinflussung gab es innerhalb der Romania.15 Und in Italien nahmen auch jüdische Gelehrte in der hebräisch-italienischen Mischsprache an der Debatte teil.16 11 Französisch 1530, drei italienische Ausgaben zwischen 1544 und 1549, englisch 1542, polnisch 1575, holländisch 1658. Vgl. Jörg Jungmayrs Edition und Kommentierung der deutschen Ausgabe von 1540: Vom Adel und Fürtreffen Weibliches geschlechts, in: Elisabeth Gössmann (Hg.), Ob die Weiber Menschen seyn, oder nicht?, München 1988 (Archiv, Bd. 4), S. 53–96 (Einleitung: S. 33–52). 12 Hierzu, aber auch zum Einfluss früherer italienischer Schriften auf Agrippa vgl. Conor Fahy, Three Early Renaissance Treatises on Women, in: Italian Studies 11 (1956), S. 30–55. Dieser Aufsatz mit seinem Anhang, einer Liste einschlägiger Traktate im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts, war ein wichtiger Ausgangspunkt für die italienische Querelle-Forschung. Vgl. auch Paola Zambelli, Agrippa von Nettesheim in den neueren kritischen Studien und in den Handschriften, in: Archiv für Kulturgeschichte 51 (1969), S. 264–295. 13 Anon., Disputatio nova contra mulieres, qua probatur eas homines non esse, Zerbst 1595, zahlreiche weitere Ausgaben und 1647 Übersetzung ins Italienische (Che le donne non siano della spetie degli uomini). Dazu und zu Valens Acidalius, der oft für den Autor gehalten wurde, die Autorschaft aber standhaft bestritt (er starb noch 1595): Jungmayr, Einleitung zu Agrippa (wie Anm. 11), S. 40 ff.; Ian Maclean, The Renaissance Notion of Woman. A Study in the Fortunes of Scholasticism and Medical Science in European Intellectual Life, Cambridge 1980, S. 12–13; Manfred P. Fleischer, »Are Women Human?« The Debate of 1595 Between Valens Acidalius and Simon Gediccus, in: Sixteenth Century Journal 12 (1981), S. 107– 120; Magdalena Drexl, Die »Disputatio nova contra mulieres, Qua probatur eas Homines non esse« und ihre Gegner. Querelle des Femmes in der konfessionellen Polemik um 1600, in: Engel u. a. (wie Anm. 10), S. 122–135. Neue Editionen der »Disputatio nova«: hg. von Clive Hart (lateinisch-englisch), Lampeter, UK, 1998 (erweiterte Fassung 2003); hg. von Ralf Czapla u. Georg Burkard (lateinisch-deutsch), Heidelberg 2006. 14 Giovanni Passi, I donneschi diffetti, Padua 1599 (und 1601, 1605, 1618). 15 Vgl. dazu die Beiträge von Tobias Brandenberger, Adriana Chemello, Friederike Hass­auer, Esther Lauer, Julia Pieper, in: Geschlechterdebatten 1997; s. unten, Anm. 19, 29, 31, 62, 70. 16 Vgl. Sandra De Benedetti Stow, Due poesie bilingue inedite contro le donne di Semu’èl Da Castiglione (1553), in: Italia: Studi  e ricerche sulla cultura  e sulla letteratura degli ebrei d’Italia, Bd.  II, Nr.  1–2, Jerusalem 1980, S.  7–64 (den Hinweis verdanken wir Claudia­ Peppel). Siehe auch Howard Adelman, Images of Women in Italian Jewish Literature in the Late Middle Ages, in: Proceedings of the Tenth World Congress of Jewish Studies, Division B, Bd. II, Jerusalem 1990, S. 99–106; Judith R. Baskin, Jewish Women in the Middle Ages, in: dies. (Hg.), Jewish Women in Historical Perspective, Detroit 1991, S. 94–114; Israel Zinberg, A History of Jewish Literature, Bd. 4: Italian Jewry in the Renaissance Era, Cincinatti 1974, S. 97 f.

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Die in dem Band versammelten Studien entstammen den Bereichen Literaturwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte. Darüber hinaus liegen wichtige Ansätze zur Einbeziehung weiterer Bereiche vor: etwa Rechtsgeschichte, Theologie, Philosophie.17 Es kommt uns in erster Linie darauf an, den Begriff der Querelle des Femmes in die deutschsprachige Diskussion einzuführen, seine Bedeutung und Tragweite exemplarisch zu dokumentieren, einen Einblick in die Vielzahl der Bezüge zu vermitteln, die sich mit ihm verbinden, und ein Problemfeld abzustecken – dies alles in der Hoffnung auf eine künftige Erweiterung der Diskussion und weiterführende Beiträge aus Nachbardisziplinen.

2. Zur Wort- und Begriffsgeschichte War die Querelle des Femmes ein spezifisch europäisches und allem Anschein nach ein gesamteuropäisches Phänomen,18 das allerdings auch im hispanischen Amerika eine Fortsetzung fand,19 so verweist der Terminus in erster Linie 17 Dazu vor allem Maclean, Renaissance (wie Anm. 13). Vgl. z. B. Clara Maria Henning, ­Canon Law and the Battle of the Sexes, in: Rosemary Radford Ruether (Hg.), Religion and Sexism. Images of Woman in the Jewish and Christian Traditions, New York 1974, S. 267–291; Ursula Vogel, Political Philosophers and the Trouble With Polygamy: Patriarchal Reasoning in Modern Natural Law, in: History of Political Thought 12 (1991), S. 229–252; Stephan Buchholz, Recht, Religion und Ehe. Orientierungswandel und gelehrte Kontroversen im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1988; Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und der gelehrte Kommunikationswandel am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997; Erica Harth, Cartesian Women. Versions and Subversions of Rational Discourse in the Old Regime, Ithaca 1992; Geneviève Lloyd, The Man of Reason: »Male« and »Female« in Western Philosophy, London 1993 (Überarbeitung von 19841; dt.: Das Patriarchat der Vernunft, Bielefeld 1985); Elizabeth Harvey u. Kathleen Okruhlik (Hg.), Women and Reason, Ann Arbor 1992. 18 Dessen waren sich auch die Querelle-Autoren bewusst. Wilhelm Ignatius Schütz (EhrenPreiß Deß Hochlöblichen Frauen-Zimmers, 1663) wendet sich an das »europeische FrauenZimmer« und Johannes Gorgias (Gestürtzter Ehren-Preiß des hochlöblichen Frauen-Zimmers, 1666) »An das Hochlöblich-Europaeisch Männliche Geschlecht«: Elisabeth Gössmann (Hg.), Das wohlgelahrte Frauenzimmer, München 1984 (Archiv [wie Anm.  10], Bd.  1), S.  55, 72. Vgl. Marion Kintzinger, Ein »Weiber-Freund«? Entstehung und Rezeption von Wilhelm Ignatius Schütz »Ehren=Preiß des hochlöblichen Frauen=Zimmers« (1663), einem Beitrag zur Querelle des femmes, in: L’Homme 13/2 (2002), S. 175–289, und der von Kintzinger besorgte Nachdruck von Schütz und Gorgias (Hildesheim 2003). 19 Vgl. Friederike Hassauer, »Die Seele ist nicht Mann, nicht Weib«. Stationen der Querelle des Femmes in Spanien und Lateinamerika vom 16. zum 18. Jahrhundert, in: Geschlechterdebatten 1997, S. 203–238; dies., Heiße Reserve der Modernisierung: Zehn Blicke auf das Forschungs­terrain der Querelle des femmes, in: Engel (wie Anm. 10), S. 11–19. Sor Juana Inés de la Cruz, The Answer/La Respuesta. Including a Selection of Poems. Critical Edition and Translation, hg. von Electa Arenal u. Amanda Powell, New York 1994 (zweisprachig); Monika Bosse (Hg.), La creatividad femenina en el mundo barroco hispánico: María de Zayas – Isabel Rebeca Correa – Sor Juana Inés de la Cruz, Kassel 1999.

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auf Frankreich, und zwar auf die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen selbst. In Martin Le Francs 1440–1442 entstandenem »Le Champion des Dames« (Der Damenstreiter), einem langatmigen allegorischen Werk, das gleichermaßen in der Tradition des »Roman de la Rose« (13. Jahrhundert) wie auch der »Cité des Dames« (1404/5) von Christine de Pizan steht, findet sich – nach heutigem Wissensstand  – der erste Beleg: zwar nicht für »querelle des femmes«, wohl aber für »querelle des dames«. Schon im Widmungsschreiben an den Burgunderherzog Philipp den Guten wird dieser als ein Verfechter der »querelle des dames« angesprochen, und mehrfach wird die Parteinahme in »la querelle des dames« hervorgehoben.20 Insgesamt geht es in diesem Text um eine wortgewaltige Verteidigung des weiblichen Geschlechts auf Veranlassung des Liebesgottes Amor – hier knüpft Martin Le Franc an Christine de ­Pizans »Epistre au Dieu d’Amours« (1399) an21  –, der gegen den verleumderischen M ­ alebouche (Übelmaul) den »Damenstreiter« Franc Vouloir (Freier Wille) auf das Feld der Geschlechterkontroversen schickt. Dessen Aufgabe ist es, für die Querelle des Dames, die zugleich die Querelle d’Amours ist, zu kämpfen. Der Kampf hat Prozesscharakter: Der Kläger Malebouche und der Verteidiger Franc Vouloir liefern einander lange Rededuelle innerhalb des fiktiven Rahmens eines Minnehofs. Querelle bedeutet hier und in anderen einschlägigen Texten sowohl »Anliegen« als auch (juristische)  »Klage«.22 Die Frauen 20 Martin Le Franc, Le Champion des Dames, Paris 1530 (Erstdruck: Lyon, um 1488), Inhaltsverzeichnis (s. p.), Widmung (S. a ii verso), sowie S. 6, 13 verso, 14, 18 verso, 39 ff., 49 verso, 408 verso. Moderne Teileditionen des Werks wurden herausgegeben von Gaston Paris (in: Romania 16 [1887], S. 383–437, mit Kommentar), Artur Piaget (Lausanne 1968) und Don Arthur Fischer (Diss. Florida State University 1981). Siehe ferner Léon Barbey, Martin Le Franc, prévôt de Lausanne, avocat de l’amour et de la femme au XVe siècle, Fribourg 1985. Zur französischen Begriffsgeschichte vgl. Margarete Zimmermann, Vom Streit der Geschlechter. Die französische und italienische Querelles des Femmes des 15.–17. Jahrhunderts, in: Bettina Baumgärtel u. Silvia Neysters (Hg.), Die Galerie der Starken Frauen. Die Heldin in der französischen und italienischen Kunst des 17. Jahrhunderts, München 1995, S. 14–33. 21 Bei Christine nimmt sich der Liebesgott der hilfesuchenden Frauen aller Stände an, die sich über eine empfindliche Störung im Verhältnis der Geschlechter beklagen und ihn um Beistand bitten. In diesem kurzen, zu Beginn ihrer literarischen Karriere verfassten Versgedicht präludiert die Autorin bereits alle wichtigen Themen und Verfahren, die sie dann in ihren Schriften gegen den Rosenroman und in der »Stadt der Frauen« ausführt. In »L’Epistre« delegiert sie allerdings den weiblichen Protest noch an den Liebesgott, also an einen männlichen »Fürsprecher«. In der deutschen Übersetzung wird zugleich das Original nach der Edition von Maurice Roy wiederabgedruckt: Christine de Pizan, Der Sendbrief vom Liebesgott (L’Epistre au Dieu d’Amours). Aus dem Mittelfranzösischen übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Maria Stummer, Graz 1987. 22 Zur Bedeutung der juristischen Terminologie für die spätmittelalterliche Literatur vgl. Karin Becker, Amors Urteilssprüche. Recht und Liebe in der französischen Literatur des Spätmittelalters, Bonn 1991. Vgl. auch Jean Bouchet, Le Jugement poetic de l’honneur femenin et séjour des illustres et claires dames, Poitiers 1536 (Anne de Laval gewidmet, zugleich dem Andenken von Louise de Savoie, ein Text in der Nachfolge Christine de Pizans): »la querelle de l’homme contre la femme« (S. a verso).

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treten in diesem Zusammenhang lediglich als (Streit-)Objekte, als Be-Sprochene auf, die ihr An­liegen an einen männlichen Fürsprecher und Verteidiger delegieren.23 Martin Le Franc fällt damit hinter Christine de Pizan zurück, die in ihrer »Cité des Dames« das Wort den Frauen selbst gibt. Dort entwickelt ihr Text-Ich Christine gemeinsam mit den eloquenten Tugendallegorien Gerechtigkeit, Vernunft und Rechtschaffenheit eine neue Vorstellung von Weiblichkeit und zerstört mittels pointierter Dialoge die vorgeblich unantastbare Macht tradierter Denkweisen. Ein kurzer Rückblick auf die sich wandelnde Semantik von querelle erhellt die wichtigsten Stationen der Entwicklung des Begriffs.24 Sein lateinisches­ Etymon lautet querel(l)a und bezeichnet sowohl einen Ausdruck des Schmerzes als auch des Unmuts: Klage im Sinne von Beschwerde. Der altfranzösische Erstbeleg von querelle stammt aus dem 12. Jahrhundert und umfasst die Wortfelder »Widerspruch« und (juristische)  »Klage«, später auch »Streitgespräch«, »Angelegenheit«, »Sache«, »Grund«. Die Verwendung des Lexems im Sinne von »Wehklage« wird bereits in altfranzösischer Zeit seltener. Von 1535 an  – also zu der Zeit, als die Querelle des Femmes in Frankreich nach dem von Christine de Pizan um 1400 entfesselten Streit um den Rosenroman einen neuen Höhepunkt erreicht25 – setzt sich allmählich die Verwendung von querelle in der Bedeutung von Streit, Zank, Kontroverse durch. Seit dem 17. Jahrhundert tritt die Be­deutung »(Weh-)Klage« nahezu völlig zurück, und es dominieren die Verwendungen »Streit«, »Kampf«, »Uneinigkeit«, »Klage vor Gericht« (die letztere Bedeutung geht seit dem 18. Jahrhundert wieder zurück). Die Bedeutungskomponente »Geschlechterkontroverse« dominiert in der umfangreichen Männer­ apologie des südfranzösischen Juristen Gratien Du Pont, in seinen »Controverses des sexes masculin et fémenin« (1534), einem Text, der außerdem den Eindruck einer Verdichtung des Diskursgeflechts »Querelle-Texte« und einer Beschleunigung der Debatte zu diesem Zeitpunkt vermittelt.26 Zwanzig Jahre später engagiert sich der Frauenfreund Guillaume Postel »dans la commune 23 Der Illustrator der Ausgabe des »Champion des Dames« (Paris 1530) »modernisiert« diese Position und passt sie dem neuen Stand der Querelle im 16. Jahrhundert an: Der Holzschnitt auf S. 125 zeigt einen Mann und eine Frau als Zuschauer eines männlich-weiblichen Lanzenkampfs. 24 Einige Informationen bei D. Zévaco, Querelle, in: Revue de philologie française 30 (1917/18), S. 36–40. Gedankt sei Sabine Brinkmann für ihre wortgeschichtlichen Recherchen. 25 Ein nützlicher Überblick ist: Kurt König, Die literarische Ehrenrettung der Frau in Frankreich während der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, Dresden 1909. Vgl. auch Margarete Zimmermann, Wirres Zeug und übles Geschwätz. Christine de Pizan über den Rosenroman, Bad Nauheim 1993. 26 Gratien Du Pont, Controverses des sexes masculin et fémenin, Toulouse 1534: »querelle [du ›sexe masculin‹] contre cil [= le sexe fémenin]«, die »bonne querelle« der Männer gegen die Frauen, »les controverses des susditz sexes« (s. p.). Vgl. Charles Oulmont, Gratien du Pont Sieur de Drusac et les femmes, in: Revue des Etudes rabelaisiennes 4 (1906), S. 1–28, ­135–153.

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querelle dont on charge à tort le sexe féminin«.27 Ab 1541 erweitert sich die Debatte um die Querelle de l’Amye (Streit um die Freundin). Sie beginnt mit dem Gedicht »L’Amye de court« (1541) des Bertrand de la Borderie, auf das andere Autoren mit »Gegengedichten« (La Contr’amye de court) antworten.28 Mit dem »Brief discours que l’excellence de la femme surpasse celle de l’homme« von Marie de Romieu (1581), mit Catherine Des Roches, deren Schriften von Julia Pieper analysiert werden,29 und vor allem mit »Egalité des hommes et des femmes« (1622/23) und »Grief des femmes« (1626) von Marie de Gournay30 beteiligen sich in Frankreich rund zweihundert Jahre nach Christine de Pizan zum ersten Male wieder Autorinnen an der Diskussion, die auf diese Weise eine neue Qualität gewinnt und – vor allem in der Ehedebatte – um neue Aspekte bereichert wird. Weiblichkeit ist nun nicht mehr allein die generische »Frau«, ist nicht mehr ausschließlich be-sprochene Weiblichkeit oder lediglich präsent in Form der unerreichbaren Vorbildlichkeit der berühmten Frauen, sondern manifestiert sich als – spöttische, indignierte, zornige – feminine Stimme in einer Debatte, die auf diese Weise erneut zum Dialog der Geschlechter wird. Auch in Italien melden sich um diese Zeit Frauen zu Wort, zumal in Venedig: so Moderata Fonte mit ihrer Schrift »Il merito delle donne: ove chiaramente si scuopre quanto siano elle degne e più perfette de gli uomini« (1600); Adriana Chemello, die diesen Text herausgegeben hat – er ist inzwischen auch in einer 27 Guillaume Postel, Les très-merveilleuses victoires des femmes du nouveau monde, Padua 1553, zit. in: Maïté Albistur u. Daniel Armogathe, Histoire du féminisme français, Paris 1977, Bd. 1, S. 144. Zu Postels Schrift vgl. Marion L. Kuntz, The Virgin of Venice and Concepts of the Millenium in Venice, in: Jean R. Brink u. a. (Hg.), The Politics of Gender in Early­ Modern Europe, Kirksville 1989 (Sixteenth Century Essays & Studies, Bd. 12), S. 111–130. 28 Im Zentrum dieser Debatte, die eng mit Castigliones Weiblichkeitsentwurf der »donna di palazzo« im 3. Buch von Il cortegiano (1528; frz. Übers.: 1537) zusammenhängt, steht der weibliche Verhaltenskodex im Kontext des Soziotops Fürstenhof. Zur noch nicht ge­nügend erforschten Querelle de l’Amye vgl. Telle (wie Anm. 2), Kap. V; Michael A. Screech, An Interpretation of the Querelle des Amyes, in: Bibliothèque d’Hu­ma­nis­me et Renaissance 21 (1959), S. 103–130. 29 Marie de Romieu, Brief discours que l’excellence de la femme surpasse celle de l’homme, in: dies., Les premières œuvres poétiques, hg. von André Winandy, Genf 1972, hier S. 12– 25; J­ ulia Pieper, »Désir et Vertu«. Bildung und weibliche Identität im Werk der Dames des­ Roches, in: Geschlechterdebatten 1997, S. 57–77. 30 Neueste Editionen: Paris 1989 (Einl. von Milagros Palma); Constant Venesoen (Hg.), Genf 1993. Wichtige Texte auch in: Marie de Gournay, Fragments d’un discours féminin, hg. von Elyane Dezon-Jones, Paris 1988. Stellvertretend für die über vierzigjährige Forschung zu Marie de Gournay: Marjorie H. Ilsley, A Daughter of the Renaissance: Marie le Jars de­ Gournay. Her Life and Works, Den Haag 1963 (zur Querelle: S. 201); Renate Baader, Streitbar und unzeitgemäß: Die Moralistik der Marie de Gournay, in: dies. u. Dietmar ­Fricke (Hg.), Die französische Autorin vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1979, S. 77– 95; Ian Maclean, Marie de Gournay et la préhistoire du discours féminin, in: Danielle Haase Dubosc u. Eliane Viennot (Hg.), Femmes et pouvoirs sous l’ancien régime, Paris 1991, S. 120–134.

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vorzüglichen deutschen Übersetzung erschienen –, untersucht ihn in ihrem Beitrag.31 Und Esther Lauer behandelt weitere wichtige Aspekte des italienischen Geschlechterstreits. Zwar nicht Moderata Fonte – sie starb 1592 –, aber Lucrezia Marinelli reagierte mit »Le nobiltà et eccellenze delle donne et i diffetti, e mancamenti de gli huomini« (1600, erweitert 1601)32 auf die Frauenschelte des schon erwähnten Giuseppe Passi (1599), der aber mit seiner Schrift wiederum auf frühere Schriften geantwortet hatte. Noch um die Mitte des 17. Jahrhunderts ist die letzte Schrift der Nonne Arcangela Tarabotti (»Che le donne siano della spetie degli huomini. Difesa delle donne«, 1651) eine polemische Replik auf die 1647 erschienene italienische Übersetzung eben jener anonymen »Disputatio nova«, die 1595 in Deutschland die Kontroverse entfacht hatte. Hier und in ihren anderen Schriften geht Tarabotti aber weit über eine schlichte Replik hinaus und entwirft eine Vision von weiblicher Freiheit.33 In England ist die erste weibliche Stimme in der Debatte für 1589 belegt: Unter dem Pseudonym Jane Anger polemisierte sie gegen ein frauenfeindliches Pamphlet. Moira Ferguson demonstriert die eindrucksvolle Variationsbreite der englischen Geschlechterdebatten. Polemik und Pamphletform waren ein Charakteristikum der englischen Querelle im 16. und 17. Jahrhundert, außerdem die Verwendung von Pseudonymen, vor allem im Fall der aggressiveren Traktate und Titel (»Esther hath hang’d Haman«, 1617; »The Women’s Sharp Revenge«, 1640) oder des satirischen »Pamphletkriegs« zwischen »Hic Mulier: or, the Man-

31 Adriana Chemello, Weibliche Freiheit und venezianische Freiheit: Moderata Fonte und die Traktatliteratur über Frauen im 16. Jahrhundert, in: Geschlechterdebatten 1997, S. 239–268; Moderata Fonte, Il merito delle donne, hg. v. Adriana Chemello, Mirano 1988; auch URL: http://www.liberliber.it/mediateca/libri/m/moderata_fonte/il_merito_delle_donne/pdf/il_ mer_p.pdf (1.11.2013). Dies., Das Verdienst der Frauen. Warum Frauen würdiger und vollkommener sind als Männer, übers., erläutert u. hg. von Daniela Hacke, München 2001. Vgl. auch Andrea Grewe, Un uomo senza donna è pur una mosca senza capo. Formen und Funktion weiblichen Lachens in Moderata Fontes »Il merito delle donne«, in: Anne-Marie Bonnet u. Barbara Schellewalt (Hg.), Frauen in der Frühen Neuzeit: Lebensentwürfe in Kunst und Literatur, Köln 2004, S. 149–164. 32 Es gibt keine moderne Edition des vollständigen Originaltextes. Zur engl. Übers. (Chicago 2000) s. unten, (Anm. 91). 33 Die erste Neuausgabe seit dem Erstdruck: Arcangela Tarabotti, Che le donne siano della spezie degli uomini – Women Are No Less Rational Than Men, hg. u. eingel. von Letizia­ Panizza, Chicago 2004; vgl. dies. (Hg.), Women in Italian Renaissance Culture and Society, Oxford 2000. Zu Tarabottis übrigen Schriften vgl. Francesca Medioli, L’»Inferno monacale« di Arcangela Tarabotti, Turin 1990. Zu ihrer Sicht auf die Frauen ihrer Zeit vgl. Gisela Bock, Frauenräume und Frauenehre: Frühneuzeitliche Armenfürsorge in Italien, in: K ­ arin Hausen u. Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte  – Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M. 1992, S.  25–49; Volker Hunecke, Kindbett oder Kloster: Lebenswege venezianischer Pa­ trizierinnen im 17. und 18. Jahrhundert, in: GG 18 (1992), S. 446–476. Vgl. auch Margarete Zimmermann, Die italienische »Querelle des Femmes«: Feministische Traktate von Moderata Fonte und Lucrezia Marinella, in: Gisela Schneider (Hg.), Frauenforum (= Trierer Beiträge, Sonderheft 8), Trier 1994, S. 53–61, ferner Chemello, Weibliche Freiheit (wie Anm. 31).

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Woman« und »Haec Vir: or, The Womanish Man« (beide 1620).34 Besonders in jüngster Zeit wurde versucht, hinter den Pseudonymen, den satirisch-fiktiven Autorennamen (z. B. Jane Anger, Mary Tattlewell, Joane Hit-him-home) oder dem Anonymat – auch in Frankreich gab es im 16. Jahr­hundert zahlreiche anonyme Querelle-Texte – die wirklichen Autoren oder doch ihre Geschlechtszugehörigkeit zu erkennen, und manche bisherigen Annahmen wurden revidiert.35 Kehren wir zur primären Wortgeschichte von Querelle des Femmes zurück, so ist allerdings festzuhalten, dass der Begriff seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den französischen Quellentexten seltener wird. Zumal in den Titeln – Adriana Chemello weist auf die programmatische Bedeutung der Titelformulierungen und ihres Wandels hin – herrschen im Französischen Begriffe wie »controverse«, »débat«, »défense«, »apologie«, gelegentlich auch »guerre«, oder solche aus dem Umfeld der Über- und Unterlegenheitstopik vor.36 Vermut34 Vgl. Moira Ferguson, Feministische Polemik. Schriften englischer Frauen im 16. Jahrhundert, in: Geschlechterdebatten 1997, S. 292–315. Weitere Editionen: Katherine Usher Henderson u. Barbara F. McManus (Hg.), Half Humankind. Contexts and Texts of the Controversy about Women in England, 1540–1640, Urbana 1985; Simon Shepherd (Hg.), The Women’s Sharp Revenge: Five Women’s Pamphlets from the Renaissance, New York 1985. Vgl. Jane Anger (1589), Joseph Swetnam (1615), Esther Sowernam (1617), Mary Tattle-well und Joane Hit-him-home (1640), Auszüge hg. v. Gisela Bock, übersetzt von Esther Lauer, in: Geschlechterdebatten 1997, S. 324–341; Constance Jordan, Renaissance Feminism. Literary Texts and Political Models, Ithaca 1990; Pamela Joseph Benson, The Invention of the Renaissance Woman. The Challenge of Female Independence in the Literature and Thought of Italy and England, University Park 1992. Zu englischen Querelle-Texten ferner: Anne M. Hasekorn u. Betty S. Travitsky (Hg.), The Renaissance Englishwoman in Print. Counterbalancing the Canon, Amherst 1990; Elizabeth D. Harvey, Ventriloquized Voices. Feminist Theory and English Renaissance Texts, London 1992; Barbara Kiefer Lewalski, Writing Women in Jacobean England, Cambridge, MA 1993; Linda Woodbridge, Women and the English Renaissance. Literature and the Nature of Womankind, 1540–1620, Urbana 1984; Elaine V. Beilin, Redeeming Eve. Women Writers of the English Renaissance, Princeton 1987. 35 In Frankreich gibt es neben anonymen Texten, von denen ein größerer Teil weiblichen Ursprungs sein dürfte, falsche Zuschreibungen, wie z. B. im Falle der Schrift »Le Triomphe des Dames« (1599), die einem gewissen Pierre de Brinon attribuiert wird, jedoch mit Sicherheit von einer Frau verfasst wurde. Zur Diskussion des Geschlechts anonymer englischer Autoren vgl. Henderson u. McManus, S. 20–24; Shepherd, z. B. S. 160 f. (wie Anm. 34). Elisabeth Gössmann schätzte den Anteil der Frauen an den Querelle-Autoren auf 20 Prozent: dies. (wie Anm. 11), S. 32. Das quantitative Verhältnis von philogynen und misogynen QuerelleSchriften europaweit zu bestimmen, ist bisher noch nicht versucht worden. 36 Vgl. die illustrativen Titellisten in Albistur u. Armogathe (wie Anm. 27), S. 114–118 (1502– 1599: »La querelle des femmes aux XVIe siècle«) und S. 192–194 (1660–1700: »Le ­féminisme à l’âge classique«). Hier auch Nicolas de Cholières, La guerre des mâles contre les ­femelles (1588). Zum frühen 17. Jahrhundert vgl. auch Ian Maclean, La querelle des femmes en France à partir de 1617 (2011): URL (1.11.2013). Es ist ein Beitrag zum Projekt »Agon« an der Sorbonne, das sich mit Disputen jener Zeit befasst, darunter auch die »querelle des femmes«; URL: http://www.agon.paris-sorbonne.fr/ en/introduction (1.11.2013).

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lich wird das Lexem querelle spätestens seit dem 17. Jahrhundert pejorativ konnotiert und deshalb zunehmend durch die Begriffe »Kontroverse«, »Kampf« oder »Krieg« ersetzt.37 Im Italienischen dominieren Titel wie »della eccellenza et dignità delle donne«, »la nobiltà delle donne«, »difesa delle donne«, »dell’eccellentia de l’huomo sopra quella de la donna«, und zwar nicht in den Titeln, wohl aber im Text ist zuweilen die Rede von »querellarsi«.38 In Deutschland finden sich »Defensio sexus muliebris« (1595), »certamen masculo-foemineum« (1602 und 1606), »Disputatio« (1629), »Ehren-Preiß« (1663), »Lob-Rede« (1716).39 In der folgenden Zeit können gelegentliche Anlehnungen an den QuerelleBegriff – so zum Beispiel bei Joseph von Eichendorff, der 1847 von dem »ebenso alten, als wunderlichen Streit« schreibt40 – nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in den Hintergrund tritt. In der Frühen Neuzeit war die Querelle des Femmes nicht die einzige­ querelle, und Kontroverse und Dialog waren beliebte Präsentationsformen. 1516 erschien die »Querela pacis« (»Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde«) des Erasmus von Rotterdam und wurde häufig wiederaufgelegt und in viele Sprachen übersetzt.41 Bilder von Pieter­ Breughel demonstrieren den Streit zwischen Fasten und Völlerei. Der Pietismus des 17. Jahrhunderts produzierte in Deutschland eine eindrucksvolle Streit­ literatur.42 Zahlreiche Gelehrte beteiligten sich an der europaweiten Querelle des Anciens et des Modernes, die auf ihrem Höhepunkt gegen Ende des 17. Jahrhunderts schon eine lange Vorgeschichte hatte und in der es um den jeweiligen Vorrang der antiken beziehungsweise der modernen Kunst, Wissenschaft und Staatskunst ging. Seit 1687 lässt sich der Terminus querelle für diesen »bürgerlichen Krieg in der gelehrten Welt« (1760), »Rang-Streit über die Wissenschaften der Alten und Neuen« (1780) oder »Battle of the Books« (1704) nachweisen, seit 1761 – in dem schon genannten Werk des Abbé Irailh – die volle

37 Auf diese Zusammenhänge, allerdings im Kontext der Querelle des Anciens et des Modernes, verweist Joan DeJean in: Did the Seventeenth Century Invent our Fin de Siècle? Or, the Creation of the Enlightenment That We May at Last Be Leaving Behind, in: Critical Inquiry 22 (1996), S. 790–816, bes. S. 794 f. 38 Vgl. die italienischen Titellisten in Fahy (wie Anm. 12); Zancan, Nel cerchio (wie Anm. 7), S.  237–64; Galeazzo Flavio Capra, Della eccellenza  e dignità delle donne, hg. von Maria Luisa Doglio, Rom 1988, S. 113–125. Ein Beispiel für »querellarsi« findet sich bei Chemello, Weibliche Freiheit (wie Anm. 31), S. 261, bei Anm. 81. 39 Maclean, Renaissance (wie Anm. 13), S. 74: certamen als »war of the sexes« (hier geht es um die »differentiae sexus« in der dynastischen Erb- und Thronfolge in Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland); Gössmann (Hg.), Archiv (wie Anm. 10), Bd. 1, 2, 4. 40 Joseph von Eichendorff, Die deutsche Salon-Poesie der Frauen, in: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 19 (1847), S. 463–480, hier S. 464. 41 Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Welzig, 8 Bde., Darmstadt 1968, Bd. 5, S. 359–451. 42 Gierl, Pietismus (wie Anm. 17).

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Be­zeichnung Querelle des Anciens et des Modernes. Ähnlich wie in bezug auf die Querelle des Femmes kam man neuerdings auch mit Bezug auf jenen »bürgerlichen Krieg« zu dem Ergebnis, dass nicht erst die Renaissance, sondern bereits das Mittelalter »von querellehaften Auseinandersetzungen durchzogen ist.«43 Dieser Streit hatte überdies aufschlussreiche Beziehungen zur Querelle des Femmes, die noch kaum erforscht sind. Eine wichtige Rolle spielt er – nun zwischen anciennes et modernes – in manchen Frauenkatalogen.44 Autoren, die in dem einen Vorzugsstreit Partei für die »Modernen« ergriffen, pflegten im parallelen Vorzugsstreit Partei für die Frauen zu ergreifen und erblickten im wachsenden Einfluss der Frauen auf das gesellschaftliche Leben ein Zeichen des Fortschritts. Überdies fand die Querelle des Anciens et des Modernes zunehmend nicht nur im höfischen Umkreis, sondern auch in den Salons statt, wo – jedenfalls in Frankreich – bereits seit dem 16. Jahrhundert Frauen eine große Rolle spielten. Dorothea Christiane Leporin (verheiratete Erxleben) schrieb 1742 in ihrem Plädoyer für das Frauenstudium dessen Verurteilung durch seine Gegner dem praejudicium antiquitatis der Antiken-Partei zu.45 Eine Parallele zwischen dem Antike-Moderne-Streit und dem Geschlechterstreit ist auch darin zu sehen, dass der jeweilige Begriff in die geistesgeschichtliche Wissenschaftssprache einging und dann auch für das entsprechende Phänomen außerhalb des französischen Sprachbereichs verwendet wurde. Der Begriff Querelle des Anciens et des Modernes wurde in der französischen Forschung erstmals 1856 benutzt46, und um 1900 erlebte in Frankreich auch der Begriff Querelle des Femmes eine Art Renaissance: in den literaturwissenschaftlichen Studien von Abel Lefranc und Emile Telle.47 Kein Zufall ist es, dass die Querelle des Femmes gerade um 1900 reaktualisiert wird: Wir befinden uns in einer Epoche, in der »Feminismus«, ein noch junger Begriff, in Frankreich und bald auch anderswo geradezu Hochkonjunktur hat und eine intensive Dis-

43 Peter K. Kapitza, Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, München 1980, S. 9–16, 25. Hier auch nähere Angaben zu den genannten Titeln. Zu Irailh vgl. ebd., S. 10, 447, und oben, Anm. 8. Vgl. auch Elisabeth Gössmann, Antiqui und Moderni im Mittelalter, München 1974. 44 Z. B. in Jean de la Forge, Le Cercle des Femmes Scavantes, Paris 1663. 45 Kapitza (wie Anm. 43), S. 430 f., 374. Vgl. auch Hans Kortum, Charles Perrault und Nicolas Boileau. Der Antike-Streit im Zeitalter der klassischen französischen Literatur, Berlin 1966, z. B. S.  14; Antoine Adam, Baroque et préciosité, in: Revue des sciences humaines (1949), S.  208–224, hier S.  213; Dorothea Christiane Leporin, Gründliche Untersuchung der Ur­ sachen, die das Weibliche Geschlecht vom Studiren abhalten […], Berlin 1742. 46 August Buck, Die »Querelle des anciens et des modernes« im italienischen Selbstverständnis der Renaissance und des Barocks, in: Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Bd.  11, Nr.  1, Wiesbaden 1973, S. 5; Kapitza (wie Anm. 43), S. 9, 16, 447, 485. Ferner: DeJean, Seventeenth Century (wie Anm. 37), und Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1992, bes. S. 56–61. 47 Siehe oben, Anm. 2.

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kussion, einen vielstimmigen Streit um seine Besetzung auslöst.48 Damit geht der Versuch einher, dem Gegenwartsphänomen Feminismus eine historische Tiefen­dimension zu verleihen und deshalb nach Vorformen und Vorläufern feministischen Denkens zu suchen, die man – je nach Periodisierungsmodell – im Mittelalter mit Christine de Pizan, im 16. Jahrhundert mit Margarete von Navarra oder im 17. Jahrhundert mit Marie de Gournay, mit den Preziösen des Siècle Classique oder dann den Frauen im Umkreis der Französischen Revolution beginnen lässt.49 Ähnlichen Periodisierungs­vor­schlä­gen werden wir im Zusammenhang der Querelle des Femmes begegnen. Auch in deutschsprachigen Untersuchungen lässt sich diese Zeitbezogenheit, diese Spiegelung des frühen Feminismus beziehungsweise der frühen Frauenbewegung deutlich erkennen; hören wir dazu den Romanisten Kurt König: »Überkommene Sitten und eingewurzelte Vorurteile […] bildeten den dichten Nebel, durch den die Sonne der Befreiung der Frau aus entwürdigender Stellung sich nur sehr langsam durchringen konnte. Diese ersten Kämpfe des späteren Mittelalters im Sinne der Frauenbewegung etwas näher zu betrachten, dürfte wohl von einigem Interesse sein.«50 Nicht so pathetisch, sondern philologisch48 Zahlreiche um 1900 publizierte Schriften tragen den Begriff »Feminismus« im Titel, allen voran jene des konservativen Vielschreibers Théodore Joran, der sich nahezu im Jahresrhythmus zu diesem Thema zu Wort meldete. Englische Beispiele: Samuel Alfred Richards, Feminist Writers of the Seventeenth Century, London 1914; Lula McDowell Richardson, The Forerunners of Feminism in French Literature of the Renaissance from Christine de Pisan to Marie de Gournay, Baltimore 1929, ND Ann Arbor 1979. Dazu aus heutiger Perspektive: Christine Bard, Les Filles de Marianne. Histoire des féminismes 1914–1940, Paris 1995, S. 21–23; Margarete Zimmermann, Christine de Pizan und die Feminismus-Debatten des frühen XX. Jahrhunderts, in: Renate Kroll u. Margarete Zimmermann (Hg.), Feministische Literaturwissenschaft in der Romanistik. Theoretische Grundlagen  – Forschungsstand  – Neuinterpretationen, Stuttgart 1995 (Ergebnisse der Frauenforschung, Bd.  38), S.  156–185. Vgl. auch Gisela Bock, »Querelle du féminisme« im 20. Jahrhundert: Gab es »Feminismus« in Spätmittelalter und Früher Neuzeit? Eine historiographische Montage, in: Geschlechterdebatten 1997, S.  341–372. Vgl. auch unten, Kap.  »Frauenemanzipation«, bei Anm. 72 ff. 49 In diesem Zusammenhang entstanden die »klassischen« Studien des Abel Lefranc-Schülers Georges Ascoli, Essai sur l’histoire des idées féministes en France du XVIe siècle à la Révolution, in: Revue de Synthèse historique 13 (1906), S. 25–57, 99–106, 161–184; Léon Abensour, Histoire générale du féminisme. Des origines à nos jours, Paris 1921; ders., La Femme et le féminisme avant la Révolution, Paris 1923. Zuvor hatte er einen frühen »Feminismus« in Mailand identifiziert: Un mouvement féministe au XIIIe siècle, in: La Nouvelle Revue 20 (1911), S. 111–116; dazu neuerdings Luisa Muraro, Guglielma e Maifreda. Storia di un’eresia femminista, Mailand 1985 (dt. Übers.: Freiburg 1987). Zu fragen bleibt allerdings, ob die Identifizierung einer solchen historischen Tiefendimension des »Feminismus« durch den Rekurs auf den Begriff Querelle des Femmes die Bedeutung dieser Geschlechterkontroverse nicht unangemessen bagatellisiert. Vgl. DeJean (wie Anm.  37), S.  794: »Thus, querelle,  a relatively lightweight term, is used to designate intellectual controversies as sustained and as momentous as the centuries-long conflict over women’s rights and status known as the Querelle des Femmes.« 50 König, Ehrenrettung (wie Anm. 25), S. 2.

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nüchtern äußerte sich die Zeitbezogenheit bei der Romanistin Julia Kalbfleisch. Als in Deutschland den Frauen die Tore der Universitäten noch verschlossen waren, wurde sie in Bern mit einer Edition des »Triumphe des Dames« von­ Olivier de la Marche (um 1492), der sich unter anderem auf Christine de Pizan bezog, promoviert. Die Publikation widmete sie ihrer Tante Henriette Goldschmidt, der Leipziger Jüdin und großen Gestalt der klassischen Frauenbewegung in Deutschland.51 Eine zweite verstärkte Hinwendung zur französischen Querelle, die diese nun nicht mehr – jedenfalls nicht primär – daraufhin befragt, ob sie als Vorläufer des modernen Feminismus gelten könne, sondern als ein historisches Phänomen sui generis darzustellen sucht, lässt sich seit den siebziger Jahren vor dem Hintergrund der neueren Frauenbewegung beobachten. In diesen Jahren ent­stehen die Untersuchungen von Maïté Albistur und Daniel Armogathe, Ian Maclean, Marc Angenot52 sowie der einflussreiche Aufsatz von Joan Kelly, der – ebenso wie die gleichzeitigen Arbeiten von Elisabeth Gössmann – die Querelle als gesamteuropäisches Phänomen präsentierte. In den neunziger Jahren werden Texte aus Italien, Frankreich und England, die gewöhnlich der Querelle zugerechnet werden, unter den Titeln »Renaissance Woman« oder »Renaissance Feminism« analysiert,53 und mit Linda Timmermans’ bahnbrechender Studie zur weiblichen Kultur des 17. Jahrhunderts wird die Er­for­schung der französischen Querelle weitergeführt.54 Zu deren mittelalterlicher Dimension, zur Herausbildung der »disputational figure of a woman« und der »dialectic ­between masterful writing and women’s response« hat Helen Solterer neues Material be51 Julia Kalbfleisch, geb. Benas: Le Triumphe des Dames von Olivier de la Marche. Ausgabe nach den Handschriften (Diss. phil., Bern 1899), Rostock 1901. Im Glossar weist Kalbfleisch auch auf das Vorkommen von »querre, querir« im Sinn von »erflehen, suchen, begehren« hin (S. 118), doch weder »Querelle« noch »Feminismus« kommen hier vor. 52 Albistur u. Armogathe, Histoire (wie Anm. 27); Ian Maclean, Woman Triumphant. Feminism in French Literature, 1610–1652, Oxford 1977; Marc Angenot, Les Champions des femmes. Examen du discours sur la supériorité des femmes, 1400–1800, Montréal 1977. 53 Kelly (wie Anm. 7); Gössmann (wie Anm. 10); Jordan und Benson (wie Anm. 34). Viele der europäischen Querelle-Texte, aber auch andere einschlägige, waren schon von Ruth Kelso zusammengestellt worden (insgesamt 891 für Europa 1400–1600), in deren einflussreichem Werk der »war of the sexes« nur ein Gesichtspunkt unter anderen war: Ruth Kelso, ­Doctrine for the Lady of the Renaissance, Urbana 1978 (19561), S.  2 und die Titelliste S.  326–424. Kelso hatte das Werk im Nachgang zu ihrem früheren konzipiert: The Doctrine of the English Gentleman in the Sixteenth Century, Gloucester, MA 1964 (19291). Über einzelne Länder hinaus gehen ferner: Katharine M. Wilson (Hg.), Women Writers of the Renaissance and Reformation, Athen 1987; Margaret W. Ferguson u. a. (Hg.), Rewriting the Renaissance. The Discourses of Sexual Difference in Early Modern Europe, Chicago 1986. 54 Linda Timmermans, L’Accès des femmes à la culture (1598–1715). Un débat d’idées de Saint François de Sales à la Marquise de Lambert, Paris 1993 (Bibliothèque Littéraire de la Renaissance, Série 3, Bd. 26). Vgl. die Besprechung von Margarete Zimmermann, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 1 (1996), S. 237–244. Ferner auch Lieselotte Steinbrügge, Das moralische Geschlecht. Theorien und literarische Entwürfe über die Natur der Frau in der französischen Aufklärung, Weinheim 1987.

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reitgestellt.55 Zugleich lässt sich in den letzten Jahren ein verstärkter Rekurs auf die Querelle in frauengeschichtlichen Untersuchungen verschiedener Disziplinen feststellen. Er zeigt, dass das Wissen um die Querelle nicht dem Vergessen anheimgefallen ist und aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder aktualisiert wird.56

3. Themen, historische Zäsuren und literarische Formen Die Definition der Querelle des Femmes und ihre Periodisierung hängen sichtlich eng miteinander zusammen. Je mehr man sich mit ihr befasst, umso deutlicher wird, dass sie in ihren verschiedenen medialen Ausprägungen nicht auf einen »Streit um die Frau« zu reduzieren ist. Querelle des Femmes/des Sexes knüpft an die Terminologie der Quellen an, ist aber, als umfassender Begriff und eine Art Terminus technicus, eine Schöpfung des 20. Jahrhunderts und bezeichnet als solcher ein weitaus komplexeres Phänomen: einen weitreichenden Geschlechterstreit, in dem es nicht nur um Frauen geht, sondern auch – und das wurde bisher noch zu wenig beachtet – um Männer. Es handelt sich um einen Streit in Wort und Bild, aber auch um Wort und Bild, zu dessen Analyse etwa Susan Groag Bell, Sara Matthews Grieco und Bettina Baumgärtel beigetragen haben.57 Wort und Bild sind nicht nur zwei unterschiedliche Medien, sondern in einer Zeit, als Lesen und Schreiben noch weitgehend den religiös Gebildeten vorbehalten war, galten Bilder – mit einer schon damals alten Formel – als die »scriptura laicorum«, »der Laien Buch«.58 Gestritten wird um die Besetzung 55 Helen Solterer, The Master and Minerva. Disputing Women in French Medieval Culture, Berkeley 1995, S. 18. 56 Vgl. z. B. Mary D. Garrard, Artemisia Gentileschi. The Image of the Female Hero in Italian Baroque Art, Princeton 1989, S. 10 und Kap. 2; Margaret L. King, Women of the Renaissance, Chicago 1991, S. 187; Georges Duby u. Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, hg. von Natalie Z. Davis u. Arlette Farge, Frankfurt a. M. 1994, S. 12 f.; Geneviève Fraisse, Der Bruch der Französischen Revolution und die Geschichte der Frauen, in: dies., Geschlecht und Moderne. Archäologien der Gleichberechtigung, Frankfurt a. M. 1995, S.  77–95; Claudia Opitz, Die Ehre des weiblichen Geschlechts. Jeanne d’Arc in der frühneuzeitlichen »querelle des femmes«, in: Hedwig Röckelein u. a. (Hg.), Jeanne d’Arc oder: Wie Geschichte eine Figur konstruiert, Freiburg 1996, S. 111–136. 57 Susan Groag Bell, Verlorene Wandteppiche und politische Symbolik: Die Cité des Dames der Margarete von Österreich, in: Geschlechterdebatten 1997, S. 39–56; Sara F. Matthews Grieco, Georgette de Montenay: Eine andere Stimme in der Emblematik des 16. Jahrhunderts, in: ebd., S. 78–146; Bettina Baumgärtel, Zum Bilderstreit um die Frau im 17. Jahrhundert. Inszenierungen französischer Regentinnen, in: ebd., S. 147–182. 58 Vgl. Duggan G. Lawrence, Was Art Really the »book of the illiterate«?, in: Word and Image 5 (1989), S.  227–251; Norbert Schnitzler, Ikonoklasmus  – Bildersturm: Theologischer Bilderstreit und ikonoklastisches Handeln während des 15.  und 16. Jahrhunderts, München 1996, S. 20; Klaus Schreiner, Maria – Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München 1994, S. 252 f. Die ikonographische Geschlechterforschung hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Er-

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eines imaginaire,59 eines »Vorstellungsraums« von Männlich und Weiblich, von Geschlechterhierarchien, und um Positionen in den entsprechenden Domänen der jeweils aktuellen Diskussion. Dabei können sich die Schwerpunktsetzungen nach Gewicht, Inhalt und Form von Epoche zu Epoche verändern. Zu den frühen Manifestationen des Streits gehört die Debatte um die Ehe, eines der brennenden kulturellen Probleme des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit: »An uxor sit ducenda« (Giovanni della Casa, 1537) war in Italien eine von männlichen Autoren vieldiskutierte Frage, in Deutschland konnte sie heißen: »Ob einem manne sey zu nemen ein eelichs weyb oder nit« (Albrecht von Eyb, 1472). In der Beantwortung dieser Frage drückte sich männliche Misogamie (Eheschmäh) in Misogynie (Frauenschelte) aus und das Frauenlob (Philogynie) in Ehelob (Philogamie).60 Christine de Pizans Frauenlob wandte sich gegen die Frauen- und Eheverächgebnisse zutage gefördert; vgl. z. B. Gabriele Signori, Wörter, Sachen und Bilder. Oder: Die Mehrdeutigkeit des scheinbar Eindeutigen, in: Andrea Löther u. a. (Hg.), Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, München 1996, S. 11–34; John N. King, The Godly Woman in Elizabethan Iconography, in: Renaissance Quarterly 38 (1985), S. 41–84; Lène Dresen-Coenders (Hg.), Tussen heks en heilige, Nijmwegen 1985 (engl. Übers.: Saints and She-Devils: Images of Women in the 15th and 16th Centuries, London 1987); Gabriella Zarri, Ursula and Catherine: The Marriage of Virgins in the Sixteenth Century, in: Edith Ann Matter u. John Coakley (Hg.), Creative Women in Medieval and Early Modern Italy. A Religious and Artistic Renaissance, Philadelphia 1994, S. 237–278; Patricia Simons, Women in Frames: the Gaze, the Eye, the Profile in Renaissance Portraiture, in: History Workshop 25 (1988), S. 4–30; Wayne E. Franits, Paragons of Virtue: Women and Domesticity in Seventeenth-Century Dutch Art, Cambridge 1993; Anne Christine Junkerman, Bellissima donna. An Interdisciplinary Study of Venetian Sensuous Half-length Images of the Early Sixteenth Century, Diss. University of Berkeley 1988 (UMI, Ann Arbor, MI); Garrard (wie Anm. 56); Moxey (wie Anm. 6); Metken (wie Anm. 5). 59 Zu diesem Begriff siehe Jacques Le Goff, L’Imaginaire médieval, Paris 1985, sowie die kritische Diskussion von Le Goffs Konzept des imaginaire bei Otto Gerhard Oexle, Das Andere, die Unterschiede, das Ganze. Jacques Le Goffs Bild des europäischen Mittelalters, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 17.1 (1990), S. 141–158; aus literaturwissenschaftlicher und historischer Sicht: Sabine Jöckel, »Nouvelle histoire« und Literaturwissenschaft, Rheinfelden 1985. 60 Der Venezianer Francesco Barbaro plädiert in »De re uxoria« (1415/16, dt. Übers. Berlin 1933) für die Ehe als löblichste Lebensform, hingegen sein Enkel Ermolao Barbaro in »De coelibatu« (ca. 1472) gegen sie: Nur ohne die Ablenkung durch Frau und Kinder könne man sich der Gelehrsamkeit und den Staatsgeschäften widmen. Vgl. Giovanni Della Casa, Se si debba prendere moglie [= An uxor sit ducenda, 1537]. Galateo, hg. von Arnaldo di Benedetto, Turin 1991 (zweisprachige Ausgabe). Zur Ehethematik in Texten von Frauen vgl. Margarete Zimmermann, Gamologien und Geschlechtertänze. Ehereflexionen in Texten französischer und italienischer Autorinnen des 15.–17. Jahrhunderts, in: Rüdiger Schnell (Hg.), Text und Geschlecht. Mann und Frau in Eheschriften der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1997, S.  303–327; Rüdiger Schnell, Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs: Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M. 1998; Eric ­Walter, Le complexe d’Abélard ou le célibat des gens de lettres, in: Dix-huitième Siècle 12 (1980), S. 126–152.

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ter ihrer Zeit, die anonyme Schrift »Les quinze joyes de mariage« beschwor Anfang des 15. Jahrhunderts den Verlust der männlichen Freiheit in der Ehe, und ein Jahrhundert später präsentierte Erasmus von Rotterdam in seiner Schrift »Virgo misogamos« (1523) die ehefeindliche Jungfrau, die unbedingt ins Kloster wollte, sich aber noch rechtzeitig, beflügelt durch die Liebe, eines Besseren besann.61 Frauenlob-Schriften fragten, warum Frauen für Ehebruch strenger bestraft wurden als Männer oder warum ein Ehemann gekauft werden müsse (durch eine Mitgift); Frauen- und Eheverächter, z. B. in England, beantwor­teten die Frage damit, dass Frauen den Männern das Geld aus der Tasche zu ziehen pflegen.62 Obwohl für Deutschland diese Seite der Querelle bisher kaum gesehen wurde (man kümmerte sich unter diesem Titel fast nur um die Stimmen zur Intelligenz oder Bildungsfähigkeit der Frauen), spielte die Querelle du Mariage gerade hier eine zentrale Rolle: Die breite Ehedebatte der Reformation, zumal in deren sensationell-skandalöser Frühphase  – öffentliche Eheschließungen von Mönchen und Nonnen, Auflösung von Klöstern, eine Heiratsepidemie in Deutschland, wohin auch französische ehewillige Reformer reisten –, muss als integraler Bestandteil der europäischen Querelle des Sexes gelesen werden, und dasselbe gilt für die Ehedebatten der Gegenreformation. Martin Luther formulierte »Vom ehelichen Leben« (1522) ganz in der Art einer Querelle-Schrift, indem er sich gegen die traditionelle Eheschmäh wandte: »Aber davon wollen wir am meisten reden, dass der eheliche Stand einen so jämmerlichen Ruf bei jedermann hat. Es sind viele heidnische Bücher, die nichts als der Weiber Laster und des ehelichen Standes Widerwärtigkeiten beschreiben […]. So haben sie beschlossen, daß ein Weib sei ein nötiges Übel und kein Haus ohne solches Übel […]. Darum die jungen Männer sich vorsehen sollen, wenn sie die heidnischen Bücher lesen und die allgemeine Klage hören, damit sie nicht Gift schöpfen. Dem Teufel ist’s nämlich nicht wohl beim ehelichen Leben; denn es ist Gottes Werk und guter Wille. Darum hat er in der Welt so viel dawider schreien und schreiben lassen […]. Die Welt spricht von der Ehe: kurze Freud und langes Leid.«63 Kein Zufall ist es, dass die Ehedebatte, in der Luther nur eine von vielen Stimmen war und 61 Zur Ehe- und Freiheitsthematik in den »Quinze joyes de mariage« s. Margarete Zimmermann, Vom Hausbuch zur Novelle. Didaktische und erzählende Prosa im Frankreich des späten Mittelalters, Düsseldorf 1989, S. 79–232. Elisabeth Schneider, Das Bild der Frau im Werk des Erasmus von Rotterdam, Basel 1955, S. 54. 62 Vgl. dazu etwa Jane Anger u. a. (wie Anm. 34). Zu Frauenschelte-Schriften vgl. Katharina M. Wilson u. Elizabeth M. Makowski, Wykked Wyves and the Woes of Marriage. Misogamous Literature from Juvenal to Chaucer, Albany 1991. Tobias Brandenberger, Malas hembras und virtuosas mujeres: Querelles in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Iberoromania, in: Geschlechterdebatten 1997, S.  183–202, zeigt, wie sich in der Iberoromania die Ehedebatte in die umfassendere Geschlechterdebatte einfügt. 63 Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. M. 1982, S. 165–199 (Zitate: S. 186–188). Auch andernorts polemisiert Luther gegen die misogyne Tradition; vgl. z. B. ders., Sämtliche Schriften, Groß Oesingen 1987, Bd. 14, S. 415 f. Vgl. Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, München 20052, S. 37–45.

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in der sowohl reformatorisch-religiöse als auch humanistische Stimmen sich zu Wort meldeten, zu einer Zeit stattfand, als auch das »Ehepaar als Arbeitspaar« von größter Bedeutung geworden war.64 Ebenso bedeutsam für die Querelle ist Luthers »Ursach und Antwort, dass Jungfrauen Klöster göttlich verlassen mögen« (1523), also die Aufhebung der Klöster und die sie begleitenden heftigen Kontroversen (mit einer unterschiedlichen Dynamik im Fall von Frauen- und Männerklöstern), sowie die Streitliteratur in der Form zahllo­ser Flugschriften. Waren die reformatorische Priesterehe und die Ehe-versus-Jung­fräu­lich­ keit-Kontroverse ein zentraler Bestandteil der europäischen Querelle des Femmes, so waren sie umgekehrt ebenso zentral für die Reformation und jedenfalls für die Volksmassen wichtiger als etwa Luthers Thesenanschlag.65 Im Frankreich des 17. Jahrhunderts formulierten dann die Preziösen eine weibliche Ehekritik (»on se marie pour haïr et pour souffrir«),66 und in England tat das – nach diversen Pamphletkriegen – um 1700 Mary Astell: Der Mann heirate, weil »he wants one to manage his Family, an House-keeper, a necessary Evil, one whose Interest it will be not to wrong him, and in whom therefore he can put greater confidence than in any he can hire for Money. One who may breed his Children, taking all the care and trouble of their Education, to preserve his Name and Family. […] In a word, one whom he can intirely Govern, and […] who must be his for Life, and therefore cannot quit his Service let him treat her how he will.« Deshalb sei nach reiflicher Erwägung der Schluss zu ziehen: »never consent to be a Wife.«67 Als Mary Astell in ihrem Ehetraktat von 1706 den berühmten Satz »If all men are born free, how is it that all women are born slaves?« schrieb, war auch die Debatte um weibliche Herrschaftsfähigkeit schon längst nicht mehr neu. In 64 Vgl. Wunder, Er ist die Sonn (wie Anm. 5), bes. Kap. 3 und 4; zur Querelle im Kontext der Ehedebatte: S. 63, 73 f.; Miriam Usher Chrisman, Lay Culture, Learned Culture, 1480–1599, New Haven 1982, S. 104 f., 111 f.; Joel F. Harrington, Reordering Marriage and Society in Reformation Germany, Cambridge 1995. 65 Telle (wie Anm. 2), S. 329–335; Bernd Moeller, Die Brautwerbung Martin Bucers für Wolfgang Capito. Zur Sozialgeschichte des evangelischen Pfarrerstandes, in: Ludger Grenzmann u. a. (Hg.), Philologie als Kulturwissenschaft. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag, Göttingen 1987, S. 306–325; Lyndal Roper, Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt a. M. 1995. Eine unausgeschöpfte Fundgrube ist Hans Joachim Köhler (Hg.), Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts (1501–1530), Mikrofiche-Sammlung, Leiden 1978–1987 (ca. 2000 Flugschriften). 66 Zit. in: Albistur u. Armogathe, Histoire (wie Anm.  27), S.  202. Zur Ehekritik der Preziösen: Maclean, Woman (wie Anm. 52), S. 114–118; Renate Baader, Dames de Lettres. Auto­ rinnen des preziösen, hocharistokratischen und »modernen« Salons (1649–1698): Mlle de ­Scudéry – Mlle de Montpensier – Mme d’Aulnoy, Stuttgart 1986, S. 95–131; Renate Büff, Ruelle und Realität. Preziöse Liebes- und Ehekonzeptionen und ihre Hintergründe, Heidelberg 1979 (Studia Romanica, Bd. 35). 67 Mary Astell, Political Writings, hg. v. Patricia Springborg, Cambridge 1996, S. 50 f., 75; das folgende Zitat: ebd., S.  18. Vgl. Bridget Hill (Hg.), The First English Feminist: Reflections Upon Marriage and Other Writings, Aldershot 1986, S. 105 f., 127.

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Frankreich wurde sie von Christine de Pizan thematisiert, und wie Susan Groag Bell zeigt, dienten Wandteppiche mit Motiven aus Christines »Cité des Dames« zur Darstellung und Legitimation weiblicher Herrschaft. Bald ging es auch um das Salische Gesetz. In England tauchte die Frage anlässlich der Thronbesteigung von Maria Tudor und ihrer Halbschwester Elisabeth auf.68 Auch in Deutschland war davon zu hören: »Das aber etliche Weiber hiewider sagen [gegen den Satz, dass das Weib under des Mannes macht sey], die heylige Schrift gebe jnen den Nammen, das sie Männin heissen, darumb jnen die Herrschafft und regierung gleich so wohl als dem Manne gebüre, faren derhalben zu unnd understehen sich des Regiments, […] solches ist ein frevel«, und »die erfahrunge gibts, das man wenig Weiber findet, die jhren Ehemännern gehorsam und unterthänig sein wollen, sondern seind des mehrern teils stoltz, fräch, hartnäckig und eigensinnig, wollen sich nicht regieren lassen«, sondern selbst regieren.69 Im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert drängte sich dann, wie Esther Lauer gezeigt hat, die Debatte um weibliche Bildung und Gelehrsamkeit und diejenige um Mode und Körperpflege in den Vordergrund.70 Daneben gibt es »Langzeitthemen« wie die Anthropologie der Geschlechter, das Verhältnis von Genus und Moral, von Genus und Intellekt, Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau, bei denen es unter anderem um Inferiorität oder Superiorität der Frauen oder eine Gleichheit der Geschlechter geht. Im Lauf der Jahrhunderte entstehen aus diesen Kontroversen umfassende Argumentations- und Exempla-Arsenale, aus denen immer wieder geschöpft wird und Anleihen gemacht werden, innerhalb derer es aber auch stets signifikante Innovationen und Verschiebungen gibt. Die Debatten manifestieren, dass und wie in den hier in Rede stehenden Jahrhunderten die Geschlechter und ihre Beziehungen umstritten und Gegenstand von immer wieder erneuerten Verhandlungen waren. Als wenig erkenntnisfördernd erweist sich in diesem Zusammenhang das jüngst erneut aufgestellte Postulat von einem bloß rhetorischen, imitativtopischen und »statischen« Charakter der Querelle, der von »der« Literaturwissenschaft betont werde, wobei die Querelle ein Thema der »Geistesgeschichte« 68 John Knox, First Blast of the Trumpet against the Monstruous regiment of women (1558), und die Antwort von John Aylmer, An Harborowe for faithfull and trewe Subjectes against the late blowne Blaste, concerninge the Government of Women (1559). Vgl. Constance Jordan, Woman’s Rule in Sixteenth-Century British Political Thought, in: Renaissance Quarterly 40 (1987), S. 262–272; Jordan (wie Anm. 34), bes. Kap. 2; Maclean, Renaissance (wie Anm. 13), S. 60–63, 73–75. Für Frankreich: Maclean, Woman (wie Anm. 52), S. 16, 58–62, 192 f.; Sara Hanley, La loi salique, in: Christine Fauré (Hg.), Encyclopédie politique et historique des femmes, Paris 1997 (auf Englisch: 2003), S. 11–30; dies., Des Femmes dans l’Histoire: La loi salique, Paris 1994. 69 Cyriacus Spangenberg, Ehespiegel, Straßburg 1563, zit. in: Hubertus Fischer, Ehe, Eros und das Recht zu reden. Anmerkungen zum protestantischen Ehebild in Texten des 16. Jahr­ hunderts, in: Maria E. Müller (Hg.), Eheglück und Liebesjoch. Bilder von Liebe, Ehe und Familie in der Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts, Berlin 1988, S. 220 f. 70 Vgl. Esther Lauer, »Bellezza« und »Ornamenti« im italienischen Geschlechterstreit um 1600, in: Geschlechterdebatten 1997, S. 269–291.

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sei und ihre »sozialgeschichtliche« Bedeutsamkeit als bescheiden eingestuft wird.71 Grundsätzlich ist in der Tat von einer starken rhetorischen Geformtheit aller Äußerungen auszugehen. Sie schließt jedoch, erstens, Bezüge zur sozialen und politischen Aktualität keineswegs aus. Allerdings sind solche Bezüge für jeden Text eigens zu entschlüsseln: Historisierung im Sinn von historischer Kontextualisierung ist eine Hauptaufgabe der Querelle-Forschung, und aus dem Studium des Verhältnisses von Text und – literarischem, intellektuellem, sozialem  – Kontext sind die wichtigsten dieser Forschungen entstanden. Zweitens ist die Rede von »Statik« und »Topos«-Charakter der Querelle selbst schon zu einem Topos geronnen, den gerade die neuere Literaturwissenschaft in Frage gestellt hat.72 Auch verweist sie auf eine anachronistische Sichtweise, denn sie misst die Texte jener Zeit an der Elle einer modernen Ästhetik; damit verkennt sie die Bedeutung der imitatio für die Literatur und Kunst dieser Epoche, die eine »Zeit der Nachfolge« ist,73 ebenso wie die enorme damalige Bedeutung gerade der Rhetorik und die Variationen und unterschiedlichen Funktionalisierungen, die ein- und dasselbe Argument oder Exemplum prägen und ihm ganz verschiedene Bedeutungsvalenzen verleihen können.74 Drittens geraten bei jener Argumentation qualitative Unterschiede zwischen einzelnen QuerelleTexten aus dem Blick. Unterscheiden lässt sich beispielsweise zwischen primär epigonal-repetitiven Texten und solchen, die neue Markierungen setzen, indem sie das Argumentationsmaterial erweitern, neue Formen oder neue Perspektiven einführen, die ihrerseits auf die weitere Debatte ausstrahlen, wiederum imitiert werden und traditionsstiftend wirken.75 Schließlich wäre zu wünschen, dass die scharfe (und wertende)  Entgegensetzung von »Sozial«- und »Geistesgeschichte«, also eine aktuelle (und teilweise spezifisch deutsche)  Wissen71 Claudia Opitz, Streit der Frauen? Die frühneuzeitliche »Querelle des femmes« aus sozialund frauengeschichtlicher Sicht, in: Historische Mitteilungen 8.1 (1995), S. 15–27. Ähnlich auch Fietze (wie Anm. 5). Zu dem Versuch, in Erweiterung eines Vorschlags von Claudia Opitz das gesamte Querelle-Material in die drei Gruppen »Querelle der Damen des Hofes und der Salons«, »Querelle der Wissenschaftler« und »Querelle des Alltags« zu unterteilen, vgl. Hassauer, Seele (wie Anm. 19). 72 Vgl. z. B. Jordan, Renaissance; Benson, Invention (wie Anm.  34); beide auch zit. in: Bock, Querelle (wie Anm. 48). 73 Vgl. dazu die grundlegende Studie von Dina De Rentiis, Die Zeit der Nachfolge. Zur Inter­ dependenz von imitatio Christi und imitatio auctorum im 12.–16. Jahrhundert, Tübingen 1996 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie, Bd. 273). 74 Vgl. die neuere mentalitäts- und literaturgeschichtliche Exemplaforschung: Claude Bremond u. Jacques Le Goff, L’Exemplum, Turnhout 1982; Peter von Moos, Geschichte der Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im Policraticus des Johannes von Salisbury, Hildesheim 1988; außerdem Nancy C. Struever, The Language of History in the Renaissance, Princeton 1970; Eckhard Kessler, Petrarca und die Geschichte. Geschichtsschreibung, Rhetorik, Philosophie im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München 1978; Wunder, Er ist die Sonn (wie Anm. 5), S. 267. 75 Ian Maclean schlägt für die letzteren Werke die Bezeichnung »seminal works« vor und zählt zu dieser Kategorie z. B. Cornelius Agrippas »Declamatio de nobilitate et praecellentia­ foeminei sexus«: Maclean, Woman (wie Anm. 52), S. 25 f.

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schaftsdebatte, nicht auch in die Geschlechtergeschichtsschreibung eingeführt werden möge (zumal im Sinn von vermeintlich wichtigeren »Unterschicht«Phänomenen und einer vermeintlich »elitären« Querelle-Li­te­ra­tur). Für Frankreich ebenso wie für andere Länder gilt, dass die Querelle keineswegs auf die (weiblichen) »Eliten« beschränkt war; das zeigen etwa die »Bibliothèque bleue« und vor allem die Bilderwelt.76 Allerdings werden Kultur- und Mentalitätengeschichte, die historische Reflexion auf Sprache und geschlechterbezogene Ansätze der neueren Intellectual History eher zu einem fruchtbaren Dialog mit den Sprechern und Sprecherinnen der Querelle führen als eine eng verstandene Sozialgeschichte. Wo sind die historischen Zäsuren der Querelle des Femmes anzusetzen? Dass sie – mit diesem Aperçu wurde der moderne Rekurs auf den Begriff eingeführt  – begonnen habe, als Eva Adam den Apfel reichte, bedeutet eine unzulässige Einebnung der historischen Besonderheit des Phänomens und bedarf also keiner ernsthaften Diskussion.77 Eine andere Bedeutung hat es indessen, wenn es ein Autor des 16. Jahrhunderts ist, der »la querelle de l’homme contre la femme« mit Adam und Eva beginnen lässt.78 Denn mit dem Bezug auf die Genesis – die Erschaffung der beiden Geschlechter und ihr Sündenfall – wird dem damaligen Bewusstsein von dem fundamentalen Charakter des Geschlechterstreits Ausdruck verliehen, außerdem der enormen Bedeutung der Genesis für die Querelle. Sie war ein »foundation text«, und ihre Interpretation war auch damals schon umstritten.79 Wenngleich seit der modernen Reaktualisierung des Querelle-Begriffs die einschlägigen Studien ihren Schwerpunkt auf 76 Vgl. z. B. Maria Di Nardi, La donna nella ›Bibliothèque bleue‹ ovvero le perversioni di un mito, in: Geneviève Bollème (Hg.) La ›Bibliothèque bleue‹ nel seicento o della letteratura per il popolo, Bari 1981, S. 91–110; Arlette Farge (Hg.), Le Miroir des femmes, Paris 1982 (in der von Daniel Roche herausgegebenen Reihe »Bibliothèque bleue«); Olwen Hufton, The Prospect Before Her. A History of Women in Western Europe, Bd. 1: 1500–1800, London 1995, S. 49–51; Wunder, Er ist die Sonn (wie Anm. 5), S. 74. 77 Lefranc, Tiers-Livre (19041, wie Anm. 2), S. 253: »C’est, du reste, une vieille querelle, aussi ancienne que le monde, puisqu’elle commença à l’aurore de l’humanité, au moment où notre première mère tend la pomme à notre premier père, et elle durera sans doute jusqu’à la fin des âges.« Es handelt sich nicht um eine historische Analyse, sondern um einen (Querelle-) Topos. 78 Bouchet, Jugement (wie Anm. 22), S. a verso. 79 Hufton, Prospect (wie Anm. 76), S. 29. Vgl. Elisabeth Gössmann, Die Deutungen von Genesis 1–3 im Mittelalter mit ihren Vorformen in der christlichen Antike und ihren Nach­ wirkungen in der Frühen Neuzeit, in: Engel (wie Anm.  10), S.  38–53; Gerda Lerner, Die Entstehung des feministischen Bewußtseins: Vom Mittelalter bis zur Ersten Frauenbewegung, Frankfurt a. M. 1993, 7. Kap.  (»Eintausend Jahre feministische Bibelkritik«); James­ Grantham Turner, One Flesh: Paradisal Marriage and Sexual Relations in the Age of Milton, Oxford 1987, bes. Kap. 3 (»The State of Eve«: Female Ontogeny and the Politics of Marriage). Zu den damaligen Interpretationen gehörte auch diejenige, die sich noch heute auf Postkarten findet: »Als Gott den Mann erschuf, übte sie nur.« Die Bibel- und insbesondere die Genesis-Auslegung gehörte auch im 19. Jahrhundert zum Repertoire der Kontroverse; ein Beispiel: Jutta Schwarzkopf, Women in the Chartist Movement, New York 1991, bes. Kap. 4.

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die Frühe Neuzeit legten, waren sich ihre Autoren des Beginns der Querelle im Spätmittelalter von Anfang an bewusst.80 Andere lassen sie um einiges später beginnen, so zum Beispiel Carolyn Lougee, Natalie Zemon Davis und Arlette Farge (im 16. Jahrhundert). Joan Kelly hingegen setzt ihren Anfang mit Christine de Pizan, ebenso Gerda Lerner.81 Einen spätmittelalterlichen Beginn konstatieren auch andere neuere Studien; für Constance Jordan ist sie überhaupt ein mittelalterliches Phänomen und die einschlägige Literatur der Hoch- und Spätrenaissance nur »in some respects« ihre Fortsetzung und Erweiterung.82 Eine gewisse, aber nicht zufällige Unklarheit der Datierung stellt die häufig gebrauchte Kategorie der »Renaissance« dar. Denn zum einen wird die Renaissance für die Länder, die hier in Rede stehen, unterschiedlich datiert – am frühesten für Italien, dann für Frankreich  –, zum andern überbrückt sie in der Regel (zum Teil aus guten Gründen) die historiographische Trennung zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit (»Frührenaissance« ist auch »Spätmittelalter«). Drittens ist bis heute umstritten, ob »Renaissance« als Epocheneinteilung überhaupt tauglich ist (denn es gab seit dem Mittelalter viele »Renaissancen«, und »Renaissance« gilt vielen mehr als ein Stil- denn als Epochenbegriff). Schließlich wird »Renaissance« – jedenfalls in der englischsprachigen Forschung – problematischerweise als Epochenbegriff auch für solche Länder benutzt, für die er weniger sinnvoll ist als andere Bezeichnungen.83 Ohne Zweifel muss der Beginn der Querelle des Femmes im Spätmittelalter angesetzt werden, und zwar spätestens im 14., ansatzweise schon im 13. Jahrhundert: Damals entstanden oder verbreiteten sich in Frankreich die misogynen Texte, auf die Christine de Pizan reagierte. In England spielt Geoffrey Chaucer (1340–1400) eine wichtige Rolle (insbesondere mit »The Wife of Bath« in den »Canterbury Tales«),84 und Ansätze gibt es auch in der Iberoromania, wo es im 15. Jahrhundert zu einer gewissen Häufung einschlägiger Texte kommt; zahlreiche Schriften entstehen im Italien des 14. und 15. Jahrhunderts. Vor allem Quellen des 15. Jahrhunderts (Christine de Pizan, Martin Le Franc) weisen 80 Lefranc, Tiers-Livre (19041, wie Anm.  2), S.  251–269 (»avant le XVIe siècle«); Ascoli (wie Anm. 49), S. 99; Telle (wie Anm. 2), Kap. 1 (»La Querelle des femmes au moyen-âge«), Kap. 2 (»La Querelle des femmes dans la 1re moitié du XVIe siècle«); Dow, Attitude (wie Anm. 2). 81 Davis u. Farge, Geschichte (wie Anm. 56), S. 12 f.; Carolyn C. Lougee, Le Paradis des Femmes. Women, Salons and Social Stratification in 17th-Century France, Princeton 1976, S. 3, 174; Kelly (wie Anm. 7); Lerner, Entstehung (wie Anm. 79), S. 176, 278 ff.; Maclean, Woman (wie Anm. 52), S. VIII, 35, 63, 208, 266 f. 82 Jordan, Renaissance (wie Anm. 34), S. 2, 86–94, 100–105, 191. Sie benutzt den Begriff ausschließlich für Frankreich. Das (Spät-)Mittelalter als Beginn auch bei Angenot, Champions und Maclean, Woman (wie Anm. 52), S. 25; Alice A. Jardine, Gynesis. Configurations of Woman and Modernity, Ithaca 1985, S. 93–96 (hier wird der Beginn sogar im 10./11. Jahrhundert an­gesetzt); Solterer (wie Anm. 55); Zimmermann, Streit (wie Anm. 20). 83 So z. B. in Merry E. Wiesner, Working Women in Renaissance Germany, New Brunswick 1986; vgl. dies., Women (wie Anm. 5), S. 15 (»The Renaissance Debate About Women«). 84 Vgl. Wilson u. Makowski, Wykked Wyves (wie Anm. 62).

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immer wieder auf die Bedeutung der Verschriftlichung und der gestiegenen Bedeutung von Schriftlichkeit hin, von schriftlich fixierter »memoria«; auch die neuere Spätmittelalterforschung betont die Bedeutung von Verschriftlichungsprozessen.85 Vor diesem Hintergrund gewinnt der Kampf um die (schriftlich fixierte) Besetzung eines Vorstellungsraums von männlich-weiblichen Geschlechterzuschreibungen, der zugleich eine Einschreibung in die Erinnerung und in die Archive des kulturellen Gedächtnisses ist, eine besondere Bedeutung. Außerdem haben wir es in diesem Zeitraum mit einer gesteigerten Diskursivierung von Weiblichkeit zu tun,86 die sich etwa in Frankreich anhand einer Fülle von Texten mit Gattungsbezeichnungen wie »Louenge/Blastenge/Miroir des Femmes« nachweisen lässt: Texte, deren Entstehungs- und Wirkungszusammenhänge noch weitgehend unerforscht sind.87 Des Weiteren – darauf hat Helen Solterer hingewiesen88  – erlangte im Spätmittelalter der rechtliche Tatbestand der Verbalinjurie eine neue, bislang unbekannte Bedeutung. Auch diese Entwickung hatte Auswirkungen auf die Querelle. Aus der frühesten Phase der Querelle sind uns nur Stimmen von Männern – und zwar misogyne  – überliefert, und auch nach 1500 bleiben sie quantitativ wie in ihrer Wirkungskraft vorherrschend.89 Obwohl sie für unseren Kontext kein geringeres Gewicht haben als diejenigen von Frauen, ist doch ein wesentlicher Faktor das Aufkommen von weiblichen Akteuren in der Debatte, die dadurch eine entschiedene Ausweitung und Zuspitzung erfährt. Das geschieht in Frankreich um 1400 mit der ersten Intervention einer Frau, der franko-italie­ni­ schen Schriftstellerin Christine de Pizan, die vor allem mit drei Schriften, der »Epistre au Dieu d’Amours« (»Der Sendbrief vom Liebesgott«, 1399), dem Corpus ihrer Streitschriften gegen den »Roman de la rose« (1400–1402) und vor al85 Schriftlichkeit und Mündlichkeit im und seit dem Mittelalter wurden neuerdings breit bearbeitet; vgl. etwa Wolfgang Raible (Hg.), Medienwechsel: Erträge aus zwölf Jahren Forschung zum Thema Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1998. 86 Vgl. Jardine (wie Anm. 82); Solterer, Master (wie Anm. 55). 87 Vgl. August Wulff, Die frauenfeindlichen Dichtungen in den romanischen Literaturen des Mittelalters bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Halle 1914; Mario Pagano (Hg.), »Dit des Cornetes«. Poemetto misogino anticofrancese del XIII secolo, Neapel 1982, bes. S.  7–24. Eine nützliche Auswahl von Texten des 12.–15. Jahrhunderts: Alcuin Blamires (Hg.), Woman Defamed and Woman Defended. An Anthology of Medieval Texts, Oxford 1992. Vgl. auch Grundriß der Romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd.  VIII, 1: La littérature française aux XIVe et XVe siècles, Heidelberg 1988, S. 158 f.: »Pour et contre les femmes«. 88 Solterer, Master (wie Anm. 55), S. 12 ff. 89 Eine profunde Darstellung der Problematik, die den Schwerpunkt auf die Männerstimmen legt, ist Anthony Fletcher, Gender, Sex and Subordination in England 1500–1800, New Haven 1995. Fletcher argumentiert, dass zu Beginn des Zeitraums Männer sich von weiblicher Selbstbehauptung bedroht fühlten und dann nach  – literarischen und sozialen  – Mitteln suchten, die Geschlechterhierarchie neu zu stabilisieren. – Zwar gab es auch zur Zeit der frühen Querelle Frauenstimmen, doch werden sie gewöhnlich nicht zur Querelle gezählt; vgl. z. B. Lerner, Entstehung (wie Anm. 79), bes. Kap. 3.

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lem ihrem »Livre de la Cité des Dames« (»Das Buch von der Stadt der Frauen«, 1404/5)90 die eigentliche Querelle, verstanden als streitbarer Dialog der Geschlechter, beginnen lässt. Seit dieser Zeit setzten sich die weiblichen QuerelleAutoren für die Frauen ein, die männlichen teils für, teils gegen sie. Auch in der Iberoromania gibt es im 15. Jahrhundert einzelne Frauenstimmen, und bezeichnenderweise in einem religiös-klösterlichen Zusammenhang. In Italien erheben sich die ersten weiblichen Stimmen um die Mitte des 15. Jahrhunderts (schon früher, wenn auch solche zur Querelle gezählt werden, die sich nicht in direkter Geschlechterpolemik, sondern in religiösem und humanistischem Kontext äußerten) und mit größerem Selbstbewusstsein seit etwa 1600; in England erscheinen sie seit dem späten 16. Jahrhundert.91 Für Deutschland ist – wenn wir Fergusons Klassifizierung benutzen – »räsonierende« Polemik erst später nachzuweisen. Lassen wir uns aber darauf ein, die Reformation (oder doch Teile von ihr) als integralen und spezifisch deutschen beziehungsweise weitgehend deutschsprachigen Bestandteil der Querelle des Femmes ins Auge zu fassen, so gehören dazu sowohl Frauen, die Kloster und Jungfräulichkeit als legitime weibliche Existenzform streitbar verteidigten – Caritas Pirckheimer ist nur eine von vielen –, als auch solche wie Katharina Zell, die das neue, die Frau aufwertende Ideal von Ehe, die Priesterschaft aller Gläubigen und andere Themen (mit-)for­mulierten.92 90 S. oben, Anm. 21. Die wichtigsten Texte zum Rosenromanstreit: Eric Hicks (Hg.), Le Débat sur le Roman de la Rose, Paris 1977. Christine de Pizan, Le Livre de la Cité des Dames, hg. von Maureen Cheney Curnow, 2 Bde., Diss. Vanderbilt University, 1975 (Edition des mittelfranzösischen Originals). Dt. Fassung: Das Buch von der Stadt der Frauen, hg. u. übers. von Margarete Zimmermann, Berlin 1986 u.ö.; München 1990 u.ö. Anschließend schrieb Christine den »Livre du trésor de la Cité des Dames« (oder »Livre des Trois Vertus«), Dt. Übers. von Claudia Probst: Christine de Pizan, Der Schatz der Stadt der Frauen. Weibliche Lebensklugheit in der Welt des Spätmittelalters, hg. von Claudia Opitz, Freiburg 1996. 91 Vgl. Chemello, Weibliche Freiheit (wie Anm. 31); für Spanien: Brandenberger (wie Anm. 63); England: Ferguson (wie Anm. 34), S. 292. Vgl. auch Antonia Arslan u. a. (Hg.), Le Stanze­ Ritrovate. Antologia di Scrittrici Venete dal Quattrocento al Novecento, Mirano 1991;­ Ottavia Niccoli (Hg.), Rinascimento al femminile, Bari 1991; Marylin Migiel u. Juliana Schiesari (Hg.), Refiguring Women. Perspectives on Gender and the Italian Renaissance, Ithaca 1991; Wilson (wie Anm. 53). Anfänglich vorwiegend italienische Texte, inzwischen aber auch viele in anderen Sprachen (seit 1996 über 60) erscheinen in der Reihe »The Other Voice in Early Modern Europe«, hg. von Margaret King u. Albert Rabil (University of Chicago Press, seit 2012 bei der University of Toronto: URL: http://www.othervoiceineme.com/ index.html). 92 Vgl. Claudia Ulbrich, Frauen in der Reformation, in: Nada Boskowska-Leimgruber (Hg.), Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft: Forschungstendenzen und Forschungserträge, Paderborn 1997, S. 163–178; Albrecht Classen, Frauen in der deutschen Reformation: Neufunde von Texten und Autorinnen sowie deren Neubewertung, in: Paul Gerhard Schmidt (Hg.), Die Frau in der Renaissance, Wiesbaden 1994, S. 179–201; Wunder, Er ist die Sonn (wie Anm. 5), bes. Kap. 3; Archiv für Reformationsgeschichte 63 (1972): Themenheft »Frauen und Reformation«; Alice Zimmerli-Witschi, Frauen in der Reformationszeit, Zürich 1981; Silke Halbach, Argula von Grumbach als Verfasserin reformatorischer Flugschriften,

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Und das Ende der Querelle? Maclean lässt sie in ihrer »traditionellen« Form schon um 1630 enden; dann sei sie durch eine neue, moralisch argumentierende und »feministische« Literatur abgelöst worden.93 Lerner setzt ihr Ende einmal um 1700 an, betont dann aber, dass nicht nur die französischen Salons des 17. Jahrhunderts, sondern auch die englischen und deutschen des 18. Jahrhunderts ihr zuzurechnen seien, und nennt dementsprechend ein andermal die Zeit um 1800 als ihr Ende – nicht ohne Hinweis auf Kontinuitäten zum 19. Jahrhundert, insbesondere bezüglich der Debatte um weibliche Bildung und die Weiterführung der Tradition von Verzeichnissen bedeutender Frauen, die nun in modernen Formen stattfand.94 Vielfach ist die Rede von einer erneuerten Querelle um 1800.95 Oft aber wird ihr Abschluss auf die Französische Revolution datiert, so zum Beispiel von Joan Kelly, und die Historikerin Geneviève Fraisse argumentiert: »Der Geschlechterkonflikt, der sich zunächst als zeitlos, um nicht zu sagen ewig gibt, hat jedoch eine lange Geschichte. Als ›Streit‹ (querelle) bezeichnet man seit dem ausgehenden Mittelalter das Hin und Her der einander widersprechenden Diskurse über die Vortrefflichkeit des Mannes im Vergleich zur Frau und umgekehrt. Ein endloses Wortgefecht mit ebenso fruchtbaren wie armseligen, ebenso treffenden wie dummen Argumenten […]. Dieser Streit hört mit der Revolution auf; nicht der Geschlechterkonflikt hört auf, sondern eine seiner Ausdrucksformen. So wird der Streit nun vor Gericht gebracht; er wird mit der Eröffnung einer öffentlichen politischen Diskussion an anderer Stelle ausgetragen.«96 Geneviève Fraisse trifft hier zwei wichtige Unterscheidungen: zum einen zwischen einem historisch datierbaren und begrenzten Phänomen, das einer ferneren Vergangenheit zugeschrieben wird, und einem die gesamte Geschichte – oder doch die Neuzeit – durchziehenden Geschlechterkonflikt; zum anderen zwischen einer älteren vorpolitischen und einer neueren, politischen beziehungsweise politisierten Auseinandersetzung. Wenn sie sich dagegen wenFrankfurt a. M. 1992; Roland H. Bainton, Women of the Reformation in German and Italy, Minneapolis 1971; ders., Women of the Reformation in France and England, Minneapolis 1973; ders., Women of the Reformation from Spain to Scandinavia, Minneapolis 1977; Sherrin Marshall (Hg.), Women in Reformation and Counter-Reformation Europe, Bloomington 1989; Lyndal Roper, Sexualutopien in der deutsche Reformation, in: dies., Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 78–108. 93 Maclean, Woman (wie Anm. 52), S. VIII, 25, 35, 63, 208, 266 f. 94 Lerner, Entstehung (wie Anm. 79), S. 176, 179 f., 235, 278 ff., 303 ff., 311 ff., 317. Zur Debatte um weibliche Bildung vgl. jetzt Juliane Jacobi, Mädchen- und Frauenbildung in Europa. Von 1500 bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2013; zu Historikerinnen: Bonnie G. Smith, The Contribution of Women to Modern Historiography in Great Britain, France, and the U ­ nited States, 1750–1940, in: AHR 89 (1984), S.  709–731; Natalie Z. Davis, Gender and Genre:­ Women as Historical Writers, 1400–1820, in: Patricia H. Labalme (Hg.), Beyond Their Sex.­ Learned Women in the European Past, New York 1984, S. 153–182. 95 Honegger (wie Anm. 5); Albistur u. Armogathe (wie Anm. 27), Bd. 1, S. 266–272. 96 Fraisse, Bruch (wie Anm. 56), S. 93 f.; vgl. auch Geneviève Fraisse, La Raison des femmes, Paris 1992, bes. Teil I, Kap. 1.

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det, die Querelle ihrer Geschichtlichkeit zu entziehen, so wirft sie damit auch die Frage des »Politischen« in der Geschlechtergeschichte auf. Ohne Zweifel ist hierin die Französische Revolution eine epochale Zäsur, und nicht nur für Frankreich. Gleichwohl sollten einige weitere Gesichtspunkte beachtet werden. Zum einen dürfen hier wie andernorts – zumal in der Geschlechtergeschichte – die Grenzen zwischen Epochen, zwischen historischer Kontinuität und Diskontinuität, nicht messerscharf gezogen werden. Zweitens war in der alten Querelle, wie zu sehen war, die Dimension des Politischen durchaus präsent; umgekehrt haben die Forschungen zur Entstehung der Frauenbewegung im 19. Jahrhundert deutlich gezeigt, dass auf lange Zeit bei ihr nicht das (im gängigen Sinn) Politische im Vordergrund stand, sondern das Soziale, und dass sie gerade in diesem Sinn eine genuin soziale Bewegung war.97 Schließlich ist zu bedenken, dass die Französische Revolution nicht nur einen älteren Streit abschloss, sondern den Streit um die »Frauenfrage« des 19. Jahrhunderts, die erneuerte Frage »Qu’est-ce qu’une femme«, geradezu eröffnete.98 In diesem Sinn, aber auch im Sinn eines polemischen Streits, bezeichnet Claire Moses die dramatische und öffentliche Auseinandersetzung der 1850er und 1860er Jahre zwischen Juliette Lambert-Adam und Jenny d’Héricourt einerseits und Jules Michelet und PierreJoseph Proudhon andererseits  – es ging um eine neue Variante von Misogynie versus Antimisogynie beziehungsweise Philogynie  – als die Querelle des ­Femmes des Zweiten Kaiserreichs.99 Zuweilen wird der Begriff auch für die klassische Frauenbewegung gebraucht.100 Andere wiederum sehen, in einem umfassenderen Verständnis, die heutigen Geschlechterkontroversen als eine neue Querelle des Femmes.101 Die Frage der Periodisierung der Querelle lässt sich mithin nicht trennen von der Frage ihrer Definition: Bestimmen wir sie nach den Epochen des weiteren gesellschaftlichen und politischen Kontextes, in dem sie sich abspielte, oder nach ihren Inhalten und deren Kontinuität oder Wandel, oder aber 97 Dazu bes. Jane Rendall, The Origins of Feminism, 1780–1860. Women in Britain, France and the United States, Basingstoke 1985. 98 Elisabeth Badinter (Hg.), Qu’est-ce qu’une femme?, Paris 1989. Vgl. dies. (Hg.), Paroles d’hommes, Paris 1989. 99 Claire Moses, French Feminism in the 19th Century, Albany 1984, Kap. 7 (»La Querelle des femmes of the Second Empire«). 100 Z. B. Paula Hays Harper, Votes for Women? A Graphic Episode in the Battle of the Sexes, in: Henry A. Millon u. Linda Nochlin (Hg.), Art and Architecture in the Service of Politics, Cambridge, MA 1978, S. 150–161. 101 So etwa Hassauer, Seele (wie Anm.  19), S.  225; Mineke Bosch, Feminismus als historischer Begriff, in: Bock, »Querelle du féminisme« (wie Anm. 48), S. 366; Bock, Frauen (wie Anm.  63), sieht diverse Konjunkturen von Geschlechterkontroversen bis heute (S.  315, 348 ff.). Die Literaturwissenschaftlerin Alice A. Jardine beansprucht die Tradition der historischen Querelle für den modernen Feminismus und konstatiert »a new kind of querelle des femmes: a strangely new and urgent emphasis on ›woman‹, a willing blindness to the endoxes of its history and contemporary contexts; the uses of woman as part of a strategy of radical reading and writing« (wie Anm. 82, S. 102).

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nach ihrer literarischen Form? Das letztere Kriterium führt zu der Frage nach einer Bestimmung des Querelle-Corpus, die mit nicht unerheblichen Schwierig­ keiten aufwartet und uns wieder in die fernere Vergangenheit zurückführt. Gibt es eine Gattung Querelle-Text (oder Querelle-Abbildung)? Lässt sich ein Merkmalskatalog aufstellen, mit dessen Hilfe wir einigermaßen eindeutig bestimmen können, ob es sich um einen Text, um ein Bild aus diesem Zusammenhang handelt? Auf der einen Seite sollte nicht jeder – in welchem Medium auch immer sich manifestierende  – Diskurs über Weiblichkeit bereits als ein­ Querelle-Text oder eine entsprechende Abbildung gelten, denn zur Bestimmung der Zugehörigkeit bedarf es bestimmter Signale im Text oder Bild sowie eines unverkennbaren Querelle-Kontextes. Auf der anderen Seite gilt auch hier, wie in vielen anderen Fragen historischer Einordnung: Grenzen können fließend sein, und Unterscheidung muss nicht Trennung heißen. Das entscheidende Kriterium ist ohne Zweifel das Merkmal von Streit, Polemik, Kontroverse, Debatte, sprachlicher Aktion und Reaktion. Der Streit-Charakter ist auf unterschiedlichen Ebenen manifest. Die Gesamt-Querelle wird wesentlich konstituiert durch die zahlreichen einzelnen Querelles, angefangen von Christine de Pizans Reaktion auf den »Roman de la Rose« über die Reaktionen auf Agrippa von Nettesheims Schrift (verfasst 1509) bis zu – in Deutschland  – den zahlreichen Reaktionen auf die anonyme »Disputatio nova« von 1595, in Italien die Reaktion auf Giuseppe Passi (1599) und die Übersetzung der »Disputatio« ins Italienische (1647), in England die Serie von »pamphlet wars« der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts oder die aufeinander reagierenden Schriften »Woman not Inferior to Man« (1739), »Man Superior to Woman« (1740) und »Woman’s Superior Excellence over Man« (1740). Auch Mary Wollstonecraft schrieb im Kontext dieser Streitkultur, wenngleich sie nun auch von der neuen Sprache der Französischen (und Amerikanischen) Revolution geprägt war: In ihrer »Vindication of the Rights of Woman« (1792) griff sie Jean Jacques R ­ ousseau, den sie im Übrigen sehr verehrte, wegen seiner Äußerungen über Frauen heftig an. Zudem war jenes Werk ein Pendant zu ihrer »Vindication of the Rights of Men« (1790), mit der sie – noch bevor Thomas Paine seine Schrift mit ähnlichem Titel publiziert hatte – auf Edmund Burkes Kritik an der Französischen Revolution reagierte.102 In diesem Sinn von Streit nutzt Moira Ferguson den Begriff »Polemik« als analytische Kategorie. Der Streit kann in offener oder  – wie Sara Matthews Grieco an Georgette de Montenay, die sich von der Emblemtradition distanzierte, demonstriert – in subtiler Polemik geführt werden. Der Streit kann auch innerhalb eines Texts geführt werden: daher die hohe Bedeutung der Dialog102 Erstmals 1995 wurden beide Schriften zusammen veröffentlicht: Mary Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Men, with A Vindication of the Rights of Woman and Hints, hg. von Sylvana Tomaselli, Cambridge 1995. Auch Olympe de Gouges wurde aus der Perspektive der voraufgegangenen Querelle des Femmes betrachtet: Harvey, Voices (wie Anm. 34), S. 2, 13, 116, 163, 213–234.

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Form für die Querelle.103 Oft werden Streit und Polemik in der Form von Ironie, Parodie, Paradox oder Sarkasmus artikuliert: Formen, die auch andere Literaturgattungen der Zeit, etwa die Geschichtsschreibung, geprägt haben.104 Bedacht werden muss auch – und mehr als bisher der Fall war –, dass das Verhältnis von Aktion und Reaktion, Angriff und Verteidigung, von Postulat und der Antwort darauf, sehr komplex sein kann: Alle Aktion, in den angedeuteten wie in so gut wie allen anderen Fällen, ist immer auch schon Reaktion. So setzte Giuseppe Passi nicht nur eine neue Etappe der italienischen Querelle in Gang, sondern reagierte selbst auf zahlreiche frühere Schriften. Agrippa von Nettesheim, dessen rasch und weithin berühmt werdende Schrift so entscheidend für die Entfaltung der Querelle war, dass Maclean sie zu Recht zu ihren »seminal works« zählt, die zahlreiche spätere Autoren inspirierte und dementsprechend ausgeschrieben wurde, reagierte nicht nur seinerseits auf frühere QuerelleSchriften (vor allem italienische und lateinische). Vielmehr »plagiierte« er selbst (der oft verwendete Begriff »Plagiat« ist für jene Zeiten allerdings ungeeignet, da anachronistisch). Gerade eine Passage, in der er die untergeordnete soziale Lage der Frauen benennt, »männliche Tyrannei« denunziert und ihr die »natürliche« weibliche »Freiheit« entgegensetzt – sie wurde gelegentlich als erster nachweisbarer Aufruf zu sozialem Wandel, nämlich durch Frauenbildung, gelesen –, hat er von Mario Equicolas »De mulieribus« (um 1501) übernommen.105 Unterscheiden lassen sich »primäre« und »sekundäre« Querelle-Texte beziehungsweise -Abbildungen. Als primär können all jene Äußerungen auf der Text- oder Bild-Ebene verstanden werden, deren Titel, vorrangige Aussage­ intention und Rezipientengruppe unmittelbar auf die Querelle verweisen. Primäre Querelle-Texte rekurrieren meist auf die Gattungen Brief, Traktat, Dialog, Streitschrift und sind zugleich oft, zumindest in einigen ihrer Teile, Enzyklopädien, Exemplasammlungen und (Frauen- und Männer-)Kataloge. Wir haben es hier mit Texten und/oder Abbildungen von hohem Verweis- oder Intertextualitätscharakter zu tun. Die Analyse der (oft sehr langsamen) Bewegungen und Umschichtungen innerhalb des Kanons der zitierten oder ausgeschriebenen Autoritäten vermittelt wichtige Aufschlüsse über Entwicklungen innerhalb der Querelle, die gerade in dieser Hinsicht alles andere als statisch ist. Als se103 Vgl. Chemello, Weibliche Freiheit (wie Anm.  31); Ferguson, Feministische Polemik (wie Anm.  34); Matthews Grieco (wie Anm.  57). Zu nennen ist hier z. B. auch: Erasmus von Rotter­dam, Colloquia familiaria [1526]. Vertraute Gespräche, Stuttgart 1976, S. 3–17: »Abbatis et Eruditae. Der Abt und die gelehrte Frau« (in der oben, Anm. 41 genannten Ausgabe: Bd. 6, S. 252–265). 104 Ian Maclean, Parody, Pastiche and the Self-Consciousness of Women in France, 1600– 1660. Unpubl. Beitrag zu der oben, in Anm. 1 genannten Tagung. Zu Ironie und Sarkasmus in der damaligen Historiographie vgl. Struever, Language (wie Anm. 74); Gisela Bock, Machiavelli als Geschichtsschreiber, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 66 (1986), S. 153–191. 105 Fahy (wie Anm. 12), S. 38 f.; Maclean, Renaissance (wie Anm. 13), S. 80; Agrippa, hg. von Jungmayr (wie Anm. 11), S. 93. Zum Konzept von »seminal works« s. oben, Anm. 75.

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kundäre Querelle-Texte lassen sich solche Texte oder Abbildungen bezeichnen, welche die Bezüge auf die Querelle in andere, übergeordnete Zusammenhänge integrieren, in denen die Querelle jedoch nicht den Haupt-, sondern einen Nebenschauplatz bildet. Ungeachtet ihrer großen Bedeutung als literarische »Klassiker« können beispielsweise Baldassar Castigliones »Il cortegiano« (1528) und Ludovico Ariostos »Orlando Furioso« (1532) den sekundären Querelle-Texten zugerechnet werden.106 Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Unterscheidung zwischen pri­ mären und sekundären Querelle-Texten nicht auf eine hierarchisierende Bewertung der jeweiligen historischen Aussagekraft, Bedeutung oder Verbreitung zielt, sondern auf die Frage der expliziten Zentralität oder eher impliziten und partiellen Aufnahme der Geschlechterkontroverse. Aus der Distanz mehrerer Jahrhunderte ist die Unterscheidung nicht immer einfach zu treffen. Überdies kann sie je nach Kontext zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, beispielsweise je nachdem, ob sie sich auf die Entstehungs- oder auf die Wirkungsgeschichte eines Textes bezieht. So ist es wahrscheinlich, dass die anonyme »Disputatio nova« von 1595 nicht primär in bezug auf die Geschlechterkontroverse geschrieben wurde, sondern für einen übergeordneten religiösen Zweck, nämlich um die Wiedertäufer zu widerlegen; wirkungsgeschichtlich indessen wurde sie eindeutig zu einer primären Querelle-Schrift.107 Die Unterscheidung ist also nicht eine Aufforderung zu schematischer und eiliger Klassifizierung; vielmehr erfordert sie, soll sie präzise und nützlich sein, die Freilegung verwischter Spuren und die geduldige Rekonstruktion historischer Diskussionszusammenhänge, die heute nicht mehr ohne Weiteres zu erkennen sind. Imitatio, die Nachahmung als vorbildlich erachteter Texte durch Ab- und Ausschreiben, gewiss ein Merkmal vieler, wenn auch bei weitem nicht aller­ Querelle-Texte, wurde früher vielfach am Standard literarischer Originalität gemessen, dementsprechend beklagt und als Indikator für ihre geringe Bedeutung genommen. Doch gerade dieses Verfahren, die ständige Bezugnahme auf laufende Debatten und mehr oder weniger bekannte andere Texte  – allgemeiner gesagt: die eindrucksvolle Intertextualität der Querelle-Literatur – zeigt deren wirkliche historische Bedeutung. Nicht nur die Literatur-, sondern auch die Sozial- und Mentalitätsgeschichte haben es vielfach mit topoigeladenen, oft wenig »originellen«, oft geradezu repetitiv-seriellen Dokumenten zu tun, die überdies  – zumal bei einem populären Publikum, das nicht nur las, sondern sich auch vorlesen ließ und die Bilderwelt der Querelle auf seine Weise aufnahm – breiter rezipiert wurden als andere. Der Streit-Charakter, die Intertextualität 106 Vgl. Benson, Invention (wie Anm. 34), Chemello, Weibliche Freiheit (wie Anm. 31) und Stephen D. Kolsky, Women Through Men’s Eyes: The Third Book of Il Cortegiano, in: Tom O’Neill (Hg.), The Shared Horizon. Melbourne Essays in Italian Language and Literature in Memory of Colin McCornick, Dublin 1990, S. 41–91. 107 Vgl. Fleischer, Are Women Human (wie Anm. 13), Maclean, Renaissance (wie Anm. 13), S. 12 f., und Drexl (wie Anm. 13).

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der Querelle-Dokumente und die Unterscheidung zwischen »primären« und »sekundären« Texten verweisen darauf, dass die Geschlechterdebatte nicht auf eine einzelne, streng umrissene Gattung und Thematik beschränkt blieb, sondern sich gleichsam entgrenzte, in vielen Formen zum Ausdruck kommen und  – entsprechend der kulturellen Omnipräsenz der Geschlechterbeziehungen – auf viele andere Themen übergreifen konnte. Die Intertextualität und Verbreitung der Querelle sollten deshalb als Ausdruck einer europaweiten kulturellen Zirkulation und Kommunikation über die Geschlechterfrage gelesen und somit als bedeutsames Phänomen der Geschlechtergeschichte ebenso wie der Sozial-, Mentalitäts-, Ideen- und Kulturgeschichte verstanden werden.

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Begriffsgeschichten: »Frauenemanzipation« im Kontext der Emanzipationsbewegungen des 19. Jahrhunderts✳

Das lange 19. Jahrhundert lässt sich, ungeachtet mancher gegenläufiger Entwicklungen, geradezu als »Jahrhundert der Emanzipation« bezeichnen1, und das Studium dieses Phänomens führt schnell über nationale Entwicklungen hinaus zu transnationalen und globalen. Bekannt, wenn auch nach wie vor Gegenstand von Forschung, Debatte und Bewertung, sind vor allem die Emanzipation der Juden in Frankreich, England und Deutschland, diejenige der Sklaven unter der Herrschaft der europäischen Kolonialmächte sowie in den Staaten Nord-und Südamerikas sowie diejenige des »dritten« und dann des »vierten« Standes in der westlichen Welt. Für Großbritannien besonders bedeutsam war die emancipation der Dissenters von 1828 und der Katholiken bzw. Iren von 1829, und für große Teile Europas – darunter zu Anfang des 19. Jahrhunderts viele der deutschen Länder und gegen Ende des Jahrhunderts Russland – stand die Emanzipation der leibeigenen Landbevölkerung auf der Tagesordnung. Viele dieser Emanzipationen waren ambivalent, blieben im 19.  und frühen 20. Jahrhundert unabgeschlossen und betrafen oft nur die Männer jener Gruppen. Doch bekanntlich sah derselbe Zeitraum auch den Prozess der »Frauenemanzipation«, und auch dieser blieb umstritten, gebrochen und unvollkommen; so wurde eines seiner großen Ziele, die Gleichberechtigung nicht nur in Politik und Öffentlichkeit, sondern auch im Privaten, in Ehe und Familie, in vielen Ländern Europas erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg gesetzlich verankert (wenn auch nicht immer verwirklicht).2 Für all diese Emanzipationsbewegungen gilt, dass sie nicht als lineare Ketten von Daten und Ereignissen, sondern als Prozesse gesehen werden müssen, die vielfältige Wendungen nahmen und sich über Generationen hinzogen, und

✳ Der

folgende Text entstand aus meiner Abschiedsvorlesung (2007) im Rahmen der Vorlesung über »›Emanzipation‹ und Emanzipationsbewegungen in Europa im langen 19. Jahrhundert«. Anita Märtens sei gedankt für ihre Unterstützung. 1 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1297; vgl. ders., Sklaverei und die Zivilisation des Westens, München 2000, bes. S. 52, 62 ff.; ähnlich Seymour Drescher, The Mighty Experiment. Free Labor versus Slavery in British Emancipation, Oxford u. a. 2002, S. 3. 2 Zu den verschiedenen Etappen vgl. Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, 2. durchges. Aufl., München 2005, hier bes. Kap. IV–VI.

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mehrfach gab es auch spätere Rückentwicklungen: überdeutlich etwa im Fall der neuen Formen von Zwangsarbeit, die nach der Abschaffung der Sklaverei in europäischen Kolonien eingeführt wurden (»sklavereiähnlich« wurden sie in der Konvention des Völkerbunds von 1926 genannt), und im Fall der Juden mit dem post-emanzipatorischen Antisemitismus.3 Ebenfalls für alle gilt, dass die – zeitgenössische wie heutige – Sprache der Emanzipation von besonderem Interesse ist. Der historische Gebrauch des Terminus »Emanzipation« etwa ist dort, wo er heute oft erwartet oder benutzt wird, keineswegs selbstverständlich: So hieß die Abschaffung der Sklaverei im zeitgenössischen Englisch und Französisch in der Regel abolition, die entsprechende Bewegung abolitionism oder antislavery, und eher weniger sprach man, vor allem im Französischen, von émancipation.4 In begriffsgeschichtlicher Hinsicht war es vor allem Reinhart Koselleck, der die Sprache der Emanzipation zu Beginn der 1970er Jahren untersucht hat und 1988 noch einmal auf sie zurückgekommen ist. Sein großer Beitrag zur Begriffsgeschichte von »Emanzipation« in den von ihm mitherausgegebenen »Geschichtlichen Grundbegriffen« nimmt all jene Emanzipationen in den Blick und soll im Folgenden als Ausgangspunkt auch für die »Frauenemanzipation« dienen.5 Nach einem Resümee einiger Ergebnisse seiner Analyse betrifft der zweite Teil das »Zeitalter der Revolutionen« vom späten 18. bis

3 Vgl. Reinhard Rürup (mit Thomas Nipperdey), Antisemitismus, in: GGr, Bd. 1, S. 129–153; Frederick Cooper, Conditions Analogous to Slavery: Imperialism and Free Labor Ideology in Africa, in: ders., Thomas C. Holt u. Rebecca J. Scott (Hg.), Beyond Slavery. Explorations of Race, Labor, and Citizenship in Postemancipation Societies, Chapel Hill, NC 2000, S. 107–149. Seymour Drescher sieht Nationalsozialismus und Stalinismus als Reversionen der Sklavenemanzipation (Abolition. A History of Slavery and Antislavery, Cambridge 2009, 14. Kap.); Rürup sieht Ähnliches für die Juden in den ersten Jahren des NS-Regimes: Das Ende der Emanzipation: Die antijüdische Politik in Deutschland von der »Machtergreifung« bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Arnold Paucker (Hg.), Juden im nationalsozialistischen Deutschand/Jews in Nazi Germany, Tübingen 1986, S. 97–114. Vgl. auch Jürgen Osterhammel, Aufstieg und Fall der neuzeitlichen Sklaverei. Oder: Was ist ein weltgeschichtliches Problem?, in: ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats, Göttingen 2001, S. ­342–369, hier S. 363 ff. 4 Vgl. die Quellenedition La Révolution française et l’abolition de l’esclavage, 12 Bde., Paris 1968; Marcel Dorigny (Hg.), Les abolitions de l’esclavage de L. F. Sonthonax à V. Schoelcher, 1793/1794/1848. Actes du colloque international tenu à l’Université Paris VIII, les 3, 4 et 5 février 1994, Paris 1998. Das als Emancipation Act bekannte britische Gesetz von 1833 hieß Act for the Abolition of Slavery; vgl. bes. Drescher, Mighty Experiment; ders., Abolition. 5 Reinhart Koselleck u. Karl Martin Grass (Mitarbeiter bei der Lexikon-Redaktion), Art. »Emanzipation«, in: GGr, Bd. 2, S. 153–197 (hier zit. als »Koselleck«); im Folgenden werden Seitenverweise auf diesen Artikel im Text genannt. Vgl. auch Reinhart ­Koselleck, Grenzverschiebungen der Emanzipation. Eine begriffsgeschichtliche Skizze [1988], jetzt in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, hg. v. Carsten Dutt, S.  182–203; hier wird Frauenemanzipation nicht mehr behandelt.

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zur Mitte des 19. Jahrhunderts (teilweise identisch mit Kosellecks »Sattelzeit«)6 sowie einige weitere begriffsgeschichtliche Elemente, die in dem Lexikonbeitrag, der allerdings vor rund 40 Jahren geschrieben worden ist, nicht thematisiert werden. Der dritte Teil behandelt begriffs- und sozialgeschichtliche Transformationen dessen, was man in der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts unter »Frauenemanzipation« verstanden hat. Zum Abschluss geht es, in drei Abschnitten, um Beziehungen zwischen Frauenemanzipation einerseits und der Emanzipation von Sklaven, Juden und Arbeitern andererseits. Mit diesen Abschnitten möchte ich wenigstens andeuten  – umfassende Ausführungen sind hier nicht möglich  –, dass die diversen Emanzipationsbewegungen nicht nur, wie meist üblich, separat behandelt werden sollten.

1. Begriffsgeschichte I Reinhart Kosellecks Analyse des Begriffs »Emanzipation« gehört heutzutage zum Pflichtpensum von Historikern. In der Antike hatte er »Freilassung« bedeutet (e manu capere), nämlich des Sohnes vom Vater, im Sinn von Mündigwerdung bzw. Großjährigkeit, und in seinem modernen Sinn kam er in der Frühen Neuzeit auf: modern insofern, als man begann, ihn reflexiv zu gebrauchen – also im Sinn von »sich befreien«, von »Selbstbefreiung« oder gar »Selbstermächtigung«. So etwa bei Montaigne: »nous nous sommes émancipéz de ses regles [de la nature]«, und Ähnliches gilt für die englische Sprache; bei Herder schließlich, für den »der Mensch schlechthin« als »emanzipabel« galt, war er damit »geschichtlich zur Freiheit verurteilt« (zit. S. 158, 162). Parallel dazu kam eine dezidiert pejorative Bedeutung auf: als »Freiheit zur Frechheit«, als ungebührliche Grenzüberschreitung und strafwürdiges Durchbrechen gesellschaftlicher Schranken (zit. S.  158). Um 1800 wurde der Begriff politisiert, galt als »Emanzipation vom blinden Gehorsam« (Georg Forster, zit. S. 164) und wurde verzeitlicht insofern, als er nicht mehr nur einen punktuellen und juristischen Akt der Mündigmachung bezeichnete, sondern einen Prozess der Befreiung von Herrschaft. Er wurde, so Koselleck, »zum authentischen Fall eines geschichtsphilosophischen Prozessbegriffs«, dann zu einem Leitbegriff und Zielbegriff und schließlich zu einem Schlagwort oder auch Kampfbegriff; so etwa bei Heinrich Heine in »Reisebilder« (1828): »Was ist […] diese große Aufgabe unserer Zeit? Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig ge-

6 Der Begriff ist gängig seit Robert R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution: A Political History of Europe and America, 1760–1800, Princeton 1959, und Eric Hobsbawm, The Age of Revolution: Europe 1789–1848, London 1962.

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worden ist und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Bevorrechteten« (zit. S. 167). Um diese Zeit tauchten unter den Kandidaten für »Emanzipation« erstmals auch »die Weiber« auf, und Mitte der 1830er Jahre scheint dies schon häufig der Fall gewesen zu sein.7 In dem großen Lexikon von Ersch/Gruber (1840) definierte ein umfassender Grundsatzartikel die »Emanzipation« ökonomisch, politisch sowie sittlich und überdies als »Mittelpunkt aller Staatsfragen der Gegenwart oder unserer Zeit«. Denn »die Emancipationsfragen unserer Zeit verstehen [ist] nichts Geringeres […], als unsere Zeit selbst begreifen«, und es gehe dabei – im politischen Sinn – um »ganze Volksclassen […] z. B. Bauern, Bürger, Weiber, Juden, Katholiken usw.«8 Nach der Jahrhundertmitte verblasste dann der Begriff und wurde großenteils durch andere Worte abgelöst (auf Seiten der Linken waren es Sozialismus, Kommunismus oder Revolution). In Bezug auf Juden  – von ihrer »Emanzipation« war im Deutschen erstmals 1817 die Rede (anfangs in negativem Sinne) – verbreitete sich der Begriff erst in den 1830er Jahren und wurde dann weithin gängig.9 Doch immerhin hatte Gabriel Riesser, Streiter für die Judenemanzipation, noch im Jahr 1831 betont: »Ich habe mich seltener des Ausdrucks ›Emancipation‹ als des Deutschen aller Welt verständlichen ›bürgerliche Gleichstellung‹ bedient; besonders darum, weil ich glaube, daß es Zeit ist, Dinge, die in Deutschland immer mehr heimisch werden, mit deutschen Namen zu bezeichnen« (zit. S. 180). All diese Elemente der allgemeinen Begriffsgeschichte sind auch für »die Weiber« wichtig, und die Stimmen zu »Frauenemanzipation« werden bei Koselleck im III. Abschnitt (»Gruppen- und schichtenspezifische Anwendungsgebiete seit dem 18. Jahrhundert«) und hier an dritter Stelle behandelt: nach den Katholiken und Juden und vor den Arbeitern und Sklaven. Drei Aspekte der Analyse möchte ich hervorheben. Erstens sind die meisten der herangezogenen Autoren männlich. Ihre Reihe beginnt (S.  185) mit dem Frauenfreund Theodor Gottlieb von Hippel mit seinen engagierten und provozierenden, pathe­ tischen und subtilen, scharfsinnigen und ironischen Werken, in denen er weibliche Freiheit, Menschenrechte und Bürgerschaft fordert, insbesondere in »Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber« (1792), aber auch in der mehrfach

7 Deutlich erkennbar in Karl Rosenkranz, »Die Emanzipation des Weibes aus dem Standpunkte der Psychologie betrachtet«, in: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 64, 5. März 1837, S. 257–259. 8 Koselleck (Anm. 5), S. 170; Karl Hermann Scheidler, Art. »Emancipation«, in: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, hg. v. J. S. Ersch u. J. G. Gruber, Erste Section, Bd.  34, Leipzig 1840 (ND Graz 1971), S.  2–12 (Zitate S.  3 f.); Wiederabdruck in: Martin Greiffen­hagen (Hg.), Emanzipation, Hamburg 1973, S. 48–74; hier spielt Frauenemanzipation ansonsten keinerlei Rolle. 9 Vgl. Reinhard Rürup, Emanzipation – Anmerkungen zur Begriffsgeschichte, in: ders., Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, S. 126–132.

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revidierten Schrift »Über die Ehe«; doch zu Recht zeigt Koselleck, dass – anders als oft angenommen wird – der Begriff »Emanzipation« hier keine signifikante Rolle spielt; rein begriffsgeschichtlich (im Unterschied zu ideengeschichtlich) zu Unrecht gilt Hippel heutzutage in Tausenden von publizierten Seiten als Erfinder oder doch Vertreter »der Frauenemanzipation« in Deutschland.10 Auch John Stuart Mill wird mit seinem in viele Sprachen übersetzten Werk »The Subjection of Women« (1869) herangezogen (S. 189), doch wird »emancipation« hier nur einmal in Bezug auf Frauen benutzt. Berühmt ist Karl Marx’ Formulierung »Der Grad der weiblichen Emanzipation ist das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation«; allerdings ist das – anders als meist angenommen  – kein übersetzendes Zitat von Charles Fourier (1808), der nicht von »Emanzipation« gesprochen hatte, sondern eine stark variierende Paraphrase.11 Die Männerstimmen führen bis zu der Debatte zwischen frauenfreundlichen und frauen­feindlichen Lexikonschreibern im mittleren Drittel des Jahrhunderts, und zum Abschluss erhält der Historiker Heinrich von Sybel das Wort: 1870 spricht er sich, im Rahmen »lebhafter Verhandlungen« über »die Emanzipation der Frauen«, zwar für deren verbesserten Zugang zu Bildung und Berufen aus, aber noch dezidierter gegen ihre politischen und bürgerlichen Rechte und zugunsten der ehelichen Herrschaft des Mannes (zit. S. 189). Doch auch drei Frauen zieht Koselleck als Belege heran: Mary Wollstonecrafts Schrift »A Vindication of the Rights of Woman« von 1792, ein Plädoyer für Bildung als Recht und Pflicht von Frauen, in dem »emancipation« allerdings nur ein einziges Mal vorkommt: »I speak of the improvement and emancipation of the whole sex.« Ein Jahr später übersetzte das der Vertreter ebenso wie Kriti-

10 Der Unterschied zwischen Begriffs- und Ideengeschichte zeigt sich hier darin, dass in Hippels Buch »Emanzipation« nur ein einziges Mal auftaucht und zwar ganz im altväterlichen Sinne der Entlassung aus der Vormundschaft, während es bei Google für »Hippel Frauenemanzipation« knapp 800.000 Ergebnisse gibt (Okt. 2012). Vgl. Theodor Gottlieb von Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber, Berlin 1792, Ausgabe von 1828: S. 118 (faks. ND Vaduz 1981, hg. u. eingel. v. Juliane Jacobi-Dittrich). 11 Zit. Koselleck (wie Anm. 5), S. 186. Öfters wurden die Unterschiede zwischen Marx’ Paraphrase und Fouriers Original (das Marx als »Phantasie« bezeichnet) herausgearbeitet; vgl. Karl Marx, Die heilige Familie, Kap. VIII. 6 (»Enthüllung des Geheimnisses der Emanzipation der Weiber oder Louise Morel«) mit Fourier: »Les progrès sociaux s’opèrent en ­raison du progrès des femmes vers la liberté, et les décadences d’ordre social s’opèrent en raison du décroissement de la liberté des femmes. L’extension des privilèges des femmes est le principe général de tous progrès sociaux« (Théorie des quatre mouvements et des destinées générales, 1808, I, 132 f.), auf Deutsch: »Die Erweiterung der Privilegien der Frauen ist die allgemeine Grundlage allen sozialen Fortschritts« (Charles Fourier, Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, hg. v. Theodor Adorno, Einl. v. Elisabeth Lenk, Übers. v. Gertrud von Holzhausen, Frankfurt a. M. 1966, S. 190); ebd., S. 192 spricht Fourier von den »Emanzipierten« (»émancipées«) im selben Sinn wie Hippel (s. vorige Anm.), nämlich »Großjährigkeit« (mit 18 Jahren). Vgl. auch Jonathan Beecher, Charles Fourier: the visionary and his world, Berkeley, CA u. a. 1986, S. 207 f., 304, 326 f.

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ker der Aufklärung Georg Friedrich Christian Weißenborn mit »Veredlung und Entfesselung des Geschlechts im Ganzen« – offensichtlich wurde um diese Zeit, als auch Hippels Buch erschien, der Terminus noch höchst selten für Frauen benutzt, und er kommt auch nicht in Weißenborns eigener Schrift »Über die bisherige Zurücksetzung des weiblichen Geschlechts« vor, in der er für dessen »Veredlung und Befreyung« plädierte.12 Es folgt Louise Otto, die 1819 geborene Begründerin der Frauenbewegung in Deutschland, die allerdings  – Koselleck verzichtet auf diese Information – ganz bewußt nicht »Emanzipation« proklamierte; und schließlich Clara Zetkin, die in den 1890er Jahren vehement gegen die Frauenbewegung polemisierte und dieser ihre eigene Version von Eman­ zipation entgegensetzte. Der zweite bemerkenswerte Aspekt in Kosellecks Analyse ist, dass er der Emanzipation der Frauen nicht einen eigenen Abschnitt einräumt (also den gesamten dritten des III. Abschnitts), sondern sie mit einem anderen Phänomen verquickt, das mitten in die Präsentation der frauenbezogenen Begrifflichkeit eingeschoben wird: mit der »Emanzipation des Fleisches«, der »Freisetzung der Sinnlichkeit«, wie sie (nur) von männlichen Autoren, den vormärzlichen Poeten des Jungen Deutschland und den Saint-Simonisten in Frankreich ausgerufen und propagiert worden war. Auch Goethes »Wahlverwandtschaften« (1809) und Friedrich Schlegels »Lucinde« (1799) werden herangezogen, auch wenn »Emanzipation« hier nicht wörtlich auftaucht.13 Heinrich Heine habe  – so schrieb der Kant-Nachfolger Karl Rosenkranz 1838 in einem Beitrag zum BrockhausLexikon über »Emanzipation des Fleisches«  – als erster das »Evangelium von der Emanzipation des Fleisches« ausgesprochen; für diese »Rehabilitation der Materie« und ihre Versöhnung mit dem Geist prägte Heine 1834 folgendes Bild: »Wir müssen unseren Weibern neue Hemden und neue Gedanken an­

12 Mary Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Woman and Hints [1792], in: dies., A Vindication of the Rights of Men [1791]; with: A Vindication of the Rights of Woman and Hints, hg. v. Sylvana Tomaselli, Cambridge 1995 (Cambridge Texts in the History of Politi­ cal Thought), S. 272 (»emancipation«); dies., Rettung der Rechte des Weibes mit Bemerkungen über politische und moralische Gegenstände, 2 Bde. [dt. von Georg Friedrich Christian Weißenborn], hg. und mit Anmerkungen versehen von Christian Gotthilf Salzmann, Schnepfenthal 1793/94, Bd.  II, S.  321. Auf derselben Seite benutzt die Autorin die klassische Formulierung: »Make them free!«, hier übers. mit »Macht sie frey«. Vgl. Michael­ Niedermeier, Die Wollstonecraft-Salzmann-Legende. Mary Wollstonecraft und ihr bisher unbekannter deutscher Herausgeber und Übersetzer Georg Friedrich Christian Weißenborn, in: Zeitschrift für Germanistik 3 (1993), S. 606–618, zit. S. 614. Vgl. Koselleck, S. 185 f. Hinzuweisen ist darauf, dass im Titel von Wollstonecrafts Vindication »Woman« im Singular steht und dass sie keine »Lady« war (ebd., S. 186); sie war u. a. eine Gesellschafterin für Ladies. 13 Koselleck, ebd. Ähnlich, wenn auch nicht begriffsgeschichtlich, verfährt z. B. Gertrud Bäumer, Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, in: dies. u. Helene Lange (Hg.), Handbuch der Frauenbewegung, 4 Bde., Bd.  1, Berlin 1901, S.  16–22 (Emanzipation der Romantik).

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ziehen …« (zit. S. 187). Dass Koselleck diese Art Emanzipation der Frauenemanzipation zurechnet, begründet er damit, dass bei dem Begriff »Fleisch«, eben weil er nicht speziell auf Frauen bezogen sei, »die Gleichberechtigung der Geschlechter« eher zum Ausdruck gekommen sei, als wenn bloß »ein einziges Geschlecht« thema­tisiert worden wäre (S. 187). Das ist allerdings ebenso spekulativ wie gewagt,14 zumal der klassische geschlechterübergreifende Begriff, den auch Frauen für sich nutzten, damals wie schon lange zuvor und auch weiterhin nicht etwa »Fleisch« war, sondern »Mensch«: »Ob die Weiber Menschen sind?« wurde in Europa in vielen Formen vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert diskutiert und unterschiedlich beantwortet. »Die Frage über ihre Emancipation«, so petitionierten etwa 1847 über hundert Frauen im Kanton Bern, »läuft auf diejenige hinaus, ob die Weiber auch Menschen seyen.«15 Das dritte Element ist charakteristisch für Kosellecks Vorgehen: Einleuchtenderweise trennt er nicht scharf zwischen Begriffsgeschichte und sogenannter Realgeschichte. Eines der Mittel zu ihrer Verknüpfung ist die Einbeziehung von »onomasiologischen Alternativen«, also Parallelbegriffen, Synonymen oder multiplen Benennungen gleichartiger Sachverhalte.16 Einige der wichtigsten Parallel­begriffe, die in ihrer Differenz charakteristisch für »Emanzipation« als Prozess- ebenso wie als Zielbegriff sind, die den Lexikoneintrag durchziehen und insbesondere für Sklaven, Juden und Frauen (weniger für Arbeiter) benutzt wurden, sind »Freilassung«, »Befreiung« und »Freiheit«. Vor allem durch die Einbeziehung onomasiologischer Alternativbegriffe wird der Eintrag zugleich zu einer Art Überblick über die einschlägigen Bewegungen und somit auch für die Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts. Das ist nicht zuletzt deshalb beachtenswert, weil es um 1972, als Koselleck schrieb, noch so gut wie gar nichts Neueres oder gar Quellengesättigtes über die Geschichte der Frauenbewegung zu lesen gab; die neuere Historische Frauenforschung stand damals noch in ihren ersten Anfängen, zumal für die deutsche Geschichte.17 Im Folgenden soll jenes Verfahren aufgegriffen und sollen einige Aspekte des Komplexes und 14 Rosenkranz schrieb fast gleichzeitig auch einen Artikel über »Die Emanzipation des Weibes« (s. oben, Anm. 7), der, zusammen mit seinem Beitrag zur »Emanzipation des Fleisches« gelesen, die Kosellecksche Annahme widerlegt. 15 Zit. in: Beatrix Mesmer, Ausgeklammert  – Eingeklammert. Frauen und Frauenorganisationen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, Basel 1988, S.  79. Ob die Weiber Menschen Seyn, oder nicht? ist der Titel des 4. Bandes (1988) des von Elisabeth Gössmann hg. Archivs für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung, das u. a. die alte Debatte dokumentiert. In Bock (wie Anm. 2) wird ihre europäische Dimension skizziert; Sigrid Lange (Hg.), Ob die Weiber Menschen sind: Geschlechterdebatten um 1800, Leipzig 1992. 16 Zur onomasiologischen Alternative: Reinhart Koselleck, Einleitung zu GGr, Bd. 1, S. XIII– XXVII, hier S. XXII; ders., Stichwort: Begriffsgeschichte [2002], in: Begriffsgeschichten (wie Anm. 5), S. 99–102, hier S. 101. 17 Zu den frühesten Etappen gehören in den USA die Berkshire Conferences on the History of Women seit 1973 und in der Bundesrepublik die erste »Sommeruniversität für Frauen« im Juli 1976 an der Freien Universität Berlin.

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Prozesses dargelegt werden  – er wird unterschiedliche Namen tragen  –, und zwar auch dann, wenn absichtlich oder gar emphatisch nicht von »Frauenemanzipation« die Rede ist.

2. Begriffsgeschichte II: Das Zeitalter der Revolutionen Ausgangspunkt soll hier die Sprache von Frauen sein, jedenfalls einiger weniger, die aber für jenen Komplex zentral sind. Soweit möglich werden, ebenso wie in »Geschichtliche Grundbegriffe«, auch außerdeutsche Belege herangezogen und die Begriffs- mit der Realgeschichte verknüpft. Keine Rolle spielt der Begriff »Emanzipation« in den einschlägigen Schriften vor den 1830er Jahren, etwa von Olympe de Gouges, die sich großenteils der Terminologie der frühen Französischen Revolution bediente, und fast vernachlässigbar ist er, wie gezeigt, bei Mary Wollstonecraft; in der älteren und europaweiten Querelle des femmes benutzte man ohnehin andere Termini.18 Auch in den Romanen von George Sand, die gegen weibliche Abhängigkeit und männliche Sexualmoral protestierten und in den 1830er Jahren in ganz Europa Aufsehen und zuweilen geradezu Aufruhr erregten (zu nennen sind hier vor allem »Indiana«, erschienen 1831, und »Lélia« von 1832), kommt er weder plakativ noch beiläufig vor. In dem frühesten britischen Traktat, der umfassende politische und zivile Rechte für Frauen fordert – Anna Doyle Wheelers und William Thompsons »Appeal of one Half the Human Race, Women, Against the Pretensions of the Other Half, Men, To retain Them in Political, and Thence in Civil and Domestic Slavery« (1825) –, ist von Emanzipation nicht die Rede; im Zentrum der Terminologie stehen »rights« und »equal happiness of women with men«.19 Erst in den 1840er Jahren tritt in Großbritannien unser Begriff (bei und für Frauen) plakativ auf, nämlich als Titelbegriff: Die Chartistin ­Catherine Barmby (1816/17–1853), die zusammen mit ihrem Mann einer religiös-kommunistischen, millenaristischen Sekte sowie der Chartisten-Bewegung anhing, mahnte vergeblich ihre chartistischen B ­ rüder, ihre 18 Vgl. das vorige und das nächste Kap.  in diesem Band. Begriffsgeschichtlich trifft es also nicht zu, dass »[f]eminists began to apply the concept of emancipation to women’s situation during the French Revolution« (Bonnie S. Anderson, Joyous Greetings. The First International Women’s Movement, 1830–1860, Oxford 2000, S. 115). 19 William Thompson, Appeal of one Half the Human Race, Women, Against the Preten­sions of the Other Half, Men, To retain Them in Political, and Thence in Civil and Domestic ­Slavery, London 1825, ND 1975, eingel. v. Joseph Lee, und 1997, kommentiert v. Dolores­ Dooley; vgl. dies., Equality in Community: Sexual Equality in the Writings of William Thompson and Anna Doyle Wheeler, Cork 1996. Der Protestant und Ire William Thompson war ein Anhänger der Katholiken-Emanzipation (juristisch hieß sie »Catholic Relief«). Anna Wheeler, deren Mitautorschaft er in dem Buch anerkennt, hatte das strenge englische Eherecht am eigenen Leib erfahren.

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Forderung nach dem Wahlrecht für alle Männer auch auf Frauen auszudehnen, und publizierte 1843 die bald weithin verbreitete Broschüre »The Demand for the Emancipation of Woman, politically and socially«; sie beginnt mit dem Satz: »The emancipation of the woman, the man, and the child, is now demanded.«20 Und im Jahr 1846 erschien in Paris von Flora Tristan, die sich – verfolgt von ihrem gewalttätigen Mann, dessen Attacken sie nur mühsam überlebte  – für alle Armen und insbesondere die Frauen engagierte, die Schrift »L’émancipation de la Femme ou Le Testament de la Paria«, die in geradezu messianischer Terminologie Verzweiflung, Anklage und Optimismus kombinierte.21 In beiden Texten hat der Emanzipationsbegriff utopisch-frühsozialistischen Charakter. Auch in Deutschland verbreitete er sich unter Frauen; zur Zeit der 48er-­ Revolution war er geradezu ubiquitär. Viele Frauen gründeten Vereine oder suchten sich in der Presse Gehör zu verschaffen, und manche nutzten das neue Wort. Eine, die sich als »deutsches Weib« bezeichnete, schrieb 1848 an einen Frauenklub in Wien: Die »Emanzipation der Frauen« sei »die Perle, die wir vereint aus dem schwarzen Meere männlichen Despotismus herauszuholen gedenken«, und sie forderte »gleiche Berechtigung« im Zugang zu Künsten und Gewerbe; Frauen sollten »Advokatinnen« werden können (»denn wir streiten sehr gern«), ein »Amazonenkorps bilden« ebenso wie Vereine »für gute, wohltätige Zwecke« und »Bildungsschulen für Hausfrauen«. Mancher publizistische Tadel, meist von Männern, richtete sich gegen »unsere Emanzipirten« und »Emanzipationsverfechterinnen«. Im Umkreis unseres Begriffs florierten Pathos wie Ironie, Zustimmung wie Gegenstimmen; zu den letzteren gehörte das »politische Liebeslied« eines Mannes: »O sprich mir doch nicht von Emanzipation / der Frauen – das ist eine Sünde; / Wohl mag dies mein Wort Dich wundern vielleicht, / ich aber hab meine Gründe«; »weil alles jetzt sehr möglich und tunlich auf Erden«, könne eine Frau sogar »Minister des Inneren werden«.22 Französinnen benutzten zur Zeit der 48er-Revolution den Begriff mit größerer Präzision; es waren vor allem einstige Saint-Simonistinnen, meist Proletarierinnen, die sich 1832 von ihren saint-simonistischen Brüdern getrennt hatten. Der Grund dafür war, dass die Brüder, nachdem Saint-Simon selbst verstorben und der Saint-Simonismus von einer Bewegung zu einer Sekte geworden 20 Catherine Barmby, The Demand for the Emancipation of Woman, Politically and Socially, London 1843, Faks.-Abdruck in: Barbara Taylor, Eve and the New Jerusalem. Socialism and Feminism in the Nineteenth Century, London 1983, S. 387–391. 21 Flora Tristan, L’émancipation de la femme ou le testament de la paria, ouvrage posthume complété d’après ses notes et publié par Alphonse Constant [Eliphas Lévi], Paris 1846; Auszüge auf Deutsch in: Hannelore Schröder (Hg.), Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation, 2 Bde., München 1979, Bd. 1, S. 66–79. 22 Gerlinde Hummel-Haasis (Hg.), Schwestern zerreißt eure Ketten: Zeugnisse zur Geschichte der Frauen in der Revolution von 1848/49, München 1982, S.  150 f., 162, 168. Vgl. auch­ Carola Lipp (Hg.), Schimpfende Weiber und patriotische Jungfrauen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1948/49, Moos 1986, bes. S. 186, 298 f.

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war, die »Emanzipation des Fleisches« (»réhabilitation de la chair«) zu predigen begonnen hatten und darauf – unter dem Stichwort »affranchissement de la femme« – eine ebenso mystische wie sensualistische Verklärung der Frau gründeten; nun sollte nicht nur ein »Vater«, sondern auch eine Frau an der Spitze der strengen theokratisch-männlichen Hierarchie stehen und mit ihm zusammen »das soziale Individuum« bilden; dies war geradezu ein Gegenmodell zu weiblicher Autonomie. Aber – so zitierte 1850 Lorenz von Stein einen französischen Autor – »[d]as Weib kam nicht; niemand wollte die Emanzipation, die so freigebig ausgeboten ward.«23 Die Saint-Simonistinnen revoltierten gegen ihre Marginalisierung und Inferiorisierung in der Sekte ebenso wie in der Gesellschaft und propagierten stattdessen seit 1832 mit ihrer Zeitung »La Femme libre« den »grand mouvement d’émancipation sociale qui s’opère sous nos yeux«, innerhalb dessen nun ihre eigene Freiheit und Befreiung auf der Tagesordnung stand.24 Nach der Februarrevolution legten sie der neuen republikanischen Regierung eine Petition vor, in der es heißt: »Wenn dann die ersten zivilen Rechte25 konzediert sein werden, zwingen die Logik, der gesunde Menschenverstand und die Gerechtigkeit das andere [männliche] Geschlecht, den Frauen sukzessive die vollständige Emanzipation [l’émancipation intégrale] zu gewähren, die allein der republikanischen Formel ›liberté, égalité, fraternité‹ einen Sinn zu verleihen vermag«; deshalb müsse ein Dekret erlassen werden, das »die zivilen Rechte der Frauen anerkennt und denjenigen Frauen das politische Wahlrecht gewährt, die erwachsen und Witwen oder unverheiratet sind«, also ihre »émancipation légale« nachweisen können. Dreierlei wird hier deutlich. Erstens konnte der Begriff »émancipation« in doppeltem Sinn verwandt werden: einerseits in einem umfassenden, geradezu utopischen Sinn – deutlich etwa in der Forderung »La femme ne doit pas s’émanciper en se faisant homme; elle doit émanciper l’homme en le faisant femme«26 –, andererseits im altrömischen Sinn der rechtlichen Freilassung aus der Herrschaft von Vater oder Ehemann (»émancipation légale«), der als »émancipation de la femme« in der großen »Encyclopédie« benannt worden war und den es in Frankreich auch noch im 19. Jahrhundert gab, wenn auch nicht rechts23 Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage [1850], 3 Bde., ND Darmstadt 1959, Bd. 2, S. 226; vgl. auch Koselleck (wie Anm. 5), S. 187, und Paul Janet, Le socialisme moderne, in: Revue des Deux Mondes 17 (1876), S. 587– 618 (S. 617: »la femme fut appelée, mais elle ne vint pas«). 24 La Femme libre, August 1932 (Nr. 1 der Zeitung), zit. in: Michèle Riot-Sarcey, La démocratie à l’épreuve des femmes. Trois figures critiques du pouvoir 1830–1848, Paris 1994, S. 65, vgl. S. 64–67; engl. Übers. in: Susan Groag Bell u. Karen M. Offen (Hg.), Women, the Family, and Freedom. The Debate in Documents, 2 Bde., Stanford, CA 1983, Bd. 1, S. 146 f. 25 Pétition des femmes, in: La Voix des femmes, Nr. 35, 28. April 1848, S. 1. Der Passus bezieht sich auf einen vorigen, in dem die »körperliche Freiheit« und die zivilen Freiheitsrechte für Ehefrauen gefordert werden, die der Code Napoléon (1804) untersagte. 26 In: La Voix des femmes Nr. 20, 11.4.1848; vgl. Riot-Sarcey (wie Anm. 24), S. 194; zum Kontext Bock (wie Anm. 2), S. 130–132.

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gültig für Frauen.27 Zweitens verweist die zitierte Unterscheidung von politischen und zivilen Rechten – also einerseits dem Wahlrecht, das Partizipation garantiert, und den bürgerlichen Rechten, die persönliche Freiheit garantieren – auf ein Problem, das für Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert fortdauerte. Denn für französische Frauen galt das Eherecht mit seiner »autorité maritale«, demzufolge sie ihrem Ehemann Gehorsam schuldeten (Code Civil, Art. 213), und auch anderswo war die eheweibliche Abhängigkeit mehr oder weniger streng rechtlich festgelegt. Wie aber konnte eine Ehefrau, die zivilrechtlich abhängig war, ein unabhängiges Votum in einem Wahlakt abgeben? Dementsprechend wurde um 1848, als es in Frankreich primär um das »suffrage universel« ging – also um das Wahlrecht ausschließlich für Männer –, das Frauenwahlrecht nicht nur höchst selten gefordert, sondern erst einmal nur für zivilrechtlich selbständige Frauen, also Witwen und Unverheiratete. George Sand hingegen, die 1848 anonym das Bulletin der Revolutionsregierung schrieb, zog aus jener rechtlich, historisch und kulturell tiefverankerten eheweiblichen Abhängigkeit eine andere Konsequenz: Sie sprach sich in eben diesem Bulletin gegen politische Rechte für Frauen aus, bevor nicht sämtliche Frauen zuallererst zivilrechtlich befreit seien.28 Und doch sollte die spätere Geschichte umgekehrt verlaufen: Während im Großen und Ganzen die Männer (West-)Europas im 18. und 19. Jahrhundert zuerst ihre zivilen Freiheitsrechte erhielten und erst später die politischen Partizipationsrechte (das ist die berühmte Feststellung von Thomas H. Marshall im Jahr 1949), und während viele europäische Feministinnen dementsprechend das Frauenwahlrecht als »Schlussstein« sahen (als »la clé de voûte de tout l’édifice de l’émancipation«, wie es 1848 in Frankreich hieß), erhielten die meisten europäischen Frauen das Wahlrecht zwar »schon« um die Zeit des Ersten Weltkriegs (die Französinnen allerdings erst 1944), doch die zivilrechtliche Gleichstellung innerhalb der Ehe gab es erst später und oft lediglich etappenweise: beispielsweise in Frankreich und Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg.29 Schließlich ist eine dritte Dimension hervorzuheben: Manchen überzeugten Republikanerinnen der Februarrevolution war der E-Begriff lieb und teuer (»Les femmes demandent leur émancipation«), und gerade deshalb suchten 27 Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd.  5, Paris 1755, im Art. »Émancipation«, S. 546–549, hier S. 547 (»la séparation de la femme d’avec son mari«). – Im Code Napoléon wurde der Austritt aus der Minderjährigkeit und Eintritt in die Volljährigkeit als »émancipation« bezeichnet (Livre I, Titre X). Eine »Freilassung« von Frauen aus der ehemännlichen Herrschaft gab es hingegen nicht (Scheidung war seit 1816 verboten, nachdem sie 1792 zugelassen worden war, erst 1884 wurde sie wieder legalisiert). Vgl. auch Anm. 11 und Koselleck (wie Anm. 5), S. 156. 28 George Sand, Politique et polémiques (1843–1850), hg. v. Michelle Perrot, Paris 1997, S. 391– 396, 527–542; vgl. Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997. 29 Das Zitat stammt aus dem in der folgenden Anm. genannten Dokument von 1848, S. 196. Vgl. Bock (wie Anm.  2), Kap.  IV.3. u. VI.2.; Thomas H.  Marshall, Citizenship and Social Class and Other Essays, Cambridge 1950.

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sie ihn abzusetzen von der zweideutigen saint-simonistischen Ideologie der »femme libre« (die 1832 gegründete Frauenzeitung mit diesem Titel wurde folglich bald umbenannt). So argumentierte die eindrucksvolle Jenny d’Héricourt im März 1848 in dem Manifest des soeben gegründeten Arbeiterinnenvereins »Société pour l’émancipation des femmes« gegen die sexuellen Konnotationen des Begriffs: »Le mot émancipation, dans son sens absolu et légitime, signifie, avant tout, affranchissement intellectuel et moral. Cette condition première et supérieure étant, pour les deux sexes, la base normale de tous les progrès sociaux, emporte avec elle toutes les autres conséquences. On abuse si souvent encore du mot émancipation que cette note [d’] explication nous a paru nécessaire.«30 In der Tat wurde dann im Französischen weitaus häufiger der Begriff »affranchissement« als »émancipation« benutzt, etwa von Jenny d’Héricourt selbst in ihrem bald berühmten Buch von 1860, in dem angesichts der Niederlagen der Frauen in der 48er-Revolution die »intellektuelle und moralische« Dimension im Vordergrund stand. (Ähnliches gilt für »enfranchisement of women«, das z. B. Sigmund Freud im Jahr 1880 mit »Frauenemanzipation« wiedergab, als er John Stuart Mill übersetzte.)31 Solche Stimmen gab es auch – und wohl mehr als anderswo – in Deutschland, wo viele engagierte Frauen den Begriff »Emanzipation der Frauen« ablehnten. Das tat etwa die 24-jährige Louise Otto 1843 in einem Text, der als Beginn der deutschen Frauenbewegung gelten kann32: »In unserer Zeit ist das Wort ›Emanzipation‹ das Stichwort des Tages«, und erfreulicherweise ringe »alles« darum, »aus alten, hemmenden Institutionen sich in neue, freiere, ja […] reinere Formen zu verklären«; dabei sei aber »fast das weibliche Geschlecht allein – vergessen worden.« Und zwar deshalb, weil das Wort »Emanzipation der Frauen« gleichzeitig und gleichbedeutend mit »Emanzipation des Fleisches« ausgerufen worden sei, nämlich von Männern; dieser Ruf, der »der gerechten Sache« mehr schade als »die ärgste Zurücksetzung des weiblichen Geschlechts«, sei das krasse Gegenteil »von dem, was die Frauen selbst Emanzipation nennen.« Stattdessen proklamierte Otto das Recht der »Theilnahme der weiblichen Welt am Staatsleben« (1847) und die Dringlichkeit der Verbesserung der Situation von Arbeiterinnen (1848). 1849 setzte sie in ihrer »Frauen-Zeitung«, die das 30 Michèle Riot-Sarcey, Émancipation des femmes, 1848, in: Genèses 7 (1992), S. 194–200, hier S. 197. Zum Folgenden: Jenny d’Héricourt, La Femme affranchie, réponse à MM. Michelet, Proudhon, E. de Girardin, A. Comte et autres novateurs modernes, Brüssel 1860. 31 John Stuart Mill, Über Frauenemancipation. Plato. Arbeiterfrage. Sozialismus, übers. v. Siegmund [sic] Freud, Leipzig 1880. Mill hatte die Schrift zusammen mit Harriet Taylor Mill verfasst und 1851 in Westminster Review veröffentlicht; vgl. ders. u. dies., Essays on Sex Equality, hg. v. Alice Rossi, Chicago 1970 u.ö., S. 91. 32 So zu Recht Ruth-Ellen Boetcher Joeres, Die Anfänge der deutschen Frauenbewegung: Louise Otto-Peters, Frankfurt a. M. 1983, S.  58; der Text: ebd., S.  71–73 (hier die folgenden Zitate): »Zur Frauenemanzipation. Über die gesellige Stellung und geistige Bildung der Frauen in England, Amerika, Frankreich und vornehmlich in Deutschland«, ursprünglich in: Unser Planet 27 (Febr. 1843), S. 106–108.

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Motto »Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen!« trug und 1852 verboten wurde, ihre Polemik fort. Das Wort »Frauen-Emancipation« sei von denjenigen in Misskredit gebracht worden, die »das Weib zur Carricatur des Mannes herabwürdigten«, zumal wenn sie ihr »Streben nach geistiger Freiheit in der Zügellosigkeit der Leidenschaften« suchten und befriedigten.33 Hinter dieser Position standen Berichte und Gerüchte über die Ideologie der »freien Liebe« bei den Saint-Simonisten und die Visionen jungdeutsch-männlicher Literaten, etwa der wilde »Madonna«-Roman (1835) von Theodor Mundt mit seiner »Wiedereinsetzung des Fleisches« oder die »Emanzipation der Liebe« des selbsternannten Geschichtsphilosophen Karl Gutzkow, welche dieser selbst in scharfen Gegensatz zur »Emanzipation der Frauen« stellte: Diese sei »die albernste Idee, welche unser Zeitalter ausgeheckt hat.«34 Die wenigsten Frauen mochten sich mit diesen Männer- und Männlichkeitsvisionen identifizieren, und für viele war jetzt »Emanzipation« zu einem negativ besetzten Schlagwort geworden. Hinzu kamen die kursierenden Bilder von George Sand, die zuweilen Männerkleidung trug, rauchte und (nicht nur) in Deutschland als der Typus von – und das war austauschbar – »Mannweib« und »Emanzipierter« galt; allerdings wurde sie angesichts ihrer vieldimensionalen Genialität von Louise Otto trotzdem verehrt.35 Doch deutlich und mit hoher Symbolkraft lehnte Otto die Schriftstellerin Louise Aston ab (wenngleich sie auch diese anfangs verehrt hatte); Aston galt in den Revolutionsjahren als »hosentragendes Mannweib«, das sich mit allerlei Männern eingelassen habe. Aus Ottos Sicht hatte Aston das Wort »Emanzipation« besudelt, indem sie es bloß individualistisch, fleischlichheterosexuell und ohne Blick auf das weibliche Geschlecht als Ganzes benutzt hatte (der Begriff »Sozialismus«, zu dem sich Otto oft bekannte, war kurz zuvor als Kontrast zu »Individualismus« entstanden). Als selbsternannte Emanzipierte verurteilte Aston in ihrer Schrift »Meine Emanzipation« scharf die Institution der Ehe (vor allem aufgrund eigener böser Erfahrungen) und propagierte stattdessen  – George Sand als Prophetin einer »freien schönen Zukunft« beschwörend  – einen »edleren Cultus der Liebe« und das Recht, »auf ›meine Façon‹ selig zu werden«: »Dies ist die einzige Frauen-Emancipation, an der auch meine Sehnsucht hängt.«36 Otto hingegen kritisierte solche Vorstellun33 Louise Otto, Programm, in: Frauen-Zeitung, redigiert von ders., Nr. 1, 21.4.1849, S. 1, ND in Ute Gerhard u. a. (Hg.), »Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen«. Die Frauenzeitung der Louise Otto, Frankfurt a. M. 1979, S. 37–39. 34 Karl Gutzkow, Zur Philosophie der Geschichte, Hamburg 1836, S.  149. Vgl. auch Renate Möhrmann (Hg.), Frauenemanzipation im deutschen Vormärz. Texte und Dokumente, Stuttgart 1978, S. 4 f. 35 Vgl. Johanna Ludwig (Hg.), George Sand und Louise Otto-Peters: Wegbereiterinnen der Frauenemanzipation, Leipzig 2005. 36 Louise Aston, Meine Emancipation, Verweisung und Rechtfertigung, Brüssel 1846, S. 46, 50; vgl. Boetcher Joeres (wie Anm. 32), S. 18 f., 71 f.; Christine von Müller, »Wenn mich der Liebe Flammen heiß umsprühn …«: Die erotische Rebellion der Louise Aston, in: Journal für Geschichte, Sept. 1982, S. 18–25. Zu Ottos Sicht vgl. bes. ihr Gedicht in der Frauen-Zeitung (»An Louise Aston«), in: Gerhard u. a. (wie Anm. 33), S. 150 f.

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gen von »Liebe« und »Freiheit«, die für sie heterosexuelle Libertinage waren, während sie in ihren Schriften den Begriff »Emanzipation« auch im positiven Sinn benutzte, sei es für weibliche Selbständigkeit im Alltag oder die Bewältigung der Hausarbeit ohne Dienstboten, sei es gegen die Herrschaft der Mode.37 Auch zitierte sie Ida Frick, die 1845 »Frauen-Emancipation« als ein »vieldeutiges Wort« bezeichnet hatte, in Dialogform unterschiedliche Konzepte davon diskutierte (geistige und moralische, sittliche und sinnliche, physische und bürgerliche) und den Frauen eigene Schuld daran zuschrieb, dass sie »zu Sklavinnen der Männer erniedrigt« seien und somit »Selbstsklaverei« betrieben; sie warb bei ihren Leserinnen für »den Muth, euch von der Unentbehrlichkeit des männlichen Umganges zu emanzipieren«, insbesondere von dem »fast nur noch sinnlichen Interesse«, das »die Mehrzahl der Männer« an den Frauen habe (besser sei es, sich von ihnen »zurückzuziehen«) – also in deutlichem Gegensatz zu der Vision »freier« Heterosexualität. Im Übrigen gehe es darum, »Emancipation« nicht so sehr außerhalb der Ehe durchzusetzen, sondern gerade auch innerhalb der Ehe (im Kontrast zum »sklavischen Gehorsam«).38 Auch die demokratisch engagierte Louise Dittmar, die die »Emanzipation der Frauen« ebenfalls als »Befreiung aus sklavischen Verhältnissen« definierte (und im Übrigen Louise­ Aston in Schutz nahm), warnte vor dem »Gespötte so vieler«, die »weibliche Subjekte als emanzipirt anführen, welche sich bei Trinkgelagen durch Rauchen und Zotenreißen hervorthun.«39 Und die ex-saint-simonistischen Proletarierinnen der französischen 48er-Revolution legten ebenfalls großen Wert darauf, dass ihre liberté nicht mit Sittenlosigkeit verwechselt wurde.40 Zwanzig Jahre später diskutierte die jüdische Schriftstellerin Fanny Lewald diese Fragen; im November 1869 – im Februar war John Stuart Mills Werk über »The Subjection of Women« erschienen – widmete sie ihm ihre Schrift »Für und wider die Frauen« und blickte auf die Zeit zurück, in der »wir Aelteren die Frage der Frauen-Emancipation in unseren Gesichtskreis haben treten sehen«41: Bald 37 Vgl. Louise Otto, Frauenleben im deutschen Reich: Erinnerungen aus der Vergangenheit mit Hinweis auf Gegenwart und Zukunft, Leipzig 1876, ND 1988, S. 33, 74, 77; vgl. auch S. 67 und dies., Das Recht der Frauen auf Erwerb: Blicke auf das Frauenleben der Gegenwart, Hamburg 1866. 38 Ida Frick, Der Frauen Sclaventhum und Freiheit. Ein Traum am Hans-Heiling-Felsen. Allen deutschen Frauen und Jungfrauen gewidmet, Dresden 1845, S. 12 f., 15, 18, 20 f., 42, 73, 76, 78; Otto zitierte Frick z. B. in »Die Theilnahme der weiblichen Welt am Staatsleben« (1847), teilw. abgedruckt in: Möhrmann (wie Anm. 34), S. 45–53, hier S. 47. 39 Louise Dittmar, Das Wesen der Ehe, nebst einigen Aufsätzen über die soziale Reform der Frauen, Leipzig 1849, S. 117. 40 Vgl. dazu Riot-Sarcey (wie Anm. 24), S. 69. 41 Fanny Lewald, Für und wider die Frauen. Vierzehn Briefe, Berlin 1870, ND in: dies., Politische Schriften für und wider die Frauen, hg. v. Ulrike Helmer, Frankfurt a. M. 1989, S. ­97–204. Die Zitate, auch die folgenden, finden sich auf S. 163,-165, 169, 173, 195; anhand des Originals wurde die authentische Schreibweise wiederhergestellt. Die Widmung an John Stuart Mill: S. 99 f.; die Korrespondenz mit ihm in: ders., Collected Works, Bd. 17, Toronto 1991, S. 1700–1703. Vgl. auch Brigitta van Rheinberg, Fanny Lewald. Geschichte einer

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nach der Juli-Revolution habe man begonnen, »innerhalb unserer gebildeten bürgerlichen Gesellschaft« von der »Frauen-Emancipation« zu sprechen. »Die Vorstellung wie die Bezeichnung kamen aus Frankreich, zum größten Theile aus französischen Romanen zu uns herüber und fielen mit der Theorie von der sogenannten Emancipation des Fleisches zusammen«, welcher damals auch in manchen deutschen Romanen das Wort geredet wurde; die einen wie die anderen waren »in ihrem tiefsten Innern unsittlich.« Wenn aber »uns Jüngere der Reiz der Darstellung und die einzelnen Züge von Wahrheit in den französischen und deutschen Dichtungen auch blenden und über ihre Begriffsverwirrung täuschen konnten«, so hatten doch »die reifen Köpfe in der Nation vollkommen Recht, wenn sie ihr Verdammungsurteil aussprachen gegen diese dichterische Verklärung der Frauen-Emancipation und der Emancipation des Fleisches.« Die letztere bedeute, wie der Saint-Simonismus, im Wesentlichen nichts anderes »als die Schrankenlosigkeit des sinnlichen Genusses zwischen Mann und Weib« und eine »Apotheose der Courtisane«. Deshalb galt es, als Fanny Lewald jung war, »beinahe für unanständig, von der Emancipation der Frau überhaupt nur zu sprechen«. Heutzutage indessen könne man jene Romane nur noch »belächeln oder widerwärtig finden«. Doch 1848, als Fanny Lewald 37 Jahre alt war, »kam der Ernst der neuen Revolution über unsere Zeit und über uns Alle.« Lewald benennt ihn zunächst abstrakt, in scharfem Kontrast zum vorangegangenen Bild: »Das Verlangen des Einzelnen nach Befriedigung seiner persönlichen Willkür, das Suchen des Einzelnen nach seiner eigenen Freiheit und nach seinem eigenen ausschließlichen Glück ging auf in dem Bestreben einer verhältnißmäßigen Befreiung der Gesammtheit. Die subjective Romantik ward von der Einsicht zum Schweigen gebracht, daß das Wohl des Einzelnen nur in dem Wohlbefinden der Gesammtheit möglich sei, und der Ruf nach der Emancipation der Frauen ertönte nun auch in einer anderen und würdigeren Gestalt.« Diese zeigte sich  – und nun wird es konkret – in Paris, wohin Fanny Lewald sofort nach den revolutionären Februartagen eilte und sich mit den aufständischen Arbeiterinnen solidarisierte, die eine »Erhöhung ihres Arbeitslohnes auf die Höhe des Arbeitslohnes der Männer [forderten], um sich durch den Ertrag ihrer Arbeit anständig ernähren […] zu können, ohne sich gelegentlich aus bitterer Noth zur Prostitution erniedrigen zu müssen.« Damit »war die Frage der Gleichstellung der Frauen in ihre rechte Bahn geleitet«, und »von da ab konnte man mit Ehren von der Emancipation der Frauen zu Arbeiterinnen und Staatsbürgern sprechen«, zumal sie wie die Männer Steuern zahlten. Und »thöricht und kleinlich« sei es, wenn man sich in Deutschland gegen diese Art der Emanzipation erbittere, bloß weil zwei oder drei »oftmals genannte« Frauen, die längst verschwunden seien

Emanzipation, Frankfurt a. M. 1990, bes. Kap. 4: »Emanzipation als zentraler Gedanke im Leben und Werk (1840–1889)«; Gabriele Schneider, Fanny Lewald, Reinbek 1996, bes. das Kap. »Revolution (1848): Die Republikanerin und Sozialistin«.

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und »nur das Schreckbild der ›emancipirten Frau‹« zurückgelassen hätten, geraucht und sich unsittlich benommen hätten – während doch die Damen »der sogenannten besten Gesellschaft« sich weitaus schlimmer benähmen. Dementsprechend benutzt Lewald in »Für und wider die Frauen« den Begriff »Emancipation« meist mit einem erläuternden Zusatz: als »Emancipation zu Arbeit und Selbständigkeit« oder »zu Arbeit und Erwerb«. Wo sie »der Frage der FrauenEmancipation fest in das Auge sieht«, riskiert sie gelegentlich eine Definition: Erstens bedeute sie Bildung »wie für Männer«; zweitens die Freiheit, »gleich den Männern« die eigenen Fähigkeiten »zu eigenem Vorteil und zum Besten der Gesammtheit zu verwerten«; drittens das Recht, an der Gesetzgebung mitzuwirken  – also das Wahlrecht (allerdings übergeht diese Definition Lewalds breit ausgeführten Bezug auf die Unterschichten, insbesondere die Besserstellung der Dienstboten). Kurz nach Fanny Lewalds Reflexionen über »Emanzipation« (sie sind wohl die ausführlichsten jener Zeit von Frauenseite)  äußerten sich zwei weitere Schriftstellerinnen zu dem Thema: die fünf Jahre jüngere Malwida von Meysenbug, eine engagierte Achtundvierzigerin, die 1852 in England Asyl fand, und die zwanzig Jahre jüngere Hedwig Dohm, ebenso wie Lewald jüdischer Herkunft. Die erstere, zu deren Hauptziel die »ökonomische Unabhängigkeit der Frau« gehörte und die korrekterweise die wichtigste Wurzel des »Gedankens der Emanzipation« in den »freien Gemeinden« und im Deutschkatholizismus der Jahrhundertmitte sah (und nicht etwa in einer Vision von Fleischeslust), wies dementsprechend in ihren Memoiren (1875/6) scharf zurück, dass »die Frau sich emanzipieren soll« durch Ablehnung ihrer Pflichten und Nachahmung von »des Mannes Brutalität« sowie anderem, »was auch bei ihm sehr oft häßlich ist«; vielmehr bedeute Emanzipation für Frauen, dass sie »ihm ebenbürtig werden sollte für die Kulturaufgabe der Menschheit, dass sie auch ihm helfen sollte, sich von allem Schlechten zu befreien.«42 Um dieselbe Zeit publizierte Hedwig Dohm ihre einflussreichsten geschlechterpolitischen Schriften. Da es sich dabei großenteils um sarkastische Angriffe auf die Misogynie der Männerwelt handelt (»Was die Pastoren von den Frauen denken«, 1872), außerdem auf die »guten Hausfrauen« (»Der Jesuitismus im Hausstande«, 1873), taucht der Begriff »Frauenemanzipation« nur gelegentlich als Angriffsziel ihrer »fanatischen Gegnerinnen« und Gegner auf. Auch in ihrer heutzutage bekanntesten Schrift, »Der Frauen Natur und Recht« (1876), in der sie ebenso enthusiastisch wie ironisch für das Frauenwahlrecht plädiert, kommt das Wort kaum vor, wohl aber öfters der – ansonsten nur selten anzutreffende – Begriff der »Frauen­ 42 Malwida von Meysenbug, Memoiren einer Idealistin, hg. v. Renate Wiggershaus, Frankfurt a. M. 1985, S. 138, 166; vgl. Susanne Klabunde, Malwida von Meysenbug: Mit den Waffen der Freiheit und der Zukunft, in: Sabine Freitag (Hg.), Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49, München 1998, S. 225–236; Sylvia Paletschek, Frauen und Dissens: Frauen im Deutschkatholizismus und in den freien Gemeinden 1841–1852, Göttingen 1990, bes. Teil III.

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freiheit«.43 Freilich wusste auch Hedwig Dohm, ungeachtet der provokanten Schärfe ihrer Argumentation von 1876, dass »in Deutschland für die politischen Rechte der Frauen zu kämpfen« vorläufig »eine Thorheit, eine radikale Anticipation der Zukunft« war. Deshalb bzw. weil sie »gern zu den praktischen Leuten zählen« wollte, hatte sie zwei Jahre zuvor »an ein anderes Thor« geklopft, das scheinbar leichter zu öffnen war, nämlich »das Thor des Tempels der Wissenschaft, der Universität«, und hier benutzte sie plakativ das E-Wort: »Die wissenschaftliche Emancipation der Frau«. Aber außer im Titel kam das Wort so gut wie nicht vor, stattdessen gab es wieder »Frauenfreiheit« oder auch »Menschwerdung des Weibes«. Dohm klopfte an mit Verve und Witz, und wenig später definierte Hedwig Kettler für den »Frauenverein Reform« die Zulassung von Frauen zu Wissenschaft und Universität geradezu als Herzstück der »Frauen-Emanzipation«.44 Doch Dohm sollte noch dreißig Jahre warten müssen, bis sich die deutschen Tempeltore wirklich öffneten – und zwar später als in den meisten europäischen Ländern. In der Zwischenzeit sollten neue Begriffe an die Stelle und an die Seite des E-Worts treten.

3. Transformationen in der zweiten Hälfte des »langen« 19. Jahrhunderts Eine ebenso gängige wie sinnvolle Periodisierung für unser Thema gilt cum grano salis für weite Teile Westeuropas und verweist auf drei Phasen. Auf das sogenannte »Zeitalter der Revolution« bzw. auf die 48er-Revolution folgte eine Flaute. Doch seit den 1860er Jahren, als in vielen Ländern eine Liberalisierung oder ein Wiedererstarken oppositioneller Bewegungen um sich griff, entstand 43 Hedwig Dohm, Der Jesuitismus im Hausstande. Ein Beitrag zur Frauenfrage, Berlin 1873, S.  16 (das letzte Drittel behandelt eine Debatte im House of Commons über das Frauenwahlrecht); dies., Der Frauen Natur und Recht. Zur Frauenfrage zwei Abhandlungen über Eigenschaften und Stimmrecht der Frauen, Berlin 1876, ND 1986, z. B. S. 69, 113, 128. »Politische Emanzipation« (S. 69 f.) bezieht sich auf »Besitzlose, Arbeiter und zuletzt [die] Neger«. Kritik an Frauen gehört, wie bei Fanny Lewald und vielen anderen, zum Frauenbefreiungs­ diskurs (z. B. S. 180: »Nicht gegen die Männer richten sich unsere bittersten Empfindungen, unsere härtesten Anklagen, sondern gegen die Frauen, die feige es dulden, daß eine Generation nach der andern sie achtlos bei Seite schiebt«). Vgl. auch Nikola Müller, Hedwig Dohm: eine kommentierte Bibliografie, Berlin 2000. 44 Hedwig Dohm, Die wissenschaftliche Emancipation der Frau, Berlin 1874 (ND 1982, aber mit dem irrigen Titel »Emanzipation«), S. 1 f., 10, 29, 51; J. [Hedwig] Kettler, Was ist Frauenemanzipation? Vortrag in Berlin auf der 2. Generalversammlung des »Deutschen Frauenvereins Reform« (H.  3 der Bibliothek der Frauenfrage), Weimar 1891, bes. S. 14; zu Kettler vgl. Patricia M. Mazón, Gender and the Modern Research University: The Admission of Women to German Higher Education, 1865–1914, Stanford, CA 2003, bes. S. 63–74. Zum internationalen Vergleich vgl. Trude Maurer (Hg.), Der Weg an die Universität. Höhere Frauen­bildung vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2010.

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die moderne oder auch klassische Frauenbewegung, im Sinn der Entstehung dauerhafter und aktiver Assoziationen von Frauen. Die dritte Phase war ihr Höhepunkt und beginnt um 1890; enden lässt man sie entweder mit oder kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als in Europa das Frauenwahlrecht in neunzehn Ländern eingeführt wurde, beginnend mit Finnland und Norwegen (1906 und 1907/13), Deutschland folgte 1918/19, und schließlich wurde in England zuerst das beschränkte, dann das unbeschränkte Frauenwahlrecht eingeführt (1918/1928); außerhalb Europas waren die wichtigsten Etappen die Einführung des aktiven Frauenwahlrechts 1893 in Neuseeland und, bezüglich der USA, die Ergänzung des einzelstaatlichen Frauenwahlrechts, das 1919 in fast der Hälfte der Bundesstaaten galt (und aufgrund dessen die Wählerinnen meist auch auf nationaler Ebene wählen durften), durch den 19. Zusatz zur Bundesverfassung im Jahr 1920. Im Folgenden geht es um die zweite und dritte Phase und den sie begleitenden begriffsgeschichtlichen Wandel. In dem Neuaufschwung der Frauenaktivitäten seit den 1860er Jahren trat auf Seiten der Protagonistinnen der Terminus »Emanzipation« in den Hintergrund. Jetzt wollte eine wachsende Zahl von Frauen, in Hedwig Dohms Worten, »zu den praktischen Leuten zählen«. Während aber Dohm, Lewald und Meysenbug ihre Praxis im Schreiben und Publizieren sahen, machten sich andere ans Assoziieren und Organisieren. Überall in Westeuropa wurden lokale und einige nationale Frauenvereine gegründet, und was die Terminologie betrifft, so sprach man – im Sinn von Kosellecks »onomasiologischen Alternativen« – nicht von »Emanzipation«, sondern von der »Frauenfrage«. Vielen galt sie als Teil der »sozialen Frage«, manche definierten sie auch als »Männerfrage«,45 und die wichtigste Antwort auf jene Frage, die zu ihrer »Lösung« führen sollte, hieß jetzt »Frauenbewegung«. Beide Begriffe wurden so ubiquitär, genauer: noch ubiquitärer als zwanzig Jahre zuvor »Emanzipation«. So formulierte Louise Otto, als sie 1865 den »Allgemeinen deutschen Frauenverein« (AdF) gründete: »In der politischen Windstille, in der wir gegenwärtig leben, ist die Frauenfrage in den Vordergrund getreten und dominiert in einer Weise, wie man das früher kaum für glaublich hielt […]. Keine Zeitung nimmt man in die Hand, kein Verein, keine Volksversammlung findet statt, in der nicht diese Frage diskutiert würde.«46 Die Debatte über die »Frauenfrage« riss nun nicht mehr ab; so hieß es fünf Jahre später in der Monatsschrift zum Brockhaus-Konversationslexikon,

45 Z. B. Helene Lange zur Eröffnung der Zeitschrift Die Frau, Nr. 1, 1893, S. 1: »Was wir wollen«; auch in: dies., Kampfzeiten. Aufsätze und Reden aus vier Jahrzehnten, 2 Bde., Berlin 1928, Bd. 1, S. 161. Vgl. dazu Karen Offen, Is the »Woman Question« Really the »Man Problem«? in: Christopher E. Forth u. Elinor Accampo (Hg.), Confronting Modernity in Fin-deSiècle France: Bodies, Minds and Gender, London 2010, S. 43–62. 46 Louise Otto, Altes und Neues aus der Frauenwelt I, in: Deutsches Wochenblatt Nr.  8, 18.2.1866, S. 60, zit. in: Ulrike Bussemer, Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum. Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgründungszeit, Weinheim 1985, S. 16. Vgl. auch Otto, Frauenleben (wie Anm. 37), S. 154 ff. (»Die Frauenfrage«).

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sowohl mit Bezug auf jene VerVeinsgründung und die aus ihr folgende »Bewegung« als auch auf »verschiedene Culturländer«: »die theoretische Behandlung der Frauenfrage hat seitdem erst allgemeine Beachtung erlangt.«47 Doch wenngleich das E-Wort in den Hintergrund trat, konnte es auch wieder auftauchen, etwa 1894 bei einem Vortrag in einem Nürnberger Frauenverein über »Die Frauenfrage«; worauf sie sich richte, lasse sich »in einem einzigen Wort« beantworten: »Frauenemanzipation, aber Frauenemanzipation im guten Sinne, d. h. Befreiung, Erlösung.«48 Die neuen Begriffe zirkulierten auch transnational. Im Jahr 1884 publizierte Theodore Stanton, der Sohn der führenden Protagonistin der US-amerikanischen Frauenbewegung, Elizabeth Cady Stanton, einen umfassenden Sammelband über die Lage der Frauen in siebzehn europäischen Ländern, betitelte ihn mit »The Woman Question in Europe«  – »woman question« sagte man in den Vereinigten Staaten, »women’s question« in Großbritannien – und sprach im Vorwort von »the women’s movement – that remarkable social revolution now going on in old Europe as well as in young America.« Einleitend reflektierte die Britin Frances Power Cobbe darüber, was »movements« im Allgemeinen und die »women’s movement« im Besonderen seien. Mit einiger Übertreibung meinte sie: »this movement has stirred an entire sex, even half the human race.«49 Übertrieben war das, weil – wie auch der Band zeigt – bei weitem nicht alle Frauen und schon gar nicht die Hälfte des Menschengeschlechts dieser Bewegung anhingen, und ein Hauptziel der Aktivistinnen bestand gerade darin, die Frauen selbst für eine Änderung ihrer Lage zu gewinnen. Aber das E-Wort spielte hier so gut wie keine Rolle mehr. In dem Beitrag über England, dem längsten, kommt er nicht vor. Die drei Autorinnen des deutschen Beitrags, die über die »Berliner Bewegung« (Anna Schepeler-Lette und Jenny Hirsch, Übersetzerin von John Stuart Mill, für den Lette-Verein) und die »Leipziger Bewegung« (Marie Calm für den AdF) schrieben, waren die einzigen, die bei dem Begriff »Frauen-Emanzipation« länger verweilten, nämlich um ihn zurückzuweisen: Er sei in Deutschland in Verruf gekommen, weil »about fifty years ago« einige Frauen ihre Freiheit suchten »by imitating the other sex in dress, in smoking, etc.«, und das habe dann »Emanzipation« geheißen. Deshalb habe 47 »Die Frauenfrage in den verschiedenen Culturländern«, in: Unsere Zeit. Revue politischer Zeitfragen. Monatsschrift zum Conversations-Lexikon, N. F. 6, Jg. 1870, S. 60, zit. in: Bussemer (wie Anm. 46), S. 15. 48 Bericht in: NB 29 (1894), S. 117. Der »gute Sinn« wurde in fünf Punkten deutlich gemacht: »1. Verbesserung der Lage der Arbeiterinnen, 2. Beseitigung der Prostitution; 3. Stellung der Frau in der Ehe, 4. Neuschaffung von Berufszweigen für die höheren Stände und 5. privatrechtliche und politische Gleichstellung der Frau mit dem Manne.« In derselben Zeitschrift wurde »die Emanzipation« definiert als »die Befreiung unsres Geschlechtes in seinen Pflichten und Rechten« (Bd. 31 [1895], S. 103). 49 Theodore Stanton (Hg.), The Woman Question in Europe, New York 1884 (ND 2008), S. V, XIIIf. Bei seiner Gründung hatte der Lette-Verein betont, dass es ihm nur um Frauenarbeit, nicht um »politische Emanzipation« gehe; vgl. Bäumer (wie Anm. 13), S. 46.

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man – so die Berlinerinnen – »tacitly agreed to avoid its [des Wortes] use, al­ though it was impossible to find one which could exactly replace it«, und – so Marie Calm für den AdF – »the leaders of the present movement […] carefully discarded […] the word emancipation.«50 Auch der Beitrag aus Holland rekurrierte auf »Emanzipation« nur, um auf deren Gegner hinzuweisen, männliche wie weibliche: Seien die holländischen Frauen etwa Sklavinnen, die der Freilassung bedürften? (Die Niederlande hatten die Sklaverei in ihren Kolonien 1863 abgeschafft.) Auch in dem Beitrag über Frankreich, den Theodore Stanton selbst schrieb, kommt das E-Wort kaum vor, und die Italienerin benutzt »Frauenemanzipation« nur, um zu demonstrieren, dass sie – und wenn schon nicht das Wort, so doch die Sache – nicht etwa aus den USA stamme, sondern aus der italienischen Renaissance.51 Und doch rekurrierte Helene Lange 1889 in einem programmatischen Vortrag auf jenen Begriff und definierte ihn neu: Die Frau werde sich ihrer Bedeutung »als Mensch« bewusst, »verlangt Menschenrechte« und damit den »Fortschritt vom Gattungswesen zur Individualität, zum freien Menschen, der das Recht der Selbstbestimmung fühlt« – und darin liege das »eigentliche Wesen« und die »ethische Bedeutung« der noch geächteten »Frauenemanzipation«.52 Schließlich, im Jahr 1904, bezeichnete Gertrud Bäumer mit »Frauenemancipation« die organisierte Frauenbewegung seit den 1860er Jahren, die »Menschenrechte« und das »Recht auf Arbeit« forderte und zu der jetzt ganz neue Forderungen hinzuträten.53 Begriffsgeschichtlich ist an dieser Stelle zweierlei festzuhalten: Erstens hat sich seit etwa 1860 der Begriff »(Frauen-)Emanzipation«, soweit er positiv und richtungweisend benutzt wurde, gewandelt (und nicht nur im Deutschen); dabei trat er quantitativ zurück und wurde meist durch andere Termini ersetzt: »Frauenfrage« und »Frauenbewegung« wurden nun zu den entscheidenden Prozessund Leitbegriffen; Die Frauenbewegung hieß ab 1895 auch das Journal der radikalliberalen Feministinnen. In dem großen, heute nur noch wenig beachteten Werk »Illustriertes Konversations-Lexikon der Frau«, erschienen im Jahr 1900, verweist das Lemma »Frauenemancipation« schlichtweg auf das unmittelbar folgende und – wie das gesamte Werk – international angelegte Lemma »Frauenfrage und Frauenbewegung«: In diesem Konzept hat also der ältere Begriff

50 Ebd., S. 140, 154. Die Autorinnen hatten gute Englischkenntnisse und schrieben ihre Beiträge selbst. Der Lette-Verein, gegründet 1866, bemühte sich darum, Ausbildung und Erwerbsmöglichkeiten für Frauen der Mittel- und Unterschichten zu schaffen, während der AdF dasselbe für die mittleren und höheren Schichten tat, bald über diese Schwerpunktsetzung hinausging und einen weiteren feministischen Horizont hatte. 51 Ebd., S. 161, 311. 52 Helene Lange, Die ethische Bedeutung der Frauenbewegung, Berlin 1889 (Vortrag auf der 15. Generalversammlung des AdF); auch in: dies., Kampfzeiten (wie Anm. 45), S. 72–85, Zitat S. 72 f. 53 Gertrud Bäumer, Die Frau in der Kulturbewegung der Gegenwart, Wiesbaden 1904, S. 10; vgl. dazu auch unten, bei Anm. 79.

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seine Aufhebung gefunden.54 Die im folgenden Jahr erscheinende und seither weithin bekannte »Geschichte der Frauenbewegung in den Kulturländern«, erster Band des fünfbändigen, von Helene Lange und Gertrud Bäumer herausgegebenen »Handbuchs der Frauenbewegung«, bestätigt jenen Befund angesichts der siebzehn Autorinnen, die im ersten Band schrieben; mit spitzer Feder zitiert Bäumer hier einen bekannten männlichen Publizisten, der 1871 auch den neuen Begriff zurückwies und »von einer Frauenfrage« selbst »den Namen ablehnen« wollte: »Wir begeben uns mit ihm in Feindesland. Uns ist sie keine Frage.«55 Und in Lily Brauns ebenfalls bald berühmtem Buch »Die Frauenfrage« von 1901 – zu dieser Zeit war die sozialdemokratische Autorin gerade von der dogmatischen Clara Zetkin aus den sozialdemokratischen Frauenaktivitäten ausgeschlossen worden –, taucht »(Frauen-)Emanzipation« zwar öfters auf, aber mehr als Leerformel denn als analytischer, deskriptiver oder politischer Begriff.56 Zweitens wurde das E-Wort nun weitaus häufiger und oft pathetischer von den Gegnern der Bewegung verwandt als von deren weiblichen oder auch männlichen Anhängern, und bei jenen Antifeministen (nicht aber bei den Feministinnen und Feministen) wurde er nun zum offenen Kampfbegriff. So schleuderte der französische Innenminister 1873 den Verfechterinnen von »les droits des femmes« (so hieß auch der neugegründete nationale Verein) entgegen, dass »ihre Theorien über die Emanzipation der Frauen subversiv, gefährlich, unmoralisch« seien.57 In Deutschland denunzierte etwa Heinrich von Treitschke  – zur selben Zeit, als er seine judenfeindlichen Auslassungen publizierte – in seiner jährlich stattfindenden Lieblingsvorlesung über »Politik«, die von Tausenden besucht wurde, auch die »unglückselige Idee einer Emanzipation der Weiber«. In aggressiver Polemik, die schon damals nichts mit dem Stand der Geschichtswissenschaft zu tun hatte  – und natürlich bald von der Frauenbewegung aufgespießt wurde –, verurteilte er »die verrückte Emancipationslehre« und die »Emancipationsbestrebungen des weiblichen Geschlechts«, die er seit der Antike wirken und jetzt wieder »überall so plump und an­maßend hervortreten« sah (sein Vorwurf, es handle sich um »baaren Unsinn«, ver54 Frauenfrage und Frauenbewegung, in: Illustriertes Konversations-Lexikon der Frau in zwei Bänden [Herausgeber nicht angegeben], Berlin 1900, Bd. 1, S. 381–392 (die Autorschaft dieses Artikels ist im Mitarbeiterverzeichnis nicht angegeben): ein historischer und aktueller Überblick, der mit Frankreich, England und Deutschland beginnt. Ein eigenes Lemma hat die Oesterreichisch-Ungarische Frauenbewegung, verfasst von Marie Boßhardt u. a. (Bd. 2, S.  237–271). Das Lemma »Emancipation« behandelt (ungeachtet aller im 19. Jahrhundert stattgehabten Emanzipationen) nur die althergebrachte Entlassung von Kindern aus der väterlichen Gewalt (I, S. 271). Koselleck geht nicht auf die drei hier genannten Lemmata ein, sondern nur auf »Die Frau in der Sozialdemokratie« (Bd. 2, S. 475–486), verfasst von Lily Braun; vgl. Koselleck (wie Anm. 5), S. 191 f. 55 Philipp v. Nathusius, zit. in: Bäumer (wie Anm. 13), S. 68. 56 Vgl. Lily Braun, Die Frauenfrage. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre wirtschaftliche Seite, Leipzig 1901. Eine Fortsetzung war geplant, erschien aber nicht; vgl. Alfred G. Meyer, The Feminism and Socialism of Lily Braun, Bloomington 1985, bes. S. 60 f., 71 f. 57 Zit. in: Stanton (wie Anm. 49), S. 249 (von mir aus dem Englischen übersetzt).

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dient allerdings nichts Besseres, als ihm selbst gemacht zu werden).58 Eine »Geschichte der deutschen National-Literatur« packte in ihren letzten und kurzen Abschnitt »Die Dichterinnen« und schloss dabei alle »sogen. emancipierten« aus.59 Und der kämpferische Antisemit Otto Glagau tönte 1870: »Frauenfrage! – Frauenverein!!  – Frauenemancipation!!!  – Überall, wohin man hört, […] tönen Einem jetzt diese Worte entgegen, werden diese Themata jetzt regelmäßig und mit wahrer Leidenschaft discutirt.«60 Vierzig Jahre später, als es eigentlich schon zu spät war, wurde der »Deutsche Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation« gegründet, der wiederum ebenso frauenfeindlich wie antisemitisch war. Manches spricht dafür, dass sich der heutige Terminus »Emanze« noch aus den Polemiken jener Zeit speist.61 Einige Charakteristika der zweiten und dritten Phase seien hier umrissen, um dabei einige weitere Begriffe aus dem Umfeld der onomasiologischen Alternativen und Ergänzungen ins Spiel zu bringen. Frauen assoziierten sich nun, und zwar um die Frauenfrage selber und möglichst aus eigener Kraft zu lösen. Das war das emphatische Konzept der »Selbsthilfe« als Assoziationsprinzip. In der schon älteren Emanzipationsterminologie ausgedrückt, ging es jetzt nicht mehr nur um die Forderung, »freigelassen« zu werden, sondern um den re­f lexiven Gebrauch: darum, sich selbst zu emanzipieren, um Selbstbefreiung. Auf diesem reflexiven Emanzipationsbegriff insistierte, neben den Gründerinnen des AdF und ihren Nachfolgerinnen, auch Fanny Lewald: Es sei nicht damit getan, »daß man die Frauen durch Gesetze emancipiert, so lange sie sich nicht von sich selber und ihren bisherigen Gewohnheiten emancipieren.« »Selbstemancipation« oder »Selbsterhebung«, die letztlich zu den »Menschenrechten« führten, bedeutete hier wie anderswo: Frauen, besonders der Oberschicht, hätten erst einmal abzulassen von alten Gewohnheiten wie Putzsucht, Koketterie und Herablassung gegenüber den Unterschichten.62 58 Heinrich von Treitschke, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, hg. v. Max Cornicelius, Leipzig 1897, Abschnitt »Familie«, S. 242, 248 f., 252, außerdem S. III. Zu den Auslassungen Treitschkes vgl. Bäumer (wie Anm. 13), S. 35. 59 Gustav Brugier, Geschichte der deutschen National-Litteratur nebst kurzgefaßter Poetik. Für Schule und Selbstbelehrung, Freiburg i. Br. 18888, S. 638. 60 Otto Glagau, Gegen die »Frauen-Emancipation«, in: Der Bazar 22, 8.6.1870, S.  181, zit. in: Bussemer (wie Anm. 46), S. 14. Vgl. Ute Planert, Antifeminismus im Kaiserreich: Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998; Daniela Weiland, Otto­ Glagau und der »Kulturkämpfer«. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus im frühen Kaiserreich, Berlin 2004. 61 Hier sei ausnahmsweise Wikipedia zitiert (Okt. 2012): »Die Bezeichnung Emanze wurde insbesondere seit den 1970er-Jahren in der Umgangssprache oft abwertend verwendet … Abwertend als Emanze bezeichnet werden dabei häufig Frauen, die sich nicht entsprechend dem Rollenverständnis des Abwertenden verhalten.« Auch in den Duden ist der Begriff aufgenommen. 62 Lewald, Für und wider die Frauen (wie Anm. 41), S. 195, 204. Zu dieser unter engagierten Frauen gängigen Mahnung vgl. z. B. Iris Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt. Frauen­ bewegung und Sozialreform 1890–1914, Frankfurt a. M. 2001, z. B. S. 44–49.

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Die Mitglieder dieser neuen Vereine waren Frauen, aber auch Männer waren willkommen, zumindest ehrenhalber. Bei der Gründung des AdF waren noch männliche Sympathisanten zugegen, wie der Frauenfreund August Bebel, und anfangs konnte eine Mitgründerin, die Leipzigerin Henriette Goldschmidt, sich noch nicht vorstellen, einem Verein anzugehören, dem nicht auch ihr Mann angehörte, der Rabbi Goldschmidt. In Frankreich waren auch Männer reguläre Mitglieder der »Association pour le droit des femmes« (1870), und den Vorsitz hatten eine Frau und ein Mann inne.63 Während damals so gut wie alle von Männern gegründeten Vereine, die als ein wichtiges Element der modernen Zivilgesellschaft gelten, die Frauen ausschlossen, bedeutete die Mehrzahl der Frauenvereine eine innovative und alternative Form von Zivilgesellschaft. In den 1870er Jahren existierten in Deutschland nur wenige hundert Frauenvereine, 1908 gab es über 70 Reichsverbände, über hundert regionale Verbände und rund 7.300 lokale Frauenvereine64 – allerdings gehörten viele von ihnen keineswegs der Frauenbewegung an. Die Ziele und Aktivitäten derjenigen, die ihr angehörten, also Reformen zugunsten von Frauen anstrebten, waren überaus vielfältig: Kindergärten und Kinderhorte in der innovativen Fröbelschen Art, die den Arbeiterinnen die Erwerbstätigkeit erleichterten; Hauspflege für Wöchnerinnen und kranke Arbeiterinnen; Arbeiterinnenklubs; Schaffung und Vermittlung von Arbeitsplätzen für Mittelstandsfrauen; Vermittlung von Bildung aller Art, in selbstgeschaffenen Schulen und gelegentlich einer »Hochschule für das weibliche Geschlecht«. Wenn auch keine dieser Organisationen »Emanzipation« im Titel führte, so indizierten ihre Namen doch eine Erweiterung der privaten und vor allem öffentlichen Tätigkeitsfelder von Frauen. Der niederländische Beitrag zu Stantons »The Woman Question in Europe« benannte das Phänomen, von dem auch die anderen berichteten: »Die Definition des Wortes weiblich erweitert sich von Tag zu Tag, und wenn die Gesellschaft zögert, uns zu geben, was unser Recht ist, dann assoziieren sich unsere Frauen und bilden für sich selbst Organisationen, die denjenigen ähneln, von denen sie ausgeschlossen sind.«65 Was die Forderungen nach außen betrifft, an Regierungen und andere Männer, so standen in der zweiten Phase drei Ziele im Vordergrund: Zulassung zu umfassender Bildung, sowohl um ihrer selbst willen als auch zur Qualifizierung für Erwerbsarbeit und Familienarbeit; Zugang mittelständischer Frauen zu Erwerbsmöglichkeiten und Schutz von Unterschichtfrauen gegen Armut und Ausbeutung; schließlich die Reform des Ehe- und Familienrechts im Sinn von 63 Vgl. Florence Rochefort, The French Feminist Movement and Republicanism, 1868–1914, in: Sylvia Paletschek u. Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Women’s Emancipation Movements in the 19th Century: A European Perspective, Stanford, CA 2004, S. 77–101. 64 Vgl. Stefan-Ludwig Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750–1914, Göttingen 2003, S. 18, 33, 45–62, 81, 88 f., 103, 113 f.; Angelika Schaser, Frauenbewegung in Deutschland 1848–1933, Darmstadt 2006, S. 38–40; Statistik der Frauenorganisationen im Deutschen Reiche, bearb. im Kaiserlichen Statistischen Amte, Berlin 1909 (1. Sonderheft zum Reichs-Arbeitsblatte). 65 Elise van Calcar, Holland, in: Stanton (wie Anm. 49), S. 167.

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Gleichberechtigung der Eheleute und die Gewährung des Sorgerechts für die Kinder, das bisher ausschließlich bei den Vätern lag, auch an Mütter. In dieser zweiten Phase stand auf dem europäischen Kontinent die Frage des Frauenwahlrechts noch im Hintergrund (in Großbritannien und den USA war man schon etwas weiter, wenngleich in den 1860er/70er Jahren die Kampagnen dafür gerade erst begonnen hatten und vorerst scheiterten). Die erste deutsche Frauenstimme, die sich damit ausführlich befasste, war die von Fanny Lewald, und zwar im Jahr 1870, also zu einer Zeit, als das Deutsche Reich noch nicht existierte, aber immerhin im Norddeutschen Bund schon das unbeschränkte Männerwahlrecht galt (damals nannte man es »allgemeines Wahlrecht«). Lewald war aus den Vereinigten Staaten gefragt worden, ob sie die »politische Emancipation« der Frauen für notwendig erachte. In der Tat erschien ihr das Frauenwahlrecht vernünftig, notwendig und letztlich nur eine Frage der Zeit; allerdings sei es dafür in Deutschland, realistisch gesehen, noch zu früh.66 Auch Hedwig Dohm meinte 1873 – inzwischen gab es den Reichstag, den sämtliche erwachsenen Männer mit gleichem Stimmengewicht wählen konnten  –, dass die Erringung des Frauenwahlrechts bloß »eine Frage der Zeit sei« und wohl noch ein halbes Jahrhundert dauern würde; aus demselben Grund platzierte Louise Otto ihr Plädoyer für »gesetzliche Mitwirkung«, »politische Rechte«, »weibliches Wahlrecht« sowie ihre Kritik an dem Begriff »allgemeines Stimmrecht« in ihrem Buch von 1876 in das Kapitel »Zukunftshoffnungen«.67 In England ließ zwar sogar das unbeschränkte Männerwahlrecht noch bis 1918 auf sich warten (das für Frauen noch ein weiteres Jahrzehnt), aber hier nannte man es häufig auch manhood suffrage, und somit war das Englische die einzige europäische Sprache, die den wahren Sachverhalt treffend ausdrückt. In der dritten Phase, also ab ca. 1890, rückten drei zusätzliche Ziele in den Vordergrund. Erstens thematisierten nun Frauen in vielen Ländern den Kampf um das Frauenwahlrecht explizit und mit neuer Energie. Zweitens ging es um neuartige sozialreformerische Aktivitäten, die den Bedürfnissen von Unterschichtfrauen Rechnung tragen sollten; sie spielten sich großenteils auf Gemeindeebene ab, und bezüglich der Ziele und Methoden distanzierten sich ihre Trägerinnen von der traditionellen Armenpflege, also von mehr oder weniger barmherziger Herablassung und Almosen. Frauen in vielen Ländern gehörten zu den Begründern der modernen »Sozialen Arbeit« (der Begriff kam Ende des 19. Jahrhunderts auf). Drittens begannen die Frauenbewegungen der diversen Länder in der dritten Phase sich, über einzelne Netzwerke hinaus, systematisch zu internationalisieren: mit einer wachsenden Zahl von transnationalen Organisationen, deren Zahl nach dem Ersten Weltkrieg im Kontext des Völkerbunds 66 In den USA war ein Jahr zuvor in dem Territorium (später Staat) Wyoming das Frauenwahlrecht eingeführt worden. Vgl. Fanny Lewald, Die Frauen und das allgemeine Wahlrecht, in: Westermann’s illustrirte deutsche Monats-Hefte, Bd. 28, April 1870, S. 97–103; vgl. Schneider (wie Anm. 41), S. 103. 67 Dohm, Jesuitismus (wie Anm. 43), S. 214; Otto, Frauenleben (wie Anm. 37), S. 257–262.

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nochmals zunehmen sollte und von denen einige seit 1945 den Konsultativ­ status bei den Vereinten Nationen innehaben.68 Angesichts der Vielfalt von Zielen, die den vielfältigen Dimensionen der Geschlechterhierarchie entsprach, konnte der alte Begriff »Emanzipation« nicht mehr genügen, und auch das trug dazu bei, dass er seltener und oft eher ab­ strakt-summarisch verwendet wurde. Die Niederländerin Cécile Goekoop de Jong van Beek en Donk, die 1897 den für die holländische Frauenbewegung zentralen (Bildungs-)Roman »Hilda van Suylenburg« publizierte, drückte das so aus: »Man kann in der Tat keine Formel für ›Frauenemanzipation‹ finden, denn die Idee der Emanzipation umfasst zu viel und ist zu übergreifend, um in ein paar Worten definiert zu werden.«69 Gleichwohl lassen sich hinter der Vielfalt der Ziele einige allgemeinere, politisch-philosophische Elemente jener Idee knapp umreißen. Erstens und ganz fundamental richtete sie sich gegen die traditionelle Annahme von weiblicher Inferiorität und männlicher Superiorität, gleichgültig ob sich diese Annahme in Diskriminierung oder scheinheiliger Glorifizierung von Frauen ausdrücken mochte. Zweitens wurde viel über »Natur« oder »Wesen« der Frau (und natürlich auch des Mannes) debattiert. Das hauptsächliche Ergebnis war: Frauen seien keineswegs bloß »Gattungs«- oder »Geschlechtswesen«, sondern »Menschen« und Individuen, mit Rechten und Pflichten. Sie wollten und sollten sich ändern, aber nicht, um prinzipiell wie Männer zu werden; die Geschlechter seien in mancherlei Hinsicht verschieden, aber niemand sei dazu berufen, solche Unterschiede festzulegen. Verschiedenheit der Geschlechter widerspreche keineswegs der Forderung nach Gleichheit, sondern im Gegenteil: Gleichheit mache nur dann Sinn, wenn sie auch den Nicht-Gleichen, dem »anderen Geschlecht« zukomme. »Égalité« heiße nicht »identité«, argumentierten George Sand und viele andere Französinnen, und »égalité dans la difference« war eine französische Formel, die auch international weithin Geltung erlangte. So widersprach Hedwig Dohms Ruf nach weiblichen »Menschenrechten« keineswegs ihrem Glauben »an eine Verschiedenheit der männlichen und weiblichen Seele« – im Gegenteil –, und für Catherine Barmby, die schon genannte Autorin der Schrift zur »emancipation of women«, galt: »The equality of woman and man must be our rallying cry. […] But­ although we would equalize, we would not identify the sexes. […] Woman and man are two in variety and one in equality.«70 Drittens: Der gegenwärtige Staat 68 Vgl. Anderson, Greetings (wie Anm. 18) und das letzte Kap. in diesem Band. 69 Zit. in: Mineke Bosch, Het geslacht van der wetenschap. Vrouwen en hoger onderwijs in Neder­land 1878–1948, Amsterdam 1994, S. 117; außerdem in dies., History and Historiography of First-Wave Feminism in the Netherlands, 1860–1922, in: Paletschek u. Pietrow-­ Ennker (wie Anm. 63), S. 53–76, hier S. 59 f. 70 Dohm, Natur und Recht (wie Anm. 43), S. 1; Barmby (wie Anm. 20), S. 391; égalité dans la différence: z. B. in Stanton (wie Anm. 49), S. 242; Florence Rochefort, L’égalité dans la différence: les paradoxes de la République, 1880–1940, in: Marc Olivier Baruch u. Vincent Duclert (Hg.), Serviteurs de l’État: Une histoire politique de l’administration française, 1875–1945, Paris 2000, S. 181–196.

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sei ein »Männerstaat«; das sogenannte Gemeinwohl, das er versprach, sei tatsächlich ein »Männerwohl«. Dem setzte man das »Frauenwohl« entgegen und überdies den hohen Anspruch, dass erst dann, wenn auch Frauen überall mitwirkten, ein wahrhaftes »Gemeinwohl« entstehen könne; dem entsprach das Pathos der Pflicht, das – wie schon bei Mary Wollstonecraft – dem Pathos der Rechte an die Seite gestellt wurde. Im Übergang von der zweiten zur dritten Phase taucht nun ein neuer Begriff auf, erneut eine »onomasiologische Alternative« zu »Emanzipation«, über den wiederum lange – und bis heute – disputiert werden sollte: »Feminismus«. Erstmals nachzuweisen ist er für das Jahr 1872: Alexandre Dumas der Jüngere prägte das Wort für die ungebührliche Anmaßung, weibliche Inferiorität und männliche Superiorität in Frage zu stellen; diejenigen, die das taten, nannte er »les féministes« und bat um Nachsicht für diesen »néologisme«.71 Wirklich in Umlauf gebracht wurde das Wort allerdings durch Hubertine Auclert, die unermüdliche Kämpferin für die weibliche citoyenneté, die sich seit 1882 selbst als »féministe« bezeichnete, im Sinn von »partisan de l’affranchisse­ ment des femmes«. In den 1890er Jahren diente das neue Wort als Titel für Frauenkongresse sowie für einige Werke männlicher Historiker, die  – gleichsam anachronistisch  – über den »féminisme français« in älteren Zeiten handelten.72 Schnell rezipiert wurde das Wort in den anderen romanischen Sprachen, auch in Lateinamerika. Auch in Deutschland trat es auf, ebenso in den Niederlanden, wenngleich nur sporadisch: 1896 wurde auf dem internationalen Frauenkongress in Berlin vor großem Publikum von dem neuen Wort berichtet, das durch die Presse verbreitet worden sei; »Frauenfrage« hieß hier nun »question féministe«.73 1898 wurde in »Neue Bahnen«, der Zeitschrift des AdF, Käthe Schirmachers internationale Darstellung von »Le féminisme« besprochen; diesen Begriff, der sich »schwer übersetzen« lasse, definierte die Rezensentin als »die Richtung«, welche »die Entwickelung des weiblichen Geschlechtes und seiner Rechte vertritt« sowie »das auf die Befreiung des weiblichen 71 Alexandre Dumas Fils, L’Homme-Femme. Réponse à M. Henri d’Ideville, Paris 1872, S. 91. Vgl. Karen Offen, On the French Origin of the words »Feminism« and »Feminist«, in: Feminist Issues 8/2 (1988), S. 45–51; dies., European Feminisms, 1700–1950: A Political History, Stanford, CA 2000, S. 19–23; Rochefort (wie Anm. 63), S. 91 f. 72 Vgl. etwa Charles Turgeon, Le Féminisme Français, Bd.  I: L’Émancipation individuelle et sociale de la Femme, und Bd.  II: L’Émancipation politique et familiale de la Femme, Paris 1907; Jules Tixerant, Le Féminisme de l’Époque de 1848 dans l’Ordre politique et dans l’Ordre Économique, Paris 1908; Léon Abensour, Le Féminisme sous le règne de Louis-­ Philippe et en 1848, Paris 1913. Vgl. auch das Kap. über die »Querelle des femmes« in diesem Band, bei Anm. 48–50. 73 Eugénie Potonié-Pierre, in: Der Internationale Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin, 19.  bis 26. September 1896, hg. v. Rosalia Schoenflies u. a., Berlin 1897, S. 39 f.; zu den Niederlanden vgl. Maria Christina Rosalia Grever, Strijd tegen de stilte. Johanna Naber (1859–1941) en de vrouwenstem in geschiedenis, Diss. Kath. Universität Nijmegen 1994, S. 31 f.

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Geschlechtes gerichtete Gesamtstreben von Frauen und Männern.«74 Die unermüdliche Hedwig Dohm publizierte 1902 das Büchlein »Die Antifeministen«; Gegenstück zu den letzteren war hier aber nicht »Feminismus« oder »Feministen«, sondern nach wie vor »Frauenbewegung« und »Frauenrechtler/innen«.75 Gelegentlich wurde »Feminismus« für »die radikale Linke« der Frauen­ bewegung benutzt, die bekämpft werden müsse: so 1904 Sebald Steinmetz, Stammvater der niederländischen Soziologie, der allerdings noch »nicht so recht« wusste, »was unter diesem Namen zu verstehen sei«, ihn aber dann auf die Forderung nach Bezahlung der Hausfrauenarbeit bezog.76 Doch keine der Strömungen innerhalb der deutschen Frauenbewegung reklamierte den Begriff für sich. Auch die kleine aber lautstarke Bewegung (von mehr Männern als Frauen), die zu dieser Zeit entstand, in deren Zentrum Helene Stöcker stand und die sexuelle Freiheit für alle bzw. eine »Reform der Erotik« anstrebte, griff weder auf »Feminismus« noch auf den Emanzipationsbegriff zurück, der, wenn auf Frauen und Heterosexualität bezogen, im 19. Jahrhundert doch ähnliche Konnotationen gehabt hatte; ihr Programm nannten sie »Neue Ethik«.77 Ungeachtet der großen Namen, die sich ihr (wenigstens zu Anfang) angeschlossen hatten, distanzierten sich andere große Namen davon, etwa Marianne und Max ­Weber (»Grober Hedonismus und eine Ethik, die nur dem Manne zugute käme, als Ziel der Frau – das ist einfach Quatsch«). Als Helene Lange sich 1908 von jener »Hurra-Erotik« distanzierte, tat sie das unter dem Titel »Feministische Gedankenanarchie«, wobei ihr freilich das Substantiv wichtiger war als das Adjektiv.78 Deutlicher (und weniger polemisch) hatte Gertrud Bäumer schon 74 A. S., Besprechung von: Käthe Schirmacher, Le Féminisme: Aux États-Unis, en France, dans la Grande-Bretagne, en Suède et en Russie, Paris 1898, in: NB 33 (1898), S. 195. In Schir­ machers Buch: Die moderne Frauenbewegung. Ein geschichtlicher Überblick, Leipzig 1905, das 30 Länder behandelt, verzichtet die Autorin auf den Begriff (außer in Bezug auf einige französische Organisationsnamen). In einem anderen Kontext wurde in NB als feministisch diejenige »Richtung« definiert, die sich gegen die Arbeiterinnenschutzgesetzgebung aussprach (Bd. 34, 1899, S. 171), ähnlich auch in Alice Salomon, Literatur zur Frauenfrage: Die Entwicklung der Theorie der Frauenbewegung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozial­politik 26 (1908), S. 451–500, hier S. 456 f.; zu »Emanzipation« S. 458–460; Schröder (wie Anm. 62), S. 144. 75 Hedwig Dohm, Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung, Berlin 1902. 76 Ihm selbst ging es um die Erhaltung der »Rasse« durch zahlreichen Nachwuchs tüchtiger und schöner Frauen: Sebald Rudolf Steinmetz, Feminismus und Rasse, in: Zeitschrift für Sozialwissenschaft 7 (1904), S. 751–768. 77 Vgl. Helene Stöcker, Zehn Jahre Mutterschutz, Berlin 1915, S. 5–8; Theresa Wobbe, Gleichheit und Differenz: Politische Strategien von Frauenrechtlerinnen um die Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1989, Kap.  D; Christl Wickert, Helene Stöcker 1869–1943: Frauenrechtlerin, Sexualreformerin und Pazifistin, Bonn 1991, Kap.  6–8; Ann Taylor Allen, German Radical Feminism and Eugenics, 1900–1918, in: GSR 11 (1988), S. 31–56 (gekürzte Übersetzung in: FSt 9 [1991], S. 46–68). 78 »Feministisch« kommt nur im Titel vor, nicht im Text (und auch nicht in anderen Texten von Lange); vgl. Helene Lange, Feministische Gedankenanarchie, in: Neue Rundschau 19/3 (1908), S. 399–404, auch in: dies., Kampfzeiten (wie Anm. 45), Bd. 1, S. 1–8, Zitat S. 8.

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einige Jahre vorher argumentiert und dabei – plakativer als Lange – »Feminismus« benutzt, und zwar im Sinn von politischem Denken. Sie setzte sich mit den neuen Tendenzen zu einer libertären Lösung des »sexuellen Problems«, des »Liebesproblems« auseinander und brachte dem Postulat von »freier Liebe« sowie »Recht auf Mutterschaft« auch ohne Ehe (»der Mann als Mittel zum Kinde«) einiges Verständnis entgegen. Neben das ältere »auf Gleichberechtigung beruhende feministische Bekenntnis«, »den älteren liberalen Feminismus«, den »emancipatorischen Zweig des Feminismus« mit seiner Parole der Frauenbefreiung – oder auch: neben die »fast asketische Geringschätzung des Weibtums durch die ersten Enthusiastinnen der Menschenrechte«  – sei in dieser neuen Bewegung eine subjektivistische Forderung getreten: die nach weiblicher Individualisierung, nach Entfaltung weiblicher Eigenart, bei der »das Frauentum über das Menschentum im Weibe« erhoben werde. Das war es, was Bäumer den »modernen Feminismus« nannte. Sie beharrte indessen entschieden darauf, dass »eine Forderung«, welche von der neuen Tendenz romantischerweise verachtet werde, im Zentrum des »ganzen frauenrechtlerischen Programms« stehen müsse: »die öffentliche Anerkennung der Frau als Bürgerin in Gemeinde und Staat«. Bäumer distanzierte sich im selben Maß von dem »modernen Feminismus«, wie dieser »nicht Menschenrechte, sondern das Recht zur Liebe und Mutterschaft an die Spitze« stelle, den Ausschluss der Frauen vom Staat als Arbeitsteilung mit den Männern legitimiere und somit die Frauenbewegung von jener »letzten Konsequenz des Emancipationsgedankens« abzudrängen suche. Solchem »modernen« Feminismus setzte Bäumer, auch unter Berufung auf John Stuart Mill, den »Gedanken des Frauenstimmrechts« entgegen, der nichts anderes sei »als die politische Fassung für den Gedanken der Frauenbewegung überhaupt.«79 In England und den USA findet sich der Begriff ab 1910, aber noch nicht als Leit- oder Titelbegriff; doch etablierte er sich in der Zwischenkriegszeit. In England proklamierte Eleanor Rathbone, die vielseitige Protagonistin der britischen Bewegung, einen »new feminism«, der die Verbesserung der sozialen Das Weber-Zitat in: Marianne Weber, Max Weber: Ein Lebensbild, München 1989, S. 376 u. XXVI (Einl. v. Günther Roth). 79 Bäumer, Kulturbewegung (wie Anm.  53), Zitate S.  10, 13, 17, 20, 43 f., 48 f.; eine ähnliche Kritik (an »ästhetischem Individualismus«, »schönem Egoismus« und dem »Schrei nach dem Kinde«, aber ohne das F-Wort, findet sich bei Helene Lange, Das Endziel der Frauen­ bewegung (Rede auf dem Internationalen Frauenkongress zu Berlin), in: Die Frau 11/12 (1904), S.  705–714. Irrigerweise wurde Bäumers Argumentation neuerdings als Beleg dafür zitiert, dass die Meinung, von der sich Bäumer distanzierte, ihre eigene sei (und dass sie damit dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet habe): Ute Gerhard, The ­Women’s Movement in Germany in an International Context, in: Paletschek u. Pietrow-Ennker (wie Anm. 63), S. 102–122, hier S. 122; ebenso Heidemarie Wawrzyn, Antisemitism in the German Women’s Movement 1865–1933, Norderstedt 2011, S. 157. Der Grund des Irrtums liegt wohl darin, dass seit Jahrzehnten (zu Unrecht) pauschal behauptet wird, die »gemäßigte« Frauenbewegung habe keine Sympathie für Menschenrechte und Frauenwahlrecht gehabt.

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Lage von Frauen aller Schichten in den Blick nahm und nicht zuletzt für seine Forderung nach Kindergeld bekannt wurde, das der Staat den Müttern zu gewähren habe.80 Aber die erste Historikerin der britischen Frauenbewegung, Ray Strachey, betitelte ihr Werk von 1928 immer noch mit »History of the Women’s Movement«, und dasselbe tat im selben Jahr in Deutschland Agnes von Zahn-Harnack mit ihrem Buch »Die Frauenbewegung«.81 Als jedoch in den 1930er Jahren Nazi-Deutschland seine jüdischen und linken Bürger sowie die Welt insgesamt bedrohte, rang man in den internationalen Frauenorganisationen um eine Neubestimmung des Begriffs; viele der Diskutierenden sprachen sich dafür aus, dass »Feminismus« zu einem »Humanismus« erweitert werden müsse, der die Rechte nicht nur der Frauen, sondern aller Menschen zu verteidigen habe. Die Vorsitzende der International Alliance of Women, die 1904 in Berlin zur Beförderung des Frauenwahlrechts gegründet worden war, definierte 1936 – jetzt waren die deutschen Frauenorganisationen aus der internationalen feministischen Gemeinschaft förmlich ausgeschlossen  – »feminism« als »but the women’s side to the great doctrine of freedom of thought and speech, of ordered self-discipline, of self-government, of free loyalty to the community […]. If we insist on our rights as human beings we are fighting the battle of every man who suffers for his race, his creed, his class or his opinions.« So kam es 1939 zu der »Declaration of Principles«: »The woman’s battle is that of all mankind. There can be no freedom for women when freedom is no longer a recognised right of every individual.«82 Das war eine Erweiterung des alten feministischen Diktums, demzufolge menschliche Freiheit nichts sei, wenn sie nicht auch für Frauen gelte (etwa Mary Astells Kritik an John Locke, 1706: »If all men are born free, how is it that all women are born slaves?«).

80 Vgl. Susan Pedersen, Eleanor Rathbone and the Politics of Conscience, New Haven 2004, bes. Teil III: A New Feminism in the Making; vgl. dazu das Kap. zum Sozialstaat in diesem Band, s. unten S. 287 f. 81 Ray Strachey, The Cause: A Short History of the Women’s Movement in Great Britain, London 1928; Agnes von Zahn-Harnack, Die Frauenbewegung: Geschichte, Probleme, Ziele, Berlin 1928. Weder »Emanzipation« noch »Feminismus« kommen hier vor. 82 Zit. in: Karen Offen, Women’s Rights or Human Rights? International Feminism between the Wars, in: Patricia Grimshaw u. a. (Hg.), Women’s Rights and Human Rights. International Historical Perspectives, Basingstoke 2001, S.  243–253, hier 248 f., 252; vgl. dies., European Feminisms (wie Anm.  71), Kap.  12. Diesem Dokument entsprechend  – ebenso wie dem Ausschluss der NS-Frauenorganisationen aus den internationalen Verbänden, der Selbstauflösung vieler feministischer Vereine 1933 und der Gleichschaltung anderer Frauen­organisationen – war die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland 1933 vorerst abgeschlos­sen. Während dies meist und zu Recht anerkannt wird (z. B. in Schaser, wie Anm.  64), werden die NS-Frauen­orga­nisationen manchmal  – und zu Unrecht  – als eine Fortsetzung der Frauenbewegung »unter nationalsozialistischen Vorzeichen« gesehen; so etwa Nicole Kramer, Volksgenossinnen an der Heimatfront. Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen 2011, Kap. II.1.(b); als Beleg dienen ihr die Worte der »Reichsfrauenführerin«.

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Als dann seit den 1960er Jahren die neue (»autonome«) Frauenbewegung aufkam, war ihre Parole anfangs weder »Emanzipation« noch »Feminismus«, denn beides galt nun als altmodisch, beschränkt und auf bloß »formale« Rechte bezogen (in Italien sprach man dafür, oft abwertend, von »emancipazionismo«). Weniger »Gleichheit«, wohl aber »Freiheit« und »Selbstbefreiung« standen nach wie vor im Zentrum. Länderübergreifend nannte man sich »Frauenbefreiungsbewegung«, in der deutschen Schweiz kurz »FBB« genannt, und anderswo hieß es »movimento di liberazione della donna« (»MLD«), »women’s liberation movement« oder »women’s lib«, und »mouvement de libération des femmes« (MLF). Die frühesten Anthologien von (nicht nur) amerikanischen Texten zu dem Thema trugen Titel wie »Liberation Now! Writings from the Women’s Liberation Movement« (1971); hier taucht das Wort »Feminismus« nicht auf, der älteren Frauenbewegung wird Selbstbeschränkung auf »rechtliche Emanzipation« vorgeworfen, insbesondere auf das Wahlrecht, und im Kapitel »Why Women’s Liberation?« wird die neue Bewegung in den Kontext gleichzeitiger »freedom movements« gestellt; ebenfalls 1971 erschien »From Feminism to Liberation«. Aber das änderte sich, jedenfalls im Englischen, im Lauf des folgenden Jahrzehnts. 1972 wurde mit der Anthologie »Feminism: The Essen­tial Historical Writings« der Terminus bis ins 18. Jahrhundert zurückprojiziert, und 1973 erschien die ebenfalls erfolgreiche Anthologie »Radical Feminism«. 1988 schließlich hieß es in Großbritannien: »’68, ’78, ’88: From Women’s Libe­ ration to Feminism«  – hier gilt »feminism« als eine gereifte Variante der pathetisch-jugend­li­chen »women’s lib«. Jetzt wurde »Feminismus« endgültig zum Schlagwort und Leitbegriff, allmählich auch im Deutschen, und dementsprechend wurde und wird um seine Definition gerungen.83 Heutzutage, und zumal im amerikanischen Englisch, wird jedes frauenfreundliche Plädoyer, selbst in fernen Vergangenheiten, die den Begriff noch nicht kannten, »Feminismus« genannt  – auch wenn manche noch auf »Frauenbewegung« insistieren. »Feminismus« ist auch sehr handlich, denn er kann vieles bezeichnen: eine 83 Marlene Dixon, Why Women’s Liberation?, in: Liberation Now! Writings from the Women’s Liberation Movement, New York 1971 (rund 30 Texte, die Herausgeberinnen bleiben anonym), S. 9–24; Edith Hoshino Altbach (Hg.), From Feminism to Liberation, Cambridge, MA 1971; erw. Fassung 1984; Amanda Sebestyen (Hg.), ’68, ’78, ’88: From Women’s Liberation to Feminism, London 1988 (zur darauf folgenden Debatte: URL: http://www.redpepper.org.uk/the-f-word-from-68-to-08); Jo Freeman (Hg.), From Suffrage to Women’s Liberation: Feminism in 20th Century American, in: dies. (Hg.), Women: A Feminist Perspective, Palo Alto, CA 1975 (19955). Im Deutschen hat das F-Wort noch häufig den o.g. pejorativen Klang, und als Titelbegriff hat es »die Frauenbewegung« nicht abgelöst; vgl. etwa Ilse Lenz (Hg.), Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008 (gekürzte Version 2009). Die amerikanischen Defini­ tionsversuche umfassen sowohl triadische Konstruktionen (die »big three«: radikaler, sozialistischer, liberaler Feminismus) als auch binäre (Gleichheits-/Differenzfeminismus, egalitärer und relationaler): vgl. Karen Offen, Defining Feminism: A Comparative Historical Approach, in: Signs 14 (1988), S. 119–157; deutsch in: Hanna Schissler (Hg.), Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, Frankfurt a. M. 1993, S. 97–138.

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Ideologie oder eine Bewegung oder deren Träger (manche meinen aber auch, »Feminismus« sei die Theorie, »Frauenbewegung« die Praxis); nicht nur weibliche, sondern auch männliche »Feministen«84; und das Wort erlaubt ein praktisches Adjektiv, was sich von »Emanzipation« oder »Frauenbewegung« nicht gut ableiten lässt. Die neueste Variante ist der Plural: »feminisms« oder »Feminismen«. Ohne diesen Plural (früher war er überflüssig, weil das F-Wort ohnehin als ein übergreifendes Abstraktum galt) ist heutzutage kaum mehr auszukommen: angesichts von endlosen Debatten über richtigen und falschen Feminismus; über liberalen, radikalen oder gemäßigten; über westlichen, östlichen oder südlichen; imperialen, antikolonialen oder postkolonialen Feminismus.85

4. Frauenemanzipation und andere Emanzipationen Anders als »Frauen(befreiungs)bewegung« und »Feminismus« kann sich »Emanzipation« nicht nur auf Frauen, sondern auch auf andere Gruppen beziehen. Allerdings sind diese Anderen nicht sämtlich »anders«, denn sie bestehen immer (etwa) zur Hälfte auch aus dem »anderen« Geschlecht – und umgekehrt: Frauen gehören immer auch »anderen« sozialen oder kulturellen Gruppen an (seit einem Jahrzehnt nennt man dieses wohlbekannte Phänomen »Intersektionalität«). Ohne dieses komplexe Thema auch nur andeutungsweise erschöpfen zu wollen, sollen hier einige Aspekte – insbesondere begriffsgeschichtliche, aber auch diverse »real«-geschichtliche – der Interaktion zwischen Frauenemanzipation und drei weiteren Emanzipationsbewegungen zur Sprache gebracht werden. Frauenemanzipation und Sklavenemanzipation Die frühesten weiblichen Stimmen des langen 19. Jahrhunderts, die (ungeachtet des formalen Anachronismus) »feministisch« genannt werden können, sprachen sich ebenso deutlich wie für »Frauenfreiheit« auch für die Sklavenemanzipation aus: teils explizit, teils en passant. Olympe de Gouges, die 1791 ihre »Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne« schrieb (»Die Frau ist frei geboren«) und zwei Jahre später guillotiniert wurde, hatte sich schon seit den 1780er Jahren gegen die Sklaverei engagiert und war Mitglied der girondistischen »Société des amis des noirs« (doch ebensowenig wie für Frauen be84 Vgl. dazu Sylvia Strauss, »Traitors to the Masculine Cause«: The Men’s Campaigns for Women’s Rights, Westport, CT 1982; Angela V. John u. Claire Eustance (Hg.), The Men’s Share? Masculinities, Male Support and Women’s Suffrage in Britain, 1890–1920, London 1997. 85 Zur Pluralisierung des Begriffs vgl. z. B. Bonnie G. Smith, Global Feminisms since 1945, London 2000; Karen Offen, Globalizing Feminisms, 1789–1945, New York 2009; Francisca de Haan u. a. (Hg.), A Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminisms: Central, Eastern, and South Eastern Europe, 19th and 20th Centuries, Budapest 2006.

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nutzte sie für die Sklaven das Wort »Emanzipation«). Ihr Drama »L’esclavage des nègres« führte zu einem Theaterskandal, bei dem französische Kolonialherren dafür sorgten, dass es von der Bühne abgesetzt wurde. Und Mary Wollstonecraft hatte schon zwei Jahre vor ihrer Schrift über die Frauenrechte ihre »Vindication of the Rights of Man« (1790) publiziert, in der sie Edmund Burkes Kritik an der französischen Menschenrechtserklärung scharf angriff und dabei auch gegen Sklavenhandel und Sklaverei polemisierte.86 Feministinnen und Feministen in Europa bezogen sich im gesamten 19. Jahrhundert in doppelter Hinsicht auf die Sklaverei: zum einen sprachen sie sich häufig offen gegen sie aus, zum anderen benutzten viele von ihnen den Begriff »Sklaverei« für das Geschlechterverhältnis, sei es als Metapher oder als Kennzeichnung der Realität. Berühmt ist der schon genannte Aphorismus von Mary Astell, demzufolge, während die Männer frei geboren seien, »all women are born slaves« – und er fand 1843 sein Echo in dem Motto einer Schrift der Schottin Marion Kirkland Reid: »Can man be free, if woman be a slave?«87 Anna Doyle Wheeler und William Thompson denunzierten im Untertitel (und Text) ihrer schon genannten Schrift die »civil and domestic slavery« der weiblichen Hälfte der Menschheit, und ähnlich verfuhren in den deutschen Staaten Theodor Gottlieb von Hippel (1792: »man erniedrigt ein ganzes Geschlecht zur Sklavenklasse«), Fanny Lewald (für das weibliche Geschlecht bedeute der »so vielfach gemissbrauchte Ausdruck« Emanzipation »zu Deutsch Befreiung aus dem Sclavenbande«)88, Malwida von Meysenbug und Hedwig Dohm in vielen ihrer Schriften. Der bekannteste Fall dieser Analogiebildung ist John Stuart Mills Schrift »The Subjection of Women« von 1869, die er zusammen mit seiner Frau Harriet Taylor Mill verfasste; schnell in viele Sprachen übersetzt, wurde sie schon im selben Jahr von der jüdischen Feministin Jenny Hirsch ins Deutsche übertragen, unter dem Titel »Die Hörigkeit der Frau« (»Hörigkeit« steht hier im rechtsgeschichtlichen Sinne für Leibeigenschaft), während es auf holländisch ein Jahr später unter dem Titel »De slavernij der vrouw« (Sklaverei der Frau) erschien. Mills Sicht von »slavery« war das Gegenstück zu seinem hochgespannten Konzept von »liberty«89 und ging dementsprechend über bloße Metaphorik hinaus. Vielmehr bemühte er sich um einen ebenso historischen wie systema­tischen Vergleich zwischen Sklaverei und der Situation von (briti86 In der Edition von 1995 (wie Anm. 12): S. 13, 32, 62. 87 Mary Astell, Reflections upon Marriage [1700], 3. Ausgabe, 1706, in: dies., Political Writ­ ings, hg. v. Patricia Springborg, Cambridge 1996, S.  18 mit der begriffsgeschichtlichen Anm. 20; Marion Kirkland Reid, A Plea for Woman, Edinburgh 1843 u.ö. (ND 1988). 88 Lewald, Für und wider die Frauen (wie Anm. 41), S. 144. 89 Mills Subjection erschien im 19. Jahrhundert dreimal zusammengebunden mit seinem bekanntesten Buch, »On Liberty« (1859). Vgl. ders., Die Hörigkeit der Frau. Kurze Uebersicht über den gegenwärtigen Stand der Frauenfrage, dt. von Jenny Hirsch, Berlin 1869, 18722, 18913, Neuaufl. 1976 (zus. mit anderen einschlägigen Schriften, Einl. v. Hannelore ­Schröder); Neuübersetzung v. Ludwig Stöckmann: Berlin 1891; Teilübersetzung v. Alexander Reyer (u. d. T. »Die Unterordnung der Frau«): Graz 1869.

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schen) Frauen, wobei er auch Einwände – etwa bezüglich der Freiwilligkeit der Eheschließung  – diskutierte. Seine Argumentation kulminierte in der Analyse der eheweiblichen Unterordnung, die im Common Law geradezu als NichtExistenz formuliert war: »By marriage, the husband and wife are one person in law: that is, the very being or legal existence of the woman is suspended during the marriage«. Zwar ging Mills Analyse der Ehe als Sklaverei durch die internationale Wirkmacht seines Buchs in den feministischen Diskurs ein, aber längst nicht alle Frauen billigten sie (und erst recht nicht männliche Publizisten wie etwa Treitschke, der sie scharf attackierte). Sie mochte, so argumentierte etwa die britische Schriftstellerin Margaret Oliphant, für Oberschichtfrauen gelten; doch übersehe sie gerade bezüglich der Unterschichten etwas, was man heutzutage agency nennen würde, nämlich »gemeinsame Opfer, gemeinsame Selbstverleugnung und gegenseitige Hilfe«. Und doch zögerte Oliphant nicht, ihr eigenes Los als schriftstellernde Witwe, die den Lebensunterhalt für sechs Kinder ver­dienen musste, als »slavery to her pen« zu bezeichnen; hier handelt es sich also um eine – durchaus auch übertreibende – Metapher, wie sie damals in sämtlichen Beschreibungen von Abhängigkeit und Elend vorkommen konnte.90 Auch bei den französischen Saint-Simonistinnen der 1840er Jahre spielte die Analogie zwischen Ehe und Sklaverei eine beträchtliche Rolle – wobei gezeigt werden konnte, dass ihr Gebrauch in Schriften französischer Frauen bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht, als Frankreich noch nicht in den Sklavenhandel mit Afrika verwickelt war, und dass sich die Metapher keineswegs nur auf die Versklavung von Schwarzen bezog.91 In den Schriften der deutschen Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts gibt es viele Fälle, in denen »Sklaverei« für Frauen beschworen wird, aber nur wenige, in denen dabei tatsächlich an die (Plantagen-)Sklaverei und »chattel slavery« schwarzer Afrikaner/innen jener oder früherer Zeiten gedacht oder gar direkt auf sie Bezug genommen wird (eine wichtige Ausnahme ist der Roman »Aphra Behn« von Luise Mühlbach, erschienen 1849). Vielmehr herrscht der metaphorische Charakter des Terminus entschieden vor: als extremer Gegensatz (zusammen mit »Barbarei«, »Leibeigenschaft«, »Hörigkeit«, »Knechtschaft«, »Fron« oder »Fesseln«) zu »Freiheit«. Und ebenso wenig scheint bei den zahlreichen feministischen Reflexionen über »Emanzipation« ein Bezug zur Abschaffung der Sklaverei hergestellt worden zu sein (also etwa auf den britischen Emancipation Act von 1833 anstelle der immer wieder beschworenen französisch-saint-simonistischen Herkunft aus derselben 90 Margaret Oliphant (1869) in: Andrew Pyle (Hg.), The Subjection of Women: Contemporary Responses to John Stuart Mill, Bristol 1995, S. 125; vgl. Bock (wie Anm. 2), S. 136. 91 Vgl. Karen Offen, How (and Why) the Analogy of Marriage with Slavery Provided the Springboard for Women’s Rights Demands in France, Beitrag zur Konferenz »Sisterhood and Slavery: Transatlantic Slavery and Women’s Rights«, Proceedings zugänglich unter der URL: http://www.yale.edu/glc/conference; auch in: Kathryn Kish Sklar u. James Brewer­ Stewart (Hg.), Women’s Rights and Transatlantic Antislavery in the Era of Emancipation, New Haven 2007.

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Zeit). So findet sich auch keinerlei Hinweis auf die Versklavung oder Befreiung von Schwarzafrikaner(inne)n in dem seltenen Fall, wo das Wort zum provokativen Titelbegriff wird: In Ida Fricks Schrift »Der Frauen Sclaventhum und Freiheit« werden »Knechtschaft« und »Fesseln« diskutiert, mit denen »der Geist des neunzehnten Jahrhunderts unser ganzes Geschlecht überhäuft«, indem verblendete Frauen sich zu »Sclavinnen ihrer Leidenschaften« und damit »zu Sclavinnen der Männer« machen lassen.92 Hier geht die Sklaverei-Rhetorik über ihre primäre Funktion als spezifische Form der Ehekritik hinaus und bezieht sich auf sexuelle Geschlechterbeziehungen insgesamt. Gleichwohl ist die feministische Sklaverei-Rhetorik, die im Übrigen der sozialistischen Rhetorik von der »Lohnsklaverei« entspricht, auch vor dem Hintergrund der mächtigen britischen Antisklavereibewegung zu lesen. Jene Bewegung hatte 1807 die Abschaffung des britischen Sklavenhandels erwirkt; dann wurde sie zu einer noch breiteren Massenbewegung, die 1833 zum Emancipation Act führte  – allerdings noch nicht zur vollen Freilassung, da diese bloß graduell über sieben Jahre hinweg erreicht werden sollte. Britische und nordamerikanische Frauen spielten eine herausragende Rolle in der Abolitionsbewegung ihrer beiden Länder (allerdings nirgendwo anders), und das war nicht nur historisch ein absolutes Novum, sondern auch eine Vorstufe und Frühphase der künftigen Frauenbewegung. Frauen organisierten sich separat vom männlichen Abolitionismus, denn in dessen Organisationen waren sie nicht zugelassen; über siebzig abolitionistische Frauenvereine gab es in Großbritannien in den 1820er und 30er Jahren. Sie konzentrierten sich auf das Schicksal weiblicher Sklaven und ihrer Kinder – auch einige ehemalige Sklavinnen, die nun in England lebten, standen an ihrer Seite – und machten aus dem Antisklaverei-Symbol, dem Bild eines Sklaven mit der Inschrift »Am I not a man and a brother?« ein neues: »Am I not a woman and a sister?« Auch beschränkten sich diese Bilder nicht auf kniende und bittende Sklavinnen, sondern entwarfen Bilder von Selbstbewusstsein und aufrechtem Gang. Diese Frauen standen am klarsten für das zentrale Charakteristikum der gesamten Bewegung: Sie argumentierten nicht mit aufklärerischen Parolen à la Menschenrechte, sondern moralisch-religiös: Sklavenhaltung galt ihnen als Sünde.93 In diesem Sinn publizierte die Bildungsreformerin Hannah More seit 92 Frick (wie Anm. 38), Zitate S. 5, 12–15. Einige Sklaverei-Analogien in feministischen Schriften sind zusammengestellt in Bonnie S.  Anderson, Frauenemancipation and Beyond: The Use of the Concept of Emancipation by Early European Feminists, in: Sklar u. Stewart (wie Anm. 91), S. 82–87. 93 Das galt auch für die amerikanischen Abolitionistinnen; vgl. Kathryn Kish Sklar, Religious Themes in the Emergence of the Women’s Rights Movement within Garrisonian Abolitionism, 1829–1839, Beitrag zu der in Anm. 91 genannten Konferenz. Vgl. bes. Clare Midgley, Women Against Slavery: The British Campaigns 1780–1870, London 1992, bes. S. 67; Louis Billington u. Rosamond Billington, »A Burning Zeal for Righteousness«?, in: Jane Rendall (Hg.), Equal or Different: Women’s Politics 1800–1914, Oxford 1987, S. 82–111; Drescher (wie Anm. 1); Osterhammel, Sklaverei (wie Anm. 1).

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Abb. 1: Europe Supported by Africa and America, Kupferstich des Abolitionisten William Blake, aus dem Werk des Abolitionisten John G. Stedman, Narrative of a Five ­Years Expedition, Against the Revolted Negroes of Surinam in Guiana, on the Wild Coast of South America, from the Year 1771 to 1777, London 1796.

1788 gegen die Sklaverei, und 1824 forderte die Quäkerin Elizabeth Heyrick als erster Autor die sofortige und vollständige Emanzipation: »Immediate, Not Gradual Abolition« hießen ihre einflussreiche Broschüre und der neue Slogan. Aufgrund ihrer religiösen Motive und der Einstellung, dass ihre Gefühle wichtiger waren als eine zweifelhafte Ratio, waren die Abolitionistinnen auch nicht zugänglich für ökonomische Argumente – weder für das gängige abolitionis­ tische Argument von Adam Smith, dass »freie Arbeit« produktiver als Sklavenarbeit sei, noch erst recht nicht für die Argumente der Sklavenhalter, die, falls überhaupt, eine Emanzipation nur unter der Bedingung einer Entschädigung 134 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

akzeptieren wollten – die sie dann auch vom britischen Staat bzw. Steuerzahler in der Form von 20 Millionen Pfund erhielten. Hunderttausende Abolitionistinnen boykottierten den Kauf und Konsum von »Sklavenzucker«, unterzeichneten Petitionen, und als das Emanzipationsgesetz 1833 schließlich auf der Tagesordnung des Unterhauses stand, stammte fast ein Drittel der 1,3 Millionen Unterschriften von Frauen. Nach der Verabschiedung des Gesetzes wurde weiteragitiert, nunmehr gegen die siebenjährige Frist und gegen die Sklaverei in den USA bzw. für »universal emancipation«; die Frauenpetition von 1838 an die Königin trug 700.000 Unterschriften. 1840 fand schließlich in London der erste Antisklaverei-Weltkongress statt. Anwesend war die Crème des britischen und amerikanischen Abolitionismus, einschließlich der Frauen, die seit Jahren gegen die Sklaverei agitiert hatten. Doch der Kongress begann mit einem Eklat, der den gesamten ersten Tag in Anspruch nahm und in den USA wie in England zu einem Katalysator für die Entstehung der Frauenbewegung wurde: Den Amerikanerinnen, die zum Teil als offizielle Delegierte gekommen waren, wurde der Status als Delegierte verweigert, und sämtlichen Frauen wurde das Rederecht verweigert. So kam es zu einer Debatte über die »woman question«, bevor man mit der »slavery question« beginnen konnte. Die Frauen waren empört, und viele von ihnen lernten aus dieser demütigenden Erfahrung, dass sie, um für andere kämpfen zu können, zuallererst für sich selbst das Recht auf öffentliche Rede und öffentliches Gehör erkämpfen mussten – was sie in den Folgejahren auch taten: Vielfach werden die Anfänge der britischen und nordamerikanischen Frauenbewegung auf dieses Jahr datiert. Und auch deutsche Feministinnen, so etwa Helene Lange, haben von dieser Entwicklung gewusst.94 In den Vereinigten Staaten kam es ein Vierteljahrhundert nach jenem Ereignis noch zu einer bitteren Konstellation, an der die bisherige Allianz zwischen Frauen- und Sklaven­eman­zipation zerbrach. Als nach Lincolns Eman­cipation Proclamation von 1863 und dem 13. Verfassungszusatz (1864/65), welche die Sklaverei abschafften, die Feministinnen sich darum bemühten, das Wahlrecht zugleich für Schwarze und für Frauen zu erobern, scheiterten sie: die n ­ egro’s hour wurde keineswegs zur women’s hour. Mit dem 14. Verfassungszu­satz (1868), der das Wahlrecht reformierte, wurde es zwar den Ex-Sklaven verliehen, aber zu94 Vgl. Helene Lange, Die Frau als Bürgerin, in Die Frau 11/9 (Juni 1904), S.  526–535, hier S. 530. Zum vorigen: Midgley (wie Anm. 93), S. 123 f., 7. Kap. (The »Woman Question«); 154– 177; dies., Anti-Slavery and Feminism in 19th-Century Britain, in: G&H 5 (1993), S. 343– 362; Kathryn Kish Sklar, Women who Speak for an Entire Nation: American and British Women Compared at the World Anti-Slavery Convention, London 1840, in: Jean ­Fagan Yellin u. John C. Van Horne (Hg.), The Abolitionist Sisterhood: Women’s Political Culture in Antebellum America, Ithaca, NY 1994; dies., Women’s Rights Emerges within the Antislavery Movement, 1830–1870. A Brief History with Documents, Boston 2000; Donald R. Kennon, »An Apple of Discord«: The Woman Question at the World’s Anti-Slavery Convention of 1940, in: John R. McKivigan (Hg.), History of the American Abolitionist Movement, NY 1999, S. 330–352.

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gleich wurde der Terminus »male citizens« eingeführt: nur schwarze Männer, nicht aber schwarze und weiße Frauen erhielten ihr Wahlrecht. Und während es den ersteren faktisch bald wieder entzogen wurde, begründete ein Teil der­ Feministinnen eine nunmehr gänzlich autonome Reformbewegung.95 Frauenemanzipation und Judenemanzipation Die Beziehungen zwischen Frauen- und Judenemanzipation waren für die Frauengeschichte Deutschlands, das erst spät im 19. Jahrhundert Kolonien erwarb, unmittelbarer gewichtig als diejenigen zwischen Frauen- und Sklavenemanzipation, und sie reichen ebenfalls bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurück. Als Theodor Gottlieb von Hippel 1792 sein Buch »Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber« publizierte, wählte er den Titel in Anlehnung an Christian Wilhelm Dohms »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« (1781) und übernahm auch einige Begriffe (Frauen als »Schutzverwandte«, entsprechend den »Schutzjuden«). Die Bedeutung von »bürgerliche Verbesserung« (oft wird sie heutzutage »Frauenemanzipation« genannt) erhellt der französische Revolutionär Graf Mirabeau, der sechs Jahre später Dohms Buch unter dem Titel »Sur la réforme politique des Juifs« übersetzte. Auch Hippel argumentierte nicht nur für eine soziale Reform – etwa die Zulassung von Frauen zur Bildung –, sondern auch für eine politische (»bürgerliche«): Frauen sollten das Wahlrecht erhalten und zu staatlichen Ämtern zugelassen werden. Das war zwar wahrhaft viel für damalige Verhältnisse, aber trotzdem stand Hippel nicht ganz allein. Die Jüdin Esther Gad in Breslau berief sich 1791 auf die frisch verkündeten Menschenrechte, um Gleichberechtigung sowohl für Juden wie für Frauen einzufordern, und wandte sich mit einem Plädoyer für das weibliche Recht auf Bildung gegen den europaweit renommierten Pädagogen und Schriftsteller Joachim Heinrich Campe – was ihr dann den Titel einer »deutschen Wollstonecraft« eintrug (und später bezeichnete ihre Jugendfreundin Rahel Levin Varnhagen sie als »deutsche Staël«). Solchen Plädoyers lag in der Regel eine analoge Struktur zugrunde: Wenn Juden bzw. Frauen sich wirklich oder angeblich nicht auf der »Höhe« nichtjüdischer bzw. männlicher Vernunft befänden, so sei das die logische und natürliche Folge ihrer Diskriminierung; für diese aber seien die Nichtjuden bzw. die Männer verantwortlich. In den Worten von Esther Gad: »wenn die meisten Weiber so [sc. ignorant] sind, so ist es die Schuld der Männer.«96 95 Ellen Carol DuBois, Feminism and Suffrage. The Emergence of an Independent Women’s Movement in America, 1848–1869, Ithaca, NY 1979. 96 Esther Gad, Einige Äußerungen über Hrn. Kampe’ns Behauptungen, die weibliche Gelehrsamkeit betreffend, in: Der Kosmopolit. Eine Schrift zur Beförderung wahrer und allgemeiner Humanität, Bd. 3, Halle 1798, S. 578; Karin Rudert, Die Wiederentdeckung einer »deutschen Wollstonecraft«: Esther Gad Bernard Domeier für Gleichberechtigung der Frauen und Juden, in: Quaderni. Università degli Studi di Lecce, Dipartimento di lingue e letterature straniere 10 (1988), S. 231–261.

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Im 19. Jahrhundert engagierte sich in ganz Europa eine wachsende Zahl von Jüdinnen in der »Frauenfrage« und zugleich für die Judenemanzipation, und oft zogen sie selbst Parallelen zwischen den beiden Bewegungen. Fanny Lewald verglich überdies, in ihrem »Für und wider die Frauen«, die erhoffte Emanzipation gleichzeitig mit derjenigen der Juden, der Sklaven und der Leibeigenen in Russland. Auch Jenny Hirsch und Hedwig Dohm zogen die Parallele und ebenso – um ein außerdeutsches Beispiel zu nehmen – die bedeutendste anglo-jüdische Schriftstellerin, Grace Aguilar, Autorin von »The Spirit of Judaism« (1842), von der ein weiteres Buch auch auf Deutsch erschien: »Die Jüdin« (1860). Vor allem ist hier auch Bertha Pappenheim zu nennen (die »Anna O.« in Sigmund Freuds früher Karriere). Nach ihrer Genesung  – oder auch zu deren Beförderung  – machte sie sich an eine Neuübersetzung von Mary Wollstonecrafts Buch über Frauenrechte, und anders als hundert Jahre früher Weißenborn (mit Billigung des Herausgebers, des Aufklärers Christian Gotthilf Salzmann) übersetzte sie den Begriff »emancipation«, der inzwischen vollständig ins Deutsche eingegangen war, nicht mehr mit »Entfesselung«, sondern mit »Emanzipation« (nunmehr auch mit »z«).97 Sechs Aspekte der Beziehungen oder Parallelen zwischen der Emanzipations­ geschichte von Juden (einschließlich Jüdinnen) und Frauen (einschließlich Jüdinnen) werden in der Regel genannt: Erstens spielte bei der Emanzipation beider Gruppen Bildung eine enorme und funktional analoge Rolle, und um so mehr für jüdische Frauen.98 Zweitens haben manche Juden die Frage, »Was nennt Ihr denn Emanzipation? Etwa jene paar Worte, die da besagen: von jetzt an seid ihr zum aktiven und passiven Wahlrecht befähigt und zum Staatsdienst berechtigt?« damit beantwortet, dass das »nur die letzte Konsequenz der realen Emanzipation« sei: »Ihr emanzipiert die Juden nicht, sie selbst haben sich

97 Mary Wollstonecraft, Eine Verteidigung der Rechte der Frau mit kritischen Bemerkungen über politische und moralische Gegenstände, aus dem Englischen übers. v. P. Berthold [Pseudonym Pappenheims], Dresden 1899, S. 199 (»Ich spreche von der Emanzipation und Veredlung des ganzen Geschlechts«); vgl. oben, Anm.  12; außerdem Marion Kaplan, Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland: Organisationen und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904–1938, Hamburg 1981, bes. S. 20 ff., 77 ff.; Britta Konz, Bertha Pappenheim (1859–1936): Ein Leben für jüdische Tradition und weibliche Emanzipation, Frankfurt a. M. 2005, S. 75. 98 Vgl. Marion Kaplan, Women and the Shaping of Modern Jewish Identity in Imperial Germany, in: Shulamit Volkov (Hg.), Deutsche Juden und die Moderne, München 1994, S. ­57–74, bes. 59–61; Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland, 1678–1848, Tübingen 1974; Claudia Huerkamp, Jüdische Akademikerinnen in Deutschland 1900–1938, in: GG 19 (1993), S. ­311–331. Vgl. auch Julius Carlebach, The Forgotten Connection: Women and Jews in the Conflict between Enlightenment and Romanticism, in: YBLBI 24 (1979), S. 107–138; Irmgard Fassmann, Juden- und Frauenemanzipation. Berliner Jüdinnen als Vorkämpfer der deutschen Frauenbewegung, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 96 (1985), S. 152–159.

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längst emanzipiert, ihr vollendet nur ihre äußere Emanzipation.«99 Ähnlich bestanden Feministinnen darauf, dass sie – vor allem auf dem Weg ihrer »Selbsthilfe« – sich selbst befreiten; so pochte Helene Lange 1904 darauf, dass »die Frau heute tatsächlich schon Bürgerin ist,« weil sie »aus der Unselbständigkeit ihres geistigen und wirtschaftlichen Daseins herausgetreten ist und teilnimmt an der ideellen und ökonomischen Arbeit der Gesamtheit.«100 Drittens waren die Gegner der Frauenemanzipation in aller Regel auch Gegner der Judenemanzipation, und Hitlers Diktum von 1934, »das Wort von der Frauen-Emanzipation ist nur ein vom jüdischen Intellekt erfundenes Wort, und der Inhalt ist von demselben Geist geprägt«, ist dabei lediglich eine späte Giftblüte.101 Viertens: Die Debatten der Feministinnen über das Verhältnis von Gleichheit und AndersSein, Mensch-Sein und Frau-Sein, von »gleichen Rechten« und »Frauenrechten«, ihr Konzept von »égalité dans la différence« enthalten manche Parallelen zu den Debatten über das Verhältnis zwischen »jüdischer Assimilation und jüdischer Eigenart«, Integration und Identität – beide Emanzipationsbewegungen sorgten sich um die Lösung der (für viele bloß scheinbaren) Paradoxie.102 Auf die zwei weiteren Aspekte, die eindrucksvolle Assoziationstätigkeit jüdischer Frauen und ihre Rolle in der neuen Sozialreformbewegung, soll hier näher eingegangen werden. Zur Assoziationstätigkeit: Jüdische Frauen gründeten feministisch orientierte Frauenvereine auf lokaler und nationaler Ebene, so etwa 1902 in Großbritannien die Union of Jewish Women; 1904 gründete Bertha Pappenheim in Deutschland den Jüdischen Frauenbund, der bald 50.000 Mitglieder zählte. Auf der Grundlage einer Art Doppelorientierung waren jüdische Frauen außerdem Mitglieder in konfessionsübergreifenden feministischen Verbänden, so der Jüdische Frauenbund in dem zehn Jahre älteren Bund deutscher Frauenvereine, dem Dachverband zahlreicher Frauengruppen; im Übrigen stellten in all den nationalen Frauenbewegungen jener Zeit, für welche diese Frage untersucht worden ist, Jüdinnen einen höheren Anteil, als ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprach. Eine eigene jüdische Organisation für das nationale Frauenwahlrecht gab es (nur) in England, wo man sich dafür auf das Vorbild der jüdischen Män 99 Ludwig Philippson (1850), zit. in: Reinhard Rürup, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von der Emanzipation bis zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, in: Dirk Blasius u. Dan Diner (Hg.), Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland, Frankfurt a. M. 1991, S. 79–101, hier S. 89 f. 100 Lange, Frau als Bürgerin (wie Anm. 94), S. 529. 101 Max Domarus, Hitler: Reden und Proklamationen, 1932–1945, Bd.  I, Erster Halbband, 1932–1934, Wiesbaden 1973, S. 450–452. Hierzu, aber auch zum Vorigen und Folgenden, vgl. Shulamit Volkov, Antisemitismus und Antifeminismus: Soziale Norm oder kultureller Code, in: dies., Das jüdische Projekt der Moderne, München 2001, S. 62–81. 102 Vgl. Shulamit Volkov, Jüdische Assimilation und jüdische Eigenart im deutschen Kaiserreich: Ein Versuch, in: GG 9 (1983), S. 331–348; Kaplan, Identity (wie Anm. 98); Ute Frevert, Die Innenwelt der Außenwelt. Modernitätserfahrungen von Frauen zwischen Gleichheit und Differenz, in: Volkov (wie Anm. 98), S. 75–94; Bock (wie Anm. 2), S. 174–176, 190–201.

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ner berief; anderswo beschränkten sich die Frauen, was das Wahlrecht betraf, auf dasjenige innerhalb der jüdischen Gemeinde (doch ohne Erfolg).103 Und schließlich schlossen sich die nationalen jüdischen Frauenverbände zu transnationalen Organisationen zusammen – so der International Council of Jewish Women, der 1914 in Rom gegründet wurde –, und diese wiederum integrierten sich in die transnationalen überkonfessionellen Frauenverbände. Nicht immer war diese Integration ganz frei von antisemitischen Reibungen und Einstellungen – meist nicht plakativer, sondern eher subtiler Art –, ebenso wenig wie in den nationalen feministischen Verbänden.104 In all jenen Konstellationen bemühten sich die jüdischen Feministinnen erstens um Gleichberechtigung mit jüdischen Männern innerhalb der jüdischen Gemeinde, wobei sie Religio­ sität mit Reform zu kombinieren suchten; zweitens um Gleichberechtigung mit den Männern in der nichtjüdischen Gesellschaft, und drittens engagierten sie sich für die Belange der Judenheit im Allgemeinen, vor allem für die Abwehr des Antisemitismus. Eine breite internationale Kampagne, initiiert von der anglo-jüdischen Constance Rothschild Lady Battersea zusammen mit Bertha Pappenheim, richtete sich gegen ein Phänomen, das seit den 1880er Jahren »white slavery« oder »white slave trade« genannt wurde und eng mit den damaligen globalen Migrationsbewegungen und dem Hochimperialismus des späten 19. Jahrhunderts zusammenhing: die transnational organisierte Geschäftemacherei mit Frauen, die als Prostituierte arbeiteten oder arbeiten sollten. Dabei waren, neben vielen anderen, auch jüdische Männer und Frauen involviert, als Kuppler und Prostituierte, nämlich seit 1880, als Hunderttausende Juden aus Russland vertrieben wurden.105 Der jüdische Anteil an dem Kampf gegen den globalen Frauenhandel war auch ein Kampf gegen den Antisemitismus, weil die Antisemiten den

103 Linda Gordon Kuzmack, Woman’s Cause. The Jewish Woman’s Movement in England and the United States, 1881–1933, Columbus, Ohio 1990, bes. S. 134; Kaplan (wie Anm. 97), Kap.  VI; Anne Summers, Gender, Religion and an Immigrant Minority: Jewish Women and the suffrage movement in Britain c. 1900–1920, in: WHR 21/3 (2012), S.  399–418;­ Susan L. Tananbaum, Jewish Feminist Organizations in Britain and Germany at the Turn of the Century, in: Michael Brenner u. a. (Hg.), Two Nations. British and German Jews in Comparative Perspective, Tübingen 1999, S. 371–392; Monica Miniati, Les émancipées: les femmes juives italiennes aux XIXe et XXe siècles, Paris 2004 (ital.: Turin 2008). 104 Leila J. Rupp, Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Princeton, NJ 1997, bes. S.  38, 57; zu judenfeindlichen Vorfällen vgl. z. B. ebd., S.  57 f.; Wawrzyn (wie Anm. 79). Allerdings zählt Wawrzyn jegliche ihr greifbare Frauenorganisa­ tion zur »Frauenbewegung«, im Gegensatz zur üblichen Begriffsverwendung und mit zweifelhaften Konsequenzen für ihr Thema »Antisemitismus in der deutschen Frauen­ bewegung«. 105 Kaplan, Frauenbewegung (wie Anm.  97), Kap.  V (»Der Kampf gegen den Mädchen­ handel«); Kuzmack (wie Anm. 103), Kap. 3 (»A ›Holy War‹«); Ronald Hyam, Empire and Sexuality: The British Experience, Manchester 1991, bes. S. 142 ff. (»White Slavery and International Prostitution«).

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Frauen­handel als spezifisch jüdisches Produkt denunzierten.106 Kein Zufall war es, dass der sensationsträchtige Begriff »weißer Sklavenhandel« fast nur im Englischen benutzt wurde; im Deutschen hingegen, und so auch bei Bertha Pappenheim, hieß er »Frauen«- oder »Mädchenhandel«. Das war korrekt, denn weder waren nur weiße Frauen betroffen, noch entsprach die Sklaverei-Metapher ausreichend der Eigendynamik jenes Phänomens. So wurde schließlich der Begriff aus dem Verkehr gezogen, vor allem durch den International Council of Women (Weltfrauenbund). Drei internationale Konferenzen fanden seit 1899 statt, führten zu zwischenstaatlichen Übereinkommen, und der Völkerbund ersetzte schließlich – auch auf Druck von Feministinnen aus aller Welt – jenen Begriff endgültig durch »traffic in women and children« (im Art. 13 des »Final Act of the International Conference for the Suppression of the Traffic in Women and Children« vom 5. Juli 1921).107 Zur Sozialreform: Jüdische Frauen engagierten sich in vielen sozialen Be­ reichen. Sie standen damit im Kontext der Frauenbewegung als einer Sozial­ reformbewegung, wie sie sich in den 1890er Jahren entfaltete (seit den 1870er Jahren gab es Vorläufer) und sich deutlich von traditioneller Armenpflege absetzte: An die Stelle von Barmherzigkeit und Almosen sollte soziale Gerechtigkeit treten; in der öffentlichen wie privaten Armenpflege sollte die Männerdominanz gebrochen und Frauen sollten und wollten nicht nur zugelassen werden, sondern eigene neue Konzepte entwickeln. Mit und seit der Gründung (1893) der berühmten »Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit«, in der zahlreiche jüdische Frauen involviert waren, lässt sich erneut eine illustrative Reflexion über den Begriff »Frauenemanzipation« nachverfolgen sowie das Ausmaß, in dem noch einmal um den Begriff gerungen wurde. Eine Passage im Aufruf zur Gründung der »Gruppen«, der von prominenten und anderen Feministinnen (vor allem Minna Cauer und Jeannette Schwerin) sowie fünfundzwanzig liberalen männlichen Gelehrten unterzeichnet war, betonte: »Es handelt sich hier um keinerlei ›Emanzipationsbestrebungen‹«, sondern »lediglich« darum, junge Frauen »zu ernster Pflichterfüllung im Dienste der Gesamtheit heranzuziehen.« Offensichtlich stand in dieser Passage das E-Wort für zweifelhafte, individualistisch-subjektivistische Interessen, gar familien- oder männerfeindliche oder dem »Gemeinwohl« entgegengesetzte; vorwiegend takti106 Edward J. Bristow, Prostitution and Prejudice: The Jewish Fight Against White Slavery 1870–1939, Oxford 1982. 107 Karen Offen, Intrepid Crusader: Ghénia Avril de Sainte-Croix Takes on the Prostitution­ Issue, in: Proceedings of the Western Society for French History 33, Conference volume, hg. v. Carol E. Harrison u. Kathryn A. Edwards, Colorado Springs 2005, S. 357–374. Der »Final Act« wurde zur Grundlage der »Internationalen Übereinkunft zur Unterdrückung des Frauen- und Kinderhandels« vom 30.9.1921. Vgl. Franz Knipping (Hg.), Das System der Vereinten Nationen und seine Vorläufer, Bd. II: Vorläufer der Vereinten Nationen. 19. Jahrhundert und Völkerbundszeit, München 1996, Dok. Nr. 54–56; F. S. L. Lyons, Internationalism in Europe 1815–1914, Leyden 1963, S. 274–283 (»The Campaign Against the WhiteSlave Traffic«). Vgl. auch das letzte Kap. in diesem Band, Anm. 31–33.

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sche Gründe lagen jener Distanzierung zugrunde. Doch gleichzeitig hatte sich auch die Eindeutigkeit seines pejorativen Sinnes aufgelöst, und so wurde die Passage in den seit 1897 wiederabgedruckten Versionen des Aufrufs nicht nur gestrichen, sondern hinzugefügt wurde, dass die wissenschaftliche Unterrichtung der jungen Frauen auch »auf die Hebung der Lage des weiblichen Geschlechts gerichtet« sei. Zwanzig Jahre nach der Gründung erläuterte Alice Salomon, inzwischen Vorsitzende jener »Gruppen« (zu dieser Zeit hatten sie 1.151 Mitglieder), dass zum einen schon für die Gründerinnen zwischen »Frauenemanzipation« und »ernster Pflichterfüllung im Dienst der Gesamtheit« kein Gegensatz bestanden habe und zum anderen die Zeit vorbei sei, in der sich die Frauenbewegung hauptsächlich als »Kampf gegen den Mann« äußern musste, weil Frauen vorwiegend »noch in der Familie eingeschlossen saßen«; jetzt hingegen könnten sie die inzwischen errungenen Handlungsmöglichkeiten »in soziale Wirksamkeit umsetzen.« Das Wort »Frauenemanzipation«, einst für manchen »rechtschaffenen Bürger« gleichbedeutend mit »Aufruhr«, »Kampf gegen die Natur« und »Verlust aller weiblichen Eigenschaften«, habe »heute ganz seine Schrecken verloren.« Und für Salomon wie viele andere feministische Sozialreformerinnen mussten sich Frauenemanzipation und soziale Verantwortung verbinden.108 Die moderne und professionelle Sozialarbeit geht großenteils auf die Initiative von Frauen zurück; von Anfang an blickte die 1906 promovierte Alice­ Salomon, deren jüdische Herkunft ungeachtet ihrer späteren Konversion (1917) prägend blieb, auch auf die Settlement-Bewegung in den USA und kooperierte mit deren Protagonistin Jane Addams, der Friedensnobelpreisträgerin von 1931. In Deutschland ist die Geschichte der feministischen Sozialreformbewegung, deren Leitbild das der »Bürgerin« war, geradezu eine Genealogie führender jüdischer Frauen, die damit »das Wagnis der Öffentlichkeit« eingingen: von Johanna Goldschmidt in Hamburg und Henriette Goldschmidt in Leipzig, über die zahlreichen Initiativen von Lina Morgenstern und Jeannette Schwerin für die Berliner Armenbevölkerung bis zu denen von Anna Edinger, Jenny Apolant und Henriette Fürth in Frankfurt am Main. Die Genealogie kulminiert in Alice Salomon, deren Engagement, ebenso wie das ihrer jüdischen Vorgängerinnen und Mitstreiterinnen, außerdem in engem Zusammenhang mit der Emanzipationsgeschichte der Juden steht.109 Im Jahr 1908 begründete 108 Alice Salomon, Zwanzig Jahre Soziale Hilfsarbeit, Karlsruhe 1913, S.  8 f., 99–191. Vgl. Schröder (wie Anm.  62), S.  82–87, 102, 109 ff., 143 f.; Adriane Feustel, Das Konzept des Sozialen im Werk Alice Salomons, Berlin 2011, S.  19, und die Neuedition zahlreicher Schriften Salomons u. d. T.: Frauenemanzipation und soziale Verantwortung: Ausgewählte Schriften, hg. v. Adriane Feustel, 3 Bde., Neuwied 1997–2004; Anja Schüler, Frauenbewegung und soziale Reform: Jane Addams und Alice Salomon im transatlantischen Dialog, 1889–1933, Stuttgart 2004, bes. S. 190–194. 109 Theresa Wobbe, Das Wagnis der Öffentlichkeit: Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung vor 1933, in: Mechthild M. Jansen u. Ingeborg Nordmann (Hg.), Lektüren und ­Brüche. Jüdische Frauen in Kultur, Politik und Wissenschaft, Wiesbaden 1993, S.  148–177; Iris

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sie (und leitete dann) die Soziale Frauenschule in Berlin, aus der die heutige Alice Salomon Hochschule wurde; weitere bedeutende Gründungen folgten: 1925 die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit, 1929 das Internationale Komitee Sozialer Schulen, später und bis heute die International Association of Schools for Social Work. Diese unterstützte Salomon, als sie 1937 aus Deutschland vertrieben wurde.110 Gemeinsam waren diesen Sozialreformerinnen die Kritik am erwarteten und oft realisierten Lebensstil bürgerlicher Frauen; das Bewusstsein, dass die Frauenbewegung sich für alle Frauen – für das »Frauenwohl« und ebenso für das »Gemeinwohl«  – einzusetzen und somit »soziale Gerechtigkeit herbeizuführen« habe; und schließlich der Glaube, »daß die Frauen am ehesten den Weg über Klassenhaß und Parteihader fort zu einander finden würden.«111 Dieser Glaube sollte allerdings auf eine harte Probe gestellt werden. Frauenemanzipation und Arbeiteremanzipation Bezüglich der Unterschichten bzw. der Arbeiterschaft war seit dem späten 18. Jahrhundert – vor allem außerhalb Deutschlands – die aufklärerische Terminologie von »Sklaverei« und »Knechtschaft« gängig, gelegentlich auch in Deutschland mit Verweis auf die Plantagensklaverei. Der Begriff »Emanzipation« hingegen wurde in deutschen Lexika für die Arbeiterschaft offenbar erstmals 1840 benutzt, nämlich bei Scheidler im Ersch/Gruber (die britische Chartistenbewegung benutzte ihn ohnehin nur für die Sklaven); zuweilen war auch von »Emanzipation des vierten Standes« die Rede, und Louise Otto sprach von den Frauen auch als »fünfter Stand«. Bald folgten auch entsprechende Stimmen aus den Unterschichten selbst, durchaus im Ton von religiöser Heilserwartung.112 Schröder, Grenzgängerinnen: Jüdische Sozialreformerinnen in der Frankfurter Frauenbewegung um 1900, in: Andreas Gotzmann u. a. (Hg.), Juden, Bürger, Deutsche, Stuttgart 2001, bes. S. 363, 367 f.; vgl. Feustel, Konzept (wie Anm. 108), bes. S. 57; Irmgard Maya Fassmann, Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung 1865–1919, Hildesheim 1996;­ Henriette Fürth, Streifzüge durch das Land eines Lebens: Autobiographie einer deutschjüdischen Soziologin, Sozialpolitikerin und Frauenrechtlerin (1861–1938), hg. v. Monika Graulich u. a., Wiesbaden 2010; Christina Klausmann, Politik und Kultur der Frauenbewegung im Kaiserreich: Das Beispiel Frankfurt a. M., Frankfurt a. M. 1997, bes. S. 132–145, 274–277, 332–336. 110 Dazu bes. Feustel, Konzept (wie Anm. 108), bes. S. 14, 148, und ihre breit kommentierte Edition 1997–2004 (wie Anm. 108); Lynne M. Healy, A Brief Journey through the 80 Year History of the International Association of Schools of Social Work, in: Social Work & Society 6/1 (2008), S. 115–127; Friedrich W. Seibel (Hg.), Global Leaders for Social Work Education: The IASSW Presidents 1928–2008, Boskovice (Tschech. Republik) 2008. 111 Salomon, Zwanzig Jahre (wie Anm. 108), S. 55. 112 Vgl. oben, bei Anm.  8, und Koselleck (wie Anm.  5), S.  191–193; »fünfter Stand«: Helene Lange, Fünfzig Jahre deutscher Frauenbewegung, in: Die Frau 23/1 (1915), S. 9 (auch in: dies., Kampfzeiten (wie Anm. 45), Bd. 2, S. 201).

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In dem von Karl Marx im November 1864 verfassten Gratulationsschreiben der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) an Abraham Lincoln ist nicht etwa von der »Emanzipation« der Sklaven die Rede, sondern von ihrer »Erlösung«.113 Doch zwei andere Marx-Texte trugen zur Verbreitung des Begriffs in diesen Kreisen besonders bei. Zum einen kulminierten 1844 seine Räsonnements »Über die Judenfrage« in einer Antwort, die mit guten Gründen als juden­ feindlich verstanden werden konnte: »Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum«, und: »Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.« Zum anderen diente das E-Wort zwanzig Jahre später als Leitbegriff in Marx’ Präambel zu den Statuten der IAA, derzufolge »die Emanzipation der Arbeiterklasse durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden« müsse (in den sozialdemokratischen Parteiprogrammen, in welche diese Formulierungen eingingen, wurde das E-Wort anfangs mit »Befreiung« erläutert, später durch dieses Wort ersetzt).114 Doch war »Emanzipation« bei Marx lediglich ein agitatorischer, nicht ein theoretischer Leitbegriff, denn tatsächlich ging es ihm nicht um Gleichstellung, sondern um »revolutionäre Emanzipation« (»Die Klassenkämpfe in Frankreich«, 1851) bzw. um »kommunistische Revolution« als »gewaltsamer Umsturz« (so 1848 im »Kommunistischen Manifest«, wo das E-Wort fehlt). Mit Bezug auf Frauen ist bis zum späten 19. Jahrhundert hier von »Emanzipation« fast nicht die Rede, auch wenn August Bebel sie in seinem Bestseller »Die Frau und der Sozialismus« von 1879 benutzte und durch »Befreiung« er­ läuterte (für Frauen liege, wie auch bei der Sklaverei, die Initiative zu ihr nicht bei den Unterdrückten, sondern bei Individuen aus der Unterdrückerklasse). Gegen die damals herrschende Meinung in seiner Partei propagiert er die Frauenerwerbstätigkeit als den Weg zur »vollen und ganzen Emanzipation der Frau« und kommt einmal auf die ältere »Emanzipations«-Debatte zurück, in der George Sand und Fanny Lewald eine so große Rolle gespielt hatten: Engagiert plädiert er für »die vollkommen freie Liebeswahl und das Recht auf Trennung« für beide Geschlechter (nicht ohne gleichermaßen für Monogamie und Dauerhaftigkeit der Ehe einzutreten). Entscheidend dabei sei allerdings – »darin gipfelt ja unsere Beweisführung« –, dass dies erst in ferner Zukunft der Fall sein könne, nach dem Sturz der »bürgerlichen Gesellschaft«: im »Sozialismus«. Es handelt sich hier – und erst recht bei den über 50 späteren und acht Mal überarbeiteten Auflagen der Schrift, deren letzter Teil »Die Sozialisierung der Gesellschaft« behandelt und als 28. Kapitel auch »Die Frau in der Zukunft« enthält – um die Konstruktion einer veritablen Utopie der gesamten sozialistischen

113 Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke (= MEW), Bd. 16, Berlin 1962, S. 18–20. 114 Zu den beiden Dokumenten und zum Folgenden vgl. Koselleck (wie Anm.  5), S.  174 f., 193 f.; MEW Bd. 1, S. 347 f., 377, 373; MEW Bd. 16, S. 5–13; MEW Bd. 4, S. 459–493, hier S. 493.

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Gesellschaft, eines »goldenen Zeitalters« mit aller denkbaren »Detailausarbeiterei« und »Utopistereien«.115 Seltener rekurrierte Bebel auf die in den 1860er Jahren gängig gewordenen Termini »Frauenfrage«  – allerdings begann mit ihr sein Buch  – oder »Frauenbewegung«.116 Doch bald setzte sich für die letztere eine neue »onomasio­ logische Alternative« durch: nämlich »bürgerliche Frauenbewegung«. In Bebels Urfassung von 1879 gibt es diese Bewegung nur ohne Adjektiv, und als »bürgerliche« taucht sie erst in der Neubearbeitung von 1895 auf, neben einer »proletarischen«. Wenngleich er »Frauenbewegung« gelegentlich auch später noch klassenübergreifend benutzt, sah er hier doch »feindliche Schwestern« am Werk, jedenfalls seit der Neubearbeitung von 1895 (typischer für die SPD war allerdings Engels, der gleichzeitig von den »antiquierten halb-bürgerlichen Frauenrechts-Eselinnen« schrieb, die nun »in den Hintergrund gedrängt werden« sollten, und von dem »heiligen Schrecken« seiner Genossinnen vor den Berliner »Frauenrechtsweibern«).117 Wenig später, kurz nach Beginn der Karriere des Begriffs »Feminismus« in Frankreich, begannen dort die Sozialist(inn)en von »féminisme bourgeois« zu sprechen, und zwar  – ebenso wie beim deutschen Pendant  – in einem dezidiert pejorativen und denunziatorischen Sinn; die schreib- und redefreudigen Anführerinnen bei dieser Begriffsentwicklung waren Clara Zetkin und Louise Saumoneau, wobei die erstere großen, die letztere minimalen Einfluss hatte. Im Englischen und Amerikanischen gab es damals diese Begriffsentwicklung zwar nicht, aber gleichwohl begann kurz vor dem Jahrhundertende die  – über Begriffsgeschichte letztlich weit hinausgehende – »sozialistische Konstruktion und internationale Karriere des Konzepts ›bürgerlicher Feminismus‹«; dieser Begriff, von Marilyn Boxer in einer bahnbrechenden Studie analysiert, ging in die Ideologie der Zweiten und Dritten Internationale ein, verbreitete sich global und wirkt bis heute; er ist historisch von größerer Bedeutung und Wirksamkeit als die vielbeschworene »sozialistische Frauenemanzipationstheorie«.118 115 So diverse Zeitgenossen, zit. in: Thomas Welskopp, Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz, Bonn 2000, S.  727, 739. Die vorangehenden Zitate aus der Erstauflage: August Bebel, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 10/1: Die Frau und der Sozialismus [ =1. Fassung], mit einem Geleitwort von Susanne Miller, bearb. v. Anneliese Beske u. Eckhard Müller, München 1996, S. 22 f., 32, 34, 59, 177 f.; für die letztere Passage und das »goldene Zeitalter« habe ich die entsprechende spätere Passage herangezogen: Bd. 10/2: Die Frau und der Sozialismus, 191050, S. 650–657 (= 28. Kapitel), hier S. 653, 657. Die 1. Fassung, die keine Kapiteleinteilung enthält, bringt die sozialistische Zukunftskonstruktion auf S. 122–199, bes. S. 171–179. 116 Bebel, Reden, Bd. 10/1, S. 1 f., 96. 117 Bebel, Reden, Bd. 10/2, S. 240; 25. Auflage, 1895, S. 6; Friedrich Engels an Laura Lafargue, Bericht über Louise Kautsky und Tussy (Eleanor) Marx, 2. Okt. 1891, in: MEW Bd. 38, Berlin 1968, S. 168 f. 118 Marilyn Boxer, Rethinking the Socialist Construction and International Career of the Concept »Bourgeois Feminism«, in: AHR 112/1 (2007), S. 131–158 (»feminism« steht hier, was die deutschen Quellen betrifft, für »Frauenbewegung«); vgl. dies., Eight Year Exile,

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Die entschiedenste Wortführerin bei dem – in der deutschen Sprache weitgehend erfolgreichen – Unternehmen, aus der Frauenbewegung eine »bürgerliche« zu machen,119 war Clara Zetkin, die dafür gern auch das Wort »Frauenrechtelei« benutzte (nicht aber »Feminismus«). Ihre oft repetitive Polemik – in ihrer Agitationszeitschrift »Die Gleichheit« und ihren Broschüren überliefert – setzte in unserer Begriffsgeschichte neue, oft widersprüchliche und auch realitätsfremde Akzente. Klassenübergreifende Schwesternschaft kam für Zetkin nicht in Frage, nicht einmal Bebels »feindliche«, und ohne Unterlass polemisierte sie seit 1889 gegen die »Frauen-Bewegung der Bourgeoisie, welche angeblich für die Frauenrechte kämpft«, gegen »den Brei ideologischer und frauenrechtlerischer Schlagworte von der Schwesternschaft aller Frauen etc.«, gegen »humanitätstrunkene Allerweltsbasenschaft« oder »frauenrechtlerische Harmonieduselei«.120 Klasse habe absoluten Vorrang vor Geschlecht, die »Klassenlage« vor der »Geschlechtslage«. Deshalb sei, erstens, die »bürgerliche« Frauenbewegung »Fleisch vom Fleisch und Bein vom Bein der deutschen Bourgeoisie« (gern verfremdete Zetkin Bibelzitate), und »ihre wichtigsten Lebensinteressen sind die der Ausbeutenden und Herrschenden« (dabei befänden sie sich Eighty Year Influence, in: dies. u. John S. Partington (Hg.), Clara Zetkin: National and International Contexts, London 2013, S. 9–21. Zum Übrigen vgl. Françoise Picq, »Bourgeois Feminism« in France: A Theory Developed by Socialist Women before World War I, in: Judith Friedlander u. a. (Hg.), Women in Culture and Politics: A Century of Change, Bloomington, IN 1986, S. 330–343; Laurence Klejman u. Florence Rochefort, L’Égalité en marche. Le féminisme sous la Troisième République, Paris 1989, Kap. 6, bes. S. 211–217; vgl. auch Rochefort (wie Anm.  63); Charles Sowerwine, Sisters or Citizens? Women and Socialism in France since 1876, Cambridge 1982, bes. S. 81–108. Die »sozialistische Frauenemanzipationstheorie« wurde erstmals zum Objekt akademischer Analyse in Werner Thönnessen, Die Frauenemanzipation in Politik und Literatur der Deutschen Sozialdemokratie (1863–1933), Saarbrücken 1958 (Betreuer: Adorno und Horkheimer); weitergeführt wurde die Analyse anfangs vor allem in den USA: Karen Honeycutt, Clara Zetkin: A LeftWing Socialist and Feminist in Wilhelmian Germany, Ann Arbor 1975; Jean Quataert, Reluctant Feminists in German Social Democracy, 1885–1917, Princeton, NJ; Marilyn J. Boxer u. Jean H. Quataert, Socialist Women: European Socialist Feminism in the 19th and early 20th Centuries, New York 1978. Vgl. auch Richard J. Evans, Sozialdemokratie und Frauenemanzipation im deutschen Kaiserreich, Berlin 1979. 119 In Werken zur deutschen Frauenbewegung, insbesondere in deutschsprachigen, ist es zum ubiquitären Ritual geworden, von der Frauenbewegung als »bürgerlich« zu sprechen. Vgl. z. B. Barbara Greven-Aschoff, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894–1933, Göttigen 1981; immer noch selten ist die historisch korrekte Formulierung von Schaser, Frauenbewegung (wie Anm. 64). 120 Clara Zetkin, Rede am 19. Juli 1889 in Paris, in: Protokoll des Internationalen ArbeiterCongresses zu Paris, Nürnberg 1890, S.  80–85, hier S.  81; erst viel später wurde der Titel »Für die Befreiung der Frau!« hinzugefügt; vgl. Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Vorwort v. Wilhelm Pieck, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 3 Bde., Berlin 1957, hier Bd. 1, S. 3; dies., Reinliche Scheidung, in: Die Gleichheit 4/8 (1894), S. 63; dies., Frauenrechtlerische Harmonieduselei, in: Die Gleichheit 5/1 (1895), S. 6 f.; dies., Eine Antwort, in: Die Gleichheit 5/7 (1895), S. 54 f.

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gleichzeitig in einem Kampf gegen die Männer ihrer Klasse).121 Aus demselben Grunde sei, zweitens, »die proletarische Frauenbewegung in erster Linie nicht Frauenbewegung […], sondern revolutionäre Abeiterbewegung«, sie sei »gar keine Frauenbewegung, sondern sozialistische Arbeiterbewegung.«122 Die Fleisch-Metapher galt nur für die »Bürgerlichen«; für die Arbeiterinnen war es die Metapher »Schulter an Schulter mit den Männern ihrer Klasse« (ungeachtet ihrer eigenen, Marx’, Bebels oder Engels’ Rhetorik, derzufolge »wie der Arbeiter vom Kapitalisten unterjocht wird, so die Frau vom Manne«, oder aber »Er ist in der Familie der Bourgeois, die Frau repräsentiert das Proletariat«). Somit sei »der Kampf für die Emanzipation der Frau« eine »Nebenaufgabe«, während die »Hauptaufgabe« heiße: »durch den Klassenkampf jede Klassenherrschaft für immer zu beseitigen.«123 Drittens ging es neben der theoretischen um die emotionale Strategie in diesem Klassenkampf. Mochten sich Feministinnen auch durchaus um die Überwindung von »Klassenhochmuth« bemühen, so erspare ihnen das, so Zetkin, keineswegs den »naturwüchsigen« und notwendigen »Klassenhass« auf sozialistischer Seite.124 Und so drängte Zetkin seit 1894 auf die berüchtigte »reinliche Scheidung« zwischen Frauenbewegung und Sozialdemokratie; jegliche Kooperation bedeute »Verrat«, denn die »bürgerliche Frauenrechtelei« sei allenfalls eine »Reformbewegung« (»Sozialreformler«) und somit »reaktionär«. Die Proletarierinnenbewegung hingegen »ist revolutionär und muss revolutionär sein« (letzteres hinzuzufügen war wohl nötig), »einzig und allein der Klassenkampf« interessiere sie, mit dem Ziel der »Zertrümmerung« und »Beseitigung der bürgerlichen Gesellschaft«.125 Warum wurde hier – zu eben der Zeit, als der Antifeminismus von »rechts« florierte – solcherart von links gegen die Frauenbewegung gewettert? Sichtlich fürchtete Zetkin die konkurrierenden und oft durchaus erfolgreichen feministischen Aktivitäten unter Arbeiterinnen und warnte ihre Leserschaft vor solchen »Quertreibereien«.126 Diese Furcht war Teil von Zetkins Kampf um ihre Machtposition sowohl unter den SPD-Frauen (konkurrierende Anwärterinen verdrängte sie gnadenlos) als auch innerhalb der Männer-SPD. Während reformerisch gesinnte SPD-Mitglieder – ab 1900 sollten sie »reformistisch« oder »revisionistisch« genannt werden – mit der Frauenbewegung aus guten Gründen sympathisierten und kooperierten (manche auch als Mitglied in Frauenvereinen), stellte sich Zetkin ins Lager der »Revolutionäre« und beabsichtigte, 121 Zetkin, Eine Antwort, in: Die Gleichheit 5/7 (1895), S. 55; dies., Frauenrechtlerische Unklarheit, in: Die Gleichheit 6/3 (1896), S. 19 f. 122 Zetkin, in: Die Gleichheit 6/2 (1896), S. 16; Zetkin, in: Die Gleichheit 5/1 (1895), S. 6. 123 Zetkin, in: Die Gleichheit 4/15 (1895), S. 55. 124 Zetkin, Noch einmal »reinliche Scheidung«, in: Die Gleichheit 4/15 (1894), S. 115; vgl. auch unten, Anm. 137. Zur »haine farouche« bei französischen Sozialistinnen vgl. Klejman u. Rochefort (wie Anm. 118), S. 214. 125 Zetkin, Reinliche Scheidung, in: Die Gleichheit 4/8 (1894), S. 63, 102. Vgl. z. B. Die Gleichheit 6/3 (1896), S. 19; 4/15 (1895), S. 116. 126 Zetkin, in: Die Gleichheit 4/15 (1894), S. 115, 199 f.

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auch unter den Frauen »die Scheidung zwischen bürgerlicher Demokratie und Sozialdemokratie«, welche die jüngst vergangenen Jahre der SPD geprägt hatten, durchzusetzen.127 Der Sieg der »Revolutionäre« im Revisionismusstreit war auch einer von Zetkin; er dauerte allerdings nur bis 1908, als sie ihre Machtstellung verlor. Gleichwohl zählen ihre Formulierungen zum Erbe der SPD, in deren Programm sie 1896 auf dem Gothaer Parteitag aufgenommen wurden, als Grundlage ihrer danach nicht mehr revidierten »Frauenemanzipationstheorie«. In Zetkins Gothaer Rede werden die Frauen in drei oder vier Klassen eingeteilt, in allen geht es im Wesentlichen um Geld und Gut: Die Frauen der »oberen Zehntausend« fordern, so postulierte sie, freie Verfügung über ihr Eigentum (»die letzte Stufe der Emanzipation des Privatbesitzes«) und stellen sich damit angeblich gegen ihre Ehemänner; die »klein- und mittelbürgerlichen« sowie die weibliche »Intelligenz« fordern Gleichstellung mit Männern in Bildung, Beruf und Politik (als »Konkurrenzkampf« mit ihren Männern). Hingegen richte sich der »Befreiungskampf« der Proletarierin, die schon »wirtschaftlich selbständig« sei, auf »ihre Rechte als Gattin, als Mutter« (in Zetkins erster Rede war es 1889 noch um ihr Recht auf Erwerbsarbeit gegangen, ähnlich wie bei Louise Otto und August Bebel) mit dem »Endziel« der »politischen Herrschaft des Proletariats«, natürlich »Hand in Hand mit dem Manne ihrer Klasse«, wobei die Proletarierin aber auch den Forderungen der (»bürgerlichen«) Frauenbewegung »zustimme«. Hieraus ergebe sich (laut Zetkin mit zwingender Logik) ein unüberwindlicher Klassenabgrund: »Die Emanzipation der proletarischen Frauen kann deshalb nicht das Werk sein der Frauen aller Klassen, sondern ist allein das Werk des gesamten Proletariats ohne Unterschied des Geschlechts«, und zu ihrer Beförderung sei »nicht spezielle Frauenagitation, sondern sozialistische Agitation unter den Frauen« zu betreiben (diese vertraute der Parteitag dann Zetkin an). Ausgeblendet blieben die realen Geschlechterbeziehungen innerhalb der Arbeiterschaft.128 Was aber heißt »bürgerlich«? Von damals bis zur modernen Sozialgeschichtsschreibung wird der Begriff, soweit er Klassenzugehörigkeit bezeichnen soll, für Frauen in der Regel anders definiert als für Männer, nämlich anhand von Familienbeziehungen: als »bürgerlich« gelten solche mit einem »bürgerlichen« Vater (oder auch Ehemann). In diesem Sinn war auch Zetkin bürgerlich (zumal sie selbst die Klassenangehörigkeit für »von der Geburt an« festgelegt hielt); sie selbst war Lehrerin gewesen, ihre Lehrerin war Auguste Schmidt gewesen, die Mitgründerin des AdF, und zudem hatte sich ihre Mutter stark in der Leip­ziger 127 Zetkin, in: Die Gleichheit 5/7 (1895), S. 56 (Nachruf auf Louise Otto, der sie vorwarf, diese Scheidung nicht vollzogen zu haben). Zur Trennung der »proletarischen« von der bürgerlichen Demokratie vgl. Welskopp (wie Anm. 115), S. 614–621; zu feministischen »Revisionisten« vgl. Evans (wie Anm. 118), z. B. S. 94 f. 128 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der SPD. Abgehalten zu Gotha vom 11. bis 16. Oktober 1896, Berlin 1896, ND Berlin 1978, S. 160–168, 173–175. Vgl. Thönnessen (wie Anm. 118), S. 49 f.; Evans (wie Anm. 118), S. 112–115. Auch hier wurde in späteren Editionen ein Titel hinzugefügt (»Nur mit der Proletarierin wird der Sozialismus siegen!«).

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Frauenbewegung engagiert.129 Eine »Bürgerliche« konnte mit dem Bekenntnis zu Klassenkampf, Klassenhass und Revolution zwar nicht Proletarierin werden, wohl aber Sozialistin; das jedoch ist kein soziales oder Klassen-Merkmal, sondern eine politische Kategorie. In der Tat war, soweit bekannt, der Anteil von Bürgerlichen unter den SPD-Frauen ähnlich hoch wie der Anteil unterbürgerlicher Frauen in der Frauenbewegung (etwa zehn Prozent). Und nur relativ wenige leibhaftige Arbeiterinnen gehörten Zetkins Frauenorganisation an: Die Mehrzahl der Mitglieder waren nicht-erwerbstätige Arbeiterehefrauen, die von ihren Ehemännern für den Eintritt geworben worden waren (unter den Arbeiterinnen waren etwa 70 Prozent unverheiratet, und in der säkularen Frauenbewegung waren etwa vierzig Prozent verheiratet).130 Vor allem aber: Während einerseits Zetkin ihr starres Konzept der »reinlichen Scheidung« entlang von Klassengrenzen »von der Geburt an« nicht zuletzt zum Zweck ihrer Profilierung innerhalb der männerdominierten SPD instrumentalisierte, hat andererseits die heutige Sozialgeschichtsschreibung für das 19. Jahrhundert weitaus komplexere Verhältnisse rekonstruiert und gerade auch Geschlechterbeziehungen als »nicht-klassengesellschaftliche« wahrzunehmen gelernt.131 Doch was bedeutete der Begriff »bürgerlich« für die Feministinnen von damals? Viele akzeptierten das Adjektiv (etwa Gertrud Bäumer oder Frances­ Magnus-Hausen) oder waren gar stolz darauf. Manche antworteten – so z. B. in der österreichischen Zeitung »Das Recht der Frau« –, sie seien sehr wohl »revolutionär«, nämlich weil sie die Geschlechterhierarchie in Frage stellten. Doch Zetkin wollte sich »unser Erstgeburtsrecht« auf Revolution (eine ihrer biblischen Standardphrasen) nicht nehmen lassen, und selbst wenn die »bürgerlichen« Frauen Bomben und Dynamit einsetzten, wären sie nicht »revolutionär«, sondern »reaktionär«, weil »bürgerlich«. Andere, so etwa die »Radikale« Anita Augspurg, wandten sich gegen Revolution, weil dies blutige Gewalt bedeute (dazu Zetkin: käme es soweit, so sei nicht die Sozialdemokratie daran schuld, sondern die »herrschenden Klassen«).132 Helene Lange erkannte den Konstruktionscharakter des Begriffs: »eben dadurch« – weil es den Sozialdemo129 Immer noch nützlich: Karen Honeycutt, Clara Zetkin: A Socialist Approach to the Problem of Woman’s Oppression, in: FS 3/3–4 (1976), S. 131–144. Zur Definition: Jürgen Kocka, Das europäische Muster und der deutsche Fall, in: ders. (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, 3 Bde., Göttingen 1995, Bd. 1, S. 9 f. Zu »von der Geburt an«: Clara Zetkin, Noch einmal »reinliche Scheidung«, in: Die Gleichheit 4/13 (1894), S. 103. 130 Evans (wie Anm. 118), S. 203–209; Boxer, Rethinking (wie Anm. 118), S. 135–137; Gerhard, Movement (wie Anm. 79), S. 112 f. 131 Dieter Langewiesche, Frühliberalismus und Bürgertum 1815–1849, in: Lothar Gall (Hg.), Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert, München 1997, S.  63–129; Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 2001, S. 98 ff.; Boxer, Rethinking (wie Anm. 118), S. 135. 132 Auf den Einspruch der Zeitschrift »Das Recht der Frau« (Nr.  117, 1894) verweist Zetkin in: Die Gleichheit 4/13 (1994), S. 102 und 4/15 (1894), S. 115; Anita Augspurg und Zetkins Reaktion: in dem in Anm. 73 genannten Kongressbericht, S. 401 f., 407. Zu Bäumer vgl. Anm. 13.

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kratinnen zufolge »eine besondere Frauenbewegung nicht zu geben brauche« und weil sie Kooperation ablehnten  – sei die Frauenbewegung »zur ›bürgerlichen‹ gestempelt« worden; doch lieber fand sie sich damit ab, als »stets nur eine höhnische Abfuhr« zu erhalten.133 Wiederum andere (etwa Henriette Fürth) sprachen von der »sogenannten bürgerlichen« Frauenbewegung und stellten damit die Eindeutigkeit der Klassenkategorien in Frage. Alle Feministinnen waren weit entfernt davon, Klassendifferenzen zu bestreiten, sahen sie aber als flexibel in Raum und Zeit und nicht als unüberwindliches Hindernis für klassenübergreifende Kooperation. Die gleichsam allerbürgerlichsten Frauen aber waren die jüdischen, wenn auch erst seit wenigen Generationen.134 Einigen von ihnen trat Zetkin entgegen, in Berlin im September 1896, auf dem einwöchigen Internationalen Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen, zu dem eine Gruppe Berliner Feministinnen eingeladen hatte; er tagte drei Wochen vor dem Gothaer SPDParteitag, auf dem dann Zetkin ihren Sprung in den Parteivorstand und ins Parteiprogramm schaffen sollte. Lina Morgenstern, bekannt für die erstaunliche Bandbreite ihrer frauenbewegten Aktivitäten, besonders unter der Berliner Arbeiterschaft, betonte in ihrer Eröffnungsrede, dass die Organisatorinnen »nicht nach Meinungsverschiedenheit, noch nach Stellung der Person oder nach politischem und religiösem Glaubensbekenntnis, nicht nach Nationalität und Rasse« gefragt hätten. Es kamen eineinhalb Tausend aus siebzehn Ländern, und das »Berliner Tageblatt« sprach von einem »vielhundertköpfigen Frauen­ parlament – unter dem Zeichen der Internationale«. Für Frauen aus vielen Ländern war es die erste Gelegenheit, vom deutsch-sozialistischen Dogma der »reinlichen Scheidung« zu erfahren, und viele von ihnen waren empört; manche verwiesen auf ihr eigenes Land, in dem so etwas nicht denkbar wäre, und umgekehrt verwies Marie Stritt (bald wurde sie Vorsitzende des Bunds deutscher Frauenvereine)  darauf, dass nirgendwo außer in Deutschland die Spaltung zwischen »bürgerlicher« und »proletarischer« Frauenbewegung »durch Fanatismus und Klassenhass« noch »künstlich erweitert« worden sei.135 Auf der Abschlussveranstaltung referierte die Berliner Jüdin Jeannette Schwerin zum Thema »Auf welchen Arbeitsgebieten kann sich die gesamte Frauenwelt zu gemeinsamer Arbeit vereinigen?« und stellte konkrete Beispiele dafür vor. ­Zetkin, die sich als erste Diskutantin meldete, präsentierte sich »als Gegnerin« des Kongresses; sie wies gemeinsame Aktionen zurück, denn »unser Kampf [ist] in 133 Helene Lange, Lebenserinnerungen, Berlin 19282, S. 221 f. 134 Vgl. Marion Kaplan, Jüdisches Bürgertum: Frau, Familie und Identität im Kaiserreich, Hamburg 1997 (amerik. Original 1991); dies., Identity (wie Anm. 98). 135 Der Internationale Kongress (wie Anm. 73), S. 5 f., 12 f.; die folgenden Zitate ebd., S. 393– 396; Clara Zetkin, Kleine Nachrichten, in: Die Gleichheit 6/2 (1896), S. 16 (»nicht Frauenbewegung«): Hier warnte Zetkin im Vorfeld des Kongresses, dass »klassenbewußte Proletarierinnen« nicht »vertreten« sein würden; sie selbst kam trotz ihrer Absage. Vgl. Wobbe (wie Anm. 109), bes. S. 156–166.

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erster Linie ein Klassenkampf« und »wir stehen im anderen Lager«, weil »die proletarische Frauenbewegung in erster Linie nicht Frauenbewegung ist, sondern revolutionäre Arbeiterbewegung«, und weil bürgerliche Reformen »nur ein Linsengericht« seien, für das »wir unser Erstgeburtsrecht«, »eine revolutionäre Klasse zu sein«, nicht hergäben. Dem setzte Jeannette Schwerin entgegen, »dass es für uns Frauen, die wir uns zu keiner Klasse rechnen, […] keinen Kampf giebt, und dass, wenn die anderen von einem Kampf sprechen, ich nicht weiss, gegen wen sie kämpfen wollen, denn sie finden in uns keine Feinde, und wo kein Feind ist, ist kein Kampf!«136 Auch die jüdische (und »reformistische«) Sozialdemokratin Johanna Loewenherz kritisierte Zetkins »Männersozialismus« sowie deren Postulat, »dass wenn die soziale Frage gelöst ist, auch die Frauenfrage gelöst sei«, und wenig später reagierte Henriette Fürth, Gründungsmitglied des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und des Jüdischen Frauenbunds, Aktivistin in der interkonfessionellen Frauenbewegung, Sozialpolitikerin und Sozialdemokratin, auf Zetkins Auftritt beim Gothaer SPD-Parteitag und beim Frauenkongress: »Es war revolutionär zum ersten – revolutionär zum zweiten – und revolutionär zum dritten Mal!« Sie kritisierte Zetkins Dogmatismus, und »töricht und eitel« fand sie es, die Chance der Kooperation auszuschlagen. Doch wie alle Kritikerinnen Zetkins jener Zeit wurde sie in deren Hausorgan abgeschmettert: Fürths Kritik sei »seichtes Weibergerede« und Fürth selbst »Spießbürger zum ersten, zweiten und dritten Mal«.137 Die Beiträge der jüdischen Feministinnen inner- und außerhalb der Sozialdemokratie – darunter auch die Soziologin Hilde Lion, deren Analyse von Zetkins Sprache zum Ergebnis »Hetzjargon«, »brutale Ausdrucksweise« und »Furor einer jung ergriffenen Idee« kommt – sowie Zetkins Reaktion demonstrieren, wie kontrovers, konstruiert und kritikwürdig der Diskurs von der »bürgerlichen« Frauen­ bewegung war (und ist). Wenn nun aber dieser Diskurs problematisch ist, zumal angesichts unserer heutigen Einsicht in die Uneindeutigkeiten von Klasse und deren vielfache und wandelbare Verschränkungen mit der Kategorie Geschlecht – welchen Begriff dafür können, sollen wir dann heute benutzen? Am besten sollten wir, wie es im 19. Jahrhundert üblich war, schlicht von »Frauenbewegung« sprechen, zumal oft genug erklärt worden ist, dass es eine sozialistische (oder proletarische) Frauen­ bewegung eigentlich gar nicht gebe. Bedauerlicherweise bezeichnet man seit

136 Der internationale Kongress (wie Anm. 73), S. 409. 137 Wobbe (wie Anm. 109), S. 163 f. (Loewenherz); Henriette Fürth, Die Frauenbewegung und der sozialdemokratische Parteitag, in: Die Gleichheit 6/25 (1896), S. 197 f.; Clara Zetkin, Zur Antwort, in: ebd., S. 198–200. Vgl. auch Henriette Fürth, Der Antwort zur Antwort, in: Die Gleichheit 6/26 (1896), S. 203–205; Clara Zetkin, Ein letztes Wort zur Erwiderung, in: ebd., S. 205–207. In ihrer Autobiographie schreibt Fürth über Zetkin: »Freilich wusste diese Frau auch zu hassen […] und wurde daher gelegentlich auch ungerecht gegen solche […], die sich ihrer Autorität nicht fügten« (Streifzüge [wie Anm. 109], S. 263). – Zum Folgenden: Hilde Lion, Zur Soziologie der Frauenbewegung, Berlin 1926, S. 88 f.

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kurzem zuweilen – aber nur in Bezug auf die deutsche Geschichte – als »Frauen­ bewegung« jegliche Frauenorganisation, ungeachtet von deren (feministischen, nicht- oder anti-feministischen) Zielen, ihres Charakters als Teil  einer »Bewegung« und des Grads ihrer Autonomie (man tut es sogar bei Nazi-Frauenorganisationen); als Reaktion darauf hat man das vermeintlich präzisere Wort »Frauenemanzipationsbewegung« erfunden (besser wäre dann allerdings, trotz eines ebensolchen Anachronismus im Deutschen, »Feminismus«).138 Doch gerade angesichts der eindeutigen Begriffsgeschichte von »Frauenbewegung« als – wie auch immer umstritten – emanzipatorische sollte der Sinn des Begriffs beibehalten werden. Zuweilen spricht man auch von »liberaler Frauenbewegung«: Das leuchtet ein, verdeckt aber den Umstand, dass der (männliche) Liberalismus in Deutschland – ähnlich wie in England und Frankreich – sich bis zum Ersten Weltkrieg kaum für das weibliche Geschlecht engagierte.139 Einen anderen Rat gibt uns die deutsch-jüdische Reformerin Alice S­ alomon: 1899 sprach sie in London auf der Konferenz des International Council of ­Women (Internationaler Frauenbund), und zwar auf Englisch, was sie gut beherrschte; sie berichtete über Deutschland und übersetzte »bürgerliche Frauen­bewegung« nicht etwa mit »bourgeois« oder »middle-class women’s movement« (wie es heutzutage unweigerlich geschieht), sondern mit »civic women’s move­ment«.140 Somit setzte sie angesichts der bekannten Doppeldeutigkeit des Begriffs »bürgerlich« – er kann sowohl »bourgeoisie« als auch klassenübergreifende Bürgerschaft, citizenship heißen, im einstigen Sinn von »bürgerliche Gesellschaft«, civil society, société civile – der Klassenzugehörigkeit den Einsatz für weibliche Bürgerrechte und Bürgerschaft entgegen. Sicher hätte sich K ­ oselleck, der den althergebrachten Terminus »Bürgerschaft« sehr hoch schätzte, über diese Variante 138 Vgl. Paletschek u. Pietrow-Ennker, Concepts and Issues, in: dies. (wie Anm.  63): die zugrundeliegende Konferenz hatte den Titel »women’s movement« getragen; der Buchtitel »women’s emancipation movement« sollte bewirken, was einst die Begriffe »Frauen­ bewegung« und »women’s movement« schon von sich aus taten: »nonfeminist women’s organisations« ausschließen (S. 5). Ein Beispiel dafür, wie neuerdings unter »Frauenbewegung« in der Tat Frauenorganisationen jeglicher Couleur einbezogen werden, ist das oben, in Anm. 104 genannte Werk über Antisemitismus in der »deutschen Frauenbewegung«. Zum antifeministischen Charakter der NS-Frauenorganisationen vgl. oben, bei Anm. 82; auch die Vaterländischen Frauenvereine, die unter männlicher Führung standen, gehörten nicht zur Frauenbewegung; das Missverständnis findet sich z. B. bei Karen Offen, Des modèles nationaux (1900–1945)?, in: Eliane Gubin u. a. (Hg.), Le siècle des féminismes, Paris 2004, S. 65–79, hier S. 72. 139 Vgl. Angelika Schaser u. Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Liberalismus und Emanzipation: In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2010; Dieter Langewiesche, Liberalismus und Sozialismus, hg. v. Friedrich Lenger, Bonn 2003, z. B. S. 219.  Vgl. auch Boxer, Rethinking (wie Anm. 118), S. 150 f.; Bock (wie Anm. 2), S. 203. 140 Alice Salomon, Protective Legislation in Germany, in: International Council of Women, Report of the Transactions of Second Quinquennial Meeting held in London July 1899, hg. v. Countess of Aberdeen, 7 Bde., Bd. 6: »Women in Industrial Life«, S. 37.

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von »Emanzipation« gefreut.141 Vielleicht hätte nicht einmal Zetkin Einspruch erhoben, denn noch 1889 wurde sie bei ihrer Pariser Rede laut Protokoll mit »Bürgerin Zetkin« vorgestellt (später hieß es »Genossin«). Mit Alice Salomon können wir also anstelle von »bürgerlicher Frauenbewegung« durchaus auch von »zivil(gesellschaftlich)er Frauenbewegung« sprechen, ähnlich wie man anstelle von »bürgerliche Gesellschaft« inzwischen »Zivilgesellschaft« setzt, oder aber – will man »bürgerlich« partout nicht mehr anders denn als »bourgeois« verstehen  – »bürgerschaftliche«; und nicht nur mit Salomon, sondern auch mit vielen anderen Feministinnen – angefangen mit Louise Otto –, deren um­ fassender Begriff von Bürgerin und Bürgerschaft das Frauenwahlrecht einschloss, aber weit darüber hinausging und der heutigen Bedeutung von citizenship als Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft entsprach. Ebenso wie Helene Lange zufolge »die Frau heute tatsächlich schon Bürgerin ist«, argumentierten die »Radikalen«: »das, was ihr vom Gesetze noch versagt wird, das ist sie in Wirklichkeit bereits: eine Bürgerin ihres Staates.«142 Somit würde, im Sinn des langen 19. Jahrhunderts, ein begriffsgeschichtlicher Bogen von Hippels »bürgerlicher Verbesserung« bis zu moderner Bürgerschaft geschlagen.

141 Vgl. Reinhart Koselleck u. Klaus Schreiner (Hg.) Bürgerschaft: Rezeption und Innovation der Begrifflichkeit vom hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994. Auf die im Deutschen »notorische Verwechslung« von Bürgertum und Bürgerschaft verweist Herfried Münkler, Der kompetente Bürger, in: Ansgar Klein u. Rainer Schmalz-Bruns (Hg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Bonn 1997, S. 153–172, hier S. 166. 142 Anon. (vermutlich Minna Cauer), Betrachtungen über das Jahr 1897, in: Frauenbewegung 4/1 (1.1.1898), S.  1. Lange: wie Anm.  100; zu »weiblichem Bürgertum« und »modernem Bürgerbewußtsein der Frau« vgl. dies., Fünfzig Jahre (Anm. 112); dies., Das Staatsbürgertum der Frau, in: Kampfzeiten (wie Anm. 45), Bd. 2, S. 125–141. Louise Ottos Sprache ist von der »Bürgerin«-Terminologie geprägt; vgl. etwa Anm. 33 und dies., Frauenleben (wie Anm. 37), S. 255. Vgl. auch Marshall (wie Anm. 29) und Ruth Lister, Citizenship: Feminist Perspectives, Basingstoke 20032.

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Wege und Bewegungen

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Frauenrechte als Menschenrechte: Olympe de Gouges’ transnationale Wiederentdeckung✳

Es war der 14. September 1791, als Olympe de Gouges ihr 25-seitiges Büchlein mit dem Titel »Die Rechte der Frau« (Les droits de la femme) in Druck gab; sein Herzstück war eine »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin« ­(Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne).1 Es geschah also in eben jener aufregenden Zeit, als die Nationalversammlung die Verfassung einer konstitutionellen Monarchie verabschiedete (am 3. September); an den Anfang der Verfassung stellte man die »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen), welche die Nationalversammlung zwei Jahre zuvor schon verabschiedet hatte. Voll freudiger Erregung hielt de ­Gouges den schon laufenden Druck ihres Werks noch einmal an, um in einem Postscriptum ihre »reine Freude« darüber auszudrücken, dass der König der Verfassung zustimmte (das geschah am 13./14. September) und gleichzeitig die Nationalversammlung eine Generalamnestie erließ; de Gouges hoffte (vergeblich), dass nun »alle unsere Flüchtlinge« wieder zurückkehren könnten. Ihre Frauen­rechtserklärung wollte sie der Nationalversammlung vorlegen, die sie verabschieden sollte (sie tagte bis Ende September noch mehrmals, und am 1. Oktober wurde sie von der neugewählten Assemblée législative abgelöst); doch so weit kam es nicht.

Erinnern und Vergessen De Gouges’ Werk über die Rechte der Frauen ist eine grundlegende Kritik an der Erklärung der Menschenrechte von 1789, außerdem eine Ergänzung und schließlich vor allem ein Gegenentwurf. Auf provokative Weise wird das Dokument von 1789 formal imitiert – im Pathos der Präambel und in den berühmten siebzehn Artikeln –, um diese inhaltlich in einer damals unerhörten Alternative ✳ Der

Text, hier leicht modifiziert, erschien als Beitrag zum Themenschwerpunkt »Europäische Geschichte  – Geschlechtergeschichte«, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=410. 1 Meine Übersetzung der Déclaration in: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=411. Das französische Original: URL: http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=412.

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aufzusprengen: als Herausforderung an die Männerwelt, aber auch an Frauen, und als Forderung nach zivilen und politischen Rechten für das weibliche Geschlecht. Zu Recht gilt der Text als ein Schlüsseldokument in der Geschichte der Frauen, der Frauenbewegung und des feministischen Denkens; darüber hinaus kann er auch als ein Schlüsseldokument des modernen politischen Denkens überhaupt gelten. Inzwischen wird er zu den Vorläufern der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gezählt (Vereinte Nationen 1948, besonders Art.  2) und erst recht zu den Vorläufern der UN-Frauenrechtskonventionen, beginnend mit dem Frauenwahlrecht (1952) über das »Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frauen« (1979) bis zu den heutigen Theorien und Aktivitäten unter der Parole »Women’s Rights are Human Rights«, die in den 1990er Jahren begründet worden sind.2 Neuerdings wurde vorgeschlagen, dass de Gouges im Sinn der UN-Erklärung über Menschenrechtsverteidiger von 1998 anerkannt werde, und in Frankreich wird seit zwei Jahrzehnten gefordert, dass sie einen Platz im Pantheon erhalten solle; doch kürzlich hat Präsident François Hollande sich dagegegen entschieden.3 Für viele ist Olympe de Gouges aufgrund ihrer Déclaration zu einer Ikone des Feminismus geworden. Und doch ist ihre historische Bedeutung alles andere als selbstverständlich. Denn erstens sind die Déclaration und ihre Verfasserin nur in wenigen Kreisen bekannt, vor allem in der neueren Frauen- und Geschlechterforschung und den historisch interessierten Teilen der Frauen- und der Menschenrechtsbewegungen, aber weder in der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen noch, mit seltenen Ausnahmen, in der etablierten Geschichtsschreibung zur Französischen Revolution.4 Zweitens ist Olympes breites Werk, das weit über die 2 Vgl. Arvonne Fraser, Becoming Human. The Origins and Development of Women’s Human Rights, in: Marjorie Agosin (Hg.), Women, Gender, and Human Rights: A Global Perspective, New Brunswick, NJ 2001, S.  15–64; Charlotte Bunch, Women’s Rights as Human Rights: Towards a Re-vision, in: Human Rights Quarterly 12 (1990), S. 486–498. Vgl. auch Jay Winter, The Universal Declaration of Human Rights, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=380, und: The Universal Declaration of Human Rights (1948), in ebd., URL: http://www.europa.clio-online.de/2009/ Article=381. Die Konvention von 1979: URL: http://www.un.org/womenwatch/daw/cedaw/ cedaw.htm (20.11.2009). Weder Olympe de Gouges noch Frauenrechte spielen eine Rolle in: Neue Menschenrechtsgeschichte, Themenheft von: GG 38/4 (2012). 3 Colloquium zu de Gouges am 14.11.2008 in Montreuil, veranstaltet von der UNESCO u. a. zur Feier des 60. Jahrestags der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, in: Le Monde diplomatique, Nov. 2008 (URL: http://www.monde-diplomatique.fr/2008/11/SANE/16514 [20.11.2009]); René Viénet, Olympe de Gouges – une Quercinoise en route vers le Panthéon, in: Le Quercy sur le Net (URL: http://www.quercy.net/hommes/odegouges.html); Geneviève Fraisse, Olympe de Gouges, sa place est au Panthéon, in: ReSPublica, 6. Okt. 2009; dies., Muse de la raison, la démocratie exclusive et la différence des sexes, Aix-en-Provence 1989. 4 Vgl. Elisabeth G. Sledziewski, Die Französische Revolution als Wendepunkt, in: Georges Duby u. Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, 5 Bde., Frankfurt a. M. 1993–1995, Bd. 4, S. 45–62; Christine Fauré, Des droits de l’homme aux droits des femmes: une conversion intellectuelle difficile, in: dies. (Hg.), Encyclopédie politique et historique des femmes:

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Déclaration hinausgeht und auch viel zu deren Verständnis beiträgt, nach wie vor kaum bekannt; Teile davon wurden erst vor kurzem entdeckt, von anderen ist nur der Titel überliefert, und ihr Gesamtwerk umfasst rund 150 Titel und 3.500 Seiten.5 Drittens ist Olympes Ruhm höchst rezent. Allerdings war sie im prä­ revolutionären Paris – 1748 geboren in der südwestfranzösischen Provinz, zog sie nach einer unglücklichen Ehe um 1770 in die Kapitale, als Witwe und mit ihrem Sohn – durchaus bekannt, vor allem als Dramatikerin und Publizistin. Und auch später, im revolutionären Paris, war sie ebenso berühmt wie berüchtigt: wegen ihres vielfältigen, ungewöhnlichen und streitbaren Engagements gegen die Sklaverei und für Redefreiheit, gegen Armut und für eine »patriotische« Besteuerung von Luxus, zugunsten unehelicher Kinder und ihrer Mütter sowie für die Besserstellung von Frauen. Sogar außerhalb Frankreichs wurde ihre Adresse an die Nationalversammlung gerühmt, etwa von Theodor Gottlieb von Hippel in seinem 1792 anonym erschienenen Werk »Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber«.6 De Gouges gehörte keiner der politischen Faktionen der Fran­zösischen Revolution an, bewegte sich aber im Umkreis derer, die später Girondisten genannt wurden und ebenfalls für die Rechte von Frauen und von Schwarzen eintraten. In Olympes zahlreichen Flugschriften und Plakaten nahm sie zu den Entwicklungen der Revolution ebenso enthusiastisch wie kritisch Stellung und wandte sich scharf gegen die Terreur und gegen Robespierre. Schließlich wurde ihr kurzer Prozess gemacht, und am Tag darauf, am 3. November 1793, wurde sie unter dem Beil der Guillotine hingerichtet: zwei Wochen nach der Königin und drei Tage nach der Hinrichtung der girondistischen Männer. Dann wurde sie »vergessen« (im Gegensatz zu der weitaus weniger radikalen Mary Woll­stonecraft, die 1792 in England ihre »Vindication of the Rights of Woman« veröffentlicht hatte). Erst ein halbes Jahrhundert später wurde de Gouges in einigen wenigen Büchern zur französischen Geschichte wieder erwähnt (meist auf verständnislose, verächtliche oder gar pathologisierende Weise), und zuweilen wurden immerhin einzelne Sätze aus ihrer Frauenrechtserklärung zitiert. Seit 1848 taucht sie in Texten der französischen Frauenbewegung auf und um 1900 bei eini-

Europe, Amérique du Nord, Paris 1997, S. 203–222; Marie-France Brive (Hg.), Les femmes et la Révolution Française. Modes d’action et d’expression. Nouveaux droits  – nouveaux devoirs. Actes du colloque international 12–13–14 avril 1989, Toulouse 1989; Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, München 20052, Kap. II. Zur etablierten Geschichtsschreibung vgl. Karen Offen, The New Sexual Politics of French Revolutionary Historiography, in: French Historical Studies 16/4 (1990), S. 909–922. 5 Olivier Blanc, Marie-Olympe de Gouges. Une humaniste à la fin du XVIIIe siècle, Paris 2003, S. 240–247; Gisela Thiele-Knobloch, Olympe de Gouges fordert Menschenrechte für Frauen, in: Winfried Engler (Hg.), Die Französische Revolution, Stuttgart 1992, S. 125–134. 6 Theodor Gottlieb von Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792), Berlin 18282, hg. v. Juliane Dittrich-Jacobi, Vaduz 1981, S. 122 f.; Bock (wie Anm. 4), S. 100 f.

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gen französischen Historikern des Sozialismus oder des »féminisme français«.7 Die Begründerinnen der US-amerikanischen Frauenbewegung wussten nichts von Olympe, als sie 1848 auf dieselbe Weise vorgingen und ihr erstes großes Dokument, die »Declaration of Sentiments«, in Anlehnung an die »Declaration of Independence« von 1776 formulierten.8 Die deutschsprachige Frauenbewegung kümmerte sich kaum um Olympe, allerdings mit Ausnahme zweier Schwägerinnen und Sozialdemokratinnen: Lily Braun widmete ihr 1901 einen längeren Abschnitt, wobei sie aus der tragischen eine Erfolgs-Story machte, und Emma Adler, geb. Braun (Ehefrau des Begründers der österreichischen Sozialdemokratie), schrieb 1906 zwar mit viel Sympathie über sie, wiederholte aber auch zahlreiche Topoi des 19. Jahrhunderts, die längst widerlegt sind.9 Wurde Olympe erwähnt, so stand meist die exzentrische »femme célèbre« im Vordergrund und ihre Frauenrechtserklärung ganz im Hintergrund. Allerdings wurde ein Satz aus ihr gern und geradezu rituell zitiert: »Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen; sie muss gleichermaßen das Recht haben, die Redner­ tribüne zu besteigen.« Olympe de Gouges wurde als Opfer der Guillotine und als Märtyrerin gesehen, doch weitaus weniger als Denkerin, Autorin und Aktivistin.

Eine transnationale Wiederentdeckung Nur ganz wenige Exemplare des Erstdrucks der Frauenrechtserklärung sind erhalten, und fast zwei Jahrhunderte lang gab es weder Nachfrage noch Neu­ auflagen. Dann folgte eine erratische, aber transnationale Neuentdeckung, Editions- und Übersetzungsgeschichte des Werks, vorwiegend im Kontext der Frauenbewegung und Historischen Frauenforschung der 1970er und 80er Jahre. Im Jahr 1971 nahm Paule-Marie Duhet lange Passagen von Les droits de la femme in ihre Studie über die Frauen in der Revolution auf (und verwies dabei auf die Signatur in der Bibliothèque nationale, was baldige Wirkung zeitigte). 1982 folgte eine Faksimile-Ausgabe des Originals, eingefügt in den Zusammenhang weiterer Texte von Olympe und anderen engagierten Frauen jener Zeit (in 7 Vgl. Karen Offen, Women’s Memory, Women’s History, Women’s Political Action: The French Revolution in Retrospect, 1789–1889–1989, in: JWH 1/3 (1990), S.  211–230; Laura S. Strummingher, Looking Back: Women of 1848 and the Revolutionary Heritage of 1789, in: Harriet B. Applewhite u. Darline G. Levy (Hg.), Women and Politics in the Age of the Democratic Revolution, Ann Arbor 1990, S.  259–285. Zur sozialistischen Geschichtsschreibung um 1900: Christine Fauré, La naissance d’un anachronisme: »le féminisme pendant la Révolution française«, in: Annales historiques de la Révolution française 344 (2006), URL: http:// ahrf.revues.org/document6433.html (20.11.2009). 8 Synopse beider Dokumente: URL: http://www.library.csi.cuny.edu/dept/history/lavender/ 2decs.html (20.11.2009). 9 Vgl. Lily Braun, Die Frauenfrage. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre wirtschaftliche Seite, Leipzig 1901, ND Berlin 1979, S. 80–85; Emma Adler, Die berühmten Frauen der Französischen Revolution, Wien 1906, S. 182–197.

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der grandiosen Reihe der Éditions d’Histoire sociale).10 Erst 1986 erschien ein Band mit Œuvres, darunter auch die Déclaration, und die Herausgeberin, Benoîte Groult, nennt Olympe »la première féministe moderne« (der Begriff »Feminismus« kam allerdings erst in den 1870er Jahren auf und zwar in Frankreich).11 Doch interessanterweise entstand die tatsächlich erste Neuauflage – auf Französisch – schon sieben Jahre früher und in Deutschland; und obwohl diese rühmenswerte Edition von Margarete Wolters und Clara Sutor lange Zeit viel benutzt wurde, ging sie gleichsam unter zwischen deutschen Interessierten, die nicht Französisch lasen, und französischen Interessierten, die in Deutschland verlegte Titel nicht zur Kenntnis nahmen.12 In dieser Zeit der Neuentdeckungen publizierte der Historiker Olivier Blanc 1981 die erste solide Biographie, die er kürzlich  – nach diversen Neuauflagen, Übersetzungen, Wiederentdeckungen von Olympes Schriften und neuen Erkenntnissen – durch eine weitere ergänzte. Es waren insbesondere seine nunmehr dreißigjährigen Forschungen, die zahlreiche biographische und bibliographische Fragen beantworteten, ihre ver­ schollenen Werke ans Licht brachten, Kontroversen klärten und (teilweise zweihundertjährige) Verleumdungen widerlegten. Er hat Olympe de Gouges gleichsam rehabilitiert, wobei er Wert darauf legt, dass sie nicht »nur« eine Feministin gewesen sei, sondern eine Humanistin, die sich vielfach engagierte und auch in revolutionärer Zeit deutlich gegen Gewalt und Blutvergießen aussprach.13 Zur selben Zeit begannen auch Übersetzungen der Frauenrechtserklärung zu erscheinen: auf Englisch erstmals 1979, in einer berühmt gewordenen amerikanischen Quellenedition zu Frauen in der Pariser Revolution, und 1983 eine Neuübersetzung in einer weiteren, ebenfalls maßgeblichen und weithin rezipierten Quellenedition zur europäischen Frauengeschichte; eine italienische Übersetzung erschien erst 1993.14 Die erste deutsche Übersetzung (um einiges 10 Paule-Marie Duhet, Les femmes et la Révolution 1789–1794, Paris 1971, S. 67–74, 231; Les femmes dans la Révolution Française, 2 Bde., EDHIS, Paris 1982 (unpaginiert, im 1. Bd.). 11 Olympe de Gouges, Œuvres, hg. v. Benoîte Groult, Paris 1986, S. 11. Zur Begriffsgeschichte von »Feminismus« vgl. Florence Rochefort, Du droit des femmes au féminisme en Europe, 1860–1914, in: Fauré (wie Anm. 4), S. 551–570; und das vorige Kap. in diesem Band. 12 Marie Olympe de Gouges, Politische Schriften in Auswahl (1784–1793), hg. v. Margarete Wolters u. Clara Sutor, Hamburg 1979. 13 S. oben, Anm. 5; Olivier Blanc, Olympe de Gouges, Paris 1981 (19892, dt. Übers. 1989). Vgl. ders., Einleitungen zu: Olympe de Gouges, Écrits Politiques 1788–1791 u. 1792–1793, 2 Bde., Paris 1993; ders., Cercles politiques et »salons« du début de la Révolution (1789–1793), in: Annales historiques de la Révolution française 344 (2006): URL: http://ahrf.revues.org/ document5983.html (26.10.2009). 14 Women in Revolutionary Paris, 1789–1795. Selected Documents, hg. u. übers. v. Darline Gay Levy u. a., Urbana 1979, S.  87–96, auch unter URL: http://www.library.csi.cuny.edu/dept/ americanstudies/lavender/decwom2.html (30.10.2013); Susan Groag Bell u. Karen ­Offen (Hg.), Women, the Family, and Freedom: The Debate in Documents, 1750–1950, 2 Bde., Stanford, CA 1983, S. 97, 104–109. Die italienische Übersetzung in: Gabriella Bonacchi u. Angela Groppi (Hg.), Il dilemma della cittadinanza. Diritti e doveri delle donne, Rom 1993, S. 243–253 (ohne Angabe der Übersetzerin).

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gekürzt) stammt von Theresia Sauter und ist Teil  eines grundlegenden Aufsatzes, den Hannelore Schröder 1977 zusammen mit ihr veröffentlicht hat; Schröder modifizierte die Übersetzung später mehrfach.15 Die weitere deutschsprachige Editionsgeschichte, die zu einer ganzen Reihe von Übersetzungsvarianten, zuweilen auch Übersetzungsproblemen geführt hat – anders als im Englischen, gibt es heute fast ein Dutzend unterschiedliche Übersetzungen –, ist auch eine Geschichte der Historiographie zu Olympe de Gouges und ihrer deutschsprachigen Rezeption. 1980 erschien »Die Recht der Frau« zusammen mit achtzehn weiteren Texten der Autorin in einer bis heute nützlichen Ausgabe,16 und 1981 folgte – herausgegeben von der »Autorinnengruppe Uni Wien« in einem auch für die umfassendere Historische Frauenforschung wichtigen Band – eine bald vielbenutzte Fassung der Frauenrechtserklärung. Erfreulicherweise enthält sie eine doppelte Synopse: zum einen die deutsch-französische von de Gouges’ Déclaration, zum anderen eine der Dokumente von 1791 und 1789 (also beide Texte in beiden Sprachen).17 In der Tat ist es unerlässlich, Olympes Déclaration erst einmal parallel zur Déclaration von 1789 zu lesen; mehrere solche Synopsen erschienen dann rechtzeitig zum Bicentenaire18, der die einschlägigen Forschungen mächtig inspirierte. In der nächsten historiographischen Runde wurden noch weitere zweisprachige Versionen vorgelegt (mit immer neuen Über­setzungsvarianten), gewöhnlich im Rahmen erneuter Analysen 15 Hannelore Schröder u. Theresia Sauter, Zur politischen Theorie des Feminismus: Die Deklaration der Rechte der Frau und Bürgerin von 1791, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament B 48 (1977), S. 29–48; die Übersetzung: S. 49–54. Die voll­ständige Fassung dann in Hannelore Schröder (Hg.), Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation, 2 Bde., München 1979, Bd. 1, S. 31–49 (übers. v. Theresia Sauter u. Gerda Guttenberg); außerdem dies., Olympe de Gouges, Mensch und Bürgerin. »Die Rechte der Frau« (1791), Aachen 1995, S. 101–129 (»verbesserte Übersetzung von Hannelore Schröder«). 16 Olympe de Gouges, Schriften, hg. v. Monika Dillier u. a., Frankfurt 1980 (und 19892); die Übersetzerin: Vera Mostowlansky. 17 Neda Bei u. Ingeborg Schwarz, Olympe de Gouges: Les droits de la Femme. A la Reine. – Die Frauenrechte. An die Königin, in: Autorinnengruppe Uni Wien, Das ewige Klischee. Zum Rollenbild und Selbstverständnis bei Männern und Frauen, Wien 1981, S. 45–75; der deutschen Übersetzung der Erklärung von 1789 liegt diejenige von Hartung (1964) zugrunde. Ihre heute maßgebliche Übersetzung stammt von Wolfgang Kaiser, in: Marcel Gauchet, Die Erklärung der Menschenrechte: Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, Reinbek 1991 (frz. Original 1989), S. 9–12; sie habe ich für meine in Anm. 1 genannte Übersetzung benutzt. 18 Ute Gerhard, Menschenrechte – Frauenrechte 1789, in: Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und neue Weiblichkeit 1760–1830, Frankfurt a. M. 1989, S. 55–67; S. 69–72: Synopse der Erklärungen von 1791 und 1789 auf Deutsch; die Übersetzung der ersteren entstammt dem Beitrag von Schröder u. Sauter, Politische Theorie (s. Anm. 15), von Gerhard »durch eigene Übersetzung revidiert«; diejenige der letzteren von Walter Grab (1973). Die Synopse findet sich auch in Ute Gerhard, Gleichheit ohne Angleichung. Frauen im Recht, München 1989, S.  263–267; hier wurde de Gouges’ Text der Schröderschen Edition von 1979 (s. Anm. 15) entnommen, teilweise von Gerhard »neu übersetzt«.

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oder auch Popularisierungen von de Gouges’ Leben und politischem Werk.19 Die Übersetzung der Wiener Philosophin Victoria Frysak, ursprünglich aus dem Jahr 2008 und im Netz veröffentlicht, wurde mehrfach korrigiert.20 Auch de Gouges’ literarisches Werk wurde neu entdeckt und neu aufgelegt; so hat die inzwischen verstorbene Romanistin Gisela Thiele-Knobloch in einer zweisprachigen Ausgabe eine deutsche Übersetzung der Autobiographie von 1788 vorgelegt.21

»Erkennt eure Rechte!« Der Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin geht eine Widmung »An die Königin« voraus, außerdem eine Vorrede, die sich an Männer wendet und über Männer handelt. Sie beginnt, streng die Struktur der »Menschen«-Rechtserklärung von 1789 nachahmend, mit einer Präambel und umfasst siebzehn Artikel. Es folgen eine Postambel (Nachwort), die sich an Frauen wendet, dann ein »Gesellschaftsvertrag zwischen Mann und Frau«, ferner ein soeben erlebtes Abenteuer – es dient zur Kritik an der Justiz, aber auch »zum Lachen« – und schließlich das oben schon erwähnte Postscriptum. In der Komplexität dieser Textsorten schlägt sich der Umstand nieder, dass es bei weitem nicht damit getan gewesen wäre – und erst recht nicht bei Olympe de Gouges –, schlicht zu reklamieren, dass »auch Frauen« Menschen seien. War die Erklärung von 1789 überhaupt eine von »Menschen«-Rechten und nicht etwa eine von Männerrechten? Wenngleich das 1789 noch als offene Frage gesehen werden konnte und wurde  – allerdings sprachen manche kritischen Zeitgenossen schon damals von »Männerrechten« –, war spätestens im September 1791 die Antwort klar, denn nun war sie von der Verfassung gegeben worden: Sie bestimmte die neue Bürgerschaft (citoyenneté) sprachlich und konzeptionell als männliche (auch wenn sie noch nicht für sämtliche Männer galt), vor allem durch die berühmte und höchst zukunftsträchtige Unterscheidung von »aktiven« und

19 Paul Noack, Olympe de Gouges 1748–1793: Kurtisane und Kämpferin für die Rechte der Frau, München 1992 (1993 auch auf Französisch), Nachwort von Marieluise Christadler; die »Erklärung«, übers. v. Paul Noack: S. 161–179; Karl Heinz Burmeister, Olympe de Gouges. Die Rechte der Frau 1791, Bern 1999, S. 139–175: zweisprachig, übers. v. Ulrike Längle. 20 Olympe de Gouges, Die Rechte der Frau, übers. v. Viktoria Frysak: URL: http://olympe-degouges.info/frauenrechte (30.10.2013). Einige der Ergebnisse meiner Studie sind seit deren Erstveröffentlichung stillschweigend in diese Internet-Edition aufgenommen worden (s. unten, Anm. 23, 24, 26). 21 Olympe de Gouges, Denkschrift der Madame de Valmont/Mémoire de Madame de Valmont, hg. u. übertragen v. Gisela Thiele-Knobloch, Frankfurt a. M. 1993: die erste Neuausgabe seit dem Erstdruck von 1788; eine – nur – französische Ausgabe erschien dann 1995. Vgl. dies. (Hg.), Olympe de Gouges, Théâtre politique, 2 Bde., Paris 1991, 1993.

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»passiven« Bürgern.22 In dieser Situation (sie verschärfte sich in den Folgejahren bis hin zum förmlichen Ausschluss der Frauen aus der politischen Arena)  musste eine Grundlegung von Frauenrechten komplexer ausfallen als die der Männerrechte und sowohl deren hochgradiges Abstraktionsniveau aufgreifen als auch konkrete Geschlechterbeziehungen thematisieren. Olympe de Gouges’ Text unterstreicht gleichermaßen den realen Gegensatz zwischen Männern und Frauen und die postulierte Gemeinsamkeit und Gleichheit der Geschlechter. Die Vorrede zur Déclaration beginnt: »Mann, bist du fähig, gerecht zu sein? Eine Frau stellt dir die Frage. [… W]er hat dir die selbstherrliche Macht verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken?« »Der Mann« sei in seiner anachronistischen Herrschsucht »verblendet«  – gerade auch im Rahmen der Revolution – und stehe im Gegensatz zur Natur, die keinen Geschlechterantagonismus kenne. Das weibliche Geschlecht hingegen melde mit dieser Erklärung seinen Anspruch auf die Früchte der Revolution an, nämlich das Recht auf Gleichheit: »um nicht noch mehr zu sagen.« (Diese Passage ist leider in fast allen deutschen, der italienischen und auch den englischen Über­setzungen missverstanden worden).23 Die Postambel beginnt: »Frauen, erwachet; […] erkennt eure Rechte!« Denn diese sind, wie schon aus der Erklärung von 1789 bekannt und in Olympes Präambel aufgegriffen, »natürlich, unveräußerlich und heilig« und müssen also lediglich »erkannt« bzw. »anerkannt« (das ist in den beiden Originalen dasselbe Wort) und eben »deklariert« werden. Die Autorin bezweifelt einerseits den Nutzen der Revolution für Frauen (»Ihr werdet noch mehr verachtet, noch offener verhöhnt« als zuvor) und kritisiert andererseits die intrigante weibliche Herrschaft über »die Schwächen der Männer«. Dann aber ermahnt sie die Frauen, sich nicht einschüchtern zu lassen, wenn die männlichen Gesetzgeber sagen (hier modifiziert sie die provokative Frage von Jesus an seine Mutter im Johannesevangelium): »Frauen, was gibt es Gemeinsames zwischen uns und euch?« De Gouges’ Antwort ist dieselbe, mit welcher der große politische Theoretiker Abbé Sieyès Anfang 1789 die Frage 22 William Sewell, Le citoyen/la citoyenne: Activity, Passivity, and the Revolutionary Concept of Citizenship, in: Colin Lucas (Hg.), The French Revolution and the Creation of Modern Political Culture, Bd. II, Oxford 1988, S. 105–123; Dominique Godineau, Autour du mot citoyenne, in: Mots 16 (1988), S. 91–100; Shanti Marie Singham, Betwixt Cattle and Men: Jews, Blacks, and Women, and the Declaration of the Rights of Man, in: Dale van Kley (Hg.), The French Idea of Freedom. The Old Regime and the Declaration of Rights of 1789, Stanford, CA 1994, S. 114–153; François Furet u. Ran Halévi, La Monarchie républicaine: La constitution de 1791, Paris 1996, S. 184–196; Pierre Rosanvallon, Le sacre du citoyen. Histoire du suffrage universel, Paris 1992, Teil I. 23 Mit Ausnahme von Noack (wie Anm. 19), S. 164. Die irrige Übersetzung – das weibliche Geschlecht (»le sexe«/»il«) wurde als »der Mann« missverstanden – hält sich auch noch in der neuesten Ausgabe: Klassikerinnen feministischer Theorie. Grundlagentexte, Bd. I, hg. v. Ute Gerhard u. a., Königstein 2008, S. 19. Zur korrekten Übersetzung vgl. Blanc, Olympe (wie Anm. 13), S. 193 (dt. Übers. S. 196); Blanc, Marie-Olympe (wie Anm. 5), S. 150. Ich danke Françoise Thébaud für ihre Beratung. Zur Übersetzung vgl. auch oben, Anm. 1.

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»Was ist der Dritte Stand?« beantwortet hatte: »Alles«.24 Olympes »Alles« hat denselben Sinn wie das von Sieyès. Ungeachtet des Titels der Frauenrechtserklärung geht es hier nicht nur um Frauen, sondern auch um Männer. Denn zum einen stellt die Verwendung von homme im Sinn von »Mann« die Universalität der Erklärung von 1789 in Frage, und zum anderen wird ihr eine wahrhafte Universalität entgegengesetzt, indem das Subjekt der Rechte durch die Integration der Frauen pluralisiert wird: »Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne gleich an Rechten« (Art. 1). Im 2. Artikel ist – präzise werden die Worte von 1789 aufgegriffen – »der Endzweck jeder politischen Vereinigung« die »Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Rechte der Frau und des Mannes«: nämlich Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand. Die »Alles«-bedeutende Gemeinsamkeit der Geschlechter schlägt sich nieder in »der Nation, die nichts anderes ist als die Vereinigung von Mann und Frau« (Art. 3). Erstmals in der Geschichte wird hier eine wahrhaft allgemeine politische Partizipation gefordert, denn »alle Bürgerinnen und Bürger müssen persönlich oder durch ihre Repräsentanten« an der Gesetzgebung mitwirken und zu allen Ämtern zugelassen werden (Art. 6). Die »Bürgerinnen und Bürger« bestimmen selbst oder durch ihre Abgeordneten das Steueraufkommen und die Staatsausgaben (Art. 13, 14). Die Rechte schließen immer auch Pflichten ein. Und da im Strafrecht die Frauen den Männern ohnehin gleichgestellt sind (Art.  7 und 9), formuliert de Gouges im 10. Artikel  – in der Erklärung von 1789 handelt er von der Meinungsfreiheit und war am heftigsten umstritten gewesen – die berühmte Parallelisierung von »Schafott« und »Rednertribüne«, die oben angeführt wurde. Ist von Frauen und Männern geschlechterübergreifend die Rede, so steht zuweilen »Individuum«: Eine Verfassung ist nichtig, wenn nicht »die Mehrheit der Individuen, die die Nation bilden«, an ihr mitgewirkt hat (Art. 16).25

24 Johannes 2,4: »Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?« (»Quid mihi et tibi est, mulier?«). Vgl. Emmanuel Joseph Sieyes, Politische Schriften 1788–1790, übers. u. hg. v. Eberhard Schmitt u. Rolf Reichardt, München 19812, S. 119, 125. Die (ironische) Nutzung der Bibel entspricht Olympes Distanz zum Katholizismus. In ihrem Nachlass fand sich ein Neues Testament: Blanc (wie Anm. 5), S. 52. Zu weiblicher Religiosität im Kontext der Französischen Revolution vgl. Bock (wie Anm. 4), S. 83–92. 25 Zum schillernden Begriff »Individuum« ebenso wie »homme« in der revolutionären Sprache vgl. Elisabeth Badinter (Hg.), Paroles d’hommes (1790–1793): Condorcet, Prudhomme, Guyomar …, Paris 1989, z. B. S. 142; Rosanvallon (wie Anm. 22) Kap. II (L’individu­ autonome).

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Gleichheit und Differenz Doch keineswegs durchgängig übernimmt Olympe die Postulate von 1789, und nur teilweise sind die Rechte von Frauen und Männern dieselben. Wahrhafte Gleichheit macht nur Sinn, wenn sie auch für unterschiedliche Menschen gilt. Unter dem Anschein der Parallele zu dem Dokument von 1789 argumentiert die Präambel auf eine Weise, die nicht abstrakte Individuen gleichsetzt, sondern die Differenz der Geschlechter und das menschliche Aufeinander-Bezo­ gen-Sein ins Licht rückt: »Die Mütter, die Töchter, die Schwestern, Vertreterinnen der Nation, verlangen, als Nationalversammlung konstituiert zu werden.« (Auch dieser zentrale Satz ist in den meisten deutschen Übersetzungen irrig wiedergegeben.)26 Sie fordert also ein exklusiv weibliches Parlament. (Zweifelte sie etwa am Nutzen einer geschlechterübergreifenden Versammlung? Oder war es eine Provokation gegenüber der tatsächlichen, die aus 1.200 Männern bestand?). Olympe stellt somit die damals gängigen Tiraden, denen zufolge Frauen wegen ihrer weiblichen Rollen der Politik fernbleiben müssten, auf den Kopf bzw. auf die Füße: Nicht obwohl sie Mütter, Töchter, Schwestern sind, sondern weil sie es sind, repräsentieren sie die Nation, und das erst recht angesichts ihrer »intellektuellen Fähigkeiten«, von denen die Vorrede handelt. Olympe weist die Geschlechterdifferenz nicht etwa zurück, sondern macht sie zur Basis der Menschenrechte auch für das weibliche Geschlecht. Geschlecht ist somit zugleich – und je nach Kontext – von hoher Bedeutung und bedeutungslos: eine Paradoxie, die sich aus der Einseitigkeit der Männer-Erklärung ergab, die aber auch Olympes Sinn für Paradoxien entgegenkam.27 Das Ende der Präambel ist ein Balanceakt zwischen Gleichheit und Differenz: Weil das weibliche Geschlecht dem männlichen überlegen ist (hier klingt noch die frühneuzeitliche Querelle des femmes mit), erklärt es seine Freiheit und Rechtsgleichheit mit dem männlichen Geschlecht. Im 11. Artikel schließlich – wie 1789 geht es um die Freiheit der öffentlichen Rede, hier als »eines der kostbarsten Rechte der Frau« bestimmt – ersetzt Olympe die Vorlage durch eine gänzlich neue Reflexion, nämlich über das Verhältnis der Geschlechter auf dem Terrain von Mutterschaft, Vaterschaft und Sexualität. Die weibliche Freiheit garantiere die Legitimität von Vaterschaft insofern, als »jede Bürgerin« öffentlich, wahrhaftig und ohne fremden Druck sagen kann, sie sei die Mutter eines 26 Irrig auch noch in Gerhard u. a. (wie Anm. 23), S. 19 (»in die Nationalversammlung aufgenommen zu werden«). Vgl. de Gouges: »être constituées en assemblée nationale« und die Déclaration von 1789: »constitués en Assemblée nationale«. Die korrekte deutsche Über­ setzung findet sich nur in Bei u. Schwarz (wie Anm. 17), S. 50; Dillier u. a. (wie Anm. 16), S. 40; Burmeister u. Längle (wie Anm. 19), S. 160. Zur Interpretation vgl. z. B. Fauré (wie Anm. 4), S. 212 f.; korrekt auch in der italienischen Übersetzung. 27 Vgl. Joan W. Scott, French Feminists and the Rights of »Man«: Olympe de Gouges’s Declarations, in: HW 28 (1989), S. 2–21; dies., Only Paradoxes to Offer. French Feminists and the Rights of Man, Cambridge, MA 1996, Kap. 2.

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Kindes, das ein bestimmter Mann gezeugt habe; sie habe allerdings auch die Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Angesichts der Differenz der Geschlechter auf diesem Terrain konnte hier eine bloße Zulassung von Frauen zu den Männerrechten nicht genügen. Ohne das Recht auf wahrhafte Rede hätten Frauen weder die Möglichkeit noch die Macht, Väter auf ihre Pflichten gegenüber ihren Kindern festzulegen. Noch einmal wird hier Mutterschaft, in der Regel als Begründung für den Ausschluss von Rechten herangezogen, geradezu als Legitimation weiblicher Bürgerschaft präsentiert. Vaterschaft sollte nicht bloß an der ehelichen Verbindung oder der Aussage des Mannes abgelesen werden, sondern an der Aussage der Mutter, die ein höheres Maß an Wahrheit verbürge. Mutterschaft wird somit nicht nur als leibliches Phänomen verstanden, sondern als soziales, und nicht als ein »frauenspezifisches« und damit partikulares Problem, sondern als eine universale Kategorie; in einem Universalität beanspruchenden Grundrechtekatalog hatte sie für de Gouges einen sowohl legitimen als auch notwendigen Platz: Frauen sind Menschen, nicht obwohl, sondern weil sie Frauen sind. Warum hat de Gouges eine derartige Herausforderung des Verhältnisses von Partikularem und Universalem gerade an der nichtehelichen Mutterschaft exemplifiziert? Ihre eigene nichteheliche Herkunft spielte sicher eine gewisse Rolle – sie wurde in eine Handwerkerfamilie geboren, aber ihr leiblicher Vater war ein gebildeter Adliger. Doch ebenso wichtig ist der umfassendere Kontext: Die Frage der Unehelichkeit wurde in Frankreich – aber auch in ganz Europa – seit langem breit diskutiert und sollte auch künftig von Bedeutung sein. Schon seit Jahrhunderten war es vielerorts üblich gewesen, unverheirateten Schwangeren eine déclaration de grossesse abzunehmen und von ihr den Kindsvater zu erfahren, um ihn zur Zahlung zwingen zu können – die recherche de la paternité. Die Frage von Wahrheit und Lüge aus dem Mund einer Frau war somit ebenso zentral wie umstritten. In der vorrevolutionären Rechtsprechung war die väterliche Alimentationspflicht allmählich zurückgewiesen worden und damit auch das Recht der Frau auf Vaterschaftsklage. Seit den 1780er Jahren hatte Olympe sich für eine Besserstellung lediger und armer Mütter eingesetzt, sich über die unzureichenden Entbindungsanstalten empört, staatliche Versorgung und die Erneuerung der recherche de la paternité gefordert. Von 1790 bis zum Herbst 1793, an eben dem Tag, als Olympe dem Revolutionstribunal vorgeführt wurde, gab es dann tatsächlich mehrere Reformen zugunsten von ledigen Schwangeren, unehelichen und Findelkindern.28 De Gouges’ Rechtekatalog kulminiert in einem »Gesellschaftsvertrag«, der die zivilen Rechte für den Bereich der Ehe formuliert (auch die Verfassung definierte die Ehe als bürgerlichen Vertrag). Da der Wohlstand von Frauen der höheren Schichten von ihrem Mann (oder ihren Männern) abhänge und un­ gesichert sei, wenn sie alt und hässlich werden, und da Frauen der Unter­ 28 Vgl. Angela Taeger, Kindesaussetzung und Frauenpolitik: Fürsorge für Mutter und Kind im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1991, S. 7–10.

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schichten ohnehin keine Chance auf einen eigenständigen Lebensunterhalt hätten, sei die traditionelle Ehe »das Grab des Vertrauens und der Liebe«. Deshalb müsse künftig das Eigentum beiden Ehepartnern gemeinsam gehören und auf die Kinder – ob inner- oder außerehelich – vererbt werden. Bei einer Scheidung (sie wurde im September 1792 gesetzlich ermöglicht, doch eine Generation später wieder abgeschafft) solle das Vermögen geteilt werden und auch den Kindern zukommen; schon 1790 hatte de Gouges in einem Theaterstück über »La Nécessité du divorce« die Dringlichkeit der Zulassung von Scheidungen angemahnt.29 Drei weitere Reflexionen, die über den »Gesellschaftsvertrag« hinausgehen, betreffen außereheliche Sexualität. Breche ein Mann sein Eheversprechen, so habe er die Frau entsprechend seinem Vermögen zu entschädigen; im umgekehrten Fall solle auch die Frau bestraft werden. Zweitens sollen Prostituierte ihrem Gewerbe in speziellen Bezirken nachgehen; im Übrigen seien nicht sie es, welche die Sitten verderben, sondern die Damen der »guten« Gesellschaft. Schließlich kommt die Autorin auf das Thema zurück, mit dem sie 1784 ihr politisches Engagement begonnen hatte, und plädiert zugunsten der Farbigen in den Kolonien. Sie lobt das Dekret vom 13./15. Mai 1791, das Zugeständnisse an die freien Farbigen (gens de couleur, »Mulatten«) in Saint-Domingue (seit 1804 Haiti) gemacht hatte; es führte zu Unruhen der weißen Pflanzer und der Koloniallobby und nährte auch die Protestbewegung der Farbigen (von dem Aufstand der schwarzen Sklaven allerdings, der Ende August losbrach, konnte Olympe de Gouges noch nichts wissen, als sie ihre Déclaration schrieb).30 Auf »unseren Inseln« herrschen, so führt Olympe de Gouges aus, weiße Pflanzer despotisch über Farbige, deren Väter und Brüder sie doch sind; die Weißen frönen ihrer Begierde nach schwarzen Frauen, ohne jedoch den Pflichten der Vaterschaft nachzukommen, und widerstehen somit der »Natur« auf unheilvolle Weise. De Gouges wurde zwar nicht primär wegen ihres Einsatzes für Frauenrechte hingerichtet, sondern wegen ihrer öffentlichen Kritik an der zentralistischen und terroristischen Politik von Robespierre. Gleichwohl nannte das Prozessund Hinrichtungsprotokoll als Begründung, dass sie ein »Staatsmann« sein und Frankreich spalten wollte (sie hatte ein Referendum über die Regierungsform gefordert) und zudem »die Tugenden vergessen hat, die ihrem Geschlecht anstehen«.31 In ihrem »Politischen Testament«, geschrieben im Juli 1793, kurz vor 29 Vgl. Blanc (wie Anm. 5), S. 154; Thiele-Knobloch, Einl. zu Théâtre politique (wie Anm. 21), Bd. 2, S. 16; Gabrielle Verdier, From Reform to Revolution: The Social Theater of Olympe de Gouges, in: Literate Women and the French Revolution of 1789, Birmingham, AL 1994, S. 189–221. 30 Anders als Frysak annimmt (s. oben, Anm. 20), erfuhr man in Paris erst Ende Oktober von dem Sklavenaufstand: Vgl. Oliver Gliech, Saint-Domingue und die Französische Revolution. Das Ende der weißen Herrschaft in einer karibischen Plantagenwirtschaft, Köln 2011, S. 338, bes. Anm. 278. 31 Duhet (wie Anm. 10), S. 205 f.; Blanc (wie Anm. 5), S. 227.

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ihrer Verhaftung, schrieb sie: »Ich weiß, dass mein Tod unvermeidlich ist«, und am Ende waren es Frauen – Sansculottinnen, die tricoteuses –, die unbarmherzig ihrer Hinrichtung applaudierten. Doch die historische Bedeutung von Olympe de Gouges liegt nicht darin, dass sie scheiterte, sondern dass sie agierte, sich selbst zur »aktiven Bürgerin« machte: leidenschaftlich denkend und formulierend, was ihr als politisches Handeln galt. Ihr Jesus-Zitat in der Déclaration lässt sich (laut Johannesevangelium) fortführen: »Meine Stunde ist noch nicht gekommen.« Dass Olympes Visionen gleichsam anachronistisch waren – oder gemacht wurden –, war in der Tat der Grund dafür, dass sie so schnell und so lange in Vergessenheit geriet. Ihr selbst war das durchaus klar; einführend zu ihrem Gesellschaftsvertrag hatte sie geschrieben: »Wenn mein Versuch, meinem Geschlecht eine achtbare und gerechte Existenzgrundlage zu verschaffen, gegenwärtig als ein selbstverschuldetes Paradoxon angesehen wird, als der Versuch, Unmögliches anzustreben, dann überlasse ich den Menschen der Zukunft den Ruhm, diese Frage zu behandeln.« Weit ihrer Zeit voraus war ihr Versuch, nicht nur Menschenrechte als Frauenrechte zu konzipieren, sondern auch Frauenrechte als Menschenrechte.

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Das politische Denken des Suffragismus: Deutschland um 1900 im internationalen Vergleich✳

Frauenwahlrecht und weibliche Bürgerschaft stoßen heute erneut auf internationales Interesse. Das zeigt ein Jubiläum, das 1993 mit einer Konferenz in Neuseeland und einem internationalen Sammelband1 gefeiert wurde: Ein Jahrhundert zuvor waren hier Frauen zum parlamentarischen Wahlrecht zugelassen worden – erstmals in einem souveränen Nationalstaat –, vier Jahre nachdem alle erwachsenen Männer das Wahlrecht erhalten hatten. Allerdings hatten sich die Frauen damit bescheiden müssen, nur wählen, nicht aber kandidieren zu dürfen – also das »Stimmrecht« auszuüben, nicht das umfassendere »Wahlrecht«; Wählbarkeit (»passives« Wahlrecht) wurde erst 1919 gewährt. Nach dem großen Ereignis von 1893 – als groß galt es jedenfalls in der gesamten westlichen Frauenpresse  – sollte es noch zwanzig Jahre dauern, bis der erste souveräne Staat in Europa das volle Frauenwahlrecht einführte, nämlich Norwegen im Jahr 1913: fünfzehn Jahre nach der Verleihung des Wahlrechts an alle erwachsenen Männer und sechs Jahre nach seiner Verleihung an einen Teil der Frauen.2 Finnland war schon 1906 vorausgegangen, als es noch Teil des Russischen Reiches war. In den Vereinigten Staaten kam das nationale Frauenwahlrecht 1920, fast ein Jahrhundert nach der Verleihung des Wahlrechts an alle weißen Männer, und hier wurde der 75. Jahrestag gefeiert.3 Die Föderalstruktur des Landes ✳

Erschienen in der Festschrift für Reinhard Rürup: Geschichte und Emanzipation, hg. von Michael Grüttner u. a., Frankfurt a. M. 1999, S. 95–136. Die bei der Herausgabe entstandenen Fehler wurden korrigiert, der Text ist ansonsten im Wesentlichen unverändert. Für Unterstützung und Anregung danke ich Birgitta Bader-Zaar, Mineke Bosch, Anne Katrin Ebert, Ursula Fuhrich-Grubert, Amira Gelblum, D­a niel Schönpflug, Anette Weber. 1 Caroline Daley u. Melanie Nolan (Hg.), Suffrage and Beyond. International Feminist Perspectives, New York 1994. Zum Folgenden vgl. die unten, zu Beginn des folgenden Kapitels angegebene neuere Literatur und Patricia Grimshaw, Women’s Suffrage in New Zealand, Auckland 1987. 2 Vgl. Ida Blom, Women’s Politics and Women in Politics in Norway since the End of the 19th Century, in: S.  Jey Kleinberg (Hg.), Retrieving Women’s History. Changing Percep­ tions of the Role of Women in Politics and Society (Unesco Comparative Studies), Berg 1988, S. 254–277. 3 Mit dem Band von Marjorie Spruill Wheeler (Hg.), One Woman, One Vote. Rediscovering the Woman Suffrage Movement, Troutdale 1995. Vgl. bes. Suzanne M. Marilley, Woman Suffrage and the Origins of Liberal Feminism in the United States, 1820–1920, Cambridge, MA 1996; Ellen Carol DuBois, Feminism and Suffrage. The Emergence of an Independent Women’s Movement in America, 1848–1869, Ithaca, NY 1978; Janet Zollinger Giele, Two

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hatte die Situation aber komplex gemacht: In 25 Bundesstaaten war das Frauenwahlrecht schon früher eingeführt worden, erstmals in Wyoming (1869, als es noch »territory« war), und in manchen von ihnen galt es auch für die nationalen Wahlen; in den Südstaaten hingegen war vor wie nach 1920 das Wahlrecht für schwarze Frauen wie Männer  – aufgrund einzelstaatlicher Diskriminierung – drastisch eingeschränkt. Auch in Großbritannien verlief der Prozess in Etappen. Als 1918 das volle Männerwahlrecht eingeführt wurde, kam auch das Frauenwahlrecht, aber nur ein beschränktes: Frauen durften erst ab dem Alter von 30 Jahren wählen, und sechs Millionen 20- bis 29-jährige mussten noch bis 1928 warten.4 In Deutschland wurde das volle Männerwahlrecht von Bismarck 1869 und 1871 eingeführt – so wie es 1849 in der Paulskirche konzipiert worden war –, und die Frauen folgten ein halbes Jahrhundert später. In Frankreich, Italien und der Schweiz dauerte es noch bis 1944, 1946 bzw. 1971 (im letzten Kanton 1990).5 Die Erringung des Wahlrechts – in Europa um die Zeit des Ersten Weltkriegs in rund zwanzig Ländern – bedeutete für deren Frauenbewegungen eine einschneidende Zäsur; Symbol dafür war die Umbenennung von Organisationen, die sich dafür eingesetzt hatten (z. B. League of Women Voters anstelle von National American Woman Suffrage Association, National Union of Societies for Equal Citizenship anstelle von National Union of Women’s Suffrage Societies in Großbritannien, Deutscher Staatsbürgerinnenverband anstelle von Allgemeiner Deutscher Frauenverein). Ihren Höhepunkt hatte die klassische Frauenbewegung in der Vorkriegszeit; im Folgenden geht es im Wesentlichen um diese Phase und um das politische Denken der deutschen Frauenbewegung im internationalen Vergleich des – in Anlehnung ans Englische hier so genannten – Suffragismus.

Paths to Women’s Equality: Temperance, Suffrage, and the Origins of Modern Feminism, New York 1995; Rosalyn Terborg-Penn, African American Women in the Struggle for the Vote, 1850–1920, Bloomington, IN 1998. 4 Sandra Stanley Holton, Feminism and Democracy. Women’s Suffrage and Reform Politics in Britain 1900–1918, Cambridge 1986; dies., Women and the Vote, in: June Purvis (Hg.), Women’s History: Britain, 1850–1945. An Introduction, London 1995, S.  277–306; Martin Pugh, Electoral Reform in War and Peace 1906–18, London 1978; ders., Women and the­ Women’s Movement in Britain 1914–1959, London 1992; Maroula Joannou u. June Purvis (Hg.), The Women’s Suffrage Movement. New Feminist Perspectives, Manchester 1998. Vgl. auch Leah Leneman, A Guid Cause. The Women’s Suffrage in Scotland, Edinburgh 1991; Cliona Murphy, The Women’s Suffrage Movement and Irish Society in the Early 20th Century, Brighton 1989. 5 Florence Rochefort, La Citoyenneté interdite ou les enjeux du suffragisme, in: Vingtième­ Siècle 42 (1994), S.  41–51; Karen Offen, Women, Citizenship, and Suffrage with  a French Twist, in: Daley u. Nolan (wie Anm. 1), S. 151–170; Pierre Rosanvallon, Le sacre du citoyen, Paris 1992, Kap. I.II und III.III; Lee Ann Banaszak, Why Movements Succeed or Fail: Oppor­ tunity, Culture, and the Struggle for Woman Suffrage, Princeton, NJ 1996 (Schweiz und USA).

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1. Das Problem: ein deutscher Sonderweg? Für Deutschland erschien im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts keine um­ fassende Studie zur Frauenwahlrechtsbewegung bzw. zum Suffragismus, die beispielsweise (wie in der Forschung zu den USA und Großbritannien) auch ihre bundesstaatlichen, regionalen und lokalen Ausprägungen untersucht hätte. Es gibt einige knappe Spezialstudien; meist wird das Thema in Darstellungen der umfassenderen Frauenbewegung mitbehandelt.6 So gut wie immer postulieren oder implizieren diese Studien einen deutschen »Sonderweg«. Sie tun das, obwohl keine von ihnen wirklich vergleicht; trotzdem geben sie vor zu vergleichen, gewöhnlich mit einem unspezifizierten »Ausland«, und wenn es spezifiziert wird, sind es meist die sogenannten »angelsächsischen« Länder; werden diese genannt, steht »angelsächsisch« für Großbritannien und die USA  – ungeachtet der Problematik dieses Begriffs für diese beiden Länder und ohne Beachtung von Australien, Neuseeland, Irland oder Schottland. Vier Argumentationen sollen einen deutschen Sonderweg begründen. Die erste betrifft die politische Theorie des Frauenwahlrechts. Gängig geworden ist die folgende Annahme: »Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutsch6 A) Spezialstudien: Herrad-Ulrike Bussemer, Frauenwahlrecht, in: dies. u. a. (Hg.), Debatte um das Frauenwahlrecht in Deutschland. Kurseinheit der Fernuniversität Hagen, Hagen 1992, S.  5–19; Irene Stoehr, Der Bund Deutscher Frauenvereine, in: ebd., S.  20–43; Bärbel Clemens, »Menschenrechte haben kein Geschlecht!« Zum Politikverständnis der bürgerlichen Frauenbewegung, Pfaffenweiler 1988; dies., Der Kampf um das Frauenstimmrecht in Deutschland, in: Christl Wickert (Hg.), »Heraus mit dem Frauenwahlrecht«. Die Kämpfe der Frauen in Deutschland und England um die politische Gleichberechtigung, Pfaffenweiler 1990; Richard Evans, German Social Democracy and Women’s Suffrage, in: JCH 15 (1980), S. 533–558; Ute Frevert, »Unser Staat ist männlichen Geschlechts«. Zur politischen Topographie der Geschlechter vom 18. bis frühen 20. Jahrhundert, in: dies., »Mann und Weib und Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995, S. 61–132; Amy Hackett, The German Women’s Movement and Suffrage, in: Robert J. Bezucha (Hg.), Modern European Social History, Lexington 1972, S.  354–386. B) Die umfassendere Frauenbewegung: Richard Evans, The Feminist Movement in Germany 1894–1933, London 1976; ders., The Feminists. Women’s Emancipation Movements in Europe, America and Australasia 1840–1920, London 1977; ders., Sozialdemokratie und Frauenemanzipation im deutschen Kaiserreich, Berlin 1979; Ute Gerhard, »Bis an die Wurzeln des Übels«. Rechtsgeschichte und Rechtskämpfe der Radikalen, in: FSt 3/1 (1984), S. 77–98; dies., Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Reinbek 1990; dies., Gleichheit ohne Angleichung, München 1990; dies., Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit, in: dies. (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997, S. 509–546; Barbara Greven-Aschoff, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894–1933, Göttingen 1981; Irene Stoehr, Emanzipation zum Staat? Der Allgemeine Deutsche Frauenverein – Deutscher Staatsbürgerinnenverband (1893–1933), Pfaffenweiler 1990. – Eingeschränkt wird meine obige Behauptung durch die gründliche und quellennahe, auch regionale Aspekte berücksichtigende Dissertation der kurz vor der Promotion verstorbenen Rechtshistorikerin Ute Rosenbusch, Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland, BadenBaden 1998; beim Abschluss meines Aufsatzes war sie mir noch nicht bekannt geworden.

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land unterschied sich durch ihre Betonung des weiblichen Geschlechtscharakters von der Frauenbewegung im benachbarten Ausland und in Übersee. In den angelsächsischen Ländern, in den Niederlanden und in Frankreich kam vor allem das Konzept naturrechtlich fundierter Menschenrechte für die Frau zum Tragen.« Das »egalitäre Menschenbild« habe »vor allem im angelsächsischen Raum dominiert«, während sich »das Menschenbild der [deutschen] Frauenbewegung […] cum granu [sic] salis mit der Ideologie der polarisierten Geschlechtscharaktere deckte.«7 Nach dieser Auffassung predigten und perpetuierten die deutschen Feministinnen das traditionelle »Theorem polarisierter Geschlechtscharaktere«, »die traditionalen Geschlechterstereotypen«, eine »dualistische Geschlechterphilosophie«,8 und waren deshalb zum einen konservativ, zum anderen ganz anders als nichtdeutsche Feministinnen: »The German women’s movement, unlike feminist movements in other countries, did not aim at equality between men and women […] they accepted almost without question the role which official social morality assigned to women. They accepted too for the most part the stereotype created by official ideology of the ›true German woman‹, emotional, subordinate and above all motherly.«9 Deutsche Feministinnen hätten das Wahlrecht eigentlich nicht gewollt und schon gar nicht zu dem Zweck, die separaten Geschlechtersphären und die geschlechterspezifische Arbeitsteilung abzuschaffen. Ungeachtet des Umstands, dass John Stuart Mill von »natürlichen« Rechten nichts hielt, und ohne Belege wird postuliert: »Die angelsächsische Rechtfertigungstheorie, wie sie z. B. von John Stuart Mill formuliert worden ist, argumentierte naturrechtlich. Sie ist der Prototyp feministischer Theorie […] Die deutsche bürgerliche Frauenbewegung wich von der naturrechtlichen Argumentation ab«; sie habe geradezu einen »antinaturrechtlichen Affekt« gehabt und eine »grundsätzliche Naturrechtskritik« betrieben.10 Im Kontrast zu ihren »angelsächsischen« Schwestern und Brüdern reklamierten die deutschen Frauen, so heißt es, nicht Geschlechtergleichheit, sondern Geschlechterdifferenz; nicht »Freiheit«, »Individualismus« und »Rechte«, sondern »Weiblichkeit«, »weibliche Eigenart«, »Leistung«, »Pflicht« und – horribile dictu – »Mutterschaft« und »Mütterlichkeit«. Mit dieser »deutschen«, im internationalen Vergleich originellen Argumentation hätten sie überdies zur konservativen »inneren Reichsgründung« beigetragen.11 Diesen Vergleichen entspringt nicht nur ein Bild der deutschen, sondern auch eines der nichtdeutschen Feministinnen: Die letzteren erscheinen als Frauen, die, stets mit den Worten »Gleichheit« und »Naturrecht« auf den Lippen und den Fahnen, kompromisslos 7 Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 164 f., 3 und 30. 8 Ebd., S. 3; Greven-Aschoff, Frauenbewegung (wie Anm. 6), S. 44; Bussemer, Frauenwahlrecht (wie Anm. 6), S. 5. 9 Evans, Movement (wie Anm. 6), S. 26. 10 Greven-Aschoff (wie Anm. 6), S. 38 f.; Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 27. Ähnlich zu Mill: Bussemer, Frauenwahlrecht (wie Anm. 6) S. 11. 11 Z. B. Bussemer, Frauenwahlrecht (wie Anm.  6), S.  10. Vgl. z. B. Hackett, Movement (wie Anm. 6), S. 363 f.

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und ohne Abweichungen vom eigentlichen, prototypischen und politisch korrekten Weg des »Egalitarismus« dem Wahlrecht entgegengingen. Zweitens wird eine scharfe Trennungslinie gezogen zwischen der liberal»gemäßigten« Majorität der deutschen Frauenbewegung und einer ebenfalls »bürgerlichen«, aber liberal-»radikalen« Minorität, vergleichbar der »reinlichen Scheidung« zwischen Sozialdemokratinnen und Feministinnen, die seit den 1890er Jahren von Clara Zetkin betrieben wurde. Nur die Minorität habe sich auf die Aufklärung und das Naturrecht berufen, deshalb gleiche Rechte ge­ fordert, und sie habe die Forderung auf das Postulat einer wesensmäßigen Gleichheit oder Identität der Geschlechter gegründet.12 Ein beliebtes Exempel ist Hedwig Dohm (deren einschlägige Schriften allerdings über zwanzig Jahre vor dem Auftauchen der Radikalen erschienen waren).13 Von ihr heißt es, sie habe das Wahlrecht mit dem Argument und zum Zweck der Geschlechtergleichheit gefordert; sie habe »naturrechtlich« und »egalitär« argumentiert, auf der Basis von »Gerechtigkeit« und »Menschenrechten«; in ihrem Wahlrechtsplädoyer habe sie jegliche Geschlechterdifferenz oder »weibliche Eigenart« emphatisch abgelehnt. Sie gilt deshalb als Gegenmodell zu denen, »die nicht die Gleichheit, sondern die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zum Ausgangspunkt aller Frauenaktivitäten nahmen«.14 Ähnliches gilt z. B. für Lily Braun, die »die angelsächsisch-naturrechtliche Position« vertreten habe.15 Insgesamt seien die Radikalen – den Gemäßigten diametral entgegengesetzt – »beeinflusst durch die angelsächsische Diskussion« gewesen, damit durch »ein egalitäres Menschenbild«,16 und dementsprechend werden sie als progressiv eingestuft. Ungeachtet vieler eindringlicher Äußerungen aus beiden Flügeln der Frauenbewegung um die Zeit der Jahrhundertwende, denen zufolge ihre Unter­ schiede  – trotz aller Auseinandersetzungen  – lediglich solche der »Taktik«, »Methode« oder des »Temperaments« seien, wird rückblickend ein fundamentaler Kontrast zwischen ihnen postuliert: Es habe sich um zwei »diametral entgegengesetzte« Emanzipationskonzepte gehandelt.17 Der dritte Gesichtspunkt betrifft die Art des Auftretens. Die deutschen Feministinnen seien  – zumal bezüglich des Wahlrechts  – »zögernd«, »scheu«, »vorsichtig«, »sehr vorsichtig«, »äußerst vorsichtig«, »sehr vorsichtig und unpräzis«, »zurückhaltend«, »äußerst zurückhaltend« und »ängstlich« gewesen, 12 Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), z. B. S. 7 und bes. Kap. 3; dies., Kampf, passim; Frevert (wie Anm. 6), S. 100–102. 13 Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 36–42. 14 Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 24. 15 Bussemer, Frauenwahlrecht (wie Anm. 6), S. 15. 16 Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 34; Clemens, Kampf (wie Anm. 6), S. 60. 17 Zitate: Gerhard, Unerhört (wie Anm. 6), S. 217; Herrad-Ulrike Bussemer, Bürgerliche Frauenbewegung und männliches Bildungsbürgertum 1860–1880, in: Ute Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger, Göttingen 1988, S. 190. Vgl. Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 22; Gerhard, Grenzziehungen (wie Anm. 6), S. 539; Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 93; Clemens, Kampf (wie Anm. 6), S. 60.

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»timid« und »hesitant«; zu lesen ist das ebenso oft mit einem vergleichendem Bezug auf »das Ausland« wie auf ein Verhalten, das sie eigentlich, sollten sie heutige Billigung finden, hätten an den Tag legen müssen. Den Radikalen wird zuweilen bescheinigt, sie seien im Vergleich zu den Gemäßigten »relativ offensiv und konsequent« gewesen;18 sie blieben indessen, darin ist man sich einig, weit zurück hinter dem Ausbund an Draufgängertum, als welches hierzulande »die« britische Frauenwahlrechtsbewegung gilt, die man als »Suffragetten« bezeichnet. In den vergleichenden Andeutungen der deutschsprachigen Literatur bleibt damit die große britische Frauenwahlrechtsbewegung (suffragism) und damit die Mehrheit der Suffragistinnen (suffragists), die seit 1897 hauptsächlich in der National Union of Women’s Suffrage Societies organisiert war, ausgeblendet; eingeblendet wird nur die Minderheit der – seit 1907 so genannten – suffragettes, also die Women’s Social and Political Union (gegründet 1903), die durch spektakuläre Aktionen auf »votes for women« aufmerksam machten und seit 1912 zu gewaltsamen Aktionen wie etwa Brandstiftung übergingen. Der deutschen Literatur zufolge gab es in England nur »Suffragetten«, und sie werden nicht von den Suffragistinnen unterschieden; nur die ersteren scheinen von Interesse, da sie als »militant« gelten (das waren aber auch die Suffragistinnen), während die letzteren, in England auch constitutionalists genannt, schlicht übersehen werden.19 Diese kurzschlüssige Rezeption des britischen Suffragismus macht jeden deutsch-britischen Vergleich problematisch: Was als deutscher Sonderweg erscheint, ist tatsächlich ein britischer, denn jene Form von »Militanz« gab es nur in Großbritannien. Der vierte Aspekt des deutschen Sonderwegs soll die zeitliche Entwicklung und die Phasen des deutschen Suffragismus betreffen: sein historisches Timing. Noch 1897, so heißt es, sei er »weit entfernt vom internationalen Stand« gewesen; »spät«, »verhältnismäßig spät«, mit großer »Verspätung« hätten die deutschen Mehrheitsfeministinnen das Wahlrecht auf die Tagesordnung gesetzt; erst 1902 oder 1904 habe die deutsche Frauenbewegung den Anschluss an die »Kulturländer« gefunden,20 und »up to the turn of the century, the [German] women’s movement had steadily refused to join feminists in other countries in supporting female suffrage.«21 Die führenden deutschen Feministinnen hätten die Wahl18 So Greven-Aschoff, Frauenbewegung (wie Anm. 6), S. 91. Zum übrigen z. B. Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 33 f., 93; Evans, Movement (wie Anm. 6), S. 25; Greven-Aschoff (wie Anm.  6), S.  106; Stoehr, Bund (wie Anm.  6), S.  22; Bussemer, Frauenwahlrecht (wie Anm. 6), S. 17; Hackett, Movement (wie Anm. 6). 19 Zur englischen Terminologie und Entwicklung vgl. Constance Rover, Women’s Suffrage and Party Politics in Britain 1866–1914, London 1967, S. XIII (»Definitions«); Holton, Feminism (Kap. 2: »Militants and Constitutionalists«); dies., Women (wie Anm. 4), S. 289–292; Jo Vellacott, From Liberal to Labour With Women’s Suffrage: The Story of Catherine Marshall, Montreal 1993, bes. S. 36 f. 20 Clemens, Kampf (wie Anm. 6), S. 51; Gerhard, Grenzziehungen (wie Anm. 6), S. 539 f. Vgl. dies., Wurzeln (wie Anm. 6), S. 79. 21 Evans, Movement (wie Anm. 6), S. 71. Vgl. Hackett, Movement (wie Anm. 6), S. 365.

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rechtsforderung noch in den 1890er Jahren zurückgewiesen. Beliebte Exempel dafür sind die Pionierinnen und Gründerinnen des Allgemeinen deutschen Frauenvereins (AdF): Louise Otto, die nach 1848 ihre Forderung nach politischer Partizipation zurückgestellt habe, Auguste Schmidt und vor allem Henriette Goldschmidt, die Leipziger Jüdin und Sozialreformerin, die sich 1895 öffentlich gegen das Frauenstimmrecht ausgesprochen habe. Helene Lange, der AdF und der Bund Deutscher Frauenvereine (BDF) hätten es erst 1917 »offen« und »offiziell«, »erstmals […] offen und mit Nachdruck« gefordert; »erst nach der Jahrhundertwende« hätten die Gemäßigten das Thema zu diskutieren begonnen,22 und ihre Grundsatzerklärungen zugunsten des Wahlrechts von 1902 und 1907 seien bloß »nichtssagende Floskeln« gewesen.23 Tauchen bei den Radikalen dieselben »Floskeln« wie bei den Gemäßigten auf, so gelten sie trotzdem als radikal.24 Auf der anderen Seite hätten sich die Radikalen sehr viel früher für politische Rechte ausgesprochen als die Gemäßigten, nämlich »in den [18]90er Jahren«, als sie auch damit »begonnen« hätten, »nach englischem Vorbild Frauenwahlrechtsorganisationen zu gründen«;25 oder aber ihre Gründung eines Frauenstimmrechtsvereins – tatsächlich erst im Jahr 1902 – wird als »früh« im Vergleich zur Positionierung der Gemäßigten präsentiert. In den »angelsächsischen Ländern« hingegen habe der »Kampf um das Frauenwahlrecht« eine »durchgehende Priorität« für die Frauenbewegung des gesamten (gar des frühen) 19. Jahrhunderts gehabt;26 dies trifft allerdings keineswegs zu, wie der unvoreingenommene Blick über die deutschen Grenzen hinaus zeigt. 22 Clemens, Kampf (wie Anm. 6), S. 106; Stoehr, Bund (Anm. 6), S. 40; Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 27, 113. 23 Clemens, Kampf (wie Anm. 6), S. 106; vgl. Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 68 (»unverbindliche Absichtserklärung«). Evans, Movement (wie Anm. 6) hingegen hält die Erklärung von 1907 für »radical« (S. 146). 24 Z. B. im Fall des Verbands fortschrittlicher Frauenvereine (gegr. 1899), der »die Frauen zur Wertschätzung politischer Rechte, insbesondere des Frauenstimmrechts zu führen« beabsichtigte (Clemens, Kampf, S.  63); die einstimmig angenommene BDF-Erklärung von 1902: »Es ist dringend zu wünschen, daß die Bundesvereine das Verständnis für den Gedanken des Frauenstimmrechts nach Kräften fördern, weil alle Bestrebungen des Bundes erst durch das Frauenstimmrecht eines dauernden Erfolges sicher sind.« Auch Greven-Aschoff hält das erste Dokument für »offensiv und konsequent«, das zweite nicht (S. 109 f.). 25 Bussemer, Frauenwahlrecht (Anm. 6), S. 14 f.; vgl. Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 20. 26 Bussemer, Frauenwahlrecht (wie Anm. 6), S. 5. Vgl. auch Frevert (wie Anm. 6), S. 89. Vgl. dagegen Jane Rendall, The Origins of Modern Feminism: Women in Britain, France and the United States, 1780–1860, Houndsmills 1985; Barbara Caine, Feminism, Suffrage and the 19thCentury English Women’s Movement, in: WSIF 5 (1982), S. 537–550; dies., John Stuart Mill and the English Women’s Movement, in: Historical Studies (1978), S. 52–67; Theodora P. Bostick, Women’s Suffrage, the Press, and the Reform Bill of 1867, in: International Journal of Women’s Studies 3 (1980), S. 373–390. Für die USA vgl. schon Eleanor Flexner, Hundert Jahre Kampf: Die Geschichte der Frauenrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten [19591], übers. u. hg. v. Gisela Bock mit Pieke Biermann, Frankfurt a. M. 1978, und z. B. Jean V. Matthews, Women’s Struggle for Equality: The First Phase, 1828–1876, Chicago 1997; Jacob Katz Cogan u. Lori D. Ginzberg, 1846 Petition for Woman’s Suffrage, in: Signs 22/2 (1997), S. 427–39.

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Schließlich ist die Literatur zum deutschen Suffragismus geprägt von einem tiefen Skeptizismus gegenüber den Mehrheitsfeministinnen als einer weiblichen Version des deutsch-männlichen Bürgertums. Für Helene Lange, den AdF und den BDF sei das Ziel nicht Demokratie gewesen, sondern ein reaktionäres Zensuswahlrecht; oder es wird beklagt, dass sie sich über den genaueren Charakter des angestrebten Wahlrechts ausgeschwiegen hätten,27 oder es wird ihnen eine »gouvernementale Orientierung« – im Sinn des typisch deutschen Obrigkeitsstaats – zugeschrieben.28 Statt Rechte für die Frauen zu fordern, sei es den deutschen Feministinnen darum gegangen, »to gain more privileges for themselves within the social and moral system which the Junkers had created«, und deshalb seien sie »a classic example of the ›feudalisation‹ of the German bourgeoisie in the later 19th century.«29 Die deutsche Frauenbewegung wird heutzutage so gut wie nie ohne das Adjektiv »bürgerlich« genannt – in anglophonen Beiträgen »bourgeois« –, und das Wort wird meist in pejorativem Sinn benutzt, so wie es von Zetkin und den übrigen Sozialisten benutzt wurde.30 Dem entspricht das Verfahren, Urteile von Zetkin über die »bürgerliche« Frauenbewegung unbesehen in den Rang historischer Erkenntnisse zu erheben.31 Jene Wortverwendung ist freilich keineswegs auf das hier behandelte Thema beschränkt: Manche heutigen Autorinnen lehnen das Konzept »Bürgerin« deshalb ab, weil die »bürgerliche« Gesellschaft »Ursache unserer privaten Miseren und der globalen Kata­strophen« sei und deshalb »heute wohl kaum eine Frau mit ›Bürgerin‹ noch emanzipatorische Hoffnungen« verbinde.32 Insgesamt betrifft der deutsch-weibliche Sonderweg zwei Aspekte, die auch in anderen neueren Sonderwegsthesen zentral sind oder waren. Erstens bezieht sich der postulierte Kontrast zwischen Deutschland und »anderen« Ländern auf ein Phänomen, das »Defizit an Bürgerlichkeit« genannt worden ist: im Fall des deutschen Suffragismus ein Defizit im politischen Denken und Engagement. Zweitens wird das Defizit als ein Schritt auf dem Weg zu Nationalsozialismus und Holocaust gesehen: Schritten die britischen Feministinnen mit »Gleichheit« auf den Lippen der Demokratie entgegen, so die deutschen Feministinnen – seit 1908 oder 1914 oder 1919 oder 1930 – mit »Mutterschaft« und »Mütterlichkeit«, Sozialdarwinismus und Totalitarismus, mit Zwangssterilisation, 27 Z. B. Clemens, Kampf (wie Anm. 6), S. 106. 28 Clemens, Menschenrechte (wie Anm.  6), z. B. S.  110, 114, 117; ähnlich Greven-Aschoff, Frauenwahlrecht (wie Anm. 6), S. 150 f., 158, 159. 29 Evans, Movement (wie Anm. 6), S. 26. 30 Vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, München 1990, S. 90, und das Kap. über »Frauenemanzipation« in diesem Band, Abschnitt 4 (3). 31 Vgl. z. B. Evans, Movement (wie Anm. 6), S. 38 mit Anm. 13 (die Feministinnen seien undemokratisch), S. 170 mit Anm. 65 (die Frauenbewegung bewege sich »nach rechts«), S. 201 mit Anm. 89 (der Eintritt von Feministinnen in die Freisinnige Volkspartei sei »ein Marsch nach rechts« und »ein prinzipienloser Opportunismus«). 32 Viktoria Schmidt-Linsenhof, Einl. zu dies. (Hg.), Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und neue Weiblichkeit 1760–1830, Frankfurt a. M. 1989, S. 9.

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»Mussolini« und »Faschismus«33 auf den Lippen der deutschen Diktatur entgegen. Im Folgenden soll die Hypothese vom deutsch-weiblichen Sonderweg revidiert werden. Im zweiten Abschnitt geht es um den politischen Diskurs des deutschen Suffragismus, und der dritte Abschnitt behandelt die Frage der historischen Etappen im internationalen Vergleich. 2. Politischer Diskurs und historische Etappen Die aus jüdischer Familie stammende Hedwig Dohm, die als angebliche »Egalitaristin« einen grundsätzlichen Kontrast zu den späteren »Gemäßigten« markiere, beginnt ihre Wahlrechtsschrift »Der Frauen Natur und Recht« von 1876 – genauer: deren ersten Teil  mit dem Titel »Die Eigenschaften der Frau«  – mit folgenden Worten: »[Ich stelle] an den Anfang meiner Abhandlung einen Satz, der eigentlich an den Schluß derselben gehörte. Ich erkläre nämlich, daß ich in dem folgenden Aufsatz durchaus nicht behaupte, daß die Eigenschaften des Weibes identisch seien mit denen des Mannes. Im Gegentheil, ich spreche meine Überzeugung ausdrücklich dahin aus, daß ich an eine Verschiedenheit der männlichen und weiblichen Seele glaube.« Und am Ende der Schrift: »Ich wiederhole am Schluß, was ich am Anfang dieses Aufsatzes gesagt habe: Ich glaube an die seelischen Unterschiede der männlichen und weiblichen Eigenart.«34 Doch Dohms Vision der Geschlechterdifferenz steht weder im Widerspruch zu ihrer Forderung nach gleichen Rechten und Chancen, noch rekurriert sie auf eine traditionelle »Polarisierung der Geschlechtscharaktere«; vielmehr ist sie ein Angriff auf diese. Die Annahmen der Männer über den »weiblichen Geschlechtscharakter«, so schreibt Dohm, seien widersprüchlich, willkürlich und unzutreffend, niemand könne ihn genau oder gar wissenschaftlich benennen (»Was heißt das, ein Weib sein? Das heißt eine andere körperliche Bildung besitzen, wie der Mann. Die Differenz der geistigen Vermögen ist vorläufig unbestimmbar«). Die Differenz sei historischem Wandel unterworfen; Männer hätten sie nach ihrem Interesse – insbesondere an Unterordnung und Gehorsam der Frauen – definiert und eine separate »Sphäre des Weibes« postuliert. Doch die angebliche »Natur« der Frau sei tatsächlich »Dressur«. Was jetzt anstehe, sei »der Kampf zwischen Natur und Dressur«. Eine natürliche, undressierte Geschlechterdifferenz der Zukunft bedeute vor allem die Beseitigung der Hierarchie der Geschlechter: »Die Unterschiede aber der männlichen und weiblichen Seele mögen sein, welche sie wollen, sie dürfen und sollen die Frauen nicht hin33 Evans, Movement, S. 247; Evans, Feminists (wie Anm. 6), S. 213 f.; die angeführten Quellen belegen die Behauptung nicht. Greven-Aschoff (S. 102–105) sucht Evans’ Vorwürfe zu relativieren; vgl. auch Evans, Movement (wie Anm. 6), S. 166–169 und ders., Feminists (wie Anm. 6), S. 202. 34 Hedwig Dohm, Der Frauen Natur und Recht. Zur Frauenfrage. Zwei Abhandlungen über Eigenschaften und Stimmrecht der Frauen, Berlin 1876 (Faksimile-ND 1986), S. 1, 53.

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dern, nach höchster Vervollkommung zu ringen«, um »schrankenlose Erweiterung der geistigen Erkenntniß und Thätigkeit, und bis zu einem gewissen Grade auch der körperlichen.«35 Es ist kein Zufall, dass dieser Text (»der Frauen Natur«) zusammengebunden wurde mit dem zweiten Teil der Schrift (»der Frauen Recht«): »Das Stimmrecht der Frauen«. Denn genau mit der Geschlechterdifferenz – »daß die Frauen andere Interessen haben, andere Geistes-, Seelen- und Körperbedürfnisse als sie die Männer haben« – begründet Dohm die Notwendigkeit des Frauenwahlrechts, und sie hatte das auch schon drei Jahre zuvor getan: »Je mehr man die Verschiedenartigkeit der Geschlechter betont, umsomehr gibt man die Notwendigkeit einer besonderen Frauenvertretung zu.«36 Die eigenen, eigentümlichen Bedürfnisse und Interessen der Frauen werden zur diskursiven Grundlage der Wahlrechtsforderung, denn »die Gesetze, bei denen sie [die Frauen] am meisten interessiert sind, sind gegen sie, weil ohne sie.« Und ebenso wie »der Arme ein höheres Bedürfniß [hat] vertreten zu sein als der Reiche, ebenso hat die Frau, als das schwächere Geschlecht, ein höheres Bedürfniß vertreten zu sein, als der Mann. Es bedarf für diese Frage gar keiner besonders tiefen Argumentation. Die Tatsachen sprechen überlaut …« Auch die Parallele zwischen Geschlechterunterschied und Klassenunterschied ist kein Zufall und verweist auf ein präzises theoretisches Umfeld. Dass Hedwig Dohm das Wahlrecht »als ein ihnen [den Frauen] natürlich zukommendes Recht« sieht,37 bedeutet keineswegs nur einen Rückgriff auf ein altes aufklärerisches »Naturrecht«, sondern auch auf einen neuen politischen Diskurs, der speziell dem 19. Jahrhundert angehört: auf Theorien der Repräsentation von Gruppen und Gruppeninteressen. Weithin wurde, so vor allem im reformerischen Liberalismus Englands, in der Arbeiterbewegung, aber auch in der Schwarzenbewegung der USA, die Forderung nach Ausweitung des Wahlrechts mit der politischen Legitimität von Interessen und von »self-protection« begründet: z. B. in John Stuart Mills »Representative Government« (1861), aber auch in seinem Unterhaus-Plädoyer fürs Frauenwahlrecht im Mai 1867 (weder hier noch andernorts begründete Mill die Repräsentation »naturrechtlich«). Bezüglich der Frauen war der entscheidende Punkt  – theoretisiert wurde er besonders im englischen Frühliberalismus und Utilitarismus  – nicht etwa, dass sie von der Repräsentation ausgeschlossen seien, sondern dass sie sehr wohl repräsentiert seien, nämlich durch die Männer, vor allem durch »ihre« Männer, Väter und Ehemänner. Es war das alte Konzept von der »vicarious« oder »virtual representation« (gegen das im Übrigen schon die amerikanischen Kolonien protestiert hatten). Der Wahlrechtsreformer James Mill formulierte es um 1820 mit Bezug auf die Frauen; kaum ein zeitgenössischer Protest dagegen ist über35 Ebd., S. 122, 56, 55. 36 Hedwig Dohm, Der Jesuitismus im Hausstande. Ein Beitrag zur Frauenfrage, Berlin 1873 (Faksimile auch online), S. 168; das folgende Zitat ebd., S. 166. 37 Dohm, Natur (wie Anm. 34), S. 159.

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liefert.38 Doch James’ berühmterer Sohn, der radikalliberale Utilitarist S­ tuart Mill, sollte sich später scharf vom Vater distanzieren: »Die Interessen aller Frauen werden angeblich von ihren Vätern, Ehemännern und Brüdern wahrgenommen, welche dieselben Interessen wie jene hätten und nicht nur viel besser als die Frauen selbst wissen, was gut für sie ist, sondern sich auch viel mehr um die Frauen sorgen, als diese es selbst tun. Sir, das ist genau das, was von allen nicht-repräsentierten Klassen« – etwa den Arbeitern, deren Interessen angeblich von den Unternehmern vertreten werden – gesagt werde. Dem widerspreche aber allein schon »die Zahl der Frauen«, die »jährlich von ihren männlichen Beschützern zu Tode geschlagen, zu Tode getreten und zu Tode getrampelt werden«; ihre Beschwerden und Interessen müssten sie also selbst vertreten.39 Diese Sprache der Repräsentation spricht auch Hedwig Dohm, die mit Stuart Mills Schriften vertraut war. Sie stellt sie vom Kopf auf die Füße, fordert die Repräsentation von Frauen als Gruppe und formuliert dabei den Grundsatz, der sich, ausgehend von England, bald international verbreitete: »Eine jede Klasse hat ihr bestimmtes Gepräge, weiß besser in ihren eigenen Verhältnissen Bescheid als diejenigen, welche diesen Verhältnissen nicht unterworfen sind. Die Männer, sagt die Gesellschaft, repräsentiren die Frauen. Wann übertrug die Frau dem Manne das Mandat? Wann legte er ihr Rechenschaft von seinen Beschlüssen ab? Weder das eine noch das andere ist jemals geschehen […] Genau mit demselben Recht kann der absolute König sagen, er repräsentire sein Volk, oder der Sklavenhalter, er repräsentire seine Sklaven. Es ist ein altes Argument, daß die Arbeiter durch ihre Arbeitgeber zu repräsentiren seien, das Argument hat aber die Arbeiter nicht überzeugt, und mit Energie haben sie diese Vertretung zurückgewiesen. Und die Frauen sollen sie acceptiren? Nimmermehr!«40 Dohms politische Sprache ist geprägt von derjenigen, mit der im 19. Jahrhundert um das Wahlrecht für die Männer der Unterschichten gekämpft wurde. Dieselbe Argumentation findet sich zwanzig Jahre später bei Helene Lange, der führenden Figur der Gemäßigten, in ihrem damals schnell berühmt werdenden und weithin rezipierten Manifest von 1896 mit dem Titel »Frauenwahlrecht«; nicht oder unzureichend ist es in der heutigen Literatur analysiert worden.41 Weit entfernt davon, erst um 1917 offen fürs Wahlrecht eingetreten zu 38 Terence Ball, Utilitarianism, Feminism, and the Franchise: James Mill and his Critics, in: HPT 1/1 (1980), S. 91 ff.; William Thompson, Appeal of one Half the Human Race, Women, Against the Pretensions of the Other Half, Men, To Retain Them in Political, and Thence in Civil and Domestic Slavery, London 1825, ND Cork 1975. 39 John Stuart Mill, The Admission of Women to the Elective Franchise (Plädoyer im Unterhaus vom 20.5.1867), in: ders., Collected Works, Bd. 28, Toronto 1988, S. 151–162, hier S. 159 f.; vgl. ders., Considerations on Representative Government, in: ebd., Bd. 18, Toronto 1996, bes. Kap. 3 und 8 (dt.: Paderborn 1971); s. u. Anm. 62. 40 Dohm, Natur (wie Anm. 34), S. 164 f. 41 Nicht erwähnt wird sie in: Gerhard, Unerhört (wie Anm. 6); Clemens, Kampf (wie Anm. 6), S.  55–65: »Der Kampf bürgerlicher Frauen um das Frauenstimmrecht vor 1902«; Evans, Movement (wie Anm.  6), Kap.  3 (»The Suffrage Campaign«); Hackett, Movement (wie

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sein, hat Lange schon zwei Jahrzehnte früher die zeitgemäßen theoretischen Grundlagen dafür geliefert. Weit entfernt davon, einem Junkerstaat zu dienen und Junkerprivilegien anzustreben, hat sie hier und vielfach sonst ihrer demokratischen Orientierung beredten Ausdruck verliehen; gänzlich irreführend ist die Unterstellung, ihre Haltung (und die anderer Gemäßigter) sei »von einer verächtlichen Abwertung des realen Parlamentarismus auf staatlicher Ebene gefärbt« gewesen.42 Mitte der 1890er Jahre war sie eine der ersten, die die Wahlrechtsdebatte eröffneten, genauer: die dritte, nach Lily Brauns Vortrag in Berlin von Dezember 1894 und August Bebels Reichstagsrede im Februar 1895. Vermutlich aber war Lange sogar die erste: Denn drei Vorträge zum Frauenwahlrecht hielt sie schon im November oder Dezember 1894 (in Köln, Wiesbaden und Berlin),43 und 1895 sah sie das Thema »im öffentlichen Bewußtsein auch bei uns im Fluß«.44 Ihr »Frauenwahlrecht« erschien erstmals in der renommierten und mehrsprachigen Zeitschrift »Cosmopolis«, in der unter anderen Malwida von Meysenbug, Olive Schreiner, der Judaismus-Experte Isaac Zangwill, der britische Suffragist Sir Charles Dilke, Theodor Mommsen, Theodor Fontane und (posthum) John Stuart Mill publiziert wurden. Die Schrift wurde binnen kurzem dreimal wiederaufgelegt und in der Frauenpresse besprochen (hier sei »die absolute Notwendigkeit der Erwerbung des Stimmrechtes für Frauen dargelegt«, und nur Befürworter des »Männerrechts« oder Ignoranten können sich dem verschließen);45 die Schrift war ein wesentlicher Faktor in dem Prozess, der um die Jahrhundertwende den Wahlrechtsdiskurs in den wichtigsten Organisationen des BDF akzeptabel machte. Lange beginnt mit einer Kritik der herrschenden politischen Theorie, derzufolge die Parlamente das Gemeinwohl repräsentieren. Tatsächlich aber seien die Abgeordneten vielfach konditioniert  – vor allem durch ihre Standeszu­ gehörigkeit –, und ihre Entscheidungen entsprächen deshalb ganz natürlicherweise ihren Interessen. Diese Einsicht habe jüngst zu dem geführt, was das »allAnm.  6). Knappe, den argumentativen Kontext verfehlende Zitate aus Langes Schrift: Greven-Aschoff (wie Anm.  6), S.  93; Stoehr, Bund (wie Anm.  6), S.  26 f.; Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 91 f.; leider trifft auch die Inhaltsangabe bei Rosenbusch (wie Anm. 6), S. 296, nicht den Gehalt des Dokuments. 42 Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 28. Vgl. dagegen Angelika Schaser, Bürgerliche Frauen auf dem Weg in die linksliberalen Parteien (1908–1933), in: HZ 23 (1996), S. 641–680. 43 Bericht über die Vorträge in: NB 31/1 (1.1.1895), S. 4. 44 Helene Lange, Altes und Neues zur Frauenfrage, in: Die Frau 2/9 (Juni 1895), S. 536–541 und 2/10 (Juli 1895), S. 581–586, Zitat S. 585. 45 Helene Lange, Frauenwahlrecht, in: Cosmopolis. Internationale Revue, Bd. III, London, Paris, Berlin, Wien, New York, St. Petersburg, Amsterdam 1896, S. 539–554. Wiederabdrucke in: Helene Lange, Intellektuelle Grenzlinien zwischen Mann und Frau. Frauenwahlrecht, Berlin 1897 und 1899, und in: dies., Kampfzeiten. Aufsätze und Reden aus vier Jahrzehnten, 2 Bde., Berlin 1928, Bd. 1, S. 180–196; zitiert wird aus der letzteren Ausgabe. Besprechung in NB 33/5 (1.3.1898), S. 68–70. Abwegig ist die Annahme, Lange habe deshalb in Cosmopolis veröffentlicht, um ihre Schrift den Frauen des BDF vorzuenthalten: Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 93.

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gemeine« Stimmrecht genannt werde (nämlich für den Reichstag). Dadurch sei nun anerkannt, dass »jeder Stand […] nur allein seine eigenen Interessen vertreten« könne. Auch bei diesem Modell sei noch vieles fiktiv, was das Gemeinwohl betreffe. Die dramatischste »Fiktion« sei jedoch die Annahme, »daß die Männer zugleich die Interessen der Frauen wahren.« Denn »alle Gesetzgebungen [repräsentieren] in ihren Gesamtresultaten die Auffassung der Männer (bzw. Parteien)« und »berücksichtigen nie die wirklichen Interessen der Frauen.« Ironisch kommentiert sie damalige Phrasen wie »der Schutz der Frau müsse zu einer allgemeinen Pflicht des Mannes gemacht werden«, verweist für das krasse Gegenteil etwa auf die britischen Prostitutionsgesetze und postuliert: »So wenig ein Stand für den andern, so wenig [kann] auch ein Geschlecht für das andere eintreten […], ja, ein solches Vikarieren [Stellvertreten bzw. »vicarious representation«] zwischen den Geschlechtern [ist] noch viel unmöglicher […] als zwischen verschiedenen Ständen und selbst Rassen.« Der Grund dafür ist die Differenz der Geschlechter. Ihretwegen verstehe »nur die Frau […] alle Bedürfnisse und Interessen ihres Geschlechtes ganz«, und so könne »nur die Frau die Frau als Geschlecht schützen. Und die einzige Form, in der das wirksam und auf die Dauer geschehen kann, ist das Frauenstimmrecht (aus dem sich konsequenterweise auch das passive Wahlrecht ergibt), der Einfluß auf die Gesetzgebung […]. Erst durch das Frauenstimmrecht wird das allgemeine Stimmrecht zu etwas mehr als einer bloßen Redensart.«46 Und um den Diskurs zu verdeutlichen, der die politische Partizipation der Frauen mit deren rechtlicher Diskriminierung und eigenen Interessen, die sich von denen der Männer unterscheiden, legitimiert, verfährt sie genauso wie Hedwig Dohm: Sie publizierte 1896 die zweite Ausgabe von »Frauenwahlrecht« zusammengebunden mit ihrem Text »Die intellektuellen Grenzlinien zwischen Mann und Frau«, in dem sie das Verhältnis von Gleich- und Anders-Sein der Geschlechter diskutiert. Ebenso wie in Dohms »Eigenschaften der Frau«, aber weniger polemisch und mehr theoretisch, werden hier traditionell-männliche Zuschreibungen attackiert: »Nicht die Natur, sondern die Sitte und das Herkommen haben die Grenzpfähle aufgestellt und zu der diktatorisch festgehaltenen Bestimmung geführt: ›die Frau gehört ins Haus‹.«47 Es geht um eine Neubestimmung der Geschlechterbeziehungen aus weiblicher Sicht; ähnlich wie Dohm verwirft Lange jegliche präzise, trennende und einengende (»mechanische«) Definition der Geschlechter und ihrer »Sphären«. Die undeutlichen »Grenzlinien« werden umformuliert zu »Verbindungslinien« zwischen den Geschlechtern; betont wird ihre »Gleichheit« auf jeder Ebene, auch der körperlichen, und zumal intellektuelle Grenzlinien gebe es nicht: »Beide sind Men-

46 Lange, Frauenwahlrecht (wie Anm. 45), S. 180–184. 47 Helene Lange, Grenzlinien (wie Anm. 45), in: dies., Kampfzeiten, Bd. 1, S. 197–216. Das Zitat stammt aus der Besprechung in: NB 32/1 (1.1.1897), S. 37, und zeigt die damalige Rezeption der Schrift: Sie unterscheidet sich drastisch von der heute vorherrschenden.

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schen«, und »wie sich ihr Körper in gleicher Weise aufbaut, so nährt sich auch ihr Geist von den gleichen Elementen und arbeitet nach denselben Gesetzen«, auch »das höchste Vermögen, […] die Vernunft«, sei beiden gleich.48 Ihre trotzdem bestehende »Differenz« habe nichts mit »einer anatomisch nachweisbaren Verschiedenheit der Hirnstruktur« zu tun, sondern »beruht auf der Verschiedenheit der Interessen- und Gefühlsrichtung«, insofern »das Weib zur Mutterschaft bestimmt« sei. Dieser »Begriff« sei aber nicht etwa »als Hemmnis für die geistige Entwicklung« zu verstehen, sondern als »Wegweiser« für vielfältige Prägungen der »weiblichen Eigenart«, der alle gesellschaftlichen und politischen Sphären offenstehen müssen (an anderer Stelle zitierte Lange dafür den Satz der amerikanischen Intellektuellen Margaret Fuller, auf den sich auch Hedwig Dohm berufen hatte: »Laßt sie Schiffskapitäns werden, wenn sie wollen«).49 Langes Plädoyer fürs Frauenwahlrecht ist die Umsetzung sowohl der Differenz als auch der »Verbindungslinien« in die Forderung nach Freiheit und Gleichheit. Im weiteren Gang der Wahlrechtsschrift entkräftet Lange – mit manch ironischer Spitze – die Argumente, die den Suffragistinnen aller Länder entgegengehalten wurden (»Binsengründe«): Die meisten Frauen wollten das Wahlrecht nicht, verstünden nichts von Politik usw. Ernsthaft hingegen diskutiert sie den Einwand, das Frauenwahlrecht bedeute eine »Gefährdung des öffentlichen Wohls«. Es war eines der wichtigsten Gegenargumente, in der Theorie wie in der Tagespolemik; es wurde auch von Hedwig Dohm diskutiert50 und von vielen Suffragistinnen in Deutschland und anderswo. Es bezeichnet den Punkt, wo die klassische Frauenbewegung – wie auch die klassische Arbeiterbewegung – demonstrieren wollte, dass sie nicht bloß für das Interesse einer Gruppe oder eines Geschlechts stand, sondern für das »Menschengeschlecht« (Dohm). Diese Doppelargumentation war zwar schwierig – eben weil die Antisuffragisten unter »Gemeinwohl« anderes verstanden als die Feministinnen –, aber für die letzteren war das keineswegs, wie zu lesen ist, ein »Dilemma« oder gar eine Konzession an den Obrigkeitsstaat; ebenso wenig steht das Gemeinwohl-Argument in einem Gegensatz zu naturrechtlichen Argumentationen (gerade in den Naturrechtslehren, damit auch in den Theorien vom Gesellschaftsvertrag, stand das Gemeinwohl im Zentrum). Es war in keiner Weise spezifisch für die deutsche

48 Lange, Grenzlinien (wie Anm.  47), S.  203. Die Passage wurde in NB besprochen: 32/23 (1.12.1897), S. 225. 49 Lange, Grenzlinien (wie Anm. 47), S. 204–206; »Schiffskapitäns«, in: dies., Altes und Neues (wie Anm. 44), S. 539. Vgl. Hedwig Dohm, Die wissenschaftliche Emanzipation der Frau, Berlin 1874, S. 40 (Faksimile-ND Zürich 1982). Am Ende ihres Buchs Woman in the 19th Century (1845) schrieb Margaret Fuller: »But if you ask me what office they [­ women] may fill; I reply – any. I do not care what case you put: let them be sea-captains, if you will.« 50 Lange, Frauenwahlrecht (wie Anm. 45), S. 186. Vgl. Dohm, Natur (wie Anm. 34): »Die Gesellschaft hat keine Befugniß, mich meines natürlichen politischen Rechts zu berauben, es sei denn, daß dieses Recht sich als unvereinbar erwiese mit der Wohlfahrt des Staatslebens« (S. 160 f.).

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Frauenbewegung oder deshalb gar konservativ.51 Lange argumentiert nun, dass das »Gemeinwohl« bisher nur als »Männerwohl« verstanden worden sei, ebenso wie »Menschenrechte« nur als »Männerrechte«. Otto Gierkes bekannten Spruch vom »geschichtlich bewährten Ideal des männlichen Staates« kontrastiert sie mit dessen Realität: »Technisch und intellektuell auf der Höhe, aber – da stehen am Schluß des Jahrhunderts die Völker bis an die Zähne bewaffnet einander gegenüber. Denn die ultima ratio des Männerstaats ist auch heute noch die physische Gewalt, der Krieg« und »ein Kampf aller gegen alle«; demgegenüber bringe erst das Frauenwahlrecht ein »wirklich öffentliches Wohl, d. h. das Wohl der Männer und Frauen«.52 Zwar würde das Frauenstimmrecht keineswegs schon »den Himmel auf Erden schaffen«, doch Frauen können und sollen die Männerpolitik ergänzen und verändern durch ihre »eigentümlichen« Kräfte und Interessen – und nun fällt das Stichwort, das einer Generation von Frauenforschern und -forscherinnen als Inbegriff von Konservatismus und Deutschtümelei der gemäßigten Frauenbewegung erschienen ist. Aber nicht zufällig fällt das Stichwort in englischer Sprache, denn es war das Motto der britischen pro-suffrageZeitschrift Woman’s Signal: »The women’s movement is organised mother love.« Diese politische Doktrin war keineswegs spezifisch deutsch;53 vielmehr führte Lange genau damit den britischen, aber auch amerikanischen Suffragistendiskurs in Deutschland ein. Dafür zitiert sie Thomas Higginson aus Massachusetts, der 1850 die erste amerikanische Frauenrechts-Versammlung miteinberufen hatte (sie hatte den Anstoß für Harriet Taylors und John Stuart Mills erstes öffentliches Frauenwahlrechtsplädoyer gegeben, 1851 in der »Westminster Review«) und Mitherausgeber des »Woman’s Journal« der American Woman Suffrage Association gewesen war. Seine weitverbreitete Schrift »Common Sense about Women« (1881), die ein Lob des Frauenwahlrechts enthält, erschien 1895 auf Deutsch. Das Buch hatte schon die alte Demokratin Louise Otto tief beeindruckt, und der letzte Text, den sie vor ihrem Tod (im März 1895) geschrieben hatte – posthum wurde er in »Neue Bahnen« publiziert –, war eine enthusiastische Besprechung der deutschen Fassung »Die Frauen und der gesunde Menschenverstand« 51 Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 30 (»Dilemma«); Bussemer, Frauenwahlrecht (wie Anm. 6), S.  13 (»Paradox«). Zum Topos ist der Vorwurf geworden (hier nach Bussemer, Frauenwahlrecht [wie Anm.  6] S.  6), dass speziell in Deutschland die politische Gleichberechtigung »stets« mit der »Verantwortung […] aller Frauen für das Gemeinwohl« gerechtfertigt worden und deshalb konservativ sei: »aufgrund der in Deutschland weitgehend fehlenden naturrechtlichen Tradition beriefen sich selbst [!] linke Demokratinnen immer auf das Gemeinwohl zur Rechtfertigung ihrer Menschenrechtsforderungen.« Stoehr, Kampf (wie Anm.  6), S.  4 f. (»konservativ [, …] gemeinwohlorientiert und zweifellos staatstragend«). Nicht nachzuvollziehen ist, dass Dohm mit dem in Anm. 50 zitierten Satz »dem Staat« ein »prinzipielles Abwehrrecht« gegenüber dem Frauenwahlrecht zugebilligt habe (Frevert, wie Anm. 6, S. 97). Bei John Stuart Mill ist das Gemeinwohl essentiell. 52 Lange, Frauenwahlrecht (wie Anm. 45), S. 186 f. 53 Ebd., S. 188 f.; für deutsch hält diese Doktrin z. B. Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 24.

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(im übrigen hatte sich Louise Otto beispielsweise schon 1869 öffentlich zugunsten des Wahlrechts ausgesprochen).54 Helene Lange griff Ottos Vermächtnis auf und zitierte genau dieselbe Passage, die schon Otto aus der deutschen Ausgabe herausgegriffen hatte, zitierte sie aber auf Englisch (sie besaß das Buch wohl schon seit ihrem Englandaufenthalt im Jahr 1888 und hatte es gleich im ersten Band ihrer Zeitschrift »Die Frau« gepriesen und daraus eine Passage zum Frauenstimmrecht übersetzt): »Were there no such thing as sexual difference, the wrong done to woman by disfranchisement would be far less. It is precisely because her traits, habits, needs, and probable demands are distinct from those of man, that she is not, never was, never can, and never will be, justly represented by him.« Sie zitiert von Higginson, was auch Hedwig Dohm und beispielsweise, wie noch zu sehen sein wird, britische und andere Suffragistinnen formulierten: »The more you emphasize the fact of sex, the more you strengthen our argument. If the white man cannot justly represent the negro, […] how impossible that one sex should stand in legislation for the other sex! […] All theories of chivalry and generosity and vicarious representation fall before the fact that women have been grossly wronged by men.«55 Schließlich präsentiert Lange programmatisch den ersten Artikel der Verfassung des symbolträchtigen amerikanischen Bundesstaats Wyoming, und ihn übersetzt sie nun ins Deutsche: »Da Gleichheit im Genusse natürlicher und sozialer Rechte durch politische Gleichheit bedingt wird, so gewähren die Gesetze dieses Staates allen Bürgern, ohne Unterschied der Rasse und Farbe und des Geschlechtes, gleiche politische Rechte.« »Gleichheit« und »natürliche Rechte« waren also ebenso wichtig für deutsche Gemäßigte wie für Hedwig Dohm, für die späteren Radikalen und für Suffragisten außerhalb Deutschlands. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass Zetkin in ihren unablässigen Attacken auf die »bürgerlichen« Feministinnen sie besonders scharf dafür angriff – etwa das Wahlrechtsplädoyer von Marie Hecht auf der AdF-Versammlung von Oktober 1897 –, dass »Naturrecht« und »Gerechtigkeit« eine »bürgerliche« Angelegenheit seien.56 Für Lange schlossen Geschlechterdifferenz und Geschlechtergleichheit einander nicht aus, sondern ein; die Sprache von »Naturrecht« und die der politischen Repräsentation von Gruppen 54 Letzte Arbeit von Louise Otto, in: NB 30/8 (15.4.1895), S.  59 f. Vgl. Thomas Wentworth­ Higginson, Common Sense About Women, Boston 1881, London 1882, 1884, 1897 (seine Beiträge zum Woman’s Journal), wiederabgedr. in ders., Women and the Alphabet, Boston 1900; dt. Übers.: Neuwied 1895. Vgl. Tilden G. Edelstein, Strange Enthusiasm. A Life of Thomas Wentworth Higginson, New Haven 1968. Louise Ottos Plädoyer fürs Frauenwahlrecht zit. in: NB 4/18 (1869), S. 142. 55 Lange, Frauenwahlrecht (wie Anm. 45), S. 182 (= Higginson 1884, S. 230 f.). Das folgende Zitat S. 189 f. 56 Zetkin in: Gleichheit 7 (1897), S.  179; ähnlich 8 (1898), S.  49 f.; vgl. dies., Zur Frage des Frauenwahlrechts, Berlin 1907, S. 3: Die »bürgerliche Frauenrechtelei« fordere »noch heute das Frauenstimmrecht als ein Naturrecht«, wie es die »sich emanzipierende Bourgeoisie« einst getan habe; vgl. auch dies., Ausgewählte Reden und Schriften, Berlin 1957, S. 346.

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und Interessen, die auf »weiblicher Eigenart« basierten, waren nicht nur vereinbar, sondern verwiesen aufeinander. Die Kombination von »Gleichheit« und »Differenz« (zumal in der spezifischen Form der Forderung nach gleicher politischer Partizipation wegen Diskriminierung und deshalb differenter Interessen), von »Frauenwohl« und »Allgemeinwohl« war auch nicht spezifisch deutsch, sondern sie war die wichtigste Argumentation der transnationalen Frauenwahlrechtsbewegung, einschließlich ihrer neuseeländischen, britischen und amerikanischen Ausprägung. Nach den eindrucksvollen und aufsehenerregenden Anfängen der organisierten britischen Frauenwahlrechtsbewegung seit 1865 war sie Anfang der 1890er Jahre, trotz der Existenz vieler kleinerer Organisation, auf einem Tiefpunkt angelangt  – jedenfalls im Vergleich mit den frühen 1880er Jahren, als die Suffragistinnen vergeblich versucht hatten, ihre Forderung im Third Reform Act von 1884 zu verankern, der das Wahlrecht auf weitere Gruppen von Arbeitern ausdehnte. Im Unterhaus wurden immer wieder die riskanten »private member’s bills« fürs Frauenwahlrecht vorgelegt; schon 1897 und mehrfach bis zum Ersten Weltkrieg brachten sie es auf eine Stimmenmehrheit, und zuweilen schien der Sieg ganz nahe. Doch die britische Regierung, gerade auch die liberale, blieb hart, die »private member’s bills« waren per Geschäftsordnung leicht vom Tisch zu wischen; die parlamentarische Verantwortung des Regierungschefs gegenüber der Mehrheit, die es – anders als in Deutschland – seit einem halben Jahrhundert gab, nützte in dieser Frage gar nichts, und viele Abgeordnete der Pro-suffrage-Gruppe, liberale wie konservative, waren nur allzu froh, sich hinter den Anti-suffrage-Falken der jeweiligen Regierung verstecken zu können. Keineswegs hatten in England – im angeblichen Kontrast zu Deutschland  – »bürgerliche« Parteien »die politische Gleichberechtigung der Frauen in ihr Programm« aufgenommen;57 vielmehr waren diese in der Frauenwahlrechtsfrage alle gespalten. Die Labour Party nahm die Forderung erst 1912 in ihr Programm auf, und die (marxistische) Social Democratic Federation war gegen das Frauenwahlrecht. Das House of Lords hätte es ohnehin abgelehnt, und seine Macht wurde erst 1911 gebrochen (dass das Unterhaus diesem Konflikt Priorität gab, führte – zusammen mit der Priorität der irischen Home Rule – zu mehreren Niederlagen von women’s suffrage bills). Alle diese Ereignisse wurden in der deutschen feministischen Presse ausführlich berichtet,

57 Bussemer, Frauenwahlrecht (wie Anm. 6), S. 17. Tatsächlich hatten sie bis weit ins 20. Jahrhundert keine Parteiprogramme: Hierzu und zum Folgenden vgl. bes. Rover, Suffrage (wie Anm. 19); Holton, Feminism u. Women sowie Pugh, Reform u. Women (wie Anm. 4); Karen Hunt, Equivocal Feminists. The Social Democratic Federation and the Woman Question 1884–1911, Cambridge 1996; David Rubinstein, Before the Suffragettes: Women’s Emancipation in the 1890s, Brighton 1986, bes. Kap. 9; Brian Harrison, Separate Spheres: the Opposition to Women’s Suffrage in Britain, London 1978; Angela V. John u. Claire Eustance (Hg.), The Men’s Share? Masculinities, Male Support and Women’s Suffrage in Britain, 1890–1920, London 1997.

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Abb. 2: Plakat und Postkarte von Louise Jacobs, Mitglied des Suffrage Atelier, erschienen in The Vote, 6. Juli 1912 (Museum of London), aus: Lisa Tickner, The Spectacle of Women. Imagery of the Suffrage Campaign 1907–14, London 1987, Abb. 108, S. 214.

bei den Gemäßigten wie bei den Radikalen (aber auch in Zetkins »Gleichheit«). Nicht nur, aber besonders die Radikalen entwarfen schon damals das Bild eines britisch-deutschen Kontrasts, das bis heute die Forschung prägt. Lily Braun mit ihrem Enthusiasmus für England schrieb 1895 diesem Land eine »Verfassung« zu, die »schon seit dreihundert Jahren eine demokratische« sei, denn »in [seiner] Bourgeoisie [rollt] noch heute das Blut der Cromwell«, und für »den Engländer, der es seit Generationen gewöhnt ist, als freier Bürger bei der Gesetzgebung des Landes mitzusprechen, war es eine logische Notwendigkeit, daß er schon verhältnismäßig früh die Bürgerrechte auch dem weiblichen Geschlechte zuerkannte und im weitesten Umfange über kurz oder lang zuerken185 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

nen wird.«58 Tatsächlich sollte es nicht kürzer, sondern länger dauern als in den meisten anderen Ländern. Seit den 1870er Jahren gehörte Millicent Garrett Fawcett zu den führenden Suffragistinnen, und sie war bis nach dem Ersten Weltkrieg Vorsitzende der 1897 gegründeten National Union of Women’s Suffrage Societies. Ihr politisch-theoretischer Diskurs zum Wahlrecht kann, ungeachtet vieler Auseinan­ dersetzungen über politisch-strategische Fragen, als repräsentativ gelten; er stimmt größtenteils mit den Reden anderer Suffragistinnen in den eindrucksvollen Kampagnen überein, von denen Berichte überliefert sind, und Ähnliches gilt sowohl für die militanteren Suffragetten als auch Suffragistinnen wie Catherine Marshall, die die Labour Party zu überzeugen suchten (1912 waren sie endlich erfolgreich).59 Der Hauptsatz, den sie in den Argumentationsduellen mit ihren Gegnern entkräften mussten, war derselbe wie bei Hedwig Dohm und Helene Lange, und Fawcett nahm ihn beispielsweise 1871 aufs Korn: »The objections are: First: Women are sufficiently represented already by men, and their interests have always been jealously protected by the legislature.« Um 1890 schrieb sie60: »With regard to the differences between men and women, those who advocate the enfranchisement of women have no wish to disregard them or make little of them. On the contrary, we base our claim to representation to a large extent on them.« Wären Männer und Frauen exakt gleich (»alike«), »the representation of men would represent us«; da sie aber eben nicht gleich sind, »that wherein we differ is unrepresented under the present system. The motherhood of women, either actual or potential, is one of those great facts of everyday life which we must never lose sight of. To women as mothers is given the charge of the home and the care of children. Women are, therefore, by nature as well as by occupation and training, more accustomed than men to concentrate their minds on the home and domestic side of things. But this difference between men and women, instead of being a reason against their enfranchisement, seems to me the strongest possible reason in favour of it; we want the home and the domestic side of things to count for more in politics and in the administration of public affairs than they do at present.« Weil das enge Band zwischen der häus58 Lily Braun, Zur Beurteilung der Frauenbewegung in England und Deutschland, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Sozialpolitik 8 (1895), S. 575–597, Zitat S. 590. 59 Vgl. Vellacott (wie Anm.  19); Leslie Parker Hume, The National Union of Women’s Suffrage Societies 1897–1914, New York 1982; Barbara Caine, Victorian Feminists, Oxford 1992, Kap. 6; Philippa Levine, Feminist Lives in Victorian England: Private Roles and Public Commitment, Oxford 1990. Zur politischen Sprache der britischen Suffragistinnen vgl. auch Jane Rendall (Hg.), Equal or Different. Women’s Politics 1800–1914, Oxford 1987; dies., Citizen­ship, Culture and Civilisation: The Languages of British Suffragists, 1866–1874, in: Daley u. Nolan (wie Anm. 1), S. 127–150; Holton, Feminism (wie Anm. 4); dies., Suffrage Days: Stories from the Women’s Suffrage Movement, London 1996. Zur Ideologie der Suffragetten vgl. Susan Kingsley Kent, Sex and Suffrage in Britain, 1860–1914, Princeton 1987. 60 Beide Dokumente in: Jane Lewis (Hg.), Before the Vote was Won. Arguments for and against Women’s Suffrage 1864–1896, London 1987, S. 100–117, 418–424.

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lichen und der politischen Welt so wenig respektiert werde, als hätten sie nichts miteinander zu tun, »the whole of Europe [is] armed to the teeth« – der Anklang an die oben zitierte Passage von Helene Lange ist nicht zufällig – und seien die Nationen bereit, wie wilde Tiere einander an die Gurgel zu springen, und für die »true domestic interests« sei ein Sieg genauso schlimm wie eine Niederlage. Leider neigten Frauen nur allzu oft dazu, ihre »womanliness« zu vergessen und sich dem »masculine part of the society« anzupassen. »But by strengthening the independence of women« stärken wir auch ihre »true native womanliness«, und sie würden dann nicht mehr irregeführt durch das Blendwerk von Waffen und Ruhm, »which is really alien to the womanly nature«. Dieser Diskurs, der so sehr mit dem hierzulande und heute konstruierten »angelsächsischen« kontrastiert, wurde auch in Deutschland bekannt gemacht; Fawcett schickte dem internationalen Frauenkongress, der 1896 in Berlin stattfand, ein Vortragsmanuskript, in dem sie argumentierte: »We cannot too much insist on this, that the women’s movement in England has not been one of rebellion against the womanly duties of women, but has been actuated by a desire to fulfil those duties more worthily and to give to them a somewhat wider interpretation. For instance, it has never been doubted that most conspicuous among womanly duties is the care of children, the sick, the aged, and the poor. It is to fulfil these duties more thoroughly that women have demanded and have not only obtained the right to vote, but also the right to sit as members of these boards« (aktives und passives Wahlrecht zur Schulverwaltung und Armenpflege).61 Zwar wird dieses Vokabular von manchen als konservativ eingestuft, aber jedenfalls unterscheidet es sich nicht – beispielsweise – von John Stuart Mills Plädoyer gegen »abstract rights« und für »expediency«.62 Und Ursula Bright von der radikalen Women’s Franchise League argumentierte 1896 in Berlin: »Although we are seeking absolute equality for women […], it must not be supposed that we are trying to force our sex into offices unsuitable for women. All that we ask is that the sphere of woman’s work and the power to interfere with it, the judgment concerning what she can, or ought to do, shall no longer subserve the prejudices, or interests, or convenience of men, but that women themselves shall be allowed to decide what work they are fitted to perform and what offices they can with advantage to themselves and the Community occupy. Every right entails a duty and it is that we may have liberty to perform what we hold to be our duties that we claim our freedom.«63 61 Millicent Garrett Fawcett, England, in: Rosalie Schoenflies u. a. (Hg.), Der Internationale Kongreß für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin, 19. bis 26. September 1896, Berlin 1897, S. 27–34, hier S. 28 f. 62 Vgl. z. B. seine Unterhausrede von 1867 (wie Anm. 39), bes. S. 151. 63 Ursula Bright, What the Women’s Franchise League of Great Britain and Ireland is trying to accomplish, in: Schoenflies (wie Anm. 61), S. 281 f. Vgl. Sandra Stanley Holton, Now you see it, now you don’t: the Women’s Franchise League and its place in contending narratives of the women’s suffrage movement, in: Joannou u. Purvis (wie Anm. 4), S. 15–36.

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Der politische Diskurs des deutschen »bürgerlichen« Suffragismus unterschied sich also nicht grundsätzlich vom britischen. Er unterschied sich auch nicht grundsätzlich von demjenigen Hedwig Dohms. Für die klassische Frauenbewegung aller Länder war es kein Widerspruch, die Forderung nach Gleichheit von Rechten und Chancen auf eine Geschlechterdifferenz zu gründen und, in Opposition gegen die bestehende Geschlechterhierarchie, eine selbstbewusste und selbstbestimmte »Eigentümlichkeit« als Frauen zu reklamieren, Rechte mit Verantwortung bzw. Pflicht und umgekehrt zu begründen; und sie arbeitete intensiv an dem – theoretischen wie praktischen – Problem, wie das Frauenwohl mit dem Gemeinwohl zusammenzubringen sei. »Moral mission« und »maternal values« wurden in anderen Ländern nicht weniger beschworen als in Deutschland der weibliche »Kultureinfluss«. Diese Komplexität gilt auch für den suffragistischen Diskurs in Frankreich und anderswo.64 Vielfach hat zumal die englischsprachige Forschung widerlegt, dass es in der Frauenwahlrechtsbewegung um »fundamentally a battle over ›sameness‹ and ›difference‹« gegangen sei; zu Unrecht habe man auf Traditionalismus oder Konservatismus dort geschlossen, wo Suffragistinnen »publicly endorsed women’s maternal role and asked that women be enfranchised to give public expression to their maternal qualities«. Diese Schlussfolgerung müsse revidiert werden, denn: »While it is true that it became a popular theme in late 19th and early 20th-century America, Britain, and Australia [hinzuzufügen wären viele andere Länder] to speak in terms of bringing the ›mother influence‹ into politics and of becoming the ›nation’s housekeepers‹, most suffragists claimed equal human status at the same time as eliciting women’s particular virtues.« Eine reinliche Scheidung zwischen Anhängerinnen von Gleichheits- und von Differenz-Argumenten ist ebensowenig angemessen wie eine an sie angelehnte Scheidung zwischen historischen Phasen. So konnten Suffragistinnen »ask for the right to vote because they were the ›same as‹ men and ›different from‹ them in one and the same breath, because they were citizens and because they had special qualities in the public world of politics.«65 Wenn aber der politische Diskurs der deutschen Mehrheitssuffragistinnen mit dem »angelsächsischen« bzw. internationalen weitestgehend übereinstimmte  – was bedeutet das für denjenigen der deutschen Radikalen? Markiert nun etwa er einen egalitär-radikalen deutschen Sonderweg? Doch auch hier sollten wir uns von liebgewordenen Clichés verabschieden. Die Radika64 Vgl. dazu Rosanvallon (wie Anm. 5), S. 395–403; er sieht im »angelsächsischen« Repräsentationsdiskurs der Französinnen geradezu den Grund dafür, dass sie ihr Wahlrecht verfehlten (zu einer alternativen Begründung vgl. das folgende Kap. in diesem Band). Zu den Argumentationen in den nordischen Ländern vgl. jetzt Ida Blom, Structures and Agency. A Transnational Comparison of the Struggle for Women’s Suffrage in the Nordic Countries during the long 19th Century, in: SJH 36/5 (2012), S. 600–620, bes. S. 604. 65 Carol Lee Bacchi, Same Difference. Feminism and Sexual Difference, St. Leonards (Australien) 1990, S. 19 f. Vgl. bes. Holton, Feminism (wie Anm. 4), Kap. 1; Vellacott (wie Anm. 19); Rendall (wie Anm. 26).

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len argumentierten keineswegs nur mit »(Natur-)Rechten«, »Menschenrecht«, »Freiheit«, »Gleichheit« und »Geschlechteridentität«, ebenso wenig wie die »Gemäßigten« nur mit »Pflichten«, »Leistung«, »Gemeinschaft«, »weibliche Natur«, »Geschlechterdifferenz«. So trägt Lily Brauns radikales Plädoyer von 1895 den Titel »Bürgerpflicht«, im Unterschied zu Langes »Frauenwahlrecht« von 1896 – also terminologisch genau umgekehrt wie üblicherweise angenommen. Lily Braun sah »Pflicht« nicht etwa als Gegensatz zu »Recht«, sondern verstand beide als komplementär. Wie auch die Gemäßigten stand sie damit in bester aufklärerischer Tradition (auch Mary Wollstonecraft hatte 1792 in ihrer »Vindication of the Rights of Woman« die Rechte explizit auf Pflichten gegründet). Für Braun waren es gerade die Pflichten der Frau, die die Grundlage für ihre Rechte bilden: ihre »Bürgerpflicht« als Hausfrauen, Mütter und Erwerbstätige; die »soziale Pflicht«, sich für die Armen einzusetzen; und »Pflicht« der Frauen sei es schließlich auch, ihre Rechte zu fordern.66 Hier wie in anderen Fällen, wo der politische Diskurs der beiden Richtungen dem retrospektiven Kontrastmodell offensichtlich widerspricht, wirft man heute den damaligen Feministinnen Wider­sprüchlichkeit oder Inkonsequenz vor oder postuliert einen Einbruch von »Deutschem« in »Angelsächsisches« oder umgekehrt67 – ein Verfahren, das im Rahmen einer Intellectual History, einer vergleichenden Geschichte des politischen Denkens von Frauen unangemessen ist. Vergleichen wir die drei Zeitschriften »Neue Bahnen«, die seit 1865 erschien und für die Gemäßigten steht, »Die Frau«, seit 1893 erschienen und ebenfalls moderat, und »Die Frauenbewegung«, die seit 1895 von den Radikalen publiziert wurde, so finden wir keine signifikanten Unterschiede im theoretischen Diskurs. Die beiden heute so reinlich geschiedenen Denkfiguren sind in allen dreien zu finden und sind immer wieder vermischt. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Annahme, dass »›born free‹ is a concept nonexistent in German feminism«, schrieb Louise Otto z. B. von »dem Rechte, das mit uns geboren ist«, und »Menschenwürde« ebenso wie Menschenrechte gehörten zur Sprache von 66 Lily Braun, Die Bürgerpflicht der Frau, Berlin 1895, S.  5, 19, 17, 24. Zum Verhältnis von Rechten und Pflichten in der Aufklärung vgl. z. B. Ulrich Im Hof, Das Europa der Aufklärung, München 1993, S. 159–163. 67 Z. B. Bussemer, Frauenwahlrecht (wie Anm. 6), S. 6; Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 30. Wo die radikale Augspurg auf weibliche Eigenart pocht, stehe sie »nicht im Einklang mit der Theorie«: Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 65. Der Pflichtendiskurs bei den Radikalen sei »a concession to the moderate mentality« (Evans, Movement, wie Anm. 6, S. 78); Hackett, Movement (wie Anm. 6), S. 373 (»Even radicals« bemühten sich um das Kommunalwahlrecht, das – dem Topos zufolge – Sache der Gemäßigten war, während sich die Radikalen um die nationale Ebene gekümmert hätten); ähnlich Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 31–36. Hedwig Dohms Differenz-Postulat, das nicht ins Schema passt, sei ein »Paradox« (Bussemer, Frauenwahlrecht [wie Anm. 6], S. 13), oder Dohm habe das geschrieben, »um ihre Leser und Leserinnen nicht schon von Anfang an zu verunsichern« (Clemens, Menschenrechte [wie Anm. 6], S. 37). Ungeachtet des Postulats von »diametral entgegengesetzten« Emanzipationskonzepten sei »eine säuberliche Scheidung« oft nicht möglich (Bussemer, Frauenbewegung [wie Anm. 17], S. 190, 203).

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»Neue Bahnen«.68 1892 heißt es hier, in einer Polemik gegen einen der damals berühmten Mediziner, der wieder einmal die angebliche Inferiorität der weiblichen Physis mit der weiblichen Unterordnung korreliert hatte: »gleiches Hirn, gleiche Seele, gleiches Recht«.69 Umgekehrt wird in »Die Frauenbewegung« sehr wohl die Differenz hervorgehoben, z. B. in einem ihrer frühesten Wahlrechts­ plädoyers: »Ein jedes Geschlecht ist nur imstande, seine eigenen Interessen […] zu vertreten«; der (international gängige)  Einwand, Männer leisteten Wehrdienst, die Frauen aber nicht, diese hätten also keine staatsbürgerlichen Leistungen vorzuweisen, wird mit dem Argument gekontert, dass Mutterschaft und Krankenpflege ebenso staatsbürgerlichen Wert hätten; deshalb widerspreche es »jedem Gerechtigkeitsgefühl, daß bei gleicher Pflichtenleistung die eine Hälfte  – und zwar die größere  – der Unterthanen dem Willen der anderen Hälfte vollständig unterstellt ist.«70 Kritisiert wird in »Die Frauenbewegung«, dass »die Frauen so werden [sollen] wie die Männer sind«; das Ziel sei »nicht ein Proklamieren der Gleichartigkeit von Mann und Weib, sondern ein Streben nach Gleichwertigkeit, […] die Veredlung der Menschheit durch Hebung und Veredlung der Frau auf allen Gebieten«; die Bewegung ziele darauf, »der Frau Gelegenheit zu verschaffen, ihre Eigenart in ausgiebigster Weise zu be­ thätigen.«71 Es solle »der Antagonismus zwischen Mann und Weib« verschwinden und »die Verschiedenartigkeit«, die »die beiden Geschlechter kennzeichnet, der Gesellschaft zu Gute kommen, in der Form einer vielseitigeren und harmonischeren Entwickelung.«72 Minna Cauer unterstrich die »ernsten Pflichten«, die aus der »Gleichberechtigung der Frau als Staatsbürgerin« erwachsen,73 und Anita Augspurg betonte 1902 die Pflichten im Vorfeld der politischen Partizipation: »Ich stehe auf dem Boden […], daß während die Frau die Forderung der politischen Rechte ausspricht und mit Nachdruck vertritt, sie die Zeit bis zu deren Erlangung eifrig nutzen soll, um mit vollem Verständnis für ihre Aufgaben ausgerüstet zu erscheinen, wenn sie demnächst zu den politischen Pflich68 Louise Otto, Menschenwürdiges Dasein für Alle, in: NB 3/16 (1868), S. 121–124, Zitat S. 121; vgl. NB 27/1 (15.12.1891), S. 1; 28/1 (15.12.1892), S. 2; 30/11 (1.6.1895), S. 83; es mangelt auch nicht an »Gleichberechtigung«, »Gleichheit vor dem Gesetz«, »Freiheit« usw. Die o. g. Annahme: Hackett, Movement (wie Anm. 6), S. 365; ebenso in dies., The Politics of Feminism in Wilhelmine Germany, 1890–1918, PhD Diss. Columbia University 1976, S. 319. Die Annahme trifft aber zu auf Clara Zetkin, denn die Ablehnung eines »Naturrechts, das mit der Frau geboren wird«, gehörte zur sozialistischen Ideologie; s. oben, Anm. 56. 69 NB 28/20 (15.10.1893), S. 159. 70 Sera Proelß, Frauenstimmrecht, in: Frauenbewegung 2/23 (1.12.1896), S. 218 f.; die Autorin engagierte sich zu dieser Zeit auch gegen die frauenfeindlichen Passagen des neuen BGB, das 1896 verabschiedet wurde und 1900 in Kraft trat. 71 Die drei Zitate: Bertha von Suttner, Frei, selbständig, mild, in: ebd. 1/1 (1.1.1895), S. 3; Alma Kriesche, Verschiedene Wege zum gleichen Ziel, in: ebd. 1/13 (1.7.1895), S. 102 f.; Anon., Geheimrat Waldeyer und die Frauenfrage, in: ebd. 1/17 (1.9.1895), S. 129. 72 Clara Mjöen (Norwegen), Stimmrecht für Frauen, in: Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung. Beilage der Frauenbewegung 14 (15.7.1900). 73 Minna Cauer, Alte und neue Frauenbewegung, in: Frauenbewegung 4/21 (1.11.1898), S. 228.

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ten berufen wird.« Gleichzeitig, aber auch schon seit 1897, engagierte sich Augspurg in dem transnationalen Plädoyer für Besserstellung, Aufwertung und gar Bezahlung von Müttern, das mit seiner spezifischen Kombination von Gleichheits- und Differenz-Diskurs für viele und gerade für Radikale das Pendant zum Wahlrechtsdiskurs war; bald sollte Augspurg auch auf internationaler Ebene zur entschiedenen Verfechterin einer fundamentalen Geschlechterdifferenz werden.74 Auch Zetkin, die die naturrechtliche Begründung des Wahlrechts als (klassenspezifisch-)bürgerlich geißelte, proklamierte den (staats-)bürgerlichen Differenz- und Mutterschafts-Diskurs: »Erst der Besitz politischer Rechte legt mithin die Bahn frei für die volle Entfaltung und Bethätigung der Frau in ihrer Eigenart«, und »die Forderung des Frauenstimmrechts ist die Forderung nach sozialer Anerkennung ihrer hochbedeutsamen sozialen Tätigkeit als Mutter.«75 Im Übrigen begründeten alle drei Richtungen das Wahlrecht ebenso oft mit den sozialen Umwälzungen der jüngsten Vergangenheit, besonders der zunehmenden weiblichen Erwerbstätigkeit in den modernen Sektoren. Der politische Diskurs des Suffragismus war grundsätzlich derselbe, sowohl im Vergleich der Radikalen und Gemäßigten innerhalb Deutschlands als auch im Vergleich zwischen deutschen und außerdeutschen Suffragistinnen. Er war geprägt von der Sprache der politischen Repräsentation; sie – und nicht das »Naturrecht«  – stammte aus England. Integraler Bestandteil des feministischen Repräsentationsdiskurses war der Differenzdiskurs, insbesondere die Postulate von der Diskriminierung der Frauen durch Männer und von den maternalistischen Fähigkeiten und Aufgaben der Frauen, und er wurde mühelos mit dem Glauben an die gemeinsame menschliche Natur der Geschlechter und ihre Gleichberechtigung kombiniert. Hervorzuheben ist überdies: Der maternalistische oder Differenz-Diskurs bedeutete, dass das Wahlrecht weder an Besitz noch, wie bei der Begründung durch Erwerbstätigkeit, an Einkommen oder einen sonstigen Zensus gebunden werden sollte, sondern dass die Forderung für das gesamte weibliche Geschlecht galt.

74 Zitat: Anita Augspurg, Die politische Erziehung der Frau, in: ebd. 8/2 (15.1.1902), S. 18; jetzt auch in: dies., Rechtspolitische Schriften, hg. v. Christiane Henke, Köln 2013, S. 218–224. Zum übrigen vgl. den Bericht in: Gleichheit 7/18 (1.9.1897), S. 140; Irene Stoehr, Housework and Motherhood: Debates and Policies in the Women’s Movement in Imperial Germany and the Weimar Republic, in: Gisela Bock u. Pat Thane (Hg.), Maternity and Gender Policies. Women and the Rise of the European Welfare States 1880s-1950s, London 1991, S. 213–232, hier S. 217; Leila Rupp, Constructing Internationalism: The Case of Transnational Women’s Organizations, 1888–1945, in: AHR 99/5 (1994), S. 1571–1600, hier S. 1582; dies., Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Princeton 1997, S. 83. 75 Zetkin in: Gleichheit 8/16 (3.8.1898), S.  121; ähnlich z. B. in 13/8 (8.4.1903), S.  58; Zetkin, Frauenwahlrecht (wie Anm. 56), S. 10.

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3. Noch einmal: historische Etappen Gegen diese Rekonstruktion ließe sich einwenden: Wenn Helene Lange angesichts ihres heutzutage vielfach übersehenen Wahlrechtsdiskurses von 1896 wirklich eine der frühen deutschen Suffragistinnen war – war sie dann vielleicht eine einsame Ausnahme und keineswegs repräsentativ für die liberal-gemäßig­ ten Feministinnen im Allgemeinen, die noch längere Zeit Reserven gegen das Wahlrecht hatten und deshalb im internationalen Vergleich late-comers waren? In der Tat war Lange den meisten Gemäßigten weit voraus. Für Deutschland gilt, was auch auf andere Länder zutrifft: Die Wahlrechtsforderung ver­breitete sich von »oben« nach »unten«, wurde anfangs von wenigen führenden Figuren aufgestellt und erst allmählich von Frauen der Unterschichten aufgegriffen. Hedwig Dohm hatte 1876 das Desinteresse der Arbeiterinnen beklagt;76 die Sozialdemokratie nahm das Frauenwahlrecht erst fünfzehn Jahre später in ihr Programm auf, und es sollte weitere fünfzehn Jahre dauern, bis sie sich, wie zögernd auch immer, konkret dafür einzusetzen begann. Wie aber sah es bei den führenden Gemäßigten in Deutschland aus? Ihr Zögern oder gar ihre Feindseligkeit gegenüber dem Wahlrecht wird meist mit den oben schon genannten drei Beispielen demonstriert, insbesondere mit Henriette Goldschmidt, der »bürgerlichen« und jüdischen Feministin in Leipzig, die sich einer breitgefächerten Sozialreform widmete – insbesondere (Arbeiter-) Kin­der­gärten, die den Müttern eine Erwerbstätigkeit ermöglichen sollten – und die 1895 eine »Erklärung gegen das Frauenstimmrecht« veröffentlicht habe. Mit diesem Antisuffragismus wird sie geradezu als »typisch« und »bezeichnend« für die Gemäßigten eingestuft; der Artikel sei eine »deutliche Spitze gegen radikalere Forderungen« gewesen und ein Ausdruck von »Vorsicht«, der zu »widersprechen« dann den Radikalen vorbehalten geblieben sei.77 Offensichtlich handelt es sich hier um ein Schlüsseldokument, und in der Tat ist da Erstaunliches zu lesen – stand doch um 1895 das Wahlrecht international auf der feministischen Tagesordnung: »[Ich bin] gegen die Aufnahme der Stimmrechtsfrage in unser Programm.« Denn das würde diejenigen Frauen, die »im weitesten Sinn« als konservativ gelten, der Frauenbewegung fernhalten, zumal bisher ohnehin nur wenige Frauen hinter der Forderung stünden. In Deutschland würden nur »wirtschaftliche« Ziele Frauen in großer Zahl für eine »große Frauen-Partei« gewinnen können, wie sie in England und den USA bestehe, und diese beiden Länder sollten »erst einmal als Muster« genommen werden. Eine solche »große Frauen­gemeinschaft« müsse zuallererst die Gleichberechtigung der Frauen im bürgerlichen Recht anstreben, insbesondere im Eherecht, im Bereich von Bil76 Dohm (wie Anm. 34), S. 67, 115. Zum Folgenden: Evans, Social Democracy, u. Sozialdemokratie (wie Anm. 6). 77 Gerhard, Unerhört (wie Anm. 6) S. 124, 171. Vgl. Hackett, Movement (wie Anm. 6), S. 382 mit Anm. 46; Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 26, 28.

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dung (die unter anderem zur Wertschätzung von »Menschenrecht und Gerechtigkeit« führen solle) und Beruf sowie in Bezug auf »wirtschaftliche Selbständigkeit«; dann erst könne es um politische Partizipation gehen. Das Plädoyer für ein solches Timing – also zuerst die zivilen Rechte, dann erst die politischen – wird mit einem Satz begründet, der zu einem Markenzeichen des deutsch-weiblich-gemäßigten Sonderwegs geworden ist: Um das Ziel zu erreichen, »muß unser Programm ein gemäßigtes und kein überstürztes sein.«78 Es gibt hier allerdings ein Problem, das übersehen wurde (vielleicht weil sich mit der gängigen Interpretation alles zu dem gewohnten Bild deutsch-bürgerlicher Mäßigung zu fügen schien). Warum sollte die gemäßigte Leipzigerin ihren vermeintlichen Antisuffragismus ausgerechnet in der Berliner Zeitschrift »Die Frauenbewegung« publizieren, dem Hausorgan der Radikalen, und nicht etwa in »Neue Bahnen« oder »Die Frau«, den Hausorganen der Gemäßigten? In der Tat schrieb sie diesen Artikel gar nicht, und sie publizierte auch sonst nichts gegen das Frauenwahlrecht (obwohl sie ihr Engagement für Kindergärten und gegen die Armut für »revolutionärer« hielt als das Wahlrecht).79 Die wirkliche Autorin war eine andere Henriette Goldschmidt, eine Berlinerin; sie war Schriftführerin des Berliner Vereins Frauenwohl, der als die Kerntruppe der Radikalen gilt.80 Im Übrigen brachte die radikale Frauenpresse auch noch einen weiteren Artikel gegen das Frauenstimmrecht, während in der gemäßigten Presse kein antisuffragistisches Plädoyer gedruckt wurde, es wohl aber einige Stimmen zugunsten des Wahlrechts gab und vor allem unmissverständliche Kritik an den kursierenden Tiraden gegen die politische Partizi­pation von Frauen.81 Das anti-suffragistische Dokument stammt also nicht von einer Gemäßigten, sondern von einer Radikalen. Was ist dann aber seine Bedeutung? Sind hier etwa die Radikalen die wirklich Gemäßigten (und umgekehrt)? Manches 78 Henriette Goldschmidt, Eine Erklärung gegen das Frauenstimmrecht, in: Frauenbewegung 1/3 (1.2.1895), S. 19. Das Zitat wurde zum Titel des Kapitels über den BDF in Gerhard, Unerhört (wie Anm. 6), S. 170. 79 Vgl. Irmgard Maya Fassmann, Jüdinnen in der deutschen Frauenbewegung 1865–1919, Hildesheim 1996, S. 157–178, 345–348; Annerose Kemp, Henriette Goldschmidt. Vom Frauenrecht zur Kindererziehung, in: Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der Juden in Leipzig, hg. v. Ephraim Carlebach Stiftung, Leipzig 1994, S. 33–53. 80 Die Autorin des Artikels in Frauenbewegung ist als »Henriette Goldschmidt in Berlin« ausgewiesen. »Fräulein« Goldschmidt äußerte sich in der Zeitschrift auch zum Eherecht (z. B. ebd. 1/8 [1895], S. 62, 66 f.), und sie wurde unterschieden von »Frau« oder »Frau Dr. Goldschmidt-Leipzig« (der Titel stammte von ihrem Ehemann). In den Bänden von 1895 (S. 15, 168, 188) und 1898 (S. 9, 44) ist die Berlinerin als Schriftführerin von »Frauenwohl« g­ enannt. 81 »Ein Protest gegen das Frauenstimmrecht« (aus den USA), in: Frauenbewegung 1/2 (15.1. 1895), S.  11, zurückgewiesen von Freifrau v. K. in R. in: ebd. 1/6 (15.3.1895), S.  44 f. Plädoyers gegen Antisuffragisten in NB: z. B. 28/18 (15.9.1893), S. 140 (Auguste Schmidt); 32/1 (1.1.1897), S. 36; Plädoyers zugunsten des Wahlrechts ebd. z. B. 29/15 (1.8.1894), S. 117; 32/20 (15.10.1897), S. 191 f.; 33/1 (1.1.1898), S. 1 f. (Auguste Schmidt), 10; 33/5 (1.3.1898), S. 68–70; 33/9 (1.5.1898), S. 104 f.; 34/1 (1.1.1899), S. 8; 34/15 (1.8.1899), S. 170; 34/19 (1.10.1899), S. 225.

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spricht dafür, aber ich würde nicht so weit gehen. Für das Verständnis der Situation ist es wichtiger davon abzulassen, die Begriffe »radikal« und »gemäßigt« im Sinn heutiger political correctness zu benutzen (1895 waren beide Begriffe gerade erst für die Frauenbewegung geprägt worden und sollten die Begriffe »ältere« und »jüngere« Frauenbewegung ersetzen, zumal die »Jungen« nicht viel jünger waren als die »Alten«). Die Situation war folgende: 1895 gab es im Verein Frauenwohl noch keine Einigkeit über seine strategischen Prioritäten; man befand sich in der Diskussion. Auch für Anita Augspurg, Juristin, bekannteste Figur der Radikalen und sieben Jahre später Gründerin des ersten deutschen Frauenstimmrechtsvereins, stand 1895 noch keineswegs das Wahlrecht im Zentrum, obwohl das Gegenteil oft zu lesen ist. Die irrige Annahme gründet sich auf Auszüge aus Augspurgs Artikel im ersten Heft von »Die Frauenbewegung«, dem ersten von ihr überlieferten Text. Hier schrieb sie: »Die Frauenfrage ist zwar zum großen Teile Nahrungsfrage, aber vielleicht in noch höherem Maße Kulturfrage, […] in allererster Linie aber ist sie Rechtsfrage.« Doch A ­ ugspurg versteht hier unter »Rechtsfrage« nicht etwa das Wahlrecht, und sie macht das unmissverständlich deutlich: »Unter dem dehnbaren Begriff der politischen Rechte«, die den Frauen versagt seien, »sind aber nicht etwa ihre Wahlrechte, ihr offiziell anerkannter Einfluß an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten gemeint, sondern ihre Notwehr gegen das Verhungern, ihre einfachsten Selbsterhaltungsmöglichkeiten.«82 Das war nun gewiss radikal genug, zumal angesichts des zugrundegelegten Begriffs vom Politischen, der die materielle Subsistenz einschloss; doch der Artikel betraf eben nicht das Wahlrecht, und sie war im Jahr 1895 also auch nicht die »einzelne, engagierte Suffragette«.83 Im Zentrum stand vielmehr die anstehende Ausarbeitung eines Bürgerlichen Gesetzbuches: nicht die politische Partizipation, sondern die zivilen, »bürgerlichen« Rechte. Darin aber unterschied sich Augspurg nicht von den Gemäßigten, die sich schon seit längerem für drastische Modifikationen des in Vorbereitung befindlichen BGB einsetzten. Das erste Wahlrechtsplädoyer einer deutschen Feministin in »Die Frauenbewegung« stammt von einer Freifrau v. K. in R. (März 1895), das zweite von Sera Proelß (Dezember 1896), 1897 folgte das erste Wahlrechtsplädoyer von Anita Augspurg, und in diesem Zusammenhang diskutierte der Verein Frauenwohl  – so berichtet Die Frauenbewegung  – zum »ersten Mal« völlig »offen und rückhaltlos« über das »politische Stimmrecht«.84 82 Anita Augspurg, Gebt acht, solange noch Zeit ist!, in: Frauenbewegung 1/1 (1.1.1895), S. 4; jetzt auch in der Neuedition (wie Anm. 74), S. 88–91. Dass der Text ein Wahlrechtsplädoyer sei (der zuletzt zitierte Passus wird immer ausgelassen), findet sich z. B. in Ute Gerhard, Anita Augspurg (1857–1943): Juristin, Feministin, Pazifistin, in: Kritische Justiz (Hg.), Streitbare Juristen, Baden-Baden 1988, S.  92–103, S.  98; auch in: Gerhard, Wurzeln (wie Anm. 6), S. 77; dies., Frauen (wie Anm. 6), S. 532. 83 Gerhard, Wurzeln (wie Anm. 6), S. 77; dies., Gleichheit (wie Anm. 6), S. 110. 84 In Die Frauenbewegung: Freifrau v. K. in R.: wie Anm. 81; Proelß, Frauenstimmrecht (wie Anm. 70); Henriette Goldschmidt (Berlin), Kurzbericht über Vorträge von Marie Stritt und Anita Augspurg, in: ebd. 3/33 (15.11.1897), S. 231 f. (»offen und rückhaltlos«). Zum 1.4.1898

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Um dieselbe Zeit publizierte auch Helene Lange vier weitere positive Stellungnahmen, in denen sie sich im Übrigen auf das Erbe von Hedwig Dohm und anderen früheren Suffragistinnen berief.85 Dass Anita Augspurg erst 1902 einen Wahlrechtsverein gründete, wird oft ihrer »Spitzfindigkeit« oder ihrem »köstlichen Einfall« (»hoch oben auf einem Berliner Bus sitzend«) zugeschrieben, dass es in Hamburg, anders als etwa in Preußen, kein Verbot politischer Vereine und Versammlungen von Frauen gab; doch als (1897 in Zürich) promovierte Juristin wusste sie gewiss schon seit langem (und »Die Frauenbewegung« hatte dazu publiziert), dass die Mehrzahl der Bundesstaaten kein solches Vereinsverbot mehr kannte, darunter auch ihre Heimat Bayern (hier war das Verbot 1898 abgeschafft worden, so dass es nun 17 Bundesstaaten ohne gesetzliches Vereinsverbot für Frauen gab).86 Der wirkliche Grund war ein doppelter: Zum einen hat sich die Wahlrechtsforderung, und erst recht die Frage ihrer organisatorischen Verselbständigung, nicht nur bei den »Alten«, sondern auch bei den »Jungen« erst allmählich und über schwierige Debatten hinweg durchgesetzt; zum andern kam der Anstoß von außen: Augspurg stand in Verbindung mit amerikanischen Suffragistinnen, die 1901 beschlossen hatten, eine internationale single-issue-Wahl­organi­sa­tion zu gründen (das geschah dann mit der Inter­ national Woman Suffrage Alliance, gegründet in Berlin 1904), und dafür nationale Organisationen brauchten.87 Die Wahlrechtsforderung kam also in den beiden Strömungen der deutschen Frauenbewegung gleichzeitig auf – in den Jahren 1894 bis 1898 –, und bis 1902 ging es beiden Seiten in erster Linie darum, eine breitere Unterstützung seitens der Frauen selbst zu befördern. 1899, auf dem Londoner Kongress des International Council of Women (ICW), verkündete Marie Stritt als Vertreterin des BDF, dieser habe auf seiner Hamburger Generalversammlung 1897­ folgte ein Aufruf von Augspurg und Minna Cauer, in dem an 7. und letzter Stelle die »Erlangung des Wahlrechts« gefordert wurde: Frauen Deutschlands!, in: ebd. 4/7 (1.4.1898), S. 73; Anon. (vermutlich Augspurg), Der neue Reichstag, in: ebd. 4/24 (15.12.1898), S. 264 (»Im Maskulinum liegt auch das Femininum«: Augspurgs Lieblingsargumentation, derzufolge Frauen das Wahlrecht überall dort schon hätten, wo sie nicht explizit davon ausgeschlossen seien). 85 Helene Lange, Der Frauentag in Stuttgart, in: Die Frau 5/2 (Nov. 1897), S. 65–70, S. 69; dies., Die politische Gleichberechtigung der Frau, in: ebd. 5/5 (Febr. 1898), S. 264–268; dies., Unsere ›Alten‹ und das Frauenstimmrecht, in: ebd. 7/3 (Dez. 1899), S. 129–133; dies., Frauentage, in: ebd. 7/2 (Nov. 1899), S. 93–99. 86 Vgl. etwa Marie Raschke, Die deutschen Vereinsgesetze, in: Frauenbewegung 2/2 (1896), S. 15 f.; Greven-Aschoff (wie Anm. 6) S. 108, 235 Anm. 4; anders z. B. Gerhard, Gleichheit (wie Anm. 6), S. 134 f. Die Zitate: Gerhard, Frauen (wie Anm. 6), S. 540; dies., Unerhört (wie Anm. 6), S. 223; ähnlich Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 57. Das Bus-Bonmot: Lida Gustava Heymann u. Anita Augspurg, Erlebtes – Erschautes, hg. v. Margrit Twellmann, Meisenheim am Glan 1972, S. 97. 87 Vgl. Mineke Bosch u. Annemarie Kloosterman, Politics and Friendship. Letters from the International Woman Suffrage Alliance, 1902–1942, Columbus 1990, Kap. 1; Rupp, Internationalism, u. Worlds (wie Anm. 74).

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»unanimously resolved to take its stand for the Suffrage«. Im selben Jahr 1902, als die deutschen Radikalen eine single-issue-Wahlrechts-Organisation gründeten, wurde die Forderung auch ins Programm des BDF aufgenommen, auf offiziellere und plakativere Weise dann 1907 (»das aktive und passive politische Wahlrecht«), und 1905 ins Programm des AdF (»Teilnahme der Frauen am politischen Wahlrecht«), der zusammen mit dem Lehrerinnenverband der harte Kern des BDF war; das letztere Dokument wurde von Helene Lange, die von 1893 bis 1921 dem AdF-Vorstand angehörte, durchgesetzt und formuliert und zirkulierte auch als Flugblatt.88 Als »Begründung« nannte das neue AdF-Programm einleitend, ähnlich wie früher schon Helene Lange, Hedwig Dohm und viele andere inner- und außerhalb Deutschlands, die längst gängig gewordene, gegen die traditionelle Geschlechterordnung gerichtete Annahme von »der durchgängigen körperlichen und seelischen Verschiedenheit der Geschlechter«, aus der sich die Notwendigkeit eines »gleichwertigen Zusammenwirkens von Mann und Frau« ergebe.89 Dass die beiden Flügel der deutschen Frauenbewegung sich um die Jahrhundertwende in Bezug aufs Frauenwahlrecht keineswegs prinzipiell unterschieden, lässt sich auch an zwei weiteren Aspekten des historischen Timing erkennen. Als wichtiger Unterschied zwischen ihnen gilt gemeinhin die Frage der sachlichen und zeitlichen Priorität: Für die Gemäßigten sei das Wahlrecht, so heißt es, ein fernes (und deshalb unbedeutendes und vernachlässigbares) Ziel gewesen: »Schon am Beginn dieses [20.] Jahrhunderts« habe es ihnen bloß als »Krönung«, als »Krone am Baum der Frauenbewegung« oder »Endziel« ihres Strebens gegolten, während es für die Radikalen ein »Ausgangspunkt der Frauenbewegung«, »Fundament«, »Mittel und Instrument ihrer Arbeit« gewesen sei.90 Die Krone-Metapher entstammt dem Kommentar der jüdischen Feministin Jenny Hirsch zum Stimmrechtsplädoyer von Hedwig Dohm; Hirsch 88 Marie Stritt, in: International Council of Women, Report of the Transactions of Second Quinquennial Meeting Held in London July 1899, hg. v. Countess of Aberdeen, 7 Bde., London 1900, Bd. »Women in Politics«, S. 132. BDF 1902: s. o. Anm. 24; BDF 1907: »Grundsätze und Forderungen der Frauenbewegung«, abgedr. in: Greven-Aschoff, S. 287–290. AdF 1905: »Ziele und Aufgaben der Frauenbewegung«, in: Die Frau 13/2 (1905), S. 65–67. Nicht erwähnt wird das Dokument von 1905 bei Bussemer, Frauenwahlrecht (wie Anm. 6), S. 8 f. (»ADF und politische Gleichberechtigung«), Clemens, Kampf (wie Anm. 6) und Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6) (Kap. 4: »Partizipationsvorstellungen des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung«), auch weder in Greven-Aschoff (wie Anm. 6), z. B. S. 85 oder im Kap. C.II. (über »die Frauenstimmrechtsbewegung 1902 bis 1916«) noch in Stoehr, Emanzipation (wie Anm. 6). 89 AdF, »Ziele und Aufgaben«, S. 65. Stoehr, Bund (wie Anm. 6) meint hingegen, dass im AdFDokument »zum ersten Mal die Forderung politischer Rechte mit der körperlichen und seelischen Verschiedenheit der Frauen« begründet worden sei (S. 27). 90 Clemens, Menschenrechte (wie Anm.  6), S.  35, 33; dies., Kampf (wie Anm.  6), S.  60; Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 23; Gerhard, Frauen (wie Anm. 6), S. 539; dies., Wurzeln (wie Anm. 6), S. 78–80; Hackett, Movement (wie Anm. 6), S. 368 f.; Greven-Aschoff (wie Anm. 6), S. 93.

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hat wegen ihrer »Krone« in der Frauenbewegungsforschung eine schlechte Presse, ungeachtet ihrer freundlichen Besprechungen von Dohm, die allerdings auch Dohms Spott über andere feministische Bestrebungen kritisierten, und ihrer Übersetzung von John Stuart Mills »Subjection of Woman« im Jahr 1869 (auch die jüdische Feministin Fanny Lewald, die ihre Schrift »Für und wider die Frauen« Stuart Mill gewidmet hatte, befürwortete 1870 das Wahlrecht prinzipiell, befand aber die Zeit noch nicht für reif dafür, und ähnlich argumentierte die Jüdin Bertha Pappenheim noch im Jahr 1897).91 Die Metapher wurde in der Folge aufgegriffen, um das Wahlrecht prinzipiell zu befürworten und gleichzeitig zu empfehlen, zuerst einmal den Kampf um Bildung, Erwerb, Sozialreform und eheliche Gleichberechtigung voranzubringen. Auch Anita Augspurg hielt noch 1897 das Wahlrecht für die »letzte Konsequenz der Frauenbewegung«. Helene Lange erklärte in ihren schon erwähnten Vorträgen von Ende 1894 das Wahlrecht zwar für wichtig, hielt es aber für »voreilig«, es »heute schon« zu fordern; bis 1899 betonte sie zwar noch gelegentlich, das Wahlrecht sei »letztes Ziel«, vor allem aber, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei. Seit mit Marie Hecht (auf der Generalversammlung des ADF 1897) und Eliza Ichenhaeuser (1898) auch andere führende Gemäßigte deutlich und öffentlich die Forderung propagiert hatten, hielt Lange die Zeit für gekommen. Die vielgeschmähte Krönungsmetapher benutzte Lange nicht.92 Hingegen brachte ihre Zeitschrift »Die Frau« seit deren Gründung bis zum Jahrhundertende ein gutes Dutzend deutlich positiver Stellungnahmen; eines ihrer Merkmale war, dass sie nicht (nur) theoretische Begründungen lieferten, sondern Realisierbarkeit diskutierten: sei es mit Blick auf Wahlrechte in der Vergangenheit oder auf solche in anderen Ländern. Als schließlich 1904 die »linke« Else Lüders den Topos immer noch beschwor (den Gemäßigten erscheine das Wahlrecht »als ein fernes Ziel, als die Krone am Baum der Frauenbewegung«), sah es Helene Lange schon längst nicht mehr als »letztes Ziel«, sondern als den »rechten Anfang«, als »notwendige Voraussetzung für das Ziel«, die »Eigenart« der Frauen geltend zu machen. In diesem Sinn hielt sie auf dem Kongress des ICW, der 1904 in Berlin stattfand, ihre vielbeachtete Rede über das wahrhafte »Endziel der Frauenbewegung«, das ihr 91 Jenny Hirsch, in: Frauen-Anwalt 6 (1876), S.  288 f.; außerdem ebd. 4 (1873/74), S.  265; 5 (1874/75), S. 217–221; im Französischen sprach man von »clé de voûte«, vgl. bei Anm. 29 im Kap. »Frauenemanzipation« in diesem Band. Zu Lewald und Hirsch vgl. ebd., Anm. 41 und 89; Fassmann, Jüdinnen (wie Anm. 79), S. 65–106, 330–339, bes. S. 102 f.; Bertha Pappenheim publizierte unter dem Pseudonym P. Berthold, Eine Frauenstimme über Frauenstimmrecht, in: Ethische Kultur 5/14 (3.4.1897), S. 106 f. und 5/18 (1.5.1897), S. 143 f. 92 Anita Augspurg, in: Frauenbewegung 3/33 (15.11.1897), S. 231 f. (»letzte Konsequenz«). Vgl. die in Anm. 85 genannten Texte: Lange, Frauentag, S. 69; dies., Politische Gleichberechtigung, S. 268; dies., Unsere ›Alten‹, S. 133. Dass Lange in dem letztgenannten Beitrag Hirschs Krone »noch zustimmend zitiert« habe (Stoehr, Bund [wie Anm. 6], S. 23, ähnlich Clemens, Menschenrechte [wie Anm. 6], S. 93 mit Anm. 71), trifft nicht zu. Vgl. Marie Elisa Ichen­ häuser, Die politische Gleichberechtigung der Frau, Berlin 1898; Anna Linde­mann, Die Frauenstimmrechtsbewegung in Deutschland, in: Jahrbuch der Frauenbewegung 1913, S. ­159–172, S. 169  f.

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immer schon am Herzen gelegen hatte: die volle Entfaltung des Individuums, der »weiblichen Persönlichkeit«, oder, wie sie 1893 – geradezu in Stuart Mills Terminologie – geschrieben hatte: »aus dem Gattungswesen zur freien Individualität sich zu entwickeln«. Auf jenem Kongress nahm der ICW – mit kräftiger Unterstützung von Helene Lange – nun auch das Wahlrecht in sein Programm auf.93 Spätestens von nun an wurden »Krone« und »Endziel« nur noch von antisuffragistischen Männern beschworen.94 Der zweite Aspekt betrifft die angenommene Chance des künftigen Erfolgs: Wie lange würde es realistischerweise  – jenseits bloßer Hoffnungen und der Topoi von »Fundament« und »Krönung« – bis zur Einführung des Frauenwahlrechts dauern? Hedwig Dohm hatte 1873 gemeint, dass es vielleicht in 50 Jahren kommen könne (Jenny Hirsch hatte das in ihrer Rezension eigens hervorgehoben); sie zeigte damit ein gutes historisches Gespür, wenngleich es nicht gerade zur Ermutigung ihrer Zeitgenossinnen beigetragen haben mochte. Auguste Schmidt hatte um 1865 gehofft, in dreißig Jahren im Landtag sitzen zu können und irrte sich; 1898 hoffte sie, sich »am Abend des Lebens nicht wieder im Zeitmaß zu irren, wenn ich im Geiste im Jahre 1950 die Frauen an der ihnen längst vertrauten Wahlurne sehe und weibliche Abgeordnete im Parlament erblicke.« Ein andermal träumte sie allerdings davon, dass es schon 1921 sein könnte.95 Die Radikalen mochten selbstverständlich nicht so lange warten. Aber angesichts der massiven Widerstände sahen auch sie das bald anders: Als sie 1913 Hedwig Dohms 80. Geburtstag feierten, glaubten sie nicht mehr, dass diese es noch erleben würde; es wäre wohl erst dann soweit, wenn die damals jüngsten unter den Radikalen so alt geworden wären wie die Jubilarin – also etwa im Jahr 1970.96 Doch Hedwig Dohm erlebte es noch, ein Jahr vor ihrem Tod, und es war teuer bezahlt mit Entwicklungen, die weder sie noch Auguste Schmidt gewünscht hatten: mit Krieg und einer aus ihm resultierenden Revolution.

93 Helene Lange, Das Endziel der Frauenbewegung, in: Die Frau 11/12 (Sept. 1904), S. 705–714, hier S. 711 f.; dies., Was wir wollen, in: Die Frau 1/1 (1893), S. 1–4, hier S. 4. Vgl. dies., Die Frau als Bürgerin, in: ebd. 11/9 (1904), S. 526–535, hier S. 534. Else Lüders, Der »linke Flügel«. Ein Blatt aus der Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Berlin 1904, S. 50 f. 94 Alice Dullo, Krone oder Fundament?, in: Frauenbewegung 12/7 (1.4.1906), S.  49 f.; dies., Nochmals zur Frage des Frauenstimmrechts, in: ebd. 12/11 (1.6.1906), S. 82 f. (Berichte über die Debatte in der Freisinnigen Volkspartei um »Krone oder Fundament«, man entschied sich gegen das Frauenstimmrecht); dazu Agnes Zahn-Harnack, Die Frauenbewegung, Berlin 1928, S. 288. Gerhard, Wurzeln (wie Anm. 6), S. 80 mit Anm. 21 bezieht die Debatte irrigerweise auf die Gemäßigten; Evans, Movement, S. 85, hält sie für eine Reichstagsdebatte; Rosenbusch, S. 423, meint, dass »die Gemäßigten«, einschließlich Helene Lange, 1917 »zum ersten Mal« davon abgelassen hätten, das Wahlrecht zur »letzten Konsequenz« zu erklären. 95 Auguste Schmidt, Die Zeit und wir, in: NB 33/1 (1.1.1898), S. 1 f.; Schmidts Traum in: Helene Lange, Der Frauentag (wie Anm. 85), S. 65 f.; Dohm, Jesuitismus (wie Anm. 36), S. 214; zu Hirsch oben, Anm. 91. 96 Frieda Radel, Hedwig Dohm, in: Frauenstimmrecht! Monatshefte des deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht (hg. v. Anita Augspurg), H. 6 (Sept. 1913), S. 121–124, hier S. 124.

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Ein weiterer Aspekt des historischen Timing betrifft den Vergleich zwischen Deutschland und den übrigen westlichen Ländern. Auch hier ist die deutsche Situation nicht grundsätzlich singulär. Das Verhältnis zwischen bürgerlichen und politischen Rechten und die eventuelle Priorität der ersteren – also die Position der Berliner Radikalen Henriette Goldschmidt und vieler anderer, die bis zur Jahrhundertwende die Wahlrechtsforderung für verfrüht, weil un­realistisch hielten  – wurden gleichzeitig in vielen Ländern diskutiert. Oft wurde ökonomischen Forderungen der Vorrang vor den politischen gegeben (und galten als radikaler), so z. B. unter den britischen Arbeiterinnen, deren Frauenwahlrechtsbewegung erst in den 1890er Jahren entstand (für das Wahlrecht »ihrer« Männer hatten sie sich schon früher eingesetzt). Dass autonomes politisches Agieren und Wählen für Frauen höchst schwierig sei, solange das Zivilrecht persönliche Freiheit versagte, indem es die Gehorsamspflicht von Ehefrauen, ihre Eigentumslosigkeit und die Rechtlosigkeit an ihren Kindern festschrieb und die Scheidung erschwerte, war überall ein dramatisches Problem. Seit Jeanne Deroin und ihre Mitstreiterinnen 1848, im Kontext der französischen Februarrevolution und der Einführung des »suffrage universel«, das Frauenwahlrecht gefordert hatten, George Sand es aber zurückwies (in Deutschland galt und gilt sie als radikal, da sie Männerkleider zu tragen pflegte), weil Frauen zuallererst im Zivilrecht Freiheit und Gleichheit erlangen müssten, begleitete diese Kontroverse die Frauenbewegungen über ein halbes Jahrhundert lang; das Problem resultierte aus dem Umstand, dass Männer ihre bürgerlichen Freiheitsrechte in der Regel schon lange vor den politischen Partizipationsrechten erlangt hatten, während Frauen sich um beide gleichzeitig bemühen mussten.97 Für die umgekehrte Reihenfolge sprach natürlich der Umstand, dass ohne weibliche Präsenz im Parlament das Zivilrecht kaum Chancen auf Änderung hatte. Angesichts dieses double-bind macht es historisch keinen Sinn, die eine Position für radikaler zu halten als die andere; vielmehr war die eine nicht denkbar ohne die andere. In diesem Sinn konnte Helene Lange in ihrem Rückblick 1921 sagen: »Die ganze Frauenbewegung war mir Stimmrechtsbewegung.«98 Jedenfalls verwies die Berlinerin Goldschmidt zu Recht darauf, dass gerade in den USA und in England große Erfolge im Kampf um die bürgerlichen Rechte (vor allem die married women’s property acts) dem Einsatz für politische Rechte vorausgegangen waren; sich an diesen beiden Ländern zu orientieren, hieß für viele, genau

97 Vgl. Anm.  28 und 29 zum Kap.  »Frauenemanzipation« in diesem Band; Michelle Perrot, 1848: la révolution des femmes, in: L’Histoire 218 (1998), S. 62–67; Laura Strumingher Schor, Politics and Political Satire: The Struggle for the Right to Vote in Paris, 1848–1849, in: The European Legacy 1/3 (1996), S. 1037–1044; Mona Ozouf, Les mots des femmes, Paris 1995, S. 173–198. 98 Helene Lange, Lebenserinnerungen, Berlin 1921, S. 241. Falsch zitiert ist der Satz in ­Clemens, Menschenrechte (wie Anm. 6), S. 96, irreführend interpretiert in Stoehr, Bund (wie Anm. 6), S. 43 (»eine besonders subtile Relativierung der politischen Gleichberechtigung«).

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diese »angelsächsische« Reihenfolge zu befürworten.99 In den USA ebenso wie in England war der Einführung des nationalen Wahlrechts außerdem das kommunale und bundesstaatliche vorausgegangen und hatte die Kampagnen für das nationale inspiriert; darauf beriefen und daran orientierten sich bis zur Jahrhundertwende auch die deutschen Feministinnen (bis 1919 wurde den deutschen Frauen weder auf kommunaler noch auf Länder-Ebene Partizipation gewährt). In dieser Hinsicht waren gerade der britische und amerikanische Weg zum Frauenwahlrecht von Gradualismus geprägt (wie in Großbritannien übrigens auch der Weg zum Männerwahlrecht); es kann also keine Rede sein von einem spezifisch »deutschen feministischen Gradualismus«.100 In den Vereinigten Staaten gab es die erste Wahlrechtsorganisation zwar schon in den 1860er Jahren, aber erst in den 1890er Jahren – nach heftigen Auseinandersetzungen zwischen zwei Flügeln – begannen die gemeinsamen nationalen Kampagnen, und die übergreifenden Frauenverbände nahmen das Wahlrecht nur wenig früher in ihr Programm auf als die europäischen; die General Federation of Women’s Clubs sogar erst im Jahr 1914, nach über zehnjähriger Debatte.101 In England schlossen sich erst 1897 die lokalen Wahlrechtsvereine zu einem nationalen Verband zusammen. Noch auf dem Kongress des International Council of Women in London 1899 gab es einen Konflikt darüber, dass neben einem pro-suffrage-Vortrag auch ein anti-suffrage-Vortrag plaziert werden sollte; Millicent Fawcett organisierte daraufhin eine separate pro-suffrageVeranstaltung.102 Der Umstand, dass Frauen für die Unterstützung einer regelrechten Bewegung fürs Wahlrecht überhaupt erst gewonnen werden mussten, führte überall in Europa zu Kontroversen über das Verhältnis zwischen einem Vereine übergreifenden und überparteilichen Verband mit zahlreichen Zielen und einer minoritären Organisation mit einer single-issue-Wahlrechts-Politik. Auf dem europäischen Kontinent entstanden die umfassenderen oder nationalen Frauenorganisationen überall ab 1893 (der BDF 1894), und fast überall entstanden sie vor den speziellen Wahlrechtsorganisationen (1895–1914); überall dauerte es einige Jahre, bis auch die übergreifenden Verbände das Wahlrecht in ihr Programm aufnahmen. Deutschland war in Sachen Timing also keineswegs ein late-comer,103 und der Vergleich mit den westlichen Ländern zeigt hier deutlich mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede. 99 Vgl. bes. Holton, Feminism, u. dies., Women (beide wie Anm. 4); Caine, Feminism, u. dies., Mill (beide wie Anm. 26); dies., Victorian (wie Anm. 59). 100 Hackett, Movement (wie Anm. 6), S. 373. 101 Vgl. Karen J. Blair, The Clubwoman as Feminist. True Womanhood Redefined, 1868–1914, New York 1980, Kap. 6. 102 Vgl. Hume, Union (wie Anm.  59); Rupp, Constructing Internationalism (wie Anm.  74), S. 1574. 103 Die Gründungsdaten der nationalen Frauenverbände und der spezifischen Wahlrechtsverbände: Evans, Feminists, passim. Eine Tabelle der Jahre, in denen sich die ersteren dem ICW und die letzteren der IWSA anschlossen: Rupp, Worlds (wie Anm. 74), S. 16–18. In beiden Reihen liegen die deutschen Verbände unter den first-comers.

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Wie sind dann aber einige wichtige Unterschiede zu erklären, insbesondere der amerikanische und britische Sonderweg, auf dem die ersten Frauenwahlrechtsorganisationen, wie minoritär auch immer, schon in den 1860er Jahren entstanden? Der Unterschied lässt sich auf einen Faktor zurückführen, der seinerseits wieder für sämtliche Länder gilt, also sowohl Unterschiede als auch Parallelen erklärt und eine solidere Basis abgibt als »Cromwells Blut in den Adern der englischen Bourgeoisie«. Eine Frauenwahlrechtsbewegung entstand dann, wenn das Wahlrecht für Männer zur Debatte stand: Feministinnen rechneten sich dann eine Chance aus, wenn auf dem mühsamen Weg der Universalisierung politischer Rechte diejenigen für Männer anstanden, und vor allem, wenn darum debattiert oder gar gekämpft wurde. Hier allerdings, in der Frage des Männerwahlrechts, gab es beträchtliche Unterschiede, und sie prägten auch die Geschichte des Frauenwahlrechts.104 Jene Abfolge der Frauenforderungen lässt sich mit einem Satz von Helene Lange aus dem Jahr 1899 illustrieren: Es gehe darum, »daß wir das Frauenstimmrecht nicht nur fordern – das ist eine sehr einfache Sache –, sondern mit Erfolg fordern.«105 Mit den 1890er Jahren kam ein wichtiger Faktor hinzu: Zahlreiche alte und neue Kontakte zwischen einzelnen Feministinnen verschiedener Länder, zwischen den nationalen Frauenbewegungen  – moderaten wie radikalen  – und nicht zuletzt die internationalen Frauenkongresse (seit 1878 und besonders 1896 in Paris und Berlin) führten zu einer genuin transnationalen Bewegung, die eine eigenständige Dynamik entfaltete; in ihrer Folge konnte die Entwicklung in einem Land die Ereignisse in anderen Ländern inspirieren.106 Wesentlich war dabei der Fall Neuseeland (aber auch einzelne amerikanische Bundesstaaten, die britische Isle of Man, wo  – trotz ihres Namens  – schon 1881 das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, Australien 1894 und 1902 sowie Finnland 1906). Jenseits von Fundamentalprinzipien wurde Neuseeland zum Symbol für die historische Realisierbarkeit einer Forderung, die mit der traditionellen Subordination von Frauen wenigstens teilweise brach. Die intensive und detaillierte, ausführliche oder knappe Berichterstattung über sämtliche Formen von weiblicher politischer Partizipation »im Ausland«, in Vergangenheit und Gegenwart, die in der feministischen Presse jeglicher Couleur, aber auch in der sozialdemokratischen Gleichheit publiziert wurde, war keineswegs, wie zuweilen zu lesen, »bloße« Berichterstattung ohne eigenes Engagement. Vielmehr war 104 Vgl. dazu das folgende Kap. in diesem Band. 105 Lange, Unsere ›Alten‹ (wie Anm. 85), S. 133. 106 Wynona H.  Wilkins, The Paris International Feminist Congress of 1896 and its French­ Antecedents, in: North Dakota Quarterly 43 (1975), S.  5–28; Laurence Klejman, Les Congrès féministes internationaux, in: Mil Neuf Cent 7 (1989), S.  71–86; Rupp, Worlds (Anm. 74); Bosch u. Kloosterman (Anm. 87); Sandra Stanley Holton, »To Educate Women into Rebellion«: Elizabeth Cady Stanton and the Creation of a Transatlantic Network of Radical Suffragists, in: AHR 99/4 (1994), S.  1112–1136; Margaret H.  ­McFadden, Golden Cables of Sympathy: The Transatlantic Sources of 19th-Century Feminism, ­Lexington, KY 1999.

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diese Dimension empirischer, historisch-politischer Erfahrung ein integraler – und auch theoretisch relevanter – Bestandteil des Wahlrechtsdiskurses, seiner Diffusion und Durchsetzung. Der feministische Suffragismus, hier verstanden als politisches Denken mit einer eigenen Intellectual History, war ein transnationales Phänomen, bei dem die Ähnlichkeiten gegenüber den Unterschieden überwogen. Das gilt weitgehend auch für die Phase, in der in Deutschland (aber auch anderswo) die Forderungen sich konkretisierten, nämlich ab 1908, als den Frauen die Vereins- und Versammlungsfreiheit im gesamten Reich gewährt worden war. Nun spalteten sich die deutschen Frauenwahlrechtsvereine in solche (eine Minderheit), die – wie die SPD – das volle Wahlrecht für Männer in den Bundes­ staaten und für Frauen auf allen Ebenen forderten, und solche (die Mehrheit), die ihre Forderungen nur für Frauen aufstellten, nämlich das Wahlrecht »unter den gleichen Bedingungen, wie die Männer es haben oder haben werden«, also mit – vorläufiger – Akzeptierung eines Zensus in den Bundesstaaten, allerdings nicht für den Reichstag.107 Wenn diese Mehrheit in der Forschung fast durchweg als konservativ oder gar reaktionär eingestuft wird, ist (zumindest) zweierlei zu bedenken. Zum einen war das nicht etwa ein konservativer Sonderweg der deutschen Feministinnen, sondern sie hatten genau die Formel übernommen, die ihre britischen Schwestern geprägt hatten (»suffrage as it is or may be«) und, Suffragistinnen ebenso wie Suffragetten, über vierzig Jahre lang propagierten (die Suffragistinnen bis 1912, die Suffragetten auch weiterhin); ähnlich hatten das auch John Stuart Mill (1861, 1867, 1869: »perfect equality«) und der ICW 1904 formuliert (ICW: »whatever rights or privileges are accorded to men, ought on corresponding terms to be accorded to women«).108 Zweitens bedeutete die international gängig gewordene Formel in Deutschland weitaus Progressiveres als in England: nämlich das uneingeschränkte Frauenwahlrecht zum Reichstag und zu einem Viertel der bundesstaatlichen Parlamente. Wenn Helene Lange in die ideologischen Debatten um jene Formel nicht eingriff (oft wird ihr das vorgeworfen), so wusste sie sehr wohl Bescheid um diese Zusammenhänge. Eine reale Chance schien sich 1917 zu bieten, als der Kaiser in seiner »Osterbotschaft« das volle Männerwahlrecht auch in Preußen einzuführen verhieß, ohne dabei ein Wort über die Frauen zu verlieren. Lange und andere protestierten dezidiert, und Gemäßigte, Radikale und Sozialdemokratinnen – die »reinliche Scheidung« war nun überwunden, weil die drei Richtungen im Krieg 107 Die Formel: z. B. in Lindemann (wie Anm. 92), S. 166, und Auguste Kirchhoff, Zur Entwicklung der Frauenstimmrechtsbewegung, Bremen 1916, S. 9 (Bussemer, wie Anm. 6, S. 19, unterschlägt die letzten drei Worte; ähnlich Clemens, Kampf, wie Anm. 6, S. 93; vgl. Clemens, Menschenrechte, wie Anm. 6, S. 60 f.). Nur eine kleine Minderheit der organisierten Suffragistinnen wünschte dauerhaft einen Zensus für Frauen. 108 John Stuart Mill, The Subjection of Women, in: ders. u. Harriet Taylor Mill, Essays on Sex Equality, hg. v. Alice Rossi, Chicago 1970, S. 125 (dt: Die Hörigkeit der Frau, Frankfurt a. M. 1976, S. 127: »vollkommene Gleichheit«); s. auch oben, Anm. 39. Vgl. Holton, Feminism (wie Anm. 4), bes. Kap. 3, und Vellacott, Liberal (Anm. 19), passim.

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kooperierten und die Sozialdemokratinnen nicht mehr von Zetkin dominiert wurden – wandten sich direkt an die Reichs- und Länderregierungen mit der Forderung nach dem aktiven wie passiven Wahlrecht sämtlicher Frauen (»in allen Bevölkerungsschichten«) und auf allen Ebenen: Reich, Bundesstaaten und Gemeinden; sie forderten dies im Kontext ihrer zahlreichen weiteren Forderungen, lehnten dabei aber die kursierende Idee einer »Belohnung für die außerordentlichen Leistungen« im Krieg ab.109 (Bedauerlicherweise wurde auch dieses, wie schon manches frühere und eindeutige Dokument bis vor kurzem von der Forschung in seiner wirklichen Bedeutung verkannt).110 In Deutschland aber, anders als in vielen westlichen Ländern, wurde das Frauenwahlrecht nicht von einem Männerparlament eingeführt, sondern 1918 von der provisorischen Revolutionsregierung. Als es schließlich 1919 in der Weimarer Verfassung und in den Ländern verankert wurde, stimmten auch schon Frauen darüber ab: 37 in der Nationalversammlung und insgesamt 117 in den Länderparlamenten. Wenngleich – wie in vielen anderen Ländern – der Krieg als »Katalysator« für die Einführung des Frauenwahlrechts fungierte und die Revolution der unmittelbare Anlass dafür war, so wäre es doch – ebenfalls wie in vielen anderen Ländern – nicht verwirklicht worden ohne die vielfältigen, moderat-liberalen wie radikal-liberalen, Frauenbestrebungen seit dem 19. Jahrhundert.

109 Die Stellung der Frau in der politisch-sozialen Neugestaltung Deutschlands. Eine Denkschrift des Bundes Deutscher Frauenvereine an Regierung und Parlament im Reich und in den Bundesstaaten, in: Die Frauenfrage 19 (1917), S.  147; und in: Die Frau 25 (1917), S. ­36–38. Vgl. Helene Lange, Der Oster-Erlaß des Kaisers und die Frauen, in: Die Frau 24/8 (Mai 1917), S. 449–454; dies., Der Weg zum Stimmrecht, ebd. 24/12 (1917), S. 690–694. Auch früher schon hatte sie den Kaiser angegriffen: Standespsychologie in der Königsberger Kaiserrede, ebd. 18/1 (Okt. 1910), S. 1–5. 110 Vgl. oben, Anm. 22. Stoehr, Bund (wie Anm. 6) zufolge hat das Dokument »nicht einmal eindeutig für ein demokratisches Wahlrecht Stellung genommen« (S.  40). Rosenbusch, Weg (wie Anm. 6), S. 423, postuliert, dass für den BDF (inklusive Helene Lange) die Forderung nach dem vollen Frauenwahlrecht 1917 ganz neu gewesen sei, und konzediert lediglich, dass er »zumindest mittelbar« das »allgemeine Wahlrecht« fordere. Unmittelbarer war es allerdings kaum möglich.

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Wege zur demokratischen Bürgerschaft: transnationale Perspektiven✳

1. Begriffe, Wege und Sonderwege In der Forschung über das Frauenwahlrecht haben Jubiläen eine anspornende Wirkung, und das nicht nur in nationaler, sondern auch in transnationaler Hinsicht. Derzeit wird die 1913 stattgehabte erstmalige Einführung des unbeschränkten, sowohl aktiven als auch passiven, national-parlamen­ta­rischen Frauenwahlrechts in einem unabhängigen europäischen Nationalstaat, Norwegen, gefeiert und im internationalen Kontext erneut untersucht.1 Im Jahr 2006 war schon Finnland zum Ausgangspunkt einer multinationalen Betrachtung geworden: zur hundertjährigen Wiederkehr der allerersten europäischen Anerkennung des unbeschränkten nationalen Frauenwahlrechts, wenngleich Finnland 1906 noch nicht über nationale Unabhängigkeit verfügte (es war Großfürstentum des Russischen Reiches und dessen Russifizierungspolitik ausgesetzt).2 Im selben Jahr 2006 feierte man auch in Sevilla: das Fünfundsiebzigjährige der erstmaligen Einführung des vollen Frauenwahlrechts in Spanien (1931), das allerdings im Franco-Regime nichts mehr wert war und mit der ✳

Diesem Kapitel liegt ein Vortrag im Kolloquium Jürgen Kockas im Januar 1998 zugrunde. Den Teilnehmern, ebenso wie denen an den Kolloquien von Barbara Vogel und Karin Hausen (1999, 2000), danke ich für ihre Anregungen. Gedankt sei besonders auch Anne Cova, Ann-Katrin Ebert, Wiebke Kolbe und Anette Weber. 1 Vgl. Ida Blom, Structures and Agency. A transnational comparison of the struggle for­ women’s suffrage in the Nordic countries during the long 19th century, in: SJH 37/5 (2012), S. 600–620. Zahlreiche Tagungen fanden 2013 in Norwegen statt, mit dem Höhepunkt im November: URL: http://www.fokuskvinner.no/en/Frontpage-EN/Conferences/Stemmeretts jubileet/. Demnächst erscheint das lange erwartete Werk von Birgitta Bader-Zaar: Zur Einführung des Frauenwahlrechts. Großbritannien, Deutschland, Österreich, Belgien und die USA im Vergleich, Wien (L’Homme Schriften 3). Ein Überblick in: Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, München 2000 (20052), Kap. IV. 2 Irma Sulkunen, Suffrage, Nation and Citizenship  – The Finnish Case in an International Context, in: dies. u. a. (Hg.), Suffrage, Gender and Citizenship: International Perspectives on Parliamentary Reforms, Newcastle upon Tyne 2009, S. 83–105. Aus russischer Perspektive: Rochelle Goldberg Ruthchild, Women’s Suffrage and Revolution in the Russian Empire, 1905–1917, in: Aspasia I/1 (2007), S.  1–36. Zum 80-jährigen Jubiläum: URL: http://www. helsinki.fi/sukupuolentutkimus/aanioikeus/pdf/kurki_en.pdf (1.11.2013). Zum 100-jährigen: Centenary of women’s full political rights in Finland, URL: http://www.helsinki.fi/sukupuo lentutkimus/aanioikeus/en/index.htm (1.11.2013).

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Verfassung von 1978 erneuert werden musste.3 Das Hundertjährige der allerallerersten Anerkennung des national-parlamentarischen Frauenwahlrechts, nämlich in Neuseeland (ungeachtet seines Charakters als britische Kolonie bzw. bald Dominion hatte das Land faktisch schon eine Selbstverwaltung), war 1993 mit einer internationalen Tagung gefeiert worden; auch hier ist der Sachverhalt komplex, weil lediglich das aktive und noch nicht auch das passive Wahlrecht gewährt wurde (das änderte sich erst 1919), während die einheimischen MaoriFrauen von Anfang an einbezogen wurden. In Südaustralien hingegen wurden 1894 sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht gewährt – also eine Weltpremiere –, und während dies ab 1902 auch für Gesamtaustralien galt, blieben hier die Aborigines-Frauen bis 1962 ausgeschlossen.4 Anlässlich der Tagung in Neuseeland warf Carole Pateman, deren bahnbrechende Studie über den frühneuzeitlich-modernen »Geschlechtervertrag« viele Einsichten über weibliche Bürgerschaft angeregt hatte, Fragen auf, die immer noch nicht schlüssig beantwortet sind und erst recht nicht in vergleichender Perspektive. Die erste von ihnen steht im Zentrum der folgenden Ausführungen: »Why did womanhood ­suffrage take so long?« Pateman verwies damit nicht nur auf eine wichtige Frage, sondern – mit dem heutzutage ungewöhnlichen Terminus »womanhood s­ uffrage« – auf eine spezifisch englische Begrifflichkeit; immer noch lohnt es sich bei diesem Thema, die Begriffsgeschichte zu beachten, und schon an ihr lässt sich ablesen, wie lange es dauerte, bis weibliche Bürgerschaft durchgesetzt und anerkannt wurde.5 In Großbritannien hatte man seit dem 19. Jahrhundert keinen Zweifel daran gelassen, dass das, was anderswo »allgemeines Wahlrecht« oder »suffrage universel« genannt wurde (der französische Begriff ist erstmals für das Jahr 1800 nachgewiesen, wurde aber erst in den 1830er Jahren gängig),6 nur für Männer 3 Ana Aguado, Constructing Women’s Citizenship: The Conquest of Suffrage and Women’s Political Rights in Spain, in: Blanca Rodríguez u. Ruth Rubio-Marín (Hg.), The Struggle for Female Suffrage in Europe. Voting to Become Citizens, Leiden 2012, S. 289–303 (hier werden nur diejenigen Länder behandelt, die im Jahr 2007 Mitglieder der Europäischen Union waren). 4 Caroline Daley u. Melanie Nolan (Hg.), Suffrage and Beyond: International Feminist Perspectives, New York 1994, S. 331–348; vgl. Patricia Grimshaw, Women’s Suffrage in New Zealand Revisited: Writing from the Margins, in: ebd., S. 25–41; Charlotte Macdonald, Suffrage, Gender and Sovereignty in New Zealand, in: Sulkunen u. a., Suffrage (wie Anm. 2), S. ­14–33; Patricia Grimshaw, Colonialism, Power and Women’s Political Citizenship in Australia, 1894–1908, in: ebd., S. 34–55. 5 Carole Pateman, Three Questions about Womanhood Suffrage, in: Daley u. Nolan (wie Anm. 4), S. 331–347; vgl. dies., The Sexual Contract, Palo Alto, CA 1988. 6 Alphonse Aulard, Histoire politique de la Révolution française, Paris 19032, S.  706; Pierre Rosanvallon, Le sacre du citoyen: Histoire du suffrage universel en France, Paris 1992, S. 261. Als deutscher Klassiker mag gelten: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III: Bismarck und das Reich, Stuttgart 19883: »Das Reichstagswahlrecht war allgemein. Es stand allen männlichen Reichsangehörigen vom vollendeten 25. Lebensjahr an zu« (S. 862); »alle reichsangehörigen Bewohner« (S. 880) hatte denselben Sinn.

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galt. Von den frühen englischen Wahlrechtsbewegungen der 1770er Jahre bis zu den Chartisten mit ihrer »People’s Charter« (1838) hieß die Forderung: »the vote for every man«, »for every male« oder »for male persons« (daneben auch »universal suffrage«, was erstmals für das Jahr 1793 nachgewiesen ist, außerdem »complete« oder »general suffrage«).7 Nach dem Niedergang der Chartisten wurde, sprachlich gesehen, nicht nur das Allgemeine als männlich gesetzt, sondern auch die Männlichkeit verallgemeinert: Es hieß nun meist »manhood suffrage«, und so heißt das Gemeinte – korrekterweise – bis heute, jedenfalls in der wichtigsten politologischen und soziologischen Literatur; in diesem Sinn sprach der große norwegische Demokratieforscher Stein Rokkan auch von »manhood democracy«.8 An dieser Diktion orientiert sich Patemans »womanhood suffrage« ebenso wie an der 1891 gegründeten australischen »Womanhood Suffrage League of New South Wales« (in Großbritannien sprach man zu jener Zeit von »women’s suffrage«, in den USA von »woman suffrage«). Im 19. Jahrhundert war in Großbritannien der Terminus »manhood suffrage« so gängig, dass John Stuart Mill, der radikale Liberale und Wahlrechtsreformer, ihn 1859 aufs Korn nahm: »the name of universal suffrage« hielt er für deplaziert (»misapplied«), und »manhood suffrage« fand er »silly and insulting«  – beleidigend nämlich für das weibliche Geschlecht. Dabei ging es ihm nicht nur um den Terminus, sondern um den Ausschluss der Frauen von der »representation of the people«; schon damals forderte er für sie das gleiche Wahlrecht, wie es die Männer hatten – und nicht erst als Member of Parliament für Westminster in seiner berühmten Rede vom 20. Mai 1867, als er die Ersetzung von »man« durch »person« in der Second Reform Bill beantragte und immerhin 73 Stimmen dafür gewinnen konnte, gegen 169 Gegenstimmen.9 Sein radikaler MP-Kollege John Bright, der 1867 ebenfalls für das Frauenwahlrecht stimmte, hatte sich schon 1851 von der gängig gewordenen Terminologie distanziert: »I have never adopted the phrase ›universal‹ or ›manhood‹ in connexion with the franchise […].« Wahrhafte Universalität oder auch Vernunft oder legitime Herrschaft bedeutete solchen Männern etwas anderes als Männlichkeit: »[…] nor do I think what is expressed by them the best to give a chance of the best government.«10 Insgesamt artikuliert jener englische Begriff deutlich die Geschlechterschranke (sex barrier), also das – sowohl quantitativ 7 G. D. H.  Cole u. A. W. Filson, British Working Class Movements. Select Documents 1789– 1875, New York 1967, S. 35, 44, 47, 228, 238 f., 351–355, 375, 382–386, 397, 519–538, 545, 565. 8 Stein Rokkan, Citizens, Elections, Parties. Approaches to the Comparative Study of the Processes of Development, Oslo 1970, S. 151; vgl. ders. u. Lars Sväsand, Zur Soziologie der Wahlen und der Massenpolitik, in: dies. u. a., Wahlverhalten, Vorurteile, Kriminalität, Stuttgart 1978, S. 40. Vgl. auch unten, S. 214, Abb. 3. 9 John Stuart Mill, Thoughts on Parliamentary Reform [1859], in: ders., Collected Works, Bd. 19, Toronto 1977, S. 313–339, hier S. 334; ders., Of the Mode of Voting, in: ebd., S. 488– 500, hier S. 492 492. 10 Zit. in: Eric J. Evans, The Forging of the Modern State. Early Industrial Britain 1783–1870, London 1993, S. 346.

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wie qualitativ  – wichtigste Kriterium für den Ausschluss von der politischen Bürgerschaft. Die jahrzehntelangen Stimmen, Bewegungen, Debatten und Gesetzentwürfe zum Frauenwahlrecht gingen in die herkömmliche Sozial- und Verfassungsgeschichtsschreibung über den Weg zum demokratischen Wahlrecht in der Regel nicht ein; stattdessen wurden sie zur separaten Domäne der Historischen Frauenforschung. Somit erscheint in der traditionellen Geschichtsschreibung zu Großbritannien, wie auch für viele andere Länder, das im 20. Jahrhundert errungene Frauenwahlrecht als bloßes Anhängsel eines scheinbar wichtigeren Prozesses. Klasse, so wird auch explizit behauptet, sei politisch wichtiger als Geschlecht, denn zum einen wiege die Wahlrechtsbeschränkung durch einen Zensus für Männer »schwerer« als der völlige Ausschluss von Frauen, und zum anderen habe sich von 1850 bis 1950 in Westeuropa »ein Transformations­prozess vollzogen […], der zu einer Erweiterung der Aktivbürgerschaft von durchschnittlich unter zehn Prozent auf über achtzig Prozent der erwachsenen Bevölkerung und damit zu einer massenhaften Inkorporation neuer Klassen und Schichten der Bevölkerung in das politische System führte.«11 Logik spielt hier keine Rolle: Seit dem Ersten Weltkrieg betraf die Inkorporation meist nicht mehr männliche Habenichtse bzw. »neue Klassen«, sondern – zu mehr als fünfzig Prozent – das »andere« Geschlecht. Vor diesem Hintergrund soll hier auch im Deutschen die englische Terminologie benutzt werden: Wenn es um das Wahlrecht ausschließlich von Männern geht, soll es »Männerwahlrecht« heißen (»male suffrage«12); wird dabei ein Zensus hervorgehoben, so heißt es »eingeschränktes Männerwahlrecht« (»limited male suffrage«), und das zensusfreie sowie gleichwertige Wahlrecht aller erwachsenen Männer heißt »volles« oder »unbeschränktes Männerwahlrecht« (im Sinn von »manhood suffrage«).13 Im selben Sinn wird zuweilen »Wahlrecht für alle Männer« verwendet,14 dieses kann aber durchaus Ungleichheit unter Männern einschließen (etwa im Dreiklassenwahlrecht einiger deutscher Bundesstaaten, bei dem so gut wie sämtliche Männer und nur Männer wählen konnten).15 Das unbeschränkte Männerwahlrecht sollte nicht, wie gelegentlich 11 Jürgen Kohl, Zur langfristigen Entwicklung der politischen Partizipation in Westeuropa, in: Peter Steinbach (Hg.), Probleme politischer Partizipation im Modernisierungsprozess, Stuttgart 1982, S. 481; vgl. Abb. 4 (unten, S. 215). Ausschließlich auf Klassen und Schichten bezieht sich auch Hans Setzer, Wahlsystem und Parteientwicklung in England. Wege zur Demokratisierung der Institutionen 1832 bis 1948, Frankfurt a. M. 1973. 12 So etwa Peter Flora u. a., State, Economy and Society in Western Europe 1815–1975. A Data Handbook, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1983, S. 91. 13 So z. B. Rokkan, Citizens (wie Anm.  8) S.  33: unterschieden wird zwischen »manhood­ suffrage«, »universal suffrage«, »limited female suffrage«; vgl. auch ders. u. a., Soziologie (wie Anm.  8) und Abb. 3. Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, Opladen 1989, S. 35, übernimmt Rokkans Tabelle. 14 Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, S. 23. 15 Vgl. etwa Thomas Kühne, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867–1914, Düsseldorf 1994, S. 386.

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zu lesen, als »demokratisches Wahlrecht« gelten,16 und das Reichstagswahlrecht galt zwar für alle Männer, war aber keineswegs »allgemein«; vor allem Frauen, etwa Hedwig Dohm und Helene Lange, bestritten das schon damals.17 Der irreführende, den 1980er Jahren entstammende Neologismus »allgemeines Männerwahlrecht« (»universal manhood suffrage«, inzwischen gibt es auch schon »universal white manhood suffrage«), der neuerdings, seit die Ineinssetzung von Allgemeinheit und Männlichkeit – und erst recht weißer Männlichkeit – fragwürdig geworden ist, manchen als Notlösung gilt, ist eine contradictio in adiecto (gleichsam ein rundes Quadrat); dasselbe gilt für den zwanzig Jahre später geprägten Neologismus »allgemeines Frauenwahlrecht«. Soll die ehrwürdige Kategorie »allgemein« (oder »universal«) überhaupt noch einen Sinn machen, gar einen analytisch brauchbaren, kann sie nur geschlechterübergreifend Geltung haben, zumal sie heutzutage, seriösen Nachschlagewerken zufolge, eindeutig festgelegt ist: »unabhängig vom Geschlecht« (und von Religion, »Rasse« usw.); so soll sie im Folgenden benutzt werden.18 Im Französischen ist ein moderner Sprachwandel bis heute schwierig, vermutlich wegen der traditionellen symbolischen Aufladung von exklusiv männlichem »suffrage universel« (französische Feministinnen sprachen in der 1848er-Revolution stattdessen von »suffrage masculin« und »suffrage pour tous et pour toutes«).19 Erfreulicherund korrekterweise werden heutzutage in manchen einschlägigen englischsprachigen Werken das französische »suffrage universel« und das deutsche »allgemeine Wahlrecht« nicht wörtlich übersetzt, sondern mit »manhood ­suffrage« wiedergegeben.20 Dieser Diktion und Patemans »womanhood suffrage« entspricht dann im Deutschen das volle (und daneben das beschränkte) Frauen-

16 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. III: 1849–1914, München 1995, z. B. S. 302; Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M. 1990, S. 383. 17 Vgl. das vorige Kap., bei Anm. 46. Zu Recht und Praxis der Wahlen vgl. Margaret Lavinia Anderson, Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, übers. v. Sibylle Hirschfeld, Stuttgart 2009 (Original: Princeton, NJ 2000), S. 503–505. 18 Nohlen (wie Anm. 13) benutzt hingegen »allgemein« gleichzeitig im Sinn von »unabhängig von Geschlecht« (S. 30) und von »allgemein für Männer« und »allgemein für Frauen« (S. 33). 19 Rosanvallon (wie Anm. 6) übersetzt gelegentlich das »suffrage universel« mit »suffrage universel masculin pour les adultes de vingt-et-un ans« (S.  315). Vgl. Karen Offen, Women, Citizenship, and Suffrage with a French Twist, 1789–1993, in: Daley u. Nolan (wie Anm. 4), S. 151–170; dies., Women and the Question of »Universal« Suffrage in 1848: A Transatlantic Comparison of Suffragist Rhetoric, in: National Women’s Studies Association Journal 11/1 (1999), S. 150–177. 20 Z. B. Peter Campbell, French Electoral Systems and Elections since 1789, London 1965; John Edward Courtenay Bodley, France, London 1899, z. B. S. 31, 398, 657; und natürlich bei­ Rokkan, Citizens (wie Anm. 8). Zuweilen ist in der Frauenforschung – zu Unrecht – die Rede von einer »absence of manhood suffrage« im deutschen Kaiserreich, mit bedauerlichen Konsequenzen für den internationalen Vergleich: Nancy F. Cott, Early-Twentieth-Century Feminism in Political Context: A Comparative Look at Germany and the United States, in: Daley u. Nolan (wie Anm. 4), S. 234–251, hier S. 239, 247.

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wahlrecht; das war auch die Terminologie der Frauenbewegungen um 1900 ebenso wie heutzutage der besten einschlägigen Literatur.21 Da keine andere (westliche)  als die englische Sprache den männerspezifischen Charakter sämtlicher Wahlrechte im 19. Jahrhundert deutlich artikulierte, ließe sich hier vielleicht von einem begriffsgeschichtlichen Sonderweg sprechen.22 Gleichwohl sollte man nicht vorschnell nationale Sonderwege postulieren, die sich – so die Definition – von allen anderen Ländern unterscheiden würden. Ein Sonderweg ist lange Zeit für Deutschland postuliert worden, nämlich im Kontext einer Argumentation, deren Herkunft zwar nichts mit Geschlechtergeschichte zu tun hatte, die aber gleichwohl von Teilen der Historischen Frauenforschung und auch in der Geschichtsschreibung über den feministischen Suffragismus aufgegriffen wurde: Dessen deutsche Variante habe sich vom »Ausland« bzw. »anderen Ländern« grundsätzlich unterschieden.23 Auch die in der französischen Historiographie vielbeschworene »singularité française« ist für die Frauengeschichte postuliert worden, insbesondere von Pierre Rosanvallon, der in seine Geschichte des »suffrage universel« seit der Großen Revolution die Geschlechterdimension auf eindrucksvolle Weise integriert hat, und von Mona Ozouf in ihrem »Essai sur la singularité française«.24 In diesen Studien wird die Einzigartigkeit zuweilen als ganz generell postuliert (Frankreich sei anders als »la plupart des autres pays«) oder aber im Vergleich mit einem bestimmten anderen Land, etwa England (Rosanvallon) oder den Vereinigten Staaten (Ozouf). Die frauenbezogene »spécificité française« wird großenteils auf die »citoyenneté manquée« der Französinnen bezogen: die späte Einführung des Frauenwahlrechts im Jahr 1944. Manchmal wird ein »exceptionalism« auch für England oder die Vereinigten Staaten postuliert, weil ihre suffragistischen Bewegungen früher aufgetreten und teilweise dramatischer verlaufen seien als in anderen Ländern, und natürlich ebenso oft für die oben genannten diversen First-comers. Meine Gegenthese heißt: Alle Länder sind in diesem Kontext in vielerlei Hinsicht originell; aber für den Weg zum Frauenwahlrecht sind die transnationalen Entwicklungen wichtiger. Im Folgenden werden die Wege zum demokratischen Wahlrecht in westlichen Ländern auf einige ihrer transnationalen Dimensionen hin untersucht: also der Prozess, den Pierre Rosanvallon mit Blick auf den langen französischen Weg zum Frauenwahlrecht als »le travail de l’univer­sa­li­sa­tion du suffrage« bezeichnet.25 21 Z. B. Rokkan (wie Anm. 8) oder auch Daley u. Nolan (wie Anm. 4). Semantische Mühe bringt in diesem Kontext immer noch der Begriff »gleich«: Klassisch wird er auf die Gleichgewichtigkeit der Männerstimmen bezogen (»one value«); aber bei dem hier behandelten Thema steht er häufiger für die »Gleichheit« von Männer- und Frauenwahlrecht (»equal suffrage«). 22 Aus anderer Perspektive argumentiert Bernd Weisbrod, Der englische »Sonderweg« in der neueren Geschichte, in: GG 16 (1990), S. 233–252. 23 Vgl. das vorige Kapitel. 24 Rosanvallon (wie Anm.  6), bes. S.  130–147, 393–411; Mona Ozouf, Les Mots des femmes:­ Essai sur la singularité française, Paris 1996. 25 Rosanvallon (wie Anm. 6), S. 391.

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Als demokratisch gelten hier primär die Wege zur Einbeziehung des weiblichen Geschlechts; offensichtlich standen diesem Prozess größere Hindernisse entgegen als der – quantitativ geringfügigeren – Einbeziehung von Männern der Unterschichten, und offensichtlich deshalb, weil die Hindernisse in der Geschlechterordnung begründet waren. Der vergleichende Blick iden­tifiziert und wägt, wie üblich, Ähnlichkeiten und Unterschiede ab; dabei muss sich die Skepsis gegenüber Sonderwegsthesen im gleichen Maße verstärken, als auf einigen Ebenen deutlich mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede zu erkennen sind, außerdem auch grenzüberschreitende Prozesse und intellektuelle Transfers. Dementsprechend verlagert sich die Frage nach dem Verhältnis von Ähnlichkeiten und Unterschieden zu der nach dem Verhältnis von transnationalen und nationalen Dimensionen.26 Symbolisch mag dafür nicht nur der Spruch stehen, der international für den Kampf um das manhood suffrage stand, nämlich »one man, one vote« – bald auch »one man, one vote, one value, one gun« bzw. »one­ rifle«27  –, sondern vor allem auch der andere, der die Zulassung der Frauen zum Wahlrecht als gefährlichen »Sprung ins Dunkle« charakterisierte (»leap in the dark«, »le saut dans l’inconnu«, »il salto nel buoio«): Länderübergreifend wurde er um 1900 in zahlreichen europäischen Parlamenten und in den sonstigen suffragistischen wie antisuffragistischen Diskursen beschworen. Es waren 1679 Thomas Hobbes’ letzte Worte angesichts des Todes gewesen, diverse Premierminister (etwa die Lords Palmerston, Derby und Salisbury) griffen das Diktum im Jahrzehnt vor dem zweiten Reform Act von 1867 auf (nun wurden auch die städtischen Arbeiter wahlberechtigt); von der satirischen Presse, etwa »Punch«, wurde es bebildert. Als Ende 1893 in Neuseeland erstmals auch Frauen wählen durften, hieß es: »,The leap in the dark‹ has been indeed a leap into the light of full and free Liberalism.«28 In deutschen Parlamenten warnte man zum Beispiel 1902, aber auch noch 1917 vor einem »Sprung ins Dunkle« 26 Als »transnational« gelten hier sowohl Phänomene, die sich in verschiedenen Nationalstaaten gleichen, als auch Verflechtungen und Transfers. Zur näheren Bestimmung vgl. Kiran Patel, Transnationale Geschichte, in: Europäsche Geschichte Online, 2010, URL: http:// www.ieg-ego.eu/de/threads/theorien-und-methoden/transnationale-geschichte/klauskiran-patel-transnationale-geschichte (31.7.2013). Ebenso werden oft auch die Beziehungen zwischen den britischen »four nations« benannt: Ian Christopher Fletcher, »Women of the Nations, Unite!« Transnational suffragism in the United Kingdom, 1912–1914, in: ders. u. a. (Hg.), Women’s Suffrage in the British Empire: Citizenship, nation and race, London 2000, S. 103–120; vgl. auch Mrinalini Sinha, Suffragism and Internationalism: the enfranchisement of British and Indian women under an imperial state, in: ebd., S. 224–240. 27 Rokkan, Citizens (wie Anm. 8) zufolge stammt der Slogan aus Schweden, anderen zufolge aus Großbritannien, und mit ihm (»un homme, une voix«) eröffnet Rosanvallon sein Buch (wie Anm. 6). Anders als es einige neuere amerikanische Publikationen nahelegen, gab es meines Wissens in der Frauenwahlrechtsbewegung den Slogan »one woman, one vote« nicht, außer kurzfristig in Australien. 28 Patricia Grimshaw, Women’s Suffrage in New Zealand, Auckland 1987, S.  103. Vgl. F. B. Smith, The Making of the Second Reform Bill, Cambridge 1966, S. 45 f.; »saut dans l’inconnu« (Senatspräsident Bérard 1919): ­Rosanvallon (wie Anm. 6), S. 411; »salto nel buio« (Minister-

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(den dann erst die Revolutionsregierung wagen sollte).29 Zahlreiche weitere Argumente und Topoi zirkulierten transnational, und beispielsweise wurde John Stuart Mill nicht nur in den Frauenbewegungen sämtlicher Länder (keineswegs nur in Westeuropa oder im »Westen«) gelesen, sondern auch in den Parlamenten wurde sein feministisches Plädoyer oft (und meist negativ) beschworen.30 Allerdings bestritten 1919 die Gründer des Völkerbunds die internationale Bedeutung des Frauenwahlrechts, auf der die in Paris anwesenden Feministinnen insistierten (der International Council of Women und die International Woman Suffrage Alliance wurden am 10. April 1919 von der Völkerbundskommission der Pariser Friedenskonferenz empfangen). Die Frage wurde zu einer nationalen erklärt, zu einem »domestic issue«.31 Erst im Rahmen der Vereinten Nationen wurde das anders: mit dem »Übereinkommen über die politischen Rechte der Frauen« von 1952. Die Frage nach den Wegen zum demokratischen Wahlrecht geht hier von Pate­mans Frage aus, warum es denn so lange dauerte. Im nächsten Abschnitt wird sie allerdings bescheidener gestellt: Wie lange dauerte es eigentlich, bis die entscheidenden Männer (denn die Entscheidung wurde immer von Männern getroffen) den Sprung ins »Dunkle« wagten? Es handelt sich hier um eine Zeitspanne von insgesamt rund zwei Jahrhunderten: vom Beginn des modernen Staats mit Wahlen und Parlamenten, angefangen mit der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787, bis zum Jahr 1971, als auch die Schweiz das Frauenwahlrecht einführte (neben Liechtenstein 1984), nachdem schon rund 70 Länder der nichtwestlichen Welt es eingeführt hatten.32 Im dritten Abschnitt geht es um wesentliche Hindernisse auf jenem Weg, welche dessen lange Dauer erklären. Der vierte behandelt die Frage, warum und wie der Weg zu seinem Ziel führte; dabei geht es hauptsächlich um einen (im Vergleich zu den USA) europäischen präsident Giovanni Giolitti 1907): Il voto alle donne, hg. von der Camera dei Deputati, Rom 1965, S. 43. 29 Preuß. Abgeordnetenhaus, 74. Sitzung, 5.5.1902, Bericht in: Parlamentarische Angelegenheiten und Gesetzgebung. Beilage der Frauenbewegung, Nr.  16 (15.8.1902), S.  62; Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Stenographische Berichte Bd. 310, Berlin 1917, S. 3520. 30 So z. B. in Italien: Il voto alle donne (wie Anm. 28). Vgl. Eileen Hunt Botting u. Sean Kronewitter, Westernization and Women’s Rights: Non-Western European Responses to Mill’s Subjection of Women, 1869–1908, in: Political Theory. An International Journal of Political Philosophy 40 (2012), S. 1–31. 31 Vgl. Margaret Macmillan, Paris 1919: Six Months That Changed the World, New York 2001, S. 59; Jo Vellacott, Feminism as if All People Mattered: Working to Remove the Causes of War, 1919–1929, in: Contemporary European History 10/3 (2001), S. 375–394; Carol ­Miller, Lobbying the League: Women’s International Organizations and the League of Nations, Diss. Oxford 1992. Die beiden Verbände wurden damals im Deutschen als »Weltfrauenbund« und »Weltbund für Frauenstimmrecht« bezeichnet. 32 Zu den Letzteren vgl. Daley u. Nolan (wie Anm. 4), S. 351 f.; Francisco O. Ramirez u. a., The Changing Logic of Political Citizenship: Cross-national Acquisition of Women’s Suffrage Rights, 1890 to 1990, in: American Sociological Review 62 (1997), S. 735–745 (133 Länder).

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Weg zum Frauenwahlrecht, in dessen Zentrum das jeweils landesspezifische Verhältnis von class barrier und sex barrier steht, von Klassen- und Geschlechterschranke. Der fünfte Abschnitt erläutert anhand dieses Verhältnisses, warum es mancherorts noch viel länger dauerte, und der sechste greift die Frage nach Pionieren und Late-comers noch einmal im gesamteuropäischen Maßstab auf.

2. Historisches Timing: Wie lange dauerte es? Für die Beantwortung dieser Frage sind der Anfang und das Ende der jeweiligen Zeitspanne innerhalb eines Staats zu bestimmen. Der Endpunkt erscheint einfach, weil gesetzlich oder gar verfassungsrechtlich relativ präzise festgelegt: Das volle nationale, parlamentarische bzw. politische Frauenwahlrecht kam in den westlichen Ländern zwischen 1893 (Neuseeland) und 1971; »relativ«, weil manche Gebiete, die keine Staaten waren, ihre Frauen schon früher mit politischer Partizipation beglückten und damit auch international von sich reden machten (z. B. New Jersey 1776–1807, Wyoming 1869, Isle of Man 1881), oder weil in einer Minderheit der Länder der Durchbruch erst einmal auf der Basis einer Einschränkung geschah, die aber  – ob Besitz, Alter, Familienstand, Bildung, Beschränkung auf aktives Stimmrecht, gelegentlich auch auf passives, oder auf Sexualverhalten  – immer einen frauenspezifischen »Zensus« darstellte, also nicht für Männer galt; und schließlich gibt es Fälle, in denen die Kodifizierung sich über mehrere Jahre hinzog.33 Eine Häufung von nationalstaatlichen Wahlrechtsverleihungen findet sich um den Ersten Weltkrieg: in zwei Dutzend Staaten kurz vor, während und nach dem Krieg, mit den First-comers Finnland und Norwegen, den Vereinigten Staaten 1920 und unter den späteren vor allem  – und damals für viele überraschend zögerlich und spät – das Vereinigte Königreich (1918 gab es für Frauen ein partielles, 1928 das volle enfranchisement). Die 33 In Deutschland gab es drei Etappen (am 9. und 12.11.1918 wurde das Frauenwahlrecht verkündet, 1919 in den Januarwahlen praktiziert und im August in der Verfassung niedergelegt), ebenso in Österreich. In den Niederlanden kam 1917 das passive, 1919 das aktive Wahlrecht. Frauenspezifische Einschränkungen gab es z. B. bei der erstmaligen Zulassung von Frauen zum Wahlrecht in Norwegen 1907, Island 1915, Ungarn und Großbritannien 1918, Belgien 1920, Portugal 1931; Ausschluss von Prostituierten in Österreich 1918, Belgien 1920, Italien 1945. In der Forschung werden partielle oder regionale Frauenwahlrechte bejubelt, wenn sie früh auftreten oder noch dem ständischen Regime zugehören (etwa in New Jersey 1776–1808 oder in den habsburgischen Regionen Italiens), aber gewöhnlich als »elitär« beklagt, wenn sie später auftreten, etwa im Fall des frauenspezifischen Besitz-Zensus in Norwegen 1907. Von den kursierenden globalen Listen sind zu empfehlen: Daley u. Nolan (wie Anm.  4), S.  349–352 (umfassend, aber versehentlich ohne Russland 1917); die wichtigen lokalen und kommunalen Wahlrechte schließt ein: Timeline of Women’s­ Suffrage, URL: http://en.wikipedia.org/wiki/Timeline_of_women’s_suffrage (1.11.2013); Alexander Keyssar, The Right to Vote. The Contested History of Democracy in the United States, New York 20092, S. 325–402.

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wirklichen Late-comers allerdings waren, neben der Schweiz, Frankreich (1944) und Italien (1945). Schwieriger zu bestimmen ist der Beginn der jeweiligen Zeitspanne, und es bieten sich vier mögliche Indikatoren an. Der erste ist der Zeitpunkt des Übergangs vom Ancien Régime bzw. der Ständevertretung zur konstitutionellen Monarchie oder zur Republik, wo moderne Wahlen wichtig wurden und wo in der Regel ein Zensus bestand: für die USA die Verfassungen der 1780er Jahre, für Frankreich die Große Revolution, für England und Wales der Great Reform Act von 1832. Für Deutschland kann man wählen zwischen dem Frühkonstitutionalismus im Deutschen Bund, der zur Jahrhundertmitte aus 31 Monarchien und vier Stadtrepubliken bestand und in dem Baden mit seiner Verfassung von 1818 Vorreiter war, und dem Kaiserreich. Die Österreichisch-Ungarische Monarchie erhielt ihre Verfassung 1867, und für Italien steht die Einigung von 1861/1870. Für Spanien ist auszugehen von der liberalen (aber kurzlebigen) Verfassung von Cádiz im Jahr 1812, für Norwegen vom Grunnloven (Grundgesetz) von 1814, für die Schweiz vom Bundesvertrag 1815, für Portugal von der (wiederum kurzlebigen) Verfassung von 1820, für Belgien von der Staatsbildung 1831; in Dänemark folgte 1849 das Grundgesetz, in den Niederlanden die Verfassung von 1848, für Schweden steht hier die Verfassungsreform von 1866. Das ergibt ein ziemlich buntes Bild: Bis zur Heraufkunft des Frauenwahlrechts dauerte es am längsten in Frankreich und in der Schweiz mit jeweils rund 150 Jahren und in den USA mit rund 130 Jahren; ein Jahrhundert dauerte es in Norwegen, knapp 90 Jahre in Großbritannien, 84 in Italien, über 100 in Spanien, in Deutschland 100 Jahre (wenn man vom badischen Fall ausgeht) oder rund 50 Jahre (im Reichstag). So unumgänglich dieser Indikator ist – denn der Ausschluss des weiblichen Geschlechts von der politischen Partizipation hat eine seiner wichtigsten Wurzeln im Ancien Régime –, so hat er doch seine Probleme. Denn es ist nicht unbedingt sinnvoll, unsere Frage für eine Zeit zu stellen, als das Wahlrecht auch für die meisten Männer noch nicht die Bedeutung hatte, die es erst später erhielt (zum Beispiel hatte im revolutionären Frankreich die Wahlberechtigung des männlichen citoyen actif hauptsächlich symbolische Bedeutung, als »impératif de l’inclusion sociale«, und die faktische Wahlbeteiligung war extrem gering).34 Auch ist es nicht zwingend, die Abwesenheit von Frauenwahlrecht zu beklagen, wenn sie nicht von den Zeitgenossinnen selbst beklagt wurde – und bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts war das noch sehr selten der Fall. Deshalb sind drei weitere Indikatoren nützlicher, um den Beginn des Zeitraums zu bestimmen. Der zweite nach dem konstitutionellen ist die Einführung des unbeschränkten Männerwahlrechts, also die Abschaffung des Zensus, der bei Männern meist Besitz oder Bildung betraf (régime censitaire, régime capacitaire) und, einigermaßen verkürzt gesagt, die Klassenzugehörigkeit artikuliert. Allerdings war die Abschaffung des Zensus nicht immer historisch irreversibel, und keineswegs immer implizierte das damals so genannte »allgemeine Wahl34 Rosanvallon (wie Anm. 6), S. 161 f.

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Abb. 3: Entscheidungen zur Erweiterung des Wahlrechts und zum Wahlverfahren in einigen westeuropäischen Ländern 1848–1950, aus: Rokkan u. a. (wie Anm. 8), S. 40.

recht« auch freie Wahlen oder gar – im Rahmen des modernen Parlamentarismus – einen Einfluss auf die Exekutive. Überdies wird in der Forschung, manchmal auch bei den Zeitgenossen, als volles (»allgemeines«) Männerwahlrecht oft auch schon ein solches eingestuft, bei dem »fast alle« Männer wahlberechtigt waren bzw. die im Haus lebenden Söhne eines Haushaltsvorstands ausgeschlossen waren (so in Großbritannien) oder auch männliche Dienstboten, Fürsorgeund Almosenempfänger, Steuerverweigerer, Insassen von Gefängnis- oder Irrenanstalten, Militärangehörige oder Priester.35 In den USA, wo das Wahlrecht 35 Eines unter vielen Beispielen hierfür ist Finnland; vgl. Minna Harjula, Excluded From Universal Suffrage: Finland After 1906, in: Sulkunen u. a., Suffrage (wie Anm. 2), S. 106–119. Hinzu kommt das oft national unterschiedliche Wahlalter, das zu unterschiedlichen Auffassungen über das »allgemeine« Wahlrecht führt.

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Abb. 4: Anteil der Wahlberechtigten an der erwachsenen Bevölkerung in einigen Ländern Westeuropas 1850–1970, aus: Kohl (wie Anm. 11), S. 493.

in den Händen der Bundesstaaten lag, wurden die Zensusregime in den 1820er und 30er Jahren abgeschafft, und volles Männerwahlrecht galt (mehr oder weniger) seit 1848 in der Schweiz, in Frankreich, für das Parlament des Norddeutschen Bundes 1869 und für den Reichstag seit 1871; beispielsweise in Spanien wurde es 1869 nur kurzfristig eingeführt, dann wieder 1907. Mit dieser Rechnung brauchte es bis zum Frauenwahlrecht in den vier Wiegen der modernen und antiken Demokratie am längsten: in der Schweiz über 130 Jahre, in Frankreich knapp 100 Jahre, in den USA ebenfalls ein Jahrhundert – Century of Struggle ist der Titel eines berühmten Buchs von Eleanor Flexner36 –, in Griechenland waren es rund 100 bzw. 88 Jahre (1843/64–1952). Darunter liegen Spanien mit rund 60 Jahren, das Deutsche Reich mit 50 und Italien mit 27 bzw. 33. Viel kürzer dauerte es in Norwegen mit 15 Jahren (1898–1913), Großbritannien mit zehn und Schweden mit wenig mehr, in Irland mit vier und ebenso in Neuseeland sowie den Niederlanden mit zwei Jahren. Nur wenige Länder gab es – es waren oft kleinere oder erst neuerdings selbständige –, in denen das volle Frauenwahlrecht gleichzeitig mit dem vollen Männerwahlrecht eingeführt wurde: neben Finnland, wo 1906 überhaupt erst ein modernes Wahlsystem durchgesetzt werden konnte, Dänemark (1915), wo aber immerhin drei Viertel der Männer schon

36 Eleanor Flexner, Century of Struggle: The Woman’s Rights Movement in the United States [1959], überarb. Ausgabe, Cambridge, MA 1975; deutsch: Hundert Jahre Kampf, aus dem Amerikanischen von Gisela Bock u. Pieke Biermann, Frankfurt a. M. 1978.

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seit 1849 wahlberechtigt waren,37 und Luxemburg (1918) waren das 1918–1920 die neuen Staaten Polen, Litauen, Lettland und Estland sowie die Tschechoslowakei, unter den Nachzüglern auch Ungarn (1945) und Malta (1947). Das Bild belebt sich mit dem dritten Indikator: den frühen einschlägigen Forderungen einzelner Frauen, aber auch von Männern. Das sind in Frankreich vor allem der Marquis de Condorcet um 1790, Olympe de Gouges 1791, dann zahlreiche Frauenstimmen in der Februarrevolution. Mary Wollstonecraft hatte größte Vorbehalte gegenüber dem »despotischen« parlamentarischen System in England und plädierte deshalb nicht für die Zulassung von Frauen; hier ist der früheste einschlägige Text 1825 die Schrift »Appeal of One Half the Human Race, Women, Against the Pretensions of the Other Half, Men« von Anna Wheeler und William Thompson.38 Die Eigentümerin Mary Smith forderte 1832 die Zulassung zum geltenden Wahlrecht und legte dafür eine Petition vor, die einer der Abgeordneten übernahm; damit provozierte sie, als im Unterhaus der Great Reform Act anstand, immerhin eine Debatte – und vor allem Gelächter. Außerdem gab es eine einsame männliche Stimme aus dem Lager der Chartisten und einige mutige Chartistinnen in den 1840er Jahren.39 In Deutschland erhoben sich zur Zeit der Französischen Revolution diverse anonyme Frauenstimmen, und die nicht-anonymen, darunter mehrere jüdische Frauen, stammen großenteils von Männern: von Theodor Gottlieb von Hippel (1792) sowie den Staatsrechtlern Johann Adam Bergk (1797) und Wilhelm Josef Behr (1804, 1811). Gleichzeitig gab es einige Stimmen in der Schweiz.40 Für das erste Drittel – und großenteils auch für die erste Hälfte – des 19. Jahrhunderts kann man länderübergreifend noch nicht von »Verdichtungen« von Frauenöffentlichkeiten sprechen, die politische Partizipation gefordert und damit eine breite Wirkung erzielt hätten, und dass deutsche Frauen sich in dieser Sache zurückhielten, ist somit »im internationalen Vergleich« keineswegs »auffällig«.41 37 Dass man für Dänemark das »fast« volle Männerwahlrecht schon für 1849 ansetzen kann und es 1915 gleichsam vollendet wurde, zeigt z. B. Blom, Structures (wie Anm. 1), S. 606. 38 Formal ist der Ire Thompson der Alleinautor, aber in der Einleitung berichtet er von der Mitarbeit von Anna Wheeler. Vgl. auch Karen Offen, Was Mary Wollstonecraft a Feminist? A comparative re-reading of A Vindication of the Rights of Woman, 1792–1992, in: dies. (Hg.), Globalizing Feminisms, 1789–1945, London 2010, S. 5–17. 39 Karen Offen, European Feminisms, 1700–1950: A Political History, Stanford, CA 2000, S. 94, 430; Jane Rendall, The Origins of Modern Feminism: Women in Britain, France and the Unitd States, 1780–1860, Basingstoke 1985, S.  237–242, 307 ff.; Constance Rover, Women’s Suffrage and Party Politics in Britain 1866–1914, London 1967, S. 1–7; Jutta Schwarzkopf, Women in the Chartist Movement, Basingstoke 1991. 40 Vgl. Bock (wie Anm. 1), S. 98–106; Ute Frevert, »Mann und Weib, und Weib und Mann«: Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995, S. 70. 41 Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 520; Frevert (wie Anm. 40), S. 89. Etwa auch in der Schweiz hat um 1830 »keine Frau« politische und bürgerliche Rechte beansprucht: Beatrix Mesmer, Ausgeklammert  – eingeklammert: Frauen und Frauenorganisationen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts, Basel 1988, S. 52.

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Eine breite Mehrheit der Frauen hielt zu dieser Zeit nichts vom Wahlrecht, die Feministinnen konzentrierten sich auf andere Fragen, etwa Bildung oder Gleichberechtigung in der Ehe, und auch die eloquente und (frauen-)politisch hochengagierte George Sand hielt es 1848 und lange danach für verfrüht, das Wahlrecht auch nur zu fordern.42 Aber 1848 war auch ein Wendepunkt, sowohl europaweit als auch transatlantisch. In den USA hatte es vorher einige bemerkenswerte öffentliche Frauen­ stimmen in Sachen Wahlrecht gegeben, vor allem im Staat New York, und im Juli 1848 unterschrieben rund hundert Frauen und Männer die legendäre »Declaration of Sentiments«, welche in Seneca Falls, N. Y., nach dem Modell der Unabhängigkeitserklärung formuliert worden war (»We hold these truths to be self-evident«), ähnlich wie es Olympe de Gouges 1791 mit ihrer Frauenrechtserklärung gemacht hatte (»La femme naît libre«). Neben Forderungen nach zivilen und sozialen Rechten standen hier nun auch, wenngleich noch durchaus umstritten, »the right to the elective franchise« und »representation in the halls of legislation« (also das aktive und passive Wahlrecht). Dementsprechend beantwortet beispielsweise Gerda Lerner die Frage nach der Dauer des US-amerikanischen Wegs zum Frauenwahlrecht mit 72 Jahren.43 Von Seneca Falls aus führt dann bald ein gerader Weg und direkter Transfer über den Atlantik: sowohl zu Suffragistinnen der französischen Februarrevolution als auch zum ersten öffentlichen Wahlrechtsplädoyer von John Stuart Mill und Harriet Taylor Mill (1851).44 Der vierte Indikator ist die Zeit, zu der an die Stelle von Einzelstimmen organisierte Bemühungen um die politische Bürgerschaft von Frauen traten. Dazu zählt auch das Unternehmen von Seneca Falls, zumal von dort eine Reihe weiterer »Women’s Rights Conventions« ausgingen, und erst recht das koordinierte Engagement der Revolutionärinnen in Paris, die »Sheffield Female Reform Association« der Quäkerin und Abolitionistin Anne Knight (1851), die schon 1847 das  – so heißt es  – erste Flugblatt zum Frauenwahlrecht verbreitet hat, oder Louise Ottos »Frauen-Zeitung« (1849–1851). Diese Initiativen waren kurzlebig und informell, aber ein bis zwei Jahrzehnte später, nach der Phase der konterrevolutionären Repression auch gegenüber Frauen, begann die Phase stabiler

42 Vgl. dazu das Kap. »Frauenemanzipation« in diesem Band. 43 Z. B. Gerda Lerner, The Female Experience. An American Documentary, Indianapolis, IN 1977, S. 321; Judith Wellman, The Road to Seneca Falls: Elizabeth Cady Stanton and the First Woman’s Rights Convention, Urbana 2004. 44 Auf die Ereignisse in den USA bezieht sich Harriet Taylor Mill, Enfranchisement of Women, hg. u. eingel. von John Stuart Mill, in: Westminster Review 1851, abgedruckt in: Alice S. Rossi, John Stuart Mill u. Harriet Taylor Mill, Essays on Sex Equality, Chicago 1970, S. 89– 121. Vgl. Nancy A. Hewitt, Re-Rooting American Women’s Activism: Global Perspectives on 1848, in: Patricia Grimshaw u. a. (Hg.), Women’s Rights and Human Rights. International Historical Perspectives, New York 2001, S. 123–137; Bonnie S. Anderson, Joyous Greetings: The First International Women’s Movement, 1830–1860, New York 2000, S. 1.

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Assoziationen. Es bildeten sich Vereine, die eine Single-Issue-Kampagne für politische Partizipation betrieben, oder die Forderung wurde von schon bestehenden Frauenorganisationen aufgegriffen. Und es gibt nun – sowohl für den dritten als auch für den vierten Indikator – eine Regel, die zugleich die nationalen Unterschiede und die transnationalen Gemeinsamkeiten des historischen Timings erklärt: Frauen begannen dann das Wahlrecht zu fordern, und erst dann, wenn sie eine Chance sahen, es zu erreichen, nämlich zu den Zeiten, als die Demokratisierung für Männer auf der Tagesordnung stand. Deshalb erklären sich die nationalen Unterschiede im Timing nicht etwa durch genuine Unterschiede zwischen den Frauenbewegungen der diversen Länder, sondern durch Unterschiede zwischen den nationalen Männerbewegungen bzw. Verfassungsentwicklungen, um die Jahrhundertmitte ebenso wie in den folgenden Jahrzehnten. In Großbritannien war es die Debatte um den bevorstehenden Zweiten Reform Act, die 1865 zur Entstehung des »Women’s Suffrage Committee« führte, in dem die führenden Köpfe der entstehenden Frauenbewegung agierten. In den USA formierte sich die erste suffragistische Organisation in den Jahren 1867/68, als das Wahlrecht für Schwarze auf der Tagesordnung stand; man hoffte, dass die negro’s hour auch zur woman’s hour würde.45 In Spanien reklamierten Frauen politische Rechte erstmals 1854, zu Beginn des Bienio progresista, und in Portugal 1910, als die erste Republik entstand.46 Im geeinten Italien begleiteten die Frauenforderungen ab 1861 präzise die männerbezogenen Wahlrechtsdebatten und -reformen der liberalen Ära; bis zum Ende des Jahrhunderts waren die Hauptfiguren dabei Anna Maria Mozzoni und Salvatore Morelli.47 In der Schweiz kam das Thema erstmals bei Debatten um Verfassungsrevisionen deutschsprachiger Kantone in den 1860er Jahren auf und wurde weiterhin nachhaltig artikuliert.48 Als in Frankreich um die Dritte Republik und das soeben wieder eingeführte suffrage universel ge-

45 Ellen Carol DuBois, Feminism and Suffrage: the Emergence of an Independent Women’s Movement in America, 1848–1869, Ithaca, NY 1992. Zum Verhältnis der Frauen- zur Antisklavereibewegung vgl. das Kap. »Frauenemanzipation« in diesem Band, Abschnitt 4.1. 46 Vgl. Concha Fagoaga, La voz y el voto de las mujeres. El sufragismo en España 1877–1931, Barcelona 1985, S. 43–45; João Esteves, As origens do sufragismo português: A Primeira Organização sufragista portuguesa: a Associação de Propaganda Feminista (1911–1918), Lisboa 1998; ders., A Liga Republicana das Mulheres Portuguesas. Uma organização política e feminista (1909–1919), Lisboa 1991. 47 Vgl. Annarita Buttafuoco, Chronache femminili: temi e momenti della stampa emancipazionista in Italia dall’Unità al Fascismo, Siena 1988, bes. Kap. 5 u. 6; Anna Rossi-Doria, Diventare Cittadine. Il voto alle donne in Italia, Florenz 1996; Gabriele Boukrif, »Der Schritt über den Rubikon«: eine vergleichende Untersuchung zur deutschen und italienischen Frauenstimmrechtsbewegung (1861–1919), Hamburg 2006. 48 Vgl. Mesmer (wie Anm. 41), S. 83 ff.; Sybille Hardmeier, Frühe Frauenstimmrechtsbewegung in der Schweiz (1890–1930), Zürich 1997, S. 29.

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rungen wurde, schuf Hubertine Auclert 1876 ein Frauenwahlrechtskomitee und bald darauf die Zeitschrift »La citoyenne«.49 In Deutschland reagierte Hedwig Dohm mit ihren berühmten Plädoyers Anfang der 1870er Jahre sowohl auf den Second Reform Act in Großbritannien als auch auf das neue Männerwahlrecht für den Reichstag; ebenso Fanny Lewald, die auch noch aus den USA inspiriert war, und Jenny Hirsch sowie der Liberale Franz von Holtzendorff. In Norwegen machte Gina Krog als erste Frau das Anliegen publik, parallel zu den Liberalisierungsbemühungen der 1880er Jahre; in Schweden war die frühe Frauenforderung von 1899 Teil einer breiten Bewegung, die in den 1890er Jahren eine Reform des Männerwahlrechts anstrebte.50 In Russland wurde sie im Kontext der Revolution von 1905 erhoben. In den 1890er Jahren gab es dann ein Novum: Nachdem seit Jahrzehnten in den Frauenbewegungsjournalen von den Entwicklungen in anderen Ländern berichtet worden war, trat jetzt die transnationale Gleichzeitigkeit entschieden in den Vordergrund; die verfassungspolitische Entwicklung wird nicht mehr nur im jeweils eigenen Land angestoßen, sondern von der transnationalen Kommunikation unter den Suffragistinnen selbst. Überall begannen oder erneuerten sich Frauenwahlrechtsdebatten und -kampagnen, oder sie lebten nach einer Zeit der Flaute oder nach erfolglosen früheren Gründungen oder nach lähmenden Streitereien wieder auf. In den USA beendete 1890 die Gründung der National American Woman Suffrage Association die Existenz zweier sich blockierender Organisationen, aber erst 1914 nahm auch die General Federation of Women’s Clubs die Forderung in ihr Programm auf.51 In Großbritannien begannen in den 1890er Jahren große Kampagnen; 1897 wurde an der Stelle zweier konkurrierender Organisationen eine dauerhafte Organisation gegründet (National Union of Women’s Suffrage Societies), mit Millicent Garrett Fawcett als eine der Hauptakteurinnen.52 Auf dem Kontinent entstanden von 1884 bis 1911 fast überall die nationalen Zusammenschlüsse von Frauenvereinen, und meist dauerte es einige Jahre, bis sie auch das Wahlrecht in ihr Programm

49 Steven C. Hause mit Anne R. Kenney, Women’s Suffrage in the French Third Republic, Princeton, NJ 1984; ders., Hubertine Auclert, the French Suffragette, New Haven 1987; Laurence Klejman u. Florence Rochefort, L’Égalité en marche. Le féminisme sous la Troisième République, Paris 1989, bes. S. 75 ff. Zum Folgenden vgl. das vorige Kap. 50 Vgl. Blom, Structures (wie Anm. 1); dies., The Struggle for Women’s Suffrage in Norway, in: SJH 5/1 (1980), S. 3–33; dies., Nation – Class – Gender: Scandinavia at the Turn of the Century, in: SJH 21 (1996), S. 1–16. Zum Folgenden: Ruthchild (wie Anm. 2); Linda H. Edmondson, Feminism in Russia, 1900–1917, Stanford, CA 1984; Olga Shnyrova, Women’s Victory or the Impact of Revolution? Peculiarities of Women’s Suffrage in Russia, in: Sulkunen u. a., Suffrage (wie Anm. 2), S. 146–159. 51 Vgl. Karen J. Blair, The Clubwoman as Feminist. True Womanhood Redefined, 1868–1914, New York 1980, Kap. 6; Flexner (wie Anm. 36), Kap. 16. 52 Vgl. Leslie Parker Hume, The National Union of Women’s Suffrage Societies 1897–1914, New York 1982, Kap. 1; Rover (wie Anm. 39), S. 2–6.

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aufnahmen.53 Die speziellen Single-Issue-Wahlrechtsvereine entstanden in der Regel (und mit Ausnahme von Großbritannien und den USA) erst einige Jahre später, vergleichbar dem zeitlichen Verhältnis zwischen dem International Council of Women (gegründet 1888), der auf seinem Berliner Kongress 1904 das Frauenwahlrecht offiziell in sein Programm aufnahm, und der International Woman Suffrage Alliance, die den Berliner Kongress zu ihrer Gründung nutzte, sich dann gänzlich dem Wahlrecht widmete und deren Zeitschrift den Titel »Ius suffragii« trug (damals hielt man das Lateinische noch für international).54 Dieses generelle Timing gilt auch für Deutschland. Der BDF wurde 1894 gegründet, ab Ende des Jahres hielt Helene Lange Vorträge übers Frauenwahlrecht, 1895 plädierte Louise Otto in ihrer allerletzten Schrift öffentlich dafür, 1896 folgte Helene Lange mit ihrer scharfsinnigen Schrift »Frauenwahlrecht«, die damals weithin bekannt war, aber heute so gut wie vergessen ist. 1902 wurde das Stimmrecht ins Programm des BDF aufgenommen und 1905 in das des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins. Dasselbe Timing gilt für die »Radikalen«: 1895 erschien von Lily Braun »Die Bürgerpflicht der Frau«; 1895 brachte »Die Frauenbewegung«, das Journal der »Radikalen«, sein erstes Wahlrechtsplädoyer einer (namentlich unbekannten) radikalen deutschen Feministin, und von 1898 stammt das erste erhaltene Wahlrechtsplädoyer von Anita Augspurg (noch kurz zuvor hatte sie die Änderung des Zivilrechts, an dem gearbeitet wurde, für wichtiger gehalten als das Stimmrecht).55 1902 schließlich gründeten die »Radikalen« einen Single-Issue-Wahlrechtsverein. Die Gleichzeitigkeit dieser und der vorgenannten Gründungen sowie des Aufschwungs jener Zeit verdankte sich zumindest teilweise einem direkten grenzüberschreitenden Austausch; er wurde durch die Einführung des Frauenwahlrechts in Neuseeland und Australien befördert und führte zu einer internationalen Bewegung, die bis zum Ersten Weltkrieg dauerte. Der vierte Indikator führt letztlich zu dem Ergebnis, dass es bis zum Frauenwahlrecht im Großen und Ganzen 30–60 Jahre dauerte, und das waren überall die Jahre der härtesten Auseinandersetzungen. Neben unseren vier Indikatoren lassen sich insbesondere noch zwei weitere nennen, die von vergleichendem Interesse sind. Zum einen ist es die Frage, wann (und natürlich auch wie) das Frauenwahlrecht erstmals in den nationalen Parlamenten diskutiert wurde; die Antwort wirft mehr Licht auf die männlichen Volksvertreter als auf die Suffragistinnen. Zum ersten Mal war es 1818 53 Vgl. Anne Cova, International Feminisms in Historical Comparative Perspective: France, Italy and Portugal, 1880s-1930s, in: WHR 19/4 (2010), S.  595–612; Richard Evans, The Feminists: Women’s Emancipation Movements in Europe, America and Australasia, 1840– 1920, London 1977. 54 Leila J. Rupp, Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Princeton, NJ 1997, S. 45, 70. Noch 1899, bei der Konferenz des ICW in London, sollte neben einem Vortrag zugunsten des Frauenwahlrechts ein gegnerischer stattfinden; daraufhin zog Fawcett ihren Beitrag zurück. 55 Vgl. das vorige Kap. in diesem Band.

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im norwegischen Storting der Fall (dann hier erst wieder im Jahr 1890): Diskutiert wurde, ob man im Wahlgesetz die Nennung der »norwegischen Bürger« ergänzen solle durch »männlichen Geschlechts«. Man einigte sich, dass das überflüssig sei, weil eine Person weiblichen Geschlechts ohnehin nicht als Bürger gelten könne.56 1820 diskutierten in Portugal die Cortes ein Wahlrecht für Mütter mit sechs oder mehr Kindern und entschieden sich dagegen. In Frankreich wurde die politische Partizipation von Frauen erstmals (sehen wir von der Parlamentspolemik im Jahr 1793 ab) 1851 in der Chambre disktuiert, auf Antrag von Victor Considerant.57 Im Westminster-Palast geschah es erstmals 1832, und ab den 1870er Jahren folgten rund dreißig Gesetzentwürfe; in Italien war es 1867, in Spanien 1877, in Schweden 1884 (auch hier wurden dem Parlament später knapp fünfzig Gesetzentwürfe vorgelegt), in den Niederlanden 1887 und in Finnland 1897.58 Im Reichstag wurde das Thema erstmals im Februar 1895 diskutiert, aufgrund von August Bebels Rede zugunsten eines zensusfreien und gleichen Wahlrechts »ohne Unterschied des Geschlechts« in den Bundesstaaten. Zu ernsthaften Debatten kam es dann bis 1917 nicht mehr, trotz mancher positiver Plädoyers von Seiten der Sozialdemokratie und ganz selten eines vereinzelten Liberalen.59 Eine weitere transnational relevante Rolle für den Weg zur weiblichen Bürgerschaft spielte ein Faktor oder Indikator, der für die Zeitgenossinnen weitaus bedeutsamer war als er in der heutigen Forschung (jedenfalls der deutschen) angesehen wird: das kommunale, munizipale, regionale oder – in föderalen Verfassungen – einzelstaatliche Stimmrecht. Überall setzten sich unsere Aktivistinnen dafür ein, sowohl gemäßigte wie radikalere, viele hielten es für nicht weniger politisch als das national-parlamentarische Wahlrecht, und vielerorts waren auf dieser Ebene durchaus Fortschritte zu verzeichnen. Das breite soziale Engagement britischer Frauen war ein Grund dafür, dass sie 1869  – im selben Jahr, als in dem nordamerikanischen Territorium Wyoming das volle Frauenwahlrecht eingeführt wurde – durch den Municipal Franchise Act zum­ local government zugelassen wurden. Das geschah mittels einer Sprachregelung, die dem abgeschmetterten Antrag John Stuart Mills von 1867, im Wahlgesetz »man« durch »person« zu ersetzen, entgegenkam: »whenever words occur which import the masculine gender the same shall be held to include ­females for all purposes connected with […] the right to vote.«60 Zwar galt es anfangs nur für 56 Blom, Structures (wie Anm. 1), S. 603. 57 Claire Goldberg Moses, French Feminism in the 19th Century, New York 1984, S. 141 f.; Offen (wie Anm. 39), S. 111; Rosanvallon (wie Anm. 6), S. 398. 58 Blom, Structures (wie Anm. 1); Lena Wängnerud, How Women Gained Suffrage in Sweden: A Weave of Alliances, in: Rodríguez u. Rubio-Marín (wie Anm. 3), S. 241–256, hier S. 251. 59 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, IX. Legislaturperiode, III. Session. 1894/95, Bd. 1, Berlin 1895, S. 849, 856–858; vgl. Ute Rosenbusch, Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland, Baden-Baden 1998, S. 366–369, 431–435. 60 Zit. in: Eva McLaren, The civil rights of women, in: Jane Lewis (Hg.), Before the Vote was Won. Arguments for and against Women’s Suffrage 1864–1896, London 1987, S. 477 f.

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Steuerzahlerinnen und nur für unverheiratete; doch 1894 wurden auch verheiratete Frauen zugelassen, und das Problem der coverture, der eheweiblichen Rechtlosigkeit, war wenigstens auf dieser Ebene endlich ausgeräumt. Bis 1907 wurden hier schrittweise allen Frauen sämtliche kommunalen Ämter geöffnet, einschließlich der Schul- und Armenverwaltung – ein Zugeständnis, das zu Recht in- und außerhalb des Landes vielfach bejubelt wurde. Es lag dem Konzept, dem Glauben und der Interpretation zugrunde, dass in Großbritannien der Weg zum Frauenwahlrecht ein schritt- und stufenweiser, ein »gradualistischer« war und dass eine Orientierung am britischen Modell dieses Konzept übernehmen solle. Aber beispielsweise den deutschen Frauen blieb trotz all ihrer Bemühungen dieses Zugeständnis bis weit ins 20. Jahrhundert verwehrt; dies markierte  – wenngleich Frauen als »Mütter der Stadt« (Henriette Goldschmidt) punktuell und auf informelle Weise kommunalpolitischen Einfluss erlangen konnten – einen wichtigen Unterschied zum britischen Suffragismus.61 Kommunale oder andere spezifische und funktionale Wahlrechte erhielten Frauen – anfangs meist nur unverheiratete und verwitwete Steuerzahlerinnen – im letzten Drittel des 19.  und Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in den nordischen Ländern, aber auch in Frankreich und manchen anderen Ländern (etwa Bulgarien und Russland).62 Um 1910 gab es in den USA solche funktionalen Rechte auf schulischen, kommunalen und sonstigen Ebenen schon in dreißig Staaten, und ihre Nutzung schuf eine breite weibliche Öffentlichkeit. Überdies hatten schon vor dem endgültigen Sieg, dem 19. Verfassungszusatz von 1920, Millionen Frauen in einzelnen Bundesstaaten das volle, aktive wie passive, Wahlrecht auch für die Kongress- und Präsidentenwahlen, denn in den USA (anders als im deutschen und schweizerischen Föderalismus) bestimmten die Einzelstaaten auch über das nationale Wahlrecht.63

61 Vgl. Iris Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890– 1914, Frankfurt a. M. 2001; Kerstin Wolff, Stadtmütter. Bürgerliche Frauen und ihr Einfluss auf die Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert (1860–1900), Königstein i.T. 2003; Rosenbusch (wie Anm. 59), S. 79–132, 344–362; Birgitta Bader-Zaar, Der Ausschluss von Frauen aus politischen Rechten im 19. Jahrhundert. Ambivalenzen und Paradoxien, in: 50 Jahre Grundgesetz. Menschen und Bürgerrechte als Frauenrechte, hg. v. Frauen & Geschichte Baden Württemberg e. V., Königstein i.T. 2000, S. 87–113, bes. S. 92–97. Umfassend und im Detail: Jenny Apolant, Das kommunale Wahlrecht der Frauen in den deutschen Bundesstaaten, Berlin 1918; Christina Klausmann, Politik und Kultur der Frauenbewegung im Kaiserreich: Das Beispiel Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1997, Kap. VII. 62 Vgl. Blom, Structures (wie Anm. 1); Sulkunen u. a., Suffrage (wie Anm. 2). 63 Vgl. Weltbund für Frauenstimmrecht (Hg.), Frauenstimmrecht in der Praxis, Dresden 1913, S.  36 f.; 1912 hatten 1,3 Millionen Frauen in sechs Bundesstaaten dasselbe Wahlrecht wie Männer. Der 19. Verfassungszusatz verfügte, dass das Wahlrecht nicht »on account of sex« vorenthalten werden dürfe. Zu den Wahlrechten in den Bundesstaaten: Keyssar (wie Anm. 33).

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3. Warum so lange? Transatlantische Maskulinisierung der politischen Partizipation Es wäre nun aber ganz irreführend, wenn man aufgrund der diversen Indikatoren den Weg zum Frauenwahlrecht als einen kontinuierlichen Prozess und Progress verstehen würde. Denn er wurde durch eine dramatisch gegenläufige Entwicklung konterkariert, welche der wichtigste Grund für die lange Dauer jenes Prozesses ist. Genau im gleichen Maß, wie das parlamentarische Männerwahlrecht durch die Abschaffung des Zensus, also der Klassenschranken, in der zweiten Hälfte des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts ausgeweitet wurde und damit neue Schichten von Männern zu nationalen Staatsbürgern wurden, wurden Frauen nicht nur nicht allmählich eingeschlossen, sondern nun vielmehr explizit ausgeschlossen: »The age of democracy began with the systematic disfranchisement of women.«64 Während der erste Indikator zeigt, dass der implizite Ausschluss der Frauen in der alteuropäischen Tradition verwurzelt war, verweist der explizite Ausschluss im 19. Jahrhundert auf eine Modernisierung: Man machte das Mann-Sein nun erst so recht zu einer conditio sine qua non für Bürgerschaft, und diese Maskulinisierung der politischen Partizipation war eine Innovation, die großenteils auf die Diffusion der Debatte um die »Frauenfrage« und die neuen Plädoyers für die politische Partizipation von Frauen reagierte, zuweilen geradezu als Kampfansage. Die Maskulinisierung begann im Wesentlichen in der Großen Französischen Revolution (vorangegangen war allerdings schon Schweden65) mit zukunftsträchtigem Aufwand an parlamentarischem Pathos, das keineswegs nur auf dem Cliché basierte, dass »die Frau ins Haus« gehöre, sondern vielfach auch darauf, dass im Ancien Régime Frauen überaus große Macht hatten, die nun gebrochen werden müsse. Dass den Frauen generell (und manchen unliebsamen Männern) 1793 und 1795 das politische Assoziationsrecht verweigert wurde, wiederholte sich nach der Revolution von 1848 in Frankreich, Österreich und vielen der deutschen Staaten (hier galt das Verbot bis 1908).66 In Großbritannien formulierte 1814 der liberale Wahlrechtsreformer James Mill den Satz, der gleichermaßen auf die Regeln der alteuropäischen Gesellschaft wie auf die neue Modernisierung verwies, der eine Generation später seinem Sohn John Stuart Mill große Sorgen machen und ein ganzes Jahrhundert lang Geltung haben sollte, und zwar keineswegs nur in England: »[A]ll those individuals whose interests are indisputably included in those of­ other individuals, may be struck off [aus dem Kreis der Wahlberechtigten] with­ out inconvenience. In this light […] women may be regarded, the interest of 64 John Markoff, Margins, Centers, and Democracy: The Paradigmatic History of Women’s Suffrage, in: Signs 29/1 (2003), S. 85–115, Zitat S. 85. 65 Vgl. Åsa Karlsson Sjögren, Voting Women Before Women’s Suffrage in Sweden 1720–1870, in: Sulkunen u. a., Suffrage (wie Anm. 2), S. 56–82. 66 Vgl. Offen (wie Anm. 39), S. 61–66; Bader-Zaar (wie Anm. 61).

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almost all of whom is involved either in that of their fathers or in that of their husbands.«67 In diesem Begriff von Repräsentation galten Frauen nicht etwa als ausgeschlossen, sondern sehr wohl als eingeschlossen, weil durch »ihre« Männer repräsentiert. Zugrunde lag das Konzept der virtuellen Repräsentation (virtual oder vicarious representation) von Frauen durch Männer. Es handelte sich somit im 19. Jahrhundert keineswegs, wie zuweilen gesagt wird, um ein individuelles Staatsbürgertum, sondern um eines, dessen Träger – ob Bourgeois oder Arbeiter  – das männliche Familienhaupt war (in England waren nicht nur die Frauen, sondern auch viele erwachsene Söhne ausgeschlossen). Das gilt ebenso für das Land, wo die Ideologie des staatsbürgerlichen Individuums am schärfsten formuliert wurde, nämlich Frankreich. In identischer Formulierung liest man es bei Jean Jacques Rousseau (»Es ist der gute Vater, der gute Gatte, der gute Sohn, der den guten citoyen ausmacht«), in der französischen Verfassung von 1795 (»Kein Bürger ist ein guter Bürger, wenn er nicht ein guter Sohn, guter Vater, guter Bruder, guter Freund, guter Gatte ist«) und in der Einleitung zum Code Civil von 1804: »Ce sont les bons pères, les bons maris, les bons fils qui font les bons citoyens.«68 Dazu passt, dass im Frankreich des Bürgerkönigs bei der Berechnung des Zensus-relevanten Vermögens das eventuelle Vermögen der Ehefrauen dem des Ehemanns zugeschlagen wurde. Das galt auch für Deutschland, während in England der eheweibliche Besitz aufgrund des Eherechts ohne­hin vollständig dem Ehemann gehörte.69 Der berühmte Great Reform Act von 1832, der in Großbritannien am Beginn der Wahlrechtsmodernisierung steht, führte erstmals Männlichkeit (»male persons«) als Bedingung für die »representation of the people« ein; 1835 wurden Frauen explizit vom local government ausgeschlossen, und im Zentrum sämtlicher britischer Wahlrechtsreformen im 19. Jahrhundert stand der (männliche)  »householder« oder »occupier«. In dem nordamerikanischen Staat New Jersey (als einzigem der dreizehn revolutionären Staaten) hatten Frauen seit 1777 wählen können, wurden aber 1807 von diesem Recht ausgeschlossen, als der Zensus für Männer aufgehoben wurde. Als wenig später auch in zahlreichen anderen Einzelstaaten der Besitzzensus für Männer aufgehoben wurde, betraf dies nur weiße, und zugleich wurde verfassungsrechtlich festgelegt (so 1846 im Staat New York), dass das Wahlrecht nur für »males« gelte. Im Jahr 1868 wurde mit dem 14. Verfassungszusatz, um den männerspezifischen Sinn der negro’s hour zu verdeutlichen, der »male citizen« als Wahlberechtigter in die Verfassung eingeschrieben (gleich drei Mal), im Gegenzug gegen die erste 67 James Mill, Government [1820], in: ders., Political Writings, hg. v. Terence Ball, Cambridge 1992, S. 27. 68 Jean-Etienne Portalis, Ecrits et discours juridiques et politiques [1804], Marseille 1988, S. 63; Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart 1963, S. 728. Vgl. Rosan­ vallon (wie Anm. 6), bes. Teil 1/II (»L’individu autonome«); Teil 3/III (»L’indi­v idu absolu«). 69 Anne Verjus, Le cens de la famille. Les femmes et le vote, 1789–1848, Paris 2002; Rosenbusch (wie Anm. 59), S. 94 f.

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suffrage-Kampagne, und immerhin zur Hälfte sollte sich die Prognose von Elizabeth Cady Stanton erfüllen: »If that word ›male‹ be inserted, it will take us a century at least to get it out.«70 Im frischgeeinten Italien wurde 1865 das Wahlrecht von Steuerzahlerinnen abgeschafft, das diese vorher in einigen Landesteilen unter österreichischer Herrschaft innegehabt hatten, allerdings ohnehin nicht selbst hatten ausüben dürfen, sondern nur durch männliche »Vertreter«. In Österreich gab es in den 1880er Jahren dieselbe Art von Modernisierung, und schließlich wurde 1907, als hier das volle Männerwahlrecht eingeführt wurde, Männlichkeit ebenfalls explizit zur Voraussetzung gemacht, ebenso in Italien im Jahr 1912. In Deutschland galt der Satz: »Nur wer seinem Hause tüchtig vorsteht, wird ein trefflicher Bürger seyn« (Friedrich Karl von Savigny 1840). Hier und in der deutschen Schweiz setzten Staatstheoretiker das Postulat »Unser Staat ist männlichen Geschlechts« oder »ein rein männliches Wesen« in tief­ sinnige Staatstheorie und eindeutige Praxis um. Die Steinsche Städteordnung von 1808 schloss »Bürger weiblichen Geschlechts« von der Repräsentation aus, und in ihrer revidierten Version von 1853 wurde die (männliche) »Selbständigkeit« zur Voraussetzung fürs Wählen und wurde definiert als Besitz eines »eigenen Hausstands«; »Bürgerin« bedeutete allenfalls noch »Ehefrau eines Bürgers«. Die Männer der Paulskirche verzichteten 1849 noch darauf (so wie schon 1818 die norwegischen Männer im Storting), Frauen explizit auszuschließen, weil man es gar »nicht nöthig hat«; denn das Wort »politische Rechte« von »Personen« könne ohnehin »nur das männliche Geschlecht meinen.«71 Doch das sollte sich ändern: Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg schaffte ein Viertel der 26 Einzelstaaten den Wahlzensus ab und führte das volle Männerwahlrecht ein: aufgrund des neuen Wahlrechtskriteriums »männliches Geschlecht« oder »männliche Personen« und somit des expliziten Ausschlusses von Frauen (auf diese Weise wurden etwa 1904 und 1906 die berühmten badischen Verfassungen von 1818 und 1819 modernisiert, ebenso wie 1909 diejenige von Oldenburg).72 Als 1918 im britischen Unterhaus endlich das manhood suffrage ab dem Alter von 21 Jahren verwirklicht wurde (jetzt konnten zwölf statt vorher rund acht Millionen Männer wählen), formulierte der Sprecher des Unterhauses die wichtigste politische Legitimierung dieser vierten großen Wahlrechtsreform: »the right that a man has for a vote is that he is a man.«73 Vor dem Hintergrund eines langen Jahrhunderts von maskulinem gendering politischer Partizipation erschien das gewiss nicht nur ihm überzeugend, und zugespitzt wurde es noch

70 Wellman (wie Anm. 43), S. 136–139; Dubois (wie Anm. 45), S. 61. 71 Zitate in Frevert (wie Anm. 40), S. 81–94. 72 Vgl. Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd.  1, Stuttgart 19783, S. 176, 204, 205; Felix Stoerk, Handbuch der deutschen Verfassungen, München 19132, S. 254 f., 411. 73 Zit. in: H. C. G. Matthew u. a., The franchise factor in the rise of the Labour Party, in: EHR 91 (1976), S. 723–752, Zitat S. 726.

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durch das neue Konzept des Stimmrechts als Belohnung für den Kriegsdienst (»votes for heroes«).74

4. Klasse und Geschlecht: Ein europäischer Weg zum Frauenwahlrecht Vor diesem transatlantischen Hintergrund lässt sich zeigen, dass es im Vergleich mit den USA einen spezifisch europäischen Weg zum Frauenwahlrecht gab. Er bezieht sich auf das Verhältnis zwischen dem Weg zum vollen Männerwahlrecht und dem Weg zum Frauenwahlrecht, außerdem auf die geographisch und demographisch größten Länder Europas, also diejenigen mit der höchsten Anzahl von Frauen und Männern. In den USA wurde das Zensuswahlrecht früh abgeschafft; für freie weiße Männer wurde die unbeschränkte politische Partizipation weitgehend verwirklicht (für freie Ex-Sklaven bloß in vier Staaten), bevor Frauen in eigener Sache auch nur ihre Stimme erhoben, und bei der Einführung von »one man, one vote, one value« (»one gun« hatte man schon seit der Bill of Rights von 1791) gab es – unter Weißen – keine sozialen Bewegungen oder gar Kämpfe wie in Europa. Somit galt spätestens um 1840 und erst recht nach dem 14. Verfassungszusatz von 1868: »class became less important in defining formal legal and political power, race and sex became more so.«75 In dem heftigen Bürgerkrieg war es auch um das Wahlrecht für schwarze Männer gegangen. Aber einerseits hatte diese Frage eine gänzlich andere Dynamik als die europäischen Kämpfe um das Wahlrecht für den vierten Stand, nämlich nicht eine Klassen-, sondern eine »Rassen«Dynamik; andererseits hatten in Europa, jedenfalls im mittleren und westlichen, die Männer der wichtigsten ethnisch-religiösen Minderheit, der Juden, in den 1860er und 70er Jahren überall dieselben politischen Rechte wie Nichtjuden; Einschränkungen aufgrund von Hautfarbe gab es nicht. In den USA mussten Frauen ihr Wahlrecht vor dem Hintergrund des vollständigen enfranchisement der weißen Männer und dem teilweisen enfranchisement der schwarzen Männer erringen; man hätte annehmen können – und hat angenommen –, dass ihr Kampf einfacher werden würde als im rückständigen Europa, da ja in Amerika nur noch ein einziger Schritt nötig war; gleichwohl bedurfte es für das amerikanische Frauenwahlrecht auf nationaler Ebene, gemessen an unserem zweiten Indikator, eines Jahrhunderts. Was die schwarzen Frauen betrifft (sowie die schwarzen Männer, die seit 1868 zwar verfassungsrechtlich wahlberech74 Vgl. Nicoletta F. Gullace, »The Blood of Our Sons«: Men, Women, and the Renegotiation of British Citizenship during the Great War, New York 2002. Das Konzept schloss auch die (wenigen) Frauen ein, die im Dienst an der Waffe tätig waren, und schloss die Kriegsdienstverweigerer (aus Gewissensgründen) aus. 75 Wellman (wie Anm. 43), S. 136. Zum Folgenden vgl. auch Anm. 45.

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tigt waren, aber bald durch einzelstaatliche Sondergesetze wieder ausgeschlossen wurden), so führte erst, ein weiteres halbes Jahrhundert später, der Voting Rights Act von 1965 zum Ziel: dem Verbot des Ausschlusses aufgrund von »race or color«. In Europa hingegen verlief der Weg zum Frauenwahlrecht parallel zu dem männlichen Weg der Abschaffung der Zensussysteme und vor allem in Auseinandersetzung mit ihm. Letztere war oft heftig und spielte sich in den dreißig bis sechzig Jahren des vierten Indikators ab, der koordinierten und organisierten Stimmen zugunsten weiblicher Bürgerschaft. In der Parallele und Interaktion liegt der Grund dafür, dass es in Europa von der Einführung des vollen Männerwahlrechts bis zum Frauenwahlrecht in den meisten Fällen zwar be­drückend lange dauerte, aber weniger lang als auf nationalstaatlicher Ebene in den USA. Das soll im Folgenden an einigen mehr oder weniger gesamteuro­ päischen Charakteristika demonstriert werden. Seit den 1860er Jahren, stärker noch als vor und um 1848, schlossen die Arbeiterbewegungen die Frauenfrage von ihrem Interesse aus; je radikaler sie waren, desto eher definierten sie sie als eine »bürgerliche« Angelegenheit (nicht im Sinn von »civile«, sondern von »bourgeoise«). Dementsprechend schlossen sich die Suffragistinnen nun stärker dem Liberalismus an; dieser aber hielt an einem mehr oder weniger drastischen Zensus fest – wenn auch keineswegs sämtliche Liberalen und mit beträchtlichen Unterschieden zwischen diversen Ländern.76 In den publikumswirksamen Wahlrechtsdebatten der zweiten Jahrhunderthälfte, die sich hauptsächlich um Männer drehten, wurde es üblich, Wahlrechtserweiterungen nicht im Sinn von »Rechten« zu diskutieren, sondern in erster Linie anhand des cui bono, der expediency oder Nützlichkeit – nicht zuletzt weil das französische suffrage universel zur Diktatur Napoleons III. geführt hatte und auch Konservative durchaus von Disraelis Second Reform Act und Bismarcks Reichstagswahlrecht profitieren konnten. Zu Wahlrechtserweiterungen kam es keineswegs bloß auf Druck von »unten«, sondern vor allem dadurch, dass die Entscheidungsträger in Parlament und Regierung Wählermassen für sich zu mobilisieren suchten. Im gleichen Sinn wurde auch das Frauenwahlrecht zum Gegenstand parteipolitischer Strategien, und im gleichen Maß insistierten die meisten Suffragistinnen auf Überparteilichkeit, non-partisanship, parteipolitischer Neutralität, wie es auch der International Council of Women tat. Um 1900 modifizierte sich die Konstellation zwischen Liberalismus, Arbeiter- und Frauenbewegung. Viele Männer und auch Frauen hielten nun die Ab76 Für Großbritannien vgl. bes. Rover (wie Anm. 39) und Sandra Stanley Holton, Feminism and Democracy: Women’s Suffrage and Reform Politics in Britain 1900–1918, Cambridge 1986; zu Deutschland: Karin Hausen, Liberalismus und Frauenemanzipation, in: Angelika Schaser u. Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Liberalismus und Emanzipation: In- und Exklusionsprozesse im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2010, S. 39–54; Angelika Schaser, Bürgerliche Frauen auf dem Weg in die linksliberalen Parteien (1908– 1933), in: HZ 23 (1996), S. 641–680; Langewiesche (wie Anm. 14), S. 23. In Dänemark scheint der Liberalismus positiver gewirkt zu haben: vgl. Blom, Structures (wie Anm. 1), S. 613.

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schaffung der class barrier, aber auch der sex barrier nicht mehr für eine Frage des Prinzips, sondern der Zeit und des opportunen Zeitpunkts. Europaweit wurde Folgendes diskutiert: Wenn demokratische Partizipation nur noch eine Frage der Zeit war, wenn aber die gleichzeitige Abschaffung von Klassen- und Geschlechterschranke einen allzu großen »Sprung ins Dunkle« bedeutete – wer sollte dann zuerst zugelassen werden? Die Sozialisten fürchteten, dass bei einer Zulassung von Frauen zum Zensuswahlrecht die Konservativen und Liberalen profitieren würden; die Konservativen fürchteten das Gegenteil, nämlich weibliche Verstärkung für die Linke und, dass die Einbeziehung von Frauen in den männlichen Zensus bloß der erste Schritt zu einem wahrhaft allgemeinen Wahlrecht sei. Die Suffragistinnen wiederum hatten gute Gründe für die Annahme, dass die Arbeiterbewegung sich nur für ihr eigenes manhood suffrage interessierte und die radikaleren Sozialisten sowieso keine parlamentarische Demokratie wollten, sondern den Sturz der »bürgerlichen Gesellschaft«. Es ging also, in zahlreichen Varianten, um die Priorität von Klasse oder Geschlecht. Priorität erhielt dann die Klassenfrage: Nirgendwo in Europa wurden Frauen zum nationalen Wahlrecht zugelassen – und auch nicht zu einem männlichen Zensusregime  –, bevor für Männer sämtliche Klassenschranken gefallen waren. Die Priorität der Klassen- gegenüber der Geschlechterfrage war somit der wichtigste Grund dafür, dass der Weg zur weiblichen Bürgerschaft so lang war. Das hatte John Stuart Mill schon 1870 geahnt: »Die beiden Fragen zu verbinden, würde praktisch den Kampf für die Gleichheit der Frauen suspendieren, denn das allgemeine Wahlrecht wird mit Sicherheit lediglich als eine Frage der männlichen Arbeiter diskutiert werden; und wenn schließlich der Sieg naht, wird es mit Sicherheit einen Kompromiss geben, bei dem die Arbeitermänner, nicht aber die Frauen das Wahlrecht erhalten, und der Kampf um die Frauenrechte müsste noch einmal von vorn beginnen – mit den Arbeitern nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb der Barriere und deshalb auch mit ihren eigenen egoistischen Interessen gegen unsere Sache anstatt auf unserer Seite.«77 Und dennoch handelt es sich nicht nur um eine Priorität von Klasse gegenüber Geschlecht, sondern auch um eine Interaktion, eine enge Verflechtung. Deutlich wird das beispielsweise am britischen und am deutschen Fall. In Großbritannien vermehrte sich um die Jahrhundertwende die Anzahl der Männer, vor allem Liberals, die das Frauenwahlrecht aktiv unterstützten; es mögen einige Tausend gewesen sein.78 Auch manchen Mitgliedern der Labour Party begann es zu dieser Zeit einzuleuchten, dass die Propagierung des Frauenwahlrechts dem Ziel des vollen Männerwahlrechts nützen könnte, vorwiegend durch 77 John Stuart Mill an Sir Charles Dilke, 28.5.1870, in: ders., Collected Works, Bd. 17, hg. v. Francis E. Mineka u. Dwight N. Lindley, London 1972, S. 1728 (Übers. von GB). 78 Vgl. Angela V. John u. Claire Eustance (Hg.), The Men’s Share? Masculinities, Male S­ upport and Women’s Suffrage in Britain, 1890–1920, London 1997; Sandra Stanley Holton, Men, Women’s Suffrage and Sexual Radicalism, 1912–1914, in: dies., Suffrage Days. Stories from the Women’s Suffrage Movement, London 1996, S. 183–204; Elizabeth Crawford, The­ Women’s Suffrage Movement: A Reference Guide 1866–1928, London 1999.

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eine breitere Unterstützung seitens der Arbeiterinnen. Doch die Annäherung war schwierig, und die Konfrontation zwischen manhood suffrage und women’s suffrage – sie wurde kompliziert durch das Auftauchen der altersbezogenen Forderung nach adult suffrage, die sich aber in der Regel nur auf Männer bezog – blieb jahrelang unvermindert hart.79 Gerungen wurde um die berühmte Formel der non-partisanship, in der die Suffragistinnen traditionell ihre Forderung vorgetragen hatten: »suffrage as it is or may be« – also präzise Gleichheit mit den Männern durch Zulassung der Frauen zum geltenden Zensusregime mit Aussicht auf eine künftige Erweiterung auf alle. Die Minderheitsfraktion der sogenannten Suffragetten, die sich 1903 von den Mehrheitssuffragistinnen, den »constitutionalists« der National Union of Women’s Suffrage Societies, abspaltete und ab 1907 »suffragettes« genannt wurden, hatte anfangs mit Labour kooperiert  – sie wollte also volles Wahlrecht für Frauen wie Männer  –, wandte sich aber 1907 enttäuscht ab, weil Labour immer noch zögerte. Sie kehrte zum Zensuswahlrecht bzw. zur non-partisanship-Formel zurück und setzte auf »civil disobedience«, die ab 1912 in Gewaltaktionen überging (nicht etwa revolutionäre, sondern symbolische Gewalt), die von Labour-Männern wie -Frauen abgelehnt wurden.80 Auch die Mehrheitssuffragistinnen, die constitutional­ suffragists, blieben bis kurz vor dem Krieg bei »suffrage as it is or may be«. Die parteipolitische Wende kam 1910–1912, als die sogenannte Conciliation Bill, mit der die Konfrontation der Wahlrechtsforderungen gemildert werden sollte, von der liberalen Regierung Asquith torpediert wurde. Nun erschien es den ­Suffragistinnen aller Schichten als aussichtsreicher, mit Labour zusammenzugehen als mit den Liberals. Ab 1912 wurde die neue Koalition in hochkomplizierten Absprachen ausgehandelt, die geradezu an moderne Koa­ litionsvereinbarungen erinnern. Es kam sogar zu einer Situation, in der Labour das Regierungsangebot, volles Männerwahlrecht einzuführen, ablehnte, wenn nicht auch die Frauen berücksichtigt würden.81 Doch Sprache und Denken der politischen Partizipation blieben weiterhin vorwiegend männlich, und dem entsprachen dann der Kompromiss von Anfang 1918, also noch im Krieg, und der Preis, den die britischen Frauen für das Bündnis mit Labour zahlen mussten: Das volle Wahlrecht wurde Männern über einundzwanzig Jahren gewährt; 79 Zum »Erwachsenenwahlrecht«: Holton (wie Anm. 76), bes. Kap. 3 (»Adult suffrage or women’s suffrage?«) und Jo Vellacott, From Liberal to Labour with Women’s Suffrage: The Story of Catherine Marshall, Montreal 1993; dies., Pacifists, Patriots and the Vote: The Erosion of Democratic Suffragism in Britain During the First World War, Basingstoke 2008. 80 Zu »suffrage as it is or may be« vgl. bes. Holton (Anm.  76); zu den Suffragetten vgl. die Beiträge von June Purvis (Christabel Pankhurst and the Women’s Social and Political Union) und Michelle Myall (»No surrender«: the militancy of Mary Leigh, a working class­ suffragette) in: Maroula Joannou u. June Purvis (Hg.), The Women’s Suffrage Movement: New Feminist Perspectives, Manchester 1998; June Purvis, Emmeline Pankhurst: a Biography, London 2002; Krista Cowman, What was suffragette militancy? An exploration of the British example, in: Sulkunen u. a., Suffrage (wie Anm. 2), S. 299–323. 81 Vellacott, Liberal (wie Anm. 79), S. 149.

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Frauen mussten mindestens dreißig (für das passive Wahlrecht allerdings nur einundzwanzig) Jahre alt sein, zudem »householder« oder mit einem männlichen »householder« verheiratet sein oder aber – ebenso wie Männer – für eine Universität wählen (das wurde erst 1948 abgeschafft). Wahlberechtigt waren somit rund neun Millionen Engländerinnen, Schottinnen und Waliserinnen, und auch hier war viel die Rede von Belohnung für den Kriegsdienst. Sechs Millionen, die nach den Männerkriterien hätten wahlberechtigt sein können, mussten noch ein Jahrzehnt länger warten, und es waren gerade diejenigen, die – als vorwiegend junge Rüstungsarbeiterinnen – wohl am meisten für den Krieg gearbeitet hatten. Damit wurde Großbritannien zu einem der Schlusslichter zwar nicht des Frauenwahlrechts überhaupt, wohl aber der großen ersten Welle des vollen Frauenwahlrechts. Der deutsche Weg zum vollen Männerwahlrecht unterschied sich in vielerlei Hinsicht dramatisch; der britische Weg war gradualistisch, der deutsche revolutionär: für den Reichstag wegen der Bismarckschen »Revolution von oben« und für die Landtage sowie das Frauenwahlrecht auf sämtlichen Ebenen wegen der Revolution von 1918. Trotzdem gibt es einige strukturelle Ähnlichkeiten, wenn wir nach der Interaktion der Wege zum Männer- und zum Frauenwahlrecht fragen. Sie entspricht nämlich wiederum recht genau der parteipolitischen Situation vor allem der Sozialdemokratie und dem Umstand, dass sie im Reichstag stark war – eben wegen des unbeschränkten Männerwahlrechts, das die Briten nicht hatten. Die SPD nahm zwar das Frauenwahlrecht schon 1891 ins Programm auf, aber die Entscheidung kam von der Spitze und stieß an der Basis auf deutliche Vorbehalte. Zwar hielt Bebel 1895 seine eindrucksvolle Reichstagsrede, aber über zehn Jahre lang gab es dann keine sozialdemokratischen Aktivitäten in dieser Sache (ausgenommen Clara Zetkins Artikel in »Die Gleichheit«, wo sie das Frauenwahlrecht als »Waffe« gegen die »bürgerliche Gesellschaft« empfahl). Aktiv wurde man erst, nachdem die SPD sich ab 1903 gegen das preußische Wahlrecht engagierte und 1908 in den preußischen Landtag einzog; erst 1911 und nur in Preußen rief sie zu einer ersten Demonstration für das Frauenwahlrecht auf. Aber auch dann, so bekannte der SPD-Abgeordnete Eduard David, habe seine Partei »nicht so sehr dafür gekämpft.«82 Bis Juli 1917 stellte keine Partei einen parlamentarischen Antrag auf Zulassung der Frauen zum Reichstagswahlrecht (was hingegen von Frauen in Petitionen immer wieder gefordert wurde).83 Denn die Sozialdemokratie trat ausschließlich dort aktiv für das Frauenwahlrecht ein – das gilt auch für den Antrag, zu dem Bebel 1895 sprach –, wo sie es mit der Forderung nach Ausweitung des Männerwahlrechts verknüpfen konnte, und das hatte sie im Reichstag ja schon. Doch auf der Ebene der Bundesstaaten, wo sie weibliche Unterstützung für Wahl­kampagnen und für 82 Erich Matthias u. Rudolf Morsey (Bearb.), Die Regierung des Prinzen Max von Baden. Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Düsseldorf 1962, Dok. Nr. 143, Zitat S. 607 (8.11.1918); Rosenbusch (wie Anm. 59), S. 306 f. (Zetkin), 449–452. 83 Vgl. Rosenbusch (wie Anm. 59), S. 366–369, 431–435.

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das volle Männerwahlrecht gut gebrauchen konnte, entsprach eine Frauenagitation durchaus ihren Interessen.84 Scharf verwahrten sich SPD-Dogmatiker 1906 dagegen, dass Frauen zu einem beschränkten Wahlrecht als Etappenziel zugelassen würden (und dementsprechend polemisierte Zetkin regelmäßig gegen solche Bestrebungen in den Bundesstaaten, gegen das angeblich »reaktionäre« norwegische Frauenwahlrecht von 1907, gegen die britischen Suffragistinnen und gegen den Weltbund für Frauenstimmrecht). SPD-Reformisten hingegen, männliche wie weibliche – etwa Wally Zepler, die von Zetkin bekämpft wurde und in der Forschung erst seit kurzem wieder ernst genommen wird, oder Sozialdemokratinnen, die in der Kommunalpolitik mit bürgerlichen Frauen kooperierten –, plädierten für eine Orientierung am englischen Vorbild, für die kommunalpolitische Ebene und eine realpolitische Annäherung anstelle von Pathosformeln und Rhetorik, die bloß kaschierten, dass in der Sozialdemokratie das Frauenwahlrecht als Nebenwiderspruch galt.85 Seitens der deutschen Suffragistinnen spielte die Klassenschranke bzw. der Zensus die gleiche Rolle wie in England, vor allem seit das Reichsvereinsgesetz von 1908 das Verbot politischer Vereine und Versammlungen aufhob, das in Preußen und acht anderen Staaten gegolten hatte (in Bayern bis 1898), und Frauen sich nun auch hier parteipolitisch betätigen konnten.86 Die meisten deutschen Suffragistinnen übernahmen die englische Formel – »das Wahlrecht, wie es die Männer haben oder haben werden«  – und debattierten sie ähnlich kontrovers wie ihre englischen Schwe­stern; andere zogen die sozialdemokratische Formel vor (»allgemein, gleich, direkt, geheim«, ergänzt durch »ohne Unterschied des Geschlechts«). Ebenso wie die Suffragistinnen jenseits des Kanals beharrten auch die meisten deutschen auf non-partisanship, also partei­politischer Neutralität, und wie dort und in der gemeinsamen Formel sprach sich die überwiegende Mehrheit damit keineswegs zugunsten eines Zensus aus (wie ihnen bis heute oft unterstellt wird), sondern für die Gleichstellung von Frauen mit Männern und für künftige Wahlrechtserweiterungen. Überdies hatte in Deutschland die Formel einen weitaus progressiveren Sinn als in Großbritannien: Wo Männer schon das volle Wahlrecht hatten, also auf Reichstags-

84 Kühne (wie Anm. 15), S. 112–114; Rosenbusch (wie Anm. 59), bes. S. 310 f. Auf dem Parteitag von 1903 beschloss man, dass dann, wenn die Partei das »allgemeine« Wahlrecht fordere – und das tat sie nur auf einzelstaatlicher Ebene –, auch das Frauenwahlrecht gefordert werden solle: Richard Evans, Sozialdemokratie und Frauenemanzipation im deutschen Kaiserreich, Berlin 1979, S. 220. 85 Vgl. Wally Zepler, Der Weg zum Frauenwahlrecht, in: Sozialistische Monatshefte 1911, Bd. 1, Heft 6, S. 353–365; Rosenbusch (wie Anm. 59), bes. S. 340–343, 361–363; Evans (wie Anm. 84), z. B. S. 94, S. 221. Vgl. auch Clara Zetkin, Zur Frage des Frauenwahlrechts, Berlin 1907. 86 Angelika Schaser, Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln 20102, S.  130–144 (»Der ›Eintritt der Frauen in die Politik‹«); dies., Frauen (wie Anm. 76); Anderson (wie Anm. 17), S. 363 f.

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ebene und in einem Viertel der Bundesstaaten, bedeutete die Formel ein explizites Bekenntnis zum vollen demokratischen Wahlrecht. Eine Art Koalition zwischen Frauenbewegung bzw. Suffragistinnen und Sozialdemokratie kam in Deutschland 1917 zustande, fünf Jahre später als in Großbritannien (allerdings weniger ausgefeilt als hier), und mit Datum vom 8. November 1918, dem letzten Tag des Kaiserreichs, kam es im interfraktionellen Ausschuss des Reichstags zu einem Antrag auf Wahlrechtsreform inklusive Frauenwahlrecht, der – wie zögerlich auch immer und offenbar vor allem, um die turbulente Situation zu entspannen – die nötige Zustimmung fand. Doch nun war es zu spät für eine Reform, und dass es stattdessen einer Revolution bedurfte, hatte unter anderem zur Folge, dass in Deutschland, anders als beispielsweise in Großbritannien, das nationale Frauenwahlrecht nicht von einem rein männlichen Parlament verabschiedet wurde. Am 9. November 1918 kündigte die provisorische Revolutionsregierung das Wahlrecht für »Bürger beider Geschlechter« an und dekretierte drei Tage später das Wahlrecht für alle »männlichen und weiblichen Personen«. Für die Sozialdemokratie war jetzt eine breite Massenunterstützung wichtiger denn je, und nicht weniger wichtig als ihr altes Programm war ihr aktuelles Interesse. Aber sogar der Liberale Hugo Preuß, »Vater« der Weimarer Verfassung, meldete noch Ende 1918 Bedenken an, zu denen ihn vielleicht das britische Geschehen Anfang des Jahres inspiriert hatte (aber auch im Reichstag waren solche Stimmen zu hören gewesen): Allzu groß sei doch der Unterschied zwischen einem 20jährigen »Arbeiter« und einem gleichaltrigen »Mädchen«.87 Doch im Juli 1919 beschloss die Nationalversammlung, nunmehr mit knapp zehn Prozent weiblichen Abgeordneten, das wahrhaft allgemeine und gleiche Wahlrecht für alle mindestens Zwanzigjährigen (zusammen mit dem seit langem von der SPD geforderten Proportionalwahlrecht): Nun sollten auch rund 18 Millionen Frauen wahlberechtigt und wählbar sein. In Großbritannien ebenso wie in Deutschland hieß es während des Kriegs und danach – angesichts der vorangegangenen Wahlrechtskämpfe war das eine gröbliche Vereinfachung der Sachlage –, dass das volle Männerwahlrecht wegen der männlichen Aufopferung im Krieg gewährt werde; von »votes for heroes« sprach man jenseits des Kanals, die kaiserliche Osterbotschaft (April 1917) sprach von Belohnung »unserer Krieger«. Analoges und ähnlich grob Ver­ einfachendes sagte man – und sagten vor allem Männer, während manche Feministinnen sich davon distanzierten – vom Frauenwahlrecht in Deutschland.88 87 Matthias u. Morsey (wie Anm. 82), S. 222; Preuß stellte seine Bedenken dann zurück. Die beste Darstellung der komplizierten, nicht bis zum Letzten geklärten Abläufe jener Tage und Wochen, sowohl auf Reichs- wie Landesebene: Rosenbusch (wie Anm. 59), S. 420–425, 431–435, 446–460. 88 Es gab Männerstimmen, welche die weiblichen Opfer und Leistungen keineswegs als Legitimation für das Wahlrecht sahen, und Männer- wie Frauenstimmen, welche umgekehrt argumentierten. Zahlreiche Beispiele in Rosenbusch (wie Anm. 59). Der BDF lehnte 1917 den Lohn-Topos ab: siehe das vorige Kap., bei Anm. 109.

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In mancherlei Hinsicht fiel den deutschen Frauen 1918/19 das Wahlrecht in der Tat genauso in den Schoß wie 1869 den deutschen Arbeitermännern im Norddeutschen Bund und 1871 für den Reichstag. Aber für Deutschland sollte weniger der Krieg als Katalysator gelten als vielmehr die Revolution (auch wenn sie ohne den Krieg nicht denkbar ist). Grundsätzlich aber gilt: Das Frauenwahlrecht kam um diese Zeit, und gleichzeitig in so vielen Ländern, weil der feministische Suffragismus seit dem späten 19. Jahrhundert transnational die Grundlage dafür gelegt hatte. Die Sozialdemokratie und Labour waren ein Grund dafür, dass das Frauenwahlrecht so spät kam; sie spielten aber auch eine wichtige Rolle dabei, dass es überhaupt kam.

5. Warum so unterschiedlich lange? Die Ersten werden die Letzten sein Die spezifisch europäische Interaktion von Klasse und Geschlecht und der Vergleich von Europa mit den USA können auch Gründe dafür liefern, warum Frankreich und die Schweiz in Sachen Frauenwahlrecht zu Late-comers wurden und es hier so viel länger dauerte als anderswo. Einen Hinweis auf die zugrundeliegende Dynamik gab John Stuart Mill schon 1870: Wenn die Klassenschranke auf eine Weise falle, welche die Frauen ausschlösse, müsse der Kampf um deren Rechte »noch einmal von vorn beginnen – mit den Arbeitern nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb der Schranke und deshalb auch mit ihren eigenen egoistischen Interessen gegen unsere Sache anstatt auf unserer Seite.«89 Natürlich rechneten nach dem Ersten Weltkrieg viele französische und Schweizer Frauen mit einer erfreulichen Entwicklung; in beiden Ländern hatten sich die Bewegungen im Wesentlichen kaum von denen im übrigen Europa unterschieden und nur unwesentlich die Argumente pro und contra. Auch in der Schweiz und in Frankreich behandelten die Parlamente entsprechende Gesetzentwürfe: die Chambre des Députés 1919 und der Nationalrat 1920. In beiden Ländern erklärte sich die Mehrheit der Abgeordneten zugunsten des Frauenwahlrechts. Aber trotzdem kam es anders. Der Nationalrat befand, dass man, um den Begriff »Schweizer« auch als »Schweizerin« zu interpretieren, ein Verfassungsamendment brauche, und dafür war wiederum ein »Volks«-Refe­ren­dum nötig, also eine Abstimmung aller Männer. Solche Referenden waren die schwierigste Hürde für das Frauenwahlrecht – eine Erfahrung, die die Amerikanerinnen schon seit 1867 in vielen Bundesstaaten gemacht hatten. Der männliche Souverän der Schweiz lehnte das Frauenwahlrecht prompt ab, bis 1971, und zwar überproportional in Arbeiter89 Mill (wie Anm. 77).

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vierteln.90 Eine verbreitete Erklärung lautet, dass in der Schweiz die Identifikation von Politik, insbesondere von Demokratie, mit Männlichkeit in einem solchen Maße zur Volkskultur gehörte, dass sie nur mühsam aufzubrechen war. Doch die Maskulinisierung der politischen Partizipation war, wie oben zu sehen, keineswegs eine Schweizer Spezialität. Warum also wurde anderswo diese Mentalität (wenigstens vordergründig) aufgebrochen, hier aber nicht? Der Fall Frankreich verweist auf eine überzeugendere Erklärung. Hier stimmte der Senat 1922 gegen das positive Votum der Chambre von 1919, und die Nein-Stimmen stammten hauptsächlich von den Republikanern, der G ­ auche démocratique, den Radicaux et socialistes radicaux (die früheren Ja- und die späteren Nein-Stimmen stammten sogar großenteils von denselben Abgeordneten, weil diese zuvor in der Chambre saßen, dann im Senat). Eröffnet wurde die Senats-Session von dem radikalen Senator Alexandre Bérard mit seiner berüchtigten Synthese des hundertfünfzigjährigen französischen Antisuffragismus. Er beschwor die Gefahr, dass die Frauen den Klerus an die Macht bringen würden, und hatte keine Probleme mit der Logik, als er behauptete, sie würden außerdem eine bolschewistische Revolution herbeiwählen. Auch würden sie für ihre Leistungen im Krieg keinen Lohn erwarten, denn sie hätten schließlich aus Patriotismus gehandelt. Seinen Rapport krönte er mit dem bemerkenswerten Satz, der die Fehltritte französischer Männer auf die Frauen projizierte: »le suffrage des femmes serait un formidable saut dans l’inconnu [der alte Sprung ins Dunkle] qui pourrait entraîner l’élection d’un nouveau Bonaparte, comme le suffrage universel l’avait fait en 1848, et mener ensuite à un nouveau Sedan« (also zu einer Niederlage wie 1870).91 Was aber waren die tieferen Gründe für dieses Sedan des französischen Frauenwahlrechts? Offensichtlich war es nicht der katholische Traditionalismus, denn der Katholizismus hatte im Fall der Schweiz keine Rolle gespielt, katholische Länder wie Polen oder Irland erhielten ihr Frauenwahlrecht, und 1919 sprach sich der Papst ebenfalls dafür aus. Die Antisuffragisten waren eindeutig die französischen Linken und Republikaner. Pierre Rosanvallon erklärt das mit der singularité française: Seit der Großen Revolution habe das »suffrage universel« ein singuläres »fondement philo­ sophique« gehabt, nämlich eine radikal individualistisch und gleichförmig gedachte »égalité«. Den Französinnen sei das Wahlrecht deshalb nicht und dann erst so spät beschert worden, weil sie eine unfranzösische Philosophie gehabt hätten, nämlich eine »angelsächsische«: Sie verlangten die Repräsentation nicht von abstrakten Individuen (denen man ihre faktische Männlichkeit nicht mehr ansah), sondern der Interessen einer sozialen Gruppe, eines Geschlechts, berie90 Vgl. Mesmer (wie Anm. 41), Kap. VI.3; Sibylle Hardmeier, Frühe Frauenstimmrechtsbewegung in der Schweiz (1890–1930): Argumente, Strategien, Netzwerk und Gegenbewegung, Zürich 1997, bes. Kap. IV. 91 Zit. in: Rosanvallon (wie Anm. 6), S. 411 f.; Steven C. Hause u. Anne R. Kenney, Women’s Suffrage and Social Politics in the French Third Republic, Princeton, NJ 1984, S. 236–239, Zitat S. 238; vgl. Christine Bard, L’étrange défaite des suffragistes (1919–1939), in: Éliane Viennot (Hg.), La démocratie »à la française« ou les femmes indésirables, Paris 1996, S. 233–240.

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fen sich auf weibliche Diskriminierung und damit Differenz sowie den weiblichen Beitrag zum Gemeinwesen. So hatte etwa Jeanne Deroin 1849 diese Sprache übernommen: »Eine gesetzgebende Versammlung, die nur aus Männern besteht, ist genauso unfähig, Gesetze zu erlassen, die eine aus Männern und Frauen bestehende Gesellschaft regeln sollen, wie eine Versammlung von Privilegierten es wäre, welche die Interessen der Arbeiter diskutiert.«92 Dafür, dass die Französinnen genauso argumentierten wie ihre erfolgreicheren Schwestern in anderen Ländern, also für ihren tatsächlich nicht »angelsächsischen«, sondern transnationalen Seitensprung, seien sie von ihren männlichen Mitfranzosen bestraft worden. Dass auch in Frankreich der Diskurs des weiblichen Suffragismus der »unfranzösisch«-transnationale war, konstatiert Rosanvallon zu Recht. Aber die Erklärung überzeugt dennoch nicht. Denn erstens hatten auch »angelsäch­sische« Argumente und Stimmen, wo sie denn Männer betrafen, einen beträchtlichen Einfluss auf die französische Öffentlichkeit (so z. B. John Stuart Mill, wenn er nicht gerade zugunsten von Frauen sprach). Zweitens war der suffragistische Diskurs auch in Frankreich eine Mischung zwischen dem Gruppen-Argument und dem Individualitäts-Argument; Jeanne Deroin hatte im selben Atemzug, französisch-korrekt, auch die geschlechterübergreifende liberté, égalité, fraternité beschworen. Drittens ist es fraglich, ob es überhaupt der weibliche Diskurs war, der die Entscheidung der Männer bestimmte  – in Frankreich oder anderswo  –, und schließ­lich darf bezweifelt werden, dass die entscheidenden Männer, ob in Frankreich oder anderswo, aus wahrhaft philosophischen Gründen entschieden. Mehr spricht dafür, dass sie – hierin nicht anders als nichtfranzösische Männer (und als Frauen) – nach ihren (Nicht-)Interessen handelten. Das ergibt sich erstens aus der französischen Tradition, zweitens aus dem internationalen Vergleich. Aus der französischen Tradition stammt der Antiklerikalismus der Linken. Wenngleich das Argument, Frauen würden konservativ oder klerikal wählen, international verbreitet war, hatte es in Frankreich eine sehr viel tiefere Bedeutung. Hier gab es den nationalen Mythos, »die Frauen« hätten einst die Große Revolution verraten: durch ihren Widerstand gegen die Abschaffung des katholischen Kultus, gegen die Einführung des »culte de la raison« und durch ihre Kooperation mit den Priestern. Dieser Mythos war Mitte des 19. Jahr­hunderts von Jules Michelet formuliert und popularisiert worden (»Du prêtre, de la femme, de la famille«, 1845), und er wurde weiter dramatisiert in dem heftigen Konflikt zwischen Republik und Kirche, der zur Zeit der großen Frauenwahlrechtsdebatten die französische Innenpolitik prägte und 1905 zur gesetzlichen und vollständigen Trennung zwischen Staat und Kirche führte. Dass sich 1919 der Papst und die katholische Frauenbewegung zugunsten des Frauenwahlrechts aussprachen, hatte bei Republikanern und Linken gerade den Effekt, ihren Antisuffragismus zu stärken. 92 Rosanvallon (wie Anm. 6), S. 393–407, Zitat auf Abb. 34 nach S. 152.

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Zweitens: In Frankreich und der Schweiz fehlte zur Zeit der einschlägigen Parlamentsdebatten ein wichtiger Faktor, der in anderen europäischen Ländern das Frauenwahlrecht mitbefördert hatte, wie ambivalent auch immer: der Kampf um die Abschaffung der Klassenschranke. Weil es ihn nicht gab, gab es in beiden Ländern auch keine breite Konjunktur für die neuen, gruppenbezogenen (»angelsächsischen«) Theorien parlamentarischer Repräsentation. Und deshalb wurde auch nicht gerungen um Allianzen und Konflikte zwischen Liberalismus, Arbeiterbewegung und Suffragistinnen. In beiden Ländern brauchten Arbeiter und Sozialisten keine Massenbasis, um ihr eigenes Wahlrecht zu befördern, denn sie hatten es schon seit langem. Dem entsprach dann auch die legislative Formulierung, die 1944 benutzt wurde und die auffallend der klassischen Suffragismusformel glich: »les femmes sont électrices et éligibles dans les mêmes conditions que les hommes.«93 Mehrere Generationen lang war der männliche Antisuffragismus nicht ausreichend durch andere männliche Interessen ausbalanciert worden, für die das Frauenwahlrecht von Nutzen erschien. Frankreich und die Schweiz wurden Late-comers, nicht obwohl sie die ältesten Männer-Demokratien Europas waren, sondern weil sie es waren. Oder, mit den Worten Rosanvallons: »Le retard français s’ex­plique enfin par une sorte de réaction compensatrice à la précocité de la conquête du suffrage masculin.«94 So sollten aus den Ersten die Letzten werden, oder allgemeiner: Die inner­europäischen Unterschiede auf dem Weg zum Frauenwahlrecht, insbesondere die Unterschiede im historischen Timing, haben – ob zugunsten oder zuungunsten des weiblichen Geschlechts  – ihren wichtigsten Grund in den nationalen Unterschieden auf dem Weg zur Emanzipation des vierten Stands.

6. Motoren und Bremsen, Pioniere und Nachzügler, Demokratien und Diktaturen Das wird umgekehrt bestätigt durch entsprechende Wege in weiteren Ländern, die erst neuerdings ins Zentrum der vergleichenden Forschungen zum Frauenwahlrecht und weiblicher Bürgerschaft gestellt worden sind: die sogenannten »kleinen Länder«, sei es im Herzen Europas wie die Niederlande, sei es im Norden, Nordosten (baltische Staaten) oder Ostmittel- und Südosteuropa. An einer wirklichen oder imaginierten »Peripherie« zu liegen, entfernt von den Zentren wirtschaftlicher und politischer Macht, und auch nicht zu den »core countries« 93 So Art.  17 der Ordonnance, die am 21.4.1944 in Algier von der Provisorischen Regierung der Französischen Republik unter der Präsidentschaft von Charles de Gaulle erlassen wurde. Im April 1945 wählten Frauen erstmals bei munizipalen, im Oktober bei nationalen Wahlen. 94 Rosanvallon (wie Anm. 6), S. 411. Beachtenswert ist hier auch der bei Rosanvallon seltene Begriff »suffrage masculin«.

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der suffragistischen Bewegung zu zählen, sei – so wird einleuchtend argumentiert – ein gemeinsames und vielleicht gar ursächliches Merkmal der Pioniere gewesen: Wyoming, die Isle of Man, Neuseeland, Australien, Finnland, Norwegen, Dänemark sowie weitere »lesser places« auf der Weltbühne.95 Zwar ist es alles andere als ein finnisches Unikum, dass das Frauenwahlrecht »not as a separate issue but rather as an intrinsic part of the expansion of democracy across class barriers« in die Welt kam.96 Gleichwohl kann Finnland als »the spearhead of state democracy in Europe« gelten oder gar als »global trailblazer«, weil 1906 nicht nur das aktive Frauenwahlrecht eingeführt wurde wie in Neuseeland 1893, und nicht nur auch das passive (wie in Australien 1902), sondern das Letztere blieb nicht bloß Theorie, sondern wurde Praxis: Bei den ersten Wahlen zur eduskunta von 1907 wurden – in weitaus höherem Maß als in ähnlichen Situationen  – zahlreiche weibliche Abgeordnete gewählt. Sucht man einen transnational vergleichbaren Grund für diese finnische Pioniersituation, so mag er darin liegen, dass den Ereignissen von 1906/07 noch kaum parlamentarische Reformen vorangegangen waren, dass also  – anders als in Groß­britannien oder Deutschland – Anzahl und Anteil der wahlberechtigten Männer sehr gering geblieben war (vor 1906 waren es 126.000, nachher 1,3 Millionen Wahlberechtigte inklusive Frauen); außerdem darin, dass ungeachtet mancher Klassenspannungen vielfach klassen- und geschlechterübergreifend kooperiert wurde. Mit Blick auf die fünf nordischen Staaten insgesamt kann dem hinzugefügt werden: Hier ist offenbar den Auseinandersetzungen um das Frauenwahlrecht, die seit Mitte der 1890er Jahre stattfanden, keine derart verfassungsmäßige Maskulinisierung der politischen Bürgerschaft vorangegangen, wie sie in den »großen« Ländern stattgefunden hatte. Und: Ihre vergleichende Analyse führt zu dem Ergebnis, dass ungeachtet feiner individueller Unterschiede zwischen ihnen die Ähnlichkeiten überwiegen und dass letzten Endes das »nordische Modell« nicht besonders nordisch war, sondern in seinen wichtigen Aspekten den sonstigen Wegen zum Frauenwahlrecht glich.97 Gemeinsam ist der nordischen Welt auch die Bedeutung von Nation und nationaler Unabhängigkeit in der Beförderung weiblicher Bürgerschaft. Zwar war die Nation überall wichtig, angefangen von Olympe de Gouges’ Fundierung der politischen Rechte in der »Nation, die nichts anderes ist als die Vereinigung von Mann und Frau« (Art. 3 ihrer »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin«), über die Rolle der Parlamente als nationaler Veranstaltungen, der nationalen Dimensionen von Bürgerschaft und – im Gegenzug dazu – bis hin zu den nationalistischen Beschwörungs-Topoi der antisuffragistischen Diskurse und Orga95 Markoff (wie Anm. 64), bes. S. 90, 96, 104. »Small countries«: Mineke Bosch, History and Historiography of First-Wave Feminism in the Netherlands, 1860–1922, in: Sylvia Paletschek u. Bianka Pietrow-Ennker (Hg.), Women’s Emancipation Movements in the 19th Century: A European Perspective, Stanford, CA 2004, S. 53–76, hier S. 54. 96 Irma Sulkunen, The General Strike and women’s suffrage, in: Centenary usw. (wie Anm. 2). Die folgenden Zitate in: Sulkunen u. a., Suffrage (wie Anm. 2), S. 1, 4. 97 Blom, Structures (wie Anm. 1), bes. S. 613 f.

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nisationen: also Motor und Blockade zugleich.98 Aber bei den Pionieren spielte der Kampf um die nationale Unabhängigkeit auf dem Weg zum Frauenwahlrecht eine besondere, beschleunigende, aber gleichwohl komplexe Rolle (angefangen von den Beinahe-noch-Kolonien Neuseeland und Australien über den isländischen Widerstand gegen Dänemark bis zum finnischen gegen die Russifizierung). Eine ähnliche Rolle spielt das Ringen um nationale Unabhängigkeit auch bei vielen Ländern, die am Ende des Ersten Weltkriegs aus dem Zusammenbruch des Romanovschen, des Habsburger und des Osmanischen Reichs sowie aus dem Britischen Empire hervorgehen und deren Pionierrolle darin besteht, dass sie innerhalb der großen Demokratisierungsrunde von 1918 bis 1922 meist das volle Wahlrecht für Männer zugleich mit dem für Frauen einführten: Litauen, Lettland, Estland und Polen, Österreich, die Tschechoslowakei und Irland.99 Dass der Krieg oder – etwa in Großbritannien – der Sieg zum »Vater« des Frauenwahlrechts geworden sei, war einst ein Topos, der heute nicht mehr zu halten ist. Häufig gilt er nun als »Katalysator«, also als Beschleuniger ander­weitig begründeter Prozesse; doch in manchen Situationen scheint er das Frauenwahlrecht auch hinausgezögert zu haben.100 Eine durchaus andere Rolle spielen staatlicher Zusammenbruch, Revolution und Bürgerkrieg. Für Deutschland etwa darf angenommen werden, dass im Fall eines deutschen Siegs bzw. des Ausbleibens einer Revolution die Frauen noch eine ganze Weile hätten warten müssen. Vielleicht hätten sie sich, wie in Großbritannien von 1918 bis 1928, mit einer frauenspezifischen Altersbeschränkung begnügen müssen, die man dort mobilisiert hatte, um – angesichts der dezimierten Männerwelt – der erwarteten weiblichen Überzahl Herr zu werden; für Deutschland eher unwahrschein 98 Vgl. Ida Blom u. a. (Hg.), Gendered Nations: Nationalisms and Gender Order in the Long 19th Century, Oxford 2000; für Deutschland: Ute Planert, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998; dies. (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und der Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a. M. 2000; Dieter Langewiesche, Kulturelle Nationsbildung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Nation und Gesellschaft in Deutschland. Hans-Ulrich Wehler zum 65. Geburts­tag, München 1996, S. 46–64; Ute Frevert, Nation, Krieg und Geschlecht im 19. Jahrhundert, in: ebd., S. 151–170. 99 Vgl. Birgitta Bader-Zaar, Frauenbewegungen und Frauenwahlrecht, in: Helmut Rumpler u. Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd.  8/1: Politische Öffentlich­keit und Zivilgesellschaft – Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation, Wien 2006, S.  1005–1027; die Beiträge zu Irland und Palästina in: Sulkunen u. a., Suffrage (wie Anm. 2) und zu Litauen, Lettland, Estland, Polen und Tschechoslowakei in Rod­rí­guez u. Rubio-Marín (wie Anm. 3). Bulgarien, Slowenien, Rumänien und Ungarn folgten 1945 und später. 100 Vgl. die Debatte: Blom, Structures (wie Anm. 1), S. 607, 613; Pateman (wie Anm. 5), S. 342; Holton (wie Anm. 76), S. 130; Steven C. Hause, Suffrage et représentation politique des femmes (1920–1944), in: Eliane Gubin u. a. (Hg.), Le Siècle des féminismes, Paris 2004, S. 179– 194, bes. S.  189–191; Birgitta Bader-Zaar, Women’s Suffrage and War: World War I and Political Reform in a Comparative Perspective, in: Sulkunen u. a. (wie Anm. 2), S. 193–218; Krista Cowman, Women in British Politics, 1689–1979, Basingstoke 2010, Teil III.

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lich wäre die belgische Beschränkung auf Mütter und Witwen gefallener Soldaten gewesen. Keiner kontrafaktischen Spekulation bedarf es indessen, um zu demons­ trieren, was inzwischen eine breite Forschung gezeigt hat: Ungeachtet all der genannten befördernden oder bremsenden Faktoren und ihrer Variabilität  – so scheinen in Norwegen und Finnland die Klassenkonflikte etwas ausgeprägter gewesen zu sein als in Dänemark und Schweden – war die Heraufkunft des Frauenwahlrechts überall in der westlichen Welt primär das Ergebnis des Wirkens, der agency, von engagierten Akteurinnen, das in der Regel über einen Zeitraum von zwei bis sieben Jahrzehnten nötig gewesen war.101 Und was das Verhältnis der Vorkriegs-Pioniere zu jener mittleren Demokratisierungsrunde betrifft, in der endlich auch Länder wie Großbritannien und die USA zum Zuge kamen, wo schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts um das Frauenwahlrecht gerungen worden war, am frühesten sowie demonstrativer und heftiger als anderswo: Ungeachtet der vielleicht etwas gewagten These, dass »the periphery turned out to be more radical than the centre«,102 ist deutlich, dass die Kämpfe der britischen und US-amerikanischen (vielleicht auch der französischen?) Suffragistinnen nicht nur national, sondern auch transnational wirkten  – es war nicht allein John Stuart Mill, der solchen Transfer auslöste. Von ihnen profitierten somit auch die Frauen der »Peripherie«, und aus dieser Perspektive dürfen die anglophonen Länder bzw. Suffragistinnen auch weiterhin als wahrhafte­ Pioniere gelten.103 Die Erringung des Wahlrechts war kein endgültiger Sieg, sondern ein – erster oder weiterer  – Schritt auf dem langen Weg zu weiblicher und zugleich gleichberechtigter Bürgerschaft. Umstritten ist für die einzelnen Länder, in welchem Maß es überhaupt oder gar schon kurzfristig Wandel bewirkte, besonders bezüglich der weithin immer noch im Argen liegenden bürgerlichen Rechte (insbesondere verheirateter Frauen) und sozialen Rechte. Für Groß­britannien wurde neuerdings gezeigt, dass das politische Engagement von Frauen in den 1920er bis 1960er Jahren keineswegs zurückging, wie man oft angenommen hatte, sondern in mancherlei Hinsicht zunahm.104 Für alle Länder gilt, dass post eventum die Stimmen der Antisuffragisten weitgehend verstummten; allzu eifrig war man nun dabei, um die Wählerinnen zu werben, denen man zuvor das Stimmrecht abgesprochen hatte. Trotzdem (und deshalb) wurde vielerorts das 101 Zusammenfassend Blom, Structures (wie Anm. 1), S. 613 f. 102 Irma Sulkunen u. Pirjo Markkola, Einleitung zu: Sulkunen u. a. (wie Anm. 2), S. 8. 103 Dies umso mehr, als sechs Jahre nach dem finnischen Sieg des allgemeinen Wahlrechts und ein Jahr vor dem norwegischen schon weit über eine Million Amerikanerinnen das volle Wahlrecht hatten (vgl. oben, Anm. 63); 1917, als das finnische Wahlrecht wegen des Bürgerkriegs schon nichts mehr wert war, hatten Frauen in 13 der amerikanischen Staaten das volle Wahlrecht. – Die angedeuteten Transfers sind noch kaum untersucht worden, gehen aber immer wieder aus der hier angeführten Literatur hervor. 104 Vgl. Esther Breitenbach u. Pat Thane (Hg.), Women and Citizenship in Britain and Ireland in the 20th Century, London 2010.

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Ruder herumgerissen, nämlich in den Diktaturen, die – ungeachtet ihrer vielen Unterschiede – das Wahlrecht der Frauen ebenso irrelevant machten wie das der Männer (und den deutschen Jüdinnen und Juden wurde es formell entzogen). Italien, Spanien, Portugal im Westen und die Sowjetunion mit ihren späteren Satellitenstaaten waren aus dieser Perspektive die letzten Late-comers. Und wenn die kurze Zeit der Weimarer Republik nicht so wichtig und hoffnungsvoll gewesen wäre, ließe sich argumentieren, dass auch Deutschland zu den Latecomers gehört: Hier kam das Frauenwahlrecht im Rahmen einer stabilen Demokratie weitaus später als in den meisten Ländern Europas.

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Arbeit und Armut, Sozialstaat contra Rassenstaat

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Labor of Love: Zur Entstehung der modernen Hausarbeit in den Vereinigten Staaten✳

Vorbemerkung: In ihrem grundlegenden Sammelband »The Majority Finds Its Past« schloss Gerda Lerner auch einen Aufsatz von 1977 über die historische Figur der Hausfrau ein; zu dieser Zeit und spätestens mit diesem Text war die­ »unpaid labor of love« zu einem wichtigen Thema der neu entstehenden Frauenund Geschlechtergeschichte geworden. Einer gängigen Antwort auf die Frage »Arbeiten Sie?«, nämlich »Nein, ich bin bloß Hausfrau«, setzte Lerner entgegen: »Hausfrauen arbeiten tatsächlich.« Und solange Frauen für unbezahlte Hausarbeit zuständig sind, werde sämtliche Frauenarbeit entwertet; dies sei geradezu die Wurzel des »Frauenproblems«, und auch die damals in den USA und Europa verbreitete Forderung nach »wages for housework« verbleibe lediglich an seiner Oberfläche. Dass die überwältigende Mehrheit der Amerikanerinnen, kaum aber Männer, unbezahlte Hausarbeit verrichten, sei eine der wenigen Verallgemeinerungen, die sich über die Stellung von Frauen in der Gesellschaft machen lassen, ungeachtet von deren ansonsten höchst unterschiedlicher Situation. Zur Jahrtausendwende kam Lerner wieder auf dieses Thema zurück, diesmal aber mit Bezug auf den Platz der Frauen innerhalb der nunmehr neu entstehenden »World History«.1 In der Tat ist – trotz allen seitherigen Wandels ✳

Dieser Text entstand als Beitrag zum Workshop »Die Rolle der Frau in der amerikanischen Gesellschaft« auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien (Tutzing, Juni 1976); er wurde teilweise publiziert als zweiter Teil von: Gisela Bock u. Barbara Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit: Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Berliner Dozentinnengruppe (Hg.), Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen (Juli 1976), Berlin 1977, hier S. 119–123, 152–186 (der erste Teil, von Barbara Duden, behandelt die Frauensituation in der alteuropäischen Gesellschaft): URL: http://www.fragen.nu/atria/fragen (28.3.2014). Meine späteren Studien zum Vergleich zwischen der nordamerikanischen und der deutschen Situation konnten hier keinen Eingang finden (Vorträge zu »Hausarbeit im historischen Wandel: Deutschland um 1900«, Berlin 1981, und »Frauenarmut in Deutschland im späten 19. Jahrhundert«, Hamburg 1983). Eingegangen sind dagegen einige Ergebnisse meines Buchs: Die »andere« Arbeiterbewegung in den USA 1905–1922: Die Industrial Workers of the World, München 1976. Ein neuerer Blick auf den Text von Juli 1976 ist: Barbara Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Ein Rückblick: . 1 Gerda Lerner, Just  a Housewife, in: dies., The Majority Finds Its Past. Placing Women in History, New York 1979, S.  129–144. Vgl. dies., Women in World History [2000], in: dies., Living with History/Making Social Change, Chapel Hill 2009,

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und aller Unterschiedlichkeiten der globalen condition féminine – die häusliche, die Versorgungs- und Sorge-Arbeit sowie das, was man unter »labor of love« zu verstehen pflegt, weltweit in der Regel die Aufgabe des einen Geschlechts (geblieben oder geworden): sowohl wenn sie im eigenen Haushalt unbezahlt, als auch wenn sie in einem fremden Privat- oder öffentlichen Haushalt gegen (meist schlechte) Bezahlung verrichtet wird, heutzutage oft im Kontext transnationaler Migrationsbewegungen.2 Als Lerner in den 1970er Jahren schrieb, tat sie das im Einklang mit einem internationalen Interesse an jenen Fragen und einem Forschungstrend, der nur wenige Jahre lang anhielt und für die nordamerikanische Geschichte zu mehreren Standardwerken führte. Standen sie anfänglich im Kontext der Geschichte von Arbeit, so später im Kontext der Geschichte des Sozialstaats. Bei Susan Strasser stand die technologische Entwicklung im Zentrum, bei Ruth Cowan »die Erfindung der Hausarbeit« und bei Molly LaddTaylor die »Mutter-Arbeit«.3 Ein bemerkenswerter Sprachwandel ergab sich: Im Englischen war nunmehr die Rede von »paid« und »unpaid work« (und nicht mehr nur von »work and family«), im Deutschen ebenso oder auch von »Erwerbsarbeit« und »Hausarbeit«; beides galt nicht nur in der Wissenschaftssprache. Inzwischen ist der letztere Sprachwandel weitgehend rückgängig gemacht worden: Jedenfalls ist in der deutschen Medienöffentlichkeit praktisch nur noch von »Arbeit und Nichtarbeit« oder »Arbeit und Zuhausebleiben« die Rede. Vor diesem Hintergrund mag der folgende Text aus dem Jahr 1976 vielleicht noch einmal Beachtung erfahren. • • •

Was mit der Frage nach »Frauen und Arbeit« gemeint ist, ist keineswegs selbstverständlich. So beginnt eine Broschüre aus der New Left von 1970 (das Beispiel ließe sich durch viele andere ersetzen) über »Women Workers« mit der Frage: »How many women work?« Man erfährt, dass 1890 von allen Frauen über sechzehn Jahren 18 Prozent gearbeitet haben, 1900 waren es 20 Prozent, zehn Jahre später 23, 1930 24 Prozent, 1940 19 Prozent usw., bis 1969 schließlich 43 Prozent aller Frauen »arbeiteten«. Offen bleibt, womit die anderen 82–57 Prozent S. 103–113, bes. S. 108 f. Zu Lerners Bedeutung für die Historische Frauenforschung vgl. den vorletzten Beitrag zu diesem Band. Zur damaligen Kampagne für »Lohn für Hausarbeit« vgl. Louise Toupin, Le salaire au travail ménager. Chroniques d’une lutte féministe internationale, 1972–1977, Montréal, Canada 2014. 2 Vgl. z. B. Claudia Gather, Birgit Geissler u. Maria S. Rerrich (Hg.), Weltmarkt Privathaushalt. Bezahlte Haushaltsarbeit im globalen Wandel, Münster 2002, und die Tagung Towards  a Global History of Domestic Workers and Caregivers: URL: http://www.ith.or.at/start und http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=19489. 3 Susan Strasser, Never Done: A History of American Housework, New York 1982, 20002 (Dissertation von 1977); Ruth Schwartz Cowan, More Work for Mother: The Ironies of Household Technology from the Open Hearth to the Microwave, New York 1983, London 21989 (Dissertation von 1978); Glenna Matthews, »Just a Housewife«: The Rise and Fall of Domesticity in America, New York 1987; Molly Ladd-Taylor, Mother-Work: Women, Child Welfare, and the State, 1890–1930, Urbana-Chicago 1994 (Dissertation 1987).

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ihre Zeit verbrachten, und der alte Topos von der »idle woman« liegt natürlich nicht fern. Bemerkenswert ist dabei die Selbstverständlichkeit, mit der die Hausfrau aus der Zahl derer, die arbeiten, ausgeklammert wird, und dies gilt nicht nur für die New Left, sondern auch für einen Großteil der einschlägigen Studien und sogar für Teile der Frauenforschung.4 Noch weiter geht schließlich die US-amerikanische Bundesregierung: In einer Broschüre des Department of Labor von 1953 zu seinem 40-jährigen selbständigen Bestehen wird unter dem Titel »The Workers’ Story« die Hausfrau als Nicht-Arbeitende (im Unterschied zu Erwerbslosen) ausdrücklich zusammen mit Kindern, Invaliden, Alten, Schwachsinnigen, Kranken und Gefangenen gruppiert.5 Die Zuordnung ist nicht neu und gehört zu dem Stereotyp, mit dem Frauen auch von der Bildung und dem Wahlrecht ausgeschlossen wurden. Die Ausgrenzung der Frauen aus der gesellschaftlichen Produktion und ihre Zuordnung zu jenen nicht-produktiven Gruppen wird dadurch institutionalisiert, dass die volkswirtschaftliche Größe, die man »labor force« – erwerbsfähige Bevölkerung – nennt, die Hausarbeiterinnen nicht einschließt. Dass Hausarbeit im Bruttosozialprodukt nicht aufgeführt wird,6 nimmt kaum jemanden mehr wunder, da doch – so lauten gewöhnlich die Erklärungen – ihr Wert weder gemessen wurde, noch messbar sei, sei es, weil ihr gar kein Wert zukomme oder aber dieser unermesslich sei. Die wirksamste institutionelle Verfestigung dieser Sicht der Hausarbeit  – genauer gesagt: ihrer Unsichtbarkeit  – ist jedoch diejenige durch die Sprache selbst: heißt doch »arbeiten« heutzutage schlicht »erwerbstätig sein«, »Geld verdienen«, gegen Bezahlung arbeiten. Dieser Sprachgebrauch weist darauf hin, dass der springende Punkt nicht so sehr der Ausschluss der Frauen von der gesellschaftlichen, sondern von der bezahlten Arbeit ist. Die Unsichtbarkeit der Hausarbeit als Arbeit ist weitgehend eine Funktion ihrer Unbezahltheit. Wenn in den Sozialwissenschaften zuweilen ein Stück von ihr sichtbar wird, so meist hinter soziologischen Begriffen wie »Rolle« oder »Funktion«; für die Ökonomie jedoch, für den Bereich des Tauschs von Geld gegen Arbeit, bleibt sie unsichtbar. Allenfalls tritt sie hier als »Konsumtion« auf, nämlich als Austausch von Geld gegen Genuss, gegen Nicht-Arbeit. Es gibt indessen zur Zeit Anzeichen einer Veränderung dieses Sprachgebrauchs, etwa in einer Studie des Department of Health, Education and Welfare über »Work in America«.7 Eine solche Veränderung des Sprachgebrauchs 4 Beispielsweise Laura T. Rohrlich u. Ethel L. Vatter, Women in the World of Work, in: Women’s Studies 1/3 (1973), S. 263–277. 5 U. S. Department of Labor, The Worker’s Story, 1913–1953, Washington, D. C. 1953, S. 5. 6 Vgl. Simon Kuznets, National Income and Its Composition, 1919–1938, New York 1941, S. 431–433, schätzt den Wert der Hausarbeit für 1929 auf 23 Millarden Dollar, d. h. etwa ein Drittel des BSP, dem sie aber nicht zugerechnet wird; vgl. auch Robert Lekachman, On Economic Equality, in: Signs 1/1 (1975), S. 93–102. 7 Work in America: Report of a Special Task Force to the U. S. Department of Health, Education and Welfare, Cambridge, MA 1973; vgl. auch Robert W. Smuts, Women and Work in America, New York 1959.

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ist wohl nicht unabhängig von den neueren Women’s Studies, etwa Kate Milletts »Sexual Politics« im Abschnitt über Ökonomie, und erst recht von der Frauenbewegung, die jene »Rolle« oft publikumswirksam in Frage stellte. Und schließlich ist Hausarbeit neuerdings soziologisch und in Ansätzen auch historisch erforscht worden,8 wenn sie auch keineswegs als so reputierlich wie das Thema Erwerbsarbeit gilt. Ihr Fehlen im Themenkatalog der Geschichtswissenschaft hat außerdem einen besonderen Grund: Sie gilt als unhistorisch. Hausarbeit sei, so unterstellt man, so alt wie die Menschheit selbst oder wie der »Unterschied« zwischen Mann und Frau; sie sei immer dieselbe, entweder eine naturgeschichtliche Konstante oder ein Relikt aus alten, gar feudalen Zeiten, das mit der Modernisierung und Mechanisierung sozusagen von allein verschwinde. Die Geschichte der Hausarbeit und der Hausarbeiterinnen ist historiographisches Neuland. Methodisch ist es angesiedelt zwischen Historischer Frauenforschung und neuerer Sozialgeschichte, vor allem der Familiengeschichte und Demographie, die zur Zeit ebenfalls in vielerlei Hinsicht Neuland betreten. Hier ist zu bedenken, dass in der westlichen Welt die moderne Familie seit etwa dem 17. Jahrhundert entstand, und zwar für einen kleinen Teil der Bevölkerung, das städtische Bürger- und Handwerkertum.9 Erst im 19. und 20. Jahrhundert breitet sich dieser Familientypus in der gesamten Bevölkerung aus. Dies gilt in den USA für die Progressive Era in einem weiten Sinn, den Zeitraum von den 1880er Jahren bis zur großen Krise ab 1929. In dieser Zeit scheint sich so gut wie alles, was Hausarbeit heute konstituiert, verändert zu haben: Was sie ist, wer sie tut, wie sie getan wird; die Einstellung zu ihr, ihr sozio-ökonomischer Wert, ihre Beziehung zur gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt. Meine These ist folgende: In den Vereinigten Staaten entsteht Hausarbeit im modernen Sinn während jenes Zeitraums. Sie ist nicht ein zeitloses Schicksal der Frau, sondern ein historisch bestimmtes Phänomen, das einer ebenso historisch bestimmten Epoche der industriellen Gesellschaft zuzuordnen ist. Da sie in den gängigen Lexika nicht zu finden ist, definiere ich sie hier, nach ihrer formalen Seite, wie sie im Kontext der Frauenbewegung diskutiert, aber auch in der Familiensoziologie als »Funktion« von Frau und Familie definiert wurde: 8 Vgl. Kate Millett, Sexual Politics, New York 1969 (dt.: Sexus und Herrschaft, München 1972); Mariarosa Dalla Costa u. Selma James, Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft, Berlin 1973 (ital. u. engl. Original 1971); Ann Oakley, Woman’s Work: The Housewife, Past and Present, New York 1974; dies., The Sociology of Housework, New York 1974 (dt.: Frankfurt a. M. 1978); Helen Z. Lopate, Occupation: Housewife, London 1971; Barbara Ehrenreich u. Deirdre English, The Manufacture of Housework, in: Socialist Revolution 26 (1975), bes. S. 17–20; Heidi I. Hartmann, Capitalism and Women’s Work in the Home, 1900– 1930, PhD-Dissertation, Yale University 1975. Für Deutschland steht vor allem Helge Pross, Die Wirklichkeit der Hausfrau, Reinbek 1975. 9 Vgl. die einschlägigen Kapitel in den oben, in Anm. 3 genannten Werken; für Europa: ­Dieter Schwab, Familie, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd.  2, Stuttgart 1975, S.  253–301; Barbara Duden, in: Bock u. Duden (wie Anm. *).

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als die Arbeiten, die grundsätzlich das weibliche Geschlecht und im Besonderen die Ehefrau und Mutter für sich und die übrige Familie, in erster Linie Ehemann und Kinder, aber auch die Alten und Kranken, verrichtet und für die sie im Unterschied zur sogenannten produktiven Arbeit nicht bezahlt wird, stattdessen aber in Abhängigkeit vom männlichen Einkommen Kost und Logis erhält. Nach ihrer inhaltlichen Seite wäre Hausarbeit zu bestimmen als die Produktion und Reproduktion der gesellschaftlichen Arbeitskraft – der gegenwärtigen wie zukünftigen – in physischer und emotionaler, intellektueller und sexueller Hinsicht;10 die Besorgung der Konsumtion im Unterschied zur Produktion ist der Bereich, der ihr von der Ökonomie im engeren Sinne zugeschrieben wird. Keine dieser Bestimmungskomponenten trifft für die amerikanische Kolonialzeit zu, und erst recht nicht alle zusammen. Für die darauf folgende Zeit trifft eine wachsende Anzahl von ihnen zu, aber nur für begrenzte gesellschaftliche Gruppen. Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – mit Unterschieden nach Region, »Rasse«, nationaler Herkunft – wird in den USA die Gesamtheit der Komponenten für das Bild von der weiblichen Hausarbeit gültig. Im Folgenden werden einige Stationen dieses Prozesses umrissen, und zwar bewusst nicht anhand der Herausbildung des berühmten »cult of true womanhood«, den Barbara Welter 1966 für die weiße Mittelklasse im Nordosten der USA und im frühen 19. Jahrhundert untersucht hat  – die Glorifizierung von weiblicher »Frömmigkeit, Reinheit, Häuslichkeit und Unterordnung« – und von dem öfters angenommen wird, dass er später in die Unterschichten »abgesunken« sei.11 Vielmehr sollen drei andere Problemkreise im Zentrum stehen, die von den Frauen der Unterschichten ausgehen: erstens die weiblichen Dienstboten, ihre Arbeit und ihre Hausherrinnen; zweitens die Immigration während der Progressive Era; und schließlich der Komplex, der von den Zeitgenossen als »Scientific Management in the Home« bezeichnet wurde, die Rationalisierung der Hausarbeit.

10 Zum letzteren sei hier nur auf Immanuel Kant verwiesen, dessen Definition (Metaphysik der Sitten § 24) nicht nur für Europa gilt: Die Ehe sei »die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften.« 11 Barbara Welter, The Cult of True Womanhood, 1820–1860, in: American Quarterly 18/2 (1966), S. 151–174 (»piety, purity, domesticity, submissiveness«). Vgl. dazu heute: A Retro­ spective Analysis of Barbara Welter’s »The Cult of true Womanhood, 1820–1860«, in: JWH 14/1 (2002), S. 147–173. Der entsprechende Text für Deutschland ist: Karin Hausen, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben [1976], jetzt in: dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 19–49.

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Dienstboten, Hausherrinnen und die Mechanisierung des Haushalts Für den größeren Teil der weiblichen Bevölkerung blieb zur Zeit der frühen Industrialisierung und noch lange danach die Grenze zwischen häuslicher un­ bezahlter Arbeit und außerhäuslicher bezahlter Arbeit fließend. Die Kategorie der häuslichen oder haushaltsnahen, aber (meist bescheiden) bezahlten Arbeit war sehr verbreitet. Dazu gehörte in unserem Zeitraum etwa der Beruf der selbständigen Näherin und Wäscherin, dann vor allem das Phänomen der­ »boarders« und »lodgers«, Kostgänger und Inwohner, für welche die Hausfrau bezahlte Arbeit verrichtete. Eine weitere wichtige häusliche Einkommensquelle von Frauen waren die verschiedenen Formen gewerblicher Heimarbeit (»sweat­ shop«), die erst seit den 1920er Jahren und vor allem in der Folge zahlreicher Frauenstreiks gegen die miserablen Arbeitsbedingungen allmählich abgebaut wurde. Die Veränderung in der weiblichen Familien- und Arbeitssituation im 19. und 20. Jahrhundert ist also keineswegs lediglich die bekannte Verschiebung von unbezahlter häuslicher Arbeit zur zusätzlichen und entlohnten Arbeit als Teil der außerhäuslichen »labor force«, ein Weg, der gängigerweise, aber meines Erachtens zu Unrecht, als der Weg der Frauenemanzipation angesehen wird.12 Vielmehr handelt es sich außerdem um zwei weitere einschneidende Verschiebungen: diejenige von bezahlter Arbeit im Haus zu bezahlter Arbeit außer Haus, und schließlich die von bezahlter Arbeit im Haus zu unbezahlter Arbeit im Haus.13 Die beiden letzteren Verschiebungen und ihre Konsequenzen für die Geschichte der Hausarbeit und der Hausarbeiterinnen zwischen dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und dem ersten des 20. Jahrhunderts lassen sich am Beispiel der häuslichen Arbeit der Dienstboten verdeutlichen, und zwar im Zusammenhang mit der beginnenden Mechanisierung des Haushalts. Die Mechanisierung des Haushalts machte seit Mitte des 19. Jahrhunderts mächtige Fortschritte, wie der große Architekturhistoriker Siegfried Giedion umfassend gezeigt hat.14 Für eines der wichtigsten arbeitssparenden Geräte, die Waschmaschine, gab es in den 1860er Jahren 2.000 Patentanmeldungen. Ihre Wirkung bestand nun aber keineswegs, wie häufig angenommen wird, darin, dass nun die zuvor hart arbeitende Hausfrau zur »idle woman« wurde oder auch »freigesetzt« wurde für die sogenannten produktiven Berufe außer Haus. Viel12 Vgl. etwa Alice Schwarzer, Der kleine Unterschied und seine großen Folgen, Frankfurt a. M. 1975, S. 224: »Trotz Doppelbelastung und auch bei schlechter Qualifikation fördert absolut jede Berufstätigkeit die Unabhängigkeit der Frau.« 13 Auch eine weitere Verschiebung wäre zu bedenken: von der unbezahlten Arbeit außer Haus zur unbezahlten Arbeit im Haus, etwa im Zuge der Landflucht in die Stadt oder der Immigration aus dem ländlichen Europa. 14 Hierzu und zum Folgenden vgl. Siegfried Giedion, Mechanization Takes Command. A Contribution to Anonymous History [1948], New York 1969 (inzwischen auch auf Dt.: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, Frankfurt a. M. 1982).

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mehr befanden sich die meisten mechanischen Haushaltsgeräte bis hin zur Jahrhundertwende in den Händen einer recht kleinen Gruppe von Wohlhabenden, die allerdings zahlenmäßig sehr schwer zu erfassen ist. In diesen Haus­halten wurde ein großer Teil der Hausarbeit ohnehin und traditionell den Dienstboten übertragen, und die Hausherrin hatte nicht so sehr mit der häuslichen Arbeit selbst als mit der Aufsicht über die fast immer weiblichen und meist aus Übersee eingewanderten oder schwarzen (oft vom Süden in den Norden gewanderten) Dienstboten zu tun. (Für das 19. Jahrhundert kann man im Übrigen geradezu von einer Feminisierung des Dienstbotenberufs sprechen.) Die mechanischen Geräte der Frühzeit ersparten also nicht die Arbeit der Hausherrin, sondern die Arbeit von »Dienst«- oder »Hausmädchen«, von domestic servants (über deren vermeintliche Unfähigkeit, mit den neuen Maschinen umzugehen, oft geklagt wurde). Die Zahl dieser Hausangestellten verringerte sich bis in die 1920er Jahre drastisch, was  – keineswegs nur in den USA  – zu dem sogenannten »servant problem« führte, der Verknappung des Angebots an Hausangestellten. Und in einer immer größeren Anzahl von Haushalten zog die Herrin es vor, die Hausarbeit selbst zu verrichten, wenn auch mit besseren Geräten als zuvor. Dies aber war der Übergang von der Hausherrin zur Hausfrau, von der Aufsicht über bezahlte Arbeit anderer Frauen zur eigenen unbezahlten Hausarbeit. Aus der Perspektive der Dienenden war, wie ein Zeitgenosse 1906 schrieb,15 das »servant problem« auch ein »servant’s problem«  – nämlich ein Problem nicht nur für die Herrschaft, sondern für die Dienstboten selbst: Niedrige Löhne, zum Teil  in Naturalien bzw. Kost und Logis ausbezahlt, lang ausgedehnte und vor allem nicht festgelegte Arbeitszeiten, Abhängigkeit von der Herrschaft auch im persönlichen Bereich, wohl auch eine beträchtliche Anzahl unehelicher Geburten – das war die Existenz der Dienstboten. Sie verfügten dagegen über zwei Mittel: Entweder wichen sie in einen anderen Beruf aus, und in diesem Fall waren es hauptsächlich Fabrikarbeit oder Prostitution, die ihnen offenstanden. Oder aber sie leisteten offenen oder versteckten Widerstand gegen die Ausbeutung an ihrem Arbeitsplatz Haushalt. Harriet Beecher Stowe (bekannt als Autorin von »Onkel Toms Hütte«) und ihre Schwester Catherine E. Beecher beschrieben 1869, unter dem Titel »The American Woman’s Home«, diese »resistance which democracy inspires in the working class«, womit sie die Aufsässigkeit der Dienstboten meinten: »Life became  a sort of domestic wrangle and struggle between the employers […] and the employed […] and a common topic of conversation in American female society has often been the general servile war which in one form or another was going on in their different families – a war as interminable as would be a struggle between aristocracy

15 Zum Vorigen und zum Folgenden vgl. Isaac Max Rubinow, The Problem of Domestic Service, in: Journal of Political Economy 14 (1906), S. 502–519, hier S. 502. Rubinow schrieb über das »domestic service problem« in jenen Jahren auch im »Journal of Home Economics« und »Journal of ­Sociology«.

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and common people, undefined by any bill of rights or constitution.«16 Die Mechanisierung bot der Hausherrin eine Lösung dieser Form von »class struggle«, oder schärfer ausgedrückt: Die Mechanisierung des Haushalts ergab sich nicht so sehr aus einem quasi-autonomen wissenschaftlich-technischen Fortschritt, sondern war auch eine Antwort auf das Verhalten der Dienstboten zu dieser Zeit, wie im Übrigen auch Giedion ausführt (»The mechanization of the household had its starting point in social problems: the status of American women and the status of domestic servants«).17 Die Frauen, die in den zwanziger Jahren Staubsauger in Fabrik- und Fließbandarbeit herstellten, mochten zuweilen dieselben sein, die kurz zuvor noch für die Herrschaft gefegt hatten. Ihre Löhne waren nun zwar höher als zuvor, reichten jedoch für eine anständige Existenz kaum aus. Aber Fabrikarbeit und später die Ehe eröffneten ihnen jetzt die Möglichkeit, einen eigenen Hausstand zu gründen, privat zu leben und unabhängig von der Herrschaft zu sein: Dies war der Weg von der entlohnten Hausarbeit in einem fremden Familienbetrieb zur unbezahlten Hausarbeit in der eigenen Familie, vom Hausmädchen zur Hausfrau. Was sich am Beispiel des Verhältnisses von Mechanisierung und »servant problem« zeigt, ist also ein Prozess, in dessen Verlauf sowohl aus der Haus­herrin wie aus der Hausdienerin eine Hausfrau wird, die im eigenen Heim unbezahlte Hausarbeit selbst und »aus Liebe« verrichtet. Dieser Prozess lässt sich beschreiben als eine tendenzielle Homogenisierung der Situationen von sozial ganz unter­schiedlich gestellten Frauen in Bezug auf die Hausarbeit, Ergebnis nicht nur einer technisch-organisatorischen Modernisierung, sondern ebenso sehr konkreter sozialer Konflikte und Antagonismen – auch unter Frauen.

Immigrantinnen Von einer anderen Seite lässt sich diese Tendenz zur Homogenisierung am Schicksal der immigrierten Frauen und Familien zeigen, wenn auch hier nur in verkürzter Weise und für die Progressive Era.18 Ihre Situation konnte, verein16 Catherine Beecher u. Harriet Beecher Stowe, The Amerian Woman’s Home, or Principles of Domestic Science, New York 1869, S. 210 f.; vgl. Kathryn Kish Sklar, Catharine Beecher. A Study in American Domesticity, New Haven 1974, S. 151–167, 263–265. 17 Giedion (wie Anm. 14), S. 512. Vgl. auch Deborah C. u. William D. Andrews, Technology and the Housewife in 19th-Century America, in: Women’s Studies 2 (1974), S. 309–320; Elizabeth M. Bacon, The Growth of Household Conveniences in the U. S., 1865–1900, PhDDissertation, Radcliffe College, 1942; William F. Ogburn, Technology and the Changing Family, New York 1955. 18 Die Forschung zur Einwanderung in die Vereinigten Staaten war auch schon zur Zeit der Entstehung dieses Textes sehr breit und kann deshalb hier nicht sinnvoll aufgezählt werden; zu diesem und dem folgenden Abschnitt vgl. Bock, Die »andere« Arbeiterbewegung (wie oben, Anm. *), bes. Kap. I.2 (»Rationalisierungsoffensive und Migration«).

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facht gesprochen, eine von zwei Aktivitäten sein: Entweder arbeitete die Ehefrau und Mutter in der Fabrik, wo sie als Ungelernte zu den am stärksten ausgebeuteten Teilen der Arbeiterschaft gehörte, oder in einem fremden Haushalt; meist waren auch Mann und Kinder erwerbstätig. In der überbelegten Wohnung wurde Hausarbeit entweder gar nicht praktiziert, oder sie wurde auf ein Minimum reduziert und von einem Familienmitglied erledigt, das gerade arbeitslos war oder am wenigsten zu verdienen vermochte  – zwar vorwiegend, aber keineswegs ausschließlich waren dies Frauen. Häufig war der Mann auch arbeitslos, dann brachten allein die Frauen Geld nach Hause. Die Löhne gingen in der Regel in einen gemeinsamen Topf, den »family wage pool«, und ihre Summe war so bescheiden, dass die Frage der Verwendung des Übriggebliebenen gar nicht aufkam. Die zweite Möglichkeit war die der Frau, die ganztägig den Haushalt einschließlich der zahlenden Kostgänger versorgte. Die Einkünfte aus Untermiete und Löhnen gingen in der Regel an sie, der Mann erhielt – vor allem, wenn er arbeitslos war – ein oder zwei Dollar pro Woche als »spending money«. Welche von beiden Alternativen sich für die Frau ergab, hing von den vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten ab – so wurden etwa in der Stahlproduktion und in Bergwerken keine Frauen eingestellt, wohl aber in der Textilbranche –, von der kulturellen Herkunft der Einwanderer und von der Höhe der Männerlöhne. So arbeiteten die süditalienischen Frauen in Buffalo nur selten außer Haus, auch wenn es dazu Gelegenheit gab. In New York dagegen arbeiteten jüdische und italienische Einwanderinnen zu Zehntausenden als Näherinnen in den berüchtigten sweatshops (»Schwitzbuden«), hausindustriellen Kleinbetrieben. In den Textilfabriken von Lawrence, Massachusetts, gab es etwa zur Hälfte Männer und Frauen aus fast zwei Dutzend verschiedenen Herkunftsländern. Welchen Anteil die Bedürfnisse der Frauen selbst bei diesen Entscheidungen hatten, lässt sich nur schwer ermitteln und dokumentieren. So gibt es Fälle, in denen Frauen die Fabrikarbeit vermeiden, wenn es die finanzielle Situation zulässt, oder deshalb heiraten, um der Fabrik- und Dienstbotenarbeit zu entgehen, und umgekehrt Fälle, wo die Fabrikarbeit den girls als Möglichkeit eines unabhängigen Überlebens erscheint oder als Möglichkeit, die Heirat hinauszuschieben. Im Übrigen war das Verhältnis zwischen Familienstruktur der Immigranten und Industriearbeit äußerst kompliziert, und es lässt sich kaum auf schematische Vereinfachungen wie die ältere These vom »break up of the family« oder die neuere von der »persistence of the family« reduzieren.19 Man kommt der Realität wohl am nächsten, wenn man sie als Einheit von drei Phänomenen begreift: eine relative Vielfalt von Frauenexistenzen und Familienformen, eine Präponderanz der »community«, des Lebenszusammenhangs im Stadtteil, über den 19 Vgl. David Montgomery, Scientific Management and the Immigrant Workers, unveröff. Paper, 1973; Herbert Gutman, Work, Culture and Society in Industrializing America, 1815– 1919, in: AHR 78 (1973), S.  531–587; ders., Work, Culture, and Society in Industrializing America: Essays in American Working Class and Social History, New York 1976.

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Produktionsbereich und ein sehr hoher Anteil der Frauen am (nicht nur betrieblichen) Gelderwerb. Zwischen den 1880er und den 1920er Jahren fanden nun in diesen Immigrantengemeinschaften Prozesse statt, welche die Haushalte in einer Weise veränderten, dass man auch hier von einer Homogenisierung der Familienstruktur und Frauenarbeit sowie von einer Entstehung der modernen Hausarbeit sprechen muss. Sie umfassen erstens gravierende Veränderungen der Art der Arbeit im Haushalt; zweitens ihre durch verschiedene Mittel bewirkte ausschließliche Zuweisung an die Frau im Rahmen der Kernfamilie; und drittens die planmäßige Einbeziehung der unbezahlten weiblichen Arbeit in die wirtschaftlichen Erfordernisse einer modernen Industriegesellschaft. Zu den Veränderungen in der Art der Hausarbeit: Die Immigranten sahen sich allerlei neuen Arbeiten gegenüber, die mit der Urbanisierung und der Überfüllung in den Slums und tenement houses (Mietskasernen) verbunden waren; Wasserversorgung und Müllbeseitigung erforderten Arbeit; Putzen und Waschen war neu und dringlicher als in den ländlichen Herkunftsregionen, sei es wegen der Überfüllung, sei es wegen Ruß und Rauch aus Fabrikschornsteinen, die sich auf Wäsche und Wohnungen absetzten. Die Qualität der Wohnungsheizung war der aufgewandten Hausarbeit proportional, ihre Kosten umgekehrt proportional. Industriearbeit, Urbanisierung und Monetarisierung des Lebens brachten aber vor allem zwei gewaltige Neuerungen mit sich: Das Einkaufen und das Aufziehen der Kinder wurden zum zeitraubendsten Anteil der Hausarbeit. Aus den Berechnungen der für die verschiedenen Hausarbeiten aufgewandten Zeit, die seit den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts immer wieder angestellt wurden (zum Teil im Auftrag der Bundesregierung), ergibt sich, dass die maschinell ermöglichte Reduktion der einstmals zeitaufwendigsten Hausarbeiten, nämlich Waschen und Wohnungsreinigen, jetzt bei weitem kompensiert wurde durch jene zwei neuen Typen von Hausarbeit: »Konsumtionsarbeit«, die nötig war, um überhaupt konsumieren zu können, und die Kinderversorgung sowie Erziehung zu Rationalität und Disziplin, welche die moderne Arbeitswelt forderte. Die endgültige Fixierung der Frauenrolle auf die Hausarbeit und ihre planmäßige Einbeziehung in die Mechanismen der kapitalistischen Entwicklung geschah für die Immigranten im Zusammenhang einer Politik der »Amerikanisierung« von Ausländern durch Zwang, Ideologie und materielle Anreize.20 Und diese Politik war wiederum Teil einer Bewegung, die auch die Arbeit der einheimischen Frauen betraf und schließlich zu dem führte, was damals in den 20 Vgl. Edward G. Hartmann, The Movement to Americanize the Immigrant, New York 1948; John Higham, Strangers in the Land: Patterns of American Nativism, 1860–1925, New Brunswick, NJ 1955, bes. Kap. 9; Caroline Manning, The Immigrant Woman and her Job, Washington, DC 1930, ND New York 1970; Margaret F. Byington, Homestead: The Households of a Mill Town [19191], ND New York 1969; Cecyle S. Neidle, America’s Immigrant Women, New York 1976. – Heute sind besonders die zahlreichen Werke von Donna Gabaccia über Immigrantinnen in die USA zu empfehlen.

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Vereinigten Staaten »Scientific Management in the Home« genannt wurde und wenig später in Deutschland »Wissenschaftliche Betriebsführung im Haushalt« oder »Rationalisierung der Hausarbeit«.

Scientific Management in the Home Die Bewegung zur Verwissenschaftlichung der betrieblichen Arbeitsorganisation, nach ihrem bekanntesten Vertreter und Theoretiker Frederick Winslow Taylor auch Taylorismus genannt, legte seit den 1890er Jahren mit ihrer Rationalisierung von Produktionsprozess und Betriebshierarchie den Grund für die enorme industrielle Produktivitätssteigerung in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Diese Rationalisierungsbewegung und ihr Slogan »efficiency« blieben nicht auf die Fabrikorganisation beschränkt, sondern standen im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen »efficiency craze«.21 Die Forderung nach Ausschaltung von Verschwendung, »waste« aller Art, betraf nicht nur die grobmateriellen Aspekte der Gesellschaft, sondern auch die moralischen und emotionalen. Haushalt, Heim und Familie wurden zu einem beliebten Tummelplatz und Gegenstand produktivitätsorientierter Reformer und Wissenschaftler. Die Prinzipien der Wissenschaftlichen Betriebsführung suchte man möglichst getreu und analog zu übernehmen: sowohl die berühmten Zeit- und Bewegungsstudien, die erst mit der Stoppuhr, dann mit den frühen Photo- und Filmtechniken durchgeführt wurden – also eine Arbeitsplatzanalyse des Haushalts – als auch die Trennung von Planung und Ausführung, von Denken und Tun. Zu diesem Zweck stellte man beispielsweise der Hausfrau einen Schreibtisch in die Küche, staffierte sie mit Ordnern, Schreibzeug und (möglichst sparsamen) Budgetplänen aus und suchte damit Taylors These zu verwirklichen, es gebe »one best way of doing anything« – nämlich den »wissenschaftlichen«. Diese Bemühungen stellten eine wahrhafte Bewegung dar. Artikel über »Scientific Management in Home-Making«, »The Waste of Private Housekeeping«, »Efficiency in the Home« erschienen in zahlreichen sozialwissenschaftlichen, politischen, populären und Frauenzeitschriften – die »Annals of the American Academy of Political and Social Science« gehörte zu den wichtigsten22  – und haben ihre Wirkung gewiss nicht verfehlt. Die quantitativen 21 Vgl. bes. Samuel Haber, Efficiency and Uplift: Scientific Management in the Progressive Era, 1890–1920, Chicago 1964, hier bes. Kap. 4 (»A Normal American Madness«), ferner Christine Frederick, The New Housekeeping. Efficiency Studies in Home Management, New York 1918; dt.: Die rationelle Haushaltsführung. Betriebswissenschaftliche Studien, übers. von der deutsch-amerikanischen und in Deutschland wirkenden Rationalisierungsexpertin Irene Witte, Berlin 1921; vgl. Irene M. Witte, Heim und Technik in Amerika, Berlin 1928. 22 Im Folgenden zit. als AAA; im Bd. 48 (1913) vgl. etwa Simon N. Patten, The Standardization of Family Life (S. 81–90); Charlotte Perkins Gilman, The Waste of Private Housekeeping (S.  91–95); Mrs. Frank A. Pattison, Scientific Management in Home-Making (S.  96–103);

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und qualitativen Dimensionen dieser Bewegung lassen sich vielleicht anhand einiger ihrer Träger verdeutlichen: Dazu gehörten überzeugte und sendungsbewusste Tayloristen, »scientific engineers« wie Frank Gilbreth, Erfinder der »motion studies«, und seine Frau Lillian M. Gilbreth, eine »Superfrau« mit Kindern und Karriere (zwei ihrer zwölf Kinder publizierten 1948 »Cheaper by the Dozen«, auf Deutsch »Im Dutzend billiger«).23 Vor allem gab es eine »domestic science movement« oder »home economics movement«, die seit den 1890er Jahren aufkam, sich unter der Leitung von Ellen Richards als Home Economics Association organisierte und der außerdem diverse ähnliche Organisationen zuzurechnen sind; sie propagierte vor allem für die Mittelschicht neue Effizienz-Standards, sowohl für die Wohnung als auch für die Moral des right living: »Die Welt sauber zu halten  – das ist eine der großen Aufgaben der Frau.«24 Zu nennen ist hier auch ein Teil der Frauenbewegung, und zwar sowohl der Richtung, die seit Ende des 19. Jahrhunderts konservativere Züge annahm, wie auch radikalere Vertreterinnen. So ist etwa die zentrale Kategorie in den theoretischen und historisch-politischen Schriften der sozialistischen Feministin Charlotte Perkins Gilman nicht etwa ein Begriff wie Frauenemanzipation, sondern »efficiency« (vor allem in der aus dem Haus auszulagernden »Haus«Arbeit, die gleichwohl von Frauen zu verrichten sei).25 Progressive Reformer, von Jane Addams bis zu weniger bekannten Sozialarbeiterinnen, deren Beruf damals entstand, wandten sich in ihren Slum- und Stadtteilinitiativen großenteils der weiblichen Hausarbeit zu: Sie lehrten die vom Land oder Ausland stammenden Frauen Reinlichkeit, Kinderaufzucht, Kochen, Einkaufen und vor allem die effiziente Verrichtung all dieser Arbeiten. Sie lehrten und praktizierten gleichsam eine Form vergesellschafteter Hausarbeit: Social housekeepers werden sie zuweilen genannt.26 Das Department of Agriculture in Washington arbeitete eng mit der Home Economics Association zusammen und schickte Anfang des 20. Jahrhunderts Tausende freiwilliger und bezahlter, meist weiblicher Kräfte Louise B. More, The Cost of Living for a Wage-Earner’s Family in New York City (S. 104– 111); Martha Bensley Bruère, Utilization of Family Income (S. 117–120); weitere einschlägige Beiträge im selben Band und in weiteren Bänden. ­ ilbreth, 23 Vgl. Frank G. Gilbreth, Primer of Scientific Management, London 1912; Lillian M. G The Home-Maker and Her Job, New York 1927; ders. u. dies., The One Best Way to Do Work: A Solution of the Problem of the High Cost of Living, o. O. 1920. Vgl. dazu heute: Brian Price, Frank and Lillian Gilbreth and the Manufacture and Marketing of Motion Study, 1908–1924, in: Business and Economic History 18 (1989), S. 88–98; Michael C. Wood u. John C. Wold (Hg.), Frank and Lillian Gilbreth. Critical Evaluations in Business and Management, London 2003. 24 Helen Campbell, Household Economics [18971], New York 1907, S. 206; vgl. auch Ehrenreich u. English (wie Anm. 8). 25 Vgl. Charlotte Perkins Gilman, The Housekeeper and the Food Problem, in: AAA 74 (1917), S.  127; dies., The Waste (wie Anm.  22); dies., Women and Economics [18981], New York 1966, z. B. S. 168, 147; dies., The Home [19031], Urbana 1972, z. B. S. 132 f. 26 Vgl. Mary P. Ryan, Womanhood in America: From Colonial Times to the Present, New York 1975, S. 142–147, 226–235.

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aufs Land und in problematische Wohngebiete, um Frauen in den Prinzipien moderner Haushaltsführung zu unterweisen. Und zu guter Letzt sei auf Henry Ford’s bald vielfach nachgeahmtes Modell eines Sociological Department in Detroit hingewiesen, das die Aufgabe hatte, in den Arbeiterfamilien nach dem Rechten zu sehen und eine Moral, Arbeitsfreude und Effizienz aufrechtzuerhalten, die den berühmten Lohn von 5-Dollar-a-day (eine Verdoppelung gegenüber vorher) für den männlichen Arbeiter rechtfertigte. Die Beziehung zwischen der Rationalisierung der Industrie und der­jenigen des Haushalts war komplex; die letztere ging über eine bloße Analogie und Übertragung von Arbeitstechniken hinaus und hatte ihre eigene Dynamik. Dreierlei lässt sich hier festhalten. Erstens wurde die Produktivität im Haushalt ausdrücklich dahingehend konzipiert, die Produktivität der Lohnarbeiter zu fördern, zu sichern, ja zu schaffen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass in der Industrie gleichzeitig eine drastische Veränderung des Arbeitsprozesses vor sich ging – man denke ans Fließband und andere Formen gesteigerter Arbeitsdisziplin –, die eine optimale physische und psychische Zurichtung der Arbeiter erforderte. Ebenso wenig wie in der Fabrik tauge deshalb, wie einst Taylor und dann die Home Economists sagten, die »rule of thumb«; vielmehr sei eine wissenschaftliche Behandlung der vielfältigen Fragen von Hausarbeit, Hygiene usw. erforderlich. In einer wissenschaftspolitischen Zeitschrift war beispielsweise 1916 zu lesen: »If an employer wishes to know why a worker has constant headaches and is therefore unfitted for his work, […] who can question his right to go into the home of the worker in order to learn facts which will make it possible for him to eradicate the headaches and to retain the worker? […] He knows that by reducing the causes of inefficiency he is helping to make better workers.«27 Der Handelsminister und ehemalige New Yorker Abgeordnete Redfield schrieb 1913 anlässlich eines Vergleichs der eingewanderten mit den einheimischen Arbeitern: »Ein Arbeiter, der morgens schlecht gefrühstückt den Betrieb betritt, arbeitet bedeutend weniger effizient als einer, dem – wie den Amerikanern – seine Frau vor der Arbeit ein kräftiges Frühstück zubereitet hat.«28 In dieser Publizistik und den entsprechenden Initiativen wird das Bild und großenteils wohl auch die Realität einer massenhaften weiblichen Hausarbeit geschaffen, die in einer urbanisierten und industrialisierten Umwelt die Funktion hat, die industrielle Arbeitskraft zu produzieren und zu stabilisieren. In dieser Sicht wird die moderne Hausarbeit durch die Industrialisierung nicht etwa tendenziell aufgehoben, sondern überhaupt erst wirtschaftlich erforderlich gemacht.29 27 Mary Barnett Gilson, The Relation of Home Conditions to Industrial Efficiency, in: AAA 65 (1916), S. 277–289, hier S. 279. 28 William C. Redfield, The New Industrial Day, New York 1913, S. 162. 29 Dies lässt sich auch anhand der technologischen Entwicklung des Haushalts zeigen, etwa an der sozialen Bedeutung des kleinen Elektromotors oder an der Veränderung des Verhältnisses zwischen öffentlichen und privaten Waschanlagen; vgl. etwa Hartmann (wie Anm. 8), S. 276–379 (»Laundry: A Case Study«); und oben, Anm. 16.

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Zweitens wurde die häusliche Arbeit nicht nur als niedrige Tätigkeit, sondern auch als höhere Berufung von Frauen konzipiert. Sie wurde professionalisiert, was die höhere Würde, den sozialen Wert und die wissenschaftliche Ausbildung an Schulen und Universitäten betrifft. An diesem Punkt, wo sich Ideologie und Realität fast unentwirrbar verknüpfen, zeigt sich eine bemerkenswerte Ambivalenz zwischen der Propagierung höherer Weihen von weiblicher Tätigkeit und deren häufiger Realität als »drudgery«, als harte und mühselige Arbeit. Einerseits begann man, zunehmend vom »Funktionsverlust« der Familie zu sprechen (so der Familiensoziologe Ogburn 1933), und andererseits (so bei seinem Kollegen Parsons 1955) galten die Familien des 20. Jahrhunderts als »factories which produce human personalities.«30 Die Familie als Produktionsstätte der industriellen Arbeitskraft wurde im Übrigen auch von Zeitgenossen deutlich hervorgehoben: »the home« galt vielen als »part of a great factory for the production of citizens.«31 Die Ambivalenz dieser Texte zur Rationalisierung der Hausarbeit lässt sich an zwei Momenten deutlich zeigen: Die tayloristische Trennung von Planung und Ausführung, von Denken und Tun scheiterte mit Notwendigkeit im Haushalt, da ja die Hausfrau immer beides tun muss, die Trennung also nur eine fiktive ist und die Wahl mehr oder weniger nur darin besteht, die Wäsche am Dienstag oder Donnerstag zu waschen. Des Weiteren vermag die gepredigte und praktizierte Professionalisierung der weiblichen Berufung zur Hausarbeit nicht darüber hinwegzutäuschen, dass ein grundlegendes Element von »Beruf« dabei fehlt: das Einkommen. Ob »drudgery« oder »dignity«: Liebe gilt als Motivation und Lohn zugleich. Eine genauere Analyse der einschlägigen Texte und Realbewegungen, als sie hier möglich ist, könnte zeigen, dass sich ideologisch und faktisch für alle gesellschaftlichen Schichten jetzt eine relativ einheitliche Familienstruktur durchsetzt: »Efficiency of the Family«, »Standardization of the Family«, »The Normal Family« sind wiederum programmatische Titel für diesen Trend. In seinem Kern stand die wirtschaftlich notwendige Hausarbeit, deren Unbezahltheit zwar ein Produktivitätsfaktor war, aber gravierende Widersprüche und Irrationalitäten enthielt. Drittens wird etwa seit der Wirtschaftskrise von 1903 immer stärker das Problem der Lebenshaltungskosten, des »cost of living« diskutiert, und zwar im Zusammenhang der Lohnkämpfe in den Fabriken und der Inflationstendenzen ab der Jahrhundertwende bis zu ihrem Gipfel im Weltkrieg. Die im Haus arbeitende Frau wird nun entdeckt als »the one able to solve the puzzle of how to reduce the cost of living.«32 Die weibliche Hausarbeit wird in den ersten drei 30 William F. Ogburn, The Family and its Functions, in: Recent Social Trends in the United States: Report of the President’s Research Committee on Social Trends, New York 1933, Kap. XIII.; Talcott Parsons u. Robert F. Bales, Family, Socialization and Interaction Process, New York 1955, S. 16. 31 Martha Bensley Bruère u. Robert W. Bruère, Increasing Home Efficiency, New York 1912, S. 290 f. 32 Linda Marie Fritschner, The Rise and Fall of Home Economics, unpubl. PhD-Dissertation, University of California, Davis 1973, S. 80.

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Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bewusst als Beitrag zum Reallohn des Mannes konzipiert, um den drängenden sozialpolitischen Problemen abzuhelfen. »The dollar badly spent is only half-a-dollar«, war der Tenor einer reichen Literatur zu dem Problem der Erhöhung  – genauer: Streckung  – des männlichen Realeinkommens durch effiziente weibliche Haushaltsführung. »Das Real­einkommen«, schrieb mitten in der Inflation von 1920 ein Experte in Hauswirtschaft, »schließt auch Elemente ein, die nicht durch Geldausgeben erworben werden. Dies betrifft vor allem die unbezahlten Dienste der Hausfrau, die das Realeinkommen um hundert Prozent zu erhöhen vermögen«.33 Henry Fords 5-Dollar-Lohn, 1914 mit viel Publizität eingeführt, verwirklichte diese Vision wenigstens teilweise; er darf nicht nur in Relation zum fast gleichzeitig ein­ geführten Fließband der Endmontage gesehen werden, sondern muss ebenso in Relation zur Primärmontage im Haushalt gesehen werden, wie Ford selbst in seinem Konzept vom Arbeiterlohn überdeutlich machte.34 Vielfach (und damals wohl meistens) vermochte die unbezahlte Arbeit der Hausfrau mehr Geld einzusparen, als sie durch eine – notorisch unterbezahlte – Erwerbstätigkeit zu erhalten hoffen konnte. Eine präzise zeitgenössische Formulierung dieses Zusammenhangs stammt von Ida Tarbell, als »muckraker« (Vorläuferin des investigativen Journalismus) eine der schärfsten Gesellschaftskritikerinnen ihrer Zeit; ihr zufolge dramatisierte sich der Anstieg der Lebenshaltungskosten proportional zu der Fähigkeit und dem Management, mit dem der Lohn ver­waltet wurde: »In der Regel steigen die Preise schneller als der Lohn – und dagegen kann man nur mittels Haushaltsmanagement angehen. Es wäre ein Desaster, wollte man dagegen angehen, indem man die Mutter außerhäuslich arbeiten schickt, denn ihr Lohn kann niemals aufwiegen, was durch die Vernachläs­ sigung des Haushalts verloren wird.« Deshalb sei das »scientific household management« von grundlegender Bedeutung für die Bewältigung des Anstiegs der Lebenshaltungskosten, und es müssten Einrichtungen geschaffen werden, die es den Frauen – d. h. nur den Frauen – beibrächten.35 Manches wurde in dieser Hinsicht getan, so etwa die Einführung von »home economics« (Hauswirtschaft) für Frauen im Schulsystem von der Grundschule bis zur Universität durch den bundesstaatlichen Smith-Lever-Act von 1914 und den Smith-Hughes-Act von 1917. Sie hatten die Aufgabe, die Hausarbeit als weibliche Berufung im Ausbildungssystem, im gerade damals neu aufgebauten »vocational training«, zu verankern.36 Insgesamt kam mit den hier benannten Diskursen und Entwicklungen ein Prozess zum Abschluss, den John Kenneth 33 Ida M. Tarbell, The Cost of Living and Household Management, in: AAA 48 (1914), S. ­127–130, hier S. 127; Benjamin R. Andrews, Thrift as a Family and Individual Problem: Some Standard Budgets, in: AAA 87 (1920), S. 11–20, hier S. 11 f. 34 Vgl. Henry Ford, My Life and Work, New York 1923, Kapitel »Wages«, bes. S.  124. Vgl.­ Martha Day, The Historical Problem of the Family Wage: The Ford Motor Company and the Five Dollar Day, in: FS 8/2 (1982), S. 399–424. 35 Tarbell (wie Anm. 33), S. 127, 129. 36 Vgl. Fritschner (wie Anm. 32).

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Galbraith 1973 folgendermaßen beschrieb: »Die Umwandlung der Frauen in eine auf unsichtbare Weise dienende Klasse war eine ökonomische Leistung ersten Ranges. Dienstboten für gesellschaftlich unterbewertete Arbeiten standen einst nur einer Minderheit der vorindustriellen Bevölkerung zur Verfügung; eine dienstbare Hausfrau steht jedoch heute auf ganz demokratische Weise fast der gesamten männlichen Bevölkerung zur Verfügung.«37 Darüber hinaus lässt sich die Hypothese aufstellen: Der Übergang von derjenigen Phase der Industrialisierung, die auf einem nahezu unerschöpflichen Arbeitskräfteangebot beruhte – sie endete mit der Einschränkung der Immigration in den 1920er Jahren –, zu einer Politik von höheren Löhnen und Arbeitsmarktregulierung war nur möglich auf Kosten der Frauen beziehungsweise durch die Institutionalisierung und Verallgemeinerung der modernen Hausarbeit.

37 John Kenneth Galbraith, Economics and the Public Purpose, Boston 1973, S.  33 (meine Übers.; vgl. ders., Wirtschaft für Staat und Gesellschaft, München 1974, S. 51).

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Weibliche Armut, Geschlechterbeziehungen und Rechte von Müttern in der Entstehung der europäischen Sozialstaaten, ca. 1880–1950✳ 1

Die modernen Sozialstaaten zeigen, obwohl sie zu verschiedenen Zeiten und auf verschiedene Weise entstanden sind, ein bemerkenswertes Maß an Übereinstimmung. Die Reformen, durch die sie konstituiert wurden, waren vielfältig, doch in ihrem Zentrum stand die staatliche Unterstützung für Menschen, deren Armut ihrer Unfähigkeit entstammte, mittels Erwerbsarbeit für sich selbst zu sorgen, und zwar aufgrund von Arbeitsunfällen, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit. Im Sozialstaat waren solche Menschen nicht mehr, wie zuvor, Objekt der Armenfürsorge; somit waren sie auch nicht mehr diskriminierenden Bedürftigkeitsprüfungen oder dem Entzug der Bürgerrechte unterworfen. Vielmehr wurde ihnen ein soziales Recht auf Unterstützung zugesprochen, und diese wurde als staatliche Aufgabe anerkannt. Dieses soziale Recht war in den zivilen und politischen Rechten der Bürger begründet sowie in ihrem Beitrag zur Gesellschaft, den sie aufgrund von Lohn- oder anderer Erwerbsarbeit geleistet hatten. Als in den 1940er Jahren in Großbritannien, im Kontext der Bemühungen von William Beveridge, des hauptsächlichen Architekten des britischen »welfare state«, eben dieser Begriff geprägt wurde – und zwar als Kontrast zu »warfare state« –, hafteten dort dem Wort »welfare« schon längst nicht mehr die Konnotationen von Almosen, Barmherzigkeit und Armenpflege an (anders war dies in den USA). Doch noch bis zum Ersten Weltkrieg galten weithin nur Männer als Bürger, und vor wie nach dem Ersten Weltkrieg wurden Frauen durch die Sozialversicherungs­systeme diskriminiert, da sie auf dem Arbeits✳ Erstveröffentlichung

in: Georges Duby u. Michelle Perrot (Hg.), Histoire des femmes en Occident, 5 Bde., Paris 1990–1991, Bd. 5: Françoise Thébaud (Hg.), Le XXe siècle, Paris 1991, S. 381–409; auf Deutsch in: Geschichte der Frauen, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1995, S. 427–461. Der Text ist im Wesentlichen unverändert, aber ergänzt durch einige Titel aus der inzwischen fast unüberschaubar gewordenen einschlägigen Literatur. Er entstand aus einem Projekt am Europäischen Hochschulinstitut (Fiesole, 1986–1989). Mein Dank geht an die Arbeitsgruppe: Ida Blom, Annarita Buttafuoco †, Anne Cova, Elisabeth Elgan, Jan Gröndahl, Hilde Ibsen, Jane Lewis, Mary Nash, Karen Offen, Ann-Sofie Ohlander, Frank Prochaska, Chiara Saraceno, Anne-Lise Seip, Bonnie G. Smith, Irene Stoehr, Angela Taeger, Pat Thane, Elisabetta Vezzosi. Dankbar bin ich auch Birgit Barrelmeyer, Victoria De Grazia, Wiebke Kolbe, Valeria Russo, Kristina Schulz und Anette Weber für vielfache Unterstützung. Die meisten Beiträge erschienen in: Maternity and Gender Policies: Women and the Rise of the European Welfare States, 1880s-1950s, hg. v. Gisela Bock u. Pat Thane, London 1991, im Folgenden zit. als Maternity 1991.

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markt unterrepräsentiert und ihre Löhne und Gehälter niedriger waren als die der Männer. Die meisten Sozial­reformen jener Zeit »zielten auf den männlichen Arbeiter, nicht auf Frauen und Kinder, die früher die hauptsächlichen Nutznießer der Armenfürsorge gewesen waren.«1 Umgekehrt waren im 19. Jahrhundert die Ärmsten der Armen vorwiegend Frauen, aber zum Objekt der Bismarckschen Sozialpolitik wurde nicht die Armutsbevölkerung, sondern die männliche Lohnarbeiterschaft; denn mit der Sozialversicherung sollte die männlich dominierte Arbeiterbewegung befriedet und integriert werden.2 Und doch gab es Ausnahmen, von denen in der geschlechterblinden Forschung lange Zeit ebenso wenig die Rede war wie von Entwicklungen, die das Armutsrisiko von Frauen betreffen und im Folgenden im Zentrum stehen werden. So war in England die 1908 eingeführte Altersrente für über siebzigjährige Arme unabhängig von Erwerbsarbeit und Lohnhöhe, weil nicht beitragspflichtig (non-contributory), und dementsprechend waren seit 1909 drei Viertel ihrer Empfänger Frauen. Einer der Gründe dafür war, dass die englischen Sozialreformen nicht zum Zweck der Befriedung der Arbeiter­bewegung eingeführt wurden, sondern als Verbesserung der Armenfürsorge und des New Poor Law von 1834, in deren Kontext weibliche Armut schon den zeit­genössischen Gelehrten und Politikern ins Auge gefallen war.3 Die Geschlechterblindheit der Forschung spiegelte sich lange Zeit darin, dass sie sich auf solche Reformen konzentrierte, die in der Regel Männer und männliche Armut betrafen; weibliche Armut erschien allenfalls als Anhängsel. Ähnliches gilt für die Erforschung der gesellschaftlichen und politischen Kräfte, die sozialstaatliche Reformen forderten, beeinflussten, bewirkten oder einführten. Untersucht werden beispielsweise Männer der Arbeiterbewegung, konfessioneller und laizistischer Gruppierungen, progressive, linke, liberale oder konservative Parteien. Die klassischen Frauenbewegungen spielen hingegen keine Rolle, obgleich sie wichtige Akteurinnen waren, entscheidend beteiligt an den Initiativen und Debatten über diejenigen sozialstaatlichen Reformen, die im 1 Peter Flora u. Arnold J. Heidenheimer (Hg.), The Development of Welfare States in Europe and America, New Brunswick 1981, S. 27. »Sozialstaat« wird im Folgenden im selben Sinn verwandt wie »welfare state«. Zur Begriffsgeschichte vgl. José Harris, William Beveridge. A Biography, Oxford 1997, S. 452; Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge, MA 1998, S. 28 (dt. 2010); Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1989, Einleitung. 2 Vgl. Wolfram Fischer, Armut in der Geschichte, Göttingen 1982; Gerhard A. Ritter, Sozialpolitik im Zeitalter Bismarcks. Ein Bericht über neue Quelleneditionen und neue Literatur, in: HZ 265/3 (1997), S. 683–720, bes. S. 691–693; Ruth Köppen, Armut und Sexismus, Berlin 1994; Pat Thane (Hg.), The Origins of British Social Policy, London 1978. 3 Harris (wie Anm. 1), S. 391; Pat Thane, The Foundations of the Welfare State, London 19968, S. 84. Vgl. dies., Women and the Poor Law in Victorian and Edwardian England, in: HW 6 (1978), S.  29–51; dies., Non-Contributory Versus Insurance Pensions 1878–1908, in: dies. 1978 (wie Anm. 2), S. 84–106; Wolfgang J. Mommsen mit Wolfgang Mock (Hg.), Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850–1950, Stuttgart 1982, hier bes. die Beiträge von Derek Fraser, Michael E. Rose, Peter Hennock.

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Folgenden behandelt werden: solche, die Mütter und Mutterschaft betreffen und dann seit Ende der 1980er Jahre ebenfalls erforscht wurden. Seit dem späten 19. Jahrhundert waren die Kämpfe von Frauen um bürgerliche, politische und soziale Rechte, um Bürgerschaft und Wohlfahrt eng miteinander verbunden, und die Frauenbewegungen konzentrierten sich mehr als zuvor auf die Bedürfnisse und Interessen von Frauen der Unterschichten und auf weibliche Armut. Viele Frauen erstrebten das Wahlrecht, den Zugang zu Ämtern und die volle Bürgerschaft nicht nur, um Gleichheit mit den Männern zu erreichen (ein Ziel, das in Ländern, wo noch nicht einmal alle Männer wählen durften, kaum inspirierend war), sondern vor allem, um soziale Reformen und die Sozialpolitik zugunsten von Frauen zu beeinflussen. In vielen Ländern begannen Angehörige der Frauenbewegung, anfangs vornehmlich aus der Mittelschicht, weibliche Armut zu erforschen; gleichzeitig begannen auch arme bzw. Unterschichtfrauen, sich öffentlich zu äußern und über sich selbst in vorher ungekannter Weise zu sprechen, besonders in Briefen und Autobiographien. Diese Dokumente, die Bonnie Smith geradezu als einen Dialog zwischen Mittel- und Unterschichtfrauen analysiert hat,4 illustrieren, wie die weibliche Armut und ihre vielfältigen Bezüge zur Mutterschaft zunehmend ins Bewusstsein rückten und konzeptionalisiert wurden. So vertraten viele Frauen der Mittelschicht, unbeschadet ihrer Forderung nach dem Recht auf ein selbsterworbenes Einkommen, die Ansicht, Lohnarbeit könne und solle nicht gleichzeitig mit Mutterschaft praktiziert werden, zumindest nicht in deren früher Phase. Dagegen mussten viele Unterschichtfrauen unbezahlte Hausarbeit und Erwerbsarbeit miteinander in Einklang bringen, nicht weil sie sich danach gedrängt hätten, sondern aus wirtschaftlicher Not und Notwendigkeit (im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert lag in Europa, mit Ausnahme der Niederlande und Spaniens, der Anteil der Frauen an der erwerbstätigen Bevölkerung wesentlich höher als in den Vereinigten Staaten und Kanada).5 Weibliche Armut wurde durch spezifisch weibliche Lebensrisiken verschärft: Mutterschaft, besonders im Fall von Müttern mit mehreren Kindern, und das Fehlen oder der zeit­weilige oder dauerhafte Ausfall eines ehemännlichen Einkommens sowie der mangelnde 4 Bonnie G. Smith, On Writing Women’s Work, Working Paper HEC 91/7, European University Institute, Florenz 1991. Vgl. Margaret Lewelyn Davies (Hg.), Maternity: Letters from Working Women [1915], London 1978; dies. (Hg.), Life as We Have Known It, by Co-ope­ rative Working Women [1931], New York 1975; Arbeiterinnensekretariat des Deutschen Textilarbeiterverbands (Hg.), Mein Arbeitstag  – Mein Wochenende: 150 Berichte von Textilarbeiterinnen [1930], ND hg. v. Alf Lüdtke, Frankfurt a. M. 1990; Molly Ladd-Taylor (Hg.), Raising a Baby the Government Way: Mothers’ Letters to the Children’s Bureau, 1915–1932, New Brunswick 1986; Ida Blom, Barnebegrensning – synd eller sund fornuft?, Bergen 1980, S. 64–154; Annarita Buttafuoco, Le Mariuccine, Mailand 1985. 5 Hartmut Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880–1980, München 1987, S. 29; vgl. Ann Taylor Allen, Feminism and Motherhood in Western Europe, 1890–1970: The Maternal Dilemma, Basingstoke 2005, bes. Kap. 3; Fischer (wie Anm. 2).

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Zugang zu medizinischer Versorgung. Deshalb waren unverheiratete Mütter, erwerbstätige und nichterwerbstätige Ehefrauen von Arbeitern, Fabrikarbeiterinnen, Witwen und »eheverlassene« Frauen die wichtigsten Zielgruppen der mutterschaftsbezogenen Bemühungen der Frauenbewegung. Darüber hinaus zielten die feministischen Forderungen auf die Mutterschaft als solche, ungeachtet der aktuellen Armut und des Berufs- oder Zivilstandes. Argumentiert wurde, dass die Situation jener speziellen Gruppen von Müttern lediglich eine extreme Ausprägung einer allgemeinen Situation von Frauen darstelle, denn mit nur wenigen Ausnahmen seien sie alle tatsächliche oder potentielle Mütter, meist abhängig von einem Mann (mit oder ohne »Familienlohn«), der für ihren Unterhalt und den der Kinder zuständig war. Mutterschaft sei nicht nur ein »Sonderproblem« oder eine isolierte Frage, sondern ein alle Angehörigen des weiblichen Geschlechts verbindendes und für die Geschlechterbeziehungen wesentliches Element. Diese feministische Ausrichtung auf das Wohlergehen von Müttern stellte häufig sowohl die weibliche Armut als auch den männlichen Familienlohn bzw. die Abhängigkeit der Mütter in Frage, führte von der Forderung nach Rechten der in Armut lebenden Mütter zur Forderung nach den Rechten aller Mütter und wurde in der Forschung im Kontext von »politics of motherhood« gesehen.6 Später wurde daraus ein »-ismus« gemacht, und was zuvor auch »maternal feminism« hieß, wird nun als »Maternalismus«, »feministischer Maternalismus« oder »maternalistischer Feminismus« bezeichnet. Diese Begriffe, die erstmals um 1990 im Englischen auftauchten, sind bis heute im Deutschen wenig gängig, sind aber in der anglophonen und transnationalen Forschung binnen kurzem geradezu ideologisiert worden;7 6 Vgl. Jane Lewis, The Politics of Motherhood: Child and Maternal Welfare in England, 1900– 1939, London 1980. 7 In der Tat ist »maternalism« ein »very slippery concept« geworden (so Jane Lewis, Women’s Agency, Maternalism and Welfare, in: G&H 6/1 [1994], S. 117–123, hier S. 120), zumal an­ gesichts des Umstands, dass große Teile des neueren Feminismus die Mutterschaft als Emanzipationsbremse sehen. Der Begriff wurde Ende der 1980er Jahre geprägt; vgl. Seth Koven u. Sonya Michel, Gender and the Origins of the Welfare State, in: Radical History Review 43 (1989), S. 112–119; dies., Womanly Duties: Maternalist Politics and the Origins of Welfare States in France, Germany, Great Britain, and the United States, 1880–1920, in: AHR 95/4 (1990), S. 1076–1108; ders. u. dies. (Hg.), Mothers of a New World: Maternalist Politics and the Origins of the Welfare States, New York 1993; bes. in der Einleitung wird »maternalism« als Ideologie, Diskurs, Rhetorik konzipiert. In dem von Pat Thane und mir hg. Band (Maternity 1991) und dem zugrundeliegenden Forschungsprojekt wurde der Begriff so gut wie nicht benutzt; weder für das Projekt noch für den vorliegenden Essay wäre die Definition akzeptabel gewesen, die z. B. Molly Ladd-Taylor konstruiert: Mother-Work. Wo­men, Child Welfare, and the State, 1890–1930, Urbana, IL 1994, S. 3. Vgl. auch die Rubrik Maternalism as a Paradigm, in: JWH 5/2 (1993), S. 95–130. Zu dem aus den Fugen geratenden neuesten Gebrauch (»maternalist« und »maternalism« mit zahllosen Beiworten betrifft alles, was real, potentiell und virtuell mit Müttern zu tun hat, und sei zugleich eine »analytical category«) vgl. Marian van der Klein u. a. (Hg.), Maternalism Reconsidered. Motherhood, Welfare and Social Policy in the Twentieth Century, New York 2012.

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hier sollen sie, soweit nötig, in ihrem ursprünglichen, bescheideneren Sinn verwandt werden. Die Frauenbewegungen kämpften somit um eine Art von Sozialstaat und eine Art von Bürgerschaft, welche nicht nur diejenigen Rechte und Bedürfnisse anerkennen sollte, die den Lebensrisiken männlicher Lohnabhängiger entstammten, sondern auch diejenigen von Müttern, ob erwerbstätig oder nicht. Sie initiierten und prägten wichtige Sozialgesetze, wenngleich ihre weitgespannten Hoffnungen und Forderungen nie ganz erfüllt wurden. In manchen Ländern agierten sie ohne das Frauenwahlrecht, wie im Fall der italienischen Mutterschaftsversicherung (cassa di maternità) von 1910, eine der ersten sozialstaatlichen Maßnahmen in Italien, in anderen Ländern mit Hilfe von Wahlrecht und Parlament. So war in den Vereinigten Staaten die Verabschiedung des SheppardTowner Maternity and Infancy Act (1921), des ersten sozialstaatlichen Gesetzes mit bundesweiter Geltung, das primäre Ziel und der früheste politische Erfolg der gerade wahlberechtigt gewordenen Frauen. In anderen Ländern betraf das Streben nach politischer Gleichheit auch die Forderung nach bezahltem Mutterschaftsurlaub für erwerbstätige Frauen vor und nach der Entbindung, darüber hinaus nicht selten den Anspruch auf ein universelles und staatlich subventioniertes Mutterschaftsgeld (in Großbritannien nannte man es motherhood endowment), gedacht als partielle Umverteilung des Einkommens von Männern auf Frauen. Unter dem Druck der diversen sozialen und politischen, männlichen wie weiblichen Interessengruppen wurde daraus später der Vorschlag von »Kinderbeihilfen«, konzipiert als Umverteilung des Einkommens von Kinderlosen auf diejenigen, die Kinder versorgten. Als schließlich in den demokratischen Ländern Europas solche child allowances, family allowances oder allocations familiales per Gesetz eingeführt wurden – in Frankreich in den 1930er Jahren, in Großbritannien, Norwegen und Schweden kurz nach dem Zweiten Weltkrieg –, war es großenteils dem Druck von Frauen zuzuschreiben, dass sie an die Mütter bezahlt wurden; doch bei ihrer Einführung in den Diktaturen der Zwischenkriegszeit, wo Frauen (wie auch Männer) ihre politischen Rechte verloren hatten, waren sie für die Väter bestimmt. Im Hinblick auf die demokratischen Staaten erscheint es wichtig, die Worte der britischen Feministin Vera Brittain in Erinnerung zu rufen (auch wenn heute nur wenige Feministinnen mit ihr übereinstimmen würden), mit denen sie im Jahr 1953 argumentierte, dass die »Frauenfrage« zum Kern des Sozialstaats geworden sei: »In ihm sind die Frauen selbst zum Ziel geworden und nicht ein bloßes Mittel für die Ziele von Männern […]. Der Welfare State war sowohl die Ursache als auch die Folge des zweiten großen Wandels, durch den die Frauen innerhalb von dreißig Jahren von der bloßen Konkurrenz mit Männern zu einer neuartigen Anerkennung ihres eigenen und eigentümlichen Werts als Frauen vorangeschritten sind.«8 Der »eigene und eigentümliche« Wert bezog sich großenteils auf ihre Leistungen als Mütter. In dem langen Kampf um die Würde von Mutterschaft, die Rechte und 8 Vera Brittain, Lady Into Woman, London 1953, S. 224.

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das Wohlergehen von Müttern ist die Kontinuität vieler Ideen in Zeit und Raum ebenso eindrucksvoll wie ihre Veränderung. In der Entstehung der Sozialstaaten und in den Auseinandersetzungen über die Forderun­gen von Frauen und anderen Interessengruppen wurden mutterschaftsbezogene Reformen zuweilen mehr als paternalistische Beschützung denn als Rechte von Müttern verstanden. Kaum jemals akzeptierten führende männliche Politiker die Forderung nach einer umfassenden und konsequenten Anerkennung des ökonomischen, sozialen und politischen Werts von Frauenarbeit und Mutterschaft.9 Stattdessen wurde die Forderung einerseits mit einer kleinteiligen Gesetzgebung für »besondere Problemgruppen« beant­wortet und in unterschiedlichste rechtliche Zusammenhänge inkorporiert (Gewerbe­ ordnung, Krankenversicherung, Armenfürsorge, Familienrecht, Einkommensteuergesetz usw.); andererseits mit Reformen, in denen die Bedürfnisse von Müttern und Frauen unsichtbar blieben und hinter einer scheinbar geschlechts­ neutralen Gesetzessprache verschwanden, die sich auf Kinder und Familien, oft auch auf Väter als »Familienoberhaupt« richtete. Der erste der folgenden drei Abschnitte behandelt Themen, Argumente und Forderungen, welche die Frauenbewegungen in verschiedenen Ländern Europas und Nordamerikas auf­ warfen und die das Verhältnis von weiblicher Armut, Mutterschaft und Staat betrafen – ein Aspekt dessen, was die Amerikanerin Katherine Anthony im Jahr 1915 die »dollars for women movement« nannte, neben der Bewegung für »votes for women«.10 Im zweiten Abschnitt wird die frühe Phase der auf die Wohlfahrt von Müttern ausgerichteten Gesetzgebung bis zum Ersten Weltkrieg umrissen. Der dritte gilt weiteren Stimmen von Frauen zu diesem Thema sowie der Gesetzgebung der Zwischenkriegszeit und der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Frauenbewegungen, maternalistischer Feminismus und Rechte von Müttern 1890–1920 Ein zentrales Thema der feministischen Debatte war die Tätigkeit, die Frauen als Mütter verrichteten, und viele Feministinnen behaupteten, sie gehöre nicht etwa dem Reich der »Natur« an, sondern sei eine Arbeit, wenn auch eine ganz besondere und besonders bedeutende. Im Jahr 1904 griff die deutsche Feministin Käthe Schirmacher, prominentes Mitglied des 1899 gegründeten Verbands Fortschrittlicher Frauenvereine, scharf die Nationalökonomie an, weil sie als Wissenschaft und in ihrer Praxis eben diese Arbeit missachte. Auf einer öffentlichen Veranstaltung erklärte sie, dass Hausarbeit »wirkliche Arbeit« sei, »produktive Arbeit«, die »Werte produziert«, erhält und verteilt, auch wenn »sie nach 9 Eine partielle Ausnahme sind Lord Beveridge und der »Beveridge Report« von 1942; vgl. auch Harris (wie Anm. 1), S. 391–398. 10 Katherine Anthony, Feminism in Germany and Scandinavia, New York 1915, S. 53.

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nichts aussieht«; vor allem gebe es keine »›produktivere Arbeit‹ als die der Mutter«, die »ganz allein den Wert aller Werte, den denkenden und handelnden Wert aufbaut, den man ein Menschenwesen nennt.« Ausführlich beschrieb sie die harte Arbeit der Frauen im Haushalt und verwies darauf, dass dieselbe Arbeit bezahlt werde, sobald sie auf dem Arbeitsmarkt stattfinde. Überdies sei »die häusliche Frauenarbeit« die »conditio sine qua non der außerhäuslichen Berufsarbeit des Mannes«; denn er und sein Arbeitgeber hingen von ihr ab, so dass es den Anschein habe, »dass der Mann für zwei arbeitet, während er doch nur für zwei einstreicht.« Deshalb müsse sie »gegen diese Ausbeutung der Hausfrau und Mutter protestieren« und argumentierte, dass es für Frauen nicht notwendig sein sollte, um der Emanzipation willen dieser Ausbeutung eine zweite hinzuzufügen, nämlich eine schlecht bezahlte Erwerbstätigkeit. Vielmehr schulde die Gesellschaft den Frauen eine soziale, politische und wirtschaftliche Anerkennung ihrer häuslichen Arbeit.11 Schirmacher stand mit dieser Analyse, auf deren Grundlage sie die Anerkennung des Werts und gar die Bezahlung der häuslichen Arbeit forderte, nicht allein. Natürlich gab es auch manche Kritik; so tadelten einige Mitglieder ihres Verbands die Forderung als übermäßig »individualistisch«.12 Schirmacher war Romanistin (sie hatte den französischen Begriff »féminisme« erstmals auf Deutsch eingeführt), hatte in Frankreich gelebt, wo sie in den 1890er Jahren ähnlichen Argumentationen begegnet war, und hatte ihre Ideen zuerst in französischer Sprache veröffentlicht. In Frankreich war die Arbeit von Müttern, ihre Armut, ihre zivilrechtliche und ökonomische Abhängigkeit vom Ehemann und ihre noch schwierigere Situation, wenn sie keinen Ehemann hatten, zu einem verbreiteten und dauerhaften Thema der Frauenbewegung geworden. Auf dem Internationalen Kongress für Frauenrechte in Paris wurde 1878 gefordert, die Gemeinden sollten arme Frauen nach der Entbindung für einen Zeitraum von achtzehn Monaten unterstützen. 1892 betonte die erste Frauenkonferenz, die sich selbst als »feministisch« bezeichnete, die Dringlichkeit einer protection sociale à toutes les mères. Im Jahr 1885 kandidierte Hubertine Auclert, unermüdliche Kämpferin für das Frauenwahlrecht und die erste Frau, die den Begriff féministe für sich selbst benutzte, außergesetzlich für die Parlamentswahl. Ihr Wahlprogramm sah vor, dass an die Stelle des gegenwärtigen »MinotaurusStaats« (État minotaure)  ein »Mutterstaat« (État mère de famille)  treten solle, zu dessen Aufgaben die Versorgung der Kinder zählen müsse. 1899 trat sie für ein Mutterschaftsgeld ein, das durch eine von den Männern zu zahlende Vaterschaftssteuer finanziert werden solle, und einige Jahre später für die Bezahlung 11 Käthe Schirmacher, Die Frauenarbeit im Hause, ihre ökonomische, rechtliche und soziale Wertung [1905], Leipzig 1912, S. 3–8; Teilabdr. in: Gisela Brinker-Gabler (Hg.), Frauenarbeit und Beruf, Frankfurt a. M. 1979. Vgl. Irene Stoehr, Housework and motherhood: debates and policies in the women’s movement in Imperial Germany and the Weimar Republic, in: Maternity 1991, S. 213–232. 12 Bericht in der Zeitschrift der »Radikalen«: Die Frauenbewegung Bd.  XI/20 (15.10.1905), S. 153–155.

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von Müttern aufgrund ihrer »für den Staat unerlässlichen Dienste«. Als Auclert sich 1910 erneut als Parlamentskandidatin präsentierte, griff sie zusammen mit anderen Frauen die Forderung wieder auf.13 Auf dem Internationalen Feministischen Kongress, der 1896 in Paris stattfand, verkündete die Sozialistin Léonie Rouzade: »Mutterschaft ist die fundamentale soziale Funktion und verdient es, vom Staat finanziert zu werden«; sie verlangte, dass der Kongress in dieser Sache eine Petition an das Parlament richte.14 Das Diktum von Mutterschaft als einer »fonction sociale« und – somit – als Arbeit, das offenbar erstmals 1892 von Paul Lafargue und anderen Sozialisten in der französischen Deputiertenkammer benutzt wurde und auch damals schon die Forderung nach einer »caisse de la maternité« begründete, sollte – nicht ohne eine Vielfalt von Bedeutungen – eine große Zukunft haben.15 Erneut tauchte die Frage auf dem Internationalen Kongress zur Lage und zu den Rechten der Frauen in Paris im Jahr 1900 auf. Debattiert wurde über das Recht lediger Mütter auf Erhebung einer Vaterschaftsklage, um den Vater zur Unterhaltszahlung für das Kind zu zwingen: die recherche de la paternité, die durch Napoleons Code Civil 1804 verboten worden war. Maria Pognon, Präsidentin des Kongresses, argumentierte, dass der Vater, der nicht für sein Kind zahlen wolle, nicht dazu gezwungen werden sollte; statt dessen solle die Regierung einen Fonds zur Unterstützung von Kindern schaffen, der für alle Frauen, ob verheiratet oder nicht, zugänglich sein müsse und der sie von den Vätern ihrer Kinder unabhängig machen würde. Die Konferenz beschloss die Forderung, in allen »zivilisierten« Ländern eine caisse publique de la maternité zu schaffen. Blanche Edwards-Pilliet berichtete über die doppelte Arbeitsbelastung von Fabrikarbeiterinnen innerhalb und außerhalb des Haushalts; wegen der »enormen Bürde der Mutterschaft« müsse die Gesellschaft ihre Bedürfnisse finanziell abdecken. Beschlossen wurde, dass erwerbstätige Frauen ein Recht auf bezahlten Mutterschaftsurlaub hätten. Diese Frage und, allgemeiner, die Anerkennung der Mutterschaft als gesellschaftliche Aufgabe blieben auch weiterhin auf der Tagesordnung des Conseil National des Femmes Françaises (gegründet 1901) 13 Auclert zit. in: Anne Cova, French Feminism and Maternity: Theories and Politics, 1890– 1918, in: Maternity 1991, S. 118–137, hier S. 123; Hubertine Auclert, La citoyenne. Articles de 1881 à 1891, hg. v. Édith Taïeb, Paris 1982, S. 41, 45; Steven C. Hause, Hubertine Auclert, The French Suffragette, New Haven 1987, S. 241 (Auclerts Wahlprogramm 1910). Von Anne Cova jetzt auch: Maternité et droits des femmes en France (XIXe-XXe siècles), Paris 1997, S. 105–109; dies., Féminismes et néo-malthusianismes sous la IIIe République: »La liberté de la maternité«, Paris 2011; außerdem: Claire G. Moses, French Feminism in the 19th Century, Albany 1984, S. 207 f.; Laurence Klejman u. Florence Rochefort, L’Égalité en marche. Le féminisme sous la Troisième République, Paris 1989, S. 260. 14 Zit. in: Wynona H.  Wilkins, The Paris International Feminist Congress of 1896 and its French Antecedents, in: North Dakota Quarterly 43/4 (1975), S.  5–28, hier S.  23; Cova,­ Maternité (wie Anm. 13), S. 88 f. 15 Vgl. Cova, ­Maternité (wie Anm. 13), S. 60 f. Zur Zirkulation des Diktums vgl. z. B. Marie Stritt, Die Mutter als Staatsbürgerin, in: Adele Schreiber (Hg.), Mutterschaft. Ein Sammelwerk für die Probleme des Weibes als Mutter, München 1912, S. 697.

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und der Union Française pour le Suffrage des Femmes (gegründet 1909). Marguerite Durand, Begründerin und Herausgeberin der feministischen Tages­ zeitung »La Fronde«, setzte sich für die Bezahlung der Hausarbeit und für eine Mutterschaftsversicherung ein, zusätzlich zu der Notwendigkeit gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit außerhalb des Haushalts. Nelly Roussel, die ihren Feminismus mit Sozialismus und Neomalthusianismus kombinierte, plädierte öffentlich für Geburtenkontrolle, proklamierte im Jahre 1904 einen Gebärstreik (»grève des ventres«), beschwor die Schmerzen der Geburt und unterstrich die fonction sociale: »Unter allen sozialen Aufgaben ist die fundamentalste, er­ habenste, mühsamste und notwendigste die einzige, für die nie ein Lohn gewährt wurde.« Roussel postulierte das »Recht auf Mutterschaft« und forderte deren Anerkennung als wahrhafte Arbeit sowie einen »gerechten Lohn für die ehrenvolle Arbeit der Mutter«. Ein salaire de la maternité sollte es den Frauen, die dies wünschten, erlauben, sich ganz ihren Kindern zu widmen.16 Ähnliche Ideen und Vorschläge tauchten in allen westlichen Frauenbewegungen um die Jahrhundertwende auf, doch die französische Version scheint als erste aufgekommen zu sein, war am prononciertesten formuliert und hatte zahlreiche Varianten. In allen Ländern kamen solche Vorschläge aus den Reihen sowohl der radikalen, der gemäßigten als auch der sozialistischen Frauen (wenn auch nicht alle Frauen der jeweiligen Gruppierung sie befürworteten); viele von ihnen kannten einander persönlich. In Norwegen war Katti Anker Møller eine ihrer bekanntesten radikalen Verfechterinnen. Sie propagierte einen Gebärstreik sowie die freiwillige Mutterschaft, und ihr aktives Engagement in der Politik begann 1900 mit der Forderung nach staatlichen Beihilfen für ledige Mütter. Schon bald weitete sie diese Forderung aus und schloss sämtliche Mütter ein, und um 1918 hatte sie eine Theorie entwickelt, der zufolge Mutterschaft als Arbeit anerkannt, »entlohnt« und zu der am besten bezahlten Arbeit von Frauen werden sollte.17 Die schwedische Feministin Ellen Key, die in ihrem Heimatland weniger einflussreich war als auf internationaler Ebene, sah Mutterschaft als die vornehmste Berufung von Frauen, und diese sei vom Staat durch Bezahlung zu unterstützen.18 In Italien war die Aufwertung der Mutterschaft als ein wichtiger Beitrag der Frauen zur Gesellschaft und zur erst kürzlich ge16 Nelly Roussel, L’Éternelle sacrifiée [1906], hg. v. Daniel Armogathe u. Maïté Albistur, Paris 1979, S. 55; die übrigen Zitate: Cova, Feminism (wie Anm. 13), S. 127 f.; dies., Féminisme et natalité: Nelly Roussel (1878–1922), in: HEI 15 (1992), S. 663–672, hier S. 666; Karen Offen, Depopulation, Nationalism, and Feminism in Fin-de-Siècle France, in: AHR 89 (1984), S. 648–676, hier S. 673. 17 Ida Blom, Voluntary Motherhood 1900–1930: Theories and Politics of  a Norwegian Feminist in an International Perspective, in: Maternity 1991, S. 21–39. 18 Cheri Register, Motherhood at Center: Ellen Key’s Social Vision, in: WSIF 5 (1982), S. 599– 610; vgl. jetzt auch Tiina Kinnunen, »Werde, die du bist« – Feminismus und weibliches Lebensgefühl Anfang des 20. Jahrhunderts. Beitrag zu: Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009), URL: http://www.europa. clio-online.de/2009/Article=413.

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einten Nation ein zentrales Thema in der Frauenbewegung, und seit etwa 1890 kämpften viele feministische Gruppierungen  – meist solche mit sozialistischfeministischer Ausrichtung – für eine cassa di maternità, eine Mutterschaftsversicherung für Fabrikarbeiterinnen. Sie sollte durch die Beiträge von Arbeitereltern (für ihre Töchter), der Arbeitgeber, der Regierung oder aller zusammen finanziert werden. Das erste konkrete Projekt legte 1894 Paolina Schiff im Auftrag der Mailänder Lega per la Tutela degli Interessi Femminili (Verein zum Schutz der Fraueninteressen) vor, und bald wurde die Forderung nach einem nationalen Mutterschaftsfonds von der Unione Femminile Nazionale aufgegriffen. Auf deren erstem Nationalen Kongress für praktische Frauenaktivitäten im Jahr 1908 schlugen Nina Sierra und Bianca Arbib eine Versicherung vor, die es Frauen, insbesondere der Arbeiterklasse, ermöglichen sollte, sich während der Jahre der »aktiven Mutterschaft« ihrer Familie zu widmen und dafür bezahlt zu werden. Überdies war man sich weitgehend einig, dass – in den Worten der Italo-Tschechin Bertha Novich – »die Arbeit der Mutterschaft […] eine wahrhafte gesellschaftliche Arbeit« sei.19 Auch in Deutschland wurde das Modell der obligatorischen Mutterschaftsversicherung diskutiert. Doch hier war das Problem nicht der Mutterschaftsurlaub als solcher, da schon 1878 (ein Jahr nach dem ersten derartigen Gesetz in Europa, das in der Schweiz erging) die Gewerbeordnung eine (obligatorische)  Mutterschutzfrist von drei Wochen nach der Entbindung für Fabrikarbeiterinnen vorsah und das Bismarcksche Krankenversicherungsgesetz von 1883 ein bescheidenes Wochengeld für selbstversicherte Arbeiterinnen einschloss (ein ähnliches Gesetz folgte in Österreich 1888). Hier forderten Frauen vielmehr eine Verlängerung der Beurlaubung, die Einbeziehung von Erwerbstätigen außerhalb der Industrie und vor allem die Anhebung des Wochengelds auf  – mindestens  – die volle Lohnhöhe. Einige Feministinnen setzten sich für eine eigenständige Mutterschaftsversicherung ein, die nicht, wie die Kranken­versicherung, Schwangerschaft und Mutterschaft als Krankheit einstufen würde. 1897 und 1901 vertrat Lily Braun, Feministin und Sozialistin, als erste öffentlich eine eigenständige Mutterschaftsversicherung; sie verstand sie als ein Mittel zur Befreiung der Frauen von Armut und wenigstens zeitweise von der Fabrikarbeit. Aus Steuern finanziert, sollte diese Versicherung die Bedürfnisse der Frauen vier Wochen vor und acht Wochen nach der Entbindung decken. Auch sie begründete ihre Forderung mit dem Konzept: »Mutterschaft 19 Annarita Buttafuoco, Motherhood as a Political Strategy: The Role of the Italian Women’s Movement in the Creation of the Cassa Nazionale di Maternità, in: Maternity 1991, S. 178– 195; dies., Le origini della Cassa Nazionale di Maternità, in: dies., Questioni di cittadinanza. Donne e diritti sociali nell’Italia liberale, Siena 1997, S. 159–196, Zitat S. 162. Die Autorin, damals die bedeutendste Vertreterin der italienischen Frauengeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, verstarb ein Jahrzehnt nach Abschluss des Projekts; zu dessen Rolle innerhalb ihrer Forschungen vgl. Elisabetta Vezzosi, Itinerari della ricerca storica. Le politiche sociali nella dimensione internazionale, in: Annarita Buttafuoco: Ritratto di una storica, hg. v. Anna Rossi-Doria, Rom 2001, S. 77–92.

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ist eine soziale Funktion.«20 Ihr Vorschlag war ein Kompromiss zwischen ihrem utopischen Ideal – Muttergeld für einen Zeitraum von eineinhalb Jahren – und der Notwendigkeit, den außerhäuslichen Arbeitsplatz zu erhalten. In der Folgezeit verlangten einige radikale, gemäßigte und sozialistische Frauen eine Mutterschaftsversicherung, so z. B. die jüdischen Feministinnen Alice Salomon und Henriette Fürth. Der Jüdische Frauenbund stellte die Würde und die Auf­wertung der Mutterschaft ins Zentrum seiner Theorien und Aktivitäten.21 Im Jahr 1905 hielt der Allgemeine Deutsche Frauenverein in seinem Programm fest: »Die Arbeit der Frau in der Erfüllung dieses Berufs ist wirtschaftlich und rechtlich als vollgültige Kulturleistung zu bewerten.« Helene Lange, Präsidentin des Vereins, erklärte allerdings, es scheine ihr »heute als verfrüht«, den Wert jener Arbeit in präzisen Zahlen zu messen, da eine solche Auffassung »noch kein Bestandteil des allgemeinen sittlichen Bewusstseins« sei.22 In Deutschland gingen nur wenige Feministinnen so weit, eine staatliche Unterstützung für alle Mütter zu fordern. Anita Augs­purg war eine von ihnen, und 1902 war Helene Stöcker, Mitgründerin des Bunds für Mutterschutz, fasziniert von der Idee einer »pekuniären Unabhängigkeit« von Hausfrauen und Müttern. 1909 wandte sich Schirmacher gegen die Differenz zwischen den Einkommen von Männern und Frauen; der zusätzliche Verdienst von Männern, der gewöhnlich mit ihrer Rolle als Ernährer gerechtfertigt wurde, stelle einen »Geschlechtszuschlag« – sie hatte den Begriff von Max Weber übernommen – oder »Familienzuschlag« dar, der eigentlich den Ehefrauen zustehe und an diese ausbezahlt werden müsse. Besonders beanstandete sie, dass die »Geschlechtsprämie« auch an ledige Männer gezahlt wurde: »Seinem Erwerb wird der Verdienst der legitimen Frau zugerechnet, und seine Entlohnung steigt, damit er sich die illegitime Frau kaufen kann; der ›Familienzuschlag‹ beruht auf einem doppelten Raub an der Frau.«23 In Großbritannien plädierte Alys Russell (die erste Frau von Bertrand) schon 1896 für ein »payment of motherhood«, als sie August Bebels Behauptung kri20 Lily Braun, Die Frauenfrage, Leipzig 1901, S.  547; dies., Die Mutterschaftsversicherung, Berlin 1906. Vgl. Stoehr (wie Anm. 11), S. 214–217; Alfred G. Meyer, The Feminism and Socialism of Lily Braun, Bloomington 1985, bes. S. 125, 137; Teresa Kulawik, Wohlfahrtsstaat und Mutterschaft. Schweden und Deutschland 1870–1912, Frankfurt a. M. 1999, Kap. 3 u. 5; Gerda Neyer, Die Entwicklung des Mutterschutzes in Deutschland, Österreich und der Schweiz von 1877 bis 1945, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997, S. 744–758; Karin Hauser, Die Anfänge der Mutterschaftsversicherung. Deutschland und Schweiz im Vergleich, Zürich 2004. 21 Vgl. Marion Kaplan, Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland: Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904–1938, Hamburg 1981, bes. Kap. 3. 22 Helene Lange, Moderne Streitfragen in der Frauenbewegung, in: Die Frau 13/2 (1905), S. 69– 80, hier S. 73. 23 Käthe Schirmacher, Wie und in welchem Maße läßt sich die Wertung der Frauenarbeit steigern, Leipzig 1909, S. 12 (Teilabdr. in Brinker-Gabler, wie Anm. 11). Die übrigen Zitate in: Stoehr (wie Anm. 11); vgl. Max Weber, Zur Psycho-Physik der industriellen Arbeit, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 28 (1909), S. 268, 722.

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tisierte, nur der Sozialismus werde die Frauen emanzipieren. Sie kritisierte ihn, weil Bebel Frauen eher als Industriearbeiterinnen denn als Mütter sah und die »Frauenfrage« nur als ein Anhängsel der Arbeiterfrage; aus ihrer Sicht waren höhere Löhne, die ökonomische Anerkennung der Mutterschaft und die gesetzliche Gleichstellung von Männern und Frauen in einer »individualistisch« orientierten Gesellschaft sehr wohl möglich, nicht nur in einer kollektivistischen.24 Zur gleichen Zeit entstand in Großbritannien eine eindrucksvolle Mütterbewegung.25 Bevor das Problem umfassender diskutiert wurde, verging jedoch ein weiteres Jahrzehnt. Unter den ersten Gruppen, die es erneut in Angriff nahmen, war die Women’s Labour League (die Frauengruppe der Labour Party); im Jahr 1907 verlangte sie eine finanzielle Unterstützung für bedürftige Mütter, »damit sie ihre Kinder versorgen können, ohne zusätzlich einer Lohnarbeit nachgehen zu müssen.« Zwei Jahre später diskutierte sie ein staatliches endowment of motherhood  – dieser Begriff, der bald die Debatte beherrschen sollte, war um 1904 aufgekommen – und die Frage, ob es nur eine Unterstützung bei der Entbindung oder eher ein permanentes Einkommen für Mütter sein sollte.26 Andere Frauenorganisationen wandten sich gegen »die beklagenswerte Tendenz, der Arbeit einer Ehefrau und Mutter in ihrem Haushalt jeglichen Geldwert abzusprechen.«27 Mutterschaftsgeld oder Mütterrenten (­ mothers’ pensions sollten meist an verwitwete und besonders bedürftige Mütter gehen) wurden vor allem von der Fabian Women’s Group und von der Women’s Cooperative Guild propagiert; die Mitglieder der letzteren gehörten größtenteils der Arbeiterschaft an. Die erhofften Zuwendungen galten als Mittel zur Förderung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Frauen, zur Anerkennung des sozialen Wertes der Kindererziehung und zur Verbesserung der Lage von Kindern bzw. – wie sich der Fabianer Harben ausdrückte – zur Abwendung des »holocaust of little children«. Im Jahr 1914 argumentierte Mabel Atkinson, Wirtschaftswissenschaftlerin und ebenfalls Fabianerin, dass Frauen der Arbeiterklasse – anders als die der Mittelschichten – sich keineswegs von der Arbeit ausgeschlossen fühlten und nicht etwa »das Recht auf Arbeit verlangten, sondern Schutz gegen die Bürde der endlosen Plackerei.« Sie sah das Problem als ein eminent politisches: Das »staatliche Mutterschaftsgeld wird immer deutlicher als das ultimative Ideal der feministischen Bewegung erkannt«, denn »kein act of citizenship ist fundamentaler« als das Gebären und Aufziehen eines neuen 24 Zit. in: Carol Dyhouse, Feminism and the Family in England 1880–1939, Oxford 1989, S. 191 f. 25 Vgl. Frank Prochaska, A Mother’s Country: Mothers’ Meetings and Family Welfare in Britain, 1850–1950, in: History 74 (1989), S. 379–399. 26 Pat Thane, Visions of Gender in the Making of the British Welfare State: The Case of Women in the British Labour Party and Social Policy, 1906–1945, in: Maternity 1991, S. 93–118, Zitat S. 108. 27 Women’s Industrial Council (1911), zit. in: Jane Lewis, Models of Equality for Women: The Case of State Support for Children in 20th-Century Britain, in: Maternity 1991, S. 73–92, Zitat S. 79.

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Bürgers; es solle für den Zeitraum gezahlt werden, in dem die Frauen sich dieser Tätigkeit widmeten.28 Während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg entwickelten Beatrice Webb und besonders Eleanor Rathbone eine ökonomische Theorie des Mutterschaftsgelds, die auf einer radikalen feministischen Kritik am männlichen Familienlohn und an der traditionellen Einkommensdifferenz zwischen Männern und Frauen basierte. »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« außerhalb des Hauses sollte durch Mutterschaftsgeld ergänzt werden, gänzlich unabhängig vom traditionellen Lohnsystem. Es war einerseits als eine »Entlohnung der Dienste von Frauen« gedacht, andererseits als ein Mittel gegen die negativen Wirkungen der Politik des »gleichen Lohns für gleiche Arbeit«: Denn mit der Berufung auf diese Formel hatten die Gewerkschaften zuweilen ver­ hindert, dass Frauen – mit ihrem geringeren Lohn – männliche Arbeitsplätze übernahmen, und sie hatten dazu beigetragen, Frauen auf »ungleiche« Arbeit festzulegen.29 Zwei Jahre vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten präsentierte die Amerikanerin Katherine Anthony die hier umrissenen europäischen Per­ spektiven den amerikanischen Feministinnen. Sie beurteilte »die ökonomische Wertung der Mutterschaft« und »das Prinzip staatlich subventionierter Mutterschaft« als »eines der bedeutendsten Kapitel in der Geschichte des sich wandelnden Status der Frauen.« Auch wenn die Zahlungen anfangs nur minimal seien, so seien sie doch entscheidend, weil sie einen »bezahlten Urlaub« von der Erwerbsarbeit sicherten, weil sie »nicht vom Ehemann, sondern aus einer anderen Quelle« stammten sowie den Weg zur Unabhängigkeit von Müttern und somit zu grundlegenden Veränderungen der Geschlechterbeziehungen ebneten. In dieser Perspektive untersuchte sie die Armut amerikanischer Mütter der Arbeiterklasse, die gezwungen waren, zusätzlich zu ihren Familienaufgaben einen Job zu übernehmen, und schrieb eine Einleitung zur amerikanischen Ausgabe des Berichts, den das englische Family Endowment Committee, von Eleanor Rathbone gegründet, im Jahr 1917 vorgelegt hatte.30 Obwohl nur wenige Vertreterinnen des amerikanischen Feminismus Anthonys Forderung nach Anerkennung und Bezahlung der Arbeit von Müttern explizit aufgriffen, stand sie doch 28 Mabel Atkinson, The economic foundations of the Women’s Movement, London 1914 (Fabian Tract Nr.  175), S.  21, zit. in: Dyhouse (wie Anm.  24), S.  93. Das vorige Zitat: Henry D. Harben, The Endowment of Motherhood, London 1910 (Fabian Tract Nr. 149), S. 4. 29 Vgl. Lewis (wie Anm.  27), S.  74–81; Susan Pedersen, Gender, Welfare, and Citizenship in Britain during the Great War, in: AHR 95 (1990), S. 983–1006; dies., Eleanor Rathbone and the Politics of Conscience, New Haven 2004, Kap. II u. III; Dyhouse (wie Anm. 24), S. 65 f., ­96–104; Suzy Fleming, Einl. zu: Eleanor Rathbone, The Disinherited Family: A Plea for the Endowment of the Family [London 1924], ND Bristol 1986; Mary Stocks, The Case for Family Endowment, London 1927, Kap. III. Vgl. auch Sonya O. Rose, Gender antagonism and class conflict: exclusionary strategies of male trade unionists in 19th-century Britain, in: SH 13/2 (1988), S. 191–208. 30 Anthony (wie Anm. 10), S. 117, 127 (Zitate); dies., Mothers Who Must Earn, New York 1914; dies., Vorwort zu: The Endowment of Motherhood, New York 1920.

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nicht allein. Schon die ältere und eher konservative Frauenklub-Bewegung und beispielsweise der mitgliederstarke Christliche Mäßigkeitsverband der Frauen (Women’s Christian Temperance Union) hatten die häuslichen Pflichten von Frauen ins Zentrum ihrer Aktivitäten gestellt, auf ihrer öffentlichen Bedeutung bestanden und gelegentlich auch gefordert, dass jene Pflichten »zu den bezahlten Industrien der zivilisierten Nationen gehören« sollten.31 Einige radikale Feministinnen des 20. Jahrhunderts, etwa Crystal Eastman, die auch öffentlich für Geburtenkontrolle eintrat, vertraten die Meinung, dass Kindererziehung »von der Welt als Arbeit anerkannt werden muss und eine präzise wirtschaftliche Kompensation verdient – und nicht nur das ›Recht‹ der Erzieherin, von einem Ehemann abhängig zu sein«.32 Neben diesen konservativen und radikalen Stimmen verfochten drei weitere feministische Gruppierungen ähnliche Ansprüche: Sozialreformerinnen der Progressive Era (ca. 1890–1930) wie Jane Addams und Sophonisba Breckinridge; die Feministinnen, die das Kinderamt (Children’s Bureau) im Bundesarbeitsministerium gründeten (1912) und leiteten, vor allem Lillian Wald, Florence Kelley, Julia Lathrop und Grace Abbott; schließlich die Mütterbewegung seit den 1890er Jahren, die unter dem Namen Nationaler Mütterkongress (National Congress of Mothers) organisiert war. Hauptsächlich dem letzteren war die Entstehung einer breiten Bewegung zu verdanken, die Renten für bedürftige Mütter forderte. Einige ihrer Befürworterinnen verteidigten die Mütterrenten mit der Begründung – und ihre Gegner und Gegnerinnen attackierten sie mit eben diesem Argument –, dass sie nicht eine karitative Liebesgabe seien, sondern eine Entlohnung für geleistete Arbeit, und somit als Einfallstor für ein universelles Mutterschaftsgeld wirken würden. Noch wichtiger war jedoch, dass Frauen begannen, die Renten als ihr Recht anzusehen.33 Es braucht kaum eigens betont zu werden, dass – obgleich viele Frauen in vielen Ländern für die Würde der Mutterschaft, ihre Anerkennung als Arbeit und ihre universelle Entlohnung oder partielle Unterstützung durch den Staat eintraten – bei weitem nicht alle Feministinnen mit der zugrundeliegenden Ana31 Karen J. Blair, The Clubwoman as Feminist: True Womanhood Redefined, 1868–1914, New York 1980, S. 30 (Zitat), 42. 32 Crystal Eastman, Now we can begin (1920), ND in: Blanche Wiesen Cook (Hg.), Crystal Eastman: On Women and Revolution, New York 1978, S. 54–57. 33 Vgl. Lela B. Costin, Two Sisters for Social Justice. A Biography of Grace and Edith Abbott, Urbana 1983; Ellen F. Fitzpatrick, Endless Crusade: Women Social Scientists and Progressive Reform, New York 1990. Eine breite und hochkontroverse Forschung über die mothers’ pensions entstand seit dem Erscheinen von Maternity 1991; genannt seien hier nur: Linda Gordon, Pitied but Not Entitled: Single Mothers and the History of Welfare, 1890–1935, New York 1994; Theda Skocpol, Protecting Soldiers and Mothers. The Political Origins of Social Policy in the United States, Cambridge, MA 1992; dies. u. a., Women’s Associations and the Enactment of Mothers’ Pensions in the United States, in: APSR 87/3 (1993), S. 686–701; Kathryn Kish Sklar, Florence Kelley and Women’s Political Culture, Bd.  II, New Haven 2009; Ladd-Taylor (wie Anm.  7). Einen vorzüglichen Überblick über Forschung und Debatten bietet Elisabetta Vezzosi, Madri e Stato: Politiche sociali negli Stati Uniti del Novecento, Rom 2002.

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lyse und der damit einhergehenden Vision einer künftigen Gesellschaft und Strategie für die Frauenbefreiung übereinstimmten. Aber auch viele der Frauen, die sich in diesen grundlegenden Fragen einig waren, waren doch bezüglich der praktischen Umsetzung und mancher spezieller Aspekte uneins. Und nicht alle Feministinnen, die einige oder alle jener Ansichten teilten, taten dies ihr Leben lang: Für einige waren sie ein Ausgangspunkt, für andere ein Durchgangsstadium, für wiederum andere ihr Hauptengagement. In allen genannten Ländern brachten Frauen ähnliche Einwände gegen die genannten Forderungen vor. Ein verbreiteter Einwand – er war auch schon gegen Käthe Schirmacher erhoben worden – war, die Forderung nach Mutterschaftsgeld sei »individualistisch« und egoistisch. Katherine Glasier von der British Independent Labour Party verurteilte sie als ein »krass individualistisches Rebellen-Stadium des Freiheitskampfes unserer Frauen«, und die Amerikanerin Charlotte Perkins Gilman argumentierte gegen Ellen Key, dass Frauen »nicht für sich selbst« nach Macht streben sollten, »sondern zum Wohl der Gemeinschaft.« Zweitens sah man in Zahlungen an Mütter einen Ausdruck unangemessenen Misstrauens gegenüber den Ehemännern und deren Verwendung des Familieneinkommens; solches Misstrauen würde die Familienbande zerstören.34 Den dritten und bald am weitesten verbreiteten Einwand formulierten in Großbritannien die Sozialarbeiterin Anna Martin und in Deutschland Marianne Weber: Mutterschaftsgeld oder »Lohn für Hausarbeit« enthöbe die Ehemänner ihrer Verantwortung für Frau und Kinder, unterhöhle damit den Arbeitsanreiz für Männer und befördere somit nicht die Frauenemanzipation, sondern die »Emanzipation« der Männer. Beide Feministinnen plädierten stattdessen für eine gleiche oder gerechte Aufteilung des männlichen Einkommens (wenn schon nicht der weiblichen Hausarbeit) zwischen den Ehepartnern. Weber forderte außerdem eine gesetzliche Regelung, die der Frau ein Recht auf Haushaltsgeld und eine gewisse Summe als Taschengeld zusichere. Doch waren sich beide sehr wohl bewusst, dass eine solche Aufteilung gerade für diejenigen Frauen, deren häusliche Arbeit am härtesten war, utopisch oder nutzlos wäre: nämlich für diejenigen, deren Ehemänner wenig oder gar kein Geld nach Hause brachten.35 Viele waren – viertens – der Ansicht, die Gesellschaft könne die ihr zugewiesenen Aufgaben nicht übernehmen, denn die staatlichen Ressourcen reichten für derartige Zahlungen schlicht nicht aus. Noch problematischer erschien manchen  – fünftens  – die Umwandlung der »Arbeit aus Liebe« von einem Gebrauchswert in einen Tauschwert, was sie für »unmoralisch«, »unnatürlich« und »monströs« hielten.36 In Deutschland, aber auch in den Vereinigten Staaten, war ein sechs34 Zitate aus: Dyhouse (wie Anm. 24), S. 91; Ladd-Taylor (wie Anm. 7), S. 106–112. 35 Marianne Weber, Zur Frage der Bewertung der Hausfrauenarbeit [1912], in: dies., Frauen­ fragen und Frauengedanken, Tübingen 1919, S.  80–94; zu Anna Martin vgl. Lewis (wie Anm. 27), S. 80 f. 36 Zitate aus: Dyhouse (wie Anm. 24), S. 90, 92; vgl. Cova 1991 (wie Anm. 13), S. 123; Anthony (wie Anm. 10), S. 118 f.

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tes Argument zu hören: Maria Lischnewska hielt die außerhäusliche Arbeit für produktiver als die häusliche, und sie bestand darauf, dass die nichterwerbstätige Hausfrau »nur konsumiert«, »versorgt« werde und für die Volkswirtschaft keinen Wert darstelle; dem stellte sie als »Typus der Neuen Frau« die verheiratete Fabrikarbeiterin gegenüber, die häusliche Arbeit und Erwerbsarbeit mitein­ ander in Einklang bringe.37 Wurde die Mütterwohlfahrt im Hinblick auf Arbeiterinnen und im Kontext der Fabrikgesetzgebung diskutiert, argumentierten die Gegnerinnen von Mutterschaftsurlaub und -geld gegen besondere Gesetze für Frauen, weil sie vermeintlich die weibliche Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt beeinträchtigten und das Vorurteil von der weiblichen Schwäche verstärken würden; dies war das Thema einer berühmten Debatte zwischen Anna Maria Mozzoni und Anna Kuliscioff in Italien. Wieder andere schließlich lehnten ein Muttergeld speziell für unverheiratete Mütter ab, da es die sexuelle Promiskuität und unerwünschte Nachkommenschaft befördern würde.38 Trotz aller Einwände bedienten sich die meisten Feministinnen, einschließlich derjenigen, die ein Mutterschaftsgeld ablehnten, der Mutterschaftsideologie oder -glorifizierung zugunsten ihrer eigenen Visionen von Frauen­befreiung. Sie taten es zum Beispiel, um die Dringlichkeit des Frauenwahlrechts zu begründen (wie in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten) und den Zugang zu gehobenen und gut bezahlten Berufen durchzusetzen (wie beispielsweise im deutschen feministischen Konzept der »geistigen« oder »organisierten Mütterlichkeit«). Auf der anderen Seite stimmten diejenigen, die Mutterschaftsgeld favorisierten, nicht unbedingt auch in anderen Fragen überein, z. B. bezüglich der Geburtenkontrolle, der Bedeutung der Ehe, der Organisation der Hausarbeit, der Fabrikgesetzgebung für Frauen. Höchst selten wurde die Ablehnung des Mutterschaftsgeldes damit begründet, dass es Frauen gegen ihren Willen dazu bewegen würde, mütterliche Pflichten zu erfüllen; so argumentierte jedoch Charlotte Perkins Gilman, die die Kindererziehung sozialisiert und professionalisiert sehen wollte (wenn auch ausschließlich in den Händen von Frauen). Im Übrigen teilten in diesem Zeitraum bei weitem die meisten Frauen – ungeachtet ihrer politischen Richtung, unterschiedlichen Klassenzugehörigkeit und der von ihnen vertretenen Variante von Feminismus  – die Annahme, dass Hausarbeit und Kindererziehung ohnehin die Aufgabe von Frauen war, wenn auch keineswegs die Aufgabe aller Frauen.39 37 Maria Lischnewska, Die wirtschaftliche Reform der Ehe, Leipzig 1905, S. 5 (auch in BrinkerGabler, wie Anm. 11). 38 Franca Pieroni Bortolotti, La Kuliscioff e la questione femminile, in: Anna Kuliscioff e l’età del riformismo. Atti del Convegno di Milano 1976, Roma 1978, S. 104–138; Rathbone, Family (wie Anm. 29), S. 369 f. 39 Vgl. Aileen S. Kraditor, The Ideas of the Woman Suffrage Movement, 1890–1920, Garden City, NY 1971, bes. S. 91; Irene Stoehr, »Organisierte Mütterlichkeit«: Zur Politik der deutschen Frauenbewegung um 1900, in: Karin Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte, München 1983, S. 225–253; Ladd-Taylor (wie Anm. 7), S. 111 f.; Ellen Ross, »Fierce Ques­t ions and Taunts«: Married Life in Working Class London 1870–1914, in: FS 8 (1982), S. 575–602.

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Feministinnen, die darauf bestanden, dass »Mutterschaft eine soziale Funktion« sei und nicht nur eine physiologische, private oder individuelle, stellten die überkommene Dichotomie zwischen privater/persönlicher und öffentlicher/ politischer Sphäre in Frage und suchten eine neue Interpretation von deren Verhältnis, und zwar nicht nur im Hinblick auf die außerhäusliche Gesellschaft, sondern auch auf Haushalt und Mutterschaft. Somit brachen sie radikal mit dem, was später eine »biologische« Sicht der Geschlechter genannt werden sollte (der Begriff »biologisch« war in der ersten Hälfte unseres Zeitraums in der frauenbewegten Publizistik noch nicht gängig).40 In der Begründung von Frauenrechten und -pflichten bezogen sie sich oft auf eine »Natur der Frau«, womit sie einerseits den Aufklärungsdiskurs von »Naturrecht« und »natürlichen Menschenrechten« aufgriffen und ihn andererseits insofern in Frage stellten, als er Frauen von diesen Rechten aufgrund einer »Natur« ausschloss, die für Männer und Frauen unterschiedlich zu sein schien. Sie klagten nun soziale und politische Bürgerrechte für Mütter und andere Frauen ein, indem sie auf die ihnen eigentümliche »Natur« verwiesen, verstanden als ihr eigenständiger und einzigartiger Beitrag zur Gesellschaft. Indem sie Rechte, Verantwortung und Schutz für etwas forderten, was bis dahin als private und individuelle Pflicht bzw. Verantwortung angesehen wurde, stellten sie nicht so sehr die Aufteilung der Arbeit per se, sondern die Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern in Frage (beide sollten nach ihrem Wert bezahlt werden) und somit auch die geschlechterbezogene Aufteilung von Machtlosigkeit und Macht (als Macht galt beispielsweise den Frauen der Women’s Cooperative Guild auch die »basket power«, die Macht des Einkaufskorbs der Hausfrau). Die radikaleren Feministinnen stellten die Ordnung der Gesellschaft in Frage; diese sollte künftig auf den Aktivitäten und Verdiensten von Frauen aufbauen, nicht (oder nicht nur) auf denjenigen der Männer. Viele waren der Meinung, dass ein adäquater Mutterschutz nicht nur den Frauen diene, sondern der Gesellschaft insgesamt und dass deshalb – in den Worten der Italienerin E ­ rsilia Majno – »feministische Forderungen, einst lächerlich gemacht, als das erkannt werden müssen, was sie wirklich sind: soziale Forderungen für das Wohl der Gesellschaft.«41 Wer in staatlichen Beihilfen oder gar in der Bezahlung der Mütterarbeit einen Weg zur Frauenemanzipation sah, betonte gewöhnlich sowohl die Würde als auch die Ausbeutung von Mutterschaft; sowohl in Deutschland (von ­Helene Stöcker) als auch in Frankreich (von der Sozialistin Madeleine Vernet oder dem Neomalthusianer Paul Robin) hörte man: »In der Mutterschaft liegen die tiefs40 Verblüffenderweise (und irrigerweise) behauptet Ann Taylor Allen, dass der deutsche Begriff »Mutterschaft« lediglich einen »biologischen« Sachverhalt bezeichne, im Gegensatz zu »maternité« und »motherhood«: Lost in Translation? Un regard transnational et compa­ ratiste sur l’histoire des femmes, in: Anne Cova (Hg.), Histoire comparée des femmes. Nouvelles approches, Lyon 2009, S. 93 (engl.: New York 2006). Lost in Translation? 41 Ersilia Majno Bronzini, Vie pratiche del femminismo [1902], zit. in: Buttafuoco, Motherhood (wie Anm. 19), S. 181; Jean Gaffin u. David Thoms, Caring & Sharing: The Centenary History of the Co-operative Women’s Guild, Manchester 1983, S. 43.

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ten Wurzeln seiner [des weiblichen Geschlechts] Sklaverei und seiner Freiheit.«42 Solche Stimmen pflegten androzentristische Werte bzw. »die Lehre vom Primat und der Vorherrschaft des männlichen Prinzips« scharf zu kritisieren. Andererseits teilten sie das traditionelle aufklärerische und neuere femi­nistische Ziel der »Gleichheit« sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht: Nelly Roussel beispielsweise definierte Feminismus als »die Lehre von der natürlichen Gleichwertigkeit und der sozialen Gleichheit der Geschlechter.«43 Sie und andere forderten Gleichberechtigung mit Männern auf der Grundlage, dass die mütterlichen Aktivitäten als Arbeit anerkannt würden, wenn auch mit dem wichtigen (und voll Stolz betonten) Unterschied, dass sie eine edlere – gar die edelste – und jedenfalls die notwendigste Arbeit seien.44 Staatliches Wochengeld und Mutterschaftsgeld sollten diese Art von Gleichheit insofern befördern, als sie ein Weg zur Unabhängigkeit (von Arbeitgebern und Ehemännern) waren und ein Ausdruck der Forderung nach »gleicher Bezahlung für gleichwertige Arbeit«. Frauen sollten nicht, um ihrer »Gleichheit« willen, die herrschenden männerzentrierten Wertsetzungen akzeptieren müssen; vielmehr hoffte man, diese zu untergraben, zu ersetzen oder wenigstens zu ergänzen. Jene Feministinnen waren nicht der Meinung, dass »Gleichbehandlung« die Frauen auch dann befreie, wenn sie zu ungleichen Ergebnissen führte oder bloß Gleichheit im Elend brächte; ebenso wenig, dass ökonomische, soziale und politische Gleichheit von Frauen und Männern die Erfüllung identischer Aufgaben heiße, und schließlich auch nicht, dass Frauen und Männer »essentiell« identisch seien. Sie spielten die Geschlechterdifferenz nicht herunter, sondern bestanden auf dem Recht der Frauen, anders zu sein, und sahen dies nicht als Ausdruck von Ohnmacht und Resignation, sondern von Stolz, Macht und Selbstbehauptung von Frauen. Französische Feministinnen (und Feministen) formulierten diese Perspektive als »Gleichheit in der Differenz« oder auch »Differenz in der Gleichheit«.45 Schirmacher formulierte sie in ihrem Vortrag von 1904: »Wir leben in einer ›Männerwelt‹, vom Mann in erster Linie für sich, nach seinem Bilde, für sein Behagen geschaffen. In dieser Welt hat der Mann sich als Maßstab aller Dinge und Wesen betrachtet, auch als Maßstab der Frau. Wer seines Gleichen sein sollte, musste ihm gleich sein, tun was er tat, um seine Achtung zu erwerben. Für ihn 42 Helene Stöcker, Der Kampf gegen den Geburtenrückgang, in: Die neue Generation 8/11 (1912), S. 602; Paul Robin 1907: »Dans la faculté de maternité (consentie ou refusée) réside l’esclavage ou la liberté de la femme«, zit. in: Cova, Féminismes (wie Anm. 13), S. 53; Vernet in Cova, French Feminism (wie Anm. 13), S. 148. 43 Nelly Roussel, Qu’est-ce que le »Féminisme«?, in: La Femme affranchie, no. 2 (Sept. 1904), zit. in: Cova, Roussel (wie Anm. 16), S. 663. 44 Vgl. etwa Marilyn J. Boxer, Linking Socialism, Feminism, and Social Darwinism in Belle Epoque France: the maternalist politics and journalism of Aline Valette, WHR 21/1 (2012), S. 1–19. 45 Vgl. dazu Carol Pateman, Equality, difference, subordination: the politics of motherhood and women’s citizenship, in: Gisela Bock u. Susan James (Hg.), Beyond Equality and Difference. Citizenship, feminist politics and female subjectivity, London 1992, S. 17–31.

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lag die Gleichwertigkeit einzig in der Gleichartigkeit, nur Similität galt ihm als Parität.« Sie wies das Vorurteil zurück, dass die Ak­tivitäten von Frauen »minderwertig« seien im Vergleich zu denen von Männern, und verband die Forderung nach dem Recht auf Gleichheit mit dem Recht auf Anders-Sein.46 Im Italien der Jahrhundertwende wurde diese Sichtweise zuweilen »femminismo sociale« oder »femminismo pratico« genannt.47 Auch heute ist sie wieder Gegenstand von Analysen und Debatten darüber, wie diese Form von Feminismus zu verstehen ist und wie sie sich zu dessen anderen Formen verhält; unterschieden wird beispielsweise zwischen »Gleichheitsfeminismus« und »sozialem Feminismus«, zwischen »liberalem« und »Wohlfahrts-Feminismus«, zwischen »individualistischem« und »relationalem«, zwischen »politischem« und »häuslichem Feminismus«, wobei die mutterschaftsbezogene Variante gewöhnlich dem zweiten Teil  des jeweiligen Begriffspaars zugeordnet wird. Doch diese sich scheinbar gegenseitig ausschließenden Konzepte überschneiden sich in der historischen Wirklichkeit nur allzu oft, wie beispielsweise der erwähnte IndividualismusVorwurf an die Adresse des mütterzentrierten Feminismus deutlich macht. Dessen ungeachtet eröffnen die heutigen Debatten neue Perspektiven auf die alten und verweisen auf die wichtige Rolle, die das Phänomen Mutterschaft in den Theorien, Forderungen und Hoffnungen der älteren Frauen­bewegungen spielte.

Mutterschaft und Sozialpolitik bis zum Ersten Weltkrieg Der Höhepunkt des feministischen Interesses an der Besserstellung von Müttern fiel mit einer innovativen Gesetzgebung zusammen, die teils finanzielle Leistungen, teils Dienst- oder Sachleistungen für Mütter und Kinder vorsah; Gegenstand dieses Abschnitts sind die erstgenannten, entsprechend dem Diktum von Friedrich Naumann im Jahr 1902: »Vor allem aber bedeutet Mutterschaft – Geldverlust.«48 In der Vorkriegszeit und während des Großen Kriegs wurden in den meisten industrialisierten oder in der Industrialisierung befindlichen Ländern solche Gesetze verabschiedet. Die Reformen blieben allerdings 46 Schirmacher (wie Anm. 11), S. 12. 47 Buttafuoco, Motherhood (wie Anm. 19), S. 179. Zum Folgenden vgl. Naomi Black, Social Feminism, Ithaca 1989; J. Stanley Lemons, The Woman Citizen: Social Feminism in the 1920s, Urbana 1973; Karen Offen, Defining Feminism: A Comparative Historical Approach, in: Signs 14 (1988), S. 119–57; Jennifer Dale u. Peggy Foster (Hg.), Feminists and State Welfare, London 1986, S. 5–8; Daniel Scott Smith, Family Limitation, Sexual Control, and Domestic Feminism in Victorian America, in: Lois Banner (Hg.), Clio’s Consciousness Raised, New York 1974, S. 119–136. 48 Friedrich Naumann, Neudeutsche Wirtschaftspolitik (1902), zit. in: Silke Fehlemann, Armutsrisiko Mutterschaft: Mütter- und Säuglingsfürsorge im rheinisch-westfälischen Industriegebiet 1890–1924, Essen 2009, S. 7, und in: Maria von Stach, Mutterschaft und Bevölkerungsfrage, in: Schreiber (wie Anm. 15), S. 186–200, hier S. 190.

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weit hinter den feministischen Forderungen zurück, sowohl in Bezug auf die Höhe der Leistungen als auch auf die Zahl und Art der Empfängerinnen. Diese waren entweder erwerbstätige Mütter  – genauer: einige wenige Gruppen, anfänglich nur Fabrikarbeiterinnen – oder bedürftige, hauptsächlich solche ohne Ehemann oder solche, deren Ehemann nicht (genug) verdiente. Selbst im Fall dieser besonderen Gruppen blieb die Wirkung der Reformen bescheiden, vor allem wegen der bürokratischen Prozeduren, der Bedürftigkeitsprüfungen, Moralkontrollen und der Niedrigkeit der ausbezahlten Summen. Aber wenngleich die Gesetzgebung in dieser Hinsicht großenteils der Tradition der Armenfürsorge oder Arbeiterschutzgesetzgebung verhaftet blieb, bedeutete sie dennoch einen Bruch mit der Vergangenheit. Einerseits wurde dieser Bruch besonders sichtbar an dem vehementen Widerstand, auf den die Reformen in allen Ländern stießen; andererseits legten diese den Grund für universelle, über Spezialgruppen hinausgehende soziale Rechte in den künftigen Sozialstaaten. Zwar hatten in diesem Zeitraum nur wenige Frauen das Recht zu wählen und gewählt zu werden, doch trotzdem kämpften Frauen und Frauenbewegungen um Einfluss auf die Sozialpolitik, mit unterschiedlichem Erfolg. In Italien war es hauptsächlich dem Druck von Frauenverbänden zu ver­ danken, dass 1910 die cassa di maternità eingeführt wurde. Sie basierte auf dem Versicherungsmodell, und die obligatorischen Beiträge waren von den weiblichen Arbeitern zu entrichten (nicht aber von den männlichen, was im internationalen Vergleich einzigartig war), außerdem von den Arbeitgebern; Zuschüsse kamen in Form wohltätiger Spenden und in geringem Maß vom Staat. Das Wochengeld sollte an Fabrikarbeiterinnen während ihres obligatorischen Mutterschaftsurlaubs gezahlt werden, aber die Beträge waren zu niedrig und die Beiträge für die meisten zu hoch; deshalb konnten sie die Freistellung von der Erwerbstätigkeit tatsächlich kaum wahrnehmen und mussten stattdessen auf Schwarzarbeit ausweichen.49 In den Vereinigten Staaten wurde das erste Gesetz zur Einführung von mothers’ pensions im Jahr 1911 in Illinois erlassen, und bis 1919 wurden sie in 39 Staaten in der einen oder anderen Form eingeführt.50 Ihre Gewährung war an zwei Bedingungen geknüpft: zum einen Bedürftigkeit, zum anderen der Verlust oder das Fehlen einer Versorgung durch den Ehemann. Es wurde also insbesondere Witwen zugesprochen, in einigen Staaten auch unverheirateten, verlassenen oder geschiedenen Müttern. In Frankreich51 wurde 49 Vgl. Buttafuoco, Motherhood (wie Anm. 19), bes. S. 185 f., 189–191. 50 Vgl. Anthony R. Travis, The Origins of Mothers’ Pensions in Illinois, in: Journal of the Illinois State Historical Society 67 (1975), S. 421–428; Ada J. Davis, The Evolution of the Institution of Mothers’ Pensions in the United States, in: AJS 35 (1930), S. 573–587; Ladd-Taylor (wie Anm. 7), Kap. 5 u. 6; Skocpol, Soldiers (wie Anm. 33); Gordon (wie Anm. 33). 51 Zu Frankreich: Cova, Feminism (wie Anm. 13); Cova, Maternité (wie Anm. 13), bes. Teil II. 3.; Mary Lynn Stewart, Women, Work and the French State: Labour Protection and Social Patriarchy, 1879–1919, Kingston 1989, bes. Kap. 8; Robert Talmy, Histoire du mouvement familial en France (1896–1939), hg. v. Union Nationale des Caisses d’Allocations Familiales, Paris 1962, Bd. I, S. 159–63.

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1912 – endlich! – die recherche de la paternité zugelassen. Nun konnten die Väter von unehelichen Kindern zu Unterhaltszahlungen verpflichtet werden – zumindest in der Theorie, wenn auch längst nicht immer in der Praxis. Das EngerandGesetz von 1909 brachte eine Garantie des Arbeitsplatzes für Frauen, die ihm bis zu acht Wochen vor und nach der Geburt fernblieben; aber weder war dieser Mutterschaftsurlaub obligatorisch, noch gab es Beihilfen für diese Zeit (mit Ausnahme von Lehrerinnen an öffentlichen Schulen, die seit 1910 Ersatz­ zahlungen in Höhe ihres vollen Gehalts erhielten). Weitere vier Jahre der Agitation und engen Zusammenarbeit zwischen Feministinnen und einigen sympathisierenden Abgeordneten waren nötig, bevor mit dem Strauss-Gesetz von 1913 und einem zusätzlichen Finanzgesetz grundlegende Änderungen eintraten. Diese beiden Gesetze verpflichteten die Arbeitgeber zur Gewährung von Mutterschaftsurlaub und – wichtiger noch – gewährten Beihilfen, getragen von Gemeinden, Départements und Regierung, für bestimmte Kategorien von Arbeiterinnen. Noch im selben Jahr wurden bedürftigen Familien mit vier und mehr Kindern Beihilfen zuerkannt, im Dezember außerdem besondere Kinderbeihilfen für Beamte eingeführt. In beiden Fällen – und anders als beim StraussGesetz – ging die Zahlung an die Väter: Kein Wunder, dass sich Feministinnen wie Nelly Roussel entschieden dagegen aussprachen. Zusammengenommen legten die drei Gesetze das Fundament für den französischen Sozialstaat, insbesondere für seine späteren universellen Kinderbeihilfen. In Deutschland gingen den Änderungen der Gewerbeordnung und der Reichsversicherungsordnung von 1903, 1908 und 1911 engagierte Debatten in der Frauenbewegung voraus, wohl mit nur bescheidenem Einfluss auf den Gesetzgeber.52 Die Reformen verlängerten den Mutterschaftsurlaub auf acht Wochen, erhöhten das Wochengeld und schlossen eine obligatorische Kranken­ versicherung für Hausangestellte ein. Doch die (nichterwerbstätigen) Ehefrauen versicherter Lohnarbeiter blieben ausgeschlossen; zwar konnten sie sich freiwillig versichern, doch das war nur wenigen möglich. In Großbritannien53 erging 1911 das erste nationale Krankenversicherungsgesetz (National Insurance Act). Während es noch ausgearbeitet wurde, gelang es der Women’s Cooperative Guild, dem Gesetztestext ein Wochengeld (maternity benefit) einfügen zu lassen, und zwar nicht nur für selbstversicherte Frauen, sondern auch für die nichterwerbstätigen Angehörigen versicherter Ehemänner. Als das Gesetz 1911 in Kraft treten sollte, sah es vor, dass die letztgenannten Leistungen an die Ehemänner zu gehen hätten. Nun war es wiederum die Women’s Cooperative Guild, die gegen diese Vorschrift zu Felde zog, und sie tat es mit Erfolg: 1913 wurde hinzugefügt, dass die Mütter selbst das Recht auf die Zahlung 52 Hierzu und zum Folgenden vgl. Stoehr, Housework (wie Anm. 11); Neyer (wie Anm. 20). 53 Zum Folgenden vgl. Thane, Visions (wie Anm. 26), S. 100 f.; dies., Infant Welfare in England and Wales, 1870s-1930s, in Michael B. Katz u. Christoph Sachsse (Hg.), The Mixed Economy of Social Welfare. Public/Private Relations in England, Germany and the United States, 1970s to 1930s, Baden-Baden 1996, S. 253–278; Lewis, Politics of Motherhood (wie Anm. 6).

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(von 30 Schillingen pro Monat) hatten. Das Mütter- und Kinderschutzgesetz (Maternity and Child Welfare Act) von 1918 sah die Einrichtung von »Wohlfahrtskliniken« und andere Dienstleistungen für bedürftige Mütter vor und erfüllte somit einige der Forderungen der Frauenbewegung. In Dänemark wurde 1915 das Wochengeld in ein Modell freiwilliger Versicherung einbezogen. Norwegen54 führte 1909 und 1915 Mutterschaftsbeihilfen für Erwerbstätige ein, und das Kinderwohlfahrtsgesetz von 1915 gewährte Beihilfen für alleinerziehende (unverheiratete, verwitwete, geschiedene und getrennt lebende)  Mütter, die zu arm waren, ihre Kinder allein großzuziehen. Die Beihilfen, die aus Steuern finanziert wurden, wurden gegen den heftigen Widerstand der Konservativen durchgesetzt, und zwar dank des Engagements von Johan Castberg, des ehemaligen Justizministers und Schwagers von Katti Anker Møller, von der er einige Ideen übernommen hatte. Doch die Leistungen waren niedrig und reichten nicht aus, die Lebenshaltungskosten zu decken; von den Müttern wurde vielmehr erwartet, zusätzlich zur Kinderversorgung eine außerhäusliche Erwerbsarbeit zu übernehmen. Außerdem waren die Leistungen mit einer Kontrolle ihrer Lebensführung verbunden: »Schlechte Mütter« blieben ausgeschlossen oder mussten ihre Kinder abgeben. In Schweden55 verpflichtete ein Gesetz von 1900 die Arbeitgeber, einen Mutterschaftsurlaub von vier (später sechs) Wochen nach der Geburt zu gewähren, allerdings ohne einen finanziellen Ausgleich. Es bedurfte zwölf weiterer Jahre, bis wenigstens ein Entwurf für eine Mutterschaftsversicherung vorgelegt wurde, doch für seine Ablehnung genügte als Begründung, dass solche Zahlungen nur im Rahmen einer obligatorischen Krankenversicherung verankert werden könnten – die es aber nicht gab. Erst in den zwanziger Jahren, als schwedische Frauen ins Parlament eingezogen waren, wurde die Frage erneut aufgeworfen. Doch das Kinderwohlfahrtsgesetz von 1924 enttäuschte ihre Hoffnungen, denn es sah eine staatliche Intervention nur im Fall von Kindesmisshandlung vor und lediglich in wenigen Fällen eine finanzielle Unterstützung von Müttern. Erst 1931 kam es zu einer staatlich unterstützten Krankenversicherung, die auch Frauen im Mutterschaftsurlaub (und auch freiwillig versicherte nichterwerbstätige Frauen) berechtigte, Mutterschaftsbeihilfe zu beantragen. Gleichzeitig wurde eine solche auch für nichtversicherte Frauen eingeführt; sie galt also für eine weitaus größere Zahl von Frauen und wurde aus Steuermitteln finanziert. Im Jahr 1917 legte Julia Lathrop, Vorsitzende des Children’s Bureau im Bundesarbeitsministerium der Vereinigten Staaten, einen beeindruckenden internationalen Überblick über staatlich finanzierte oder subventionierte Wochengelder bzw. Mutterschaftsbeihilfen vor; sie tat es »in der Hoffnung, dass diese Information von Nutzen sein werde für das Volk eines der wenigen großen 54 Vgl. Anne-Lise Seip u. Hilde Ibsen, Norway’s Road to Child Allowances, in: Maternity 1991, S. 40–59; Blom (wie Anm. 17). 55 Ann-Sofie Olander, The Invisible Child? The Struggle for a Social Democratic Family Policy in Sweden, 1900–1960s, in: Maternity 1991, S. 60–72; Kulawik (wie Anm. 20).

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Länder, die immer noch keine gesamtstaatliche Unterstützung der Mutterschaft eingeführt haben – die Vereinigten Staaten.«56 Ihr Bericht umfasste fünfzehn meist europäische Länder. In Europa gingen die Beihilfen gewöhnlich nur an erwerbstätige Mütter, und mit lediglich zwei Ausnahmen – Italien und Frankreich – waren sie Teil der nationalen Krankenversicherung, setzten also Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft mit Krankheit gleich. Singulär war das australische Gesetz von 1912: Die Mutterschaftsbeihilfe wurde den citizens gewährt (die citizenship australischer Frauen war voll anerkannt), ungeachtet von Familienstand und Berufsstand. Trotz der Unterschiede zwischen den Gesetzen im Einzelnen und – wichtiger noch – in ihrer Implementierung zeigen sie einen internationalen und innovativen Trend hin zu einer sozialstaatlichen Unterstützung von Müttern oder, genauer, von bestimmten Gruppen unter ihnen. Ihre transnationalen Übereinstimmungen sind nicht nur im Hinblick auf die politischen, sozialen und ökonomischen Unterschiede zwischen den Ländern bemerkenswert, sondern auch bezüglich der unterschiedlichen Spezialprobleme, welche die einzelnen Länder damit zu lösen suchten. In Italien und Frankreich war die neue Mütter- und Mutterschaftspolitik teilweise ein Antwort auf die frühere, aber immer noch verbreitete Praxis der Kindsaussetzung und des Ammenwesens: Besonders arme erwerbstätige Mütter – unverheiratet oder auch verheiratet  – pflegten ihre Kinder in staatlich finanzierte Institutionen abzugeben, wenn sie nicht in der Lage waren, sie selbst zu versorgen. In beiden Ländern hofften die Frauen, die auf den Wert der Mutterschaft pochten, diese Institutionen abzuschaffen.57 In den Vereinigten Staaten waren die mothers’ pensions auch deshalb eingeführt worden, um der verbreiteten Praxis entgegenzuwirken, Kinder, deren Mütter außer Haus arbeiteten und trotzdem arm waren oder deren Väter die Familie nicht zu unterhalten vermochten, in Waisenheimen unterzubringen, die von privaten Wohltätigkeitsvereinen finanziert wurden und als kalt und unmenschlich galten. In Großbritannien war das babyfarming Gegenstand einer ähnlichen Kritik geworden.58 In all diesen Ländern sollte eine sozialisierte, professionalisierte und institutionalisierte, aber nicht immer erfreuliche Kinderaufzucht durch private, aber dennoch öffentlich unterstützte Mutterschaft ersetzt werden.

56 Julia Lathrop, Einl. zu: Henry J. Harris, Maternity Benefit Systems in Certain Foreign Countries (U. S. Department of Labor, Children’s Bureau, Publication no. 57), Washington 1917. 57 Volker Hunecke, Die Findelkinder von Mailand. Kindsaussetzung und aussetzende Eltern vom 17.  bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1987; Rachel G. Fuchs, Abandoned Children: Foundlings and Child Welfare in 19th-Century France, Albany 1984; Angela Taeger, L’État, les enfants trouvés et les allocations familiales en France, XIXe et XXe siècles, in: Francia 16 (1989), S. 15–33. 58 Linda Gordon, Single Mothers and Child Neglect, 1880–1920, in: American Quarterly 37 (1985), S. 173–192; Ann Vandepol, Dependent Children, Child Custody, and the Mothers’ Pensions: The Transformation of State-Family Relations in the Early 20th Century, in: Social Problems 29 (1982), S. 221–235.

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Trotz der Mängel der mutterschaftsbezogenen Gesetzgebung der Vorkriegsund Kriegszeit, die von Feministinnen vielfach kritisiert wurden, brachte sie manche Verbesserungen für Mütter. Ihre grundsätzliche und langfristige Wirkung war noch wichtiger: Der Staat übernahm, wenn auch zögernd und nur teilweise, die Aufgabe der Unterstützung von Müttern. Viele Feministinnen sahen das als einen Meilenstein auf dem Weg zur Anerkennung der »sozialen Funktion« von Mutterschaft und zugleich der vollen Bürgerschaft von Frauen als Frauen  – nicht trotz, sondern wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit. Gleichwohl war jene Gesetzgebung nicht nur eine Antwort auf feministische Forderungen oder auf die Not von Müttern, auch wenn eine solche Rhetorik aufgebracht werden musste, um den starken Widerstand der Traditionalisten zu überwinden. Unter den weiteren Motiven der Gesetzgeber stand an erster Stelle das wachsende öffentliche Bewusstsein von dem gleichzeitigen Geburtenrückgang, zusammen mit dem steigenden Interesse an der Bevölkerungszahl als einem wichtigen Faktor für Stolz und Macht der Nation. Dieses Phänomen trat zuerst in Frankreich in den Vordergrund der öffentlichen Debatte, da hier die Geburtenrate auch am frühesten gesunken war und die Niederlage im französisch-deutschen Krieg von 1870/71 das Thema mit dem Problem nationaler Größe und europäischer Hegemonie aufgeladen hatte. Spätestens seit der Jahrhundertwende fühlten sich viele Menschen vieler Länder von der abnehmenden Fertilität bedroht; Experten und Möchtegern-Experten suchten nach Mitteln, den Trend zu stoppen oder gar umzukehren. Die beiden Punkte, an denen man zuerst ansetzte, waren zum einen der Kampf gegen die Säuglings- und Kindersterblichkeit, der in Großbritannien besonders bemerkenswert war und auch anderswo zu Kampagnen und Maßnahmen zur Säuglingsfürsorge führte, und zum anderen der Kampf gegen die Müttersterblichkeit, der dazu beitrug, die Frage des Mutterschutzes auf die Tagesordnung zu setzen.59 Selbstverständlich waren beide eng miteinander verbunden. Sobald man gewahr wurde, dass der Geburtenrückgang, der vielerorts in den Ober- und Mittelschichten begonnen hatte, auch die Arbeiterschaft erreichte – in Deutschland um 1900, in Italien wesentlich später, während in Großbritannien das schichtenspezifische Gefälle gering gewesen zu sein scheint –, rückten arme Mütter, unverheiratete Mütter und Fabrikarbeiterinnen ins öffentliche Interesse, vor allem in Ländern mit einem erheblichen weiblichen Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung, etwa Frankreich oder Deutschland. Oft wurden der »Gebärstreik« dem Feminismus, die Kindersterblichkeit der »Ignoranz« der Mütter und schließ­lich die Kinder- wie Müttersterblichkeit der Frauenfabrikarbeit zugeschrieben; angesichts der miserablen Löhne und Arbeitsbedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die letztere Hypothese einiges für sich.60 59 Vgl. Pat Thane, Infant Welfare (wie Anm. 53); Fehlemann, Armutsrisiko Mutterschaft (wie Anm. 48); Offen, Depopulation (wie Anm. 16). 60 Vgl. Carol Dyhouse, Working-Class Mothers and Infant Mortality in England, 1895–1914, in: JSH 12 (1978), S. 248–267.

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Dennoch, und trotz vielfältiger öffentlicher Anklage, gab es kein Land, das Gesetze zur Entlassung von Fabrikarbeiterinnen bzw. zum Verbot der Frauenfabrikarbeit erließ. Und die Unterschichtfrauen konnten es sich gewöhnlich nicht leisten, ausschließlich für den Haushalt und die Kinder zu leben und zu arbeiten, da das Überleben der Familie von ihrem Lohn abhing. Insoweit als die Einführung von Mutterschaftsurlaub und Wochengeld für Industriearbeiterinnen auch von der Hoffnung auf ein Ende des Geburtenrückgangs getragen wurde, zielte sie nicht etwa darauf, Mütter vom Arbeitsmarkt auszuschließen, sondern darauf, ihre schwierige Kombination von Familienarbeit und Erwerbsarbeit zu unterstützen, wenn auch nur in der mühseligen Zeit von Schwangerschaft, Niederkunft und kurz danach. Insgesamt gesehen zielte jedoch die mutterschaftsbezogene Sozialpolitik nicht nur auf eine höhere Überlebensrate der Säuglinge und Mütter, sondern auch auf eine Steigerung der Geburtenzahl. Es entstand innerhalb dieses Zeitraums – neben dem Trend zu einer genuinen Sozialreform auch zugunsten von Müttern bzw. Frauen insgesamt – eine pronatalistische Rhetorik und Politik, der die staatliche Förderung der Mütterwohlfahrt als ein Mittel galt, diejenigen zum Kinderkriegen zu bewegen, die Kinder zwar haben wollten, sie sich aber wegen Armut und Arbeitsüberlastung nicht leisten konnten. Diese Rhetorik und Politik entwickelte sich in den zwanziger Jahren weiter und blieb – in unterschiedlichem Maß in verschiedenen Ländern – bis in die dreißiger Jahre hinein einflussreich.61 Obwohl die pronatalistische Politik in anderen und zuweilen widersprüchlichen Motiven wurzelte, traf sie sich teilweise mit den feministischen Forderungen nach Sozialreform und Rechten für Mütter. Während Feministinnen die Anerkennung von Müttern als Bürgerinnen und von Mutterschaft als Element von Bürgerschaft anstrebten – Bürgerschaft also nicht trotz, sondern wegen Mutterschaft  –, sahen Pronatalisten die Mutterschaft als nationale Ressource. Deshalb konnte der »Gebärstreik«, gleichsam im ökonomischen und traditionellen Sinn von Streik, wie er von der Arbeiterschaft praktiziert wurde, funktionieren: Es ging nicht darum, die Gebärarbeit gänzlich einzustellen, sondern sie zum Zweck der Verbesserung von Einkommen und Arbeitsbedingungen zurückzuhalten. Wohl nirgendwo anders war dies so deutlich wie in Frankreich. Französische Feministinnen wiesen nur höchst selten die pronatalistische Rhetorik zurück und erst recht nicht die pronatalistische Politik; vielmehr nutzten sie sie recht konsequent für ihre eigenen Ziele, manchmal in vollem Ernst, manchmal eher in taktischer Weise. »Wenn ihr Kinder wollt, lernt zuerst, die Mütter zu ehren«, appellierte beispielsweise Maria Martin, Herausgeberin des Journal des Femmes, im Jahr 1896 in einem Artikel über die verbreitete Furcht vor »Entvölkerung« (dépopulation) und »Geburtenschwund« (dénatalité). Cécile Brunschvicg, die bedeutende jüdische Suffragistin und ab 1936 Staatssekretä-

61 Immer noch nützlich als Forschungsbericht sowie für die zeitgenössische Wahrnehmung: David Victor Glass, Population: Policies and Movements, London 1940, ND London 1967.

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rin in der Regierung von Léon Blum, betonte 1931, dass »die französischen und die ausländischen Feministinnen gleichermaßen den Wunsch haben, die Kinder zu retten, den Müttern zu helfen, zur Mutterschaft zu ermutigen.«62 Als schließlich während des Ersten Weltkriegs – angesichts der Millionen im Feld stehenden und gefallenen Männer und der Notwendigkeit von Frauenarbeit in kriegswichtigen Industrien – die Wochenhilfe vielerorts angehoben wurde, um den Frauen die Verbindung von Erwerbsarbeit und Mutterschaft zu ermöglichen, und männliche Bevölkerungsexperten alle möglichen Arten von Gebäranreizen vorschlugen, wandten sich einige Frauen dagegen. In Deutschland kritisierte die gemäßigte Feministin Gertrud Bäumer (von 1910 bis 1919 Vorsitzende, später stellvertretende Vorsitzende des Bunds Deutscher Frauenvereine, BDF) solche Vorschläge, denn sie behandelten »die Frage der Geburtenzahl ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Wehrkraft«, als ein »Wettrüsten der Mütter«, und man versuche, »ein ganzes Bestechungssystem von Versicherungen, Anerkennungen und Entschädigungen« einzuführen, »um Leben hervorzulocken«. Gleichwohl konnte für Feministinnen in Deutschland und anderswo die Fürsorge für Kinder und Mütter nicht weit genug gehen, und der BDF verlangte weiterhin Reformen, »die den Müttern die Möglichkeit eines seelischen Müttererlebnisses erst sichern können.«63 Die französischen Feministinnen hatten einen weiteren Grund, die Mutterschaft als Grundlage für Frauenrechte und weibliche Verantwortung zu preisen. Nicht nur, aber besonders in Frankreich hofften männliche Bevölkerungs­ politiker, ihr Ziel nicht durch den Schutz der Mutterschaft, sondern der Vaterschaft zu erreichen, denn sie sahen im Geburtenrückgang nicht das Ergebnis einer Krise der Weiblichkeit, sondern der Männlichkeit. Die lautstärksten unter ihnen schlossen sich zur »Nationalen Allianz für die Vermehrung der französischen Bevölkerung« zusammen – ausgerechnet im Jahr 1896, kurz nach dem feministischen Kongress, auf dem Léonie Rouzade staatliche Subventionen für alle Mütter gefordert hatte. Die Anhänger der Allianz riefen die Männer dazu auf, viele Kinder zu zeugen, und forderten finanzielle Anreize für Väter, vor allem Freibeträge in der Einkommen- und Erbschaftsteuer. Seitdem wurden Steuerfreibeträge zum wichtigsten Vorschlag derjenigen Pronatalisten, welche die Aufwertung der Vaterschaft betrieben. Aus der Sicht der Allianz sollten Mütter hingegen einen Orden erhalten – ein Vorschlag, der Feministinnen wie Maria Martin und Hubertine Auclert 1903 dazu bewog, noch schärfer als

62 Maria Martin, Dépopulation, in: Le Journal des Femmes, 1896, zit. in: Cova, Feminism (wie Anm. 13), S. 120; Cécile Brunschvicg, Féminisme et natalité, in: La Française, 10.1.1931, zit. in: Anne Cova, Cécile Brunschvicg (1877–1946) et la protection de la maternité, in: Colloque sur l’histoire de la Sécurité sociale. Actes du 113e Congrès national des sociétés savantes, Paris 1990, S. 63–71. 63 Gertrud Bäumer, Der seelische Hintergrund der Bevölkerungsfrage, in: Die Frau 23/3 (1915), S. 129–134.

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zuvor – und gewürzt mit sarkastischer Kritik – auf staatlichem Mutterschaftsgeld zu beharren.64 Der Erste Weltkrieg brachte eine wichtige Innovation, und wieder war es Julia Lathrops U. S. Children’s Bureau, das sie gründlich untersuchte. Alle kriegführenden Länder, wieder mit Ausnahme der Vereinigten Staaten, hatten Trennungsbeihilfen (separation allowances, in Deutschland »Familienunterhalt«) eingeführt: Leistungen, die direkt an die Witwe oder an die Frau des abwesenden Soldaten gezahlt wurden, für sie selbst und ihre Kinder. Die Höhe des Familienunterhalts hing mancherorts von der Größe der Familie ab, anderswo vom sonstigen Einkommen der Frau, und meist wurde er nicht nur Ehefrauen gewährt, sondern auch Frauen, die mit dem Soldaten auch ohne Ehe zusammengelebt hatten. Untersuchungen über Großbritannien und Deutschland haben gezeigt, dass die Soldatenfrauen – ungeachtet der Tatsache, dass sie die Leistungen erhielten, weil sie als »Abhängige« galten – das Geld als ihr eigenes Recht und eine Gegenleistung für ihre häusliche Arbeit verstanden; außerdem verbesserten sich durch die Zahlungen nachweislich die Lebensbedingungen der Kinder. Lathrop und ihre Mitarbeiter im Kinderamt schrieben dieser Neuerung, die in ihren Augen auf den »fortschrittlichsten und liberalsten Ideen« beruhte, größte Bedeutung für die künftige Politik in den Vereinigten Staaten zu.65

Mutterschaft, Vaterschaft, Bürgerschaft 1920–1950 Die Erfahrungen mit der Mutterschaftspolitik während des Ersten Weltkriegs blieben auch nach seinem Ende wichtig, sowohl für die Frauenbewegungen als auch für die Konsolidierung der europäischen Sozialstaaten. In den Ländern, wo Frauen stimmberechtigte und wählbare Staatsbürgerinnen wurden, nutzten viele von ihnen ihre Stimme und parlamentarische Repräsentation, um die Situation von Müttern zu verbessern. Im Vergleich zur Vorkriegszeit wandelte sich ihre Vorgehensweise: Utopische Visionen verblassten, pragmatische An64 Offen, Depopulation (wie Anm. 16), S. 659 f., 668–670; Françoise Thébaud, Le mouvement nataliste dans la France de l’entre-deux-guerres: l’Alliance Nationale pour l’Accroissement de la Population Française, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 32 (1985), S. 276–301; Yvonne Knibiehler u. Catherine Fouquet, Histoire des mères du moyen-âge à nos jours, Paris 1980. 65 Herbert Wolfe, Governmental provisions in the United States and Foreign Countries for Members of the Military Forces and their Dependents, hg. v. Julia Lathrop (U. S. Department of Labour, Children’s Bureau, Publication No. 28), Washington 1917, S. 13. Vgl. Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft: Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989, S.  169–183; Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995, I. Teil  und S. ­423–431 (außerdeutsche Länder); Susan Pedersen, Family, Dependence, and the Origins of the Welfare State: Britain and France, 1914–1945, Cambridge, MA 1993, S. 107–133.

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sätze rückten in den Vordergrund, Koalitionen mit anderen politischen Kräften wurden eingegangen. Die frühere Neigung, die Ausbeutung der Mütter anzuklagen und gleichzeitig die Mutterschaft zu glorifizieren, klang in den meisten Ländern allmählich ab, großenteils auch bei den Feministinnen selbst und mehr noch bei männlichen Politikern und Interessengruppen. Am deutlichsten war das in den Vereinigten Staaten. Die Frauenbewegung hatte 1921 mit dem Sheppard-Towner-Mutterschaftsgesetz einen beeindruckenden Erfolg errungen, und das neue Gesetz, das Bundesmittel für die Gesundheitsvorsorge für Mütter und Kinder bereitstellte, wurde eben deshalb von seinen Gegnern – unter anderem von den Ärzteverbänden, die Konkurrenz befürchteten – mit dem Argument angegriffen, es führe in den Vereinigten Staaten »Kommunismus« und »Kollektivierung« ein.66 Doch im Lauf der zwanziger Jahre wandte sich eine Minderheit der Frauenbewegung von der Konzentration auf Mütter und vom Mutterschaftsdiskurs ab, trat für eine strikte gesetzliche Gleichstellung von Männern und Frauen ein, unabhängig von Mutterschaft und Vaterschaft, und engagierte sich für solche Probleme, bei denen gleiche Gesetze als wünschenswert und realistisch erschienen; darüber hinaus bemühte man sich um einen Gleichberechtigungs-Zusatz zur Verfassung. Zur selben Zeit triumphierten die parlamentarischen Gegner auf dem Feld der Mutterschaftspolitik: Die Gewährung von Bundesmitteln für das Mutterschaftsgesetz wurde abgebrochen, und 1928 wurde das Gesetz schließlich aufgehoben. Damit wurde der Grundsatz verfestigt, dass Mutterschaft eine rein individuelle oder familiäre Aufgabe und Verantwortung sei und nicht etwa eine soziale bzw. sozialstaatliche. Erst im Rahmen des Bundesgesetzes über soziale Sicherheit (Social Security Act) von 1935 und dank der beharrlichen Lobby des Children’s Bureau wurden erneut Bundesmittel gewährt – für entsprechende Initiativen der Einzelstaaten –, nun aber nicht mehr als explizite Unterstützung für Mütter, sondern in geschlechtsneutralen Termini: als »Fürsorge für minderjährige Kinder« (aid to dependent children). Das Budget wurde nicht mehr von den Frauen des Children’s Bureau verwaltet, sondern von der Bürokratie der Social Security. Seither wurde in den Vereinigten Staaten kein Bundesgesetz für die Mütterwohlfahrt mehr erlassen. Erst in den sechziger und siebziger Jahren trat das Problem der »Fürsorge für minderjährige Kinder« erneut als eine Frauenfrage in das Licht der Öffentlichkeit – vorwiegend mit Bezug auf uneheliche und schwarze Mütter, die welfare mothers – und spielte später eine wichtige Rolle in der Formulierung der Hypothese von der »Feminisierung der Armut«.67 66 Lemons, Woman Citizen (wie Anm. 47), Kap. VI; ders., The Sheppard-Towner Act: Progressivism in the 1920s, in: JAH 55/4 (1969), S. 776–786; Joseph Benedict Chepaitis, The First Federal Social Welfare Measure: The Sheppard-Towner Maternity and Infancy Act, 1918– 1932, PhD Diss. Georgetown University 1968; Skocpol, Soldiers (wie Anm. 33), Kap. 9. 67 Hilda Scott, Working Your Way to the Bottom: The Feminization of Poverty, London 1984; Barbara Ehrenreich u. Frances Fox Piven, The Feminization of Poverty: When the »FamilyWage System« Breaks Down, in: Dissent 31 (1984), S. 162–170; Marisa Chappell, The War on Welfare: Family, Poverty, and Politics in Modern America, Philadelphia 2009; Gwendolyn

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Großenteils aufgrund der unermüdlichen Lobby von Frauen verabschiedete das Internationale Arbeitsamt im Jahr 1919 die Konvention von Washington; sie empfahl den im IAA vertretenen Staaten, gesetzliche Regelungen für einen sechswöchigen Mutterschaftsurlaub vor und nach der Entbindung, vollen Lohnersatz für diese Zeit und kostenlose medizinische Versorgung zu erlassen. Im Deutschland der Weimarer Republik, wo sowohl die Gleichberechtigung von Frauen und Männern als auch der Mutterschutz in der Verfassung verankert worden waren (Art. 109 und 119), kooperierten die weiblichen Abgeordneten aller Parteien (mit Ausnahme der Nationalsozialisten, die allerdings gar keine hatten) mit beträchtlichem Erfolg, um das Wochengeld und die Stillprämien für krankenversicherte Frauen und (nicht erwerbstätige) Angehörige versicherter Männer zu erhalten oder sogar zu erhöhen; sie knüpften hierbei an die im Krieg eingeführten Verbesserungen an. Ein Gesetz von 1919, das die Wochenhilfe beträchtlich ausweitete, galt als eines der ersten, in denen der neue Status der Frauen als Staatsbürgerinnen zum Ausdruck kam. Mit dem Mutterschutzgesetz von 1927, einem der wichtigsten Wohlfahrtsgesetze der Weimarer Republik, war Deutschland der erste große Industriestaat, der die Konvention von Washington einlöste.68 Die parlamentarische Arbeit zugunsten von Müttern, besonders denen der Arbeiterschaft, wurde von sozialistischen, liberalen und gemäßigten Feministinnen getragen. Letztere setzten sich auch weiterhin für den Zugang von Frauen zu gehobenen Berufen ein, besonders zu solchen, die als Ausdruck »geistiger« oder »sozialer Mutterschaft« angesehen wurden (z. B. Sozialarbeit, der Lehr- und Arztberuf). Aber trotz der fortdauernden Rhetorik über Mutterschaft und ihre Aufwertung als »Beruf« setzten sich deutsche Feministinnen während der Weimarer Republik nicht mehr für ein universelles Mutterschaftsgeld ein, das vom Erwerbsstatus unabhängig gewesen wäre; stattdessen richteten sich die entsprechenden Debatten und Bemühungen vornehmlich darauf, die Effizienz von Hausarbeit zu steigern und somit die für sie aufgewandte Zeit zu reduzieren. Anders war die Situation in Großbritannien. Die kriegsbedingten Trennungsbeihilfen, an deren Verwaltung Eleanor Rathbone mitgewirkt hatte, inspirierten sie auch weiterhin in ihrem lebenslangen Einsatz für eine universelle Mutterschaftsbeihilfe. Nachdem sie 1919 zur Vorsitzenden der National Union of Women’s Suffrage Societies (bald umbenannt in National Union of Societies für Equal Citizenship) gewählt und seit 1929 unabhängige Parlamentsabgeordnete war, stellte sie ihre Forderungen in den Zusammenhang einer Theorie der Geschlechterbeziehungen und einer feministischen Strategie, die sie »neuen Feminismus« und »wirkliche Gleichheit für Frauen« nannte. Damit beabsichtigte sie, »das zu fordern, was wir für die Frauen wollen, und zwar nicht weil es das ist, was die Männer haben, sondern weil es das ist, was Frauen brauchen, Mink u. Rickie Solinger (Hg.), Welfare. A Documentary History of U. S. Policy and Politics, New York 2003. 68 Vgl. Stoehr, Housework (wie Anm. 11), S. 227; Neyer (wie Anm. 20), S. 752.

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um das Potential ihrer eigenen Natur zu entfalten und den Umständen ihres eigenen Lebens gerecht zu werden.« Dies bedeute auch, dass »die gesamte gesellschaftliche Struktur und Dynamik gleichermaßen die Erfahrungen, Bedürfnisse und Bestrebungen der Frauen berücksichtigen muss.«69 Verglichen mit dem Vorkriegsfeminismus war diese Sicht weniger neu, als sie beanspruchte, doch in der Zwischenkriegszeit stellte Rathbones umfangreiches Werk »The Disinherited Family« (1924) die wichtigste ökonomische Analyse dar, welche die Notwendigkeit unabhängiger finanzieller Leistungen an Mütter begründete: als feministische Alternative zu einer Gesellschaftsordnung, die auf dem Lohn des männlichen »Ernährers« basierte. Auch sprach Rathbone sich entschieden gegen den wachsenden Einfluss der Eugenik aus (später engagierte sie sich auch gegen den Antisemitismus in Deutschland). Dem eugenischen Argument, dass Beihilfen für die Mütter der Unterschichten, die ohnehin zu viele Kinder hätten, sie (und ihre Ehemänner) dazu bringen würden, noch mehr Kinder in die Welt zu setzen, hielt sie entgegen, dass der höhere Lebensstandard, den Frauen durch solche Beihilfen erreichten, sie viel eher dazu veranlassen würde, von sich aus Geburtenkontrolle zu praktizieren.70 Obwohl ihre grundsätzliche Analyse dieselbe blieb, änderten sich wichtige Details ihrer praktischen Vorschläge. Utopische Visionen traten zurück, und in den Vordergrund trat die Suche nach pragmatischen Lösungen, nicht zuletzt auch als Reaktion auf die jahrelange Kritik anderer Frauen, der zufolge Mütter keinesfalls Beihilfe für sich selbst, sondern allenfalls für die Bedürfnisse ihrer Kinder erhalten sollten und weitergehende Zuwendungen die Frauen vom Arbeitsmarkt vertreiben würden.71 Während Rathbone zuvor Beihilfen sowohl für die Mütter als auch für die Kinder vorgeschlagen hatte, ging es nun nurmehr um »Kinder-« oder »Familienbeihilfen« (child allowances, family allowances). Wie in den USA und anderen Ländern bewegte sich der Diskurs weg von der einstigen Zentralität von Frauen und ihrer »Differenz«, hin zu einer geschlechtsneutralen Terminologie. Doch ungeachtet der Terminologie bestanden diejenigen Teile der Frauenbewegung, die sich für Familienbeihilfen einsetzten, auch weiterhin darauf, dass diese an die Mütter gezahlt werden und eine Art Kompensation für ihre häusliche Arbeit darstellen sollten. Und die Gegner der Beihilfen verstanden sehr wohl die gleichbleibende Bedeutung dieser Forderung. In Großbritannien wandten sich sowohl die Konservativen als auch einige Gewerkschaften heftig gegen solche Vorstellungen, und in der Labour Party, die in dieser Frage gespalten war, plädierten in der Regel die Frauen für eine reduzierte Form (z. B. nur für Witwen) und Männer für Sach- statt Geldleis­tungen.72 69 Zit. in: Lewis, Politics (wie Anm. 6), S. 169, u. in: dies., Equality (wie Anm. 27), S. 82. 70 Rathbone, Family (wie Anm. 29), bes. S. 316–24; vgl. dies., Rescue the Perishing, London 1943; Pedersen, Rathbone (wie Anm. 29), Kap. III u. IV, bes. S. 210 f. 71 Dyhouse (wie Anm. 24), S. 95, 102. 72 Hierzu und zum Folgenden vgl. Thane (wie Anm. 26), bes. S. 107–114; John Macnicol, The Movement for Family Allowances 1918–1945: A Study in Social Policy Development, London 1980; Pedersen, Family (wie Anm. 65).

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Die Konservativen suchten die Staatsausgaben zu begrenzen, Gewerkschaften befürworteten weiterhin einen männlichen Familienlohn (also höhere Löhne für Männer als für Frauen) und hatten Grund zu glauben, dass ihr Kampf durch ein Mutterschaftsgeld, auch in eingeschränkter Form, gefährdet würde; das Hauptargument der Mehrheit war, eine staatliche Familienzulage würde zu einer Reduktion der Männerlöhne führen. Ramsay MacDonald, Führer der Labour Party und künftiger Premierminister – seine Ehefrau Margaret plädierte für die Anerkennung der häuslichen Frauentätigkeit als vollwertige Arbeit, aber nicht für ein Mutterschaftsgeld, sondern für einen eigenen Anteil der Frau am männlichen Familienlohn  – wandte sich zwar gegen die »Eman­zipation des Mannes«, die er sich durch die traditionelle »Sklaverei« seiner Frau verschaffen konnte; aber ein motherhood endowment erklärte er für eine un­sozialistische Form von verwerflichem Individualismus, die manche irrigerweise für Sozialismus hielten. Keineswegs könne postuliert werden  – wie es die Befürworter des motherhood endowment tun –, »that the mother is performing a social function.« Würde man das annehmen, so müsste der Staat diese Funktion kontrollieren, bevor er zu zahlen hätte, aber das sei ganz unmöglich. Und im künftigen sozialistischen Staat werde »das Recht von Müttern und Kindern auf Versorgung nicht vom Staat anerkannt werden, sondern von der Familie.«73 Während seit 1920 viele Frauenorganisationen (etwa die genannte National Union und die Frauen der Labour Party) die Forderung nach Familiengeld in ihr Programm aufnahmen – manchmal neben der Forderung nach freiem Zugang zu Mitteln der Empfängnisverhütung –, sprach sich eine andere Gruppe von Feministinnen gegen eine Mutterschaftspolitik aus und propagierte iden­ tische Gesetze und strikte Gleichheit für Männer und Frauen; ähnlich wie in den Vereinigten Staaten führte das zu einer tiefen Spaltung in der Frauen­ bewegung. Seit den dreißiger Jahren löste sich die Debatte um Familienbeihilfen von der »Frauenfrage« und griff andere Probleme auf (besonders die mögliche Auswirkung der Beihilfen auf Löhne und Inflation); es war vor allem der Widerstand von Konservativen und Gewerkschaften, der die Einführung der Beihilfen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verhinderte. Als schließlich 1945 ein Gesetzentwurf für eine universelle staatliche Familienbeihilfe, unabhängig vom Ehe- und Berufsstand, dem Parlament vorgelegt wurde, sah er fünf Schillinge pro Woche vor (statt der acht Schillinge, die der Beveridge-Plan von 1942 empfohlen hatte). Abweichend von den Plänen der Frauen, in denen auch das erste Kind berücksichtigt wurde, sollte die Beihilfe erst vom zweiten Kind ab gewährt und im Übrigen nicht an die Mutter gezahlt werden, sondern an den »Haushaltsvorstand«. Rathbone, viele andere Frauen und Frauenorganisationen protestierten innerhalb und außerhalb des Parlaments: Der Entwurf würde »den Status der Mutterschaft nicht anheben, sondern erniedrigen«, denn 73 Ramsay MacDonald, Socialism and Government, London 1909, Bd.  I, S.  147 f., 151; vgl. S. XIV (dt. 1912, S. 176–178). Vgl. Thane, Visions (wie Anm. 26), S. 98, 108; Lewis, Models (wie Anm. 27), S. 78.

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er behandle die Ehefrau »als bloßes Anhängsel« ihres Mannes.74 Dem weiblichen Proteststurm gelang es dann tatsächlich, die Zahlung direkt an die Mütter zu erwirken. Gemessen an den ursprünglichen Zielen des maternalistischen Feminismus – Anerkennung der »Mutterschaft als soziale Funktion« und Ablösung des männlichen »Ernährer«-Lohns durch eine Umverteilung des Einkommens von Männern auf Frauen – war der Family Allowance Act eine Niederlage. Trotzdem war er auch ein Sieg, denn er erkannte das Recht von Müttern auf ein eigenes Einkommen außerhalb der herkömmlichen Lohnstruktur an. Bemerkenswert ist das besonders im Vergleich mit den europäischen Diktaturen jener Zeit, unter denen die – väterbezogenen – Familienbeihilfen tatsächlich den Status der Mütter nicht anhoben, sondern erniedrigten. Die child allowances in Australien (1941) und family allowances in Kanada (1944) glichen denjenigen in Großbritannien und folgten auf ähnliche Debatten innerhalb und außerhalb der Frauenbewegung.75 Das Beispiel Norwegens zeigt, wie die Mutterschaftsideologie und die Forderung nach einem Mütterlohn, die noch in den zwanziger Jahren sehr virulent waren, allmählich in den Hintergrund gedrängt wurden. In den dreißiger und vierziger Jahren wurden geschlechtsneutrale Kinderbeihilfen (barnetrygd)  diskutiert; sie waren nicht mehr mütter-, sondern kinder- und familienzentriert. Grundsätzlich war es in der Debatte darum gegangen, ob das kindliche Wohlergehen durch Lohnzuschüsse, Staatsbeihilfe oder Dienst- und Naturalleistungen gefördert werden solle. Die Arbeiterbewegung lehnte Kinderbeihilfen als solche nicht ab, wandte sich jedoch gegen ihre Form als Lohnzulagen und trat seit den zwanziger Jahren für die Übernahme durch den Staat und die Finanzierung durch Steuern ein. Sozialistische und nichtsozialistische Feministinnen befürworteten auch weiterhin die ausschließliche Zahlung an Mütter. Als die universelle Kinderbeihilfe schließlich 1946 vom Parlament beschlossen wurde, war sie für die Mütter bestimmt, aber zu niedrig, um als »Mütterlohn« im ursprünglich propagierten Sinn zu gelten; sie war somit keine eigenständige Einkommensquelle, sondern lediglich ein Zuschuss. Arme Mütter waren bis 1957 und 1964, als Witwen und alleinversorgenden Müttern ein rechtlicher Anspruch auf Geldleistungen gewährt wurde, auf die kommunale Armenfürsorge angewiesen.76 In Schweden 74 Zit. in: Fleming (wie Anm. 29), S. 90. 75 Vgl. Bettina Cass, Rewards for Women’s Work, in: Jacqueline Goodnow u. Carole Pateman (Hg.), Women, Social Science and Public Policy, Sydney 1985, S. 67–94; dies., Redistribution to children and to mothers: a history of child endowment and family allowances, in: dies. u. Cora V. Baldock (Hg.), Women, Social Welfare and the State, Sydney 1983, S. 54–84; Rob Watts, Family Allowances in Canada and Australia 1940–1945: A Comparative Critical Case Study, in: Journal of Social Policy 16 (1987), S. 19–48; Ann Curthoys, Equal pay, a family wage or both: women workers, feminists and unionists in Australia since 1945, in: Barbara Caine u. a. (Hg.), Crossing Boundaries. Feminisms and the Critique of Knowledges, Sydney 1988, S. 129–140. 76 Seip u. Ibsen (wie Anm. 54). Vgl. auch Helga Maria Hernes, Die zweigeteilte Sozialpolitik, in: Karin Hausen u. Helga Nowotny (Hg.), Wie männlich ist die Wissenschaft?, Frankfurt a. M.

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wurde 1937 ein staatliches Müttergeld gewährt, auf das über 90 Prozent aller Mütter ein Anrecht hatten, außerdem zusätzliche Leistungen für die bedürftigen. Diese Reformen waren großenteils das Ergebnis der vorausgegangenen Vorschläge und Aktivitäten der Frauenbewegung, aber auch einer neuen so­ zialdemokratischen Familienpolitik, die pronatalistische Bestrebungen mit Sozialreformen verband, wie sie von Alva Myrdal und Gunnar Myrdal entworfen worden waren. Universelle Kinderbeihilfen wurden 1947 gesetzlich ein­geführt; ähnlich wie in anderen demokratischen Ländern gingen sie an die Mütter. Sowohl in Schweden als auch in Norwegen wurden diese Reformen durch pronatalistische Bestrebungen gefördert, auch wenn sie hier weniger prononciert waren als in einigen anderen Ländern. Hier wie in manchen anderen Fällen zeigt sich, dass der Pronatalismus zur Verbesserung der Lage von Müttern (und damit zu emanzipatorischen Tendenzen) beitragen konnte, wenn und indem er für sie zu einem unabhängigen Einkommen beitrug.77 Von den europäischen Ländern war Frankreich dasjenige, wo der Pronatalismus am ausgeprägtesten war – unter Politikern und organisierten männlichen Bevölkerungsexperten ebenso wie in der Volkskultur und Folklore. Er dauerte auch in der Zwischenkriegszeit unvermindert an, als nach einem kurzen Babyboom in den frühen zwanziger Jahren die Geburtenrate weiterhin sank und in den späten dreißiger Jahren einen Tiefstand erreichte. Im Jahr 1920 wurden der Muttertag und ein Orden für Mütter mit fünf oder mehr Kindern eingeführt. Im selben Jahr wurde jegliche antinatalistische Propaganda – besonders seitens der neomalthusianischen Vereine – verboten, und ein Gesetz von 1923 sorgte einerseits für eine striktere Durchsetzung der Bestrafung von Abtreibungen, während es andererseits die Abtreibung, zuvor als Verbrechen geahndet, nun als ein bloßes Vergehen einstufte, also mit geringerer Strafe belegte. Das Sozialversicherungsgesetz von 1928, das sich teilweise an dem deutschen Modell orientierte, integrierte die Mutterschaftsgesetze von 1913 in ein Krankenversicherungsmodell (und wiederum wandten sich die Feministinnen gegen die Gleichsetzung von Schwangerschaft und Geburt mit Krankheit). Es betraf versicherte, also erwerbstätige Frauen und die (nichterwerbstätigen) Ehefrauen versicherter Männer, gewährte kostenlose medizinische Versorgung im Kindbett, verlängerte die Zeit des Mutterschaftsurlaubs und erhöhte das Wochengeld.78 Französinnen und ihre Frauenorganisationen lehnten den familienfreundlichen und pronatalistischen Konsens keineswegs ab, und es war einiger­maßen 1986, S. 163–178; dies., Wohlfahrtsstaat und Frauenmacht: Essays über die Feminisierung des Staates, Baden-Baden 1989. 77 Ann-Sofie Ohlander, The Invisible Child? The Struggle for  a Social Democratic Family­ Policy in Sweden, 1900–1960s, in: Maternity 1991, S. 60–72. 78 Henri Hatzfeld, Du paupérisme à la sécurité sociale. Essai sur les origines de la sécurité sociale en France, 1850–1940, Paris 1971; Karen Offen, Body Politics: Women, Work, and the Politics of Motherhood in France, 1920–1950, in: Maternity 1991, S. 138–159; Françoise Thébaud, Quand nos grand-mères donnaient la vie: la maternité en France dans l’entre-deuxguerres, Lyon 1986.

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schwierig geworden, die pronatalistischen Ziele (mit Ausnahme der väterzentrierten) von den feministischen Zielen des Mutter- und Kinderschutzes zu unterscheiden. Allerdings vermochten die Pronatalisten, so das Ergebnis einer Studie, »die Eltern zwar davon zu überzeugen, dass Frankreich dringend eine pronatalistische Gesetzgebung brauche, nicht aber von der Dringlichkeit, dass sie als Eltern mehr Kinder haben müssten.«79 In den späten zwanziger und den dreißiger Jahren dauerte die Debatte über Mutterschaft als »soziale Funktion« versus »Familien-« oder »individuelle Funktion« an, wobei die Befürworterinnen der (privaten) »Familienfunktion« eine staatliche Zahlung ablehnten und die Befürworterinnen der (öffentlichen) »sozialen Funktion« sie favorisierten. Cécile Brunschvicg sprach sich 1930 für einen Kompromiss aus: Als Feld für staatliche Zuwendung solle Mutterschaft lediglich bei Frauen ohne Ehemann gelten, außerdem bei solchen, deren Ehemann sie nicht zu versorgen vermochte; hier stehe der Staat in der Pflicht.80 Dagegen bestand die Frauenunion für Bürger- und soziale Rechte (Union Féminine Civique et Sociale, UFCS) – das war die am ehesten feministische Organisation unter den zahlreichen katholischen Frauenvereinen, und im Unterschied zu der vorwiegend protestantischen und jüdischen Führung der säkularen Frauenbewegung hing sie dem Sozialkatholizismus an – auf Konzepten, die mit »fonction spéciale« oder »mission maternelle« umschrieben wurden und, zumal während der Wirtschaftskrise, ausschließlich die Häuslichkeit als legitimen Ort und vollwertige Arbeit von Müttern definierten. Das hielt sie (und andere katholische Frauenorganisationen) allerdings nicht davon ab, sich für staatliche Investitionen in die Familie einzusetzen, und sie hatte damit größeren Erfolg als die säkular-feministische Bewegung. Die UFCS befürwortete sowohl den in der päpstlichen Enzyklika »Quadragesimo Anno« (1931) empfohlenen Familienlohn für Väter als auch, darüber hinausgehend, eine Mütterbeihilfe für nichterwerbstätige Frauen (allocation de la mère au foyer) und plädierte für das Recht von Müttern, sich ganz ihren Kindern zu widmen; auch der Französische Frauenwahlrechtsverband (Union Française pour le Suffrage des Femmes) unterstützte 1937 dieses Ziel, wobei er allerdings die Müttererwerbstätigkeit nicht grundsätzlich verurteilte, zumal die Frauenerwerbsquote in Frankreich weitaus höher lag als anderswo.81 Die Position der UFCS ähnelte früheren feministischen Vorschlägen; doch sie unterschied sich von ihnen darin, dass sie den männlichen Familienlohn und das Mütter79 Marie-Monique Huss, Pronatalism in the Inter-war Period in France, in: JCH 25 (1990), S. 39–68, hier S. 64. 80 Cécile Brunschvicg, La Maternité, fonction familiale ou sociale?, in: La Française, 3.5.1930, zit. in: Cova, French (wie Anm.  13), S.  130; Cova, Maternité (wie Anm.  13), S.  335 f.; vgl. Cova, Féminismes (wie Anm. 13), S. 142–156; Offen (wie Anm. 78), S. 145 f. 81 Hierzu und zum Folgenden vgl. Anne Cova, »Au service de l’Église, de la patrie et de la famille«: Femmes catholiques et maternité sous la IIIe République, Paris 2000, Kap.  5 u. 6; Offen (wie Anm. 78); Pedersen (wie Anm. 65); Naomi Black, Social Feminism in France: A Case Study, in: dies. u. Ann Baker Cottrell (Hg.), Women and World Change: Equity Issues in Development, Beverly Hills 1981, S. 217–238.

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geld nicht als Alternative sah, sondern beides verlangte und damit vermied, den Papst und auch die Arbeiterorganisationen gegen sich aufzubringen, die (ebenso wie in Großbritannien) im Müttergeld eine Gefahr für die Männerlöhne sahen. Französinnen unterstützten außerdem universelle und staatlich finanzierte Familienbeihilfen. In Frankreich entstanden sie aus einer Reihe von Vorläufern, von denen einige auch in anderen Ländern existierten: die Gesetze von 1913 (Kinderbeihilfe für bedürftige Familien und für Beamte) und die von Arbeitgebern finanzierten Familienbeihilfen (allocation familiales), die in den zwanziger Jahren weit verbreitet, aber auf bestimmte Regionen und Branchen beschränkt waren. Diese allocations waren meist aus der Lohn- und Arbeitsmarktpolitik der Unternehmer entstanden und wurden durch Ausgleichskassen finanziert, in die mehrere Arbeitgeber einzahlten; obwohl die Gewerkschaften sie ablehnten, brachten sie vielen Arbeitern und ihren Familien Nutzen. Da Frauen einen hohen Anteil an der Arbeiterschaft stellten, wurden die Beihilfen oft direkt an die Mütter gezahlt. Im Jahr 1932 wurde erstmals in Europa (und überhaupt) ein Familienbeihilfegesetz erlassen: Es verpflichtete alle Arbeitgeber, sich binnen kurzem jenen Ausgleichskassen anzuschließen und in sie einzuzahlen; wenngleich das Gesetz nur allmählich verwirklicht wurde und große Gruppen von Arbeitern noch jahrelang ausgeschlossen blieben, machte es doch aus einer Lohnpolitik der Industrie eine nationale Familienpolitik, der das Prinzip einer familienzentrierten distributiven Gerechtigkeit zugrunde lag. Es wurde 1938 und dann nochmals durch den umfassenden Code de la famille von Juli 1939 erweitert, systematisiert und ergänzt durch eine Verschärfung des Abtreibungsverbots. Die Höhe der allocations familiales hing vom Durchschnittslohn der Region ab, und sie wurden meist an die Mütter ausbezahlt. Sie bestanden aus einer einmaligen Prämie für das erste Kind (falls bis zu zwei Jahren nach der Heirat geboren), zu zahlen an die Mutter; des weiteren aus einer Zahlung von zehn Prozent des Familieneinkommens für das zweite Kind und einer von zwanzig Prozent für jedes weitere Kind; darüber hinaus gab es die allocation de la mère au foyer, die nochmals zehn Prozent ausmachte. Unter dem VichyRegime gab es bezeichnenderweise – wie unter allen autoritären Regimen dieser Zeit – nicht mehr die eigenständige Zahlung an nichterwerbstätige Mütter, sondern das Müttergeld wurde in den »Einheitslohn« (salaire unique) des (männlichen oder weiblichen) Familienernährers integriert. Die Vierte Republik erhöhte 1946 die Kinderbeihilfen (jetzt prestations familiales), zusätzlich gab es ein staatliches Müttergeld. In den fünfziger Jahren wurde es auch den Ehefrauen von Selbständigen gewährt, besonders in der Landwirtschaft, wo zuvor kein Anrecht darauf bestanden hatte. Im Nachkriegs-Frankreich wurde mittels der Familien- und Mütterbeihilfen – mehr als in anderen europäischen Ländern – ein erheblicher Teil des nationalen Einkommens zugunsten von Menschen mit Kindern umverteilt.82 82 Vgl. Alain Barjot, L’allocation de salaire unique et l’allocation de la mère au foyer en France, Saint-André-Bruges 1967; Flora u. Heidenheimer (wie Anm.  1), S.  341. Susan Pedersen

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Ging in der Zwischenkriegszeit der feministische Maternalismus überall in Europa zurück, so wurde er in den aufkommenden Diktaturen gänzlich verdrängt, wenngleich auf unterschiedliche Weise. Im franquistischen Spanien und im faschistischen Italien herrschte eine ausgesprochen aggressive pronatalistische Rhetorik vor und wurde von einem männlich dominierten Katho­ lizismus unterstützt; doch hatte sie keinen nachweislichen Einfluss auf die Geburtenrate  – diese sank weiterhin (auf 23 pro Tausend in Spanien im Jahr 1943 und ebenso in Italien 1935). In Italien, wo virilità ein Kernbegriff des Faschismus war, initiierte Mussolini fünf Jahre nach seiner Machtergreifung eine pronatalistische Politik mittels einer breiten Propaganda in der Tagespresse; diese »demographische Schlacht« entsprach seinem Diktum von 1927: »Wer nicht Vater ist, ist kein Mann.«83 Steuerfreibeträge für Ehefrau und Kinder auf das Einkommen des Familienvaters wurden in den späten zwanziger Jahren eingeführt (sie trugen allerdings wenig zum Familieneinkommen bei, da die meisten italienischen Männer nicht die Einkommensgrenze erreichten, oberhalb derer Steuern zu entrichten waren). Seit 1936 gewährte man erwerbstätigen Vätern staatlich finanzierte Beihilfen für Frau und Kinder (­ assegni familiari). Ab 1939 erhielten Väter sogar Gebärprämien; dafür wurde die alte, feministisch inspirierte cassa di maternità abgeschafft. Alle pronatalistischen (und auch andere) Maßnahmen waren auf Vaterschaft und Männlichkeit ausgerichtet, und im Zentrum von Bild und Realität der Familie stand eine neuartige väterliche Dominanz, die sich krass vom Familienbild des früheren maternalistischen Feminismus unterschied. Nur eine Ausnahme gab es: das staatlich finanzierte nationale Amt für Mütter- und Kinderwohlfahrt (Opera nazionale per la maternità ed infanzia), das sich um Gesundheitserziehung und Unterstützung für bedürftige und alleinerziehende Mütter bemühte, auch in den rückständigen ländlichen Regionen. Da es vom Staat betrieben und finanziert wurde, implizierte es eine gewisse Anerkennung des Status von Müttern.84 Auch in Spanien, wo die einstige Frauenbewegung vielfach die Aufwertung der Mutterschaft angestrebt hatte, werteten die neuen Reformen die Vaterschaft auf und bestärkten die Figur des jefe de familia. Staatliche Familienbeihilfe (subsidio familiar) wurde 1938 eingeführt und Familienprämien (plus de cargas familiares) für breitere Schichten der Bevölkerung im Jahr 1945;

spricht für den französischen Sozialstaat von einem »parental welfare state«, im Unterschied zum britischen »patriarchal welfare state«; vgl. Pedersen, Family (wie Anm.  65), Kap. 6 u. 7. 83 Benito Mussolini, Vorwort zu: Richard Korherr, Regresso delle nascite, morte dei popoli, Roma 1928, S. 23; vgl. Chiara Saraceno, Redefining Maternity and Paternity: Gender, Pronatalism and Social Policies in Fascist Italy, in: Maternity 1991, S. 196–212; Victoria de Grazia, How Fascism Ruled Women: Italy, 1922–1945, Berkeley, CA 1992, bes. Kap 3. 84 Vgl. Elisabetta Vezzosi, Maternalism in  a Paternalistic State: The National Organization for the Protection of Motherhood and Infancy in Fascist Italy, in: van der Klein u. a. (wie Anm. 7), S. 190–204; de Grazia (wie Anm. 83), bes. S. 60–69.

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beide gingen an die Väter,85 ebenso wie in Portugal die 1942 eingeführten Familienbeihilfen. Auch der Nationalsozialismus betrieb einen Männlichkeitskult. Pronatalismus und staatliche Sozialpolitik begünstigten Ehemänner und Väter, besonders bei den Freibeträgen in der Einkommensteuer (sie wurden 1934 und 1939 erhöht) und den Kinderbeihilfen, die es ab 1935 einmalig, ab 1936 dauerhaft gab. Für diese Subventionen galt zweierlei: erstens waren sie weitaus bescheidener als diejenigen in Frankreich, und zweitens galt: »Der Begriff Vater ist eindeutig und muss in den Mittelpunkt der steuerlichen und sonstigen Maßnahmen gestellt werden« (so Reichsminister Hans Frank). Dem Alt-Nazi und Rassen- sowie Familienexperten Fritz Reinhardt, dem entscheidenden Mann im Finanzministerium, ging es darum, dass »nicht mehr ein Mann, nur weil er seine Pflichten gegenüber der Nation erfüllt hat, materiell oder ideell schlechter dasteht als der sogenannte kluge Junggeselle in der Konkurrenz.«86 Noch 1933 hatten einige (nationalsozialistische) Frauen diesen Trend kritisiert: »Der ganze Mutterkult ist unter solchen Umständen nur Lippenkult.« Im selben Jahr und kurz vor ihrer Emigration 1934, verlangte die Wirtschaftswissenschaftlerin Frieda Wunderlich eine Besserstellung der mit »Erwerbsarbeit, Hauswirtschaft und Mutterschaft« dreifach Belasteten, und noch 1934 tadelte eine Autorin der Zeitschrift »Die Frau« (weiterhin herausgegeben von Gertrud Bäumer) die Finanzpolitik, welche Männer für die Geburten ihrer Frauen prämierte; sie forderte einen vom eigenen Erwerbsstatus und vom ehemännlichen Einkommen unabhängigen »Muttersold«.87 Doch dann verschwanden solche Stimmen aus der Publizistik. Von der Ausrichtung auf die Vaterschaft gab es drei (wenigstens scheinbare)  Ausnahmen. Die Organisation »Mutter und Kind« gewährte »wertvollen« – und ausschließlich solchen – bedürftigen Müttern Unterstützung, aber schloss nicht – wie die Parallele in Italien – eine gewisse staatliche Anerkennung der mütterlichen Arbeit ein, denn sie gehörte zur Partei bzw. zur NS-Volks85 Vgl. Mary Nash, Pronatalism and Motherhood in Franco’s Spain, in: Maternity 1991, S. 160– 177; dies. u. a., Maternidad, maternología y reforma eugénica en España, 1900–1939, in: Françoise Thébaud (Hg.), Historia de las mujeres. El siglo XX, übers. v. Marco Aurelio Galmarini, Madrid 1996, S. 627–646; dies., Social eugenics and nationalist race hygiene in early 20th-Century Spain, in: HEI 15/4–6 (1992), S. 741–748. 86 Hans Frank im Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Rechtsfragen der Bevölkerungspolitik am 18.11.1937; zum Kontext vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus: Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik, Münster 20102 (Opladen 19861), S. 155 und 171 f.; Fritz Reinhardt, zit. in: Walter Groß, Unsere Arbeit gilt der deutschen Familie, in: Nationalsozialistische Monatshefte 9 (1939), S. 99–106, hier S. 99; vgl. Fritz Reinhardt, Die neuen Steuergesetze, Berlin 1934. 87 Irmgard Reichenau (Hg.), Deutsche Frauen an Adolf Hitler, Leipzig o. J. (1933), S. 7, 15, 25, 37; Frieda Wunderlich, Der Schutzanspruch der Frau an den Staat, in: Die Frau 40 (1933), S.  366–369; Charlotte Heinrichs, Besoldung der Mutterschaftsleistung, in: Die Frau  41 (1934), S. 343–348. Hierzu und zum Folgenden vgl. auch Bock (wie Anm. 86), S. 124–127, 174–177.

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wohlfahrt und wurde über Spenden finanziert. Allerdings war sich ihr Chef mit Bormann und Himmler darin einig, dass »das Lohnmotiv« einer »ichsüchtigen Nächstenliebe« verwerflich sei, und er betonte, dass die Mutter »immer wieder schenkt und gibt« und eine schlechte Mutter wäre, würde sie »eine Gegenrechnung aufmachen«.88 Zweitens ist das »Ehrenkreuz« für Mütter mit vier oder mehr Kindern zu nennen, das 1939 nach dem französischen Modell von 1920 eingeführt wurde (1944 gab es auch eines in der Sowjetunion), aber eben nichts als »Ehre« brachte.89 Drittens war es 1942 – erst ein Jahrzehnt nach der Machtergreifung!  – die Novellierung des Mutterschutzgesetzes von 1927, mit der »deutsche« Erwerbstätige beträchtlich bessergestellt wurden (es gab vollen Lohnausgleich für einen bis zu 18 Wochen dauernden Urlaub, Stillgeld, Kündigungsschutz für fast ein Jahr, bezahlte Stillzeit und Kinderhorte), um ihnen die Kombination von Mutterschaft und Erwerbstätigkeit zu erleichtern.90 Aber der Nationalsozialismus verfolgte seine Ziele mit weitaus drastischeren Mitteln als einem Vaterkult, denn in seinem Zentrum stand die Rassenpolitik (deren eigenständige Männlichkeitsfixierung allerdings unübersehbar war).91 Von den teils späten, teils spärlichen, teils auf Gruppen beschränkten Leistungen für Mütter blieben die nicht-»erbgesunden« und nicht-»deutschen« ausgeschlossen, darunter – im Fall des Mutterschutzgesetzes und mittels einer sofort hinzugefügten Ausführungsverordnung  – vor allem die ausländischen Arbeiterinnen, die damals zu Hunderttausenden in Deutschland zu arbeiten gezwungen waren (1944: fast zwei Millionen); beim Mutterkreuz waren die Ausschlusskriterien am mildesten, weil ja nur kostenfreie »Ehre« zu verteilen war. Anders als etwa der französische, italienische oder spanische Pronatalismus war der nationalsozialistische nicht universal. Antinatalistische Propaganda verbreitete sich während der Weltwirtschaftskrise und wuchs mit der nationalsozialistischen Machtergreifung mächtig an. Das erste bevölkerungspolitische Gesetz (von Juli 1933) war nicht pronatalistisch, sondern antinatalistisch und verfügte die zwangsweise Sterilisation von »biologisch minderwertigen« Men88 Hilgenfeldt an Bormann aufgrund eines Gesprächs mit Himmler, 16.9.1942 (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, NS 18/2427 [alte Signatur]). 89 Vgl. dazu Bock (wie Anm.  86), S.  125–127. Zu Kontroversen um die »Ehre« vgl. Michelle Mouton, From Nurturing the Nation to Purifying the Volk: Weimar and Nazi Family Policy, 1918–1945, New York 2007, S. 128–139. 90 Dass ausgerechnet mittels dieses Gesetzes »deutsche« Frauen nach einem NS-»Endsieg« wieder an »Heim-und-Herd« verbannt worden wären, ist eine Spekulation, die ebenso wenig belegt oder überzeugend ist wie die ältere These, dass der Nationalsozialismus dasselbe schon ab 1933 praktiziert habe. Vgl. Neyer (wie Anm. 20), S. 253 f.; Carola Sachse, Das national­sozialistische Mutterschutzgesetz. Eine Strategie zur Rationalisierung des weiblichen Arbeitsvermögens im Zweiten Weltkrieg, in: Dagmar Reese u. a. (Hg.), Rationale Beziehungen? Geschlechterverhältnisse im Rationalisierungsprozeß, Frankfurt a. M. 1993, S. 270–292; Dörte Winkler, Frauenarbeit im »Dritten Reich«, Hamburg 1977, S. 154–157. 91 Zu letzterem vgl. z. B. die Analysen von Mosse und Poliakov, zit. oben, bei Anm. 48 zum Kapitel »Frauengeschichte und Geschlechtergeschichte«.

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schen.92 Die väterzentrierten Familienbeihilfen waren niemals für alle Väter konzipiert: rassisch und rassenhygienisch unerwünschte blieben ausgeschlossen und sollten keine Kinder haben. Kein anderes Land verfolgte eine antinatalistische Politik ähnlichen Ausmaßes. Die nationalsozialistische Entwertung und Instrumentalisierung von Mutterschaft, Vaterschaft und menschlichem Leben, der Antinatalismus und Männlichkeitskult waren Stufen auf dem Weg zum Massenmord an »minderwertigen« Frauen und Männern: der Juden, der Roma und der ostmitteleuropäischen Völker.93 Bekanntlich gab es ethnischen und eugenischen Rassismus nicht nur im Rahmen des Nationalsozialismus, sondern auch in anderen politischen Gruppierungen und Ländern, allerdings mit manchen Unterschieden in Theorie und Praxis. Der Begriff »Rasse« wurde umgangssprachlich in allen hier genannten Ländern verwandt. Doch sein Gebrauch war nicht immer ein Indikator von Rassismus, d. h. von Diskriminierung aufgrund von ethnisch oder eugenisch motivierter »Minderwertigkeit«, schon gar nicht im Fall von »human race«; oft bedeutete er bloß »Gesellschaft«, »Gemeinschaft« oder »Nation«, vor allem im Hinblick auf das jeweilige Fortpflanzungspotential, auf Herkommen und Nachkommen. Das war gewöhnlich auch der Fall, wo der Begriff in der mutterschaftsorientierten Sprache der Frauenbewegung auftauchte (»mothers of the race« o.ä.). Gleichwohl schlossen sich auch einige Feministinnen – ebenso wie viele Sozialisten – der Eugenik an, insbesondere die radikaleren neo-malthusia­ nischen Befürworterinnen von Geburtenverhütung (weitaus weniger die gemäßigten Feministinnen), und plädierten für staatlich betriebene, zuweilen auch zwangsweise Geburtenverhinderung. Hier wurde das ältere feminis­tische Ziel – Mutterschutz als Kampf gegen weibliche Armut – in sein Gegenteil verkehrt: in den Ausschluss Unterprivilegierter von Mutterschaft und Mutterschutz. In den Vereinigten Staaten waren es z. B. Margaret Sanger und ihre Mitarbeiter, die einerseits die Mutterschaft glorifizierten (allerdings ihre materielle Wertschätzung ablehnten) und andererseits die Geburtenverhinderung als eine Lösung für alle denkbaren Frauen- und Gesellschaftsprobleme sahen, besonders hinsichtlich der Armen und Einwanderer. In Deutschland befürworteten in den zwanziger Jahren einige wenige Feministinnen die Zwangssterilisation von »Asozialen«, und manche sahen den eugenischen Diskurs als einen Weg, 92 Vgl. das folgende Kapitel in diesem Band. Dem Gesetz gegen Arbeitslosigkeit (1. Juni 1933) wurde nachträglich ebenfalls ein antinatalistischer Fokus eingefügt; vgl. Gabriele Czarnowski, Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991, bes. S. 103–110. 93 Vgl. Bock (wie Anm. 86), Kap. VI.4. u. VII.2. Zu den Stufen vgl. Hans-Walther Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten« Lebens 1890–1945, Göttingen 1987, S. 361–364; Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, Kap. 2 u. S. 84; Gisela Bock, Sterilization and »Medical« Massacres in National Socialist Germany. Ethics, Politics, and the Law, in: Manfred Berg u. Geoffrey Cocks (Hg.), Medicine and Modernity. Public Health and Medical Care in 19th- and 20th-Century Germany, Cambridge, MA 1997, S. 149–172.

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über die Denunziation von »Minderwertigen« die öffentliche Akzeptanz von Abtreibung und Sterilisation zu erreichen (durchaus vergleichbar damit, wie der Pronatalismus dazu diente, die Anerkennung der Rechte und Verantwortung von Müttern zu fördern).94 In Frankreich und Italien schloss der Begriff »Rasse« (stirpe, razza) für lange Zeit die gesamte nationale Bevölkerung ein, und es wurde – ungeachtet der Plädoyers einiger namhafter Eugeniker – keine Gruppe von der Fortpflanzung ausgeschlossen.95 Die Vereinigten Staaten, Norwegen, Schweden und Großbritannien kannten dagegen Bewegungen, die unerwünschte Teile der Bevölkerung auszuschließen trachteten und über welche auch die Nazis bestens informiert waren. In Großbritannien wurde ein Gesetzentwurf zur eugenischen Sterilisation 1934 abgelehnt, während Dänemark (1928), Schweden und Norwegen (1934) solche Gesetze einführten; in der Praxis wurde aber nur in vergleichweise wenigen Fällen sterilisiert und seltener noch gegen den Willen der Betroffenen.96 In den Vereinigten Staaten stand – mit weitreichenden Folgen, insbesondere im Vergleich mit Deutschland – nicht die nationale Ebene im Vordergrund, sondern die Einzelstaaten: Um 1930 hatten zwei Drittel von ihnen eugenische Sterilisationsgesetze, wiederum zwei Drittel von diesen enthielten Zwangsklauseln, und alle waren im Kontext des ausgeprägten Rassismus jener Generation entstanden (ablesbar an der staatlichen Einwanderungsbeschränkung und den katastrophalen Beziehungen zwischen Afro- und Euro-Amerikanern). Doch in Deutschland, wo prinzipiell alle Sterilisationen Zwangssterilisationen waren (denn Anträge konnten nicht zurückgenommen werden), war die Anzahl der Eingriffe von 1934 bis 1945 rund zehnmal so hoch wie in den USA von 1907 bis 1945 (mit ihrer im Vergleich zu Deutschland doppelt so großen Bevölkerung). Wichtiger noch: In keinem anderen Land als in Deutschland wurde die Sterilisationspolitik zu einer Vorstufe zum Massenmord. Als der deutsche Herrschaftsbereich von dem mörderischen Regime befreit wurde, wurde er auch vom staatlichen Antinatalismus befreit. In der DDR, die dem Vorbild der Sowjetunion folgte, verstand man die in der Verfassung verankerte Gleichberechtigung auch als Pflicht der Frauen, einer außerhäuslichen 94 Ann Taylor Allen, Feminism and Eugenics in Germany and Britain, 1900–1940: A Comparative Perspective, in: GSR 23/3 (2000), S.  477–505; Linda Gordon, Woman’s Body, Woman’s Rights. A Social History of Birth Control in America, Harmondsworth 1977, S. 281–290, 330 f.; Cova, Féminismes (wie Anm. 13), Kap. III.3. Gemäßigte Feministinnen machten sich manche Diskurse, die heute für »eugenisch« gehalten werden, zu eigen, lehnten aber repressive Maßnahmen ab; vgl. Ulrike Manz, Bürgerliche Frauenbewegung und Eugenik in der Weimarer Republik, Königstein i.T. 2007. 95 Vgl. die Beiträge von Nash (wie Anm.  85); Michele A. Cortelazzo, Il lessico del razzismo fascista (1938), in: Movimento operaio  e socialista 7 (1984), S.  57–66; Claudio Pogliano, Scienza e stirpe: eugenica in Italia (1912–1939), in: Passato e presente 5 (1984), S. 61–97. 96 Vgl. Bock (wie Anm. 86), Kap. IV.3; Stefan Kühl, The Nazi Connection. Eugenics, American Racism, and German National Socialism, New York 1994; ders., Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassen­ hygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997 (20142).

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Arbeit nachzugehen; individuelle Hausarbeit wurde geringgeschätzt (entsprechend den bekannten verächtlichen Bemerkungen Lenins darüber). Die offizielle Propaganda drängte die Frauen zur Erwerbstätigkeit, um auf diese Weise dem »Wir«, der Gemeinschaft, Vorrang zu geben vor dem »Ich«.97 Als Teil dieser Politik, die auch wegen der niedrigen Löhne forciert wurde, wurde 1950 ein Mutterschaftsurlaub mit vollem Lohnausgleich für Erwerbstätige eingeführt. Bedürftige Mütter und Witwen erhielten nur dann Unterstützung, wenn sie arbeitsunfähig waren. Während Mütter ab der Geburt des dritten Kindes jeweils eine einmalige Prämie erhielten, gab es eine monatliche Beihilfe erst vom vierten Kind an. Erst spät, in Reaktion auf den dramatischen Geburtenrückgang in den siebziger Jahren, wurde eine andere Politik anvisiert, durch welche »die mit der Geburt, Erziehung und Betreuung der Kinder in der Familie verbundenen Leistungen anerkannt und gewürdigt werden.«98 Sie konkretisierte sich in einem Frauenarbeitsgesetz (Vierzigstundenwoche für Mütter, die zwei oder mehr Kinder versorgten), zeitweiser Unterstützung von alleinerziehenden Müttern, die ihren Beruf aufgeben wollten, und einem bezahlten »Babyjahr« für Mütter ab der zweiten Geburt. Auch von der frühen Bundesrepublik, deren Verfassung ebenfalls die Gleichberechtigung vorsah, wurde die Mütterarbeit als solche nicht anerkannt; nur erwerbstätige Mütter erhielten mit dem Wochengeld einen Lohnersatz. Als 1954 ein Kindergeld eingeführt wurde, folgte es dem älteren französischen Modell der von Unternehmern finanzierten Ausgleichsfonds und wurde de facto an die erwerbstätigen Väter von dritten und weiteren Kindern gezahlt. Erst 1964 übernahm der Bund die Verantwortung, erhöhte allmählich den Betrag und erweiterte den Kreis der anspruchsberechtigten Kinder bzw. ihrer Eltern. Obwohl das Gesetz die Zahlung an den Vater oder die Mutter freistellte, war es in der Regel der Vater, der sie erhielt. Aber bis 1975 blieb die quantitativ wichtigste Maßnahme der Steuerfreibetrag des »Ernährers« für seine Frau und Kinder.99 Im Jahre 1979 führte die SPD-FDP-Koalition einen (bescheiden) bezahlten Mutterschaftsurlaub von einem halben Jahr für erwerbstätige Frauen ein, und 1987 setzte die CDU-FDP-Koalition an seine Stelle ein universelles  – also vom Er97 Das »Wir« steht vor dem »Ich«, in: Frau von heute 39 (1959), S. 2, zit. in: Gesine Obertreis, Familienpolitik in der DDR 1945–1980, Opladen 1985, S. 146; vgl. auch S. 51–73, 119, 136– 138, 155, 292 f. Zur Sowjetunion: Janet Evans, The Communist Party of the Soviet Union and the Women’s Question: The Case of the 1936 Decree »In Defence of Mother and Child«, in: JCH 16 (1981), S. 757–775; Bernice Q. Madison, Social Welfare in the Soviet Union, Stanford 1968, Kap. 3. Zu Lenin vgl. Richard Stites, The Women’s Liberation Movement in Russia. Feminism, Nihilism, and Bolshevism, 1860–1930, Princeton, NJ 1990 (19781), S.  378, s. auch S. 230, 266, 355. 98 Erich Honecker, Neue Maßnahmen zur Verwirklichung des sozialpolitischen Programms des VIII. Parteitages, Berlin 1972, zit. in: Obertreis (wie Anm. 97), S. 292; vgl. auch S. 315–318. 99 Vera Slupik, »Kinder kosten aber auch Geld«. Die Diskriminierung von Frauen im Kindergeldrecht, in Ute Gerhard u. a. (Hg.), Auf Kosten der Frauen. Frauenrechte im Sozialstaat, Weinheim 1988, S. 195; Peter Flora (Hg.), Growth to Limits. The Western European Welfare States Since World War I, Berlin 1986–87, Bd. 4, S. 278–281.

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werbsstatus unabhängiges – »Erziehungsgeld« von maximal 600 Mark pro Monat für einen Zeitraum von anfänglich zehn Monaten, der dann sukzessive verlängert wurde. Von Lily Brauns Ideal, das sie achtzig Jahre früher formuliert hatte, unterschied es sich in zwei grundsätzlichen Punkten: Es deckte bei weitem nicht die Kosten des Unterhalts, und es konnte wahlweise an die Mutter oder den Vater gezahlt werden, je nachdem, wer die Erziehung und wer den Erwerb wählte. ✳ ✳ ✳

Die modernen Sozialstaaten sähen grundlegend anders aus, wären ihre Entstehung und Entwicklung nicht von der Frauenbewegung und der wenigstens partiellen Anerkennung weiblicher Bürgerschaft begleitet und beeinflusst gewesen; die »agency« von Frauen war beträchtlich, und auch die Vielfalt ihrer Interessen muss einbezogen werden.100 Das Ausmaß ihres Einflusses ebenso wie die Formen der staatlichen Wohlfahrt unterschieden sich in den verschiedenen Ländern erheblich, aber ebenso deutlich sind – nicht anders als bei den männlichen Akteuren – die Analogien und insbesondere die noch wenig untersuchten grenzüberschreitenden Verbindungen und Transfers zwischen den agierenden Frauen. Was die Unterschiede betrifft, so waren die augenfälligsten zum einen diejenigen zwischen den Demokratien und den Diktaturen; in den ersteren existierte eine maternalistische Orientierung, die letzteren privilegierten Männer. Zum anderen war es der Unterschied zwischen den konservativ-autori­ tä­ren Diktaturen und der durchgängig rassistischen Nazi-Herrschaft, wo den vielfältigen Existenzen, die als »minderwertig« eingestuft wurden, sozialpolitische Zuwendungen versagt oder vermindert wurden. Somit kann der Nazi-Staat nicht, weder hier noch in anderen Bereichen, als Sozialstaat gelten; vielmehr war er primär rassistisch: ein Rassenstaat. Nur wenige Feministinnen der neuen Frauenbewegung seit den 1960er Jahren übernahmen das Erbe der älteren, und noch weniger kannten es. Dass die Mehrheit heute andere Schwerpunkte setzt, hat seinen Hauptgrund in den gesellschaftlichen Veränderungen seit der vorletzten Jahrhundertwende. Die Bedingungen und Belohnungen der außerhäuslichen Arbeit haben sich immens verbessert – sogar für Frauen und aufgrund ihres Drucks; umgekehrt haben ihnen die staatlichen Transferleistungen außerhalb der traditionellen Lohnstruktur meist nur höchst bescheidenen Nutzen gebracht, Mutterschaft ist zu einer kurzfristigeren Erfahrung geworden, und für weniger Frauen. Befreiung, Gerechtigkeit und Gleichheit scheinen nun leichter durchzusetzen, wenn sie durch Gleichstellung mit Männern angestrebt werden: durch außerhäusliche Frauenförderung und hochdotierte Funktionen (affirmative action, positive Diskriminierung, Quoten), außerdem durch privaten und individuellen Druck auf Männer, Hausarbeit zu übernehmen, die Vaterschaft hochzuschätzen bzw. die 100 Vgl. hierzu zusammenfassend Joya Misra u. Frances Akins, The Welfare State and Women: Structure, Agency, and Diversity, in: Social Politics 5/3 (1998), S. 259–285.

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Elternschaft zu teilen; für Letzteres gibt es nun auch staatliche Finanzanreize wie die »Papaquote«.101 Aus der Sicht des Mehrheitsfeminismus, von Staat und Parteien und erst recht der Wirtschaft – wenn auch unbeschadet einer durchaus eloquenten feministischen Minderheit102 – gehören maternalistische Visionen vom weiblichen Geschlecht und von einer wirklichen Anerkennung von »Mutterschaft als sozialer Funktion« offensichtlich der Vergangenheit an.

101 Vgl. Wiebke Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat. Schweden und die Bundesrepublik im Vergleich 1945–2000, Frankfurt a. M. 2002, Kap. 6.4 und 9. 102 Vgl. Rebecca Jo Plant, Maternalism Today, in: van der Klein (wie Anm. 7), S. 244–250.

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Nationalsozialistische Sterilisationsund Geburtenpolitik✳ 103

Am 28. Juni 1933, fünf Monate nach Hitlers Machtantritt, umriss Reichsinnenminister Wilhelm Frick in einer programmatischen und bald weit verbreiteten Rede, mit der die Öffentlichkeit auf das bevorstehende Gesetz zur Sterilisation von Erbkranken eingestimmt werden sollte, die nationalsozialistische »Bevölkerungs- und Rassenpolitik«. »Das düstere Bild, das ich vor Ihnen entrollen muss«, verkündete Frick, zeige den »kulturellen und völkischen Niedergang«, der aus »übertriebener Fürsorge für das Einzelindividuum«, gar »moderner ›Humanität‹« für das »minderwertige Individuum« entstanden sei. Abzulesen sei der Niedergang an einer halben Million »schwerer« Fälle von »körperlichen und geistigen Erbleiden« und weit über einer halben Million von »leichten Fällen«, von denen »Nachwuchs nicht mehr erwünscht« sei. Bis zu zwanzig Prozent der deutschen Bevölkerung (also rund dreizehn Millionen) seien als Väter und Mütter unerwünscht. Gerade »schwachsinnige und minderwertige Personen« wiesen »eine überdurchschnittliche Fortpflanzung auf«, die um der Erhaltung der »deutschen Kultur« willen gestoppt werden müsse. Zusätzlich zu dieser inneren Gefahr drohe die »doppelte Gebärkraft« der »Nachbarn im Osten«. Neben diese antinatalistische Vision stellte er eine pronatalistische, derzufolge »positive bevölkerungspolitische Maßnahmen« zugunsten der »wertvollen erbgesunden deutschen Menschen« in Angriff genommen werden müssten; dafür sollten die »Gebärleistungen der deutschen Frauen« um dreißig Prozent steigen (also um knapp 300.000 Geburten pro Jahr), und »im gleichen Maße [müssen wir] den Mann zur Pflicht der Familiengründung erziehen.« Dann (und wenn nicht mehr »das Mannweib in Sport und Beruf« vorherrsche) würde nicht nur die »Aufartung des deutschen Volkes« erreicht, sondern auch die »Lösung der Frauenfrage«. Welche Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels Vorrang haben sollten und damit das Verhältnis von Pro- und Antinatalismus formulierte Frick ebenfalls: »Zur Erhöhung der Zahl erbgesunder Nachkommen haben wir zunächst die Pflicht, die Ausgaben für Asoziale, Minderwertige und hoffnungs✳

Der Text basiert auf meinem Beitrag (Nazi Sterilization and Reproductive Policies) zu: Dieter Kuntz u. Susan Bachrach (Hg.), Deadly Medicine: Creating the Master Race, hg. vom United States Holocaust Memorial Museum, Washington, DC 2004, S. 61–87, und ist hier kombiniert mit dem Beitrag (Nationalsozialistische Sterilisationspolitik) zu: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus: Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln 2008 (Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, Bd. 7), S. 85–100.

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los Erbkranke herabzusetzen und die Fortpflanzung der schwer erblich belasteten Personen zu verhindern.«1 Diese Prioritätensetzung und zeitliche Abfolge charakterisierte in den folgenden Jahren die nationalsozialistische Geburtenpolitik. Aus dem Programm der Geburtenverhinderung wurde am 14. Juli 1933 aufgrund eines Beschlusses des Hitler-Kabinetts das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, das erzwungene und massenhafte Sterilisation vorsah. Zuständig für seine Implementation waren in erster Linie das Reichsministerium des Innern und das Reichsjustizministerium. Die amtliche Gesetzesbegründung erläuterte das Sterilisieren als Mittel, um »biologisch minderwertiges Erbgut auszuschalten«, nämlich bei den »unzähligen Minderwertigen und erblich Belasteten«, die sich »hemmungslos fortpflanzen«. Das Gesetz solle »eine allmähliche Reinigung des Volkskörpers« bewirken und bedeute somit den »Primat und die Autorität des Staates, die er sich auf dem Gebiet des Lebens, der Ehe und der Familie endgültig gesichert hat.«2 In seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1934 beschwor Hitler das Sterilisationsgesetz als eine »wahrhaft revolutionäre Maßnahme« des neuen Staats gegenüber dem »Heer« derer, »die aus Erbveranlagung von vornherein auf der negativen Seite des völkischen Lebens geboren wurden«, und Publizistik wie Wissenschaft verkündeten, dass es das erste der »Gesetze über Blut und Boden« sei, ein »Herzstück des Nationalsozialismus, des Rassegedankens«; es sei Ausdruck der »nationalsozialistischen Grundauffassung« und der »nationalsozialistischen Weltanschauung.«3 Auch wenn Hitler hier und anderswo gern von »Millionen« tönte, sollten mittelfristig (nur) eineinhalb Millionen Menschen sterilisiert werden.4 Die kurzfristigen Pläne sahen 400.000 Sterilisationen vor,5 und dieses Nahziel wurde in den 1 Wilhelm Frick, Bevölkerungs- und Rassenpolitik. Ansprache auf der ersten Sitzung des Sachverständigenbeirats für Bevölkerungs- und Rassenpolitik am 28. Juni 1933, Berlin 1933. Vgl. Günter Neliba, Wilhelm Frick: Der Legalist des Unrechtsstaates. Eine politische Biographie, Paderborn u. a. 1992, bes. Kap. III. 2 Das Gesetz mit Begründung in: RGB I, S.  529; auch in dem offiziellen Kommentar: Arthur Gütt, Ernst Rüdin u. Falk Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 mit Auszug aus dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßnahmen der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933, München 1934, Zitate S. 60, 5; vgl. S. 91, 97, 102, 106, 115. Im Folgenden wird meist aus der zweiten und erweiterten Auflage von 1936 zitiert (als GRR 1934 und GRR 1936); vgl. ebd., S. 77, 5. 3 Zitatbelege in: Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus: Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik, Münster 2010 (Opladen 19861), S. 81. Die Seitenzahlen der 2. Auflage, auf die im Folgenden verwiesen wird, weichen um Weniges von der ersten ab. 4 GRR 1934, S. 91, 97, 102, 106; Erich Ristow, Erbgesundheitsrecht, Stuttgart 1935, S. 124. 5 So Lothar Gottlieb Tirala (im Auftrag des Reichspropagandaministeriums), Die wirtschaftlichen Folgen des Sterilisierungsgesetzes, in: Volk & Rasse 10 (1933), S.  162–164; die Zahl 400.000 wurde auch in den USA bekannt: Nazi Decree Revives Sterilization Debate, in: Literary Digest, 13.1.1934, abgedr. in: Kuntz u. Bachrach (wie Anm. *), S. 59. Hitlers »Millionen« z. B. in Mein Kampf. Eine Abrechnung, 1. Bd., München 1925, S. 270; vgl. auch Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3) S. 26, 28, 82, 88.

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elf Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes (Januar 1934) trotz mancher Hindernisse erreicht: mit rund 300.000 Sterilisationen im »Altreich« (also in den Grenzen von 1937) bis zum Kriegsbeginn – das war etwa ein Prozent der Bevölkerung im gebär- und zeugungsfähigen Alter, in dem gewöhnlich sterilisiert wurde, oder aber ein halbes Prozent der Gesamtbevölkerung –,6 plus knapp 60.000 in den folgenden fünfeinhalb Jahren und vermutlich 40.000 in den seit 1938 annektierten Gebieten, wo das Gesetz eingeführt wurde (vermutlich 6.000 in der »Ostmark«). Außerdem wurde eine beträchtliche, aber unbekannte Anzahl außerhalb des Gesetzes sterilisiert: Hunderte oder gar Tausende schon bevor das Gesetz in Kraft trat; Aberhunderte außerhalb seiner Geltung, darunter Hunderte afro-deutscher Jugendlicher im Jahr 1937 und zahlreiche Roma; und schließlich seit 1941 Tausende von Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der Sowjetunion (während an Zehntausenden von ihnen abgetrieben wurde).7 Noch nie zuvor hatte ein Staat eine solche Politik der massenweisen Geburtenverhinderung propagiert und praktiziert, noch nie zuvor waren derart umfassende, gewaltsame und wirksame Maßnahmen zu antinatalistischen Zwecken ergriffen worden.

1. Wege zur Sterilisationspolitik Die Annahmen, die dem Sterilisationsgesetz zugrundelagen – im Wesentlichen entstammten sie der Eugenik oder Rassenhygiene oder, wie die Nazis zu sagen pflegten, der »Erb- und Rassenpflege« – waren zu jener Zeit keineswegs mehr 6 Die Zahl bis Kriegsbeginn lässt sich recht genau feststellen, die beiden folgenden Zahlen sind (begründete) Schätzungen. Zu den Quellen bezüglich der Gesamtzahlen, die m.W. nicht vermehrt wurden, vgl. Bock (wie Anm. 3), S. 229–245; sie wurden im Wesentlichen übernommen von (u. a.) Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997 (Original: Chapel Hill 1995), der für die Zeit nach 1939 auf 75.000 schätzt und somit als Gesamtzahl 375.000 vorzieht (S. 71), und Hans-Walter Schmuhl, Zwangssterilisation, in: Robert Jütte u. a. (Hg.), Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011, Kap. 5.3. Zur ersten der beiden o.g. Prozentzahlen vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3) S. 236; die zweite entstammt der Berechnung von Friedlander, S. 71 (das offizielle Mindestalter für Sterilisation war zehn Jahre, Frauen wurden vor allem im gebärfähigen Alter sterilisiert, für Männer gab es offiziell keine obere Altersgrenze). Die im Folgenden genannte Zahl von 40.000 entstammt einer Arbeitsgruppe, die 1965 von den Länderregierungen eingesetzt worden war; vgl. Bock, S. 229, 232 f. Zur heutigen Forschungslage vgl. auch Henke (wie Anm. *) und darin bes. die Auswahlbibliographie von Jana Wolf (S. 291–338). 7 Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm.  3), S. 236 f., 350 f., 356–359, 434–445; Wolfgang Neugebauer, Zwangssterilisierung und »Euthanasie« in Österreich 1940–1945, in: Zeitgeschichte 19 (1992), S.  17–28; Claudia Andrea Spring, Zwischen Krieg und Euthanasie: Zwangssterilisationen in Wien 1940–1945, Wien 2009; Anna Rosmus, Involuntary Abortions for Polish Forced Laborers, in: Elizabeth R. Baer u. Myrna Goldenberg (Hg.), Experience and Expression. Women, the Nazis, and the Holocaust, Detroit, MI 2003, S. 76–94.

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neu. Sie waren vor allem seit dem Ersten Weltkrieg ausgearbeitet worden, einige ihrer Elemente auch schon früher. In Deutschland wurden sie nicht nur von Nazis, sondern auch von Nicht-Nazis und Noch-nicht-Nazis debattiert, und dieselben Visionen entstanden in anderen Ländern, vor allem durch internationale Kontakte zwischen den Akteuren (leider ist neuerdings die Behauptung in Mode gekommen, dass das bisher nicht zur Kenntnis genommen worden sei und »die Eugenik« angeblich für bloß nationalsozialistisch gehalten werde). In der Tat handelte es sich um eine transnationale Bewegung, in der seit der Zeit des Ersten Weltkriegs zuerst die Vereinigten Staaten führend waren. Doch spätestens ab 1933 galt in der eugenischen Szene Deutschland als »Modellstaat« und Main­stream – eben wegen des deutschen Sterilisationsgesetzes – und dieses beeinflusste die sechs Sterilisationsgesetze, die von 1934 bis 1938 in Nordund Nordosteuropa erlassen wurden; immer wieder beriefen sich die deutschen »Erb- und Rassepfleger« zum Zweck der Selbstlegitimation auf ihre (wirklichen oder angeblichen) Plagiatoren »im Ausland«.8 Die Lehren, die in dieser transnationalen Szene vertreten und in Deutschland besonders breit rezipiert wurden, waren sowohl theoretisch als auch praktisch-politisch orientiert und basierten auf sechs Entwicklungen und Annahmen, von denen die meisten zu ihrer Zeit als wissenschaftlich galten. Erstens wurde die kulturelle und politische Krise nach dem Weltkrieg, verstärkt durch die Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre, sowie die vermeintliche weitverbreitete »Entartung« einem Phänomen zugeschrieben, das man »Gegenauslese« nannte. Das war die Vorstellung, derzufolge die moderne Medizin und die soziale Fürsorge den Prozess der »natürlichen Auslese« blockierten, die ohne diese Blockade eine »Ausmerze der Untüchtigen« betreiben würde; somit beförderten sie das Leben und die Fortpflanzung der Kranken, Schwachen, Hilflosen, kurz: der »Minderwertigen«. Zweitens wurden die Merkmale solcher »Minderwertigkeit«  – hauptsächlich emotionale und mentale Defekte  – zunehmend durch Psychiater definiert und klassifiziert, und Psychiatrie wie Medizin sollten von einem vermeintlichen Vehikel der »Entartung« und »Gegenauslese« zum Vehikel einer »Gegen-Gegenauslese« transformiert werden.9 Drittens wurden die unerwünschten Eigenschaften zunehmend als erblich definiert, und so wurde die Psychiatrie zu einem privilegierten

8 Vor dem deutschen gab es nur in Dänemark (1929) ein gesamtstaatliches Sterilisationsgesetz; alle anderen betrafen nur Einzelregionen (innerhalb der USA, der Schweiz, von Kanada und Mexiko). Vgl. Schmuhl (wie Anm.  6); Bock, Zwangssterilisation (wie Anm.  3), S.  112–116, 241–244; Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997 (erw. Aufl. 20142); Gunnar Broberg u. Nils Roll-Hansen (Hg.), Eugenics and the Welfare State: Sterilization Policy in Denmark, Sweden, Norway, and Finland, East Lansing, MI 1996; Marius Turda u. Paul J. Weindling (Hg.), Eugenics and Racial Nationalism in Central and Southeast Europe 1900–1940, Budapest 2007. 9 Hierzu vgl. Bock (wie Anm. 3), Kap. I.2.: »Gegenauslese« und »Genotyp«.

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Feld der »menschlichen Erblehre«. Einer der wichtigsten Psychiater in diesem Feld (und Sterilisationsaktivist von 1903 bis 1945) war Ernst Rüdin, ein ExSchweizer; populärer als seine Schriften hingegen war der zweibändige »BaurFischer-Lenz« (die drei Autoren vertraten die Bereiche Pflanzen- und Humangenetik, Anthropologie und Eugenik), den auch Hitler in den zwanziger Jahren las und für »Mein Kampf« benutzte.10 Der Erblichkeitsdiskurs wurde, sowohl in seiner wissenschaftlichen wie auch in seiner populären Variante, zu einer veritablen Erblichkeitspanik und diente vielfach als Erklärung für so gut wie sämtliche gesellschaftlichen Probleme. Viertens rückte an die Stelle des individuellen Menschen als Subjekt von Leiden und Objekt von Heilung ein Kollektiv, das erlöst werden sollte: das »deutsche Volk«, der »Volkskörper«. Fünftens wurde die Erblichkeitspanik komplementiert durch ihr augenscheinliches Gegenteil: die Beschwörung einer Welt ohne Krankheit, Schwäche und Elend, verkündet mit revolutionärem Pathos. Sie enthielt einen machtvollen, oft fanatischen Aufruf zu sozialem und politischem Handeln, das die eugenische Vision verwirklichen sollte, nämlich durch ein Substitut für die angeblich natürliche Auslese: die »Ausmerze« der »Minderwertigen« mittels menschlicher und politischer Maßnahmen, wo diejenigen der »Natur« versagten. Die bevorzugte Maßnahme  – und bis Ende der 1930er Jahre die hauptsächliche – war die Verhinderung der Fortpflanzung »Minderwertiger«. Der sechste Faktor betraf die Geburtenverhütung selbst. Neben die traditionellen Mittel (Enthaltung, Eheverbot, Asylierung) trat seit der Jahrhundertwende die chirurgische Sterilisation, innovativ besonders in Bezug auf Frauen (Salpingektomie). In den 1920er Jahren verbreitete sie sich ungeachtet ihres strafrechtlichen Verbots als Körperverletzung; viele Frauen ließen sich gleichwohl auf eigenen Wunsch sterilisieren (in der Sprache der Eugeniker: »Gefälligkeitssterilisation«), aber Sterilisationen wurden auch ungewollterweise und aus eugenischen Gründen tausendfach vollzogen, vor allem an armen Frauen.11 In den späten Jahren der Weimarer Republik, inmitten der schweren Wirtschaftskrise, waren sich so gut wie alle Richtungen der Eugenik  – deren Anhänger gab es in allen politischen Lagern, gewöhnlich als Minderheit, und so auch bei einem halben Dutzend »radikaler« Feministinnen – darin einig, dass Sterilisation die wichtigste Methode eugenischer Intervention war, und diese »negative« Eugenik hatte deutlichen Vorrang vor »positiven« Maßnahmen wie Familienförderung (für die es außerdem kein Geld gab). Jetzt schlossen sich der Lobby für eugenische Massensterilisation, neben den Wissenschaftlern, Psychiatern und Medizinern, viele weitere Gruppen und Individuen an: linke 10 Hier, wie auch in GRR, finden sich alle der o.g. Annahmen: Erwin Baur, Eugen Fischer u. Fritz Lenz, Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, 2 Bde., diverse Auflagen von 1921 bis 1940, immer wieder neu bearbeitet; engl. Übers. 1931. Vgl. Matthias M. Weber, Ernst Rüdin. Eine kritische Biographie, Berlin 1993. 11 Bock, Zwangssterilisation (wie Anm.  3), S.  45–50; Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, 1890–1945, Göttingen 1987, S. 100–102.

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wie rechte, Fürsorgeorganisationen, der Deutsche Städtetag, die Innere Mission. Der Grund, warum das Sterilisieren um 1930 so populär wurde (und das NaziGesetz von Juli 1933 auf so geringe öffentliche Kritik stieß), war, dass es Vielen vieles versprach. Dass »Minderwertige« keine Kinder mehr haben sollten, erschien von Vorteil für die kommunalen und sonstige öffentliche Kassen und sollte die Kosten für viele Arten geschlossener Fürsorge reduzieren, ebenso die Zahl unehelicher Kinder; Hilfsschulen wären nicht mehr nötig, für ordentliche Arbeitslose und die Gesundheit des erwünschten Teils der Bevölkerung würde es mehr Geld geben. Gleichwohl standen im Zentrum der Kampagne Psychiater, Mediziner, Sozialhygieniker und Politiker; für sie war das Ziel einer solchen Politik nicht primär ein materielles, sondern ein idealistisches: die »Volksaufartung«. Und als 1932 der Entwurf eines eugenischen Sterilisationsgesetzes für Preußen diskutiert wurde (man vermochte freilich weder in Preußen noch im Reich, es zu verabschieden), war klar, dass keiner der Befürworter eines solchen Gesetzes, egal wie es im Detail aussah, »das allgemein anerkannte Kriterium der Minderwertigkeit« in Frage stellte; es war der nationalsozialistische Mediziner und spätere Reichsärzteführer Leonardo Conti, der das zufrieden konstatierte, ohne auf Widerspruch zu stoßen. Und ebenso klar war, dass die Nationalsozialisten als Partei diejenige Kraft waren, die am eindeutigsten für offenen Zwang und direkte Gewalt eintraten.12 Obwohl antinatalistische Diskurse und Mentalitäten – in Medizin, Genetik und Anthropologie ebenso wie in den kursierenden Ideen über öffentliche Ausgaben während der Wirtschaftskrise  – den Weg zum Sterilisationsgesetz von 1933 charakterisieren, war die Rolle politischer, rechtlicher und institutioneller Macht noch entscheidender: an erster Stelle der Aufstieg und die Durch­setzung des Nationalsozialismus. Noch am 26. Mai 1933, nach mehrjähriger Debatte über Sterilisation als Körperverletzung, wurde § 224 StGB dahingehend modifiziert (durch § 226a StGB), dass bei Einwilligung der Betroffenen aus eugenischen Gründen sterilisiert werden dürfe. Aber dem neuen Regime konnte das nicht genügen: Es ging nicht um Erlaubnis, sondern um Gebot, um ein »Sondergesetz« (wie man zugab), und nicht um Individuen, sondern um »Bevölkerungs«-Politik. Dies war der Inhalt des nunmehr von drei Männern – dem Mediziner Arthur Gütt, dem Psychiater Ernst Rüdin und dem Juristen Falk Ruttke  – ausgearbeiteten Gesetzes, mit dem (in den Worten des Eugenikers Siemens) »die rassenhygienische Politik geradewegs zum Regierungsgrundsatz erhoben« wurde. In der Kabinettssitzung am 14. Juli 1933 gab der katholische Vizekanzler von Papen noch zu bedenken, dass man angesichts der päpstlichen Enzyklika von 1930 – Casti connubii verurteilte das Sterilisieren – das geplante Konkordat mit dem Vatikan gefährden würde. Doch Hitler beharrte darauf, dass der Entwurf »moralisch unanfechtbar«, der Eingriff »nur klein« sei und man das Gesetz eben erst dann publizieren solle, wenn das Konkordat schon 12 Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), S. 53 f.

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unterzeichnet sei. Korrekt benannte Rüdin bald darauf das Verhältnis zwischen Kontinuität und Diskontinuität auf dem Weg zu dem folgenreichen Gesetz: »Die Bedeutung der Rassenhygiene ist in Deutschland erst durch das politische Werk Adolf Hitlers allen aufgeweckten Deutschen offenbar geworden, und erst durch ihn wurde endlich unser mehr als dreißigjähriger Traum zur Wirklichkeit, Rassenhygiene in die Tat umsetzen zu können.«13

2. Sterilisationszwang und »Bevölkerungs«-Politik Alle Sterilisationen nach dem Gesetz von 1933 waren Zwangssterilisationen, keine kam aufgrund des Willens der Betroffenen zustande (nicht umsonst war man über den neuen § 226a des Strafrechts hinausgegangen). Die Formen von Zwang waren im Gesetz selbst festgelegt. Paragraph 2 räumte zwar den Betroffenen ein Antragsrecht ein, aber keinen eigenen Willen: »Antragsberechtigt ist derjenige, der unfruchtbar gemacht werden soll« – nicht etwa »will«. Der Paragraph war aber so gut wie bedeutungslos, denn zum einen wurde fast immer aufgrund von Anträgen anderer sterilisiert (Paragraph 2 und 3), und zum anderen konnte ein freiwilliger Antrag ab 1934 faktisch nicht mehr zurückgenommen werden, wenn das Sterilisationsverfahren einmal in Gang gesetzt worden war. Antragsteller waren zuvörderst die Amtsärzte an den staatlichen Gesundheitsämtern, die 1934 eingesetzt wurden und die Aufgabe hatten, in der Bevölkerung nach Sterilisationskandidaten zu fahnden; an zweiter Stelle waren es die Leiter oder Ärzte verschiedenster, vor allem psychiatrischer und FürsorgeAnstalten. Ein Vorstadium der Antragstellung war die Anzeige: Alle Ärzte und anderen Heilberufe hatten die Pflicht und jedermann das Recht, mögliche Kandidaten anzuzeigen, und in den Jahren 1934 und 1935 (nur für dieses Jahr wurden die Anzeigen statistisch erfasst und sind überliefert) waren unter den Anzeigenden 21 Prozent beamtete Ärzte, 24 Prozent nicht beamtete Ärzte und 35 Prozent Anstaltsleiter; in späteren Jahren stieg der Anteil der Amtsärzte deutlich an. Schon Anfang 1936 lagen 400.000 Anzeigen vor, und insgesamt dürften es für 1933–1945 knapp eine Million gewesen sein.14 Bei allen diesen Fremdanträgen wurden verschiedene Formen von direktem und indirektem Zwang eingesetzt. Eine davon lag in der medizinischen und 13 Hermann Werner Siemens, Grundzüge der Vererbungslehre, Rassenhygiene und Bevölkerungspolitik (19161), München 19346, S. 3; Ernst Rüdin, Aufgaben und Ziele der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 28 (1934), S. 228. 14 Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm.  3), S.  230–233, 253–260. Vgl. auch Esther Lehnert, Die Beteiligung von Fürsorgerinnen an der Bildung und Umsetzung der Kategorie »minder­wertig« im Nationalsozialismus. Öffentliche Fürsorgerinnen in Berlin und Hamburg im Spannungs­feld von Auslese und »Ausmerze«, Frankfurt a. M. 2003.

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psychiatrischen Definitions- und Administrationsmacht, niedergelegt in Para­ graph 1 des Gesetzes. Hier wurde diejenige Art von »Minderwertigkeit« benannt, die zum Zweck der »Aufartung« von »Volk«, »Volkskörper« oder »Rasse« durch Sterilisation »ausgemerzt« werden sollte. In rund 95 Prozent der Fälle wurde sterilisiert aufgrund von wirklichem oder angeblichem Schwachsinn (rund zwei Drittel), Schizophrenie (ein Fünftel), Epilepsie (zwölf Prozent) und manisch-depressivem Irresein (drei Prozent) – keine dieser Diagnosen bezeichnete ein präzises Krankheitsbild, was auch die damaligen Psychiater sehr wohl wussten; die übrigen fünf Prozent waren Menschen mit wirklicher oder angeblicher Blindheit, Taubheit, »körperlicher Mißbildung«, Veitstanz und schwerem Alkoholismus. Die quantitativ und strategisch wichtigste Gruppe waren die­ jenigen, die als schwachsinnig diagnostiziert wurden: Sie stellten fast zwei Drittel aller Sterilisierten, und unter ihnen waren fast zwei Drittel Frauen.15 Seit 1933 wurden Anstaltsbewohner nur noch dann entlassen, wenn zuvor sterilisiert bzw. die »Dringlichkeit« einer Sterilisation geprüft worden war. Dies entsprach einem Grundprinzip der Sterilisationspolitik. Denn sie zielte nicht – wie etwa später die Euthanasie-Aktion – auf Schwerkranke, da diese nur selten Kinder bekamen (in der damaligen Sprache: »sich selbst ausmerzten«); Hauptobjekt der Sterilisationspolitik waren vielmehr solche, die explizit als »leichte Fälle« definiert wurden, weil sie wirklich oder angeblich Geschlechtsverkehr praktizierten. Die Grundregel »leichte Grade besonders gefährlich« galt somit für Menschen, die gesund oder geheilt waren, frei lebten und arbeiteten, aus einer Anstalt beurlaubt oder entlassen wurden oder schon vor Jahren entlassen worden waren. Denn gemäß der Doktrin der »menschlichen Erblehre«, »Rassenhygiene« oder »Erb- und Rassenpflege« betraf ihre Gesundheit oder Heilung nur ihr Äußeres, nicht ihr Inneres, nur das »Erscheinungsbild« (den Phänotyp), nicht das »Erbbild« (den Genotyp).16 Eine von zahlreichen amtlichen Broschüren, die seit 1933 die Sterilisation propagierten, hielt diesen Krankheitsbegriff fest: »Alle mehr oder weniger kranken Menschen sollten dem Kampf ums Dasein verfallen, wobei krank im biologischen Sinne anzuwenden ist. Krank heißt alles, was dem Leben, wie immer es auch gestaltet sei, natürlich oder zivilisiert, nicht mehr angepaßt ist, die Lebensbürde nicht mehr tragen kann. Ich bitte wohl darauf zu achten, daß der Begriff ›biologisch krank‹, ›erbkrank‹ weit davon entfernt ist, sich mit dem allgemeinen Begriff ›krank‹ zu decken.«17 Zehntausende von Sterilisationsurteilen lauteten wie dieses: »Wenn auch der Schwachsinn im vorliegenden Fall einen besonders schweren Grad nicht erreicht, so fällt er gleichwohl unter das Gesetz, das auch leichte Schwachsinnsfälle erfassen will. Gerade leichterer Schwachsinn ist erbbiologisch sogar besonders gefähr-

15 Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), bes. S. 300 f., 395. 16 GRR 1936, S. 117. 17 Elisabeth von Barsewisch, Die Aufgaben der Frau für die Aufartung, Berlin 1933 (Schriften des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst, Heft 5), S. 11.

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lich.«18 Rüdin war nur einer unter vielen, die betonten, wie »unendlich größer« jene »Gefahr« im Vergleich zu tatsächlich Kranken war. Kein Wunder also, dass die vielen »Minderwertigen«, die sich gegenüber Ärzten und Gericht darauf beriefen, keineswegs »krank« zu sein, damit keinen Erfolg hatten; Rüdins Antwort war, dass »im Gegenteil dem Geist des Gesetzes um so mehr nachgelebt wird, je ›leichtere‹ Fälle man durch die Unfruchtbarmachung miterfaßt, weil gerade diese mit Vorliebe auch die Krankheit in all ihren Formen und Graden fortpflanzen.« Somit gelte: Da »ein Erbkranker um so fortpflanzungsgefährlicher ist, je besser es ihm gesundheitlich geht, um so dringender ist die Unfrucht­ barmachung geboten.«19 Der Paragraph 12 des Gesetzes verordnete Zwang durch Polizeigewalt. Diese konnte an vier Stellen des Verfahrens eingesetzt werden: zu Beginn die zwangsweise Vorführung beim Amtsarzt, der jemanden untersuchen wollte, um daraufhin einen Antrag zu stellen, dann die polizeiliche Fahndung nach geflohenen Sterilisationskandidaten (Flucht war eine häufige Reaktion der Betroffenen), des Weiteren die polizeiliche Einweisung in eine psychiatrische Anstalt, wenn eine vermutete Erbkrankheit genauer diagnostiziert und vor allem Flucht und Geschlechtsverkehr verhindert werden sollten; gern zitierte man dafür Hitlers Kampf-Buch: »Das Recht der persönlichen Freiheit tritt zurück gegenüber der Pflicht zur Erhaltung der Rasse.«20 Schließlich wurde Polizei eingesetzt, um die Sterilisanden auf den Operationstisch zu schaffen, wenn sie nicht »freiwillig« kamen; dies betraf zwischen drei und dreißig Prozent der Betroffenen, je nach Region und Jahr.21 Vervollständigt wurden diese Formen von Zwang durch den Paragraphen 14, der freiwillige Sterilisation verbot; als »mißbräuchlich« oder »Gefälligkeits«-Sterilisation gebrandmarkt, war ihr Verbot in den Debatten, die dem Sterilisationsgesetz vorausgegangen waren, immer wieder gefordert worden. Zum Zweck des Sterilisierens wurden eigens neue staatliche Institutionen geschaffen. An 205 Sterilisationsgerichten und 18 Sterilisationsobergerichten (»Erbgesundheits«-Gerichte), die den Amts- und Oberlandesgerichten zugeordnet waren, wurde über die »Fortpflanzungswürdigkeit« oder »Fortpflanzungsunwürdigkeit« der Angeklagten gerichtet; Richter und die Justiz insgesamt (rund 500 Juristen saßen bis 1939 in diesen Gerichten, und etwa 10.000 waren mit Sterilisationssachen befasst) erhielten in diesem Kontext zahlreiche neue Aufgaben. Aber nicht nur Juristen sprachen hier »Recht«, sondern auch »Ärzte« (Mediziner, Psychiater, Anthropologen, Genetiker usw.) wurden nun zu Richtern in juristischem Sinn ernannt – ein Novum und Unikum in der Geschichte 18 Staatsarchiv Freiburg, Gesundheitsamt Waldshut, Nr.  414; vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), S. 309. 19 Ernst Rüdin, Das deutsche Sterilisationsgesetz, in: ders. (Hg.), Erblehre und Rassenhygiene im völkischen Staat, München 1934, S. 161, 155. 20 GRR 1936, S. 230. 21 Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), S. 255–276.

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der Medizin.22 Das staatliche Gesundheitswesen wurde mittels des Gesetzes über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens vom 3. Juli 1934 auf die Sterilisationspolitik umgestellt, und die rund tausend Gesundheitsämter mit ihren Amtsärzten und angeschlossenen »Ämtern für Erb- und Rassenpflege« betrieben, neben ihrer Fahndungs- und Diagnosetätigkeit, unter dem Titel »erbbiologische Bestandsaufnahme des deutschen Volkes« eine systematische Erfassung des »Erbwertes« der Bevölkerung. Mit der letzteren Aufgabe waren die Gesundheitsämter ein Knotenpunkt der »Erb- und Rassenpflege«; im Jahr 1942 meldete der Reichsgesundheitsführer Conti an Himmler, dass bereits zehn Millionen Karteikarten fertiggestellt seien und »ein[en] große[n] Teil der negativen und belastenden Dinge über jeden Deutschen« enthielten.23 Und was das faktische Sterilisieren betraf: Im Jahr 1936 waren 108 Krankenhäuser mit 144 Operateuren zum Sterilisieren ermächtigt, und ihre Zahl wuchs in den Folgejahren.24 Zahlreiche weitere Staats- und Partei-Institutionen wirkten an der Politik der Zwangs- und Massensterilisation mit. Diese Politik und die Fahndung nach Sterilisationskandidaten richteten sich auf »Minderwertige« in der Bevölkerung insgesamt. In den Anfangsjahren galt sie insbesondere den einstigen und gegenwärtigen Bewohnern von Heil- und Pflegeanstalten; diese machten insgesamt etwa ein Drittel aller Sterilisierten aus. Regionale Unterschiede – eine Zeit lang lagen Hamburg und Baden an der Spitze der heftig und öffentlich diskutierten Sterilisationsziffern –, z. B. in bezug auf städtisches oder ländliches, protestantisches oder katholisches Milieu, traten zurück gegenüber einer relativ homogenen Durchführung (der Protestantismus kooperierte, und der Katholizismus distanzierte sich zwar offiziell, arrangierte sich aber in der Praxis weitgehend). In rund zwei Dutzend lokalgeschichtlichen Studien wurde in den letzten zwei Jahrzehnten die Praxis in verschiedenen Regionen, Bezirken, Städten, Sterilisationsgerichten, Krankenhäusern, Anstalten und von Einzelpersonen erforscht. Überall wirkten in den Gerichten mehr oder weniger renommierte Theoretiker und Praktiker der Rassenhygiene mit: Ernst Rüdin in München; Eugen Fischer, Fritz Lenz und Maximinian de Crinis in Berlin; Otmar von Verschuer in Berlin und Frankfurt a. M., Hans F. K. Günther (»Rassengünther«) in Jena; in Hessen und Hessen-Nassau – mit sechs zuständigen Gerichten, den »Ämtern für Erb- und Rassenpflege« und den »Rassenpolitischen Ämtern« der NSDAP  – waren es unter anderem Wilhelm Stemmler, Heinrich Wilhelm Kranz und Siegfried Koller. In Anstalten wie Hadamar, in denen später die Euthanasie-Aktion praktiziert wurde, und anderen Anstalten, die dabei zuarbeiteten, ging dem Töten das Sterilisieren 22 Vgl. ebd., S. 195–229; zum »ärztlichen Richter«: S. 182–195, 120–229. 23 Zit. in: ebd., S. 191 (Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde: NS 19/2397). 24 GRR 1936, S.  361–379; Alfons Labisch u. Florian Tennstedt, Der Weg zum »Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« vom 3. Juli 1934, 2 Bde., Düsseldorf 1985;­ Johannes Vossen, Gesundheitsämter im Nationalsozialismus: Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge in Westfalen 1900–1950, Essen 2001.

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voraus.25 Seit 1938 ging die Zahl der Sterilisationen zurück, weil das Projekt in eine Krise geraten war, und mit Kriegsbeginn (und Verordnung vom 31. August 1939) wurde die Sterilisationswut offiziell reduziert, weil Arbeitskräfte für den Krieg und für die nächste Stufe der nationalsozialistischen Rassenpolitik gebraucht wurden: das planmäßige Töten von wirklich oder angeblich Unheilbaren. Jetzt durften nur noch (und mussten weiterhin) Fälle von »besonders großer Fortpflanzungsgefahr« sterilisiert werden, die übrigen wurden gesammelt und auf die Zeit nach Kriegsende verschoben.26 Die eugenisch-rassenhygienische Sterilisationspolitik wurde ungeachtet der internationalen Verbreitung der oben umrissenen Diskurse recht unterschiedlich betrieben (obwohl die mei­sten ihrer nichtdeutschen Vertreter eine Nachahmung des deutschen Gesetzes gern gesehen hätten). Von den Ländern mit starker Eugenik-Bewegung war es nur Großbritannien, wo 1934 ein einschlägiges Gesetz abgelehnt wurde. Die gleichzeitigen Diktaturen Europas – das faschistische Italien und das Franco- sowie das Salazar-Regime – kannten keine solche Politik, ob­wohl es auch dort Eugeniker gab, die den als fortschrittlich geltenden Antinatalismus als Kernstück einer »Rationalisierung der Fortpflanzung« einführen wollten. In Spanien allerdings verstand man unter »Eugenik« so gut wie ausschließlich Wohlfahrt und Besserstellung von Müttern und Kindern (Eugeniker, die sich meist für alles in der Gesellschaft für zuständig hielten, pflegten das »positive Eugenik« zu nennen). Nirgendwo gab es ein solches Ausmaß an eugenischen Sterilisationen wie in Deutschland: mehr als in sämtlichen anderen Ländern zusammengenommen. Es wurden 1933–1945 in Deutschland rund vierzehnmal so viele Menschen sterilisiert wie in den USA zur selben Zeit, rund zehnmal so viele wie in den USA von 1907 bis 1945, und bezogen auf die größere amerikanische Bevölkerung vor 1945 rund dreißigmal so viele. Hier schlug sichtlich – mit einem bei Eugenikern beliebten Begriff – Quantität in Qualität um. Die Gründe dafür: Nur in Deutschland wurde die Bevölkerung insgesamt ins Visier genommen (und nicht etwa nur die Anstalten, wie anderswo), nur hier wurde Zwang derart konsequent angewandt (auch wenn in den USA ca. zwanzig der dreißig Sterilisationsgesetze Zwangsklauseln 25 Vgl. Weber (wie Anm. 10); Hinrich Jasper, Maximinian de Crinis (1889–1945): Eine Studie zur Psychiatrie im Nationalsozialismus, Husum 1991; Renate Rissom, Fritz Lenz und die Rassenhygiene, Husum 1983; Horst Dickel, »Die sind ja doch alle unheilbar«. Zwangssteri­ lisation und Tötung der »Minderwertigen« im Rheingau 1934–1945, Wiesbaden 1988, S.  7 ff.; Helga Jakobi u. a., Aeskulap und Hakenkreuz. Zur Geschichte der medizinischen Fakultät in Gießen 1933–1945, Frankfurt a. M. 1989, bes. S. 24–49; Cornelia Hoser u. Birgit Weber-Diekmann, Zwangssterilisation an Hadamarer Anstaltsinsassen, in: Dorothee Roer u. Dieter Henkel (Hg.), Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933–1945, Bonn 1986, S.  121–172; Bernhard Richarz, Heilen, Pflegen, Töten: Zur Alltagsgeschichte einer Heil- und Pflegeanstalt [Eglfing-Haar] bis zum Ende des Nationalsozialismus, Göttingen 1987. Zu den sonstigen Lokalstudien vgl. bes. Wolf 2008 und Schmuhl 2011 (wie Anm. 6). 26 Zu den Krisen und Übergängen vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm.  3), S.  216 f., ­231–233, 338–344.

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hatten), nur hier gab es »ärztliche Richter«, nirgendwo anders gab es eine derart umfassende, zentralisierte und effiziente rassenhygienische Bürokratie, nur hier wurde das Urteilen über die »Fortpflanzungswürdigkeit« in die Justiz platziert, und nur hier wurde die Eugenik in die Theorie und Praxis einer institutionalisierten Rassenpolitik integriert. Gemessen daran hatte der Sterilisationsjurist Falk Ruttke durchaus recht, als er 1937 die deutsche Sterilisationspolitik mit der nordamerikanischen und der skandinavischen verglich und folgerte, dass sie außerhalb Deutschlands großenteils bloß »auf dem Papier steht.«27 Denn führte auch die amerikanische Eugenik trotz der amerikanischen Demokratie teilweise zu ähnlichen Gesetzen, so wurden diese, eben wegen der Demokratie, nicht in ihrer ganzen Tragweite umgesetzt: Die USA waren kein Polizeistaat. Vor allem aber wurde nur in Deutschland der Sterilisationsrassismus zu einer Vorstufe von Mordpolitik und Genozid.

3. Der Geist des Gesetzes: Sterilisationspolitik als Rassenpolitik und als Geschlechterpolitik Während Rüdin 1934 den Grundsatz verkündete (bald wurde er unter den Akteuren und Dokumenten zum gängigen Diktum), dass gerade die Sterilisation »leichter Fälle« den »Geist des Gesetzes« ausmache, propagierten auch manche seiner US-amerikanischen Kollegen das deutsche Gesetz und verwiesen voll Stolz darauf, dass es weitgehend der US-amerikanischen Eugenik folge. Zudem ziele es »equally« auf sämtliche »hereditary degenerates«; »Gleichheit« hieß hier: »regardless of sex, race, or religion.«28 Auch in den USA war der eugenische Rassismus – als Lehre vom unterschiedlichen Wert der Menschen – eng und auf vielfältige, wenn auch vielfach unterschiedliche Weise mit dem ethnischen Rassismus verbunden (als Lehre vom unterschiedlichen Wert der Völker). In den meisten der rund dreißig Einzelstaaten mit Sterilisationsgesetz (und in anderen Ländern mit eugenischen Sterilisationsgesetzen) waren es mehrheitlich und oft zu neunzig Prozent Frauen, die aus eugenischen Gründen sterilisiert wurden, auch wenn von Frauen in jenen Gesetzen nicht die Rede war (ähnlich war die Lage in Deutschland vor 1933). In der Tat sollte sich zeigen, dass erstens das deutsche Sterilisationsgesetz für Juden ebenso wie für Nichtjuden galt  – hier wurden Juden ausnahmsweise nicht ausgeschlossen, sondern eingeschlossen, und »Gleichheit« wurde zum Zynismus – und dass zweitens, der Logik des Erb-

27 Ruttke im Ausschuss für Rechts­fragen der Bevölkerungspolitik, 28.10.1937; zum Kontext vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), S. 242. 28 Eugenical Sterilization in Germany, in: Eugenical News 18/5 (1933), S. 89; zum Folgenden vgl. Stefan Kühl, The Nazi Connection: Eugenics, American Racism, and German National Socialism, New York 1994; ders., Internationale (wie Anm. 8).

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lichkeitsdogmas folgend, nicht mehr »nur« vorwiegend Frauen, sondern auch Männer sterilisiert wurden. Gleichwohl – oder eben deshalb – sind das Gesetz, die ihm zugrundeliegenden Annahmen und seine Implementierung nicht nur Teil der Geschichte von Medizin, Psychiatrie und Justiz (also den Professionen der hauptsächlichen Akteure), sondern sind vor allem geprägt von rassistischen Diskursen und von Visionen (meist von Männern) über die Geschlechter und ihre Beziehungen; die utopische Rede vom »neuen Menschen« und »kommenden Geschlecht« war geradezu besessen von Geschlechtern und Geschlechtlichkeit, sei es wegen ihrer Fixierung auf »Fortpflanzung«, sei es wegen der immer schon sexualisierten Bilderwelt der traditionellen rassistischen Diskurse. (a) Sterilisationspolitik als Rassenpolitik Die Sterilisationspolitik galt ihren deutschen Vertretern  – ungeachtet ihrer guten Kenntnisse der parallelen Politik in anderen Ländern  – als »Herzstück des Nationalsozialismus, des Rassegedankens.«29 Auch einer der Gesetzeskommentare reklamierte Originalität wider besseres Wissen: »Die Tätigkeit der ErbGesGer. in Deutschland bedeutet Verwirklichung der nationalsozialistischen Weltanschauung, denn der Nationalsozialismus ist angewandte Rassenkunde.«30 »Wert«, »Unwert« und »Minderwertigkeit« waren die wichtigsten Kategorien des nationalsozialistischen Rassismus (ebenso wie jedes anderen Rassismus innerhalb und außerhalb Deutschlands), und die diskriminierende Behandlung von Menschen nach diesen Kategorien war der gemeinsame Nenner all seiner verschiedenen Formen. Das Sterilisationsgesetz realisierte, ähnlich wie die antijüdischen Gesetze seit 1933, die klassische rassistische Forderung, die in Deutschland speziell in der Propaganda für die Sterilisation formuliert wurde: »Ungleicher Wert, ungleiche Rechte«.31 Es schuf doppeltes Recht, Sonderrecht. Die Sterilisationspolitik war die erste der nationalsozialistischen Maßnahmen, die soziale Fragen mit »biologischen« Mitteln zu lösen suchte, und indem es solche »Lösungen« für Recht erklärte, legte es auch eine der Grundlagen für spätere und außergesetzliche Eingriffe in Leib und Leben, die mit dem Interesse von »Volk und Rasse« begründet wurden. Das Sterilisationsgesetz sah nicht etwa vor, Juden, Roma, Schwarze und Angehörige anderer »fremder« Rassen zu sterilisieren, auch wenn solche (sogar vor dem Zeithintergrund absurden) Gerüchte um 1933 zirkulierten. Dennoch war die Sterilisationspolitik  – und die Rassenhygiene insgesamt  – eine Form und ein integraler Bestandteil des nationalsozialistischen Rassismus. Denn Rassis29 Martin Grunau (Sterilisationsrichter in Hamburg), Ein Jahr Gesetz zur Verhütung erb­ kranken Nachwuchses, in: Juristische Wochenschrift 64 (1935), S. 3. 30 Ristow (wie Anm. 4), S. 111. 31 Hans Burkhardt, Der rassenhygienische Gedanke und seine Grundlagen, München 1930, S. 93.

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mus bedeutet nicht nur Diskriminierung »fremder« Völker, sondern auch die »Aufartung« des eigenen Volks, wenn sie durch Diskriminierung von »Minderwertigen« in der eigenen ethnischen Gruppe angestrebt wird. Denn die gelobte »Rasse«, das »Herrenvolk«, war nicht gegeben, sondern sollte produziert werden. So schrieb ein maßgeblicher Jurist im Reichsinnenministerium: »Die deutsche Rassenfrage ist in erster Linie durch die Judenfrage umschrieben. In weitem Abstand hiervon, aber nicht minder wichtig, steht die Zigeunerfrage. […] Zersetzende Einwirkungen auf den deutschen Volkskörper können nicht nur von außen her durch Fremdrassige erfolgen, sondern auch von innen her durch hemmungslose Vermehrung der minderwertigen Erbmasse«.32 Ähnlich hatte es Hitler schon in den zwanziger Jahren formuliert (durchaus auf dem Niveau der transnationalen biopolitischen Diskurse): Zu der »Feststellung, daß Volk nicht gleich Volk« sei, gehöre auch das Pendant, dass »die einzelnen Menschen innerhalb einer Volksgemeinschaft« nach ihren »blutsmäßigen Bestandteilen« unterschiedlich zu »bewerten« seien. Dies galt insbesondere hinsichtlich des Kinderhabens; Hitler empfahl die Sterilisation von »Millionen«. Und Himmler pries 1936 das Sterilisa­tionsgesetz: »Die deutschen Menschen […] haben wieder gelernt, […] Körper zu sehen und nun nach dem Wert oder Unwert diesen uns vom Herrgott gegebenen Leib und das uns vom Herrgott gegebene Blut und unsere Rasse heranzuziehen.«33 Die Rassenhygiene bzw. Eugenik war keinesfalls nur deshalb rassistisch, weil sie sich im Nationalsozialismus dem »Ariermythos« annäherte (das tat sie nur in engen Grenzen).34 Vielmehr war sie gleichsam der intra-rassische Teil des nationalsozialistischen Rassismus, als komplementäres Gegenstück zu seinem inter-rassischen Teil, der sich gegen Juden, Slawen, Roma und Schwarze richtete. Der eugenische Rassismus, ebenso wie der ethnische, begründete den Wert von Menschen in menschlichen Beziehungen, die zu »Biologie« umdefiniert wurden: in »Erbe«, »Abstammung« und »Fortpflanzung«, Herkommen und Nachkommen. Dementsprechend spielte die Geburtenpolitik eine zentrale Rolle für den Rassismus; in den Worten eines Historikers: »Die Zeugung gesunder Nachkommen wurde zu einer fixen Idee des Rassismus.«35 Die fixe Idee verdeutlichte Rüdin, als er 1935 anlässlich der Gründung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater einen neuen »kategorischen Imperativ« verkündete: »Zeuge für dein Volk solche Nachkommen, daß sie der ganzen Menschheit zum Vorbilde dienen können.«36 Der Sterilisationspolitik lag die Annnahme zugrunde, dass sich »Minderwertigkeit« genetisch vererbe (und weithin galt auch 32 Werner Feldscher, Rassen- und Erbpflege im deutschen Recht, Berlin usw. 1943, S. 26, 118. 33 Adolf Hitler, Mein Kampf, Bd. II, München 1927, S. 80 f.; Bd. I, München 19283, S. 270; Heinrich Himmler: Geheimreden 1933–1945 und andere Ansprachen, hg. v. Bradley F. Smith u. Agnes F. Peterson, Frankfurt a. M. 1974, S. 54 f. 34 Das behauptet Jakob Tanner, Eugenics before 1945, in: Journal of Modern European History 10/4 (2012), S. 458–479. 35 George L. Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, Frankfurt a. M. 1990, S. 95. 36 Ernst Rüdin, in: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 37 (1935), S. 445.

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die Lehre, dass sie sich stärker vererbe bzw. »durchschlage« als »Hochwertigkeit«). Deshalb wurde in den Sterilisationsprozessen die Erblichkeit eines Defekts nicht bewiesen, sondern schlicht vorausgesetzt, insbesondere bei den beiden wichtigsten Diagnosen »Schwachsinn« und »Schizophrenie«; es genügte die richterliche Konstatierung einschlägiger Defekte und Abweichungen von kulturellen Normen, um auch deren Erblichkeit für erwiesen zu halten.37 Entsprechend dem Ziel einer »allmählichen Reinigung des Volkskörpers« stammten die Menschen, die sterilisiert wurden und die in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit »leichte Fälle« waren, aus allen Schichten, proportional zu ihrem Anteil an der Bevölkerung; wie auch in der Gesamtbevölkerung stellten die ärmeren Schichten einen höheren Anteil an der Gesamtzahl der Sterilisierten, und auffällig ist bei ihnen – was den Familienstand betrifft –, dass sie durchschnittlich nicht etwa mehr Kinder hatten, als es in der Gesamtbevölkerung üblich war, sondern dass sie vorwiegend aus kinderreichen Familien stammten. Allerdings gelang es wohlhabenden Familien zuweilen, eine Sterilisation zu verhindern, z. B. dadurch, dass sie oder das zu sterilisierende Familienmitglied der Sterilisation einen kostspieligen und lebenslänglichen Aufenthalt in einer von der Umwelt streng abgeschirmten »geschlossenen Anstalt« vorzogen. Eine Verordnung von 1933 machte das möglich, und es war die einzige Möglichkeit, dem Sterilisationsurteil legal zu entkommen. In der Euthanasie-Aktion fanden ab 1940 auch solche Menschen den Tod.38 Aber es ging nicht nur um das »eigene« Volk. Die Sterilisationspolitik richtete sich gegen die eugenisch »Minderwertigen« jeglicher ethnischen Zugehörigkeit, also auch gegen Angehörige diskriminierter ethnischer Minderheiten. Hitler lehnte zwar eine Zeit lang die Sterilisation von Angehörigen nichtdeutscher Gruppen ab, weil sie es nicht verdienten, »aufgeartet« zu werden.39 Doch diese Einstellung war bald überwunden, und hinsichtlich der Geburtenverhinderung waren die »minderwertigen« Deutschen und die geistig oder seelisch behinderten Angehörigen anderer ethnischer Gruppen (Polen, Roma, Juden) gleichgestellt; bald mussten sogar Ausländer jeglicher Zugehörigkeit wählen zwischen Überprüfung (mit eventuellem Sterilisationsurteil) und Ausreise. Überdies konnte die ethnische Zugehörigkeit einen Unterschied für die Diagnose machen. Die psychiatrische Theorie und Praxis hatte schon seit längerem postuliert, dass westliche Juden eher zu Schizophrenie neigten als Nichtjuden, Juden aus Osteuropa mehr zu Schwachsinn, und zahlreiche Roma wurden unter der Diagnose Schwachsinn sterilisiert.40 Im Jahr 1937 sterilisierte man alle Afrodeutschen (rund 500 »Mischlinge«), derer man habhaft werden konnte, außer37 Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), Kap. VI.1. (Wert, Krankheit, Fortpflanzung) und VI.2. (Erblogik und »Aufartung«). 38 Vgl. ebd., S. 261–263, 417–425; Gerhard Fuchs, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus in Bremen, Hamburg 1988, S. 64 ff.; Monika Daum u. Hans-Ulrich Deppe, Zwangssterilisation in Frankfurt am Main 1933–1945, Frankfurt a. M., S. 156–162. 39 Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), S. 349. 40 Ebd., Kap. VI.4 (Sterilisationspolitik und »fremde Rassen«).

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halb des Sterilisationsgesetzes.41 1941 wurde eine jüdische Berlinerin – sie war bei weitem nicht der einzige Fall dieser Art – wegen Schizophrenie sterilisiert, und ihre seelische Störung wurde damit belegt, dass sie Depressionen und Suizidneigung hatte – und das in eben dem Jahr, als die Deportationen nach Osten begannen. Am 19. März 1942, kurz nach der Wannseekonferenz, beschloss man eine Art »Sonderbehandlung«, mit der die 1933 beschworene paradoxe »Gleichheit« nun aufgehoben wurde: Die Sterilisation von Juden nach dem Gesetz von 1933 wurde untersagt.42 Angesichts der angelaufenen Massenmorde an Juden war sie gleichsam überflüssig geworden. Gleichzeitig aber diskutierte man auf jener Konferenz und danach weiterhin die Zwangs- und Massensterilisation jüdischer »Mischlinge 1. Grades«, die von Deportation und Mord verschont geblieben waren. Es sollte nicht mehr so weit kommen. (b) Sterilisationspolitik als Geschlechterpolitik Frauen und Männer wurden im Sterilisationsgesetz nicht erwähnt; es schien geschlechterneutral zu sein und damit »minderwertige« Frauen und Männer »gleich« zu behandeln. Und doch spielten die Geschlechter eine enorme Rolle, vor wie nach 1933, ob explizit oder implizit, und wenn der Sterilisationspolitik noch heute »Geschlechterblindheit« unterstellt wird, so kann das nur an der Geschlechterblindheit des untersuchenden Historikers liegen.43 Viele Eugeniker  – egal ob politisch links oder rechts orientiert  – hielten vor wie nach 1933 ein Drittel der Bevölkerung für »minderwertig« oder »fortpflanzungsunwürdig«, wenngleich keineswegs jeder, der diese Meinung teilte, gleich ein ganzes Drittel der Bevölkerung vom Kinderkriegen abhalten oder gar zwangsweise sterilisieren wollte. Einer von ihnen war der Sozialdemokrat Alfred Grotjahn: Er wünschte eine »Reinigung der menschlichen Gesellschaft von Kranken, Häßlichen und Minderwertigen«, die ein Drittel ausmachten, aber nur ein Prozent müsse sterilisiert werden: Schwachsinnige, Epileptiker, Krüppel, Alkoholiker. Fritz Lenz verwahrte sich gegen die Unterstellung, er wolle »sein« gesamtes Drittel sterilisiert sehen. Stattdessen schlug er die Bildung von vier Gruppen von mehr oder weniger »Fortpflanzungs­(un)­w ür­digen« vor: Eine kleine Gruppe sei zwangsweise zu sterilisieren, bei einer größeren Gruppe sollte indirekter Zwang ausgeübt oder ein Anreiz zur Sterilisation geboten werden, und einer weiteren sollte die Sterilisation freigestellt werden; nur bei rund dreißig Prozent der Bevölkerung hingegen sei Sterilisation zu verbieten. Schon frü41 Noch immer ist die beste Darstellung: Reiner Pommerin, »Sterilisierung der Rheinland­ bastarde«. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918–1937, Düsseldorf 1979. 42 Joseph Walk (Hg.), Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, Heidelberg 1996, S.  367; Bock, S. 351–357. Zum Folgenden: Beate Meyer, »Jüdische Mischlinge«, Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, Hamburg 1999. 43 Tanner (wie Anm. 34), S. 473. Der Autor meint, sich für seine These ausgerechnet auf mich berufen zu können (natürlich ohne Beleg).

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her hatte der Blut-und-Boden-Experte Richard Walther Darré dieses gängig gewordene Konzept direkt auf Frauen bezogen (ohne sie ging es ja nicht): Bei den »wertvollen« seien Geburten zu fördern, die zweite Gruppe sei zwar nicht förderungswürdig, aber immerhin unbedenklich, die dritte dürfe zwar heiraten, aber nur nach Sterilisation, und die vierte (geisteskranke und unehelich ge­ borene Frauen, »Dirnen« usw.) sei unter allen Umständen zu sterilisieren.44 Noch 1933 wurde unter Experten debattiert, ob es nicht ungerecht oder unklug sei, ebenso viele Frauen wie Männer zu sterilisieren.45 Denn die Operation von Frauen (Salpingektomie), die Vollnarkose und Leibschnitt erforderte, das Abbinden, Quetschen, Durchschneiden, Entfernen der Eileiter war ungleich dramatischer (und teurer) als die meist ambulant stattfindende Vasektomie an Männern, und manche befürchteten, dass die höhere weibliche Komplika­tionsund Todesrate Widerstand hervorrufen könnte. Das Ergebnis der Debatte war jedoch der Beschluss, Frauen und Männer gleichermaßen zu sterilisieren, und tatsächlich waren die Sterilisationsopfer fast zur Hälfte Frauen. Allerdings ist das quantitative Geschlechterverhältnis insgesamt nur für die Jahre bis 1937 bekannt; es begann mit jeweils fünfzig Prozent, 1937 sank der Frauenanteil auf 48 Prozent.46 Ungeachtet der »Gleich«-Behandlung machte die Geschlechtszugehörigkeit einen Unterschied, und zwar insofern die Sterilisationspolitik nicht nur Rassenpolitik, sondern auch Geburtenpolitik war. Sie war alles andere als geschlechterneutral. Der Nationalsozialismus schaffte die inzwischen schon traditionell gewordene Geburtenkontrolle nicht etwa ab, sondern verstaatlichte sie, und in Bezug auf Frauen bedeutete der »Primat des Staates auf dem Gebiet des Lebens, der Ehe und der Familie« in mancherlei Hinsicht anderes als in Bezug auf Männer. Das betraf insbesondere die entscheidenden Charakteristika der Sterilisation – den körperlichen Eingriff, die Kinderlosigkeit und die Trennung zwischen (Hetero-)Sexualität und Fortpflanzung –, des Weiteren die psychiatrischen Selektionskriterien, Teile der Sterilisationspropaganda und die Abtreibungspolitik. Die zwangsweise Massensterilisation von Frauen war ein gewaltsamer Eingriff nicht nur in den weiblichen Körper, sondern auch in weibliches Leben. Tausende Menschen starben infolge der Sterilisation, und rund 90 Prozent von ihnen waren Frauen. Die meisten von ihnen starben, weil sie sich gegen die Sterilisa­tion wehrten, zum Teil  noch auf dem Operationstisch, und sich auch nach der Operation gegen das Geschehene auflehnten. Manche nahmen sich das Leben. Auskunft darüber geben uns vor allem die rund 200 einschlägigen medizinischen Dissertationen, meist Lokal- und Anstaltsstudien, die seit 44 Richard Walther Darré, Neuadel aus Blut und Boden, München 1930, S. 169–171; Fritz Lenz, Zur Sterilisierungsfrage, in: Klinische Wochenschrift 13 (1934), S. 294 f.; Alfred Grotjahn, Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik, Berlin 1926, S. 5 (Zitat), 185–200, 355. Ähnlich Ernst Rüdin: vgl. Weber, wie Anm. 10, S. 175. 45 Vgl. z. B. Tirala (wie Anm. 5). 46 Zu den Zahlen und ihren Quellen vgl. Bock (wie Anm. 3), S. 368. Zur Operation: S. 374 f.

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1933 entstanden und zum großen Teil  weibliche Sterilisierte behandeln. Das Operationsrisiko war kein normales, weil der Eingriff in der Regel das Ergebnis von direktem oder indirektem Zwang war, weil es am »Sterilisiertag« – so ein protestantischer Beobachter – oft »auf Hauen und Stechen« ging, zahlreiche Unregelmäßigkeiten geschahen und häufig eine doppelte Narkose verabreicht wurde; letzteres geschah vor allem, wenn Frauen sich gegen die genitale Untersuchung und die Narkose wehrten.47 Die Sterilisationstoten erregten damals in der Bevölkerung Aufsehen und Empörung, und die Sterilisationsakteure suchten zu beschwichtigen. Zum einen forcierte Hitler selbst die »unblutige« Sterilisation von Frauen durch Röntgenstrahlen (sie wurde 1936 für Frauen im Alter von über 38 Jahren ein­geführt); zum anderen reduzierte man die registrierte Anzahl der Toten dadurch, dass man aus der Statistik diejenigen Fälle ausschloss, die durch »eigene Schuld« der Operierten oder durch zugestandene Schuld von Ärzten gestorben waren, oder dass man einen Zusammenhang von Tod und Operation leugnete und die Todesursache beispielsweise in »Herzschwäche« oder »Fieberdelirium« fand. Nicht registriert wurden auch Todesfälle, bei denen nach medizi­nischer Auskunft »keine Todesursache« vorlag oder angenommen wurde, dass »der Tod auch ohne Operation eingetreten wäre.« Auf der Grundlage solcher Argumentationen und partiellen Registration wurde 1937 in der Regierungs- und Fachpresse immerhin ein Todesrisiko von einem halben Prozent für Frauen zugegeben (das wären insgesamt rund 1.000 weibliche Tote)  und 0,1 Prozent für Männer (also rund 100 Tote).48 Ein gewöhnlich gut informierter US-ame­ rikanischer Beobachter, der Journalist Wallace R. Deuel von der Chicago Daily News, berichtete indessen 1942 über bis dahin 3.750 Sterilisationstote, und so ist es wohl angemessen, ihre Gesamtzahl auf etwa 5.000 zu schätzen.49 Kinderlosigkeit bedeutet für Frauen anderes als für Männer, ebenso wie Kinder­haben, Mutterschaft und Vaterschaft (bekanntlich ist das nicht nur in der Frauen- und Geschlechtergeschichte ausführlich dargelegt worden, sondern entspricht auch dem gesunden historischen Menschenverstand). Aus diesem Grund unterschieden sich auch die Reaktionen und Widerstandsformen von Frauen und Männern gegenüber der Sterilisation in mancherlei Hinsicht; Tausende von Briefen an die Sterilisationsgerichte, die in den Prozessakten er47 Vgl. ebd., S. 181, 368–378, 494–497. Der »Sterilisiertag«, von dem ein Mitglied des Ständigen Ausschusses für Rassenhygiene und Rassenpflege bei der Inneren Mission berichtete: ebd., S. 374. 48 Vgl. ebd., S. 376 mit Anm. 17; Daum u. Deppe (wie Anm. 38), S. 127–130. 49 Wallace R. Deuel, People under Hitler, New York 1942, S. 222. Manche neueren Lokalstudien bestreiten die Schätzung aufgrund der lokalen Funde. Aber zum einen spiegeln lokale Daten nicht notwendig die Gesamt- bzw. Durchschnittsdaten, zum anderen setzen sich die Autoren weder mit allen sonstigen Angaben auseinander noch mit den von mir herangezogenen Quellen. Bei meiner früheren Schätzung auf 5.000 sind die häufigen Suizide nicht einbezogen, und ich habe für sie eigens nochmals tausend Fälle angesetzt (S. 381); dies scheint mir heute, angesichts des Fehlens von Daten jenseits von Einzelberichten, zu hoch.

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halten sind, berichten davon. Zu den Reaktionen: Während Frauen und Männer gleichermaßen gegen den Zwangseingriff protestierten, klagten Frauen über die bevorstehende Kinderlosigkeit weitaus häufiger als Männer, und zwar vor allem junge Frauen. Männer hingegen fürchteten oft den Verlust ihrer Männlichkeit. Zum Widerstand: Während vermutlich mehr Männer als Frauen der Sterilisation durch Flucht zu entkommen suchten, versuchten manche Frauen, noch vor der Operation schwanger zu werden, und diese Opposition war immerhin so bedeutend, dass der Begriff »Trotzschwangerschaften« aufkam und kursierte. So berichtete eine Fürsorgerin von einem Mädchen, es sei schwanger geworden, »um dem Staat zu zeigen, ich mache das nicht mit.«50 Um dieser Gefahr zu begegnen, wurden zahlreiche Frauen bis zum Ende des Sterilisationsverfahrens zwangsweise in einer Anstalt untergebracht, damit nicht »von dem vom Verfahren Betroffenen der Zweck des Gesetzes durch Herbeiführung einer Schwangerschaft vereitelt« werden könne.51 Seit Beginn des Sterilisierens wurde außerdem an schwangeren Frauen abgetrieben, wenngleich illegal und keineswegs überall; das geschah auch, so gut wie immer, wenn Frauen von einer beim Sterilisieren entdeckten Schwangerschaft selbst noch nichts wussten oder gesagt hatten. Die »Trotzschwangerschaften« waren ein wichtiger Grund dafür, dass 1934 der »Reichsärzteführer« Gerhard Wagner von Hitler die  – außergesetzliche  – Ermächtigung seiner Ärzte zur eugenischen Abtreibung erhielt (sowohl diese als auch den Krankenmord hatte schon 1933 die Denkschrift des Preußischen Justizministeriums zum künftigen »Nationalsozialistischen Strafrecht« anvisiert) und dass im Juni 1935 das Sterilisationsgesetz zu einem Abtreibungsgesetz erweitert wurde: Jetzt konnte aus eugenischen Gründen auch abgetrieben werden, und ein noch 1933 geplantes neues Anti-Abtreibungsgesetz wurde fallengelassen. Abtreibung war nun nicht mehr verboten, sondern verstaatlicht, und ihre (Nicht-)Genehmigung  – jeweils unterschiedlich nach »Erbwert«  – wurde in die Logik der »Erb- und Rassenpflege« einbezogen; ab 1938 und erst recht ab 1940 sollte die rassische (ethnische)  Komponente noch verschärft werden. Überdies wurde mit derselben Novelle zum Sterilisationsgesetz auch – und erstmalig – die medizinische Indikation zur Abtreibung und Sterilisation gesetzlich eingeführt. Wurde aus eugenischen Gründen abgetrieben, so wurde außerdem zwangsweise sterilisiert. Noch 1935 gab es 4.151 gesetzliche Abtreibungen, davon vierzig Prozent eugenische, und insgesamt lässt sich die Zahl der eugenisch indizierten Abtreibungen auf rund 30.000 schätzen. Im Jahr 1935 gab es außerdem 2.754 Verurteilungen wegen »krimineller« – also freiwilliger – Abtreibung; 50 Bericht im Ständigen Ausschuß für Fragen der Rassenhygiene und Rassenpflege beim Central-Ausschuß für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, 13.7.1934­ (Archiv des Diakonischen Werks der evangelischen Kirche in Deutschland, Berlin: ADW, CA/G 1601, f. 84). 51 Elisabeth Antonia Storch, Mortalität und Morbidität bei eugenischen Sterilisierungen an 190 Frauen, Diss. med. Heidelberg 1939, S. 9.

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im Ganzen wurden, laut Kriminalstatistik, in den zehn Jahren ab 1933 knapp 40.000 solcher Urteile ausgesprochen (davon rund siebzig Prozent über Frauen). Und noch 1935 gab es knapp 12.000 medizinisch indizierte Sterilisationen; deren Gesamtzahl ist bisher unbekannt.52 Auch die Trennung von (Hetero-)Sexualität und Fortpflanzung hatte für Frauen und Männer unterschiedliche Folgen. Zehntausende von Frauen, die in der Regel als »leichte Fälle« zählten und – wie eine von ihnen versicherte – »von Männern nichts wissen« wollten und keinen Geschlechtsverkehr hatten, wurden deswegen sterilisiert, weil man mit Vergewaltigung rechnen müsse  – das jedenfalls war die Meinung der zeitgenössischen Sterilisationsjuristen und -mediziner. Deshalb betonte der Gesetzeskommentar eigens, dass »eine unterschiedliche Beurteilung der Fortpflanzungsgefahr bei Männern und Frauen nötig« sei, dass »weibliche Schwachsinnige besonders fortpflanzungsgefährlich« seien, und regelmäßig hieß es in den Sterilisationsurteilen, bald auch aufgrund eines Erlasses des Reichsjustizministeriums vom 22. August 1936: »Bei weiblichen Erbkranken ist zudem mit Mißbrauch gegen ihren Willen zu rechnen.«53 Die Problematik der Vergewaltigung »minderwertiger« Frauen wurde hier auf die Gefahr der Schwängerung reduziert, und oft wurde die Zwangssterilisation von Frauen als ein Mittel propagiert, diese Vergewaltigungsfolge zu verhindern. Auch wurden aus demselben Grund (wenn etwa einem der Akteure »die armen sterilisierten schwachsinnigen Mädchen, die auf das Dorf entlassen« werden, »von Herzen leid« taten) viele sterilisierte Frauen, nicht aber Männer, in Anstalten verwahrt (außerdem wegen der Annahme, dass sie der Prostitution nachgehen könnten). Tatsächlich wurden aber gerade sterilisierte Frauen nicht selten Objekte sexuellen Missbrauchs, sowohl auf dem Land, wo sich eine Sterilisation besonders schnell herumsprach, als auch in der Stadt.54 Sexuelle Beziehungen zwischen den und innerhalb der Geschlechter spielten auch in vielen anderen Bereichen der Sterilisationspolitik und, allgemeiner, der »Erb- und Rassenpflege« eine enorme Rolle. Zusammen mit dem Sterilisationsgesetz wurde ein weiteres Gesetz konzipiert und bald verabschiedet, das die Kastration von »Gewohnheits«- beziehungsweise »Sittlichkeitsverbrechern« vorsah; sie wurde auf Männer beschränkt, da Frauen (so einer der führenden Diskutanten) »als Sittlichkeitsverbrecherinnen so gut wie nicht in Frage« kämen. Mit der ersten Novellierung des Sterilisationsgesetzes 1935 wurde die Kastration auch für einen Teil der männlichen Homosexuellen vorgesehen, die nach § 175 verurteilt worden waren, und bis Mitte 1943 wurden 2.300 Männer 52 Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), S. 98–101, 159–164, 378–384, außerdem Anm. 73 zum folgenden Kapitel und Gabriele Czarnowski, Women’s crimes, state crimes: abortion in Nazi Germany, in: Margaret L. Arnot u. Cornelie Usborne (Hg.), Gender and crime in modern Europe, London 1999, S. 237–256. 53 GRR 1936, S. 121, 129. 54 Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), S. 210–229, 386–401 (Zitat eines Sterilisationsrichters: S. 389), auch zum Folgenden.

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aufgrund dieser Bestimmungen »entmannt«.55 Im Fall der Sterilisation insbesondere von Männern – mittels eines obligatorischen »Merkblatts« zur »Aufklärung«  – wurde breitenwirksam die Unterscheidung zwischen Hoden und Eierstöcken sowie vor allem zwischen Kastration und Sterilisation ins »deutsche Volk« getragen, die es bisher noch nicht recht verstanden hatte: »Das Geschlechtsempfinden und die Fähigkeit zum Geschlechtsverkehr werden durch die Operation nicht beeinträchtigt.«56 Die gesamte Sterilisationsbürokratie und überdies die eugenisch instruierten Meldeämter wurden auch für die beiden Eheverbotsgesetze eingesetzt: das »Blutschutzgesetz« von September 1935, das Ehen und Sexualbeziehungen zwischen Juden beziehungsweise Jüdinnen und Deutschen verbot, und das einen Monat später folgende »Ehegesundheitsgesetz«, das Ehen zwischen »wertvollen« und »minderwertigen« Deutschen verbot (das letztere erfüllte eine alte Hoffnung der Eugeniker aller Länder, konnte aber im Nationalsozialismus noch nicht breitenwirksam durchgesetzt werden).57 Für die psychiatrische Diagnostizierung der Sterilisanden, vor allem im Fall von »Schwachsinn«, wo eine Intelligenzprüfung vorgenommen wurde (das geschah aber oft auch bei »Schizophrenie«), benutzte man unterschiedliche Kriterien für die beiden Geschlechter. Diejenigen für Frauen maßen ihre Ab­weichung vom »Normalen« an geltenden Normen für das weibliche Geschlecht, diejenigen für Männer legten Normen für das männliche Geschlecht zugrunde. Um weibliche Minderwertigkeit zu bestimmen, wurde regelmäßig das Sexualverhalten erforscht und besonders negativ dann beurteilt, wenn irregulärer Geschlechtsverkehr vorlag oder vermutet wurde; dies geschah besonders bei unverheirateten Müttern und vor allem in den Fällen, in denen der Kindsvater unbekannt war. An Männern fanden solche Untersuchungen nur sehr selten statt, und ihr Ergebnis hatte kein Gewicht für das Sterilisationsurteil. Frauen wurden nach ihrer Fähigkeit oder Neigung zu häuslicher Arbeit beurteilt, zu Kindererziehung – auch im Fall kinderloser Frauen – und nach ihrer Fähigkeit zu Erwerbsarbeit; vor allem bei bloß »mechanischer Arbeit« und bei mangelnder »Lebensbewährung« wurde sterilisiert. Männer wurden nur nach ihrem Erwerbsverhalten beurteilt, allerdings mit einem Kriterium, das bei Frauen keine Rolle spielte: neben der »Lebensbewährung« ging es um ihre Fähigkeit zu »sozialem Aufstieg«. Bei all diesen Untersuchungen handelte es sich also nicht um genetische Diagnosen, sondern um kulturelle: Denn die Geschlechter sind kulturelle Größen (wie auch »Rassen« oder ethnische Gruppen). Diese kulturell bestimmten Diagnosen – zusammen mit der Regel, dass Frauen auch dann sterilisiert werden 55 Das Kastrations- wurde zusammen mit dem Sterilisationsgesetz publiziert (in GRR 1934); Bock, Zwangssterilisation (wie Anm.  3), S.  96–98, Zitat S.  97. Zu den Quellen aus dem Reichsjustizministerium und dem statistischen Reichsamt: ebd. 56 Vgl. dazu die Quellen in ebd., S. 385 f. 57 Zum letzteren vgl. die präzise Analyse von Gabriele Czarnowski, Das kontrollierte Paar. Ehe- und Sexualpolitik im Nationalsozialismus, Weinheim 1991.

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mussten, wenn sie keinen Geschlechtsverkehr hatten – waren der Grund dafür, dass weitaus mehr Frauen als Männer wegen Schwachsinn sterilisiert wurden; hier trat dasselbe Phänomen hervor, das in Ländern mit ähnlichen Sterilisationsgesetzen (also in so gut wie allen anderen Ländern mit einer solchen Politik) ebenfalls zum drastischen Überwiegen der Sterilisation von Frauen führte: der »weibliche Schwachsinn«, wie er sich in den Diagnosen und Urteilen meist von Männern darstellte. Und es kann angenommen werden, dass sich ab 1939, als die Zahl der Sterilisationen zurückgefahren wurde und nicht mehr auf sämtliche »Fortpflanzungsunwürdigen« zielte, sondern auf die absolut »Fortpflanzungsgefährlichen«, auch der Frauenanteil wieder erhöhte. Im Übrigen war das quantitative Geschlechterverhältnis bei der Diagnose Schizophrenie ausgeglichen, bei Epilepsie überwogen Männer. Und der Umstand, dass  – jedenfalls noch um 1937  – eine Geschlechterdifferenz von vier Prozentpunkten unter den Sterilisierten registriert wurde, ist so gut wie vollständig der Tatsache zuzuschreiben, dass fast alle der 8.000 wegen Alkoholismus Sterilisierten männlichen Geschlechts waren. Ihre Sterilisation wurde gewöhnlich, z. B. im Völkischen Beobachter vom 31. Januar 1934, damit begründet, dass sie »aufgrund von Brutalität, Rücksichtslosigkeit und Egoismus« jedes Jahr »ein Kind in die Welt setzen« und die Sterilisation deshalb die »arme, vom Manne bedrohte und gequälte Ehefrau« schütze (ja: schütze).58 Das Beispiel von Margarete F., einem polnisch-jüdischen Dienstmädchen in einem Berliner jüdischen Krankenhaus, zeigt die Verschränkung von ethnischer, eugenischer und geschlechtsbestimmter Diagnostizierung von »Minderwertigkeit«. Im Jahr 1939 stand sie wegen Schwachsinns vor dem Sterilisationsgericht und wurde von Dr. Ilse »Sara« A., einer deutsch-jüdischen Ärztin, energisch verteidigt (»Sara« beziehungsweise »Israel« mussten alle deutschen Juden seit 1938 als zusätzlichen Vornamen führen). Im Antrag betonte der Amtsarzt, sie arbeite »nur mechanisch« und sei »unfähig zu selbständiger Arbeit«. Als sie vor Gericht ausführlich zu ihrer häuslichen Arbeit vernommen wurde, musste sie diese Diagnose bestätigen; laut Protokoll sagte sie: »Ich stehe um 6 Uhr auf, dann hat jeder seinen Dienst, Wäsche legen und auch mal an die Heißmangel, dann legt man sich eine Stunde hin, dann müssen wir wieder arbeiten, wieder Wäsche legen, auch mal Mäntel für die Ärzte bringen, um 6 Uhr ist die Arbeit vorbei.« Die Richter fragten, wie sie die Fenster des Gerichtssaals putzen und wie lange sie dafür brauchen würde, und auch hier war das Ergebnis: »mechanische Arbeit«. Was sie in ihrer Freizeit mache? »Ach die Zeit vergeht schon.« Ilse »Sara« A. wies darauf hin, dass Margarete ihren Lebensunterhalt mit dreißig bis vierzig Reichsmark pro Monat selbst verdiene und »daß die meisten Menschen ihr ganzes Leben lang hauptsächlich mechanische Arbeit verrichten.« Dies traf offensichtlich auch auf die Richter zu, als sie die Sterilisation beschlossen, sowie auf den Leiter der Erbpathologischen Abteilung der Ber58 Anna Ebert, Das Sterilisationsgesetz und seine Auswirkungen auf die Frau, in: Völkischer Beobachter, 31.1.1934; vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), S. 390–392, 396–417.

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liner Charité, der in seinem Zusatzgutachten unter anderem aufgrund von unbeantwortet gebliebenen Fragen nach dem »biologischen Sinn von Blüten« und den Hauptstädten Westeuropas die Sterilisation für dringlich erklärte. In der Begründung vermerkte das Gericht, was schon der amtsärztliche Antrag festgehalten hatte: Margarete F. verwechsle »mir« und »mich« (was in Berlin bekanntlich öfter vorkommt) und spreche galizischen Dialekt. Als Jüdin war sie an ihrer Sprache zu erkennen, als »Schwachsinnige« hatte sie nur mechanische Arbeit zu bieten, als Frau versagte sie in der Hausarbeit, jedenfalls nach Meinung der Herren des Gerichts.59 Die Sterilisationspolitik wurde keineswegs geheim betrieben, sondern war begleitet von breiter und plakativer Propaganda; auch wurde sie ausführlich in der juristischen, medizinischen, psychiatrischen und erbtheoretischen Fachpresse besprochen. Goebbels’ Propagandaministerium wies entschieden die verbreitete Annahme zurück, dass »der Staat Kinder um jeden Preis« wolle: »Die Parole lautet also nicht: ›Kinder um jeden Preis‹, sondern: ›eine möglichst große Kinderschar aus der erbgesunden deutschen Familie‹.« Ebenso entschieden wies man den biblischen Spruch »Wachset und mehret euch« zurück. Je nach Radikalität des jeweiligen Vertreters der Rassenpropaganda galten zehn bis dreißig Prozent der Deutschen als »fortpflanzungsunwürdig« und zehn bis dreißig Prozent als »fortpflanzungswürdig«; nicht nur Fritz Lenz meinte 1934: »So wie die Dinge liegen, ist nur noch eine Minderheit von Volksgenossen so beschaffen, daß ihre unbeschränkte Fortpflanzung wertvoll für die Rasse ist.«60 Oft richtete sich die Propaganda speziell an das weibliche Geschlecht, weil dessen Mehrheit dem politischen Antinatalismus offenbar wenig Verständnis entgegenbrachte. Broschüren in Millionenauflage erklärten, dass nicht Kinderkriegen, sondern »Aufartung das Ziel des Staates« sei und dass Frauen sich selbst oder ihre Kinder zur Sterilisation melden sollten, wenn etwas mit ihnen nicht in Ordnung sei. »Mütterlichkeit« galt als »Humanitätsduselei« und wurde zum Objekt rassistischer Polemik, ebenso wie christliche Caritas und Marxismus. Agnes Bluhm, eine Rassenhygienikerin der ersten Stunde, schrieb in der Zeitschrift »Die Frau« für die Sterilisation und gegen die »Gefahr, die der Frau gerade aus ihrer Mütterlichkeit erwächst«, da sie »wie jeder Egoismus rasse­ 59 Landesarchiv Berlin A Rep. 356, Nr. 43 878. Ich danke Uwe Neumärker, dass er diese Signatur identifiziert hat; ich hatte die Prozessakten noch im Amtsgericht Charlottenburg konsultiert. Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), S. 357 f., und den präzisen lokalen Überblick: Susanne Doetz, Die Praxis der Zwangssterilisationen in Berlin, in: Rüdiger Hachtmann u. a. (Hg.), Berlin im Nationalsozialismus. Politik und Gesellschaft 1933–1945, Göttingen 2011, S. 88–112. 60 Fritz Lenz am 25.8.1934 im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik (Bundesarchiv Berlin: R 1501/126229, heute mit neuer Signatur); zu ähnlichen öffentlichen wie nichtöffentlichen Stimmen dieser Art: Bock, Zwangssterilisation (wie Anm.  3), z. B. S.  122–124, 203 f.; vgl. auch Christine Charlotte Makowski, Eugenik, Sterilisationspolitik, »Euthanasie« und Bevölkerungspolitik in der nationalsozialistischen Parteipresse, ­Husum 1996.

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feindlich wirkt«; besonders bedrohlich erschien ihr der weibliche »eingeborene Trieb zur Pflege alles Hilfsbedürftigen«.61 Eine andere Frauenzeitschrift, die fürs Sterilisieren warb, meinte, dass »die Frau durch ihre körperliche und seelische Eigenart allem Lebendigen besonders nahe steht und zu allem Lebendigen eine besondere Hinneigung hat«, und betonte, dass es »kaum eine schlimmere Sünde gegen die Natur« gebe. Auf den Einwand, dass mit der Sterilisationspolitik »der nationalsozialistische Staat gegen die Gesetze der Natur« verstoße, wurde geantwortet: »Das deutsche Volk hat bis zur Herrschaft des National­ sozialismus […] die Naturgesetze mißachtet […]. Es hatte nicht nur die Gesetze der Vererbung, der Auslese, der Ausmerze mißachtet, sondern es hatte sich direkt gegen sie aufgelehnt, nicht nur alles Lebensuntüchtige auf Kosten des Gesunden wahllos erhalten, sondern auch noch seine Fortpflanzung sichergestellt […]. Jede erbkranke deutsche Frau wird, wenn ihr dieses klar geworden ist, diese Operation auf sich nehmen, um ihr ganzes Volk gesund zu erhalten. ›Versündigt sie sich nicht gerade damit gegen das Leben?‹ […] Was heißt denn Leben? Gehen Sie doch einmal in eine Irrenanstalt …«.62 Der Massenmord an den Bewohnern psychiatrischer Anstalten, der 1939 in Gang gesetzt wurde, knüpfte in mancherlei Hinsicht an die Sterilisationspolitik an, obwohl zwischen den beiden keine ungebrochene Kontinuität bestand. Wenngleich bei weitem nicht alle Befürworter der Sterilisationspolitik auch den Mord an psychisch Kranken billigten, setzten doch gerade sie ihm keinerlei Widerstand entgegen; umgekehrt waren die Mörder auch aktive Befürworter und Praktiker der Geburtenverhinderung gewesen. Der seit 1933 hunderttausendfach geübte zwangsweise Eingriff in den Leib senkte die Hemmschwelle gegenüber den Eingriffen ins Leben, die seit Kriegsbeginn im Zentrum der Rassenpolitik standen. Der Antinatalismus war eine Vorstufe der Mordpolitik vor allem in ihrer erster Phase, der Tötung kranker Kinder unter drei Jahren: also solcher Kinder, deren Geburt mit den Mitteln der vorangegangenen Sterilisa­tions- und Abtreibungspolitik nicht hatte verhindert werden können. An demselben Tag, an dem eine heftig debattierte Änderung des Sterilisationsgesetzes zu den Akten gelegt wurde (sie sollte zur Mäßigung des Sterilisationseifers beitragen), am 18. August 1939, erging vom Reichsinnenministerium auch ein geheimer Erlass, demzufolge – unter Berufung auf die Anzeigepflicht des Steri­lisationsgesetzes – Ärzte und Hebammen den Amtsärzten alle Kinder zu melden hatten, die bestimmter Leiden »verdächtig« waren. Die Amtsärzte hatten die Meldungen an den »Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung

61 Barsewisch (wie Anm. 17), S. 14; Agnes Bluhm, Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: Die Frau 41 (1934), S. 529–538. 62 Johanna Haarer, Die rassenpolitischen Aufgaben des Deutschen Frauenwerks, in: Neues Volk 6/4 (1938), S. 17–19; Ebert (wie Anm. 58); Marta Heß, Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: N.-S.-Frauenwarte 4/2 (1935), S. 33–36.

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erb- und anlagebedingter schwerer Leiden« weiterzugeben, der die Tötungen besorgte. Rund 5.000 Kinder fielen ihm zum Opfer.63 Auch in den Jahren der Massenmorde an den Juden und anderen ethnisch »Minderwertigen« spielten der Antinatalismus und die Sonderbehandlung von Frauen eine bedeutende Rolle. Seit 1941 suchte Himmler nach neuen Sterilisa­ tionsmethoden, die effizienter sein sollten als die alten und außerdem auf weniger Widerstand stoßen sollten; sie wurden an Gefangenen in Konzentrations­ lagern erprobt. Der erste Versuch, auf der Basis von Medikamenten, brachte keine brauchbaren Ergebnisse. Der zweite basierte auf Röntgenstrahlen; sie wurden an Hunderten von Männern und Frauen erprobt, die dabei unsäglich litten, und schließlich 1944 aufgegeben, weil das Mittel sich als unpraktikabel für den geplanten Zweck erwies. Die aussichtsreichsten Experimente waren solche, die ausschließlich an Frauen durchgeführt wurden, und zwar bis April 1945. Das Verfahren, das auf vaginaler Injektion in den Uterus beruhte, wurde von dem Rassenhygieniker und Arzt Carl Clauberg entwickelt, der seit 1934 und innerhalb des Gesetzes speziell Frauen sterilisiert hatte und schon länger nach einer Methode suchte, Frauen »unblutig« zu sterilisieren, also ohne Operationen, Komplikationen, Tod. Im Auftrag Himmlers experimentierte er an Hunderten von Frauen in Auschwitz und Ravensbrück; es waren die »minderwertigsten« von allen: Jüdinnen und Roma-Frauen. Viele Dokumente berichten von ihrem Leiden. Im Jahr 1943 war Claubergs Methode schließlich so weit, dass er meinte, mit einem Team von zehn Männern bis zu eintausend Frauen pro Tag sterilisieren zu können. Seine Methode sollte einerseits die Sterilisation unter denjenigen »Judenmischlingen« ermöglichen, die vom Morden ausgenommen waren, andererseits die Massensterilisation von eugenisch »minderwertigen« Frauen. Man hoffte, Frauen »bei der üblichen, jedem Arzt bekannten gynäkologischen Untersuchung« sterilisieren zu können.64 In dieser Hinsicht wurden die Frauen-Konzentra­tionslager gleichsam zu Zeugungsstätten einer erneuerten Politik der Geburtenverhinderung. Eine Minderheit von Frauen unerwünschter ethnischer Minderheiten wurde zum Modell für das Schicksal, das nach einem »Endsieg« Hunderttausenden von jüdischen, zigeunerischen, slawischen sowie nichtjüdischen, nichtzigeunerischen, nichtslawischen Frauen zu­ gedacht war.

63 Vgl. Sascha Topp, Der »Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter Leiden«: Zur Organisation der Ermordung minderjähriger Kranker im Nationalsozialismus 1939–1945, in: Thomas Beddies u. Kristina Hübener (Hg.), Kinder in der NSPsychiatrie, Berlin 2004, S. 17–54; Friedlander (wie Anm. 6), Kap. 3. 64 Alexander Mitscherlich u. Fred Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Frankfurt a. M. 1978, S.  246; Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Berlin 1982, S. 636–640; Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 3), S. 446–450.

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Ganz normale Frauen: Täter, Opfer, Mitläufer und Zuschauer im Nationalsozialismus✳ Die Frage nach deutschen Frauen zur Zeit des Nationalsozialismus ist aus drei Gründen kaum verallgemeinernd zu beantworten: wegen der Breite der Forschung, wegen der engagierten politischen und moralischen Debatten, die sie meist beflügelt haben, und weil die Frage eine große Bevölkerungsgruppe betrifft (1939: 35 Millionen). Gilt im Allgemeinen, dass es nicht nur eine Geschichte der Frauen gibt, dass nicht alle Frauen dieselbe Geschichte haben, so waren im Nationalsozialismus die Unterschiede so extrem wie die zwischen Leben und Tod. Im Folgenden geht es um »ganz normale« nichtjüdische deutsche Frauen und zwar mit Blick auf ihr Verhältnis zu Diktatur, Rassen­politik und Holocaust.1 Aber auch die Geschichte der »ganz normalen« und »deutschen« Frauen war nicht für alle dieselbe und ist nicht weniger komplex als die der nicht­jüdischen deutschen Männer. Bei beiden Geschlechtern gibt es Täter, Opfer, Zuschauer, Mitläu­fer und, wenngleich in beklagenswert geringer Anzahl, Menschen, die Widerstand leisteten und/oder Verfolgten halfen. Es sind dies die Kategorien von Raul Hilbergs historischer Synthese, ergänzt um »Mit­ läufer« und zwar in dem Sinn, in dem Clifford Kirkpatrick den Begriff in seiner Studie von 1939 benutzte: »German women have been loyal followers. They followed their men into war, revolution and reaction.«2 Hilberg behandelt



Erstdruck in: Kirsten Heinsohn u. a. (Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a. M. 1997, S. 245–277. Der Text, hier im Wesentlichen unverändert abgedruckt, entstand auf Englisch als Beitrag zu der Konferenz »Women in the Holocaust« im Juni 1995 an der Hebräischen Universität in Jerusalem und er­schien erstmals in: Dalia Ofer u. Lenore Weitzman (Hg.), Women in the Holocaust, New Haven 1998, S. 85–101. 1 Der Titelbegriff stammt von Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das ReservePolizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Reinbek 1993 (Original: New York 1992). Dass es im Folgenden fast nur um nichtjüdische Frauen geht, hat seinen Grund darin, dass ich für die genannte Konferenz, die ansonsten über jüdische Frauen (und Männer) handelte, um einen sol­chen Beitrag gebeten worden war. Für andere Ansätze vgl. Gisela Bock, Gleichheit und Differenz in der natio­nalsoziali­stischen Rassenpolitik, in: GG 19/3 (1993), S. 277– 310; dies. (Hg.), Genozid und Geschlecht. Jüdische Frauen im nationalsoziali­sti­schen Lagersystem, Frankfurt a. M. 2005. 2 Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt a. M. 1992; Clifford Kirkpatrick, Woman in Nazi Germany, London 1939, S. 274 (weder jüdische Frauen noch solche Nichtjüdinnen, die auf die eine oder andere Weise verfolgt wurden, werden erwähnt).

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Frauen unter den jüdischen Opfern; diejenigen unter den Tätern erwähnt er jedoch kaum.3 Die vier Titel-Kategorien sind weder einfach noch eindeutig. Deutsche Frauen gehörten nicht notwendigerweise nur einer von ihnen an, sondern oft mehreren – zu unterschiedlichen Zeiten oder gar zur gleichen Zeit. Auch »deutsch« ist alles andere als eindeutig. Die meisten jüdischen Frauen, die um 1933 in Deutschland lebten, waren Deutsche: als Staatsbürgerinnen oder weil sie sich (auch) als Teil der deutschen Nation und Tradition verstanden. Zu »Nichtdeut­schen« wurden sie durch den Nationalsozialismus, der ihnen die Staatsbürgerschaft nahm und sie zu »Nicht-Deutschblütigen« erklärte; dementsprechend kam es zwischen 1933 und 1938 unter deutschen Jüdinnen und Juden zu einem »ethnischen Bruch«, einer »Dissimilation«.4 Auch Nichtjuden konnten mehr oder weniger »deutsch« sein. Kirkpatrick bemerkte, dass diejenigen, die er selbst für »gute Deutsche« hielt, »den Nationalsozialisten zufolge […] überhaupt keine Deutschen, sondern üble Verräter« waren. Die Sterilisationspolitik beschrieb er als ein Pro­gramm, das sich gegen »drittklassige Deutsche« richtete.5 Die­jenigen unter den Sinti und Roma, die sich als Deutsche verstanden, wurden als solche nicht anerkannt und stattdessen sterilisiert und ermordet.6 Die Engländerin Christabel Bielenberg veröffentlichte ihre Memoiren unter dem Titel »Als ich Deutsche war« und betonte, dass sie das nationalsozialistische Regime »als Deutsche« durchlebt habe.7 3 Hilberg (wie Anm. 2), S. 145–149. Unter der Rubrik »Zuschauer« nennt er zwei Typen von Frauen, die eher unterschiedlichen Kategorien zugeordnet werden sollten: Denunziantinnen und Frauen, die Juden halfen (S. 216, 235). Zu letzteren z. B. Heinz David Leuner, Gerettet vor dem Henker. Menschen, die halfen, München 1979, bes. S. 71, 107 f. (19671: Als Mitleid ein Verbrechen war). 4 J. Michael Bodemann, Staat und Ethnizität: Der Aufbau der jüdischen Gemeinden im Kalten Krieg, in: Micha Brumlik u. a. (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945, Frankfurt a. M. 1986, S. 58; Micha Brumlik, Zur Identität der zweiten Generation deutscher Juden nach der Shoah in der Bundesrepublik, in: ebd., S. 173. Vgl. auch Jacob Boas, Germany or Diaspora? German Jewry’s Shifting Perceptions in the Nazi Era (1933–1938), in: YBLBI 27 (1982), S.109–123; Reinhard Rürup, Das Ende der Emanzipation: Die antijüdische Politik in Deutschland von der »Machtergreifung« bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Arnold Paucker (Hg.), Die Juden im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1945/The Jews in National Socialist Germany 1933–1945, Tübingen 1986, S. 97–114. 5 Kirkpatrick (wie Anm. 2), S.17, 167. Diese und die folgenden Übersetzungen stammen von mir. 6 Sybil Milton, Hidden Lives: Sinti and Roma Women, in: Elizabeth R. Baer u. Myrna Goldenberg (Hg.), Experience and Expression. Women, the Nazis, and the Holocaust, Detroit, MI 2003, S. 53–75; Michael Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma, Essen 1989. Zur Sterilisation einer Frau, die für sich den Begriff »Zigeunerin« vorzog, vgl. meine Transkription von Theresia Seible, »Aber ich wollte vorher noch ein Kind«, in: Courage 6, Nr. 5 (Mai 1981), S. 21–24 (ND in Angelika Ebbinghaus [Hg.], Opfer und Täterinnen, Nördlingen 1987). 7 Christabel Bielenberg, Als ich Deutsche war, 1933–1945: Eine Engländerin erzählt, München 1969, S. 7. Vgl. Elaine Martin, Autobiography, Gender, and the Third Reich: Eva Zeller,­ Carola Stern, and Christabel Bielenberg, in: dies. (Hg.), Gender, Patriarchy, and Fascism in the Third Reich: The Response of Women Writers, Detroit 1993, S. 169–200.

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Die Frage nach den Frauen birgt eine weitere Komplikation. Ihre Geschichte kann nicht isoliert von der der Männer betrachtet werden; vor allem die Frauen unter den Tätern sind nicht zu trennen von ihren männlichen Pendants. Dass die besten Studien über den Holocaust fast ausschließlich über männliche Täter handeln, verdankt sich nicht bloß einer ungebührlichen Vernachlässigung der Frauengeschichte. Die Mörder und Schreibtischtäter waren in der Regel tatsächlich Männer. Auch weist vieles darauf hin, dass manche sozialen Formen von Männ­lichkeit für den Vernichtungsprozess mobilisiert wurden, zum Beispiel männliche Ehre, Männer­bündelei und Alkoholkonsum.8 Gleichwohl muss – um der Geschichte des Holocaust ebenso wie der Frauen willen – der Ort deutscher Frauen in der nationalsozialistischen Rassen­politik thematisiert werden. Der erste Abschnitt zeigt in zehn Episoden einige »normale« nichtjüdische Frauen in Situationen, die für die Zeit charakteristisch waren, und in ihrem Verhältnis zu Tätern und zu Opfern, Frauen wie Männern. Der zweite Abschnitt versucht, die Episoden in eine umfassendere historische Perspektive einzu­ordnen und allgemeinere Schlüsse zu ziehen. Diese werden, drittens, in den Kontext der Debatte um Schuld und Verantwortung »deutscher« Frauen gestellt. Abschließend geht es um die Bedeutung der historischen Kategorie Geschlecht für die Geschichte des Holocaust.

I. 1. Margarete Adam, geboren 1885 und bekennende Katholikin, schrieb in den zwanziger Jahren in der wichtigsten Zeitschrift der deutschen Frauenbewegung, »Die Frau«, studierte Philosophie und wurde 1925 an der Hamburger Universität promoviert, an der sie später auch einen Lehrauftrag erhielt. Ihr Doktorvater war Ernst Cassirer, der 1933 als Jude entlassen wurde und Deutschland verließ. Im Dezember 1930 hatte der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens eine Broschüre mit zwei Essays veröffentlicht: einen von Adam und eine Replik von Eva Reich­mann, Herausgeberin der jüdischen Zeitschrift »Der Morgen« und später, lange nach ihrer Ver­trei­bung, Autorin von »Flucht in den Haß«, einer Analyse des Antisemitismus.9 Adam unter­suchte die Geschichte der 8 Browning (wie Anm. 1), z. B. S. 103, 116; Robert Jay Lifton, Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart 1988, z. B. S. 174, 229 f., 555, 597. Vgl. auch Thomas Kühne, »… aus diesem Krieg werden nicht nur harte Männer heimkehren«: Kriegskameradschaft und Männlichkeit im 20. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a. M. 1996, S. 174–192; Nicolaus Sombart, Männerbund und politische Kultur in Deutschland, in: ebd., S. 136–154. 9 Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e. V. (Hg.), Eine Aussprache über die Judenfrage zwischen Dr. Margarethe Adam (mit einem Nachwort: Warum habe ich nationalso­zia­listisch gewählt?) und Dr. Eva Reichmann-Jungmann, Berlin o. J. (Dez. 1930). Vgl. Eva G. Reichmann, Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe, Frankfurt a. M. 1956 (amerik. Original: Boston 1951); Margarete Adam, Die intellektuelle

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»Judenfrage«; sie bezeichnete sich als »Philosemitin« und verurteilte den nationalsozialistischen Antisemitismus. Dessen Gefahr erkannte sie, meinte aber, dass er heutzutage nicht mehr konsensfähig und eine »staatliche Entrechtung« der Juden undenkbar sei: »Der Weg des Antisemitismus verläuft abwärts, der des Philosemitismus aber aufwärts. Allem und allem zum Trotz!« Reichmann dankte Adam und widersprach ihr in einigen Punkten; auch sie empfahl nicht »müde Resignation, sondern hoffnungsvollen Optimismus«. Den beiden Texten folgen zwei Nachworte, in denen die Diskussion eine überraschende Wendung nimmt. Adam hatte ihren Text schon im Frühjahr 1929 verfasst, also vor den Reichstagswahlen am 14. September 1930, in denen sechs Millionen Wähler (18,3 Prozent) für die »Hitler-Bewegung« stimmten, die nun die zweitgrößte Parlamentsfraktion stellte; rund 15 Prozent der weiblichen Wähler hatten die NSDAP gewählt und stellten damit 48 Prozent von deren Wäh­lern.10 Nun bekannte Adam, eine von ihnen gewesen zu sein. Doch sie habe sich nicht wegen, sondern trotz des nationalsozialistischen Antisemitismus so entschieden. Monatelang habe sie mit sich gerungen; den Ausschlag habe gegeben, dass die NSDAP die einzige Partei sei, die sich die Revision des Versailler Vertrags und den Kampf gegen Korruption und Bolsche­w ismus zum Ziel gesetzt habe. Reichmann lehnte ab, auf Adams Bekenntnis näher einzugehen, kritisierte aber deren politisches Urteil. 1933 wurde Adam der Lehrauftrag entzogen; sie ent­schloss sich zum Widerstand und versuchte, die Mörder des Röhm-Putsches vor Gericht zu bringen und Offiziere und andere Figuren des öffentlichen Lebens ebenfalls zum Widerstand zu bewegen. 1937 wurde sie des Hochverrats angeklagt, für schuldig befunden und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Ihre Mitgefangenen bewunderten ihre seelische Kraft, ihr Mitgefühl und ihre Verantwor­tungs­bereitschaft. 1946 starb sie an den Folgen ihrer Haft.11 Anschauung bei Schelling in ihrem Verhältnis zur Methode der Intuition bei Bergson, Diss. phil. Hamburg 1925; dies., Weibliche Seelsorger, in: Die Frau 29 (1921/22), S. 198–207, ­365–372 und 34 (1926/27), S. 726–737; dies., Hypathia, geb. ca. 340, gest. ca. 415 n. Chr., in: ebd. 37 (1929/30), S. 156–165. 10 Die Zahlen beziehen sich auf etwa 14 % der abgegebenen Stimmen, da Frauen und Männer nicht immer getrennt gezählt wurden. 1928 waren es über 20 %, 1932 und 1933 etwa 2 % und weniger. Vgl. Helen L. Boak, »Our Last Hope«: Women’s Votes for Hitler, in: GSR 12 (1989), S. 289–310; Jürgen Falter u. a., Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik, München 1986, S.81–85. 11 Vgl. Ursel Hochmuth u. Gertrud Meyer, Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand 1933–1945, Frankfurt a. M. 1969, S. 266, 271–273; Eckart Krause u. a. (Hg.), Hochschulalltag im »Dritten Reich«. Die Hamburger Universität 1933–1945, Bd.  III, Berlin-Hamburg 1991, S. 1503 f.; Hanna Elling, Frauen im deutschen Widerstand 1933–1945, Frankfurt a. M. 1983, S. 173; Sybil Oldfield, German Women in the Resistance to Hitler, in: Sian Reynolds (Hg.), Women, State and Revo­lution, Amherst 1987, S. 81–101, hier S. 88. Zum Widerstand von Frauen vgl. auch Nathan Stoltzfus, Widerstand des Herzens. Der Protest in der Rosenstraße und die deutsch-jüdische Mischehe, in: GG 21 (1995), S.  218–247; Christl Wickert (Hg.), Frauen gegen die Diktatur: Widerstand und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland, Berlin 1995; Laura Gellott u. Michael Phayer, Dissenting Voices: Catholic Women in Opposition to Fascism, in: JCH 22 (1987), S. 91–114.

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Margarete Adam war keine »ganz normale« Frau, denn sie war Akademikerin – damals noch eine relative Seltenheit –, debattierte öffentlich mit einer jüdischen Kollegin über den Anti­semitismus und kämpfte mit hohem Einsatz gegen das Regime. Normal war sie jedoch insofern, als sie zu der seit 1930 wachsenden Zahl von Frauen gehörte, die für die NSDAP stimmten. Ob­wohl es nur wenige handfeste Belege über die Motive der Wähler gibt, ob Männer oder Frauen, kann als sicher gelten, dass die Gründe, die Adam anführte, auch für die meisten anderen NSDAP­-Wähler ausschlaggebend waren: Sie wählten trotz oder ungeachtet des nationalso­zia­listischen Antisemitismus, und die NSDAPStimmen waren größtenteils nicht Ausdruck einer Übereinstimmung mit allem, was die Nationalsozialisten propagierten, sondern Protest gegen die aktuelle Lage und die Regierungsparteien.12 Normal war Adam auch insofern, als sie, wie wohl die meisten NSDAP-Wählerinnen, ihre Entscheidung keineswegs aufgrund der nationalsozia­li­stischen Aussagen über Frauen traf, sondern aus denselben Gründen wie Männer. 2. Kirkpatrick berichtet für das Jahr 1937 von einem Besuch in einer Textilfabrik, in der hauptsächlich Frauen beschäftigt waren: »Auf seine Frage nach dem früheren politischen Hintergrund der Arbeiterinnen erfuhr er, daß 50 Prozent Sozialdemokratinnen gewesen seien, 30 Prozent Anhängerinnen des Zentrums und 20 Prozent Kommunistinnen. Überrascht stellte er fest, daß das zusammen 100 Prozent ausmachte, und fragte: ›Wo bleiben die Nationalsozialistinnen?‹ Die Antwort: ›Oh, wir sind alle Nationalsozialistinnen.‹«13 Kirkpatrick hielt diese Situation für repräsentativ, und in der Tat finden sich die Anhängerinnen des Nationalsozialismus in allen sozialen Schichten, nicht anders als im Fall der Männer. Die Episode zeigt zudem einen repräsen­tativen Wandel der Einstellung: Wie die meisten Männer gingen auch die meisten Frauen den Weg von frühem Skeptizismus oder Ablehnung zu Akzeptanz und Konsens. Um 1937 war die überwältigende Mehrheit der nichtjüdischen Deutschen mehr oder weniger überzeugte Anhänger des Regimes, nicht zuletzt aufgrund seiner innen- wie außenpolitischen Erfolge. 3. Im April 1934 stellte der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Emmen­ dingen den Antrag, die 29-jährige, unverheiratete und kinderlose Emma Fischer zu sterilisieren. Die Krankenakten waren durchgesehen worden, darunter auch diejenigen über Emmas Aufenthalt in der Anstalt im Jahr 1931; »Schizo­ phrenie« hatte die Diagnose gelautet. Von einem der neugeschaffenen Steri­ lisationsgerichte wurde Emma verurteilt. Sie schrieb einen langen Protestbrief: »Ich nahm [nach dem Klinikaufenthalt] die Arbeit in der Zigarrenfabrik bald wieder auf und arbeite seither unun­terbrochen wieder dort bis auf den heutigen Tag. Ich bin in der Fabrik fast die höchste Lohnver­dienerin und mit meiner Arbeit ist der Arbeitgeber stets zufrieden. […] Ich kann es nicht verste­ hen, daß man mich jetzt unfruchtbar machen will, ich habe mir doch sittlich 12 Vgl. Jürgen Falter, Hitlers Wähler, München 1991. 13 Kirkpatrick (wie Anm. 2), S. 272.

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und ge­schlecht­lich nichts zuschulden kommen lassen. Jeder Mensch kann einmal einen solchen krankhaften Geisteszustand bekommen, dies ist eine Krankheit meines Erachtens genau so wie eine andere Krankheit, die sich wieder ausheilt. Anders wäre es noch, wenn ich jetzt dem Ge­schlechtstriebe nachginge und Verkehr mit Männern haben möchte […], aber ich […] will überhaupt von den Männern nichts wissen. […] Jeder Mensch ist wieder anders wie der andere, ebenso auch jeder Fall.« 1935 wurde sie gegen ihren Willen sterilisiert.14 Zu jener Zeit glaubten noch viele, in Deutschland wie außerhalb und vor allem in den Vereinigten Staaten, dass das Regime Geburten um jeden Preis fördern oder gar erzwingen würde und die Aufgabe der Frau einzig im Gebären sähe. Schon 1939 trat Kirkpatrick dem entgegen: »Ganz im Gegensatz zur amerikanischen öffentlichen Meinung werden deutsche Frauen keines­wegs in die Rolle bloßer Gebärmaschinen gezwungen.«15 Vielmehr verfolgte der Nationalsozialismus eine komplexe und konsistente Rassenpolitik, die sich gegen Menschen richtete, die als ethnisch oder eugenisch »minderwertig« galten. Das Sterilisationsgesetz von 1933 verfügte für Frauen und Männer, deren »Minderwertigkeit« ihrer – tatsächlichen oder vorgeblichen – »Erb­k rankheit« entsprang, zwangsweise Sterilisation. Es war der Eckpfeiler der nationalsozialisti­schen Rassenhygiene; deren Ziel war »rassische Aufartung« unter den Deutschen selbst. Das Gesetz gründete auf dem Postulat vom »Primat des Staates auf dem Gebiet des Lebens, der Ehe und Familie« und darauf, dass die Bestimmung der Grenze zwischen dem Politischen und dem Nicht-Politischen selbst eine politische Angelegenheit sei.16 Langfristig sollten knapp eineinhalb Millionen Menschen sterilisiert werden. Insgesamt etwa eine Million Menschen wurden der neugeschaffenen Sterilisationsbürokratie als »minderwertig« gemeldet, knapp 400.000 wurden sterilisiert, und einige Tausend starben infolge des Eingriffs, in der Mehrzahl Frauen.17 Sterilisiert wurden hauptsächlich psychisch und geistig, zu einem geringen Anteil körperlich Behinderte; auch Juden, Schwarze und Romani waren unter den Sterilisierten, und rund die Hälfte von allen Steri­ lisierten waren Frauen. Mutterschaft galt keineswegs als einzige Aufgabe der Frauen, geschweige denn aller Frauen. 14 Staatsarchiv Freiburg: Gesundheitsamt Offenburg Nr. 12. Der Name ist geändert. 15 Kirkpatrick (wie Anm. 2), S.160. Ebd., S. 33 f.: »The average American newspaper reader conceives of German women driven out of offices by Storm Troopers and herded back to the home and enforced motherhood […]. Many Americans are firmly convinced that the conceiving of illegitimate children is applauded by all Nazis and that polygamy is about to be established. Thus the women of Germany are dimly perceived through a fog of headlines, slogans, atrocity stories and selected anecdotes.« 16 Arthur Gütt u. a., Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, München 1934, S. 5, 176. 17 Vgl. das vorige Kapitel in diesem Band und: Gisela Bock, Zwangssterilisation im National­ sozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik, Münster 20102 (19861), Kap. IV. 3; zu Juden, Schwarzen und Romani unter den Sterili­sierten: Kap. VI.4 (Sterilisa­ tionspolitik und »fremde Rassen«); Sterili­sa­tionstote: S. 374–383.

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4. Die weit überwiegende Mehrzahl derer, die das Gesetz verwirklichten, waren Männer, doch auch Frauen spielten eine Rolle. Den neugeschaffenen »staatlichen Amtsärzten«, die nach »Erbkranken« Ausschau halten und ein Steri­ lisationsverfahren beantragen sollten, trugen auch viele Frauen Informationen über mutmaßliche Kandidaten zu. 1934 und 1935 gab es insgesamt 400.000 Anzeigen, welche die Gesundheits- und Gerichtsbürokratie in Bewegung setzten. Etwa 20 Prozent stammten von Amtsärzten (später stieg ihr Anteil drastisch), darunter etwa 15 Prozent Frauen;18 ein Viertel stammte von privaten – männlichen wie weiblichen  – Ärzten, über ein Drittel von (ausschließlich männlichen) Leitern psychiatrischer Anstalten und 20 Prozent von »Sonsti­gen«.19 Unter den letzteren finden sich Lehrer, meistens Hilfsschullehrer, hin und wieder ein Pfarrer, Arbeitgeber (gewöhnlich männlichen Geschlechts), Polizisten und Wehrmachts­angehörige. Die einzige Gruppe, die hauptsächlich aus Frauen bestand, waren die Sozialarbeiter der Gemeinden, der Inneren Mission und der NS-Volkswohlfahrt, wohingegen diejenigen der katholischen Caritas die Anzeigepflicht ablehnten.20 Vermutlich fünf Prozent der Anzeigen stammten von Nachbarn und Familienangehörigen, männlichen wie weiblichen. Mit Kriegs­ beginn eskalierte die »Erb- und Rassenpflege« zum Krankenmord, dem – beginnend mit der Tötung von etwa 5.000 Kindern – mindestens 200.000 Bewohner psychiatrischer Anstalten zum Opfer fielen. Frauen waren nicht nur unter den Opfern (vermut­lich die Hälfte), sondern auch unter den Tätern: Krankenschwestern, vor allem diejenigen in den Tötungszentren, die den ärztlichen »pro­fessionellen Mördern« (Lifton) zur Hand gingen und gelegentlich auch selbst töteten. Sie wurden dazu nicht gezwungen und wurden, wenn sie sich weigerten, nicht bestraft. Deutlich wird das in den Fällen, wo Anstaltsangestellte Widerstand leisteten und ihren Patienten zu helfen vermoch­ten. Im Rahmen des Krankenmords wurden sämtliche jüdischen Bewohner der Anstalten getötet; nach Henry Friedlanders Schätzung waren es bis zu 5000, und es war der erste syste­ma­tische Massenmord an deutschen sowie österreichi­schen Jüdinnen und Ju­den.21 18 Edith von Lölhöffel, Das Berufsbild der Ärztin, in: Die Ärztin, 15 (1939), S. 124–130, hier S. 129. Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm.17), S. 182–195. 19 Nur für 1934 und 1935 ist die Gesamtzahl der Anzeigenden überliefert. Die Richter an den Sterilisations­ge­richten (Juristen, Ärzte, Anthropologen, Genetiker) waren Männer. 1936/37 wurde auf höchster Ebene darüber debattiert, auch Frauen beizuziehen, um allzu harte Urteile zu vermeiden; der Vorschlag wurde abgelehnt. 20 Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 17), z. B. S. 206 f., 251 f., 263–267, 295 f.; Heide-Marie Lauterer, Liebestätigkeit für die Volksgemeinschaft. Der Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissenmutterhäuser in den ersten Jahren des NS-Regimes, Göttingen 1994. 21 Vgl. Henry Friedlander, The Origins of Nazi Genocide: From Eutha­nasia to the Final Solution, New York 1995, bes. S. 263–283 (deutsch: Berlin 1997, S. 418–448); Gisela Bock, Sterilization and »Medical« Massacres in National Socialist Germany: Ethics, Politics, and the Law, in: Manfred Bergmann u. Geoffrey Cocks (Hg.), Medicine and Modernity. Public Health and Medical Care in 19th and 20th-Century Germany, Cambridge 1996, S.  170 f.

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5. Eine weitere Gruppe von Frauen, die an der »Erb- und Rassenpflege« mitwirkten, waren die Führerinnen der nationalsozialistischen Frauen-Elite­ organisationen (vor allem der Nationalso­zia­listischen Frauenschaft, NSF) und die Autorinnen der Frauenpresse. Sie propagierten unter Frauen das Verbot, Juden, Zigeuner und andere Menschen mit »minderwertiger Erbmasse« zu heiraten, sowie die Sterilisationspolitik, und sie drängten darauf, potentielle Kandidaten anzu­zeigen. Dazu mussten sie traditionelle Vorstellungen von Mutterschaft und von der Frau als Mutter revidieren. Nicht das Kinderkriegen, so hieß es, sondern die »Aufartung« sei nun »zum Ziele des Staates geworden«. »Mütterlichkeit« wurde zum Objekt rassistischer Polemik und galt, ebenso wie christliche Caritas und Marxismus, als »Gefühls«- oder »Humanitätsduselei«. Man beschwor die »Gefahr«, die »der Frau gerade aus ihrer Mütterlichkeit erwächst«, da eine »starke Mütterlichkeit«, der weibliche »eingeborene Trieb zur Pflege alles Hilfsbedürftigen« und der »natürliche Altruismus« von Frauen »wie jeder Egoismus rassefeindlich« wirkten. Es gebe »kaum eine schlimmere Sünde gegen die Natur« als den Umstand, dass »die Frau durch ihre körperliche und seelische Eigenart allem Lebendigen besonders nahe steht und zu allem Lebendigen eine besondere Hinneigung« habe. Der »Völkische Beobachter« betonte 1934, das Sterilisationsgesetz bedeute gerade auch für Frauen »den Beginn eines neuen Zeitalters«.22 6. Agnes Bluhm in Berlin war die erste Ärztin, die die Rassenhygiene enthusiastisch befürwortete, schon lange vor 1933. Sie zählte zu den wichtigsten Propagandisten für die Sterilisation, vor allem von Frauen.23 Der Bund Deutscher Ärztinnen war unter denjenigen Frauenorganisationen, die ihre jüdischen Mitglieder ausschlossen, eine der ersten. Hertha Nathorff, eine jüdische Ärztin in Berlin, berichtet darüber. Im April 1933 nahm sie an einem der regelmäßigen Berliner Treffen teil. Anwesend war auch ein Mann und verlangte »Gleich­ schal­tung«. Eine Ärztin lud daraufhin »die deutschen Kolleginnen zu einer Besprechung ins Neben­zimmer«. Eine Katholikin protestierte: »Was heißt das, die deutschen Kolleginnen?« Die Ant­wort: »Natürlich alle, die nicht Jüdinnen

Zum übrigen: Bernhard Richarz, Heilen, Pflegen, Töten. Zur Alltagsgeschichte einer Heilund Pflegeanstalt bis zum Ende des Nationalsozialismus, Göttingen 1987, S.175 f.; Gudrun Schwarz, Ver­dräng­te Täterinnen: Frauen im Apparat der SS (1939–1945), in: Theresa Wobbe (Hg.), Nach Osten: Verdeckte Spuren nationalsozialistischer Verbrechen, Frankfurt a. M. 1992, S. 197–227, bes. S. 214. 22 Elisabeth von Barsewisch, Die Aufgaben der Frau für die Aufartung, Berlin 1933, S.  13 f.; Johanna Haarer, Die rassenpolitischen Aufgaben des Deutschen Frauenwerks, in: Neues Volk 6/4 (1938), S. 17–19; Agnes Bluhm, Das Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses, in: Die Frau 41 (1934), S. 529–538; Anna Ebert, Das Sterilisierungsgesetz und seine Auswirkung auf die Frau, in: Völkischer Beobachter, 31. Jan. 1934. 23 Vgl. Bluhm (wie Anm. 22); dies., Die rassenhygienischen Aufgaben des weiblichen Arztes, Berlin 1936; Svenja Ludwig, Dr. med. Agnes Bluhm (1862–1943), in: Eva Brinkschulte (Hg.), Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland, Berlin 1994, S. 84–92.

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sind.«24 Nicht allein die jüdischen Ärztinnen wurden ausgeschlossen, sondern auch diejenigen nichtjüdischen, die sich weigerten, den Ausschluss der Jüdinnen schriftlich gutzuheißen; das waren nur sehr wenige. Bald nahmen nichtjüdische Frauen und Männer die Positionen ein, aus denen die jüdischen Ärztinnen und Ärzte vertrieben worden waren. Der Frauenanteil unter den Ärzten stieg und verdoppelte sich von 1932 bis 1942. »Deut­sche« Ärztinnen kämpften erfolgreich, um ihren beruflichen Status zu verbessern, nicht aber für ihre jüdischen Kolleginnen. In der Regel waren sie Anhängerinnen der Rassenhygiene und traten nationalsozialistischen Organisationen bei (gemischten ebenso wie den Frauenorganisationen), und dies in sehr viel höherem Maße als deutsche Frauen im Allgemeinen; hierin ähnelten sie ihren männlichen Kollegen im Vergleich mit deutschen Männern im Allgemeinen. Einige Ärztinnen taten es ihren männlichen Kollegen auch insofern gleich, als sie sich an den »medizi­nischen« Verbrechen in den Konzentrationslagern beteiligten.25 7. Christabel Bielenberg, geboren in England und Deutsche durch Heirat, war im Widerstand aktiv. In ihren Memoiren beschreibt sie einen weiteren Typus von Frauen, die an der nationalsozialistischen Verfolgung mitwirkten. Bielenberg hatte einen Termin mit einem Gestapo-Beamten in Berlin und hoffte auf Zugeständnisse für ihren Mann, der in einem Konzentrationslager gefangengehalten wurde. In dem Büro, wo sie wartete, befanden sich vier Männer in schweren Handschellen. Vor ihnen saßen vier Frauen, welche die Geschichte dieser Männer tippten. Plötzlich schrie eine Sekretärin einen der Gefangenen an. Er hatte darauf bestanden, das Getippte zu lesen, bevor er es unterschrieb. Sie ohrfeigte ihn, und kurz darauf »puderte [sie] sich die Nase, frisierte sich und musterte sich dabei mit einiger Befriedigung in einem Taschenspiegel.« Bielenberg fährt fort: »Ich zitterte […]. Dies war kalter, tödlicher Haß, wie ich ihn niemals wieder in meinem Leben für jemanden empfinden möchte. Ich haßte sie aus tiefster Seele, und daß sie eine Frau war, steigerte diesen Haß womöglich noch, denn in ihm vereinte sich ohnmächtiger Zorn und tiefste Scham darüber, ihrem Geschlecht anzugehören.«26 Bielenbergs Erinnerung zeigt einiges von ihrer Vorstellung vom weiblichen Geschlecht und von der Vorstellung der Sekretärin von ihrem Geschlecht und ihrem Beruf. Dass eine Sekretärin jemanden schlug, war wohl nicht die Regel. Viel häufiger war die »ganz normale« Beteiligung von Schreibkräften und Telefonistinnen am nationalsozialistischen Unrecht. Sie vermittelten unzählige Telefonate für die Täter und ihre Taten, tippten die Listen beschlagnahmten jüdischen Eigentums, Protokolle der Sterilisationsgerichte, der Gestapo, der 24 Das Tagebuch der Hertha Nathorff, hg. v. Wolfgang Benz, Frankfurt a. M. 1988, S. 40. 25 Claudia Huerkamp, Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Be­ rufen 1900–1945, Göttingen 1996, S.  236–237, 254–258; Johanna Bleker, Anerkennung durch Unterordnung? Ärztinnen und Nationalsozialismus, in: Brinkschulte (wie Anm. 23), S. 126–136, bes. S. 132; Schwarz (wie Anm. 21), S. 211–215. 26 Bielenberg (wie Anm. 7), S. 252–254.

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Wannsee-Konferenz und unzählige andere Dokumente, die heute als Quellen für Rassenpolitik und Genozid dienen.27 8. Auch andere weibliche Opfer schämten sich ihrer Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, dessen Angehörige Unmenschliches zu tun bereit waren. Lucia Schmidt-Fels, eine deutsch-französische Gefangene in Ravensbrück, beschrieb die KZ-Aufseherinnen: »Zur Schande unseres Geschlechts muß ich gestehen, daß Frauen boshafter und gemeiner sein können, haßerfüllter und kleinlicher als Männer, sobald sie eine Machtstellung innehaben.«28 Schmidt-Fels hatte wohl ein allzu ritterliches Männerbild, ebenso wie andere Gefangene, bei denen die KZ-Aufseherinnen einen schlimmeren Eindruck hinterließen als deren männliche Kollegen. Zahlreiche Berichte und Studien haben gezeigt, dass die männlichen Folterer und Mörder sich keineswegs erfreulicher verhielten – gegenüber männlichen wie weiblichen Gefangenen  – als die KZ-Aufseherinnen. Ruth Klüger, Überlebende von Auschwitz und anderen Lagern, meint, dass die Frauen unter den Aufsehern »im Durchschnitt« weniger brutal ge­ wesen seien als die Männer, und vermutet, dass die Grausamkeit von einzelnen ihr Gesamtbild geprägt habe.29 Margarete Buber-Neumann, einst inhaftiert in Ravensbrück, betont große Unterschiede zwischen den Wärterinnen in Bezug auf Machtmissbrauch und auf Brutalität.30 Zusammen gesehen demonstrieren die Zeugnisse von Überlebenden nicht so sehr einen Unterschied zwischen Frauen und Männern in solchen Posi­tionen – schon gar nicht einen fundamentalen  –, als vielmehr die Ähnlichkeit ihrer Handlungen. Explizit formulieren dies andere Überlebende, zum Beispiel Claude Vaillant-Couturier, zuvor inhaftiert in Auschwitz und Ravensbrück: »Hinsichtlich der SS ist zu sagen, daß die Männer sich ebenso wie die Frauen benahmen, und daß die Frauen ebenso wild waren wie die Männer. Es war kein Unterschied.«31 Hilde Zimmermann aus Österreich berichtete, dass manche »SS-Frauen« »geprügelt [haben] wie die Irren, vor allem, wenn ein Mann zugeschaut hat … [Sie] haben damit kokettiert, daß sie sich ebenso männlich benehmen und die Häftlinge halb tot schlagen

27 Ursula Nienhaus, Vater Staat und seine Gehilfinnen. Die Politik mit der Frauenarbeit bei der deutschen Post (1864–1945), Frankfurt a. M. 1995, Kap.  5; Schwarz (wie Anm.  21), S. ­203–210. Schreibkräfte waren auch unter den Opfern und im Widerstand: Lore Shelley (Hg.), Schreibe­rinnen des Todes, Bielefeld 1992 (amerik. Original: New York 1986); Oldfield (wie Anm. 11), S. 100; Gerhard Paul, Als Stenotypistin und Fallschirmspringerin gegen Hitler: Zum Widerstand deutscher Frauen im Exil, in: Wickert (wie Anm. 11), S. 118–132. 28 Lucia Schmidt-Fels, Deportiert nach Ravensbrück. Bericht einer Zeugin 1943–1945, Düsseldorf 1981, S. 45. 29 Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 145 f. 30 Margarete Buber-Neumann, Milena. Kafkas Freundin, Frankfurt a. M. 1991, S. 276 f. 31 Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. 6, Nürnberg 1947–1948, S. 238. Ingrid Müller-Münch, Die Frauen von Majdanek. Vom zerstörten Leben der Opfer und der Mörderinnen, Reinbek 1992, S. 40: »Es gab da tatsächlich keinen Unterschied.« Vgl. auch Schwarz (wie Anm. 21), S. 215–223.

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können, sie wollten demonstrieren, was sie sozusagen für Burschen sind.«32­ Lidia Beccaria Rolfi, eine italienische Überlebende von Ravensbrück, sah das ähnlich: »Sie machen die Männer nach und versuchen, sie an Gewalttätigkeit und Brutalität zu übertreffen«.33 Frauen stellten etwa ein Zehntel des Lagerpersonals; bei den Einsatzgruppen war der Frauenanteil geringer, und in den Todeslagern Belzec, Chelmno,­ Sobibor und Treblinka gab es keine Frauen unter dem Personal.34 Lageraufseherinnen und Lagerärztinnen waren diejenigen Frauen, die den von Christopher Browning untersuchten »ganz normalen Männern« am nächsten kamen. Eine Überlebende von Ravensbrück betonte, dass es »meist normale junge Mädchen« gewesen seien, fügte aber bezeichnenderweise hinzu: »im Zivilleben«  – nicht im Lager.35 Die meisten dieser Frauen entstammten der Unterschicht, waren Fabrik­arbeiterinnen, Büro- oder Hausangestellte gewesen. Sie hatten sich um die Stelle freiwillig bemüht oder waren im Rahmen der Meldepflichtverordnung von 1943 einberufen worden. Gewöhnlich stellte man nur unver­heiratete und kinderlose Frauen ein, und wurde eine schwanger, so wurde sie entlassen. Die Aufseherin K. war in einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie aufgewachsen und hatte als ungelernte Akkordarbeiterin bei Siemens gearbeitet. Die neue Stelle, die sie 1942 in Ravens­brück antrat, bedeutete eine erhebliche Einkommensverbesserung.36 Dieselbe Hoffnung auf sozialen »Aufstieg« bewog viele andere Lageraufseherinnen dazu, eine solche Stelle anzunehmen  – dasselbe Motiv, das auch bei vielen entsprechenden »normalen Männern« eine wichtige Rolle spielte. 9. Frau K. war auch Mitglied des BDM gewesen. Hier wurden Mädchen weder zu mehr oder weniger traditioneller Mutterschaft erzogen, noch wurden ihnen Familienwerte vermittelt. Der BDM gehörte nicht zu den Frauenorganisationen, sondern war Teil  der Hitlerjugend, und die Aktivitäten der Mädchen ähnelten in vielem denen der Hitler-Jungen. Viele Mädchen erfuhren den BDM als eine befreiende Ablösung von der Familie und von traditionellen weiblichen Nor­men. Eine von ihnen sagte: »Ich wollte immer ein Junge sein […], obwohl ich das heute eigent­lich gar nicht mehr so verstehen kann, weil wir ja so viel

32 Hilde Zimmermann, Wie auf Eis gelegt, in: Karin Berger u. a., Ich geb Dir einen Mantel, damit Du ihn noch in Freiheit tragen kannst. Widerstehen im KZ. Österreichische Frauen erzählen, Wien 1987, S. 19. 33 Lidia Beccaria Rolfi u. Anna Maria Bruzzone, Le donne di Ravensbrück. Testimonianze di deportate politiche italiane, Turin 1978, S. 40 (meine Übers.). 34 Schwarz (wie Anm. 21), S. 206, 216, 221; Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996, S. 287–290, Kap. 13, 14. ­ avensbrück, 35 Dagmar Hájková, Ravensbrück, Prag 1960 (dt. Übers. in der Gedenkstätte R S. 29). Ähnlich Buber-Neumann (wie Anm. 30), S. 276 f. 36 Dagmar Reese, Homo homini lupus  – Frauen als Täterinnen?, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung 27/1 (1991), S. 25–34.

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durften, was die Jungens durften, bloß nicht Hosen anziehen.«37 Sport, nicht Gymnastik, stand bei den Übungen im Mittelpunkt, gele­gentlich auch Schießen. Der oberste HJ-Führer, Baldur von Schirach, verwahrte sich 1933 gegen aufkommende Kritik am »unweiblichen« Schießtraining von Mädchen: »Schießen erzieht zu einer Sicherheit der Hand, zu ruhiger Überlegung, Abwarten des Augen­blicks, Nervenschulung. Wir dürfen uns überhaupt durch alte Männer nicht irre machen lassen und nicht durch alte Frauen, die nun gelaufen kommen und sagen, daß eigentlich die Mütter die alleinigen Erzieher der jungen Mädchen sein sollten.«38 Tatsächlich floss im BDM »alle Kraft der Mädchen in die Anpassung an die als männlich imaginierte äußere Welt«.39 Auch andere junge Frauen, z. B. Studentinnen, wurden ermahnt, dem neuen Frauenbild zu folgen: Es sei »kein weichliches, ›allzu weibliches‹ Frauenideal, wie es wohl den westlichen und orientalischen Völkern, aber nicht deutschem Volkstum und den deutschen wesentlich härteren Lebensbedingungen entspricht«; die Mahnungen sollten »sowohl der Vermännlichung als auch der Verweichlichung (siehe das satte Bürgertum der siebziger Jahre) entgegen wirken.«40 10. Der deutsche Nichtjude Paasch, ein Kaufmann, war mit einer Jüdin verheiratet; die Ehe schützte sie vor Verfolgung. Ihre Beziehung verschlechterte sich in den dreißiger Jahren und wurde zusehends schwieriger, seit die Schwester des Kaufmanns, Frau Kempfer, 1943 bei ihnen eingezogen war. Es gab heftige Streitereien zwischen den beiden Frauen und zwischen den Ehegatten. 1944 wandten sich Herr Paasch und seine Schwester an die »Abteilung Judenfrage« der Gestapo und unterbreiteten eine Denunziationsschrift gegen die »Jüdin« Frau Paasch, geschrieben von Frau Kempfer. Sie beschuldigte ihre Schwägerin, gesagt zu haben, die Juden würden gerächt werden, die deutschen Soldaten seien Mörder, die bei Luftangriffen umgekom­menen Kinder seien von Hitler getötet worden, und der Krieg werde mit der Niederlage Deutsch­lands enden. Herr Paasch fügte außerdem ein Scheidungsgesuch bei, dem stattgegeben wurde. Daraufhin wurde Frau Paasch im Juli 1944 nach Auschwitz deportiert, wo sie durch Gas ermordet wurde.41 37 Zit. in: Dagmar Reese, Straff, aber nicht stramm – herb, aber nicht derb. Zur Vergesellschaftung von Mädchen durch den Bund Deutscher Mädel im sozialkulturellen Vergleich zweier Milieus, Weinheim 1989, S. 95. 38 Zit. in: Reese (wie Anm. 37), S. 57; »alte Frauen« bezieht sich u. a. auf die NS-Frauenorganisationen, die den HJ-Männern den Anspruch auf die Mädchen streitig machten: Jill Stephenson, The Nazi Organisation of Women, London 1981, bes. Kap. 2 und 3. 39 Reese (wie Anm. 37), S. 95. 40 Leitsätze für die körperliche Erziehung von Studentinnen an deutschen Hochschulen, in: Die Ärztin 10 (1934), S. 118 f. 41 Adelheid L. Rüter-Ehlermann u. Christiaan F. Rüter (Hg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945– 1966, 22 Bde., Amsterdam 1968–1981, Bd.  2, S.  491–496. Frau und Herr Paasch hatten vor der Machtergreifung geheiratet. Zu solchen Ehen vgl. Kerstin Meiring, Zwischen zwei Welten: Studien zur christlich-jüdischen »Mischehenfrage« in Deutschland. Vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik, Diss. phil. Bielefeld 1995.

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Die nationalsozialistische Diktatur basierte nicht nur auf Terror und Zwang, sondern auch auf Konsens und Komplizenschaft. Die Anzeigen erfolgten oft im Namen der »Volksgemein­schaft«, doch dienten sie meist der »Lösung« privater Konflikte und individuellem Rache­bedürfnis.42 Denunziation, so heißt es neuerdings, sei eine typisch »weibliche Tat« oder »Domäne«, und Denunziantinnen werden als »Judasfrauen« bezeichnet.43 Das ist in dreierlei Hinsicht problematisch. Für Denunzianten, die so gut wie ausschließlich Nichtjuden waren und zudem häufig Juden oder aber Nichtjuden mit Kontakten zu Juden denunzierten, die Metapher »Judas« zu bemühen, also denjenigen Juden, der – christlicher Überlieferung zufolge – Christus verraten hat, zeigt die Fortdauer des alten antijüdischen Stereotyps vom »Juden« als Verräter und Denunzianten. Überdies bedeutet die Assoziation von »Judasfrauen« mit »Judenfrauen«, dass das Stereotyp für männliche Juden auf weibliche übertragen wird; das hat die medienwirksame Sensation der Metapher gewiss verstärkt.44 Zweitens: Zwar denunzierten viele Frauen, aber sie waren eine Minderheit unter allen Denunzianten: Der Frauenanteil lag – je nach Stichprobe – zwischen 12 und 29 Prozent. Drittens unterschlägt die These von der Denunziation als »weiblicher Tat« den Umstand, dass Frauen nicht nur denunzierten, sondern auch denunziert wurden: Der weibliche Anteil an den Opfern lag zwischen 9 und 20 Prozent. Zwischen 23 und 30 Prozent der Opfer von Denunziantinnen waren Frauen, und zwischen 33 und 46 Prozent aller weiblichen Opfer wurden von Frauen denunziert.45 Unter den Denunzianten ebenso wie unter ihren Opfern befanden sich also mehr Männer als Frauen, Frauen denunzierten mehr Männer als Frauen, und es wurden mehr Frauen von Männern als von Frauen denunziert. Für unseren Zusammenhang sind aber nicht nur die quantitativen Unterschiede wichtig, sondern vor allem, dass normale Frauen, genauso wie normale Männer, der nationalsozialistischen Bürokratie die Informationen lieferten, die der Verfolgung und Rassenpolitik zur Effizienz verhalfen.

42 Robert Gellately, The Gestapo and German Society. Enforcing Racial Policy, 1933–1945, Oxford 1990 (dt. Übers.: Paderborn 1993), bes. Kap. 5; Gisela Diewald-Kerkmann, Politische Denunziation im NS-Regime, oder: Die kleine Macht der »Volksgenossen«, Bonn 1995. 43 Helga Schubert, Judasfrauen. Zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1990. 44 Richard L. Rubenstein, After Auschwitz: History, Theology, and Contemporary Judaism, Baltimore 1992, S. 21 ff.; Sigrid Weigel, »Judasfrauen«, in: FSt 10/1 (1992), S. 132–135; Inge Marßolek, Die Denunziantin, Bremen 1993, S. 123–125 (»Judasfrauen?«). 45 Gisela Diewald-Kerkmann, Politische Denunziation  – eine ›weibliche Domäne‹? Männer und Frauen unter Denunzianten und ihren Opfern, in: 1999. Zeitschrift für Sozial­geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 11/2 (1996), S. 11–35.

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II. Aus den Episoden allgemeinere Schlüsse über nichtjüdische deutsche Frauen im national­sozialistischen Deutschland zu ziehen, scheint möglich, auch wenn manche wichtigen Situationen fehlen (etwa von Frauen, die verurteilt wurden, weil sie in jüdischen Geschäften eingekauft hatten oder der »Rassenschande« bezichtigt worden waren;46 viele Aktivistinnen, die in den besetzten Gebieten an der Kontrolle und Deportation der Bevölkerung, und Akademikerinnen, die an der Romani-Verfolgung mitwirkten47). Die meisten deutschen Frauen billigten das Regime oder fanden sich, zeitweise oder immer, mehr oder weniger klaglos mit ihm ab; sie waren passive »Zuschauerinnen« oder weniger passive »Mitläuferinnen«. Eine kleine Minderheit stand den Verfolgten bei oder leistete aktiven oder passiven Widerstand. Eine vermutlich größere und vor allem einflussreichere Minderheit waren diejenigen Frauen aller sozialen Schichten, die sich aktiv an der Rassenpolitik und dem Völkermord beteiligten; ihre Über­zeugungen, Motive und Handlungen glichen denen der vergleichbaren »ganz normalen« männlichen Täter. Das quan­titative Verhältnis dieser Kategorien war bei Frauen und Männern unterschiedlich, vor allem in Bezug auf die Täter. Ebenso wichtig ist es jedoch festzuhalten, dass Angehörige beider Ge­schlechter einer jeden dieser Kategorien angehören konnten; die bloße Geschlechtszugehörigkeit determinierte nicht das Maß der Beteiligung an der Rassenpolitik. Dass so viele Frauen, die doch traditionellerweise der Privatsphäre, dem Haus und der Familie zugeordnet waren – so wenigstens in der Sicht und Erwartung vieler Menschen, einschließlich vieler Frauen, und ungeachtet der Frage, ob das auf freier Entscheidung beruhte oder nicht –, eine derartige Rolle übernahmen, bedarf einer Erklärung, die im umfassenderen historischen Kontext zu suchen ist. Wenngleich die vielen Aspekte dieser Frage nicht auf einen einzigen zu reduzieren sind, gründen sie doch auf einem wichtigen gemeinsamen Faktor. Der Nationalsozialismus zielte darauf ab, in vielerlei Hinsicht und in vielen Be­reichen mit Erfolg, die traditionelle Trennung zwischen »Öf46 Vgl. Otto Dov Kulka, Die Nürnberger Rassengesetze und die deutsche Bevölkerung im Lichte geheimer NS-Lage- und Stimmungsberichte, in: VfZ 32 (1984), S.  594–624, bes. S. 594, 611; Lothar Gruchmann, »Blutschutzgesetz« und Justiz, in: VfZ 31 (1983), S. 418–442; Sybil Milton, Women and the Holocaust: The Case of German and German-Jewish Women, in: Carol Rittner u. John K. Roth (Hg.), Different Voices: Women and the Holocaust, New York 1993, S. 213–249. 47 Melita Maschmann, Fazit. Mein Weg in der Hitler-Jugend, Stuttgart 1963; Rainer Gilsenbach, Wie Lolitschai zur Doktorwürde kam, in: Wolfgang Ayaß u. a., Feinderklärung und Prävention, Berlin 1988, S.  101–134. Vgl. jetzt auch Elizabeth Harvey, Women and the Nazi East, New Haven 2003 (deutsch: Hamburg 2009); Franka Maubach, Die Stellung halten. Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachtshelferinnen, Göttingen 2009.

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fentlichkeit« und »Privatheit«, zwischen dem »Persönlichen« und dem »Politischen« aufzuheben. Im Prinzip – und oft genug auch in der Praxis – sollte das Persönliche und Private einzig in seiner Funktion für das Öffentliche und Politische, für »Volks­gemeinschaft« und »Rasse« Geltung haben. Es handelte sich dabei um einen zielstrebig betriebe­nen Zusammenbruch der traditionellen Geschlechtertrennung bzw. der »getrennten Sphären«, um eine Politisierung des Privaten im spezifischen Kontext einer Diktatur, deren Kern eine weitge­f ächerte Rassenpolitik war. Die Politik des Antinatalismus war nur ein Aspekt dieser Politisie­rung des Privaten, ebenso wie die politische Denunziation als Mittel zur privaten Konfliktlösung und ihre politische Nutzung seitens des Regimes. 1937 proklamierte der Chef der Deutschen Arbeitsfront: »Nein, in Deutschland gibt es keine Privatsache mehr. Wenn Du schläfst, ist das deine Privatsache«, nicht aber, »sobald du […] wach bist und mit einem anderen Menschen in Berührung kommst.«48 Die Auflösung der Grenzen manifestiert sich auch an der Manie, alle Deutschen zu organisieren. Ein damaliger Flüsterwitz ließ ein Mädchen sagen: »Mein Vater ist SA-Mann, mein ältester Bruder in der SS, mein kleiner Bruder in der HJ, die Mutter in der NS-Frauenschaft und ich bin im BDM. – Ja, seht ihr euch denn bei dem vielen Dienst auch einmal? – O ja, wir treffen uns jedes Jahr auf dem Parteitag in Nürnberg.« Die Familie als Institution des privaten Zusammenlebens der Geschlechter und Generationen konnte durch  – männliche oder weibliche  – Blockwarte gestört werden oder durch NSFFührerinnen, die überprüfen kamen, dass ein polnischer Arbeiter oder eine ukrainische Arbeiterin auf einem deutschen Bauernhof auch ja nicht mit der deutschen Familie am selben Tisch aß. Am dramatischsten war der Zusammenbruch der Privatsphäre dort, wo Nichtjuden Juden zu helfen suchten und sie in ihrer Wohnung oder anderswo versteckten. Hier konnte die Verteidigung eines privaten Raums zu einer Form von Widerstand gegen den Nationalsozialismus werden. Um den Zusammenbruch der traditionellen Trennung der Geschlechtersphären – gleich­gül­tig ob sie eher eine Norm oder auch eine Realität gewesen war  – in seiner Tragweite zu erfassen, ist es erforderlich, eine herkömmliche Sicht des Nationalsozialismus zu revidieren: die von einem Regime, das den Frauen einzig die Familie und gewissenhafte Mutterschaft zuschrieb, einräumte

48 Robert Ley, Soldaten der Arbeit, München 1938, S.  71. Vgl. Oldfield (wie Anm.  11), S.101 (»The personal has never been more political than it was in Germany then«); Dagmar Reese, Emanzipation oder Vergesellschaftung: Mädchen im BDM, in: Hans-Uwe Otto u. Heinz Sünker (Hg.), Politische Formierung und soziale Erziehung im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1991, S. 203–225, bes. S. 208, 220–223. Viele Zeitgenossen sahen den Angriff auf die Privat­sphäre als Charakteristikum des totalitären Staats: z. B. Erika Mann, The Lights Go Down. Middletown Nazi Version, New York 1940; dies., Zehn Millionen Kinder. Die Erziehung der Jugend im Dritten Reich, München 1986 (amerik. Original: School for Barba­ rians, New York 1938). Vgl. Irmela von der Lühe, Erika Mann. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1993.

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oder aufzwang. Diese Sicht ist zwar seit geraumer Zeit revidiert worden,49 doch hat die Revision kaum eine Auswirkung auf die Forschung (noch weniger auf die öffentliche Meinung) gehabt. In keiner der obigen Episoden, in denen Frauen für nationalsozialistisches Unrecht (mit-)ver­ant­wort­lich waren, handelten sie aus mütterlichen Motiven oder als Mütter, geschweige denn als gewissenhafte.50 Zwar trifft es zu, dass viele dieser Frauen verheiratet waren und Kinder hatten, doch ihre Partizipation an der nationalsozialistischen Herrschaft war davon weder entscheidend geprägt, noch lässt sie sich darauf zurückzuführen. Ins Auge fällt vielmehr, dass in den meisten Fällen die aktive Partizipation von Frauen an der nationalsozialistischen Rassenpolitik ein Bestandteil ihrer außerhäuslichen Tätigkeiten war: ihrer Führungsrolle in einer Frauen- oder Mädchenorganisation, ihrer besser- oder schlechter­gestellten Erwerbstätigkeit oder ihres Wunschs, die Fabrik oder das Büro um einer Aufstiegs­möglichkeit willen zu verlassen. Arbeiterinnen, die weiterhin in die Fabrik gingen, trugen wiederum in anderer Weise zum Funktionieren von Krieg und Völkermord bei. Erwerbstätigkeit und sozialer Aufstieg waren bei der Beteiligung von Frauen ebenso entscheidend wie für die meisten entsprechenden Männer (vom Eisenbahnpersonal, das die Juden in die Todeslager verfrachtete, bis zu den Poli­ zisten, die hinter der Front Juden töteten). Ebenso wenig wie die Männer wurden die Frauen in den Erwerbszweigen, die zur Unterstützung des Regimes und seiner Rassenpolitik herangezogen wurden, zur Mitwirkung gezwungen. Die außerhäuslichen Tätigkeiten von Frauen bewirkten und prägten deren Partizipation, wenngleich sie sie nicht unausweichlich determinierten. Dennoch sind zwei geschlechterspezifische Unterschiede hervorzuheben. Was im Fall von Männern als »normal« galt, war im Fall von Frauen oft eine Innovation. Beispielsweise hatten Frauen traditionellerweise einen sozialen Aufstieg nicht durch einen Beruf angestrebt, sondern eher durch eine vorteilhafte Heirat, und es war kaum üblich, dass Frauen sich mit ihren Anliegen an Polizei- oder Parteistellen wandten. Der Umstand allerdings, dass manche Täterinnen sich unmenschlich und brutal verhielten, sollte nicht unbedingt als ein Traditionsbruch verstanden werden; denn Visionen vom weiblichen Geschlecht, die damit kontrastieren, waren immer schon lediglich Normen gewesen und nicht etwa akkurate Beschreibungen der Realität weiblichen Verhaltens. Hier lag die Neuerung eher darin, dass das Regime nicht nur männliche, sondern auch weibliche Brutalität für seine Zwecke nutzte. Zweitens waren an den di49 Z. B. Kirkpatrick (wie Anm.  2), s. o. Anm.  15; Leila J. Rupp, Mobilizing Women for War: German and American Propaganda, 1939–1945, Princeton 1978, bes. S.  42–51, 72, 126 f., 132–136; Roger W. Smith, Women and Genocide: Notes on an Unwritten History, in: Holocaust and Genocide Studies 8 (1994), S. 315–334; Jost Hermand, All Power to the Women: Nazi Concepts of Matriarchy, in: JCH 19 (1984), S. 649–667, bes. S. 664; Bock, Gleichheit (wie Anm. 1). 50 Auch wo eine Mutter denunzierte, stand nicht ihr Muttersein im Zentrum; ein illustra­t ives Beispiel findet sich in William L. Shirer, Berliner Tagebuch. Aufzeichnungen 1934–1941, Leipzig 1991, S. 274.

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rekten und gewalttätigen Aktionen des Holocaust weniger Frauen beteiligt als Männer. Doch in einer Perspektive von historischem Wandel und Novität – und für die Untersuchung des Holocaust ist diese Perspektive unerlässlich – ist es ebenso wichtig festzuhalten, dass die quantitative Differenz gleichsam aufgewogen wird durch die qualitative Ähnlichkeit der Verantwortung, die Identität der Motive, Einstellungen und Handlungen der Täter beiderlei Geschlechts.

III. Die Bedeutung meines Versuchs, den Beitrag von Frauen zum nationalsozialistischen Unrecht in einen weiteren historischen Zusammenhang einzuordnen, wird deutlicher, wenn man ihm drei kontrastierende Hypothesen gegenüberstellt. 1) Mütter und Ehefrauen als Opfer. Dieser Hypothese zufolge waren deutsche Frauen, da sie aufgrund der sozialen und politischen Dominanz von Männern machtlos gewesen seien, nicht verantwortlich für Diktatur und Verbrechen. Ein Beispiel sind die Stimmen amerikanischer Frauen, welche die Deutschen nach 1945 bei der Demokratisierung unterstützten und dabei häufig die Rolle der Frauen im Nationalsozialismus thematisierten. Mrs. Woodhouse berichtete 1948: »In psychologischer Hinsicht sind Frauen mehr als Männer an einem Wiederaufbau auf demokratischer Basis interessiert. Denn Frauen haben nicht ein ›Gesicht zu wahren‹. Seit 1933 hatten sie keinerlei Status […]. Sie gehörten nicht zu denen, die im nationalsozialistischen Deutschland Politik machten.«51 Die meisten dieser amerikanischen Berichte insistierten darauf, dass Frauen durch den Nationalsozialismus auf nichts als »Kinder-Küche-Kirche« – das war ein deutsches Einsprengsel in das englische Alltagsvokabular, das seit dem späten 19. Jahrhundert in England und den USA auftaucht  – eingeschworen waren, vom politischen Leben ausgeschlos­sen, zu bloßen Hausfrauen und »Gebärmaschinen« erniedrigt und den Männern unterworfen worden seien. »Wahre Demokratie«, heißt es in einem Bericht, »wird sich in Deutschland erst dann entwickeln, wenn die Frauen sich von der Herrschaft der Männer emanzipiert haben. Deutsche Männer behaupten nach wie vor gegenüber ihren Frauen eine Haltung von herr­schaft­licher Überlegenheit, die von der nationalsozialistischen Herrschaft im Haus, in der Kirche, auf dem Marktplatz und in der Politik befördert wurde.«52 51 Zit. in: Hermann-Josef Rupieper, »Bringing Democracy to the Frauleins«. Frauen als Zielgruppe der amerikanichen Demokratisierungspolitik in Deutschland 1945–1952, in: GG 17 (1991), S. 61–91, hier S. 61. 52 Harper Sipley, Vorsitzende des US Council of Church Women, New York Times vom 26.10.1947, zit. in: Rupieper (wie Anm. 51), S. 70; das vorige Zitat: ebd., S. 65. Zum englischen Topos vgl. z. B. Käthe Schirmacher, Die Stimmrechtsfrage auf dem Internationalen Frauen­ kongreß in London, in: Die Frauenbewegung 5 (15.8.1899), S.  138 (in England sehe man

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Dieses Bild von den Frauen im Nationalsozialismus wurde von den frühen feministischen Autorinnen in den USA wieder aufgegriffen. Kate Millett zufolge war der Nationalsozialismus »der wohl entschiedenste Versuch, der je unternommen wurde, extreme patriarchale Bedingun­gen wiederzubeleben und zu konsolidieren. […]. Die Rolle, die Frauen im Deutschland Hitlers zugewiesen wurde, war strikt auf die äußerste Hingabe an Mutterschaft und Familie beschränkt […]. Was an Deutschland [vor dem Krieg] im Vergleich zu den westlichen Staaten singulär war, war der Abbruch des feministischen Strebens in die gehobenen Berufe und höheren wirtschaft­lichen und gesellschaftlichen Positionen.« Millett sah eine »konventionelle Trennung der männli­chen und weiblichen Sphären«, eine »Überfülle von Mutterschafts- und Häuslichkeitspropaganda« und eine »Massenentlassung von verheirateten wie unverheirateten Frauen aus ihrer Erwerbs­tätigkeit«, damit »Frauen bereit wären, den demütigen Stand von Dienenden und Hel­fenden zu akzeptieren, der ihnen, als Hilfs­ kräften im großen männlichen Staatsprojekt, verordnet worden war. […] Hinter aller nationalsozialistischen Propaganda steht implizit die Theorie von Frauen als Zuchtstuten.«53 Betty Friedan zufolge war »Kinder-Küche-Kirche« eben der »Weib­lichkeitswahn«, der nicht nur das Schicksal deutscher Frauen im Nationalsozialismus, sondern auch das der unterdrückten Frauen in den amerikanischen Suburbs prägte.54 Frauen als Ge­schlecht, definiert durch Mutterschaft, erschienen als Opfer des Nationalsozialismus. Später wurde die amerikanische Perspektive von deutschen und nicht­deutschen Feministinnen bereitwillig aufgegriffen; es konnte sie nicht überraschen, dass der Nationalsozialismus in die Praxis umgesetzt hatte, was sie für den Gipfel der Frauen­unter­drückung unter dem »Patriarchat« hielten. Manche feministischen Historikerinnen sind noch immer der Meinung, dass »German women were the subjects of Nazi policy, not its agents«.55

die deutschen Frauen »noch so gern als ausschließlich für Kinder, Küche, Kirche lebend«); Mary R. Beard, The legislative influence of unenfranchised women, in: AAA 56 (1914), S. 61 (»woman’s old spheres, the three Ks«). In Deutschland konnten die (ironisch verwendeten) »drei Ks« auch zu vier oder fünf werden (»Kai­ser«, »Konversation«). Vgl. Sylvia Paletschek, Kinder  – Küche  – Kirche, in: Étienne François u. Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2001, S. 419–433. 53 Kate Millett, Sexual Politics, Aylesbury 1971 (19691), S. 159–164 (meine Übers.). Dt.: Sexus und Herrschaft, München 1971, S. 187–192. 54 Betty Friedan, Der Weiblichkeitswahn, Reinbek 1970, S.  29 (Original: New York 1963); ähnlich Thomas Childers, The Nazi Voter. The Social Foundation of Fascism in Germany, 1919–1933, Chapel Hill 1983, S. 174, 189; Rittner u. Roth (wie Anm. 46), S. 287. Clarence D. Long, The Labor Force in War and Transition. Four Countries, New York 1952, S. 39, hielt »Kinder, Küche, Kirche« für einen Slogan Hitlers, ebenso Rosalind Miles, The Women’s History of the World, London 1988, S. 220 (dt. Übers.: München 1988, S. 291). 55 Bonnie S. Anderson u. Judith P. Zinsser, A History of Their Own. Women in Europe from Prehistory to the Present, New York 1988, Bd.  2, S.  303 (dt. Übers.: Zürich 1993, Bd.  2, S. 365).

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2) Mütter und Ehefrauen als Täterinnen. Die zweite Hypothese gründet auf derselben Vorstellung  – Frauen seien auf Privatsphäre, Mutterschaft und Familie reduziert worden –, kehrt jedoch ihre Bewertung um. Eben dies habe die Frauen nämlich nicht zu Opfern, sondern vielmehr zu Täterinnen gemacht. Schuld und Verantwortung deutscher Frauen für den Holocaust wird darin gesehen, dass sie als Ehefrauen und Mütter den angeblich extremen Pronatalismus und Mutterkult des Regimes unterstützt hätten. Argumentiert wird, dass »in der Welt des Nationalso­zialismus Mann und Frau in radikal segregierten Sphären handelten« und dass »die private, weibliche Welt der Familie gänzlich abgeschottet war von der öffentlichen, männlichen Sphäre der politischen Pflicht«.56 Die Trennung zwischen der öffentlich-männlichen und der privat-weiblichen Sphäre wird als das »Wesen« des Nationalsozialismus gesehen, der hierin traditionelle bürgerliche Ideale  – formuliert von Goethe bis Max Weber  – »ins Extrem gesteigert« habe.57 Die Schuld normaler deutscher Frauen habe darin gelegen, dass sie unablässig »auf ihre eigenen Wiegen, Kinder und ›arischen‹ Familien gestarrt« hätten.58 Mittels ihrer selbstgeschaffenen »separaten Sphäre« hätten sie die nationalsozialistischen Verbrechen mit dem Anschein humaner Werte überdeckt und »im Namen von Anliegen, die sie als mütterliche definierten, einen Staat von Mördern« überhaupt erst möglich gemacht.59 Die nationalsozialistische Herrschaft wird als ein Ausdruck der »Macht der Mütter« gesehen, wo deutsche Frauen, als Mütter und Ehefrauen, Antisemitismus und Massenmord nicht nur zuließen, sondern die deutschen Männer nachgerade dazu anspornten.60 3) »Emanzipierte« Frauen als Täterinnen. Der dritten Hypothese zufolge wurden deutsche Frauen im Nationalsozialismus nicht unterdrückt, sondern sie konnten im Gegenteil ihre Stellung verbessern und so etwas wie Eman­ zipation oder doch wenigstens Elemente einer solchen erfah­ren. David Schoen­ baum argumentierte, dass sich für deutsche Frauen in den dreißiger Jahren zwar insgesamt nicht viel verändert habe (gemessen an der ihnen traditionell zu­ gewiesenen Posi­tion); wo es aber doch Veränderungen gab, so galten diese entweder im selben Maß für Männer – vor allem der Verlust politischer Rechte – oder sie brachten eine Verbesserung: »Der Druck des totalitären Staats verband sich mit dem einer industrialisierenden und industrialisierten Gesellschaft auf eine Weise, daß er für Frauen  – wie auch für die Erwerbs­tätigen im all56 Claudia Koonz, Consequences: Women, Nazis, and Moral Choice, in: Rittner u. Roth (wie Anm. 46), S. 287–308, hier S. 304, 288. 57 Ebd., S. 302 f. 58 Claudia Koonz, Mothers in the Fatherland, London 1987, S. 17. Diese und andere hier zitierte Passagen sind in die zahlreichen Übersetzungen des Buchs eingegangen, nicht jedoch in die deutsche (Mütter im Vaterland: Frauen im Dritten Reich, Freiburg 1991). 59 Koonz, Consequences (wie Anm. 56), S. 304; dies., Mothers (wie Anm. 58), S. 5. 60 Karin Windaus-Walser, Gnade der weiblichen Geburt?, in: FSt 1 (1988), S. 131; dies., Frauen im Nationalsozialismus, in: Lerke Gravenhorst u. Carmen Tatschmurat (Hg.), Töchter-Fragen: NS-Frauen-Geschichte, Freiburg 1990, S. 59–72, bes. S. 69, 71.

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gemeinen – einen neuen Status relativer, wenn auch unkonventioneller Gleichheit hervorbrachte.«61 Schoen­baum behandelte nur die Vorkriegszeit und berührte nicht die Frage nach der Verant­wortung für das nationalsozialistische Unrecht. Doch tun dies neuere Vertreter der »Emanzipations«-Hypo­these. So werden Krankenschwestern, die in den Tötungszentren der »Aktion T 4« am Morden beteiligt waren, unter dem Titel »Emanzipation« abgehandelt,62 da sie die »weibliche« Sphäre überschritten und es den Männern gleichtaten. Dies ist auch der Kontext der Argumentation, die KZ-Aufseherinnen seien nicht grausamer gewesen als Männer, sondern »nur grausamer erschie­nen«, da sie von der traditionellen »weiblichen Geschlechterrolle« stärker abgewichen seien als die Männer von der ihren.63 Als »emanzipiert« gelten hier diejenigen Frauen, die sich – vergli­chen mit anderen Frauen – am tiefsten in Schuld verstrickt haben. Was ist von diesen Hypothesen und ihren Kontrasten zu halten? Zur Beantwortung der Frage möchte ich vor ihrem Hintergrund meine obigen Schlüsse aus den zehn Episoden ergänzen und präzisieren. Deutsche nichtjüdische Frauen, ob Mütter oder nicht, waren nicht als solche Opfer des Nationalsozialismus.64 Sie waren – ebenso wie deutsche nichtjüdische Männer – Täter, Opfer, Mitläufer, Zuschauer, Widerstandskämpfer und Helfer. Wenn es um Viktimisierung geht, ist in erster Linie zu fragen: Opfer welcher Handlungen, welchen Aspekts des Regimes? Gewiss bedeutete der Nationalsozialismus, ganz allgemein, auch männliche Dominanz und weibliche Unterordnung – nicht anders als in der deutschen Gesellschaft vor 1933, nach 1945 und in ande­ren westlichen Ländern.65 Aber deshalb »die« Frauen als »Opfer« des Nationalsozialismus zu sehen, macht die wirklichen Opfer – nämlich der national61 David Schoenbaum, Hitler’s Social Revolution: Class and Status in Nazi Germany, 1933– 1939, Garden City 1967, S. 190–192 (dt. Übers.: Köln 1968, S. 241). Vgl. auch Saul Friedländer, Über­legungen zur Historisierung des Nationalsozialismus, in: Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozia­lismus Geschichte?, Frankfurt a. M. 1987, S. 39. 62 Götz Aly u. Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt a. M. 1993, S.  198–203 (»Emanzipation«). Die begriff­liche Gleichsetzung von Täterschaft und Emanzipation ist auch in der feministischen Forschung aufgekommen. So gehöre die Urheberin des Gleichberechtigungs-Artikels im Grund­gesetz zu denen, die »eben nicht nur als Opfer, sondern als Täterinnen« gelten sollen: Birgit Meyer, Elisabeth Selbert (1896–1986): Gleichberechtigung ohne Wenn und Aber, in: Kritische Justiz (Hg.), Streitbare Juristen, Baden-Baden 1988, S. 427–439, hier S. 427. 63 Koonz, Consequences (wie Anm. 56), S. 290; vgl. dies., Mothers (wie Anm. 58), S. 441. 64 Für den Kontext der Nazi-Geburten- bzw. »Bevölkerungs«-Politik habe ich gezeigt, dass zum einen eine Mehrheit der Frauen keineswegs Opfer des NS-Regimes war (vgl. Bock, Zwangssterilisation [wie Anm. 17], bes. Kap. III) und zum anderen viele Frauen an jener Politik mitwirkten, die allerdings eindeutig von Männern bestimmt wurde (vgl. z. B. die Hin­weise oben, in Anm. 18–21). 65 Vgl. dazu Georges Duby u. Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 5: 20. Jahrhundert, hg. v. Françoise Thébaud, Frankfurt a. M. 1995.

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sozialistischen Rassenpolitik – unsicht­bar. Auf der einen Seite waren jene Geschlechterbeziehungen eher traditionell und erfuhren in diesem Zeitraum nur bescheidene Neuerungen; auf der anderen Seite sind sie nicht der Kern dessen, was nationalsozialistische Herrschaft ausmachte. Deren Singularität (verglichen mit anderen Ländern) und Novität (verglichen mit anderen historischen Epochen) lag nicht in einem »Patriarchat«, sondern in Rassenpolitik und Holocaust. Die weiblichen Opfer waren Frauen, die keine »Deutschen« waren, nicht als genuin »deutsch« galten, denen das »Deutschsein« abge­spro­chen wurde, und solche deutschen Frauen, die sich der Rassenpolitik widersetzten oder für deren Opfer eintraten. Hinsichtlich des rassenpolitischen Unrechts und der an ihm mitwirkenden Frauen war das Regime weit entfernt davon, auf den traditionellen Geschlechtersphären zu insistieren; vielmehr förderte es die öffentliche und politische Mitwirkung auch von Frauen. Hier, aber auch im Fall vieler Mitläufer und Zuschauer, war die Geschlechterdifferenz weniger entscheidend als die Geschlechterähnlichkeit oder gar Geschlechtergleichheit, und die Rassenhierarchie hatte Priorität vor der Geschlechterhierarchie, insbesondere in den Situationen von weiblicher Macht über »rassisch minderwertige« Frauen und Männer. Weibliche Täter handelten nicht grundsätzlich anders als männliche und hatten in der Rassen- und Völkermordpolitik zuweilen sogar Schlüssel­ positionen inne. Gewöhnlich waren es »ganz normale« Frauen, ebenso normal wie solche, die nicht darin involviert waren, und ebenso normal wie die meisten männlichen Täter. Weibliche Täter waren nicht deshalb Täter, weil sie weiblich waren, sondern weil sie »ganz normale« Deutsche waren oder zu sein glaubten, wie die Männer auch. Christabel Bielenbergs Scham über ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht sollte daher durch die Aussage einer anderen gewöhnlichen deutschen Frau ergänzt werden, die vielleicht das Potential für ein allgemeineres historisches Urteil enthält. Auf die Frage, weshalb sie geholfen hatte, Juden zu retten, antwortete sie: »Ich schämte mich, eine Deutsche zu sein.«66 Es führt in die Irre, den Beitrag gewöhnlicher deutscher Frauen zum nationalsozialistischen Unrecht in ihrem Handeln als Mütter und Ehefrauen zu verorten. Zwar trugen die Ehefrauen (1939: 18 Millionen) und Mütter (9 Millionen) durch ihre schiere Existenz dazu bei, das Land und seine Herrscher zu stabilisieren. Doch das war nicht spezifisch für Mütter und Ehefrauen – zu Unrecht verstanden als die Repräsentantinnen par excellence des weiblichen Geschlechts –, sondern gilt genauso für Nicht-Mütter (17 Millionen), unverheiratete Frauen (8 Millionen, davon 89 Prozent erwerbstätig), für die Frauen in den Fabriken, der Landwirtschaft und anderen Beru­fen (1939: 13,9 Millionen, davon 46 Prozent verheiratet und 24 Prozent Mütter), für erwerbs­tätige Frauen wie Männer (1939 waren 37 Prozent der Erwerbstätigen Frauen und 53 Prozent der Frauen 66 Frau Angermeier, zit. in: Oldfield (wie Anm. 11), S. 95.

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waren erwerbstätig, 1944 lagen die entsprechenden Ziffern bei 53 bzw. 57).67 In diesem weitgefassten Sinn – der allerdings für die ernsthafte Frage nach Schuld problematisch ist  – waren alle Deutschen für den Holocaust mitverantwortlich, nicht als Frauen und Männer, sondern als Deutsche und unabhängig von Familienstand,68 Mutter- oder Vaterschaft. Überdies waren diejenigen Frauen, die am nationalsozialistischen Unrecht mitwirkten, insbesondere in seinen extremen Formen, gewöhnlich unverheiratet und ohne Kinder; die sonstigen Täterinnen wirkten entweder außerhalb, trotz oder ungeachtet familiärer Beziehungen. Um die Schuld von Frauen am nationalsozialistischen Unrecht zu begreifen, sollten wir nicht danach fragen, wer sie waren, sondern was sie taten. Schuld und Verantwortung deutscher Frauen in ihrer Eigenschaft als Ehefrauen und Mütter zu verorten, ist auch aus einem weiteren Grund irreführend: Denn die Hypothese basiert auf der (Vor-)Annahme, die nationalsozialistische Herrschaft sei ihrem Wesen nach ein radikaler »Mutterkult« gewesen und habe eine radikale Trennung der männlichen und der weiblichen »Sphäre« besorgt. Von dieser Annahme sollte Abstand genommen werden, und beachtet werden sollte, was die Episoden gezeigt haben: Traditionelle Zuschreibungen und Grenzlinien zwischen den Geschlechtersphären wurden tendenziell aufgelöst und nur allzu leicht überschritten. Weib­liche Täter wurden darin vom Regime nach Kräften unterstützt, da es der Rassenpolitik ein größeres Gewicht beimaß als einer Politik, die Frauen an traditionelle Orte verwies. Der Mythos vom »nationalsozialistischen Pronatalismus und Mutterkult«, der das nationalsozialistische »Patriarchat« zu symbolisieren schien und so viele Schriften über »Frauen im Nationalsozialis­mus« prägt, sollte ad acta gelegt werden, und zwar nicht nur hinsichtlich der weiblichen Akteure bei Verbrechen und Massenmord, sondern auch hinsichtlich anderer normaler deutscher Frauen. Die Belege, die diesen Mythos einst zu stützen schienen, haben sich als unhaltbar erwiesen. Einige Gegenbelege seien hier genannt.

67 Dörte Winkler, Frauenarbeit im Dritten Reich, Hamburg 1977, S.  195, 198, 201; Stefan­ Bajohr, Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit in Deutschland 1914 bis 1945, Marburg 1979, S. 252. Die Zahlen beziehen sich auf die Altersgruppe der 15- bis 60-Jährigen, »Mütter« auf Frauen mit Kindern unter 14 Jahren; die Gruppe der Verheirateten schließt Witwen und geschiedene Frauen ein, unverheiratete Mütter sind nicht berück­sichtigt. 68 Koonz sieht den wichtigsten Faktor der weiblichen Schuld darin, dass »wives gave the individual men who confronted daily murder a safe place where they could be respected for who they were, not what they did« (Consequences, wie Anm. 56, S. 303; vgl. dies., Mothers [wie Anm. 58], S. 456). Unberücksichtigt bleiben hier unverheiratete Frauen (die im Umkreis des Mordens in vielerlei Funktionen präsent waren), und andererseits hatten die mordenden Männer nur höchst selten ihre Ehefrauen an der Seite (vgl. Browning [wie Anm. 1]; Lifton [wie Anm. 8]). Das Beispiel der Frau des Lagerkommandanten von Buchenwald zeigt, wie wenig weibliche Verbrechen mit der traditionellen Rolle als Ehefrau und Mutter zu tun hatten: Arthur L. Smith, Die »Hexe von Buchenwald«: Der Fall Ilse Koch, Köln 1983; vgl auch Gudrun Schwarz, Frauen in der SS: Sippenverband und Frauenkorps, in: Heinsohn u. a. (wie oben, Anm. *), S. 223–244.

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Erwerbstätige Frauen wurden keineswegs massenhaft entlassen und zu »Heim und Herd« zurückgetrieben. Denn einerseits waren sie auch zuvor, ob erwerbstätig oder nicht, zuständig gewesen für »Heim und Herd«, andererseits nahm die weibliche Erwerbstätigkeit seit 1933 zu, sowohl in absoluten Zahlen wie nach ihrem Anteil, und vor allem auch die Erwerbstätigkeit verheirateter Frauen und Mütter. Um 1936 war Vollbeschäftigung erreicht, und über die gesamte Zeit des Regimes lag die Erwerbsquote von Frauen höher als in den meisten anderen westlichen Staaten (mit Ausnahme Frankreichs), obwohl sie in den letzteren während des Krieges drama­tisch an­stieg; hinzu kamen in Deutschland über zwei Millionen ausländischer (meist Zwangs-)Ar­bei­terinnen.69 Zumal im Krieg riskierten deutsche Frauen, die einer bezahlten Arbeit nachgehen wollten, weniger als je zuvor, abgewiesen zu werden.70 Im nationalsozialistischen Deutschland war weibliche Erwerbstätigkeit keineswegs außergewöhnlich, sondern vielmehr »ganz normal«. Auch wurden Frauen keineswegs von den Universitäten und akademischen Berufen ausge­schlos­sen. Der zeitweilige Rückgang an Studentinnen kam dem der männlichen Studenten fast gleich; er war nicht das Resultat eines politischen Eingriffs (eine Immatrikulationsbeschränkung für Frauen von 1934 wurde Anfang 1935 zurückgenommen), sondern der wirtschaftlichen Situation, der sinkenden Studierwilligkeit und der Engpässe des akademischen Arbeitsmarkts. Die einzige Gruppe von Akademikerinnen, die aufgrund von nationalsozialistischen Eingriffen zurückging und schließlich verschwand, waren die Jüdinnen; sie wurden, zusammen mit jüdischen Männern, von den Universitäten ausgeschlossen. Anzahl und Anteil der Frauen im Studium und in aka­de­mischen Berufen gingen nicht zurück, sondern stiegen an, allerdings mit der gewichtigen Aus­nahme der Jurisprudenz.71 Es trifft nicht zu, dass die Nationalsozialisten den Slogan »Kinder, Küche, Kirche« propagierten oder den biblischen Spruch »Wachset und mehret Euch«. Vielmehr polemisierten gerade Rassenhygieniker häufig gegen diese Schlagworte.72 Weder die Schlagworte noch das, was sie symbolisieren, waren für die nationalsozialistische Geschlechterpolitik zentral. Oft wird als Indikator für eine spezifisch nationalsozialistische Unterdrückung der Frauen eine drama­ 69 Long (wie Anm. 54), S. 37: in Deutschland 1943: 44,9 % der Frauen in erwerbsfähigem Alter; in den USA Anfang 1945: 37 %; Großbritannien 1943: 42,3 %; Kanada 1945: 26,5 %. 70 Vgl. Rüdiger Hachtmann, Industriearbeiterinnen in der deutschen Kriegswirtschaft 1936– 1944/45, in: GG 19 (1993), S. 332–366; Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995. 71 Claudia Huerkamp, Jüdische Akademikerinnen in Deutschland 1900–1938, in: GG 19 (1993), S.  311–321; dies., Bildungsbürgerinnen, S.  80–91, 287–295; vgl. Sibylle Quack, Jüdische Frauen in den dreißiger Jahren, in: Heinsohn u. a. (wie oben, Anm. *), S. 111–128. 72 Z. B. Bluhm (wie Anm. 22), S. 533; Walter Schulze, in: Ernst Rüdin (Hg.), Erbpflege und Rassenhygiene im völkischen Staat, München 1934, S. 8 f. Auch die NS-Frauenorganisationen polemisierten gegen solche Ansichten und gegen den »Kochlöffel« (und propagierten stattdessen »Rassenkunde und Erbpflege«): Auguste Reber-Gruber (Hg.), Weibliche Erziehung im nationalsozialistischen Lehrerbund, Leipzig 1934, S. 3.

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tische Zunahme der Verurteilungen wegen illegaler – also meist freiwilliger – Ab­trei­bung postuliert (»Gebärzwang«). Tatsächlich aber ging die Anzahl der Verurteilungen im Ver­gleich mit den Jahren der Weimarer Republik zurück (1923–1932: 47.487; 1933–1942: 39.902);73 überdies gab es Amnestien (z. B. zu Hitlers 50. Geburtstag 1939), in denen zahlreiche Frauen, die abgetrieben hatten, sowie ihre Helfer entlassen wurden. 1935 wurde in einer Novelle zum Steri­ li­sationsgesetz die medizinisch indizierte Abtreibung legalisiert, außerdem die eugenische zur Verhinderung »erbkranken Nachwuchses« (diese wurde immer mit Zwangs­steri­lisation gekop­pelt). Die Anzahl eugenisch indizierter Abtreibungen belief sich auf ungefähr 30.000, die der medizinisch indizierten war vermutlich um einiges höher.74 Von nun an trat immer deutlicher die rassistische Komponente der Abtreibungspolitik hervor. Auf der einen Seite wurden seit Kriegs­beginn die Strafen für deutsche Abtreiber verschärft, und 1943 schuf eine Verord­nung die Mög­lichkeit der Todesstrafe für »gewerbsmäßige« Abtrei­ ber. Bisher wurden vier Fälle ihrer An­wen­dung nachgewiesen, während in 21 weiteren Fallen das Todesurteil aufgrund anderer Verord­nun­gen gefällt wurde; 73 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 45–59 (1926–1941/42); Bundesarchiv BerlinLichterfelde, R 22/1159 und 1160 (alte Signaturen des Bundesarchivs Koblenz); zu den detaillierten Ziffern vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 17), S. 159–162; zu Abtrei­bung außerdem S. 98–101, 162–165, 378–384, 429–445. Kirkpatrick konnte 1939 keinen Anstieg der Verurteilungen feststellen (wie Anm. 2, S. 148); ähnlich David V. Glass, Population: Policies and Movements (1940), ND London 1967, S. 245 f.; und Käte Frankenthal, Der drei­ fache Fluch: Jüdin, Intellektuelle, Sozialistin, Frankfurt a. M. 1981, S. 116 f., 261 (zit. in: Bock, Zwangssterilisation [wie Anm. 17], S. 166). Gleichwohl setzte sich die gegenteilige Meinung durch: Hans Bleuel, Das saubere Reich, Bern 1972, S. 247; Koonz, Mothers (wie Anm. 58), S. 86 (angeblich ein Anstieg von 100 % im Vergleich zu Weimar). Tim Mason (Women in Germany, 1925–1940, in: History Workshop 1 [1976], S. 74–113, hier S. 102) und Dorothee Klinksiek (Die Frau im NS-Staat, Stuttgart 1982, S. 71) schlossen aus den Verurtei­lungen von 1934 und 1938 auf einen Anstieg von 50 % im Vergleich zur Weimarer (!) Zeit. Zu einer ersten Korrektur hatte ich anhand der Jahre 1932 und 1938 einen Anstieg von 65 % be­rech­ net (Racism and Sexism in Nazi Germany: Motherhood, Compulsory Sterilization, and the State, in: Signs 8, Nr. 3 [1983], S. 407, ND in: Rittner u. Roth [wie Anm. 46], S. 166). Natürlich erlauben derart partielle Belege keinen Vergleich zwischen »der« Weimarer Republik und »dem« Dritten Reich. Die vollständige Kriminalstatistik (s. oben) zeigt: 1932 war die Ziffer  – wohl wegen der Wirt­schaftskrise  – außergewöhnlich niedrig, 1938 außergewöhnlich hoch, aber immer noch niedriger als die höchste Ziffer der Weimarer Zeit (1925). Atina Grossmann, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920–1950, New York 1995, S. 149–153 und 262 (»The [Nazi] Crackdown on Abortion«) meint, dass meine (vorschnelle) Rechnung von 1983 vorzuziehen sei und meine vollständigen Zahlen von 1986 angeblich »Mangel an akkuratem Wissen« und »Konfusion« demonstrieren; leider zieht sie selbst vor, keine Zahlen zu nennen. Auch Gabriele Czarnowski, die ansonsten den wich­tigsten Beitrag zur Nazi-Abtrei­bungs­politik vorgelegt hat, will die offizielle Statistik nicht einmal nennen (»Bock cites figures«), geschweige denn analysieren: Women’s crimes, state crimes: abortion in Nazi Germany, in: Margaret L. Arnot u. Cornelie Usborne (Hg.), Gender and crime in modern Europe, London 1999, S. 238–256, hier S. 253. 74 Vgl. Bock, Zwangssterilisation (wie Anm. 17), S. 98–101, 378–384.

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19 der 25 Urteile wurden auch vollzogen.75 Auf der anderen Seite wurde seit 1938 der Schwan­ger­schafts­abbruch bei Jüdinnen öfters »erlaubt«, woraufhin die SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps titelte: »Sie dürfen? Sie sollen!« und: »Wir haben wirklich nichts dage­gen!«76 1940 wurde eine »rassische« Indikation für Abtreibung eingeführt und bis Mitte 1941 53mal angewandt. Schließlich wurde an Hunderttausenden »fremdvölkischer« Frauen, die in Deutschland zwangsweise arbeiteten, abgetrieben.77 Unter dem National­sozialismus war Abtreibung also nicht mehr schlechthin verboten, sondern wurde weithin prak­tiziert und vor allem in die Rassenpolitik integriert. Gewiss verfolgte das Regime auch eine pronatalistische Politik – für »wertvolle« Geburten  –, doch griff man dafür zu eher traditionellen Maßnahmen. Wo es sich um Neuerungen handelte (Ehestandsdarlehen, Steuerfreibeträge und Kinderbeihilfen), glichen sie den Sozialreformen, die mehr oder weniger gleichzeitig in vielen anderen europäischen Ländern eingeführt wurden. In den demokratischen Ländern waren es allerdings die Mütter, denen solche Beihilfen zugute­ka­men, insbesondere das Kindergeld, während in Deutschland die Unterstützung an die Väter ging – wenn auch nicht an die »rassisch minderwertigen« unter ihnen.78 Die Zwangs- und Massenste­ri­lisation war, gerade auch im internationalen Vergleich gesehen, die einzige originelle und spezi­fisch nationalsozialistische Maßnahme in der deut­schen Geburtenpolitik der dreißiger Jahre; sie war bedeutsamer und effizienter als die pro­nata­listische Politik, und ungeachtet des internatio­nalen Charakters der Eugenik wurde in keinem anderen Land soviel sterilisiert wie in Nazi-Deutschland. Mit anderen Worten: In Nazi-Deutschland wurden mehr Frauen sterilisiert als in allen anderen Ländern mit einer eugenischen Politik zusammengenommen.79 Als rassistisch motivierter Eingriff in Leib und Leben war der nationalsozialistische Antinatalismus – sowohl was die mentalen als auch die bürokra­tischen Voraussetzungen betraf – ein Schritt auf dem Weg zur Poli­tik des Massenmords. Sollten wir also – in Einklang mit der dritten der genannten Hypothesen – den Schluss zie­hen, dass die deutschen Frauen unter dem Nationalsozialismus »emanzipiert« waren oder doch die Chance hatten, »Emanzipation« anzustreben? Und sollten wir die – noch beunruhigendere – Implikation akzeptieren, 75 Es ist das Verdienst von Gabriele Czarnowski (wie Anm.  73), dies herausgefunden zu haben. Die anderen Verordnungen galten (nicht abtreibungsspezifisch) für »gefährliche Gewohnheits­verbrecher« und »Straftaten« von Juden und Polen (ebd., S. 247–251). 76 Zit. in: Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940, München 1988, S. 667. 77 Vgl. Bock (wie Anm. 17), S. 429–450; vgl. Henry P. David u. a., Abortion and Eugenics in Nazi Germany, in: Population and Development Review 14/1 (1988), S. 81–111, hier S. 97 f. 78 Vgl. oben das Kapitel zum Sozialstaat. 79 Zum internationalen Vergleich vgl. Bock (wie Anm.  17), S.  50 f., 114–117, 240–243, 309 f., 368 f.; zur transnationalen Zirkulation vgl. Stefan Kühl, The Nazi Connection. Eugenics, American Racism, and German National Socialism, New York 1994; ders., Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassen­hygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997 (erweiterte Neuaufl. 2014).

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eben die Frauen, welche die traditionellen Geschlechtergrenzen über­schritten, um zu foltern und zu morden, seien Symbole von »Emanzipation«? Dazu liegt kein Grund vor. Vielmehr muss der Nationalsozialismus (und auch »Emanzipation«) als ein komp­lexeres Phänomen gesehen werden, als es in Bezug auf die Frauen- und Geschlechtergeschichte oft der Fall ist. Erstens sollte nicht davon ausgegangen werden, dass die nationalsozialis­ tische Geschlech­terpolitik dasselbe Gewicht und dieselbe Konsistenz hatte wie die nationalsozialistische Rassen­politik; beide waren keineswegs gleichrangige Bestandteile einer übergreifenden »Biopolitik«. In vielerlei Hinsicht revidierten die Nationalsozialisten ihre frühen Visionen vom Frauenideal und machten den nichtjüdischen »erbgesunden« Frauen Zugeständnisse. Unnachgiebig hingegen waren sie hinsichtlich ihrer Visionen von »Rasse« und vor allem von jüdischen Frauen und Männern. Zwei­tens: Eine Diktatur muss die sozialen Bestrebungen ihrer Untertanen keineswegs gänzlich miss­achten. (Es gibt auch andere Beispiele von Diktaturen, die für Frauen dadurch attraktiv wurden, dass einige ihrer sozialen Bestrebungen verwirklicht wurden.) Dass so viele Frauen mit der nationalsozialistischen Herrschaft konform gingen, hatte nicht nur »irrationale« und rückschritt­liche Motive, sondern auch einige, die sich als »rational« und »modern« einstufen lassen. Nicht nur in Bezug auf Frauen, sondern auch auf den nichtjüdischen Teil der Gesellschaft insgesamt betrieb das Regime nicht ausschließlich eine anti-modernistische Politik, sondern hatte auch durchaus »moderne« und »rationale« Aspekte (zu denen im übrigen viele Autoren, damals wie heute, die Rassenhygiene zählen).80 Drittens sollten »Modernisierung« oder das Überschreiten traditioneller Geschlechtergrenzen nicht mit »Emanzipation« im Sinn von »Freiheit« oder »Feminismus« gleichgesetzt werden. Erwerbstätigkeit und sozialer Aufstieg von Frauen sind nicht an sich schon Indikatoren für »Eman­zipation«, erst recht nicht dort, wo Erwerb und Aufstieg von Tätigkeiten abhängen und geprägt sind, die Bestandteile von Rassenpolitik sind. Frauenbefreiung sollte als unvereinbar mit Rassismus gelten. Historisch und aktuell war bzw. ist die Frauenbewegung allerdings durchaus vereinbar mit Rassismus und Antisemitismus.81 Glück80 Norbert Frei, Wie modern war der Nationalsozialismus?, in: GG 19 (1993), S. 367–387; Hans Mommsen, Noch einmal: Nationalsozialismus und Modernisierung, in: GG 21 (1995), S. 391–402. Erscheint es historisch sinnleer, das Modernisierungs-Konzept auf den Holocaust anzu­wenden, so kann es doch in Einzelbereichen nützlich sein; vgl. Hachtmann (wie Anm. 70). 81 Kirkpatrick (wie Anm.  2, S.  110–113) sieht bei Nationalsozialistinnen, die sich für die Gleich­stellung »arischer« Frauen in Bildung, Beruf und anderen Rechten einsetzten, einen »refreshing […] spirit of militant feminism«, obwohl sie erklärtermaßen antisemitisch waren, also jüdische Frauen von aller Gleichstellung ausschlossen. Auch wirkliche Feministinnen argumentierten zu­weilen antisemitisch: vgl. Marion Kaplan, Schwesterlichkeit auf dem Prüf­stand. Feminismus und Antisemitismus in Deutschland, 1904–1938, in: FSt 1 (1984), S.  140–150. Ande­re, z. B. Helene Lange, waren überzeugte Anti-Anti­semitinnen: Ursula Baumann, Prote­stantismus und Frauenemanzipation in Deutschland 1850–1920, Frankfurt a. M. 1992, S. 84 f., 294.

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licherweise gibt es aber auch eine andere Variante von Feminismus: »[It] calls on women to recognize that all women’s freedom is at stake when any woman’s autonomy is threatened.«82

IV. Bezüglich der weiblichen Täter sollten wir also nicht nur die Unterschiede zu den männ­li­chen (und Ähnlichkeiten mit anderen Frauen) wahrnehmen oder suchen83, sondern vor allem auch die Ähnlichkeiten mit männlichen Tätern (und Unterschiede im Vergleich zu anderen Frauen). Be­züglich der Opfer von Rassenpolitik und Holocaust habe ich an anderer Stelle dafür plädiert, einerseits Geschlechterdifferenzen zwischen männlichen und weiblichen Opfern zu er­forschen, um die rassisch diskriminierten und verfolgten Frauen sichtbar zu machen: in der Geschichte des Holocaust ebenso wie in der Geschichte der Frauen. Andererseits ist es nicht weniger dringlich  – sowohl für die Geschichte des Holocaust als auch für die der Frauen –, wahrzunehmen und zu konzeptualisieren, dass die weiblichen und die männlichen Opfer der Vernichtungspolitik unterschiedslos die gleiche Behandlung erfuhren, ungeachtet ihres Ge­schlechts (und Alters). Darauf bezog sich Hannah Arendts Benennung des Judenmords als »den finstersten und dunkelsten Abgrund ursprünglicher Gleichheit«, als eine »ungeheuerliche Gleichheit ohne Brüderlichkeit und Menschlichkeit.«84

82 Joanna K. Weinberg, Democracy’s Danger, in: WRB 12/7 (April 1995), S. 25 (Besprechung von Zillah R. Eisenstein, The Color of Gender: Reimaging Democracy, Los Angeles 1994); vgl. auch das Kapitel »Frauenemanzipation« in diesem Band. Dass die o. g. Vision des Verhältnisses von Feminismus und (Anti-)Rassismus kaum Eingang in feministische Forschungen zum Nationalsozialismus gefunden hat, ist einer der Grün­de, weshalb in meine Un­ter­suchung des Sterilisationsrassismus – abwegigerweise und zuweilen mit Zitatmanipu­ lationen  – hineingelesen wurde, »alle Frauen« seien »Opfer« gewesen und hätten keine Schuld getragen. Vgl. Ute Cornelia Schmatzler, Verstrickung, Mitverantwortung und Täterschaft im Nationalsozia­lis­mus. Eine Untersuchung zum Verhältnis von weib­lichem Alltag und faschistischem Staat, Kiel 1994, S. 17–20; Susannah Henschel, From the Bible to N ­ azism: German Feminists on the Jewish Origins of Patriarchy, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Ge­schichte 21 (1992), S.  319–334, hier S.  328; Atina Gross­mann, Feminist D ­ ebates about­ Women and National Socialism, in: G & H 3/3 (1991), S. 350–358. 83 Das ist ein Trend in der gegenwärtigen »Täterinnen«-Forschung, in der die Taten gern auf »spezifisch Weibliches« zurückgeführt werden. 84 Hannah Arendt, Das Bild der Hölle (1946), in: dies., Nach Auschwitz, hg. v. Eike ­Geisel u. Klaus Bittermann, Berlin 1989, S. 50. Vgl. Bock, Gleichheit (wie Anm. 1); Myrna Goldenberg, Diffe­rent Horrors, Same Hell, in: Roger S. Gottlieb, Thinking the Unthinkable. Meanings of the Holo­caust, New York 1993, S. 150–166; Joan Ringelheim, Women and the Holocaust: A Recon­sideration of Research, in: Rittner u. Roth (wie Anm. 46), S. 373–418.

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Ähnlichkeiten zwischen weiblichen und männlichen Tätern, die unterschiedslose Ermor­dung jüdischer Frauen und Männer und die Priorität der »Rassen«-Beziehungen vor den Ge­schlech­terbeziehungen mögen auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, als würde dadurch die Bedeutsamkeit der historischen Kategorie Geschlecht für die Holocaust-Forschung in Frage gestellt. Das ist aber keineswegs der Fall. Vielmehr ist eine geschlechtergeschichtliche Per­spek­tive gerade hier legitim und von hohem Nutzen. Denn erstens verschwanden Geschlechter­diffe­renz und Geschlechterhierarchie keineswegs aus der deutschen Gesellschaft insgesamt, sondern spielten nach wie vor eine wichtige Rolle im Leben von Frauen und Männern. Mein Argument ist vielmehr, dass bei denjenigen Handlungen von Frauen,85 die zur Rassenpolitik und zum Holo­caust beitrugen, die Geschlechterdifferenz eine geringere Rolle spielte als die Geschlechter­ä hn­lichkeit, sowohl im Vergleich mit dem Handeln anderer Frauen (damals und früher) als auch mit den männlichen Tätern. Diese Pro­ blematik kann aber nur in einer geschlechter­geschicht­li­chen Perspektive erforscht werden. Dass für den Nationalsozialismus »Rasse« als politische Kate­ gorie entscheidender war als Geschlecht, sollte Historiker nicht blind machen für die Bedeutung von Geschlecht als historische Kategorie. Zweitens sollte Geschlecht grundsätzlich nicht bloß als »Geschlechterdifferenz« konzep­tualisiert werden, sondern ebenso als Ähnlichkeiten zwischen den Geschlechtern, als unterschied­liche Arten und Grade von Differenz und sogar als Möglichkeit einer Nivellierung, eines Aus­löschens von Geschlechterdifferenz und Geschlechteridentität. Die Frage nach den Geschlech­ter­beziehungen ist letztlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschlechterdifferenz und Geschlech­ter­ä hnlichkeit, und sie thematisiert die Beziehungen (einschließlich von Ähnlichkeiten und Unterschieden) sowohl zwischen den Geschlechtern als auch innerhalb der Geschlechter. Von besonderer Bedeutung ist das hinsichtlich des Holocaust und seiner weitgehenden Aus­lö­schung von Geschlechterdifferenz und Geschlechteridentität bei den Opfern, und das schon vor der Tötung; so wurden jüdische Frauen von ihrer Ankunft im Lager an systematisch all dessen beraubt, was ihre kulturelle wie physische Geschlechtsidentität konstituierte.86 Doch wenn weibliche wie männliche Täter gleich oder ähnlich handeln und weibliche wie männliche Opfer gleichermaßen ermordet werden, folgt daraus nicht, dass die Kategorie Geschlecht bedeutungslos sei. Auf makro-historischer Ebene: Dass im Nationalsozialismus und Holocaust die Kategorie Geschlecht als menschliche Beziehung in den Hintergrund und die Kategorie »Rasse« als (un)menschliche Beziehung in den Vordergrund getreten ist, gewinnt seine Bedeutung gerade auch dann, wenn man das vor dem Hintergrund der Jahr85 Einiges weist darauf hin, dass bei männlichen Tätern die Geschlechtszugehörigkeit womöglich eine größere Rolle gespielt hat als bei weiblichen: s. oben Anm. 8; Helen Fein, Genocide and gender: The uses of women and group destiny, in: Journal of Genocide Research 1/1 (1999), S. 43–63. 86 Vgl. dazu Ofer u. Weitzman (wie Anm. *); Bock, Gleichheit (wie Anm. 1).

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hunderte sieht, in denen die Situation, die Räume und das Handeln von Männern und Frauen sehr viel unterschiedlicher und getrennter waren. Bedeutung hat die Kategorie Geschlecht aber auch auf mikro-historischer Ebene: Indem der Nationalsozialismus die Kategorie »Rasse« ins Zentrum stellte und in Realität umsetzte, wurde die Kategorie Geschlecht nicht einfach ausgelöscht, sondern in eine Art Untergrund verbannt. Hier ist die fortdauernde Dynamik der Geschlechterbeziehungen aufzuhellen; zu unterscheiden ist beispielsweise zwischen großen und kleinen Geschlechterdifferenzen, offen­sichtlichen und subtilen, und zu thematisieren ist auch ihr zeitlicher Wandel (so etwa bei den Einsatzgruppen, die anfangs fast ausschließlich erwachsene Männer ermordeten, erst etwas später auch Frauen und Kinder).87 Unbeschadet der Priorität, die der Nationalsozialismus der Rassen­politik beimaß, hat nicht nur »Rasse« bzw. Rassismus die Geschlechterbeziehungen geprägt, sondern haben auch Geschlechter­beziehungen die Praxis des Rassismus geprägt. Die Kategorie »Geschlecht« bezieht sich nicht nur auf Geschlechterdifferenzen beziehungs­weise -ähnlichkeiten, sondern auch auf die Geschlechter­ hierarchie, also auf Machtbeziehungen.88 Auch in dieser Hinsicht unterscheiden sich die jeweiligen Fragen in Bezug auf den Holocaust deutlich von denen in anderen historischen Situationen. Im Holocaust waren die entscheidenden Machtbeziehungen diejenigen zwischen deutschen Nichtjuden und deutschen wie nicht-deutschen Juden (beziehungsweise zwischen »Herrenrasse« und »Minderwertigen«); Versuche, Machtbeziehungen zwischen männlichen und weiblichen Tätern zu erforschen, ohne deren Verhältnis zu den (wirklichen) Opfern einzubeziehen, grenzen leicht an Zynismus (so etwa in der Argumentation, Frauen seien nicht zu den höheren Rängen der SS zugelassen und damit als Frauen diskriminiert und machtlos gehalten worden). Unter den Opfern war die Geschlechter­hierarchie offensichtlich den zentraleren Machtbeziehungen untergeordnet: Die erstere wurde durch die letzteren dramatisch verformt. Das bezeichnet den Punkt, an dem eine geschlechter­ge­schichtliche Analyse des Holocaust vielleicht an Grenzen stößt: Eventuelle Machtbeziehungen zwischen Männern und Frauen unter den Opfern können wohl kaum als eine unabhängige Variable mit eigenständiger Realitätsmächtigkeit konzipiert werden. Doch diese Grenze kann nur dann näher bestimmt werden, wenn der Holocaust auch in geschlechtergeschichtlicher Per­spek­tive untersucht wird.

87 Vgl. Yitzhak Arad, Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction of Jews in Vilna in the Holocaust, New York 1982, S. 46–79, 103 f., 116, 134, 140–142, 152–156, 167, 214; ­Yehoshua Büchler, Kommandostab Reichsführer-SS: Himmler’s Personal Murder Brigades in 1941, in: Holocaust and Genocide Studies 1 (1986), S. 13, 16 f.; Yaacov Lozowick, Rollbahn Mord: The Early Activities of Einsatzgruppe C, in: ebd. 2 (1987), S. 221, 235. 88 Joan W. Scott, Gender and the Politics of History, New York 1988, S. 42: »Gender is a constitutive element of social relationships based on perceived differences between the sexes, and gender is a primary way of signifying relationships of power.«

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Rückblicke und Ausblicke

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Zukunft braucht Vergangenheit Women’s History zwischen Amerika und Europa: Nachruf auf Gerda Lerner✳

Die Historikerin und Feministin Gerda Lerner, die am 30. April 1920 in Wien geboren wurde, seit 1980 die Robinson-Edwards-Professur für Geschichte an der University of Wisconsin in Madison innehatte und 1991 emeritiert wurde, ist am 2. Januar 2013 im Alter von 92 Jahren verstorben. Große Zeitungen und Zeitschriften gedachten ihrer, der bekanntesten Vertreterin der Women’s History, die dieses neue Wissensfeld seit den späten 1960er Jahren weitgehend selbst geschaffen sowie an seiner universitären Etablierung führend mitgewirkt hatte. Bekannt wurde sie dafür sowohl inner- als auch außerhalb der akademischen Welt, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern international und besonders in Österreich, Deutschland und der Schweiz. »A Feminist and Historian« titelte die New York Times sofort nach Lerners Tod und gewährte dem Nachruf den beträchtlichen Umfang einer halben Seite; in ihrer Internet-Ausgabe setzte sie einen Link zu zwanzig Büchern, die Lerner publiziert hat, und betonte deren Beitrag zu dem Prozess, in dem die Geschichte von Frauen »ein legitimer Gegenstand für Historiker« geworden ist. Von hier aus führt ein weiterer Link zu einem noch umfangreicheren und zehn Jahre älteren Artikel der New York­ Times: Unter dem Titel »Making History Her Story, Too« waren die damals erschienenen Memoiren der »godmother of women’s history« besprochen worden: »Fireweed« (2002, auf Deutsch 2009: »Feuerkraut«). Feuerkraut oder Trümmerblume heißt eine Pflanze, die nach der Verwüstung oder Rodung durch Feuer leuchtendrot aufblüht – Gerda Lerner hat sie als Symbol für den Wechsel von Zerstörung, Verlust, Neubeginn gewählt, der ihr Leben und ihre Zeit geprägt hat und dem sie diese »politische Autobiographie« widmete. Das Buch war ihr vorletztes, und als letztes folgte der Band »Living with History/Making Social Change« (2009), der ebenfalls weithin autobiographischen Charakter hat und in die Anfänge der neueren Frauenforschung zurückreicht.1 Die Washington



Erschienen in: GG 39/2 (2013), S. 259–278. 1 Gerda Lerner, Fireweed. A Political Autobiography, Philadelphia, PA 2002 (im Folgenden benutze ich das amerikanische Original, einige der Übersetzungen sind von mir); dt.: Feuer­k raut. Eine politische Autobiografie, übers. von Andrea Holzmann-Jenkins u. Gerda ­Lerner, Wien 2009; dies., Living with History/Making Social Change, Chapel Hill, NC 2009. Vgl. William Grimes, Gerda Lerner, A Feminist and Historian, Dies at 92, in:

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Post und The Progressive folgten mit großen Beiträgen (»Pioneer of Women’s History Studies«, »Founder of Women’s History«), einschließlich von Links zu (Audio-)Interviews mit Lerner. Dass die neuere Geschichtsschreibung über Frauen und Geschlechterbeziehungen – im Unterschied zur traditionellen Historiographie, deren Gegenstand im wesentlichen Männer waren und zwar auch dann, wenn es um »Menschen« zu gehen schien – zuerst in den Vereinigten Staaten entstand, hat zwar viele einzelne Gründe, geht aber nicht zuletzt auf den individuellen und mutigen, energischen und konfliktfreudigen, zähen und unermüdlichen Einsatz von Gerda Lerner zurück. Ähnliches gilt für die vielfach erfolgreichen Bemühungen um die Etablierung des neuen Fachs an den Universitäten (in den USA waren sie erfolgreicher als anderswo) und seine Rezeption in der Öffentlichkeit: So wurde aufgrund von Lerners Initiative im Jahr 1980 durch einen Kongress-Beschluss und eine Proklamation von Präsident Jimmy Carter eine nationale »Women’s History Week« eingeführt, die 1987 zu einem »Women’s History Month« erweitert wurde (jährlich im März). Und schließlich war Lerners Aktivität eine wichtige Kraft in dem Prozess, in dem universitäre Professuren häufiger mit Frauen besetzt wurden als früher. Lerner war also sowohl eine anerkannte public intellectual als auch eine Aktivistin im Sinn von sozialer Gerechtigkeit, einschließlich Geschlechtergerechtigkeit; das ist der Sinn des Titels ihres letzten Buchs: »Living with History/Making Social Change« und zugleich der Sinn ihrer Wissenschaft und ihres Feminismus. Im Folgenden werden zuerst ihr Leben und ihr autobiographisches Schreiben vorgestellt, dann einige Elemente ihrer Konzeptionen und Aktivitäten für die »Women’s History«.

I. Vita und Autobiographisches: Vom Outsider zum Insider Es überrascht nicht, dass dem Wirken Gerda Lerners ein eindrucksvolles Leben zugrunde liegt und dass nun ein Dokumentarfilm über sie im Entstehen begriffen ist, der vor allem mit Historikerinnen und Historikern der Frauen- und Geschlechtergeschichte produziert wird.2 Nur ganz fragmentarisch war die Vita The New York Times 3.1.2013; Felicia R. Lee, Making History Her Story, Too, in: The New York Times 20.7.2002. Zum Folgenden: Matt Schudel, Gerda Lerner, Pioneer of Women’s­ History ­Studies, Dies at 92, in: The Washington Post 4.1.2013; Matthew Rothschild, Gerda Lerner, Founder of Women’s History, in: The Progressive 4.1.2013; hier auch dessen AudioInterview. 2 Living History: A Documentary on Dr. Gerda Lerner – Her Life, Her Work, Her Vision, Regie Renata Keller: URL: http://www.livinghistorymovie.com. Eine Festschrift haben drei ihrer Schülerinnen schon früher publiziert: Linda K. Kerber, Alice Kessler-Harris, Kathryn Kish Sklar (Hg.), U. S. History as Women’s History: New Feminist Essays, Chapel Hill 1995; hier auch eine Bibliographie von Lerners Schriften, zusammengestellt von Thomas Dublin (S. 439–442).

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schon seit längerem bekannt, nämlich seit Lerners drittem Buch, »The Majority Finds its Past: Placing Women in History« (1979), das zwölf empirische und theoretische Aufsätze aus dem vorangegangenen Jahrzehnt, also aus der Frühzeit dieses neuen Felds, zusammenführt und dem sie eine autobiographische Einleitung vorangestellt hat; bald wurde es auch in Deutschland bekannt.3 Knapp und eher spröde benennt sie hier, was später auch ihre Autobiographie prägen wird: dass sie ursprünglich literarische Schriftstellerin (»creative writer«) werden wollte, dass sie nach der nationalsozialistischen Annexion Österreichs gerade noch ihre Matura ablegen konnte, bevor sie dann »Flüchtling wurde«. In den Vereinigten Staaten musste sie wechselnde un- und angelernte sowie unterbezahlte Jobs annehmen, heiratete, zog zwei Kinder groß und teilte als »Hausfrau, Schwangere, Mutter und Aktivistin der Stadtteilarbeit« die Erfahrungen »der meisten normalen Frauen«, wobei sie mit einer dynamischen Frauengruppe zusammenarbeitete. Immer wieder wird sie auch später Gewicht auf diese Feststellungen legen, vor allem, wenn sie der herkömmlichen Geschichtsschreibung vorwirft, dass sie Frauen übersehen habe, obwohl diese  – und sogar »bloße Hausfrauen« – oft höchst aktiv waren, bewusst und verantwortungsvoll agierten und sogar den Lauf der Geschichte beeinflussten. Mit 38 Jahren begann Lerner zu studieren und zwar an der New School for Social Research; hier gab sie noch als Studentin einen Kurs über »Great Women in American History« (das war damals höchst ungewöhnlich, auch wenn berühmte Frauen ein altes historisches Thema sind und im Übrigen die Identifizierung der Geschichte von Frauen mit der von »women worthies« bald kritisch gesehen werden sollte). 1963 folgte ihr Bachelor im Fach Geschichte und drei Jahre später, mit 46 Jahren, die Promotion an der Columbia University. Lerners druckreife Dissertation, die heutzutage ein Klassiker ist und damals zu ihrem ersten Buch wurde (1967), behandelt ein Thema, das ebenfalls zu einem klassischen geworden ist: weibliche Partizipation, oft gar führende, in der Antisklavereibewegung, die zugleich zum Kampf gegen die condition féminine wurde, weil in den 1830er und 40er Jahren öffentliches Auftreten von Frauen als unsittliche Provokation galt und (fast) gänzlich unmöglich war. Somit engagierten sich die abolitionistischen Schwestern Sarah und Angelina Grimké, Töchter eines Sklavenhalters, zugleich für die Rechte von Schwarzen und diejenigen von Frauen, nachzulesen in: »The Grimké Sisters from South Carolina: ­Pioneers for Woman’s Rights and Abolition«.4 Und in »Majority« verwies die Autorin 3 Gerda Lerner, The Majority Finds its Past: Placing Women in History, New York 1979, S. XIII–XXXII; (dt., allerdings stark verändert: Frauen finden ihre Vergangenheit. Grundlagen der Frauengeschichte, übers. v. Walmot Möller-Falkenberg, Frankfurt a. M. 1995). In Deutschland bekannt wurde das Buch vor allem durch Karin Hausen, Women’s History in den Vereinigten Staaten, in: GG 7 (1981), S.  347–363; Gisela Bock, Historische Frauen­ forschung: Fragestellungen und Perspektiven, in: Karin Hausen (Hg.), Frauen suchen ihre Geschichte, München 1983, S. 22–60. 4 New York 1998. Für die Erstauflage von 1967 hatte der Verlag allerdings einen Hinweis auf Frauenrechte abgelehnt; der Untertitel hieß »Rebels against Slavery«. Vgl. auch Lerners Quel-

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auch auf ihr zweites und drittes großes Buch: »Black Women in White America« (1972) ist eine breit angelegte kommentierte Quellensammlung, die ein damals völlig unbearbeitetes Thema behandelt und bis heute unersetzlich ist; »The Female Experience« (1977) ist ebenfalls eine Anthologie von ausführlich kommentierten Dokumenten aus drei Jahrhunderten, deren Periodisierung sich am Lebensweg von Geburt und Kindheit bis zu Alter und Tod ausrichtet.5 Beide Quelleneditionen waren unter anderem eine Antwort auf die damals und noch lange (nicht nur in den USA) aufgestellte Behauptung, es gäbe doch für die Frauengeschichte gar keine Quellen; dieser Einwand hat sich inzwischen sozusagen erledigt, demonstriert aber einige der Schwierigkeiten und den Widerstand, auf welche die neue Perspektive stieß. Unerwähnt bleibt in »Majority« Lerners viertes Buch, dessen Titel von Rainer Maria Rilke stammt und das Hinweise auf jüdische Verwandte Gerda Lerners enthält, die in der Folge des Holocaust verstorben waren: »Ein eigener Tod« (1978). Hier werden das achtzehnmonatige Leiden und Sterben ihres Ehemannes Carl (1973) – jüdischer Amerikaner der zweiten Generation und bekannter Filmemacher, an dessen Drehbüchern zuweilen auch Gerda mitarbeitete – ebenso wie das gemeinsame Ringen auf bewegende Weise dargestellt.6 Es ist interessant, dass Gerda Lerner in dem autobiographischen Entwurf von 1979 ihre jüdische Herkunft nicht erwähnt. Doch wenig später streifte sie diese Frage, wenn auch nur en passant, in ihrer Ansprache von 1982 als Präsidentin der Organization of American Historians (sie war erst die zweite Frau, die dieses seit 1907 bestehende Amt innehatte, nach der Frühneuzeitlerin Louise P. Kellogg in der Amtszeit 1930/31): »The Necessity of History and the Professional Historian«. Lerner integrierte diese Ansprache 1997 in ihre zweite Sammlung von Essays: »Why History Matters«, die im Deutschen den ausdrucksstarken Titel »Zukunft braucht Vergangenheit« bekommen hat.7 Der Untertitel »Life and Thought« deutet an, dass es hier ausführlicher um Autobiographisches geht, neben empirischen und theoretischen Arbeiten, die Lerner neu angepackt oder weitergeführt hat (etwa die Geschichte des gewaltfreien Widerstands). Sechs Besuche in Österreich und Vorträge für ein vorwiegend jüdisches Publikum in den USA Anfang der 1990er Jahre hatten den Anstoß zu ihrer lensammlung: The Feminist Thought of Sarah Grimké, New York 1998, und Kathryn Kish Sklar u. James Brewer Stewart (Hg.), Women’s Rights and Transatlantic Antislavery in the Era of Emancipation, New Haven 2007. 5 Gerda Lerner (Hg.), Black Women in White America. A Documentary History, New York 1972; dies., The Female Experience. An American Documentary, Indianapolis, IN 1977. 6 Gerda Lerner, A Death of One’s Own: Fragments of My Life, New York 1978 (dt.: Ein eigener Tod. Der Schlüssel zum Leben, übers. v. Ute Seeßlen, Düsseldorf 1979). Bekannt war Carl Lerner als Cutter des Films »Die zwölf Geschworenen« (1957) und, zusammen mit Gerda, als Drehbuchautor von »Black Like Me« (1964). 7 Gerda Lerner, Why History Matters. Life and Thought, New York 1997, S. 113–130 (dt: Zukunft braucht Vergangenheit. Warum Geschichte uns angeht, übers. v. Walmot Möller-Falkenberg, Königstein i.T. 2002). Die Ansprache vor der OAH auch in: JAH 69/1, 1982, S. 7–20.

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öffentlichen Befassung mit der Erinnerung an Leben und Verfolgung in Österreich gegeben; außerdem die erste deutsche Übersetzung eines ihrer Bücher (ihres sechsten), zu deren Vorstellung sie Deutschland bereiste: »The Creation of Patriarchy« (1986, deutsch 1991: »Die Entstehung des Partiarchats«), dem bald »The Creation of Feminist Consciousness« (1993/1995) folgte. Zusammen bilden sie ihr Opus magnum »Women and History«.8 Nun erfahren wir Genaueres über ihre Vita: Kurz nach der Annexion Österreichs im März 1938 war sie zusammen mit der Mutter verhaftet worden, weil ihre Haft den Vater, der sich aufgrund einer Warnung nach Liechtenstein hatte absetzen können, zur Rückkehr und »Arisierung« seines Besitzes zwingen sollte (er war Apotheker und Geschäftsmann). Es folgten sechs Wochen terroristischer Behandlung, Bedrohung und Unterernährung, am 30. April »feierte« Gerda ihren 18. Geburtstag im Gefängnis. Überraschend wurden die beiden Frauen dann entlassen und bemühten sich um Ausreisepapiere. Einen Monat vor dem Novemberpogrom schafften sie es, zum Vater nach Liechtenstein zu fliehen, wo dieser schon 1934 in weiser Voraussicht eine zweite Apotheke eingerichtet hatte und damit seiner Familie das Leben retten konnte. Unter den Titeln »Ein Netz von Zusammenhängen« und »Auf den Spuren der Katharer« reflektiert Gerda Lerner nun über ihr Anders-Sein als Jüdin (es wurde ihr mehr durch die eigene, assimilierte Familie vermittelt als durch die Außenwelt: Sie durfte sich weder mit Jiddisch-sprechenden noch mit nichtjüdischen noch mit Unterschicht-Kindern anfreunden und durfte nur Einser-Noten nach Hause bringen: »Juden bekommen keine Zweier«) und über den Einfluss ihres Jüdischseins auf ihre Hinwendung zur Geschichte von Frauen (in ihrer Wiener Jugend hatte sie die Unterordnung der Frauen in der jüdischen Gemeinde mit Befremden wahrgenommen, deshalb zuerst die Bat Mitzwa abgelehnt und dann nie mehr die Synagoge betreten: »meine ersten feministischen Aktionen ergaben sich aus meinen Erfahrungen als jüdische Frau«). Es folgen Betrachtungen über antisemitische Gewalt speziell in Österreich (die Deutschen mussten dazu »hingeführt werden«, aber aus den Österreichern »brach sie spontan hervor«) und der Bericht über eine Reise nach Südfrankreich (hier war ihre Mutter im Lager von Gurs inhaftiert gewesen, gleichzeitig mit ihrer Cousine Lisa Fittko, mit Hannah Arendt und Charlotte Salomon) sowie eine Reise durch Deutschland (»They have succeeded: Germany is judenrein«).9 Manches von dem, was in diesen bewegenden Seiten verhandelt wird, aber weitaus mehr Neues und Bedeutendes erscheint dann zu Beginn des jetzigen Jahrhunderts in dem großen Werk »Fireweed. A Political Autobiography«, das 8 Gerda Lerner, Women and History, Bd. I: The Creation of Patriarchy, New York 1986; Bd. II: The Creation of Feminist Consciousness: From the Middle Ages to Eighteen-seventy, New York 1993 (dt.: Die Entstehung des Patriarchats, Frankfurt a. M. 1991; Die Entstehung des feministischen Bewußtseins. Vom Mittelalter bis zur Ersten Frauenbewegung, Frankfurt a. M. 1995, beide übers. v. Walmot Möller-Falkenberg). Vgl. History Matters (wie Anm. 7), S. 3, 12, 18–20. 9 Lerner, History Matters (wie Anm. 7), Zitate S. 9 f., 19, 31 (Hervorhebung im Original).

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Gerda Lerners Vita in große Kontexte stellt. Bei seiner Abfassung reflektiert sie das Genre der Autobiographie historisch ebenso wie literarisch und nimmt außerdem die Gelegenheit wahr, sowohl als Historikerin wie als Schriftstellerin zu schreiben.10 Der Band präsentiert »the making of a historian« – allerdings explizit nur bis zum Jahr 1958, einem Tiefpunkt in Lerners Leben; deshalb stuft sie das Werk gleich zu Beginn als »partielle« Autobiographie ein, zumal ihre spätere, wie sie selbstironisch schreibt, »brilliante Karriere« ohnehin ein »offenes Buch« sei. Für Lerner bedeutete die Entscheidung, sich der Historiographie zuzuwenden, eine Abwendung von dem alten Traum, Sprach- und Literaturwissenschaft zu studieren; doch zugleich war sie der Anfang eines Weges vom »Outsider« – ein Zentralbegriff in ihrem Werk – zum »Insider«.11 In der Perspektive von »becoming  a historian« wurden Lerners Memoiren mit den fast gleichzeitig erscheinenden Memoiren von Historikerkollegen verglichen, die als Juden das Nazi-Reich verlassen hatten: des 1917 geborenen Eric Hobsbawm (»Interesting Times«, 2002) und von George L. Mosse, Lerners 1918 geborenem Freund und Kollegen an der Universität in Madison (»Confronting History«, 2000).12 In derselben Perspektive wurde ein halbes Jahr vor ihrem Tod ihr Leben und Werk auf einer Tagung des Deutschen Historischen Instituts in Washington über die »zweite Generation« deutscher emigrierter Historiker gewürdigt; anders als viele andere dieser Emigranten habe sie zum einen erst spät damit begonnen, explizit über ihren »Jewish and German background« zu reflektieren, und zum anderen sich nicht der Geschichte Deutschlands oder des Holocaust zugewandt, sondern derjenigen ihrer neuen Heimat.13 Und ebenfalls in bewusstem Unterschied zu anderen Emigranten, die oft in europäischen Zirkeln lebten (Lerner kannte selbst einige davon), wollte sie dezidiert Amerikanerin werden und beantragte deshalb schon früh die Staatsbürgerschaft und erhielt sie nach Ablauf der Residenzerfordernis im Juni 1943. Das geschah nicht ganz ohne 10 Lerner, Fireweed (wie Anm. 1), S. 3; vgl. dies., Autobiography, Biography, Memory, and the Truth, in: Living with History (wie Anm. 1), Kap. 8; dies., The Historian and the Writer, in: ebd., Kap. 9. 11 Zitate: Lerner, Fireweed (wie Anm. 1), S. 2 f., 368. Vgl. Karen Offen, The Making of a Historian, in: WRB 20/1 (2002), S. 4 f. 12 Mosse verstarb 1999 (er emigrierte 1933 aus Berlin), Hobsbawm 2012 (er emigrierte 1934, ebenfalls aus Berlin). Vgl. Liliane Weissberg, Becoming Historians, in: The Jewish Quarterly Review 95/1 (2005), S. 90–106 (zu Mosse, Lerner, Hobsbawm). Vgl. Thomas Welskopp, »Wir träumen in die Zukunft«. Nachruf auf Eric J. Hobsbawm (9. Juli 1917–1. Oktober 2012), in: GG 39 (2013), S. 116–124. 13 Marjorie Lamberti, Blazing New Paths in Historiography and in Academia: »Refugee Effect« and American Experience in the Professional Trajectories of Gerda Lerner and Hanna Holborn Gray, Beitrag zu dem Panel »Becoming a Historian«, referiert von Andreas W. Daum, The Second Generation: German Emigré Historians in the Transatlantic World, 1954 to the Present, in: Bulletin des German Historical Institute Washington Nr. 51 (2012), S. 116–121; vgl. Catherine Epstein, Fashioning Fortuna’s Whim: German-Speaking Women Emigrant Historians in the United States, in: Sibylle Quack (Hg.), Between Sorrow and Strength. Women Refugees of the Nazi Period, Cambridge 1995, bes. S. 312–316.

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Hindernisse, weil man sie zu ihrem Ärger als »German citizen« ansprach, aber umso mehr war sie sich der bürgerlichen Verpflichtungen und Loyalitäten bewusst, die ihr neuer Status mit sich brachte.14 Jetzt, in »Fireweed«, erfahren wir die Namen von Mutter und Vater (Ilona bzw. Ili und Robert Kronstein), denen das Buch gewidmet ist, und auch einiges über Gerda Kronstein selbst: Nach dem Wunsch ihrer Mutter, die aus Ungarn stammte und ein unkonventionelles, bohèmehaftes Leben führte, hätte sie – nach Ibsens Drama – Hedda heißen sollen, aber die Familie obsiegte; Gerdas jüngere Schwester wurde dann tatsächlich Nora genannt. Ili starb 1948, Robert 1957, und somit umfasst die »partielle« Autobiographie nicht nur die Zeit vor dem »becoming a historian«, sondern auch die Lebenszeit der Eltern. Gerda hat nach ihrer Auswanderung und zu ihrem großen Leidwesen die Mutter nicht mehr sehen können (deren ungarische Herkunft vereitelte auch Gerdas Bemühungen um ein Visum für die USA), aber einige Male noch den Vater, während sie viele Jahre lang kaum mehr Kontakt zu Nora hatte, nicht zuletzt wegen der sprachlichen Sensibilität der beiden – Gerdas langjähriger Verlust der deutschen Sprache, und damit das Zurückdrängen ihrer Herkunft und Jugend, war Teil des Preises, den sie für ihre Flucht zu zahlen hatte.15 Bei einer Auto­ biographie überrascht es nicht, dass Persönliches zur Sprache kommt; »Fire­ weed« indessen ist ein eindrucksvolles Exempel dafür, was der Slogan »the personal is political« ausdrückt, der 1970 aufkam: »Alles, was ich über Politik lernte, lernte ich zuhause.«16 Das Politische, also die Machtverhältnisse innerhalb des Persönlichen, betrafen nicht zuletzt die jüdische und die Geschlechter­ geschichte. Religiöse Divergenzen innerhalb der Familie – von der koscher lebenden väterlichen Großmutter über den »assimilierten« Vater, der aber zur Synagoge ging, bis zu der vollständig säkularen Mutter, die als Künstlerin leben wollte und Hausarbeit ablehnte, und schließlich den christlichen Gouvernanten – führten zu Eifersucht und Konflikten, zumal zwischen den beiden starken 14 Lerner, Fireweed (wie Anm.  1), S.  222–224; »Becoming An American« heißt der zweite Teil des Buchs. Die Österreicherin musste für die Ausreise einen neuen Pass benutzen, der sie zur »Deutschen« machte; die neuen Pässe galten ab Okt. 1938 (ich danke Klaus Voigt für diesen Hinweis). Zum Affidavit für die Immigration hatte ihr ein Wiener Freund verholfen, der schon vor ihr emigriert war; sie heirateten 1939, trennten sich 1940, und später kehrte er wieder nach Europa zurück. 15 Nora lebte zuerst in Großbritannien, dann in Israel, wo sie fast nur Deutsch sprach. Da Gerda kein Deutsch mehr sprach und die Divergenz zwischen britischem und amerikani­schem Englisch stark empfunden wurde, kam es zur sprachlichen Entfremdung: Living in Transla­ tion, Kap. 3 von: Lerner, History Matters (wie Anm. 7); dies., Fireweed (wie Anm. 1), S. 375. 16 Ebd., S. 39. Lerner wiederholte den Satz auf Deutsch, als sie an der Universität Graz ihre Auto­biographie präsentierte; vgl. die Audiodatei: URL: helsinki.at/in-memoriam-gerdalerner. Der Slogan trat 1970 auf; vgl. Carol Hanisch, The Personal Is Political, in: Notes from the Second Year: Women’s Liberation. Major Writings of the Radical Feminists, New York 1970; Genaueres unter URL: http://www.carolhanisch.org/CHwritings/PIP.html. Weitere Memoiren jener Anfänge analysiert Helen M. Bannan, The Personal is Political and Academic: Memoirs of Women’s Studies Pioneers, in: Feminist Collections 32/1 (2011), S. 1–5.

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und kompromisslosen Frauen. Im Alter von vierzehn Jahren war »das Persönliche für mich politisch geworden«, und mit der Verweigerung der Bat Mitzwa »war ich eine politische Person geworden.«17 Die Eltern entfremdeten sich; nach der Flucht aus Wien verließ Ili auch Liechtenstein und siedelte sich mit bescheidensten Mitteln an der Riviera an. Gerda besuchte sie dort noch, im März 1939, vor ihrer Abreise in die USA (wo sie im April ankam), war hin- und hergerissen »zwischen Liebe und Kampf« und empfand der Mutter gegenüber immer eine Art »Schuld der Überlebenden«.18 Politisch ist die Autobiographie aber noch in einem anderen Sinn, den die Autorin gleich zu Beginn erläutert. Aus komplexen Gründen habe sie bisher über ihre politische Vergangenheit geschwiegen, und dieses Schweigen solle nun gebrochen werden: Sie offenzulegen war ein Hauptmotiv für das Schreiben des Buchs. Dies bezieht sich auf dessen dritten Teil, »Becoming an American Radical« – die Zeit ab 1943, in der auch ihre Tochter geboren wurde (1945) –, und den vierten Teil, »In the Eye of the Storm«: Das war ihre und ihres Mannes Erfahrung mit der Jagd auf wirkliche und angebliche Kommunisten seit 1947 (in diesem Jahr kam der Sohn zur Welt), die den innenpolitischen Beginn des Kalten Kriegs kennzeichnete und bald »McCarthyismus« genannt wurde. Für Gerda, der er als Neuauflage der Nazi-Zeit erschien, hatte diese Erfahrung eine lange Vorgeschichte, denn aufgrund des österreichischen Bürgerkriegs 1934 und unter dem Schuschnigg-Regime hatte sie klandestin in der roten Widerstandsbewegung mitgearbeitet (wo sie auch in die Klassiker eingeführt wurde); von daher hatte sie, wie sie öfter schreibt, eine »Untergrundmentalität« bewahrt. Auch Carl, den sie 1941 heiratete, war Kommunist, und während des Kriegs, als noch der Liberalismus des New Deal dominierte, betätigte er sich als Gewerkschaftsorganisator in der Filmbranche Hollywoods. 1946 trat Gerda der Communist Party USA und zugleich dem soeben gegründeten Congress of American Women (CAW) bei, betrieb »grassroots«-Stadtteilarbeit in dem schwarzen Viertel, wo die Lerners in Los Angeles lebten – sie baute den Ortsverband Los Angeles auf und organisierte dabei hauptsächlich Hausfrauen, schwarze und weiße; außerdem gehörte sie zum regionalen und nationalen Führungspersonal des CAW. Dieser gehörte der gleichzeitig (in Paris) gegründeten Women’s International Democratic Federation an. Beide Organisationen setzten sich für Frieden als Koexistenz zwischen Sowjetunion und USA ein und hatten eine politisch gemischte Mitgliedschaft; einerseits war der CAW zunehmend sowjet­ kommunistisch dominiert, andererseits wurde er als Frauenorganisation von der CPUSA nicht ernst genommen.19 Die Kommunistenverfolgung setzte dem 17 Lerner, Fireweed (wie Anm. 1), S. 58, 42. 18 Ebd., S. 182, 207. 19 Vgl. ebd., bes. Kap. 14 u. 15. Vgl. auch Kate Weigand, Red Feminism: American Communism and the Making of Women’s Liberation, Baltimore, MD 2001; Francisca de Haan, Hoffnungen auf eine bessere Welt: Die frühen Jahre der Internationalen Demokratischen Frauenföderation (1945–1950), in: FSt 27/2 (2009), S. 241–257.

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Ehepaar Lerner heftig zu, denn sie zielte besonders auf das linke Hollywood, seit sich die »Hollywood Ten« geweigert hatten, vor dem berüchtigten House Committee on Un-American Activities auszusagen, und 1948 zu Haftstrafen verurteilt wurden. Mitte August 1949 zogen die Lerners nach New York, da Carl wegen der Denunziationen und Berufsverbote keine Arbeit mehr fand, und bald danach engagierten sie sich auch in der Civil Rights-Bewegung. Dieses letzte Drittel der Autobiographie ist ein spannendes Kapitel Zeitgeschichte  – während in der damaligen Wirklichkeit die Autorin eine fiktive Geschichte über das Wien der Jahre 1934 bis 1938 schrieb, in der sie selbst gut zu erkennen ist: also ein weiteres Stück Autobiographie. Ironischerweise konnte dieser Roman, den die sprachsensible Autorin erstmals und in vieljähriger Arbeit auf Englisch komponiert hatte, vorerst nur in deutscher Über­ setzung erscheinen, unter dem Titel »Es gibt keinen Abschied« im Globus-Verlag der Kommunistischen Partei Österreichs (1953), und außerdem unter einem Pseudo­nym, das der Name einer in Auschwitz ermordeten Tante war.20 Als »No Farewell« erschien er 1955 auch in der Originalsprache. Und Lerner erinnert sich, in welchen Etappen ihr Prozess der Loslösung von kommunistischer Identität und Organisation, der Einsicht in »Irrtümer und Verbrechen« der Sowjetunion verlief, und an die Scham, die sie wegen ihrer früheren Intransigenz verspürt hat.21 Ende der 1950er Jahre war jener Prozess abgeschlossen. Fünfzig Jahre später konnte sie formulieren  – in »A Life of Learning«, ihrem letzten explizit autobiographischen Text –, dass sie angesichts der Brüche und Neuanfänge in ihrem Leben wechselweise oder sukzessive Outsider (als Frau, Jüdin, Immigrantin und »radical«) und Insider (als »institution-builder« und respektiertes Mitglied ihrer Profession) gewesen sei.22 Gerda Lerners Weg vom Outsider zum Insider lässt sich auch in sprachlich-literarischer Hinsicht illustrieren: Er führte von 1940, als sie mit ihrem Mann anhand des Zungen­ brechers »Mae West is wearing a vest« amerikanische Aussprache übte, bis zum Jahr 2002, als sie – die erste Frau – mit dem Bruce Catton-Preis geehrt wurde, durch den die exklusive Society of American Historians besondere litera­rische Verdienste in der Geschichtsschreibung auszeichnet und sie zwischen zwei große Männer des Fachs platzierte: Bernard Bailyn (2000) und David Brion Davis (2004). Sie freute sich, auch über die weiteren Auszeichnungen und Ehren20 Margarete Rainer, Es gibt keinen Abschied. Ein Wiener Roman, Wien 1953 (19553); zur Bedeutung des Pseudonyms vgl. die in Anm. 16 genannte Audiodatei. Die (in dem Buch nicht genannte)  Übersetzerin, damals der KPÖ angehörig, wird gewürdigt in: Beatrix MüllerKampel (Hg.), Edith Rosenstrauch-Königsberg: Von der Metallschleiferin zur Germanistin. Lebensstationen und historische Forschungen einer Emigrantin, Wien 2001, bes. S. 61 f. 21 Lerner, Fireweed (wie Anm. 1), S. 269–271 (sie wollte einer Verwandten in Budapest nicht glauben, dass es im Kommunismus Antisemitismus gebe) u. S. 369–371. 22 Gerda Lerner, A Life of Learning. Charles Homer Haskins Lecture, hg. vom American Council of Learned Societies, Occasional Paper no. 60, 2005 (URL: http://www.acls.org/Publications/OP/Haskins/2005_GerdaLerner.pdf); auch in: Living with History (wie Anm. 1), Zitat S. 23.

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doktorhüte, erklärte aber in einem Interview mit der Organization of American Historians, dass der Doktorhut »also symbolized the millennium of exclusion of women from universities.« Sie wollte dieses Symbol transformieren, trennte die (bis dahin) vierzehn Hüte auf und gab die kostbaren Stoffe einem Experten, der nach ihrem Entwurf einen kunstvollen Quilt herstellte, um eine traditionelle Kunst von Frauen zu ehren.23

II. Eine intellektuelle Revolution Gerda Lerners Weg von der Außenseiterin zur Insiderin war großenteils identisch mit der Entdeckung von Frauengeschichte und der Etablierung von Frauengeschichtsschreibung bzw. Historischer Frauenforschung: eine – wie Lerner mit ihrer unverwüstlichen Kombination von Enthusiasmus und Präzision formuliert – »intellektuelle Revolution, die den Frauen ihre Geschichte wiedergab und sie ins Zentrum des intellektuellen Diskurses stellte«.24 Zudem legte diese Revolution den impliziten, oft auch expliziten Androzentrismus der traditionellen Geschichtsschreibung offen und transformierte die Historiographie grundsätzlich und breitenwirksam (wenn auch keineswegs überall). Wesentlich für diese Revolution war neben ihrer intellektuellen Seite ihr Charakter als politisch-akademische Bewegung und Organisationstätigkeit, die Frauengeschichte inner- und außerhalb von Universitäten einführte und durchsetzte: Die damalige Frauenbewegung transformierte sich in Teilen zu einer Frauengeschichtsbewegung, in der Gerda Lerner eine führende Rolle spielte. 1969 war sie Mitgründerin des Coordinating Committee of Women in the Historical Profession, das sich der American Historical Association anschloss und seither zahlreiche Reformen im Status von Historikerinnen bewirkt hat, insbesondere in Bezug auf transparente Berufungen, Gehaltsgleichheit und Karriereablauf. Berühmt und seit 2004 am Ort mit einer Erinnerungstafel versehen ist Lerners Kreation eines allerersten Master of Arts-Curriculums für ­»Women’s History« am Sarah Lawrence College in Bronxville, NY (wo sie seit 1968 un23 Lee W. Formwalt, Demystifying and Rethinking the Study of History: An Interview with Gerda Lerner, in: Organization of American Historians Newsletter, November 2006. Weitere Ehrungen: der Roy Rosenzweig-Award der American Historical Association (2002), in Österreich der Käthe-Leichter-Preis (1995) sowie der Bruno-Kreisky-Preis (2006), insgesamt 18 Ehrendoktorate, u. a. von der Universität Wien (1997) u. der Hebrew University of Jerusalem (2004). 24 Lerner, Fireweed (wie Anm.  1), S.  2; vgl. dies., Living with History (wie Anm.  1), S.  178. Heute ist es nicht mehr möglich, einen knappen Überblick über diese Revolution zu geben. Einen guten Einstieg bietet die International Federation for Research in Women’s History (gegründet 1987): URL: http://www.ifrwh.com/index.html; außerdem Bonnie G. Smith, Women’s History: A Retrospective from the United States, in: Signs 35/3 (2010), S. 723–747; sowie Round Table: Women’s and Gender History, in: JAH 99/3 (2012), S. 793–838.

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terrichtete); es wurde 1972 eingeführt und wurde bald zum legendären Modell für viele ähnliche Programme.25 Als im Oktober 1974 die Berkshire Conference on the History of Women erstmals eine Riesendimension annahm – rund 2.000 Menschen versammelten sich im Radcliffe College in Cambridge –, trug Lerner Grundsatzreflexionen vor, die zusammen mit denen von Natalie ­Zemon Davis und einigen Anderen langfristige Perspektiven eröffneten (und sicher nicht nur mich der Frauengeschichte zugeführt haben). Es war die Zeit und der Ort, als man den neuen Begriff »gender« zu benutzen begann, neben »sex« (und bevor er theoretisiert wurde), und versuchte, die Konsequenzen davon abzustecken, dass Frauen nicht etwa eine marginale oder »unterdrückte« Gruppe oder gar Minderheit seien, sondern eine (potentielle) Majorität, eben »ein Geschlecht«.26 1979 veranstaltete Lerner ein Seminar für Aktivistinnen, die in außeruniversitären Frauenorganisationen tätig waren, und daraus ging die »Women’s History Week« hervor, die bis heute breiten öffentlichen Zuspruch findet; in seiner schon erwähnten Proklamation, die später auch von Präsident Obama erneuert wurde, zitierte Präsident Carter die Professorin: »Women’s history is women’s right – an essential, indispensable heritage from which we can draw pride, comfort, courage, and long range vision.«27 Ein Jahrzehnt dauerte es, bis das vor allem von Lerner angestoßene, von vielen Archivarinnen und Archivaren getragene und von Stiftungen finanzierte Projekt verwirklicht wurde, das sie selbst für ihr »effizientestes und wichtigstes« hielt: eine Umstrukturierung der amerikanischen Archive, durch welche die bisher (unter männlichen und geschlechtsneutralen Suchbegriffen) verborgenen Quellen zur Frauengeschichte sichtbar katalogisiert wurden.28 An die Wisconsin-Universität in Madison wurde Lerner 1980 vorzüglich deshalb berufen, um hier innerhalb des Fachs »American History« einen (landesweit ersten) Promotionsstudiengang für Frauengeschichte einzurichten; er wurde ebenfalls zum Vorbild. In und um Madison entdeckte die Historikerin bald einstige Aktivistinnen, deren Geschichte – rekonstruiert mittels Oral History – das Vorurteil widerlegten, es 25 Gerda Lerner, The M. A. Program in Women’s History at Sarah Lawrence College, in: Living with History (wie Anm. 1), S. 52–69. Die Erinnerungstafel: URL: http://www.slc.edu/newsevents/news/2013–01–08-gerda-lerner-nr.html. 26 Vgl. Lerner, Majority (wie Anm. 3), bes. S. 152, 157, 170. Lerners Vortrag: Placing Women in History: Definitions and Challenges, in: FS 3/1–2 (1975), S. 5–14. Die beiden Hefte des 3. Bands von Feminist Studies enthalten noch weitere Vorträge, die wegweisend wurden, etwa von Nancy F. Cott, Natalie Zemon Davis, Ellen DuBois, Thomas Dublin, Alice Kessler-Harris, Kathryn Kish Sklar, Carroll Smith-Rosenberg. 27 Die Proklamation z. B. unter: URL: http://www.nwhp.org/whm/history.php. Obama’s Proklamation: URL: http://www.whitehouse.gov/the-press-office/2011/02/28/presidential-proclamation-womens-history-month-2011. Vgl. Living with History (wie Anm. 1), S. 65–67. 28 Gerda Lerner, Women Among the Professors of History: The Story of a Process of Transformation, in: Living with History (wie Anm. 1), Kap. 2, bes. S. 48 f.; das Ergebnis war: Andrea Hinding (Hg.), Women’s History Sources: A Guide to Archives and Manuscript Collections in the United States, New York 1979.

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habe keine Kontinuität zwischen der »alten« und der »neuen« Frauenbewegung gegeben.29 Inner- wie außerhalb der Universität kämpfte Lerner um Respekt, Anhänger und Finanzierung für Historische Frauenforschung, war eine ebenso strenge wie passionierte Lehrerin (eine ihrer Lektionen war, dass seriöse Historiographie ein feministisches Engagement ebensowenig ausschließt wie andere Formen von zivilgesellschaftlichem Einsatz) und war weithin bekannt für ihre energische, zielgerichtete und oftmals ungeduldige Aktivität. In dem keineswegs homogenen neuen Wissenschaftsfeld, das sich in Lerners zweiter Lebenshälfte herausbildete, stand und warb sie für bestimmte Konzepte, von denen hier vier umrissen seien. Erstens plädierte sie von Anfang an für eine komplexe Vision der Geschlechterbeziehungen: dafür, für die condition féminine den Begriff »Unterdrückung« (»oppression«) durch »subordination« zu ersetzen und damit anzuerkennen, dass Männerdominanz nicht immer auf Gewalt basiere, sondern auch auf weiblicher Kollusion, Abhängigkeit oder Freiwilligkeit, und dass sie eine qualitativ andere Art von Herrschaft sei als alle anderen. Umgekehrt seien Frauen keineswegs immer und bloße Opfer, und ihre Viktimisierung gehe fehl; demgegenüber argumentierte Lerner seit ihren frühesten Schriften, dass Frauen Akteurinnen seien, deren historische agency aufgedeckt werden müsse. Zweitens hob sie immer wieder die weibliche Hausarbeit hervor (sie hatte sich damit schon in ihrer kommunistischen Frauengruppe der 1940er Jahre intensiv befasst); diese »unpaid labor of love« habe sich zwar historisch gewandelt, sei aber als wichtige und ebenso unsichtbare wie unbezahlte Arbeit nach wie vor der Grund für die Unterbewertung auch außerhäuslicher Frauenarbeit. Im Übrigen sei diese Tätigkeit – so Lerner 1977 auf einer Konferenz über Hausarbeit und Kinderversorgung und erst recht im Jahr 2000 auf einer Tagung über Weltgeschichte – fast die einzige, die eine Verallgemeinerung erlaube: Die überwältigende Mehrheit der Frauen (und so gut wie nur Frauen) verrichten diese Arbeit, ungeachtet von Klasse, Rasse und Zivilstand. Und Lerner beklagte, dass junge Feministinnen heutzutage Hausfrauen für einfältig und rück­ständig hielten.30 Drittens war ihre Reflexion über die Bedeutung von Geschichte und Geschichtsschreibung, auch für die Gegenwart, essentiell für ihr Werk. Frauen hätten, zumal in ideengeschichtlicher Perspektive, zu beidem grundsätzlich ein anderes Verhältnis als Männer. Denn diese standen immer im Zentrum der Geschichtsschreibung, während in der wirklichen Geschichte Frauen keine geringere Rolle gespielt hatten als Männer: Das war Lerners feste Überzeugung, 29 Gerda Lerner, Midwestern Leaders of the Modern Women’s Movement, in: Living with History (wie Anm. 1), Kap. 5 u. S. 199–208. 30 Vgl. Lerner, Fireweed (wie Anm. 1), S. 261–264; dies., Just a Housewife, in: Majority (wie Anm. 3), bes. S. 129 (Zitat), S. 140; dies., Women in World History, in: Living with History (wie Anm. 1), Kap. 6, hier bes. S. 60 f., 108 f.; dies., »Just a Housewife«, in: Female Experience (wie Anm. 5), S. 108–147; dies.,Rethinking the Paradigm: I. Class, II. Race, in: History Matters (wie Anm. 7), S. 146–198, hier S. 179–181.

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in Anlehnung an Mary Ritter Beards »Woman as  a Force in History« (1946) und in Absetzung von Simone de Beauvoir, die in »Le Deuxième Sexe« (1949) Frauen eine eigene Geschichte absprach. Die Ausführung jener These in den beiden Bänden von »Women and History« und vor allem im zweiten Band, »The Creation of Feminist Consciousness: From the Middle Ages to Eighteen-seventy« (1993), gehört zum Originellsten und Wegweisendsten, was Lerner geleistet hat; sie verknüpft die Frage nach Frauen als (potentiellem) Subjekt und Objekt von Geschichtsschreibung mit der Frage nach weiblicher Kritik an der Geschlechterordnung. Der Ausschluss aus (tradierter) Geschichte, Bildung und Bibliotheken war in Lerners Sicht nicht nur irgendeine Deprivation, sondern die gravierendste, denn sie beraubte Frauen der Überlieferung und Erinnerung. Erinnerungswürdiges wird nunmehr rekonstruiert, nämlich zahlreiche proto-feministische Stimmen, die sich seit Jahrhunderten gegen das Postulat von weiblicher Inferiorität erhoben und ihm die intellektuelle Kompetenz von Frauen entgegensetzten: angefangen von scharfsinniger Kritik an der Bibel, besonders der Genesis, bis zur jahrhundertelangen »Querelle des femmes« (Lerners Überblick ist inzwischen noch vielfach ergänzt worden). Wegen des Mangels an historischer Erinnerungskontinuität, weil sie also nicht (wie es einst hieß) »auf den Schultern von Riesen« zu stehen vermochten, mussten die Proto-Feministinnen – so Lerners berühmt gewordene Formel – immer wieder »das Rad neu erfinden«, bis schließlich die Frauenbewegung beginnend im 19. Jahrhundert den Zugang zu Bildung erkämpfte und somit auch die Historiographie nicht mehr nur den Männern überlassen werden sollte. Zugrunde liegt dieser Rekonstruktion nicht zuletzt Lerners »insight that the relation of men and women to the knowledge of their past is in itself a shaping force in the making of history.«31 Viertens betonte und elaborierte Lerner die Spannung zwischen Gemeinsamkeiten von Frauen (etwa eben jene unbezahlte Hausarbeit, vor allem aber die Unsichtbarkeit von Frauen in der Geschichtsschreibung) und gravierenden Unterschieden. »Differences« unter Frauen (und damit auch unter Männern) wurde eines ihrer großen Themen, und zwar in erster Linie diejenigen zwischen Afro- und Euro-Amerikanern: angefangen mit ihrer Dissertation zu Sklaverei und Abolitionismus über »Black Women in White America«, zahlreiche Kapitel und einzelne Aufsätze bis hin zu theoretischen Reflexionen über »Rasse«, Ethnizität, Nationalität und sonstige »Differenzen«.32 Sieben ihrer­ 31 Zitate: Lerner, Consciousness (wie Anm. 8), S. 166; dies., Patriarchy (wie Anm. 8), S. 7. Zur Weiterführung dieser Themen vgl. Bonnie G. Smith, The Gender of History. Men, Women, and Historical Practice, Cambridge, MA 1998; Karen Offen, European Feminisms, 1700– 1950: A Political History, Stanford, CA 2000; Juliane Jacobi, Mädchen- und Frauenbildung in Europa. Von 1500 bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2013; zur »Querelle des femmes« vgl. das einschlägige Kap. im vorliegenden Band. 32 Vgl. oben, Anm. 4 u. 5; Kap. 5 und 6 in: Lerner, Majority (wie Anm. 3; beide nicht in der deutschen Fassung), ferner Kap. 7; dies., The Female Experience (wie Anm. 5); dies., Dif­ ferences Among Women, in: History Matters (wie Anm. 7), Kap. 10; dies., Rethinking the Paradigm (wie Anm. 30).

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Bücher stellte sie eine »Note on Style« voran, in der sie erklärt, wie sie mit den Begriffen für schwarze Menschen umgeht, die sich in den Quellen und in ihrer Lebenszeit so sehr gewandelt haben und immer einen hohen Symbolwert hatten: von »­ Negro« im 19. Jahrhundert, was nicht notwendig pejorativ war (dafür gab es »nigger«) und oft auch eine Selbstbezeichnung von Schwarzen war, über »colored people« im frühen 20. Jahrhundert, »black« und »Blacks« der 1940er bis 1970er Jahren bis zu »Afro-American« und neuerdings (ins Deutsche nicht übersetzbar) »African-American«. Als strenge Historikerin entschied sie sich, den jeweiligen Quellenbegriff zu benutzen und ansonsten dem Sprachgebrauch zu folgen, der sich aus den Begriffs- und Symbolkämpfen ergab. Auch geht es ihr um die Begriffe »Rasse« und »rassisch«, die (natur-)wissenschaftlich zweifelhaft und unhaltbar sowie selber ein Produkt von Rassismus, aber nicht immer zu umgehen sind (weswegen Anführungszeichen stehen sollen). Angesichts ihres Engagements für die damals entstehende »Black Women’s History« gilt Lerner, die Euro-Amerikanerin jüdischer Herkunft, weithin – und zu Recht – als Pionierin einer Fragestellung, die sich breitenwirksam erst allmählich und auf Druck afro-amerikanischer Aktivistinnen und Historikerinnen durchgesetzt hat.33 Viel später hat sie dann darüber reflektiert, warum sie sich dreißig Jahre lang schwarzen, nicht aber jüdischen Frauen zugewandt hatte. Der Grund sei ein doppelter gewesen: Weil sie beschlossen hatte, Amerikanerin zu sein, hatte sie die Problematik dieses Landes zu akzeptieren, und »die Rassenfrage war das fundamentale Problem Amerikas.« Ferner wollte sie, da sie Nationalismus nur als zerstörerisch wahrgenommen hatte, sich nicht zu einer (jüdischen) Nationalität bekennen, zumal die Juden in den USA eine »relative Freiheit« genossen. Insgesamt hielt sie fest: »It is not ›difference‹ that is the problem«, sondern »dominance justified by appeals to constructed differences.«34 Zu den »Unterschieden« zwischen Frauen (und dementsprechend auch zwischen Männern), die Gerda Lerner schon früh hervorhob, gehörte auch die Klassenzugehörigkeit. Bei deren Studium konnte sie zudem – meist kritisch – auf ihre Vertrautheit mit der sozialistischen und marxistischen Literatur in der Zeit, als sie der Old Left zugehörte, zurückgreifen. Aber auch gegenüber der New Left empfand sie sich als Outsider, nämlich als sie sich – wegen ihrer neueren Skepsis gegen »all true believers« – aus den heftigen amerikanischen Debatten der 1970er und 1980er Jahre um marxistischen Feminismus oder feminis­ 33 Vgl. bes. Gloria T. Hull, Patricia Bell Scott u. Barbara Smith, All the Women Are White, All the Blacks Are Men, but Some of Us Are Brave: Black Women’s Studies, Old Westbury, NY 1982; Evelyn Brooks Higginbotham, Beyond The Sound of Silence: Afro-American Women in History, in: G&H 1/1, 1989, S. 50–67. Dazu heute besonders Darlene Clark Hine (Hg.), Black Women in America: An Historical Encyclopedia, Bloomington 1994; Deborah Gray White (Hg.), Telling Histories: Black Women Historians in the Ivory Tower, Chapel Hill 2008. 34 Lerner, History Matters (wie Anm. 7), S. 15–17, 198 (Zitat). In Lerners »Class Syllabus for Workshop on the Construction of Deviant Out-Groups« werden auch die Juden als solche Gruppe behandelt; abgedruckt in: dies., Living with History (wie Anm. 1), S. 208–217.

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tischen Marxismus heraushielt.35 Zum Klassiker wurde ihr früher Aufsatz über »The Lady and the Mill Girl« in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Ungelernte Industriearbeit galt als Frauenarbeit der Armen, die Lady wurde zum Ideal der höheren Stände, und – so das Ende des Aufsatzes ermunternd – beide Seiten mussten lernen zu kooperieren, bis sie zusammen das Frauenwahlrecht erringen konnten.36 Lerner kritisierte die traditionelle Linke, weil sie »Klasse« lediglich ökonomisch und auch die Frauenemanzipation nur als ökonomische definierte, und diese überdies als Nebenwiderspruch. Doch an den Begriff »Klassenbewusstsein« lehnte sie sich gern an, als sie das Konzept »feministisches Bewusstsein« schuf und historiographisch umzusetzen suchte.37 Bevor sie dessen tausendjährige Entstehungsgeschichte schrieb, hielt sie es für nötig, einen »Umweg« zu machen und zuerst einmal »The Creation of Patriarchy« zu untersuchen und sich dabei von der Wirkmacht der sozialistischen Säulen­heiligen abzusetzen. So tauchte Lerner mutig und für viele Jahre in die Geschichte des Alten Orients ein und fand, dass keineswegs, wie Friedrich Engels gemeint und August Bebel es übernommen hatte, die Entstehung von Privateigentum und damit von Klassenstrukturen der Entstehung des Patriarchats vorangegangen sei (und deshalb die Frauenemanzipation auf den Sozialismus warten oder gar vertrauen müsse); vielmehr sei es umgekehrt gewesen. Da es zudem kein Mutterrecht oder Goldenes Zeitalter für Frauen gegeben habe, sei auch Engels’ These von dessen Umsturz als (so seine berühmte Formel) »weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts« hinfällig. Stattdessen sei die Entstehung des Patriarchats bzw. die Subordination von Frauen  – so interpretiert sie virtuos die schwierigen Quellen – ein lang hingezogener Prozess gewesen, in dessen Verlauf (ca. 3.100 bis 600 v. Chr.) einerseits die Behandlung von Frauen der eigenen Gruppe und andererseits die Versklavung der Frauen von männlichen Kriegsgegnern (letztere wurden getötet) im Kontext der archaischen Staatsbildung eine bedeutende Rolle gespielt hatten; Frauen der höheren Klassen seien bei diesem Prozess in der Regel »Komplizinnen« ihrer Männer gewesen. Ökonomisches sei zwar wichtig, aber ebenso seien es Sexualität, Fertilität sowie symbolische und religiöse Formen: Die Entthronung weiblicher Götter sei im hebräischen Monotheismus kulminiert, der Bund zwischen Gott und den Menschen habe auf der Unterordnung der Frauen basiert, und dies habe, zusammen mit Aristoteles, die westliche Zivilisation geprägt. Gewiss gab es an dieser Langzeitgeschichte manche Kritik  – etwa an den Begriffen »Klasse«, »Patriarchat« und manchen feministischen Konzepten –, aber im Großen und Ganzen hielt 35 Lerner, Fireweed (wie Anm.  1), S.  370 f.; vgl. dies., History Matters (wie Anm.  7), S.  151, Anm. 7. 36 Dies., The Lady and the Mill Girl: Changes in the Status of Women in the Age of Jackson [1969], in: Majority (wie Anm. 3), S. 29 f. 37 Zu Lerners Definition von »feministischem Bewusstsein« und zur Anlehnung an »Klassenbewusstsein« siehe Lerner, Consciousness (wie Anm. 8), S. 14 u. 284, Anm. 9. »Patriarchat« benutzt Lerner sowohl für ältere Vater- als auch für modernere Männerherrschaft.

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Lerners »tremendous achievement« nicht nur weitgehend stand,38 sondern erhielt auch viel Lob, Übersetzungen und den renommierten Joan-Kelly-Preis der American Historical Association. Mit ihrer Betonung von »differences« unter Frauen (und Männern) und ihrem Fokus auf »Rasse« und »Klasse« – je nach Situation kommen auch Ethni­ zität, Religion, Alter und Zivilstand hinzu – hat Gerda Lerner etwas praktiziert, was seit der Jahrtausendwende als vermeintliches Novum eingefordert wird und dessen neuen Begriff sie nicht benutzte: »Intersektionalität«. Allerdings hat sie es nicht auf Kosten der Frauengeschichte praktiziert, als De-­Zentrierung der Frage nach Geschlechterbeziehungen, sondern im Gegenteil.39 Dabei ist Lerner zunehmend dahin gekommen (hierin unterscheidet sie sich von manchen anderen), die diversen »Kategorien« oder Faktoren von Differenz erstens dezidiert als Machtverhältnisse zu konzipieren, zweitens als weitgehend variabel,40 und sie drittens nicht als historisch separate, sondern eng miteinander interagierende zu analysieren. Wie immer sucht sie präzise zu definieren: »Geschlecht, Rasse, Ethnizität und Klasse sind Prozesse, durch die hierarchische Beziehungen in einer Weise geschaffen und aufrechterhalten werden, dass manche Männer Macht und Privilegien im Verhältnis zu anderen Männern und zu allen Frauen erhalten, indem sie die Kontrolle über die Verteilung der materiellen Ressourcen, über die Aneignung sexueller und reproduktiver Fähigkeiten, über den Zugang zu Bildung und Wissen ausüben.«41 Auch gegenüber anderen neu aufkommenden Konzepten war Gerda L ­ erner zurückhaltend. Während seit Ende der 1980er Jahre in den Augen vieler die »women’s history« als Historische Frauenforschung durch eine als fortschrittlicher oder radikaler geltende »gender history«/Geschlechtergeschichte überholt wurde, ging Lerner diesen Weg nicht zur Gänze mit: »Women’s History« (als Wissensfeld bei ihr groß geschrieben) blieb durchgängig ihr Anliegen, bis hin zu deren Integration in die neueste »World History«, die sie entschieden befürwortete.42 Selbstverständlich benutzte sie die einst (relativ) neue Rede von »gender« als sozialem und historischen Konstrukt (abgegrenzt von »sex«), wie sie sich seit Mitte der 70er Jahre verbreitete, sah sie als nützliches und span38 So Nancy Barnes, The Creation of Patriarchy by Gerda Lerner, in: Signs 13/4 (1988), S. 857– 859. Weitere wichtige Rezensionen: Deborah Gewertz, in: American Ethnologist 15/3 (1988), S. 595 f.; Torben Hviid Nielsen, in: Acta Sociologica 30/2 (1987), S. 229–232; Gail Omvedet, in: Economic & Political Weekly 22 (1987), S. WS70-WS72; Elizabeth Fox-Genovese, in: Journal of the American Academy of Religion 55/3 (1987), S. 608–613. 39 Vgl. Gudrun-Axeli Knapp, »Intersectionality«. Ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von »Race, Class, Gender«, in: FSt 23/1 (2005), S. 68–81; u. das Schwerpunktheft über »Intersektionalität«: FSt 27/1 (2009). 40 Ein Beispiel ist ihre Selbsteinordnung: »I have changed cultures and languages, nationality and class« (Lerner, Living with History [wie Anm. 1], S. 23). 41 Dies., Rethinking the Paradigm (wie Anm. 30), S. 196. 42 Dies., Women in World History (wie Anm. 30), S. 103–113. Vgl. dazu Bonnie G. Smith (Hg.), The Oxford Encyclopedia of Women in World History, Oxford 2008.

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nendes Analyseinstrument, als »analytical category«, deren Erfindung sie 1977 Joan Kelly zuschrieb und die kurz zuvor zur Konzipierung eines »sex-gender system« (Gayle Rubin 1975) geführt hatte, das Lerner ebenfalls gern übernahm; sie suchte jene Kategorie auch sprachlich weiterzuentwickeln, indem sie das Adjektiv »genderic« erfand, das sich aber nicht durchsetzte.43 »Gender history« war ihr wichtig – als eine der Innovationen der 80er Jahre, neben Lesbian, Gay und Sexualitäts-Geschichte –, aber weder als eigener plakativer Titelbegriff noch als Ersatz für »Women’s History«; deren Voranschreiten sah sie vielmehr in der Erforschung immer neuer Konstellationen, Fragestellungen, Räume und Zeiten. Für diese Position hatte sie diverse Gründe, deren Relevanz zumindest teilweise auch heute noch (oder wieder) Gültigkeit haben mag. Durch drei Elemente lässt sich die »gender history« charakterisieren, wie sie seit Mitte der 1980er Jahre als »nützliche Kategorie historischer Analyse« konzipiert wurde: Erstens stelle sie, so hieß es, die Frage von Macht innerhalb der Geschlechterbeziehungen neu und radikaler; zweitens erfordere sie poststrukturalistische, postmodernistische, dekonstruktionistische Analyseweisen, die sich primär auf Symbole und Repräsentationen richten und Geschlecht als diskursives Konstrukt aufzeigen; drittens erlaube sie die Konzipierung von »Männergeschichte« als Geschichte von Männlichkeit bzw. von Männern als Geschlecht und befördere somit eine geschlechterübergreifende Geschichtsschreibung.44 Doch für Gerda Lerner bedurfte es, um nach den Machtbeziehungen zwischen (und was ihr eminent wichtig war: auch innerhalb) der Geschlechter zu fragen, nicht notwendig einer neuen Kategorie oder gar Disziplin, denn es war immer schon ihre wichtigste Fragestellung. Deshalb beeinträchtigte es sie vielleicht kaum, dass von kompetenter Seite zur Jahrhundertwende postuliert wurde, »gender« sei nunmehr »not a particularly useful category of analysis« für feministische Forschung.45 Gegenüber den dekonstruktionistischen 43 Lerner, The Challenge of Women’s History [1977], in: Majority (wie Anm. 3), S. 172 u. 207, Anm. 2; dies., History Matters (wie Anm. 7), S. 136 (»genderic«). Vgl. Joan Kelly-Gadol, The Social Relation of the Sexes: Methodological Implications of Women’s History, in: Signs 1/4 (1976), S. 809–824; Gayle Rubin, The Traffic in Women. Notes on the »Political Economy« of Sex, in: Rayna Reiter (Hg.), Toward an Anthropology of Women, New York 1975. Hier ist nicht der Ort, die lange Debatte »gender history vs. women’s history« zu umreißen, erst recht nicht das Verhältnis von »gender history« und »gender studies«. Lerner plädierte jedenfalls dafür, Frauengeschichte »intellektuell und institutionell« separat von »Gender Studies« zu betreiben: Lerner, Living with History (wie Anm.  1), S.  175. Zum Folgenden: ebd., S. 103, 164, 167. 44 Zu jenen zuweilen heftigen Debatten in den USA: Smith (wie Anm. 24); Joan W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: AHR 91/5 (1986), S. 1053–1075. In History Matters (wie Anm. 7), S. 221, Anm. 5 stimmt Lerner der (nicht nur) Scottschen Frage nach Machtverhältnissen völlig zu. 45 Joan W. Scott, Feminism’s History, in: JWH 16/2, 2004, S. 10–29, Zitat S. 20 f.; ebenso dies., Millenial Fantasies: The Future of »Gender« in the 21st Century, in: Claudia Honegger u. Caroline Arni (Hg.), Gender. Die Tücken einer Kategorie, Zürich 2001, S. 19–37, bes. S. 20, 31, 34 f.

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Ansätzen blieb sie skeptisch, weil sie für ihre eigenen Fragestellungen nicht nützlich seien; angesichts der Studien zu Symbolen und Repräsentationen, deren Überwiegen sie im Jahr 2004 in einer Stellungnahme zu Stand und Zukunft der Historischen Frauenforschung bedauerte, wünschte sie sich, dass stärker die »agency« von Frauen, deren vielfältige Aktivitäten und »differences« studiert werden sollten, auch mit Methoden der Sozialgeschichte. Historisierung war ihr wichtiger als Dekonstruktion.46 Das war keineswegs ein Rekurs auf schieren Positivismus, denn Lerner wusste bestens, dass »left to themselves, the facts do not speak« und dass Geschichtsschreibung letztlich eine »imaginative reconstruction« sei; vielmehr war es eine Reaktion darauf, dass der Dekonstruktionismus oft den sozialen Kontext ausschloss und die »agency« explizit oder implizit bestritt.47 Was das dritte Element betrifft: Gerda Lerners »Women’s History« schloss das männliche Geschlecht niemals aus, allein schon wegen ihres Fokus auf »differences«. »Men’s history« war für sie solche Geschichtsschreibung, die sich hauptsächlich auf Männer konzentrierte, meist von Männern betrieben wurde, nun aber durch »Women’s History« transformiert werden sollte. Eine zusätzliche und explizit separate »men’s history« gab es für sie offenbar nicht. »Männergeschichte« war in ihren Augen nicht eine intellektuelle Revolution (wie die frauengeschichtliche), sondern eine Fortsetzung der herkömmlichen Geschichtsschreibung mit allerlei Innovationen. Bezüglich einer wahrhaft geschlechterübergreifenden, »universalen« Geschichtsschreibung, in der Frauen und Männer gleichermaßen zu Wort kommen würden, hat Lerner seit den 70er Jahren über eine »neue Synthese« (oder »mainstreaming«) nachgedacht, welche Frauen- und Männer-Geschichte zu einer Geschichte sans phrase zusammenführen würde; in der Tat sei dies, so schrieb sie in ihrem letzten Buch, »the most urgent long-range question that needs to be explored.« Aber da manche Verächter der »Women’s History« diesen Moment von Anfang an immer schon als gekommen erachteten, tatsächlich aber noch immer viel zu wenig über Frauen und Geschlechterbeziehungen in der Vergangenheit bekannt sei (und das erst recht außerhalb der Welt akade­ mischer Spezialisten), fand Lerner, dass Historische Frauenforschung wohl ebenso lange sinnvoll und nötig sei, wie es männerzentrierte Geschichtsschreibung gegeben habe und gibt. Die immer wieder erhobene Klage, dass unter dem Titel »gender history« angeblich oft »bloß« von Frauen die Rede sei, hat sie wohl nicht beeindruckt. Gleichwohl lag ihr eine »holistic history« am Herzen.48 Manche, die von ihr gelernt haben, führen das Konzept einer Gesamtgeschichte 46 Gerda Lerner, U. S. Women’s History: Past, Present, and Future, in: JWH 16/4 (2004), S. ­10–27, bes. S. 23–25; vgl. auch die Debatte in Nancy F. Cott u. a., Considering the State of U. S. Women’s History, in: JWH 15/1 (2003), S. 144–163; Lerner, Living with History (wie Anm. 1), S. 163; und vor allem: dies., History Matters (wie Anm. 7), S. 224, bes. Anm. 3 u. S. 227. 47 Dies., The Historian and the Writer (wie Anm. 10), S. 158 f. 48 Gerda Lerner, Holistic History: Challenges and Possibilities, in: Living with History (wie Anm. 1), S. 178 (Zitat); Majority (wie Anm. 3), S. XV, 159, 180, 168.

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fort.49 Gewiss hat sich seit den Zeiten der Frauengeschichtsbewegung, die von Gerda Lerner inspiriert wurde und die sie umgekehrt inspiriert hat, vieles gewandelt; doch angesichts ihrer seltenen Kombination von gelehrsamer wie öffentlicher Intellektualität und bürgerschaftlichem Engagement sollte ihr großes Anliegen nicht in Vergessenheit geraten: »Women’s History is the primary tool for women’s emancipation.«50

49 Vgl. die Einleitung von Kerber, Kessler-Harris und Sklar zur Festschrift (wie Anm. 2), bes. S. 7. 50 Catherine R. Stimpson, Interview mit Gerda Lerner, in: Ms. (Magazine) 10/3 (1981), S. 94 f.; zit. in: Kerber u. a. (wie Anm. 2), S. 5; vgl. Lerner, Patriarchy (wie Anm. 8), S. 3.

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Grenzübergänge und Hegemonien: Lokale und europäische, transnationale und globale Geschlechtergeschichten✳

Spätestens seit den 1990er Jahren sind auch in der Geschlechtergeschichte zunehmend vergleichende, internationale, transnationale, transkulturelle (im Englischen auch »cross-national« und »cross-cultural«), transatlantische, transkontinentale, globale und welt-geschichtliche Ansätze in den Vordergrund getreten. Historiographische Grenzübergänge, »trans« und »cross« sind »in«. Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass auch hier ein – nach Joan Scott – »para­sitäres« Verhältnis zur sonstigen Geschichtsschreibung vorliege.1 Doch das träfe allenfalls mit einer beträchtlichen Modifikation zu: Denn die Histo­ rische Frauenforschung bemüht sich schon seit langem um die außereuropäische und nicht-westliche Geschlechtergeschichte. In erster Linie tat das die dort jeweils einheimische Frauengeschichtsschreibung (etwa in Indien seit den 1970er Jahren), und deren westliche Variante hat sich schon vor 1990 bewusst internationalisiert – eine der frühen Stimmen war Ida Blom –, wenngleich sie dabei nicht von Anfang an jene neueren und oftmals plakativen Vokabeln benutzt hat. Auf der anderen Seite klammern die neueren Global- und Weltgeschichten fast schon systematisch die Geschlechterdimensionen aus. Bonnie G. Smith, eine der führenden Historikerinnen auf diesem Gebiet, zitiert einen US-amerikanischen Welthistoriker, der dies zu begründen suchte: »If you stay home you don’t have a place in world history.« Diese burschikose Definition ist der Sache gewiss nicht angemessen, zumal sich hier einmal mehr eine fragwürdige Dichotomie abzeichnet: »Is Local : Global as Feminine : Masculine?«2 ✳ Der

Text basiert auf meinen Beiträgen zu den Tagungen »È possibile una storia europea delle donne?« (Società Italiana delle Storiche, Rom 2007) und »Pour une histoire genrée de l’Europe« des Projekts »Écrire une nouvelle histoire de l’Europe« (Paris 2013) sowie auf meinem Text: Geschlechtergeschichte auf alten und neuen Wegen: Zeiten und Räume, in: Jürgen Osterhammel u. a. (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 45–66. 1 Vgl. oben, Einführung, Anm. 16. 2 Bonnie G. Smith, Gendering Historiography in the Global Age: A U. S. Perspective, in: Angelika Epple u. Angelika Schaser (Hg.), Gendering Historiography. Beyond National Canons, Frankfurt a. M. 2009, S. 27–44, hier S. 34; Carla Freeman, Is Local : Global as Feminine : Masculine? Rethinking the Gender of Globalization, in: Signs 26/4 (2001), S. 1007–1037. Vgl. Ida Blom, Global Women’s History: Organising Principles and Cross-Culturel Understandings, in: Karen Offen u. a. (Hg.), Writing Women’s History: International Perspectives, Bloomington, IN 1991, S. 135–150; Ida Blom trug auch auf dem 19. International Congress of Historical Sciences (2000) vor: Gender as an analytical tool in global history, in: Sølvi Sogner (Hg.),

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Europäisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte Im Jahr 2007 diskutierte die Società Italiana delle Storiche die Frage: »Ist eine europäische Frauengeschichte möglich?« Zwar waren die Antworten positiv, aber meist hießen sie: Ja, aber bitte wie, zumal angesichts tiefgreifender nationaler, religiöser und regionaler Unterschiede, erst recht seit dem Fall des Staatssozialismus im östlichen Teil  Europas, und der europäischen Vielsprachigkeit? Und in Paris entstand 2012 ein zukunftsträchtiges Projekt über »Genre et Europe«, geleitet von Françoise Thébaud und Patrice Virgili, das unter dem Gesamttitel »Écrire une histoire nouvelle de l’Europe« mit dem Deutschen Histo­ rischen Institut kooperiert.3 Eine beträchtliche Zahl analoger Bemühungen waren diesen Initiativen schon vorausgegangen; ihre Rekapitulation lässt sowohl Probleme als auch Lösungsversuche erkennen. Drei Modelle sind dabei zu erkennen. Die frühesten Werke über »Frauen in Europa« oder »Frauen in der westlichen Welt« stammen aus den Vereinigten Staaten und wurden teils verfasst, um ein »searching for a new identity« zu ermöglichen, teils zu dem Zweck, das akademische Fach »Western Civilization« für die neuen »women’s studies« zu öffnen.4 Sammelwerke dieser Art reichen zuweilen von der Antike bis zur Gegenwart und behandeln gewöhnlich einzelne Länder. Als elaborierteste Version solcher kooperativer Bemühungen und als ein Meilenstein der Frauenhistoriographie kann die fünfbändige »Geschichte der Frauen« – im Original mit dem Zusatz: »en Occident« – gelten, die unter der Leitung von Georges Duby, Michelle Perrot und acht eminenten Bandherausgeberinnen Anfang der 1990er Jahre erschien und fast hundert Essays über Westeuropa und Nordamerika versammelt.5 Für die beiden Hauptherausgeber war dies eine – trotz aller Verschiedenheit – »gemeinsame Geschichte« des Okzidents,6 auch wenn die Fülle

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Making Sense of Global History, Oslo 2001, S.  71–86. Vgl. auch Angelika Epple, Globalgeschichte und Geschlechtergeschichte: Eine Beziehung mit großer Zukunft, in: L’Homme 23/2 (2012), S. 87–100; Bonnie G. Smith (Hg.), Women’s History in Global Perspective, 3 Bde., Urbana, IL 2004–2005; dies. (Hg.), The Oxford Encyclopedia of Women in World History, 4 Bde., Oxford 2008. Angiolina Arru u. a., È possibile una storia europea delle donne? in: Genesis 8/1–2 (2008), S.  287–307; Tagung »Pour une histoire genrée de l’Europe«, Paris 2013 (URL: http://gen reurope.hypotheses.org). Renate Bridenthal u. Claudia Koonz (Hg.), Becoming Visible. Women in European History, Boston 1977, S. 10; Marilyn J. Boxer u. Jean H. Quataert (Hg.), Connecting Spheres. Women in the Western World, 1500 to the Present, New York 1987. Im erstgenannten Werk wurden in den beiden nächsten Auflagen (1987, 1998) die meisten Autoren durch andere ersetzt. Georges Duby u. Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, 5 Bde., Frankfurt a. M. ­1993–1995. In den meisten nichtdeutschen Fassungen wurde »en Occident« (»occidente« oder »the West«) beibehalten. Georges Duby u. Michelle Perrot, Einleitung zu ebd., Bd. 1, S. 18; Michelle Perrot, Conclusion, in: Marie-Claire Hoock-Demarle (Hg.), Femmes, Nations, Europe, Tours 1995, S. 305.

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des Versammelten nicht weniger Unterschiede als Gemeinsamkeiten nahelegt. Allzu selten wird allerdings in solchen Werken über die Geographie Europas reflektiert: Sind es die heute 28 Länder in der Europäischen Union oder gar die 47 im Europarat, ist es eine oder sind es viele Kulturen? »Ist« Europa« oder »wird« es im Lauf von historischem Wandel und einem Prozess, der »Europäisierung« genannt werden kann? Das zweite Modell ist wiederum der Sammelband, aber zu einem begrenzten Thema, das dann auch größere Chancen für systematisches Vergleichen bietet. Ein wichtiges Beispiel ist Sylvia Paletscheks und Bianka Pietrow-Ennkers vergleichende Geschichte der klassischen europäischen Frauenbewegungen: Siebzehn Autorinnen (darunter ein Autor) präsentieren sie in dreizehn Ländern, darunter auch vier ost- und ostmitteleuropäische; nicht behandelt werden hingegen transnationale Bezüge, und die nationalen Bewegungen erscheinen als gänzlich separat. Die Herausgeberinnen vergleichen, und ein wichtiges Ergebnis ist, dass die Frauenbewegungen überall  – ungeachtet zahlreicher Unterschiede – zu den großen sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts gehörten.7 Das dritte Modell ist die monographische Synthese. Erstmals wurde eine solche 1988 vorgelegt, verfasst von Bonnie Anderson und Judith Zinsser, unter dem Titel »A History of Their Own«.8 Ihre »zentrale These« – durchaus eine mutige  – ist, »that gender has been the most important factor in shaping the lives of European women«. Außerdem verleihe das Buch bewusst »a basic commonality to the lives of all European women.« Hier wurden von vornherein methodische Entscheidungen getroffen, die im Weiteren ebenso diskutabel wie umstritten sein sollten: Die Autorinnen widmen den »diversities of European women’s experiences in different centuries, different nations, and different patterns of development« absichtlich nicht dieselbe Aufmerksamkeit wie den Gemeinsamkeiten.9 »Europa« wird geographisch verstanden, aber die Geographie wird nicht expliziert, und während die Darstellung nicht nach Ländern, sondern nach großen Themen strukturiert ist, entstammen die Beispiele doch weitestgehend Großbritannien, Frankreich und Deutschland, daneben Italien und Spanien. Ein Jahr später erschien das inspirierende Werk von Bonnie Smith, das »Changing Lives« seit dem 18. Jahrhundert präsentiert, anhand von historischen Angel- und Wendepunkten. Frauengeschichte wird als »kontextgeprägt« und »vielfältig« gesehen, Geschichte sei grundlegend von Geschlechterdifferenzen geprägt (und umgekehrt), und im Zentrum des Werks steht die Frage nach 7 Sylvia Paletschek u. Bianka Pietrow-Ennker, Conclusions, in: dies. (Hg.), Women’s Eman­ cipation Movements in the 19th Century: A European Perspective, Stanford, CA 2004, S. 301–335, hier S. 333. 8 Bonnie S. Anderson u. Judith P. Zinsser, A History of Their Own: Women in Europe From Prehistory to the Present, 2 Bde., New York 1988 (20002); dt.: Eine eigene Geschichte: Frauen in Europa, 2 Bde., Zürich 1992–1993 (Frankfurt a. M. 19952); auch auf Italienisch und Spanisch. Vgl. aber auch schon Patricia Branca, Women in Europe since 1750, London 1978. 9 Ebd. (engl.), Bd. 1, S. XV, XXI; Bd. 2, S. XII, XXI.

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historischem Wandel.10 Einschlägige Publikationen, die bis kurz nach der vorigen Jahrhundertwende erschienen, konnten von den östlichen Teilen Europas nur Russland und die Sowjetunion einbeziehen, über die in Westeuropa und den Vereinigten Staaten viel geforscht worden war; dementsprechend behandelt Olwen Huftons großes Buch klar und deutlich »Western Europe«, und im Zentrum stehen Frankreich und England.11 Nordost-, Ostmittel- und Südosteuropa wurden für die Frauengeschichte erst später entdeckt, zumal sie sich über fast zwei Generationen nicht wirklich zu »Europa« gerechnet hatten.12 Mein eigener Essay zur europäischen Dimension – er ist der kürzeste unter den hier genannten Werken – sucht in dieser Hinsicht, soweit damals möglich, das Zugängliche herauszufinden und zielt im Übrigen darauf ab, die jahrhundertealte europäische Debatte um die Geschlechter (»Querelle des sexes«) ideengeschichtlich zu rekonstruieren, transkulturelle und transnationale Prozesse zu beleuchten, dabei die Aktivitäten auch jüdischer Frauen sichtbar zu machen und europäische Dimensionen von weiblicher Bürgerschaft und  – in dramatischem Kontrast dazu – des Holocaust zu skizzieren.13 Ähnlich wie bei den Sammelbänden gibt es inzwischen auch Monographien, die ein abgrenzbares Gebiet behandeln und einige oder viele europäische Länder einbeziehen. Drei herausragende Beispiele seien hier genannt. Karen Offens Werk über »European Feminisms« vom 18. bis zum 20. Jahrhundert präsentiert ein reiches, bis dato weitgehend unbekanntes Material zu diesem Thema; es hebt stärker Gemeinsamkeiten als Differenzen hervor und ist damit mehr transnational als vergleichend orientiert.14 Ida Blom, die unvergleichliche Exper10 Bonnie G. Smith, Changing Lives. Women in European History Since 1700, Lexington, MA 1989, S. V. 11 Olwen Hufton, The Prospect Before Her. A History of Women in Western Europe, London 1995, S. 24; auf Deutsch erhielt das Buch allerdings den Titel »eine europäische Geschichte« (1998). 12 Zu den ersten großen Werken gehören Francisca de Haan u. a. (Hg.), A Biographical Dictionary of Women’s Movements and Feminisms. Central, Eastern, and South Eastern Europe, 19th and 20th Centuries, Budapest 2006; und seit 2007 die Zeitschrift Aspasia. Pionierinnen waren die 2007 verstorbene Anna Żarnowska (vgl. dies., Workers, Women, and Social Change in Poland, 1870–1939, Aldershot 2004) und Krassimira Daskalova, Mitherausgeberin des Biographical Dictionary und von Aspasia. 13 Gisela Bock, Frauen in der europäischen Geschichte, München 2000 (20052); zu Recht wurde betont, dass die jüdische Geschichte jahrhundertelang mit der europäischen Geschichte zusammenfiel: Dan Diner, Geschichte der Juden  – Paradigma einer europäischen Historie, in: Gerald Stourzh (Hg.), Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung, Wien 2002, S. 85–117. 14 Karen Offen, European Feminisms, 1700–1950: A Political History, Stanford, CA 2000; erweiterte und von Geneviève Knibiehler ins Französische übersetzte Fassung: Les Fémi­ nismes en Europe, Rennes 2012. Zu weiteren einschlägigen Werken vgl. dies., Surveying European Women’s History since the Millenium: A Comparative View, in: JWH 22/1 (2010), S.  154–177; The Longman history of European Women, 6 monographische Bde. (6.–20. Jh.), London 2002–2009; Iris Schröder u. a. (Hg.), Themenschwerpunkt Europäische Geschichte  – Geschlechtergeschichte (im Rahmen des Themenportals Europäische

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tin im Vergleichen, analysierte die Gesetzgebung zu Geschlechtskrankheiten – und damit auch zu Prostitution, Gesundheitspolitik und politischer Kultur – in fünf nordischen Ländern und verglich das Ergebnis wiederum mit Deutschland und Großbritannien; auch ihre Vergleiche des Verhältnisses von Nationalismen und Feminismen sowie von nationalen Wegen zum Frauenwahlrecht bezeugen das hohe Niveau ihrer vergleichenden Reflexion.15 Das dritte Beispiel ist Juliane Jacobis einzigartiger Vergleich der Mädchen- und Frauenbildung im neuzeitlichen Europa, in dessen Zentrum Deutschland, England und Frankreich stehen (mit Ausblicken auf andere Länder); differenziert verglichen werden Geschlechtervisionen von Frauen und Männern, pädagogische Theorien, Bildungsinstitutionen jeglicher Ebene ebenso wie die Praxis des Unterrichts und das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit der Geschlechter.16 Mehrere Schlüsse lassen sich ziehen. Auch hier werden »multiple stories« erzählt, und für ein Verständnis europäischer Geschlechtergeschichte sind viele Wege beschritten worden. In Darstellungen einbezogen werden können sämtliche europäischen Länder  – obwohl das noch niemandem gelungen ist, und vielleicht ist es nicht einmal wünschenswert, weil allzu schematisch – oder aber eine größere oder kleinere Zahl: Entscheidend sind Erkenntnisinteresse und -ziel. Zugleich sollten die vielfachen Hegemonialbeziehungen wahrgenommen werden. Die sogenannten »kleinen« oder »peripheren« Länder sollten nicht notorisch fehlen, etwa die Niederlande, insbesondere wenn es um übergreifende Darstellungen oder Vergleiche geht. Dringlich ist es, die unterschiedlichen Regionen Europas in den Blick zu nehmen: also nicht nur Nordwest-, West- und Mitteleuropa, sondern auch Nord-, Nordost-, Ostmittel-, Südost- und Südeuropa, und zwar nicht nur additiv, sondern auch in ihren komplizier­ten Machtbeziehungen zu den »Zentren«.17 Die Vielsprachigkeit Europas, so viele Geschichte): URL: http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de-DE/40208782/Default. aspx; Eve Colpus, Sammelbesprechung in: Reviews in History, Nr. 1117 (2011), URL: http:// www.history.ac.uk/reviews/review/1117 (15.6.2013). 15 Ida Blom, Medicine, morality, and political culture. Legislation on venereal disease in five Northern European countries, c. 1870-c. 1995, Oslo 2012; vgl. dies., Nationalism and Feminism in Europe, in: Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte (wie Anm. 14); dies., Structures and Agency. A transnational comparison of the struggle for women’s suffrage in the Nordic countries during the long 19th century, in: SJH 37/5 (2012), S. 600–620. 16 Juliane Jacobi, Mädchen- und Frauenbildung in Europa. Von 1500 bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2013. 17 Vgl. Susan Zimmermann, Reich, Nation und Internationalismus. Kooperationen und Konflikte der Frauenbewegungen der Habsburger Monarchie im Spannungsfeld internationaler Organisationen und Politik, in: Waltraud Heindl u. a. (Hg.), Frauenbilder, feministische Praxis und nationales Bewusstsein in Österreich-Ungarn 1867–1918, Tübingen 2006, S. 119– 168; dies., Jenseits von Ost und West. Entwicklungswege zentral-osteuropäischer Frauenbewegungen im transnationalen Kontext, in: Alice Pechriggl u. a. (Hg.), Brüche. Geschlecht. Gesellschaft. Gender Studies zwischen Ost und West, Wien 2003, S.  119–148. Vgl. auch Gisela Bock u. Anne Cova (Hg.), Écrire l’histoire des femmes en Europe du Sud XIXe–XXe siècles/Writing Women’s History in Southern Europe, 19th-20th Centuries, Oeiras 2003.

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Hürden sie auch aufstellen mag und so sehr Englisch sich als Lingua Franca durchgesetzt hat, kann auch eine positive Herausforderung sein, jedenfalls wenn man nicht nur bei der Muttersprache verbleibt. Es scheint – so geht aus einer neueren Debatte hervor –, dass der geschlechtergeschichtliche Blick von außen, speziell der nordamerikanische, Europa primär als Einheit sieht, während europäische Autorinnen weitaus stärker die Differenzen zwischen Ländern, Regionen und Kulturen hervorheben, ohne allerdings deshalb das übergreifende Gebilde »Europa« für »unterminiert« zu halten. Manche bedeutenden US-amerikanischen Historikerinnen, langjährige Expertinnen für Frankreich oder Großbritannien, schließen flugs von diesen auf »Europa«, und im Kontext der neueren politisch-historiographischen Trends heißt dies in erster Linie »Old Europe« und damit Orientalismus, Imperialismus sowie Rassismus als übergreifende Merkmale.18 Amerikanische Schülerinnen lernen und Lehrerinnen lehren ebenso selbstbewusst wie pauschal: »Most European feminists were imbued with cultural presumptions about the racial superiority of Europeans«,19 erst recht natürlich die »non-feminists«. Hingegen steht für die meisten europäischen Historikerinnen beim Blick auf eine europäische Geschichte im Vordergrund, dass Geschlechtergeschichte seit den 1970er Jahren nur recht langsam und regional sehr unterschiedlich vorankam, in der Regel weitaus weniger institutionalisiert und finanziert ist als in den USA und dass es für sie ein wichtiger und hochbewusster Prozess war, in dem sie die Grenzen – geographische und archivarische, sprachliche und kulturelle Grenzen – zu den Nachbarländern überschritten, also in einem gewiss kleinen (und heute oft als »provinziell« geltenden), aber traditionell von stürmischen Konflikten durchzogenen Kontinent, die auch in der Geschlechtergeschichte tiefgreifende Spuren hinterließen. Zugleich muss festgehalten werden, dass ein exklusiver Fokus auf Europa – ob als geographische, politische oder kulturelle Größe  – heute, nach Jahr­ hunderten von Expansion und Imperialismus, Kolonialismus und Dekolonisation, strategisch nicht mehr möglich ist. Überseeische Reiche wurden  – als »Neo-Europas« wie Amerika oder Australien, als Beherrschungs- wie als Siedlerkolonien – Teil der Geschlechtergeschichte inner- und außerhalb von »Old Europe«. Außereuropa und Europa sind auch geschlechtergeschichtlich engstens verflochten. Und doch kann es nicht angehen – wie von manchen (westlichen) Globalhistorikern zu vernehmen ist –, dass europäische Geschichte bloß als eurozentristisch und als Mittel zur Verfestigung einer »Festung Europa« angesehen wird. Vielmehr muss zwischen einem politisch wie historiographisch problematischen Eurozentrismus und einem ebenso notwendigen wie legitimen

18 Vgl. die Beiträge zu Brigitte Soland u. Mary Jo Maynes (Hg.), The Past and Present of European Women’s and Gender History, in: JWH 25 (2013), S. 288–308. 19 Rubrik »In the Classroom: Gender, Genre, and Political Transformation«, in: JWH 15 (2003), S. 151.

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Fokus auf Europa unterschieden werden. Die Akteurinnen des letzteren zielten auf Grenzüberschreitungen sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas.

Trans- und internationale, (post-)koloniale und globale Geschlechtergeschichte All diese Ansätze, mit denen sich die Europa-Orientierung überschneidet, begannen ihren Aufschwung in den 1990er Jahren und kulminierten zur Jahrtausendwende in zahlreichen Kommentaren zu Aktualität und Zukunft der Geschlechtergeschichte.20 Zuerst entstanden sie im politikwissenschaftlichen Rahmen der Internationalen Beziehungen und formulierten feministische Perspektiven etwa auf den »politischen Realismus«, auf Krieg und Frieden, Entwicklung und Nord-Süd-Beziehungen.21 Befördert wurden die neuen Fragen an dieses als besonders »männlich« geltende Feld durch das Jahrzehnt der Frauen (1975–1985), das die Vereinten Nationen ausgerufen hatten, die vier UN-Weltfrauenkonferenzen (1975: Mexiko, 1980: Kopenhagen, 1985: Nairobi, 1995: Beijing) und die in diesem Zusammenhang sichtbar werdenden transnationalen Netzwerke.22 Es war ein langer Weg, bis solche Fragestellungen – einschließlich »Gendering International Security« – auch Eingang in politikwissenschaftliche Handbücher fanden.23 Von besonderer Bedeutung für Historiker/innen waren die politologischen Untersuchungen zur Geschichte der älteren internationalen Frauenbewegungen, die als »private« Organisationen gelten oder als NGOs avant la lettre (also vor Art. 71 der UN-Charta, der diesen Begriff schuf). Sichtbar wurde damit auch der Platz von Frauen in Internationalen Organisationen wie dem Völkerbund und der Internationalen Arbeitsorganisation.24 20 Vgl. G&H 10/3 (1998): Feminisms and Internationalism; G&H 11/3 (1999): Retrospect and Prospect; WHR 11/3 (2002): Heartland and Periphery: local, national and global perspectives on women’s history; JWH 15/4 (2004): Sex Work and Women’s Labors around the Globe (S. 141–185). 21 Millennium. Journal of International Studies 17/3 (1988): Women and International Rela­ tions. Vgl. auch Rebecca Grant u. Kathleen Newland (Hg.), Gender and International Rela­ tions, Bloomington 1991. 22 Vgl. Judith P. Zinsser, From Mexico to Copenhagen to Nairobi: The United Nations Decade for Women, 1975–1985, in: Journal of World History 13/1 (2002), S.  139–168; Ping-Chun Hsiung u. Yuk-Lin Renita Wong, Jie Gui – Connecting the Tracks: Chinese Women’s Activism Surrounding the 1995 World Conference on Women in Beijing, in: G&H 10/3 (1998), S.  470–497. Vgl. Martha Alter Chen, Engendering World Conferences: the International Women’s Movement and the United Nations, in: Thomas G. Weiss u. Leon Gordenker (Hg.), NGOs, the UN, and Global Governance, Boulder 1996, S. 139–155. 23 J. Ann Tickner, Feminist Perspectives on International Relations, in: Thomas Risse u. a. (Hg.), Handbook of International Relations, London 2002, S. 275–291. 24 Carol Riegelman Lubin u. Anne Winslow, Social Justice for Women: The International Labor Organization and Women, Durham 1990; Sandra Whitworth, Feminism and International

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Die 1990er Jahre brachten auch den Aufschwung spezifisch historischer Forschungen über solche Dimensionen, vor allem auf dem Weg über Studien zur geschlechtergeschichtlichen Prägung von National- und Sozialstaaten und ihres Vergleichs.25 Erste international angelegte Werke untersuchten die jüdische Frauenbewegung (seit der vorletzten Jahrhundertwende)  oder die vorwiegend US-amerikanisch-britische World Woman’s Christian Temperance Union (seit den 1880er Jahren): Deren weltweiter »Kulturimperialismus« war inspiriert vom Kampf gegen Alkohol, Opium und den Handel mit ihnen, von Religiosität, Sozialismus und Feminismus.26 Die Frauenbewegungen des 19. Jahrhunderts, so fand man heraus, waren schon früh international ausgerichtet.27 Am Vorabend der Jahrhundertwende hieß es dann: »Organization is the tendency of the age«, so eine amerikanische Suffragistin auf der ersten Konferenz des International Council of Women in Chicago 1893.28 Als die schottische Lady Aberdeen dessen Präsidentin wurde und die Bedeutung des damals immer noch neu erscheinenden Begriffs »international« studierte, informierte sie sich erst einmal über Karl Marx’ Internationale Arbeiter-Assoziation.29 1997 erschien, anknüpfend an Studien von Mineke Bosch, das Werk von Leila Rupp, die erstmals die drei großen internationalen Organisationen der ersten Frauenbewegung Relations: Towards  a Political Economy of Gender in Interstate and Non-Governmental Institutions, Houndmills 1994 (Repr. 1997); Deborah Stienstra, Women’s Movements and International Organizations, Houndmills 1994; Bob Reinalda, The International Women’s Movement as a Private Political Actor between Accommodation and Change, in: Karsten Ronit u. Volker Schneider (Hg.), Private Organizations and Global Politics, London 2000, S. 165–186. 25 Ida Blom u. a. (Hg.), Gendered Nations. Nationalism and Gender Order in the Long 19th Century, Oxford 2000; Ute Planert (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt a. M. 2000. Zum Sozialstaat vgl. das einschlägige Kap. in diesem Band. 26 Linda Gordon Kuzmack, Woman’s Cause: The Jewish Woman’s Movement in England and the United States, 1881–1933, Columbus 1990; Ian Tyrrell, Woman’s World, Woman’s Empire: The Woman’s Christian Temperance Union in International Perspective, 1880–1930, Chapel Hill 1991. 27 Bonnie S. Anderson, Joyous Greetings. The First International Women’s Movement, 1830– 1860, Oxford 2000; Margaret H. McFadden, Golden Cables of Sympathy. The Transatlantic Sources of 19th-Century Feminism, Lexington 1999 (1840–1888); Eva Schöck-Quinteros u. a. (Hg.), Politische Netzwerkerinnen. Internationale Zusammenarbeit von Frauen 1830– 1960, Berlin 2007. 28 May Wright Sewall, zit. in: Ute Frevert, Die Zukunft der Geschlechterordnung. Diagnosen und Erwartungen an der Jahrhundertwende, in: dies. (Hg.), Das Neue Jahrhundert. Europä­ ische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 146–184, Zitat S. 153. 29 Marjorie Pentland, In the Nineties: Ishbel Aberdeen and the I. C. W., London 1947, S. 14. Zur Geschichte des Begriffs vgl. Peter Friedemann u. Lucian Hölscher, Internationale, Inter­ national, Internationalismus, in: GGr, Bd. 3, Stuttgart 1983. Zum Begriffswandel (heute benutzt man für nichtstaatliche Akteure »transnational«, für staatliche »international«) vgl. Karen Offen, Understanding International Feminisms as »Transnational« – An Anachronism? May Wright Sewall and the Creation of the International Council of Women, in: Oliver Janz u. Daniel Schönpflug (Hg.), Gender History in a Transnational Perspective, New York 2014.

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vergleichend analysierte: den ICW (seit 1888), die International Alliance of Women (seit 1904), beide heute mit Konsultativstatus bei den Vereinten Nationen, und die Women’s International League for Peace and Freedom (1915/19), außerdem diverse »superinternationale« Koalitionen von transnationalen Verbänden, die großenteils im Kontext des Völkerbunds entstanden.30 Bei weitem nicht alle Hoffnungen, welche die Feministinnen auf den Völkerbund setzten, wurden erfüllt; am ehesten noch führten das Engagement gegen Frauen- und Kinderhandel, im Internationalen Arbeitsamt und die Selbstorganisation zu Erfolgen.31 Neben jenen drei auf Universalität zielenden, tatsächlich aber bis zum Zweiten Weltkrieg europa- und nordamerikazentrierten Organisationen standen transnationale Bewegungen im panamerikanischen Kontext sowie in Ostmittel- und Südosteuropa (nach dem männlichen Vorbild der »Kleinen Entente«), und nach dem Zweiten Weltkrieg entstand auch eine weltweite prosowjetische Organisation.32 Viele betrieben eine rege archivarische Tätigkeit mit einem Zentrum in Amsterdam, das dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte zugeordnet und von der jüdischen Niederländerin Rosa Manus geleitet wurde; sie war es, die die berühmte Friedenspetition mit knapp zehn Millionen Unterschriften organisiert hatte, die 1932 der Genfer Abrüstungskonferenz vorgelegt wurde. Rosa Manus wurde 1941 von der Gestapo ins Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt, wo sie 1943 starb. Schon 1940 hatte das Reichssicherheitshauptamt das Frauenarchiv nach Deutschland bringen lassen, von wo es durch die Rote Armee nach Moskau verbracht wurde; erst 2003 kehrten seine Reste nach Amsterdam zurück.33 Die gewiss bedeutendste Innovation der 1990er Jahre war der systematische Blick auf nicht-westliche, vor allem koloniale Situationen. Sie verdankt 30 Mineke Bosch zus. mit Annemarie Kloosterman, Politics and Friendship: Letters from the International Woman Suffrage Alliance, 1902–1942, Columbus 1990; Leila J. Rupp, Worlds of Women. The Making of an International Women’s Movement, Princeton 1997. 31 Vgl. z. B. Marilyn Lake, From Self-Determination via Protection to Equality via Non-Discrimination: Defining Women’s Rights at the League of Nations and the United Nations, in: Patricia Grimshaw u. a. (Hg.), Women’s Rights and Human Rights: International Historical Perspectives, Houndmills 2001, S.  243–253; Thomas Fischer, Frauenhandel und Prostitution: Zur Institutionalisierung eines transnationalen Diskurses im Völkerbund, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4/10 (2006), S.  876–887; Ellen Carol DuBois, Internationalizing Married Women’s Nationality: The Hague Campaign of 1930, in: Karen Offen (Hg.), Globalizing Feminisms, 1789–1945, London 2010, S. 205–216. 32 Zu den panamerikanischen Aktivitäten vgl. das Themenheft von G&H 10/3 (1998); Barbara Potthast, Vom Kinderschutzkongress zum Völkerbund. Die internationalen Aktivitäten latein­a merikanischer Feministinnen in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: SchöckQuinteros u. a. (wie Anm. 27), S. 155–182; Francisca de Haan, Hoffnungen auf eine bessere Welt: Die frühen Jahre der Internationalen Demokratischen Frauenföderation (1945–1950), in: FSt 27/2 (2009), S. 241–257. 33 Francisca de Haan, A »Truly International« Archive for the Women’s Movement (IAV, now IIAV): From its Foundation in Amsterdam in 1935 to the Return of its Looted Archives in 2003, in: JWH 16/4 (2004), S. 148–72.

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sich einerseits dem Aufschwung »lokaler« Frauen- und Geschlechterforschungen im Rahmen von »area studies« (der Forschungsbegriff »lokal« bezeichnet hier oft ganze Kontinente), die teils bis in die 1970er Jahre, teils noch weiter zurück­reichen. Sie fügen sich durchaus nicht einfach in den Trend zu einer (oft »westlich« geprägten) Globalgeschichte ein und setzen ihm zuweilen die Eigenständigkeit und Widerständigkeit lokaler Forschung entgegen.34 An­dererseits verdankt sich jener Aufschwung dem wachsenden Bewusstsein von der eurozentrischen Prägung mancher bisheriger Frauenforschung; so war »Under Western Eyes« (1988) von Chandra Talpade Mohanty eine scharfe Kritik daran, dass westliche Forscherinnen sogenannte »Dritte-Welt-Frauen« als ein einziges und einheitliches Thema konstituierten.35 Die neuen Fragen zielen auf Geschlechterbeziehungen in kolonialen und postkolonialen Regionen und auf Verflechtungen zwischen metropolitanen und kolonialen Situationen (bei den letzteren wird deutlich unterschieden zwischen Siedlerkolonien wie Algerien, Deutsch-Südwestafrika/Namibia oder Südrhodesien/Zimbabwe und Beherrschungskolonien wie Indien, von wo die britischen Männer oder Familien nach ein paar Jahren wieder in ihre Heimat zurückkehrten). Die in den letzten Jahren weit vorangeschrittene Forschung – am weitesten in Großbritannien und den USA über das britische Empire – hatte zur Folge, dass Geschlechterdimensionen wenigstens sparsam in die neue Oxford History of the British Empire einbezogen wurden, führte aber auch zu einem selbständigen Companion Volume zu diesem Werk (neben einem für die Schwarzen Afrikas).36 Auch das niederländische, französische und deutsche Imperium wurden geschlechtergeschichtlich untersucht, und diskutiert wurden die methodisch-theoretischen Voraussetzungen, Parameter und Konsequenzen solcher Forschungen.37 34 Destination Globalization? Women, Gender and Comparative Colonial Histories in the New Millennium: Themenheft von JCCH 4/1 (2003). Vgl. auch Jean Marie Allman u. a. (Hg.), Women in African Colonial Histories, Bloomington 2002; Freeman (wie Anm.  2); Margrit Pernau, Global history: Wegbereiter für einen neuen Kolonialismus? in: URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=572&type=artikel. 35 Chandra Talpade Mohanty, Under Western Eyes: Feminist Scholarship and colonial Discourses, in: Feminist Review 30 (1988), S. 61–88. 36 Philippa Levine (Hg.), Gender and Empire, Oxford 2004 (Companion Series der OHBE); William Roger Louis (Hg.), The Oxford History of the British Empire, 5 Bde., Oxford 1999. Vgl. auch Diana Jeater, The British Empire and African Women in the Twentieth Century, in: Philip D. Morgan u. Sean Hawkins, Black Experience and the Empire, Oxford 2004 (Companion Series der OHBE), S. 228–256; G&H 16/2 (2004): New Work on Gender and Empire; JWH 14/4 (2003): Revising the Experiences of Colonized Women: Beyond Binaries. 37 Birthe Kundrus, Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner Kolonien, Oldenburg 2003; Lora Wildenthal, German Women for Empire, 1884–1945, Durham 2001;­ Julia Clancy-Smith u. Frances Gouda (Hg.), Domesticating the Empire: Race, Gender, and Family Life in French and Dutch Colonialism, Charlottesville 1998; Elsbeth Locher-­ Scholten, Women and the Colonial State: Essays on Gender and Modernity in the Netherlands Indies, 1900–1942, Amsterdam 2000; Clio 6 (1997): »Femmes d’Afrique«; 9 (1999): »Femmes du Maghreb«; Anne Hugon (Hg.), Histoire des femmes en situation coloniale: Afrique et Asie, XXe siècle, Paris 2004.

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Zu den großen Fragen gehört diejenige nach den Gründen und dem Charakter des Wandels von Kolonialherrschaft, als – je nach Region zwischen der Mitte des 19.  und dem ersten Drittel des 20. Jahrhundert  – die weißen Herren ihre intimen Bedürfnisse nicht mehr (nur) durch Konkubinage, Prostitution oder zuweilen auch Heirat mit einheimischen Frauen befriedigten, da eben dieses aufgrund neuer Rassen- und Geschlechterdiskurse moralisch verurteilt und oft auch formell untersagt wurde (besonders in Siedlerkolonien); nun wurden europäische (Ehe-)Frauen in größerer Zahl in die Kolonien gerufen. Zuweilen folgten rigide, mit der angeblichen Gefahr von Vergewaltigung begründete Diskurse oder auch gesetzliche Maßnahmen gegen Annäherungen zwischen schwarzen Männern und weißen Frauen (etwa die berüchtigte »White Women’s Protection Ordinance« in Britisch-Neuguinea 1926). Zeitgenössischen und späteren Stimmen, die diesen Wandel den europäischen Ehefrauen zuschrieben, weil sie mit ihrem Verhalten (in Indien besonders nach dem großen Aufstand von 1857/58) Rassentrennung und Rassismus und gar »the ruin of the Empire« verursacht hätten, setzte man differenziertere Analysen entgegen.38 Zumal Ann Laura Stoler, Historikerin von Niederländisch-Indien, identifizierte jene intimen »Kontaktzonen«, ihren Wandel und die ihm zugrundeliegenden (keineswegs einheitlichen) Diskurse über »mixedness«, »gemischte« Sexualbeziehungen und »Mischlinge«, als »strategies of governance that joined sexual conquest with other forms of domination.« In ihnen artikuliere sich, dass »das Persönliche politisch« sei, und hier sei eine neue Art historischen Vergleichens nötig, nämlich als interkontinentaler Vergleich der Kolonien untereinander.39 Überaus wichtig sind Neubestimmungen und Dekonstruktionen von »Rassen« und »Ethnizitäten«, von »Schwarz«-, »Braun«- und »Weiß-Sein«, und Rassendifferenzen ebenso wie Rassismus wurden, zumal in unterschiedlichen kolonialen Situationen, als höchst komplexe Phänomene erkannt. Weder können die Disparitäten kolonialer Herrschaft »unter einer einzigen Hauptkategorie namens ›Rasse‹ erfasst werden«, noch sind die Grenzen zwischen der Macht von Kolonisatoren und Kolonisierten stets scharf gezogen, sondern sie werden immer wieder neu ausgehandelt.40 38 Margaret Strobel, European Women and the Second British Empire, Bloomington 1991; Nupur Chaudhuri, Memsahibs and their Servants in 19th-Century India, in: WHR 3/4 (1994), S. 549–562. Vgl. G&H 17/1 (2005): Empire, Migration and Fears of Interracial Sex, c. 1830–1870; Jock McCulloch, Black Peril, White Virtue: Sexual Crime in Southern Rhodesia, Bloomington 2000; Claudia Knapman, White Women in Fiji, 1835–1930: The Ruin of Empire?, Boston 1986; Christelle Taraud, La prostitution coloniale: Algérie, Tunisie, Maroc (1830–1962), Paris 2003. 39 Ann Laura Stoler, Tense and Tender Ties: The Politics of Comparison in North American History and (Post) Colonial Studies, in: JAH 88/3 (2001), S. 829–865; auch in dies. (Hg.), Haunted by Empire: Geographies of Intimacy in North American History, Durham 2006; dies., Carnal Knowledge and Imperial Power: Race and the Intimate in Colonial Rule, Berkeley 2002; Elisa Camiscioli, Women, Gender, Intimacy, and Empire, in: JWH 25/4 (2013), S. 138–148. 40 Vgl. Birthe Kundrus, Transgressing the Colour-Line: European Debates on Colonial »Miscegenation«, in: Janz u. Schönpflug (wie Anm. 29).

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Diskursanalyse ist von großer Bedeutung in der Forschung über »gender and colonialism« geworden. Mit ihrer Hilfe wurde argumentiert, dass die eindrucksvolle Beteiligung britischer Frauen an der Antisklavereibewegung des 19. Jahrhunderts auch als Wurzel eines verwerflichen »imperial feminism« gesehen werden könne, weil viele Abolitionistinnen die Sklavinnen (und Sklaven) als hilflose Opfer sahen, die des Schutzes britischer Frauen bedürften, und weil der Abolitionismus zum »Kern« der humanitären »civilizing mission« des europäischen und besonders des britischen Imperialismus wurde.41 Einflussreich wurde Antoinette Burton’s Präsentation der älteren britischen Frauenbewegung (bzw. von Teilen ihres Diskurses), die einst ein internationales Vorbild gewesen war, als eine »weiße«, rassistische, imperialistische Bewegung und »collaborator in [the Empire’s] ideological work.«42 Nicht nur habe die Frauenbewegung das Empire nicht bekämpft, sondern es sogar genutzt, um ihre eigenen Ziele zu verwirklichen. Sie habe indische Frauen als passive und hilflose Opfer eines Hindu- oder Muslim-Patriarchats  – als orientalische »Andere« ohne jegliche »agency«  – gesehen, habe sich diesen gegenüber als moralisch, politisch und rassisch überlegen gefühlt und vor allem dazu berufen, durch die Erlangung des eigenen Wahlrechts frauenemanzipatorische Reformen in Südasien zu bewirken, in erster Linie die Abschaffung von Sati (Witwenverbrennung), Zenana (Segregation der Frauen im Inneren des Hauses), von Kinderheirat und Verbot der Witwenheirat. Diese Reformen zu bewirken, sei »the white woman’s burden« gewesen, und gerade das feministische »speaking for Others« – zusammen mit der eigenen »creation of selfhood« – sei eine Grundlage der nicht nur britischen, sondern »westlichen« Kolonialherrschaft.43 International galt für Burtons Argumentationen, dass sie  – aufgrund des postkolonialistischen Trends, dem auch die Geschlechtergeschichte in der von Joan Scott so benannten »parasitären« Weise folgte – binnen kurzem zur allgemeingültigen Standardmeinung wurden: »once stated, they became almost axiomatic.«44 Doch allmählich wurden die vielfältigen Verhaltensweisen und Aktivitäten europäischer Frauen in Kolonien und Metropolen – Kollaboration, Kompli­ zität, Widerstand, christliche wie säkulare Mission oder die Suche nach einem 41 Clare Midgley, Anti-slavery and the Roots of »Imperial Feminism«, in: dies. (Hg.), Gender and Imperialism, Manchester 1998, S. 161–179; vgl. auch oben das Kapitel »Frauenemanzipation«, Abschnitt 4.1; Jürgen Osterhammel, »The Great Work of Uplifting Mankind«. Zivilisierungsmission und Moderne, in: ders. u. Boris Barth (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S.  363–425, Zitat S. 401. 42 Antoinette Burton, Burdens of History: British Feminists, Indian Women, and Imperial Culture, 1865–1915, Chapel Hill 1994, S. 2. 43 Ebd., z. B. S. 211 f.; vgl. aber Susan Pedersen, Besprechung von Burton, in: JMH 69/1 (1997), S.  144–146. »The white woman’s burden«, das Kiplings berüchtigtem Gedicht nachemp­ funden ist, ist Burtons Begriff; in den Quellen fand er sich offenbar nur einmal (Zeitungsartikel von 1910): Burton (wie Anm. 42), S. 10 mit Anm. 48. 44 Besprechung des Buchs durch Dorothy O. Helly, in: AHR 101/2 (1996), S. 493.

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»emanzipierten« Leben in Übersee  – auf komplexere Weise thematisiert, und die Frage nach der Interaktion von europäischen und kolonisierten Frauen führte auch zu Wegen »beyond complicity and resistance«: Hier wird das gängig gewordene »Opfer-Täterinnen-Modell« problematisiert (außerdem als Parallele zu kurzschlüssigen Debatten über Frauen in Nazi-Deutschland gesehen). Als ebenso einseitig erscheint  – in der Historiographie über die Einheimischen  – das »Opfer-Verräter/innen«-Modell (als »Verräterinnen« galten oder gelten die indigenen Frauen, die den Kolonisatoren von Nutzen waren, etwa als Übersetzerinnen).45 Und auf der »anderen« Seite wurde gezeigt, dass die Ehefrauen der Beamten in Britisch-Indien keineswegs ein »white women’s burden« kannten, sondern sich mit dem Empire auf durchaus maskuline Weise und in Räumen identifizierten, in denen keine separaten Geschlechtersphären galten. Angloindische »Empire families« verkehrten nach ihrer Rückkehr fast nur noch mit ihresgleichen; nicht- oder antifeministische Frauen der höheren Mittelklasse und des Adels kümmerten sich in ihrem Selbstverständnis als »mothers of the Empire« nicht etwa um das Wohl indigener Frauen in den Kolonien, sondern um das der weißen Siedlerinnen, und es waren diese Vereine – nicht die fe­ministischen  –, die einen veritablen »weiblichen Imperialismus« vertraten.46 Für die Seite der Kolonisierten wurde gezeigt, wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reformfreudige und westlich gebildete bengalische Männer Anleitungen für Frauen verfassten, denen zufolge diese  – im Gegensatz zu alten patriarchalischen Strukturen  – sich in Liebe ihrem Ehemann widmen, Bildung erlangen und die Grenzen der Zenana überschreiten sollten; sie trafen bei den Adressatinnen auf beträchtlichen Zuspruch. Untersucht wurde auch die seit dieser Zeit entstehende eindrucksvolle indische Frauen­ bewegung.47 Und auch Männer und Männlichkeit sind integraler Bestandteil der geschlechtergeschichtlichen Variante der »new imperial history«. Grundlegend war das Werk von Mrinalini Sinha: Ausgehend von der britischen Konstruktion des ­»virilen« Engländers und des »weibischen« Bengalen seit dem späten 19. Jahrhundert nahm sie die gesamte Bandbreite der Beziehungen und Begrenzungen von Geschlechtern, Rassen und Klassen in Britisch-Indien in 45 Nupur Chaudhuri u. Margaret Strobel (Hg.), Western Women and Imperialism: Complicity and Resistance, Bloomington 1992; Malia B. Formes, Beyond Complicity versus Resistance: Recent Work on Gender and European Imperialism, in: JSH 28/3 (1995), S. 629–641, mit Anm. 23; JCCH 6/3 (2005): Themenheft Indigenous Women and Colonial Cultures. 46 Mary A. Procida, Married to the Empire: Gender, Politics and Imperialism in India, 1883– 1947, Manchester 2002; Elizabeth Buettner, Empire Families: Britons and Late Imperialism, Oxford 2004; Julia Bush, Edwardian Ladies and Imperial Power, Leicester 2000. Vgl. Birthe Kundrus, Weiblicher Kulturimperialismus: Die imperialistischen Frauenverbände des Kaiserreichs, in: Sebastian Conrad u. Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational: Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 213–235. 47 Judith E. Walsh, Domesticity in Colonial India: What Women Learned When Men Gave Them Advice, Lanham 2004; Geraldine Forbes, Women in Modern India, Cambridge 1996.

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den Blick.48 Auch in diesen Dimensionen der Geschlechtergeschichte gilt somit: »Studies of women are never only about women«, sondern mindestens ebenso sehr über Männer.49 Vielfach bemüht man sich darum, die Fülle von grenzüberschreitenden An­ sätzen zu definieren und gegeneinander abzugrenzen: vergleichende, inter- und transnationale, inter- und transkulturelle, Transfer-, Beziehungs- oder Verflechtungsgeschichte, europäische und außereuropäische, koloniale und imperiale, postkoloniale und postimperiale, Welt- und Globalgeschichte. Deren Gegenpart, der in den Hintergrund treten soll, ist dabei meist die Nation oder der Nationalstaat, meist auch Europa oder »der Westen« insgesamt, aber auch Kleinräume per se und somit die Lokal- und Mikrogeschichte. Die Geschlechtergeschichtsschreibung hat diese Kontroversen kaum oder nur rezeptiv mitgemacht, und umgekehrt spielte sie in ihnen bisher kaum eine Rolle. Allerdings hat Natalie Zemon Davis, eine führende Stimme in jenen Debatten, nie versäumt, ihre theoretischen Argumentationen mit Beispielen der Frauengeschichte zu illustrieren und dieser einen wesentlichen Platz in der Entstehung und Praxis der Globalgeschichte zuzuweisen.50 Davis, mit deren Stimme dieser Band eröffnet wurde, geht es nicht so sehr darum, bestimmte (Groß-)Räume als historisches Objekt zu bestimmen. Vielmehr geht es ihr zum einen um ein »globales Bewusstsein«, das sich in vielen Arten von Geschichtsschreibung artikulieren kann. Zum anderen möchte sie verhindern, dass das, was sie »dezentrierte Geschichte« nennt – diejenige der Arbeiter und des »menu peuple«, der Sklaven, der Frauen und der »subalternen« Kolonisierten, allesamt geprägt von lokalem und konkretem Detail –, jetzt in riesigen räumlichen und zeitlichen Dimensionen untergeht. Deshalb muss auch hier an der grundsätzlichen Vielfalt der »multiplen Geschichten« und »alternativen Wege« festgehalten werden, sowohl um der Entfaltung der Konkretion willen als auch – im Eisenstadtschen Sinn der »multiple modernities« – im Gegenzug zu westlich-hegemo­nialen Meistererzählungen. So kann sich selbst die biographische Methode transnational oder global orientieren; die weitgereisten »marginalen« Frauen in Davis’ berühmtem Werk gehören ebenso dazu 48 Mrinalini Sinha, Colonial Masculinity. The »manly Englishman« and the »effeminate­ Bengali« in the Late Nineteenth Century, Manchester 1995; dies., Britishness, Clubbability, and the Colonial Public Sphere: The Genealogy of an Imperial Institution in Colonial India, in: JBS 40/4 (2001), S. 489–521. 49 Janice Boddy, Civilizing Women: British Crusades in Colonial Sudan, Princeton, NJ 2007, S. 14. 50 Vgl. Natalie Zemon Davis, What is Universal about History? in: Gunilla Budde u. a. (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 15–20 (dt. in: Historische Anthropologie 16/1 [2007], S. 126–131). Die o.g. Debatten spielen bspw. keine Rolle in dem wichtigen Aufsatz von Margaret Strobel u. Marjorie Bingham, The Theory and Practice of Women’s History and Gender History in Global Perspective, in: Smith (Hg.), Women’s History in Global Perspective (wie Anm. 2), 1. Bd., S. 9–47.

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wie ihre Zusammenschau von Christine de Pizan und Ibn Kaldun, die um 1400 in Frankreich bzw. in Kairo gelebt hatten.51 Ebenso wenig also wie der Nationalstaat selbst in explizit global orientierten Ansätzen übersehen werden sollte, sind mikro- und lokalhistorische Ansätze keineswegs »out«. Das gilt erst recht für die »dezentrierte« Geschichte, wenngleich sie mittlerweile durchaus der weitenden und einordnenden Perspektive auf größere Weltregionen bedarf. In diesem Sinn kann die Frauen- und Geschlechtergeschichte ebenso sehr von der transnationalen und globalgeschichtlichen Herausforderung profitieren als sie ihrerseits zu ihr beitragen kann.

51 Hierzu bes. Natalie Zemon Davis, Global History, Many Stories, in: Jürgen Osterhammel (Hg.), Weltgeschichte, Stuttgart 2008, S.  92–100, hier S.  92 (global consciousness); dies., Decentering History: Local Stories and Cultural Crossings in a Global World, in: History and Theory 50 (2011), S. 188–202; dies., Women on the Margins. Three Seventeenth-Century Lives, Cambridge, MA 1995. Vgl. auch Angelika Epple, Lokalität und die Dimensionen des Globalen. Eine Frage der Relationen, in: Historische Anthropologie 21/1 (2013), S. 4–25.

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Erstdrucke Frauengeschichte und Geschlechtergeschichte: Aspekte einer internationalen Debatte, in: G&H 1/1 (1989), S. 7–30 (übers. in vier Sprachen). Fragwürdige Dichotomien: eine Herausforderung für die Geschlechtergeschichte: Übersetzung (für den vorliegenden Band)  von: Challenging Dichotomies: Perspectives on Women’s History, in: Writing Women’s History: International Perspectives, hg. von Karen Offen, Ruth R. Pierson u. Jane Rendall im Auftrag der International Federation for Research in Women’s History/Fédération inter­nationale pour la recherche en histoire des femmes, London 1991, S. 1–23. Erschienen in vier Sprachen. Die Querelle des Femmes in Europa: eine begriffs- und forschungsgeschichtliche Einführung, zusammen mit Margarete Zimmermann, in: Gisela Bock u. Margarete Zimmermann (Hg.), Die europäische Querelle des Femmes. Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert, Stuttgart 1997 (= Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 2, 1997), S. 9–38. Engl. Übers. in: Disputatio. International Transdisciplinary Journal of the Late Middle Ages, Bd. 5, 2002, S. 127–156. Begriffsgeschichten: »Frauenemanzipation« und Emanzipationsbewegungen im 19. Jahrhundert. Originalbeitrag. Frauenrechte als Menschenrechte: Olympe de Gouges’ transnationale Wiederentdeckung: Beitrag zum Themenschwerpunkt »Europäische Geschichte/Geschlechter­ geschichte«, hg. v. Iris Schröder u. Priska Jones, in: Themenportal Europäische Geschichte (2009): URL http://www.europa.clio-online.de/2009/Article=410. Das politische Denken des Suffragismus: Deutschland um 1900 im internationalen Vergleich, in: Michael Grüttner u. a. (Hg.), Geschichte und Emanzipation. Festschrift für Reinhard Rürup, Frankfurt a. M. 1999, S. 95–136. Wege zur demokratischen Bürgerschaft: transnationale Perspektiven. Originalbeitrag. »Labor of Love«: Zur Entstehung der modernen Hausarbeit in den Vereinigten Staaten. Originalbeitrag (unpublizierter Vortrag von Juni 1976), partiell erschienen in: Gisela Bock u. Barbara Duden, Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit: Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus, in: Berliner Dozentinnengruppe (Hg.), Frauen und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen (Juli 1976), Berlin 1977. Weibliche Armut, Geschlechterbeziehungen und Rechte von Müttern in der Entste­ ichelle hung der europäischen Sozialstaaten, ca. 1880–1950, in: Georges Duby u. M ­Perrot (Hg.), Frauen in der Geschichte, 5 Bde., Bd. 5: 20. Jahrhundert, hg. von F ­ rançoise Thébaud, Frankfurt a. M. 1995, S. 427–462 (auch in sieben weiteren Sprachen).

393 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

Nationalsozialistische Sterilisations- und Geburtenpolitik, in: Dieter Kuntz u. Susan Bachrach (Hg.), Deadly Medicine: Creating the Master Race, hg. vom United States Holocaust Memorial Museum, Washington, DC 2004, S. 61–87, kombiniert mit dem Beitrag zu: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord, Köln 2008. Ganz normale Frauen: Täter, Opfer, Mitläufer, Zuschauer im Nationalsozialismus, in: Kerstin Heinsohn u. a. (Hg.), Zwischen Karriere und Verfolgung: Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt 1997, S.  ­245–277. Übers. in drei Sprachen. Zukunft braucht Vergangenheit. Women’s History zwischen Amerika und Europa: Nachruf auf Gerda Lerner, in: GG 39 (2013), S. 259–278. Grenzübergänge und Hegemonien: Lokale und europäische, transnationale und globale Geschlechtergeschichten: teilweise Originalbeitrag, teilweise in: Geschlechtergeschichte auf alten und neuen Wegen. Zeiten und Räume, in: Jürgen Osterhammel u. a. (Hg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2006, S. 45–66.

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Abkürzungen AAA AdF ADH AHR AJS APSR Arenal Aspasia BDF Clio CSSH Die Frau Genesis GSR GG GGr G&H HEI HPT HW HZ FS FSt IAW/IWSA ICW JAH JBS JCCH JCH JFH JMH JSH JWH L’Homme

Annals of the American Academy of Political and Social Science Allgemeiner deutscher (ab 1896: Deutscher) Frauenverein Annales de Démographie Historique American Historical Review American Journal of Sociology American Political Science Review Arenal. Revista de historia de las mujeres Aspasia. The International Yearbook of Central, Eastern and Southeastern European Women’s and Gender History Bund Deutscher Frauenvereine Clio: Histoire, Femmes, Sociétés; ab 2013: Clio: Femmes, Genre, Histoire Comparative Studies in Society and History Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben Genesis. Rivista della Società Italiana delle Storiche German Studies Review Geschichte und Gesellschaft Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner u. a., 8 Bde., Stuttgart 1972–2004 Gender & History History of European Ideas History of Political Thought History Workshop Journal Historische Zeitschrift Feminist Studies Feministische Studien International Alliance of Women, bis 1926 International Woman Suffrage Alliance (Weltbund für Frauenstimmrecht) International Council of Women (Weltfrauenbund) Journal of American History Journal of British Studies Journal of Colonialism and Colonial History Journal of Contemporary History Journal of Family History Journal of Modern History Journal of Social History Journal of Women’s History L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft

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MS NB Querelles RSC SH Signs SJH WHR WRB WSIQ/WSIF YBLBI

Le Mouvement social Neue Bahnen. Organ des allgemeinen deutschen Frauenvereins Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung Rivista di storia contemporanea Social History Signs. Journal of Women in Culture and Society Scandinavian Journal of History Women’s History Review Women’s Review of Books Women’s Studies International Quarterly, später Women’s Studies International Forum Year Book of the Leo Baeck Institute

396 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

Personenregister (ohne die in den Anmerkungen genannten Autoren und in Titeln genannte Personen) Abbot, Grace  272 Aberdeen, Ishbel Maria, Marchioness of  385 Adam, Margarete  329–331 Addams, Jane  141, 254, 272 Adler, Emma geb. Braun  158 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius  73, 96 f. Aguilar, Grace  137 Albistur, Maïté  22, 83 Albrecht von Eyb  85 Allen, Ann Taylor  13, 275 Anderson, Bonnie S.  380 Angenot, Marc  83 Anthony, Katherine  264, 271 Apolant, Jenny  141 Arbib, Bianca  268 Arendt, Hannah  31, 38, 353, 363 Ariosto, Ludovico  98 Armogathe, Daniel  83 Astell, Mary  87, 128, 131 Aston, Louise  112, 113 Atkinson, Mabel  270 Auclert, Hubertine  4, 125, 219, 265 f., 284 Augspurg, Anita  148, 189–191, 194 f., 197, 220, 269 Bäumer, Gertrud  119 f., 126 f., 148, 284, 295 Baumgärtel, Bettina  84 Barmby, Catherine  107, 124 Beard, Mary Ritter  371 Beauvoir, Simone de  69 f., 371 Bebel, August  122, 143–147, 179, 221, 230, 269 f., 373 Beccaria Rolfi, Lidia  337 Behr, Wilhelm Josef  216 Beecher, Catherine E.  249 Bell, Susan Groag  84, 88 Bérard, Alexandre  234 Bergk, Johann Adam  216 Beveridge, William  259, 264, 289 Bielenberg, Christabel  328, 335, 347

Blanc, Olivier  159 Bloch, Marc  72 Blom, Ida  378, 381 Bluhm, Agnes  324, 334 Blum, Léon  284 Bormann, Martin  296 Bosch, Mineke  385 Boxer, Marilyn Jacoby  11 Braun, Lily  120, 158, 172, 179, 185, 189, 220, 268, 300 Breckinridge, Sophonisba  272 Bright, John  206 Bright, Ursula  187 Brunschvicg, Cécile  283, 292 Buber-Neumann, Margarete  336 Burke, Edmund  96, 131 Burton, Antoinette  389 Buttafuoco, Annarita  13, 59, 268 Calm, Marie  118 f. Canning, Kathleen  14 Castiglione, Baldassar  98 Cauer, Minna  140, 190, 195 Chaucer, Geoffrey  91 Chemello, Adriana  77, 79 Christine de Pizan  70, 75–77, 82 f., 85, 88, 91–93, 96, 392 Clauberg, Carl  326 Cobbe, Frances Power  118 Comte, Auguste  53 Condorcet, Marquis de  216 Considerant, Victor  221 Conti, Leonardo  307, 311 Darré, Richard Walther  318 David, Eduard  230 Davis, Natalie Zemon  8, 10, 17 f., 91, 369, 391 Della Casa, Giovanni  85 Deroin, Jeanne  199, 235 Deuel, Wallace R.  319 Dilke, Charles  179

397 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

Dittmar, Louise  113 Dohm, Hedwig  115–117, 123 f., 126, 131, 137, 172, 176–178, 180 f., 183, 186, 188 f., 192, 195 f., 198, 208, 219 Dohm, Wilhelm  136 Dublin, Thomas  14 Duby, Georges  379 Duhet, Paule-Marie  158 Dumas, Alexandre  125 Durand, Marguerite  267 Eastman, Crystal  272 Edwards-Pilliet, Blanche  266 Eichendorff, Joseph von  80 Engels, Friedrich  144, 146, 373 Equicola, Mario  97 Erasmus von Rotterdam  80, 86 Evans, Richard J.  11 f., 14 Farge, Arlette  91 Fawcett, Millicent Garrett  186 f., 200, 219 f. Ferguson, Moira  78, 93, 96 Firestone, Shulamith  56 Fischer, Eugen  306, 311 Fittko, Lisa  363 Flax, Jane  13 Flexner, Eleanor  215 Fontane, Theodor  179 Fonte, Moderata  77 f. Ford, Henry  255, 257 Fourier, Charles  104 Fraisse, Geneviève  94 Franc, Martin le  75 f., 91 Frank, Hans  295 Franzoi, Barbara  14 Freud, Sigmund  111 Frick, Ida  113, 133 Frick, Wilhelm  302 Friedan, Betty  344 Friedlander, Henry  333 Fürth, Henriette  141, 149 f., 269 Gad Bernard Domeier, Esther  136 Galbraith, John Kenneth  257 f. Giedion, Siegfried  248, 250 Gierke, Otto  182 Gilbreth, Frank u. Lillian M.  254 Gilligan, Carol  38, 56 Gilman, Charlotte Perkins  254, 273 f. Glagau, Otto  121 Gössmann, Elisabeth  83

Goldschmidt, Abraham Meyer  122 Goldschmidt, Henriette, geb. Benas (Leipzig)  83, 122, 141, 174, 192, 222 Goldschmidt, Henriette (Berlin),  193, 199 Goldschmidt, Johanna  141 Gouges, Olympe de  18, 96, 107, 130, ­155–167, 216 f., 237 Gournay, Marie de  77, 82 Grimké, Angelina u. Sarah  361 Groult, Benoîte  159 Günther, Hans F. K.  311 Gütt, Arthur  307 Gutzkow, Karl  112 Hackett, Amy Kathleen  12 Hausen, Karin  9, 14, 247 Harben, Henry D.  270 Heine, Heinrich  101, 105 Hecht, Marie  183, 197 Héricourt, Jenny d’  95, 111 Heyrick, Elizabeth  134 Higginson, Thomas  182 f. Hilberg, Raul  327 Hilgenfeldt, Erich  296 Himmler, Heinrich  42, 296, 311, 315, 326, 396 Hippel, Theodor Gottlieb von  103–105, 131, 136, 152, 157, 216 Hirsch, Jenny  118, 131, 137, 196, 198, 219 Hitler, Adolf  138, 302 f., 306–308, 310, 315 f., 319 f., 338, 344, 350 Hobsbawm, Eric  364 Holtzendorff, Franz von  219 Hufton, Olwen  381 Ichenhäuser, Eliza  197 Irailh, Augustin Simon  71, 80 Jacobi, Juliane  382 Jong van Beek en Donk, Cécile  124 Kalbfleisch, Julia  83 Kaplan, Marion  12 Kelley, Florence  272 Kelly (Kelly-Gadol), Joan  8, 71, 83, 91, 94, 375 Kessler-Harris, Alice  13 Kettler, Hedwig  116 Key, Ellen  267, 273 Kirkpatrick, Clifford  327 f., 331 f. Klüger, Ruth  336 Knibiehler, Yvonne  12

398 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

Knight, Anne  217 Koselleck, Reinhart  101–106, 117, 151 Krog, Gina  219 Kronstein, Ilona  365 f. Kronstein, Nora  365 Kronstein, Robert  365 f. Kuliscioff, Anna  274 Lafargue, Paul  266 Lambert Adam, Juliette  95 Lange, Helene  119 f., 126 f., 135, 138, 148, 152, 174 f., 178–183, 186 f., 189, 192, ­195–199, 201–203, 208, 220, 269, 352 Lathrop, Julia  272, 280, 285 Lauer, Esther  78, 88 Lefranc, Abel  81 Lenz, Fritz  306, 311, 317, 324 Leporin, Dorothea ­Christiane  81 Lerner, Carl  362, 366, 367 Lerner, Gerda  8, 14 f., 18, 44, 91, 94, 217, 243 f., 359–377 Levin, Rahel verh. Varnhagen  136 Lewald, Fanny  113–117, 121, 123, 131, 137, 143, 197, 219 Ley, Robert  341 Lincoln, Abraham  135, 143 Lion, Hilde  150 Lischnewska, Maria  273 f. Locke, John  128 Loewenherz, Johanna  150 Lorde, Audre  13 Lüders, Else  197 Luther, Martin  86 f. MacDonald, Ramsay  289 MacDonald, Margaret  289 Maclean, Ian  83, 94, 96 Magnus-Hausen, Frances  148 Majno Bronzini, Ersilia  275 Manus, Rosa  386 Marche, Olivier de la  83 Margarete von Navarra  82 Marinelli, Lucrezia  78 Marshall, Catherine  186 Marshall, Thomas Humphrey  110 Martin, Anna  273 Martin, Maria  283 f. Marx, Karl  104, 143, 385 Matthews Grieco, Sara  84, 96 Meysenbug, Malwida von  115, 117, 131 Michelet, Jules  95, 235

Mill, Harriet Taylor  131, 182, 217 Mill, James  177, 223 Mill, John Stuart  53, 104, 111, 113, 118, 127, 131 f., 171, 177–179, 182, 187, 197 f., 202, 206, 211, 217, 221, 223, 228, 233, 235, 239 Millett, Kate  246, 344 Mirabeau, Gabriel Hooré Riqueti  136 Mohanty, Chandra Talpade  387 Møller, Katti Anker  267, 280 Mommsen, Theodor  179 Montenay, Georgette de  96 More, Hannah  133 Morelli, Salvatore  218 Morgenstern, Lina  141, 149 Moses, Claire  95 Mosse, George L.  364 Mozzoni, Anna Maria  218, 274 Mühlbach, Luise  132 Mundt, Theodor  112 Mussolini, Benito  176, 294 Myrdal, Alva u. Gunnar  291 Nathorff, Hertha  334 Novich, Bertha  268 Offen, Karen  59, 381 Ogburn, William F.  256 Oliphant, Margaret  132 Otto, Louise  105, 111 f., 117, 123, 142, 147, 152, 174, 182 f., 189, 217, 220 Ozouf, Mona  209 Paine, Thomas  96 Palmerston, Henry John Temple  210 Paletschek, Sylvia  380 Pappenheim, Bertha  137–140, 197 Parsons, Talcott  256 Passi, Giovanni  73, 78, 96 f. Pateman, Carole  57, 59, 205 f., 208, 211 Perrot, Michelle  12, 379 Philipp III., Herzog von Burgund  75 Pietrow-Ennker, Bianka  379 Pirckheimer, Caritas Pognon, Maria  266 Pont, Gratien Du  76 Postel, Guillaume  76 Preuß, Hugo  232 Proelß, Sera  194 Proudhon, Pierre-Joseph  95 Quataert, Jean H.  12

399 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330

Ranke, Leopold  40 Ranke-Perceval, Clarissa Graves  40 Rathbone, Eleanor  127, 271, 287–289 Reichmann-Jungmann, Eva  329 f. Reid, Marion Kirkland  131 Reinhardt, Fritz  295 Rendall, Jane  59 Richards, Ellen  254 Riesser, Gabriel  103 Robespierre, Maximilien  157, 166 Robin, Paul  275 Roches, Catherine Des  77 Rokkan, Stein  206 Romieu, Marie de  77 Rosaldo, Michelle Zimbalist  34, 50 Rosanvallon, Pierre  208–210, 234–236 Rosenkranz, Karl  105 f. Rothschild Lady Battersea, Constance  139 Rousseau, Jean-Jacques  29, 96, 224 Roussel, Nelly  267, 276, 279 Rouzade, Léonie  266, 284 Rubin, Gayle  52 Rüdin, Ernst  306–308, 310 f., 313, 315 Rupp, Leila  385 Russell, Alys  269 Ruttke, Falk  307, 313 Saint-Simon, Henri de  108 Salomon, Alice  141 f., 151 f., 195, 269, 363 Salomon, Charlotte  363 Salzmann, Christian Gotthilf  137 Sand, George  107, 110, 112, 124, 143, 199, 217 Sanger, Margaret  297 Sauter, Theresia  160 Saumoneau, Louise  144 Savigny, Friedrich Karl von  225 Schepeler-Lette, Anna  118 Schiff, Paolina  268 Schirmacher, Käthe  125, 264 f., 269, 273, 276 Schlegel, Friedrich  105 Schmidt, Auguste  147, 174, 198 Schmidt-Fels, Lucia  336 Schoenbaum, David  345 f. Schreiner, Olive  179 Schröder, Hannnelore  160 Schwerin, Jeannette  140 f., 149, 150 Scott, Joan  9, 10, 13, 15, 58, 378, 389 Sierra, Nina  268 Sieyès, Emmanuel-Joseph  162 f. Sinha, Mrinalini  390

Smith, Adam  134 Smith, Bonnie G.  13, 262, 381 Smith-Rosenberg, Carroll  13 Solterer, Helen  83, 92 Stanton, Elizabeth Cady  118, 225 Stanton, Theodore  118 f., 122 Stein, Edith  63 Stein, Lorenz von  109 Steinmetz, Sebald Rudolf  126 Stemmler, Wilhelm  311 Stöcker, Helene  126, 269, 275 Stowe, Harriet Beecher  249 Strachey, Ray  128 Stritt, Marie  149, 194 f. Sybel, Heinrich von  104 Tarabotti, Arcangela  78 Taylor, Frederick Winslow  253, 255 Telle, Emile  81 Thébaud, Françoise  379 Thiele-Knobloch, Gisela  161 Thompson, William  107, 131, 216 Treitschke, Heinrich von  120, 132 Tristan, Flora  108 Vaillant-Couturier, Claude  336 Vernet, Madeleine  275 Verschuer, Otmar von  311 Virgili, Patrice  379 Wagner, Gerhard  320 Webb, Beatrice  271 Weber, Marianne  126, 273 Weber, Max  126, 269, 345 Weißenborn, Georg Friedrich Christian  105, 137 Welter, Barbara  247 Wheeler, Anna Doyle  107, 131, 216 Wright, Margaret  57, 61 Wolf, Christa  43 Wollstonecraft, Mary  96, 104 f., 107, 125, 131, 136 f., 157, 189, 216 Wunderlich, Frieda  295 Zahn-Harnack, Agnes von  128 Zangwill, Isaac  179 Zell, Katharina  93 Zepler, Wally  231 Zetkin, Clara  105, 120, 144–150, 152, 172, 175, 183, 185, 190 f., 203, 230 f. Zinsser, Judith P.  380

400 © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370339 — ISBN E-Book: 9783647370330