Sicherheit in der Frühen Neuzeit: Norm - Praxis - Repräsentation 9783412217082, 9783412221294

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Sicherheit in der Frühen Neuzeit: Norm - Praxis - Repräsentation
 9783412217082, 9783412221294

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Frühneuzeit-Impulse

Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands e. V.

Band 2

Christoph Kampmann Ulrich Niggemann (Hg.)

Sicherheit in der Frühen Neuzeit Norm · Praxis · Repräsentation

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien · 2013

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Festungsgrundriss Neu-Breisach © Musée des Plans-Reliefs, Hôtel National des Invalides, 75007 Paris, Photo B. Arrigoni Gestaltung des Covermotivs Veronika Wagner, www.nachhalt.de

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. ISBN 978-3-412-22129-4

Inhalt Christoph Kampmann und Ulrich Niggemann Einleitung Sicherheit in der Frühen Neuzeit – Zur Einführung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

ABTEILUNG I · NORMEN UND ORDNUNGS­VORSTELLUNGEN 

. . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Quentin Skinner Liberty and Security: ­The Early-Modern English Debate  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

SEKTION I· Sicherheit – Norm und Begriff in der frühneuzeitlichen ­ europäischen Kommunikation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Luise Schorn-Schütte  Sicherheit als Begriff und Phänomen in der Europäischen Frühen Neuzeit – ­Einleitung in die Sektion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Philip Hahn  „Sicherheit“ – gut oder böse? Zur Semantik des Begriffs in protestantischen politischen Predigten im Alten Reich des 16. und 17. ­Jahrhunderts  . . . . . 47 Maciej Ptaszyn´ski  Das Ringen um Sicherheit der Protestanten in Polen-Litauen im 16. und 17. ­Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Anuschka Tischer  Sicherheit in Krieg und Frieden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

SEKTION II· Politische Sicherheitssysteme vom 16.–19. Jahrhundert: Instrumente, Techniken, Regeln für die Herstellung von Sicherheit – und Frieden?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Reinhard Stauber Einführung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Maximilian Lanzinner Ein Sicherheitssystem zwischen Mittelalter und Neuzeit: die Landfriedens- und Sonderbünde im Heiligen Römischen Reich  . . . . . . . . . . . . . . . 99 Sabine Dabringhaus  Sicherheit als Dimension imperialer Integration: Das Beispiel China  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Sven Externbrink  Sicherheit durch Verhandlung?  Strukturwandel im europäischen Staatensystem des 18. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . 129 Katja Frehland  Völkerrechtliche Regeln und internationale Sicherheit zwischen Utrecht (1713/14) und Wien (1814) – Der Befund der Bündnistexte  . . . . . . . . . . . . . . 142 Reinhard Stauber und Florian Kerschbaumer Revolution, Restauration und Intervention. Beobachtungen zum Politikraum Europa in der Zeit des Wiener Kongresses  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

SEKTION III· Religiös-konfessionelle Vielfalt als sicherheitspolitische Herausforderung in der Frühen Neuzeit: Die strategischen Antworten der föderal verfassten Staaten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Jürgen Overhoff  Föderale Verfassungen als politische und religiös-konfessionelle Sicherheitsgarantien. Einführende Überlegungen zu einem bemerkenswerten Versprechen der frühneuzeitlichen Staatstheorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

6

Inhalt Johannes Burkhardt  Konfessionsbildung als europäisches Sicherheitsrisiko und die Lösung nach Art des Reiches  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 André Holenstein  Konfessionalismus und die Sicherheit von Föderationen in der Frühen Neuzeit. Beobachtungen zur Eidgenossenschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Volker Depkat  Sicherheit in der föderalen Theologie der Puritaner im kolonialen Neuengland  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

SEKTION IV· Konfessioneller Radikalismus, prophetische Autorität und „Single Rebellion“ als politisches Sicherheitsrisiko im Zeitalter der Religionskriege  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Ronald G. Asch  Konfessioneller Radikalismus als politisches Sicherheitsrisiko im Zeitalter der Religionskriege – Zur Einführung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Markus Völkel  Die historischen Grundlagen der Lehre vom Tyrannenmord bei Juan de Mariana und ihre Implikationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Andreas PeCˇ  ar  Warum musste Karl I. sterben?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Randolph C. Head  Prudent Radicals and Radical Moderates: Confessional violence and political murder in Graubünden in the seventeenth century . 251

SEKTION V· Sicherheit vor Gewalt – Sicherheit durch Gewalt 

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Horst Carl Einleitung in die Sektion: Sicherheit vor Gewalt – Sicherheit durch Gewalt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Horst Carl Landfriedensbrecher und „Sicherheitskräfte“: Adlige Fehdeführer und Söldner im 16. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Hans-Jürgen Bömelburg  Sicherheitskonzepte ohne Landfrieden: Gewalt- und Sicherheitsgemeinschaften in Polen-Litauen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Marian Füssel  Die Politik der Unsicherheit. Sicherheit, Gewalt und Expansion in den britischen Kolonien im Siebenjährigen Krieg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Bernd Klesmann  Sicherheit im Namen der Nation. Garde nationale und Commune, 1789–1794  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

ABTEILUNG II · HUMAN SECURITY 

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

SEKTION VI· Zum Umgang mit Sicherheiten und Risiken in Hinblick auf Wetter und Klima in der Frühen Neuzeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Manfred Jakubowski-Tiessen  Zum Umgang mit Sicherheiten und Risiken in Hinblick auf klimatisch bedingte Naturgefahren – Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Stefanie Rüther  Zwischen göttlicher Fügung und herrschaftlicher Verfügung. Katastrophen als Gegenstand spätmittelalterlicher Sicherheitspolitik  . . . . . . . . . . . . . . 335 Marie Luisa Allemeyer  „Es lässt sich eine völlige Sicherheit gegen das Wasser verschaffen.“ Zum Diskurs über die Beherrschbarkeit des Meeres in einer frühneuzeitlichen Küstengesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Inhalt Dominik Collet Eine Kultur der Unsicherheit? Empowering Interactions während der Hungerkrise 1770 –1772  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

SEKTION VII· Ein frühneuzeitliches Erfolgs­modell: Sicherheit durch Versicherung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Cornel Zwierlein  Sicherheit durch Versicherung: Ein frühneuzeitliches Erfolgsmodell  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Magnus Ressel  Die Genese und der Fall des Verbotsdogmas von Lebensversicherungen in der Frühen Neuzeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Geoffrey Clark  Slave Insurance in Late Medieval Catalonia  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 Eve Rosenhaft Geschlecht und Sicherheit: Paradoxien an den Anfängen der ­Lebensversicherung in Deutschland  . . . . . . . . . . . . . 430 Cornel Zwierlein  Frühe Formen der Institutionalisierung von ‚Versicherung‘ und die Bedeutung der Versicherungsgeschichte für eine allgemeine Sicherheitsgeschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Wolfgang Behringer  Das europäische Konzept des Zufalls, oder: Von der Unsicherheit zur Versicherung. Ein Kommentar  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459

SEKTION VIII· Soziale Sicherheit in Stadt und Land 

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

Gerd Schwerhoff  Soziale Sicherheit in der Frühen Neuzeit? Zur Einführung in die Sektion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Joel F. Harrington  Waisen- und Findelkinder im frühneuzeitlichen Nürnberg – obrigkeitliche Fürsorge und „informal child circulation“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Gesa Ingendahl  Antizipierte Bedürftigkeit im Witwenstand. Vom Umgang mit einem Topos  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Sebastian Schmidt  Zu Repräsentationen von Armut und sozialer Sicherheit sowie den institutionellen Fürsorgepraktiken im Kurfürstentum Trier  . . . . . . . . . . . . . 496 Robert Brandt und Thomas Buchner  Soziale Sicherheit durch korporative Einbindung. Das Beispiel der städtischen Zunft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Thomas Sokoll  Soziale Sicherheit, soziale Sicherung, Subsistenzsicherung. ­Ein Kommentar  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528

SEKTION IX· Sicherheit für Minderheiten – Sicherheit vor Minderheiten: Sicherheitsstreben und staatliche Schutzpolitik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 538 Ulrich Niggemann Minderheiten und Sicherheit – Zur Einführung  . . . . . . . . . . . 538 André Griemert  Der Reichshofrat in der Justiznutzung von Juden in der Herrschaftszeit Rudolfs II. – Die Causa Israel von Lübbecke contra Hilmar von Quernheim  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 548 Ulrich Niggemann  Places de sûreté. Überlegungen zum Sicherheitsstreben der Hugenotten in Frankreich (1562–1598)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Raingard ESSer Rückkehr oder Unterwanderung? Niederländische Remigranten im Schatten des Achtzigjährigen Krieges  . . . . . . . . . . . . 585

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Inhalt Alexander Schunka  Schutz und Chancen: Sicherheitsstrategien von Migranten im Reich des 17. und 18. Jahrhunderts  . . . . . . . . 599

SEKTION X· Rechtssicherheit: Sicherheit durch Recht oder Sicherheit des Rechts?. 615 Siegrid Westphal und Karl Härter Rechtssicherheit: Sicherheit durch Recht oder Sicherheit des Rechts?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 Eva Ortlieb Rechtssicherheit für Amtsträger gegen fürstliche Willkür? Die Funktion der Reichsgerichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622 Ulrich Falk Rechtssicherheit durch Konsilien? 45 Thesen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 Inken Schmidt-Voges  Securitas domestica oder ius certum domus? Juristische Diskurse zur Sicherheit des Hauses um 1700  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 Karl Härter  Die Sicherheit des Rechts und die Produktion von Sicherheit im frühneuzeitlichen Strafrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661

ABTEILUNG III · REPRÄSENTATION UND SYMBOLIK VON SICHERHEIT  SEKTION XI· Sichere und unsichere militärische Räume 

. . . . . . . . . 673

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674

Achim Landwehr und Ralf Pröve  Sichere und unsichere militärische Räume  . 674 Stefan Kroll  Frühneuzeitliche Festungsräume als sicheres Terrain? Die kursächsischen Festungen Königstein und Sonnenstein im Spiegel der Veduten Bernardo Bellottos  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Dorothea Nolde  Zusammenstöße und ihre Vermeidung: Reisen in Kriegs- und Konfliktgebieten in der Frühen Neuzeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 Tobias Winnerling  Sicherer Berg, gefährlicher Feind. Natürlicher und militärischer Raum im Computerspiel zur Frühen Neuzeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712

SEKTION XII· Bauliche Repräsentation von Sicherheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 Ulrich Schütte  Die bauliche Repräsentation von Sicherheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 Marion Hilliges  Sicherheitsversprechen und herrscherliche Bildpolitik: Der Festungsstern im Bildmedium  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737 Thomas Küntzel  Verfallende Zeichen innerer Wehrhaftigkeit: Mittelalterliche Sperrketten in der (frühen) Neuzeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758 Christian Ottersbach  Wehrhafte Zeichen und innere Sicherheit: Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783 Ulrich Rosseaux  Sicherheit durch Licht? Zur Entwicklung von öffentlichen Straßenbeleuchtungen in frühneuzeitlichen Städten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807

Vorwort „Sicherheit in der Frühen Neuzeit“ – unter diesem Rahmenthema fand vom 15. bis zum 17. September 2011 die 9. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands – der „Frühneuzeittag“ – statt. Seine Beiträge und Ergebnisse werden in dem vorliegenden Band dokumentiert. Die grundlegende Bedeutung der Sicherheitsthematik ist in den vergangenen Jahren von der Frühneuzeitforschung unter sehr differierenden Fragestellungen und in unterschiedlichen Gegenstandsbereichen herausgearbeitet worden. Im vorliegenden Band wird erstmals der Versuch gemacht, die unterschiedlichen Ansätze der Sicherheitsforschung – im Sinne einer wissenschaftlichen Bestandsaufnahmen, aber auch der Entwicklung weitergehender Frageperspektiven – zusammenzuführen. Der Verlauf der Diskussionen auf dem Frühneuzeittag zeigte, dass die Beschäftigung mit Sicherheit geeignet war, das Grundanliegen der seit 1995 stattfindenden Frühneuzeittage einzulösen: Eine Plattform des Austauschs und der Kommunikation von Historikerinnen und Historikern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher innerfachlicher Richtungen, aber auch benachbarter Disziplinen zu bieten, die zur Frühen Neuzeit forschen. Seit 2010 erscheinen die Ergebnisse der Tagung in der Reihe „FrühneuzeitImpulse“, deren zweiter Band nunmehr vorgelegt werden kann. Dazu, dass die Drucklegung in recht kurzer Zeit gelungen ist, haben viele beigetragen, denen wir als Herausgeber herzlich danken möchten. Kornelia Oepen, Jolanthe ­Straßel, Lena Haunert und zahlreichen studentischen Helfern danken wir an dieser Stelle noch einmal für die Unterstützung und Koordinationsleistung bei der Durchführung der Tagung selbst. Die studentischen Hilfskräfte Stefanie Bode, Anna Peters, Joel Hüsemann und Johannes Zeh haben wichtige Hilfe bei der Durchsicht und redaktionellen Bearbeitung der Druckvorlage geleistet. Schließlich danken wir auch allen Autorinnen und Autoren für die Zusammenarbeit und die Bereitschaft, sich auf das Thema „Sicherheit“ einzulassen, sowie dem Böhlau-Verlag, namentlich Dorothee Rheker-Wunsch und Franziska Creutzburg, für die zügige Drucklegung des Bandes. Marburg, im April 2013 Christoph Kampmann, Ulrich Niggemann

Abkürzungsverzeichnis AHR American Historical Review AHRF Annales historiques de la Révolution française AKG Archiv für Kulturgeschichte Annales Annales. Économies, Sociétés, Civilisations ARG Archiv für Reformationsgeschichte BaslerZ Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde CanHRev The Canadian Historical Review CEH Central European History EconHR The Economic History Review EHR English Historical Review FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FOEG Forschungen zur osteuropäischen Geschichte GG Geschichte und Gesellschaft GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HA Historische Anthropologie HJ The Historical Journal HJb Historisches Jahrbuch HSR Historical Social Research/Historische Sozialforschung H & T History and Theory HZ Historische Zeitschrift IRSH International Review of Social History JbbGOE Jahrbücher für Geschichte Osteuropas JbHistF Jahrbuch der historischen Forschung JbRegG Jahrbuch für Regionalgeschichte JbWG Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte JEcclH Journal of Ecclesiastical History JEconH Journal of Economic History JHIdeas Journal of the History of Ideas JModH The Journal of Modern History KZSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie MGM Militärgeschichtliche Mitteilungen P & P Past and Present PolZG Aus Politik und Zeitgeschichte RHDipl Revue d’histoire diplomatique RHMC Revue d’histoire moderne et contemporaine RHVjbll Rheinische Vierteljahresblätter SZG Schweizerische Zeitschrift für Geschichte

Abkürzungsverzeichnis

TG VfZ VSWG WestF ZAA ZBLG ZfO ZGO ZHF ZNR ZRG GA ZRG KA ZWLG

Tijdschrift voor Geschiedenis Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Westfälische Forschungen Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte Zeitschrift für Ostforschung Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Zeitschrift für historische Forschung Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte

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Einleitung

Christoph Kampmann und Ulrich Niggemann

Sicherheit in der Frühen Neuzeit – Zur Einführung „Sicherheit“ – der Titelbegriff des Marburger Frühneuzeittags – nimmt Bezug auf eine der zentralen Leitvorstellungen der aktuellen Politik. Sicherheit wird heutzutage in fast sämtlichen relevanten Politikbereichen, von der internationalen Politik über die Sozial- und die Umwelt- bis hin zur Währungspolitik und Kriminalitätsbekämpfung, als entscheidende Zielvorgabe angesehen. Entsprechend bezeichnete der Frankfurter Politikwissenschaftler Christopher ­Daase die Sicherheit als den „Goldstandard des Politischen“ unserer Zeit1, und ­Eckart Conze konstatierte – bezogen auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland –, dass Sicherheit in den vergangenen Jahrzehnten zu einem „umfassenden soziokulturellen Orientierungshorizont“ der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufgestiegen sei – ein Orientierungshorizont, in dem sich die gesamte Politik zu bewegen habe.2 1

Christopher Daase, Der erweiterte Sicherheitsbegriff, in: Mir A. Ferdowski (Hrsg.), Internationale Politik als Überlebensstrategie, München 2009, S. 137–153, hier S. 137. Allgemeiner zur jüngeren sozialwissenschaftlichen Sicherheitsforschung: Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, 2. Aufl. Stuttgart 1973; Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995; Cornelia Ulbert/Sascha ­Werthes, Menschliche Sicherheit. Globale Herausforderungen und regionale Perspektiven, Baden-Baden 2008; sowie die Sammelbände von Ronnie D. Lipschutz (Hrsg.), On Security (New Directions in World Politics), New York 1995; Ekkehard Lippert (Hrsg.), Sicherheit in der unsicheren Gesellschaft, Opladen 1997; Karl Härter/Gerhard Sälter/Eva Wiebel (Hrsg.), Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt a. M. 2010. Die sogenannte Copenhagen School hat „Sicherheit“ ebenfalls zum zentralen Thema ihrer politikwissenschaftlichen Arbeit gemacht; Barry Buzan/Ole ­Wæver/ Jaap de Wilde, Security: A New Framework for Analysis, Boulder/Col. 1998, hier bes. S. 23–29; und zusammenfassend Barry Buzan/Lene Hansen, The Evolution of International Security Studies, Cambridge 2009; zu den Perspektiven für die Geschichtswissenschaft Cornel Zwierlein/Rüdiger Graf/Magnus Ressel (Hrsg.), The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History (HSR 35, 4), Köln 2010; und jüngst auch Eckart Conze, „Securitization“. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz?, in: GG 38 (2012), S. 453–467. 2 Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer modernen Politikgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 53 (2005), S. 357–380, hier S. 360; vgl. auch ders.,

Einleitung

Zweifellos hat diese Aktualität bei der Entscheidung für das Leitthema des Marburger Frühneuzeittags eine Rolle gespielt, zumal er in jenen Tagen stattfand, in denen die Welt am zehnten Jahrestag von „9/11“ der verheerenden Anschläge auf das Word Trade Center und des fundamentalen Wandels der Sicherheitspolitik im Zeichen des Internationalen Terrorismus gedachte. Ausschlaggebend für die Themenwahl war diese Aktualität freilich nicht. Die eigentlichen Gründe, Sicherheit zum Rahmenthema zu machen, liegen tiefer und verweisen auf das Kernanliegen der Frühneuzeittage, gibt doch die Fokussierung auf die Sicherheitsthematik die Möglichkeit, den Blick auf die spezifischen Wesensmerkmale der „Frühen Neuzeit als Epoche“ (um es mit dem Titel eines zurückliegenden Frühneuzeittags3 zu formulieren) zu öffnen und zugleich unterschiedliche Teildisziplinen, Richtungen und Ansätze der Frühneuzeitforschungen zusammenzubringen. Somit ist auch nicht Homogenität das Ziel des Bandes, sondern die Vielfalt der Frühneuzeitforschung unter dem Leitbegriff der Sicherheit zu bündeln. Dies wird im Folgenden in drei Schritten erläutert. Zunächst (I) soll gezeigt werden, warum gerade die Perspektive auf Sicherheit geeignet ist, für die Frühe Neuzeit spezifische Fundamentalprozesse und zentrale Entwicklungslinien sichtbar werden zu lassen. Sodann, im zweiten Schritt (II), wird skizziert, dass gerade das Rahmenthema Sicherheit unterschiedliche, derzeit aktuelle Forschungsrichtungen und Teildisziplinen der Frühneuzeitgeschichte zusammenzuführen vermag. Schließlich bietet eben die Ausrichtung auf Sicherheit einen vorzüglichen Ansatzpunkt, über die unterschiedlichen Teildisziplinen und Gegenstandsbereiche hinweg gemeinsame Fragestellungen bzw. Frageansätze zu entwickeln, wie im dritten und letzten Teil (III) der folgenden Ausführungen darzulegen ist.

I. Sicherheit als Merkmal frühneuzeitlicher Fundamentalprozesse

Eine umfassende historische Semantik von „Sicherheit“ als politischem Grund­ begriff ist noch nicht geschrieben worden und zweifellos ein dringendes Desiderat. Nicht zufällig steht am Anfang dieses Bandes eine Sektion, die sich mit Begriff und Normativität von Sicherheit auseinandersetzt4, aber natürlich nur Vorarbeiten für eine ausführlichere Aufarbeitung der Verwendung und Semantik des Sicherheitsbegriffs liefern kann. Gleichwohl dürfte über zwei eng miteinander Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, Berlin 2009. 3 „Die Frühe Neuzeit als Epoche“, 6. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschland, 15. bis 17. September in Erlangen; vgl. die Tagungspublikation: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche (HZ Beihefte 49), München 2009. 4 Dazu die Beiträge in Sektion I.

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Christoph Kampmann und Ulrich Niggemann

verbundene Aspekte des Begriffs bzw. der Begriffsgeschichte von „Sicherheit“ Einigkeit bestehen – zwei Aspekte, die von zentraler Bedeutung sind, um die Schlüsselbedeutung von Sicherheit im Rahmen frühneuzeitlicher Fundamentalprozesse nachvollziehen zu können: Der eine Aspekt bezieht sich auf die Entwicklung von „Sicherheit“ zu einem politischen Leitkonzept. Es ist schon seit langem bekannt, dass der entscheidende Durchbruch von „Sicherheit“ zu einem politischen Grundbegriff bzw. zu einem der „Hauptbegriffe“ der politischen Sprache in der Frühen Neuzeit erfolgt ist. Schon Werner Conze hat in seinem nach wie vor grundlegenden Artikel in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ überzeugend herausgestellt, dass sich seit dem 16. Jahrhundert alle politischen Begriffe aus dem Wortfeld „sicher“ mit deutlich zunehmender Intensität verbreiteten und spätestens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts „Sicherheit“ zu einem zentralen politischen Grundbegriff aufgestiegen sei.5 Es ist also zu beobachten, dass „Sicherheit“ als neuer politischer Hauptbegriff seit dem 17. Jahrhundert gleichberechtigt neben und über traditionelle politische Grundbegriffe trat. Pointiert formuliert: Der Begriff, der heute eine so zentrale Rolle in der politischen Diskussion spielt, ist als politischer Grundbegriff ein – wenn man einmal so formulieren möchte – „Produkt“ der Frühen Neuzeit. Der andere hier anzusprechende Aspekt berührt den spezifischen Gehalt des Begriffs „Sicherheit“. Es ist nämlich festzustellen, dass ein prinzipieller Unterschied zwischen dem Sicherheitsbegriff und anderen, traditionellen politischen Grundbegriffen wie beispielsweise „Frieden“, „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ besteht. Die letztgenannten politischen Grundbegriffe trugen immer eine Tendenz zur Universalisierung, zu universaler Geltung in sich. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie immer im universalen Sinne verwendet wurden. Aber sie konnten diese universale Gültigkeit beanspruchen, und das prägte ihre Begriffsverwendung ausgesprochen oder unausgesprochen stets mit.6 Das war und ist im Falle von „Sicherheit“ als politischem Grundbegriff grundlegend anders: Er besaß eine solch universalisierende Tendenz von Anfang an nicht. „Sicherheit“ war und ist auf begrenzte Räume bezogen, unabhängig davon, ob diese als geographisch,

5

Vgl. Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862, hier S. 837–849; ähnlich auch ­Michael ­Makropoulos, Sicherheit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt 1995, Sp. 745 -750, hier Sp. 746–748. 6 Christoph Kampmann, Frieden, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 1–21; Georg Schmidt, Freiheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart/ Weimar 2006, Sp. 1146–1164.

Einleitung

zeitlich oder kategorial begrenzt verstanden werden7; bei der Verwendung von „Sicherheit“ werden explizit oder implizit stets sichere von unsicheren Räumen unterschieden. Dem entspricht, dass „Sicherheit“ für die frühneuzeitliche Theologie konfessionsübergreifend – in bezeichnendem Gegensatz zu Begriffen wie „Frieden“, „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ – immer eher ambivalent bewertet wurde und sich keineswegs zu einer durchgängig positiv besetzten Leitvorstellung entwickelte. Es gibt klare Anzeichen, dass von theologischer Seite positiv von „Sicherheit“ gehandelt wurde, wenn es um Politik, nicht jedoch, wenn es um Theologie im engeren Sinne ging.8 Die Tatsache, dass in der Frühen Neuzeit mit „Sicherheit“ ein dezidiert nichtuniversell, partikular verwendeter Begriff zum politischen Grundbegriff aufstieg, ist für unseren Zusammenhang entscheidend. Denn sie verweist auf eine charakteristische Grundspannung, in der sich für die Frühe Neuzeit zentrale Fundamentalprozesse bewegten und die sie prägte. Auf der einen Seite bestanden in der Frühen Neuzeit traditionelle, universal gültige Normen unvermindert fort und blieben wirkmächtig.9 Auf der anderen Seite standen die Menschen und insbesondere die politisch bzw. gesellschaftlich verantwortlichen Akteure vor der Herausforderung, ohne, ja, möglicherweise auch gegen diese universal geltenden Normen politische und gesellschaftliche Ordnungen zu errichten. Gerade hier war der Ort der Sicherheit, denn Merkmal dieser Ordnungen war, eben nicht auf universale Gültigkeit zu zielen, sondern begrenzte Räume von Sicherheit zu schaffen. Dies kann am Beispiel einiger für die Frühe Neuzeit kennzeichnenden Fundamentalprozesse veranschaulicht werden. Genannt sei hier zunächst die religiöse bzw. konfessionelle Entwicklung, die durchaus treffend und prägnant mit 7

Vgl. zu einem weiten Raumbegriff in der neueren Forschung Moritz Csáky/­Christoph Leitgeb (Hrsg.), Kommunikation, Gedächtnis, Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spatial Turn“, Bielefeld 2009; sowie mit Fokus auf den Grenzbegriff den Vorgängerband der vorliegenden Sammlung: Christine Roll/Frank Pohle/Matthias Myrczek (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung (Frühneuzeit-Impulse 1), Köln/Weimar/Wien 2010. Außerdem die kritische Würdigung des „Spatial Turn“ in den Beiträgen bei Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, 2. Aufl. Bielefeld 2009. 8 Vgl. dazu auch die Beiträge von Philip Hahn, Maciej Ptaszyński und Volker Depkat in diesem Band; sowie Makropoulos, Sicherheit (wie Anm. 5), Sp. 746. Auch die Bewertung von Sicherheit durch die Theologen, aber auch im (lutherischen) Kirchenlied und der religiösen Volkssprache bedarf dringend gründlicherer Aufarbeitung. 9 Zur fortdauernden Wirkmächtigkeit des Traditionalen auch nach dem Übergang zur „Neuzeit“ im 16. Jh. vgl. prägnant Luise Schorn-Schütte, Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit, 1500–1789, Paderborn u. a., S. 24.

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dem Gegensatz von Pluralität und Pluralisierung gefasst wird.10 Die religiöse Landkarte des frühneuzeitlichen Europa war bekanntlich spätestens seit der Mitte des 16. Jahrhundert von einer faktischen Pluralität auf engem Raum zusammenlebender unterschiedlicher Konfessionen geprägt, ohne dass die weitaus überwiegende Zahl der Menschen diese Pluralität zu akzeptieren bereit war. Der universale Geltungsanspruch einer Religion bzw. einer Konfession blieb normativ verbindlich, Vorstellungen von Toleranz oder gar von Religionsfreiheit blieben der überwältigenden Mehrheit bis weit ins 18. Jahrhundert fremd.11 Gleichwohl erwiesen sich die Versuche einer gewaltsamen Wiederherstellung religiöser Konformität als unmöglich – mit verheerenden, für verschiedene multikonfessionelle Gemeinwesen existentiell bedrohenden Folgen. Die Antwort der politischen Eliten (die hier bezeichnenderweise ohne Rückendeckung der theologischen Eliten, ja zum Teil gegen deren eindeutigen Widerstand zu handeln hatten12) bestand in Strategien zur Schaffung von Sicherheit. Denn nichts anderes stellten die unterschiedlichen Religionsfriedensordnungen dar, die seit dem 15. Jahrhundert und 16. Jahrhundert angefangen von Böhmen über die Eidgenossenschaft, das Heilige Römische Reich, Siebenbürgen, Polen-Litauen, Ungarn und Frankreich, unter größten Mühen und begleitet von vielen Rückschlägen und Schwierigkeiten aufgerichtet wurden.13 Bei allen rechtlichen und politischen Unterschieden im einzelnen ging es in diesen Religionsfriedensschlüssen gerade nicht um universal verbindliche Befriedungsversuche, für die die geistig-theologischen Vorausset 10

Vgl. grundsätzlich zur Spannung zwischen Pluralität und Pluralisierung die aus dem SFB 273 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit (15.–17. Jahrhundert)“ erwachsene Arbeit von Ralf-Peter Fuchs, Ein „Medium zum Frieden“. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges (Bibliothek Altes Reich 4), München 2010, S. 1–35. 11 Vgl. Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 5. Aufl. Göttingen 2001, S. 54f.; Eike Wolgast, Religionsfrieden als politisches Problem der frühen Neuzeit, in: HZ 282 (2006), S. 59–96. 12 Vgl. zur kritischen Haltung der protestantischen Theologie zu Formen obrigkeitlicher Duldung von Heterodoxie Berndt Hamm, Wie innovativ war die Reformation?, in: ZHF 27 (2000), S. 481–497; zur grundsätzlich ablehnenden Haltung auf katholischer Seite vgl. Konrad Repgen, Die katholische Kirche und der Westfälische Friede, in: Josef Alfers/ Thomas Sternberg, Die Kirchen und der Westfälische Friede. Eine Tagungsdokumentation, Münster 1999, S. 7–59, hier S. 13–16. 13 Thomas Brockmann, Die frühneuzeitlichen Religionsfrieden. Normhorizont, Instrumentarium und Probleme in vergleichender Perspektive, in: Christoph Kampmann u. a. (Hrsg.), L’art de la paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V. 34), Münster 2011, S. 575–611; Armin Kohle, Konfliktbereinigung und Gewaltprävention: Die europäischen Religionsfrieden in der Frühen Neuzeit, in: Irene Dingel/Christiane Tietz (Hrsg.), Das Friedenspotenzial von Religion (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz. Abteilung für abendländische Religionsgeschichte. Beiheft 78), Göttingen 2009, S. 1–19.

Einleitung

zungen fehlten, sondern um die mit säkularen Mitteln betriebene Schaffung von geographisch und/oder zeitlich begrenzten Zonen einigermaßen gewaltfreier Koexistenz der Konfessionen, also von Räumen der Sicherheit. Erst auf der Basis dieser (naturgemäß begrenzten) Sicherheit konnte dann sukzessiv auch der Schritt zur echten Pluralisierung, zur Anerkennung der Pluralität, vollzogen werden, der dann schon über die Frühe Neuzeit hinausweist und erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Abschluss kam.14 Zu nennen ist hier auch ein zweiter, für die Frühe Neuzeit charakteristischer Fundamentalprozess, und zwar jener der Staatsbildung. Die jüngere Forschung hat sehr überzeugend herausgearbeitet, welch enge Verbindung zwischen dem Streben nach Schaffung von – naturgemäß geographisch begrenzten – Räumen von Sicherheit (in der Terminologie der Zeit: von Landfrieden) und der Staatsbildung in der Frühen Neuzeit bestand. Erst nachträglich wurden diese Staatsbildungen mit universellen Werten und Bewegungen in Verbindung gebracht und quasi mythologisch überhöht. Ein sehr eindrückliches Beispiel stellt die Schweizerische Eidgenossenschaft dar. Die Eidgenossenschaft – dies hat die neuere Forschung sehr überzeugend nachgewiesen – nahm ihren Ausgang keineswegs vom Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit vom Reich, das in der Eidgenossenschaft bis weit ins 17. Jahrhundert keine große Rolle spielte15 und das Produkt einer nachträglichen Stilisierung der eidgenössischen Staatsbildung ist.16 Den Ursprung der Eidgenossenschaft bildete vielmehr das Bemühen, in einem Landfriedensbund einen durchaus begrenzten Raum von Sicherheit und Stabilität zu schaffen, von Securitas publica, um den zeitgenössischen Begriff zu verwenden. Aus diesem begrenzten Raum von Sicherheit ist dann schrittweise die Eidgenossenschaft als Staatswesen erwachsen, welches dann die Stürme des konfessionellen Zeitalters, besonders des Dreißigjährigen Kriegs, vergleichsweise gut überstanden hat. Ein eidgenössisches Selbst- und Nationalbewußtsein ist erst nachträglich entstanden, nachdem sich 14 Religiöse Toleranz für die verschiedenen christlichen Konfessionen wurde für Deutschland

endgültig erst mit der Deutschen Bundesakte festgelegt; vgl. Art. 16 Abs. 1 der Deutschen Bundesakte von 1815, in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl. Stuttgart 1978, S. 84–90, hier S. 90. Allgemein zur rechtlichen Fixierung von Toleranz in der Frühen Neuzeit Ulrich Niggemann, Toleranzedikt, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 13, Stuttgart/Weimar 2011, Sp. 629–632. Die rechtliche Verankerung von Toleranz für die nichtchristlichen Religionen in Europa kam erst im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Abschluss. 15 Volker Reinhardt, Die Geschichte der Schweiz. Von den Anfängen bis heute, München 2011, S. 138–140; die Eidgenossen waren in gewisser Weise sogar ausgesprochene Reichstraditionalisten, die das Reich in unreformierter Form erhalten wollten und sich an den Bemühungen zur Zentralisierung des Reichs in der Reichsreform stießen; ebd., S. 140. 16 Ebd., S. 166f.

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die Eidgenossenschaft erfolgreich als Garant begrenzter Sicherheit bewährt hatte.17 Die jüngere Forschungsliteratur kennt durchaus weitere, in mancherlei Hinsicht parallele Fälle solcher auf Sicherheit zielender Staatsbildung – geglückte wie die Vereinigten Niederlande und gescheiterte wie in Böhmen 1618.18 Doch auch jenseits der Gründung neuer Staatswesen in der Frühen Neuzeit ist nach der Bedeutung des Bemühens um Sicherheit auf die Herausbildung des frühmodernen Staates zu fragen. Für die Zeitgeschichte und die politische Gegenwartsanalyse haben Wissenschaftler der sogenannten Copenhagen School das Konzept der „Securitization“ – im Deutschen zumeist mit „Versicherheitlichung“ wiedergegeben – entwickelt, demzufolge eine Grundtendenz staatlichen Handelns darin besteht, politische Probleme und Phänomene zu Sicherheitsproblemen zu erklären, oder anders formuliert: sie zu Sicherheitsproblemen umzudeuten, um sie zum Gegenstand staatlichen Handelns zu machen.19 Auf diese Weise werde die Zuständigkeit des Staates bzw. seiner Organe ständig ausgeweitet.20 Damit aber ist prinzipiell ein Phänomen beschrieben, das auch für den Kontext frühmoderner Staatsbildungsprozesse auf seine Anwendbarkeit überprüft werden kann, sind doch auch Konzepte wie das der „Konfessionalisierung“ bereits mit Blick auf eine Verdichtung von Staatlichkeit in der Frühen Neuzeit entwickelt worden.21 In diesem Sinne ließe sich auch das Streben nach Sicherheit als Ausweitung von frühmoderner Staatlichkeit begreifen22, ein Phänomen, das – wie Marian Füssel demonstriert – auch im Zuge der Verfestigung kolonialer Herrschaftsstrukturen eine wichtige Rolle spielte.23 Die hohe Bedeutung solcher per se auf begrenzte Wirksamkeit angelegter Sicherheitsstrategien hat die neuere Forschung auch für den Bereich des Mit­ einanders der sich bildenden frühmodernen Staaten herausgearbeitet, also ihrer jeweiligen Außenbeziehungen. Es konnte gezeigt werden, dass universalistische Vorstellungen bis weit in das 16. und 17. Jahrhundert erheblich größere Bedeu 17 Ebd. 18

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Horst Carl, Landfriede, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, Stuttgart/Weimar 2008, Sp. 493–500; Ferdinand Seibt, Revolution in Europa. Ursprung und Wege innerer Gewalt. Strukturen, Elemente, Exempel, München 1984, S. 299–394. Barry Buzan, People, States and Fear, Boulder/Col. 1991; Ole Wæver, Securitization and Desecuritization, in: Lipschutz (Hrsg.), On Security (wie Anm. 1), S. 46–86; Buzan/­Wæver/ de Wilde, Security (wie Anm. 1), S. 23–29; Buzan/Hansen, Evolution (wie Anm. 1), S. 212–217. Zur Ausweitung des Sicherheitsbegriffs auch Daase, Sicherheitsbegriff (wie Anm. 1); ders., National, Societal, and Human Security: On the Transformation of Political Language, in: Zwierlein/Graf/Ressel (Hrsg.), Production (wie Anm. 1), S. 22–37. Zum Konfessionalisierungsparadigma vgl. neuerdings den Band von Thomas Brockmann/ Dieter J. Weiß (Hrsg.), Das Konfessionalisierungsparadigma. Leistungen. Probleme. Grenzen, Münster 2013. Hinweise darauf etwa im Beitrag von Maximilian Lanzinner. Vgl. den Beitrag von Marian Füssel in diesem Band.

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tung entfalteten als lange Zeit angenommen worden ist.24 Es wurde sogar davon gesprochen, dass auf der Ebene der Theorie der Mächtebeziehungen am Beginn der Neuzeit eher ein „Revival of Universalist Thought“ stand, was die Wirkmächtigkeit solcher Konzepte wie die Universalmonarchie erklärt.25 „Das 16. Jahrhundert“ – so stellte jüngst Alfred Kohler fest – war im Bereich der Außen­beziehungen auf theoretischer Ebene „von Hegemoniebestrebungen bzw. hegemonialen Herrschaftskonzepten geprägt“.26 Sie zielten auf einen universalen Frieden, der durch diese hegemonialen Konzepte freilich nicht erreicht werden konnte. Entsprechend arbeiteten die unterschiedlichen Gemeinwesen und ihre professionellen Eliten in Politik und Diplomatie daran, auf der Ebene praktisch-politischen Handelns jenseits dieser universalistischen Vorstellungen Sicherheitsstrategien zu entwickeln, die dann in einem räumlich und zeitlich begrenzten Rahmen für eine friedliche Koexistenz sorgten. Wenn Erfolge bei der Friedensstiftung und Friedenswahrung erreicht wurden, dann nicht durch universale Friedensvorstellungen, sondern durch begrenzte Sicherheitsstra­tegien.27 In gewisser Weise sind hier Vorgänge zu beobachten, die an die Entwicklungen im religiösen bzw. konfessionellen Bereich erinnerten, nämlich insofern, als sich aus einer faktischen staatlichen Pluralität erst langsam und auf dem Umweg über Strategien der Sicherheit dann eine Pluralisierung, eine Anerkennung staatlicher Vielfalt, entwickelte. Man könnte weitere Beispiele frühneuzeitlicher Fundamentalprozesse anführen, um die Schlüsselstellung der Sicherheit darin zu zeigen. Gerade weil Sicherheitsstrategien in frühneuzeitlichen Fundamentalprozessen – wie etwa im Bereich der Konfession oder der Staatsbildung – mit der Sicherheit eng verknüpft waren, ist eine gründlichere historische Semantik von „Sicherheit“ in der Frühen Neuzeit ein so dringendes Desiderat, wäre sie doch geeignet, Aufschluss über den Verlauf solcher Prozesse zu geben. Denn es ist zwar, wie schon Werner Conze festgestellt hat, unbestreitbar, dass „Sicherheit“ in der Frühen Neuzeit zum politischen Grundbegriff aufgestiegen ist. Zugleich gibt es aber deutliche Anzeichen, dass dieser Aufstieg nicht geradlinig verlau 24

Vgl. Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: ZHF 24 (1997), S. 509–574, hier S. 516–530; Christoph Kampmann, Universalismus und Staatenvielfalt: Zur europäischen Identität in der frühen Neuzeit, in: Jörg A. S­ chlumberger/Peter Segl (Hrsg.), Europa – aber was ist es? Aspekte seiner Identität in interdisziplinärer Sicht (Bayreuther Historische Kolloquien 8), Köln/Weimar/Wien 1994, S. 45–76; Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der Frühen Neuzeit (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 32), Göttingen 1988. 2 5 James H. Burns, Lordship, Kingship and Empire. The Idea of Monarchy 1400–1525, Oxford 1992, S. 100. 2 6 Alfred Kohler, Von der Reformation zum Westfälischen Frieden (Grundriss der Ge­ schichte 39), München 2011, S. 14. 27 Vgl. zusammenfassend Kampmann, Friede (wie Anm.6), Sp. 12.

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fen ist. Es gab Phasen, in denen der Sicherheitsbegriff – wenigstens regional begrenzt – zentrale Bedeutung erlangte. Zu nennen ist hier etwa die Geschichte des römisch-deutschen Reichs im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts, in der der Sicherheitsbegriff zwischenzeitlich den Begriff des Gemeinwohls ersetzte, das „Bonum Commune“ geradezu substituierte und „Sicherheit“ – um in Anlehnung an die genannte Formulierung der zeithistorischen Forschung zu formulieren – geradezu zum allgemeinen soziokulturellen Orientierungshorizont aufstieg.28 Auf der anderen Seite verlor er danach wieder an Bedeutung. Gerade deshalb könnte eine sorgfältige Analyse der Verwendung von „Sicherheit“ Rückschlüsse auf den Verlauf zentraler Entwicklungsprozesse zulassen. Auch über die – im engeren Sinne – politische Geschichte hinaus ist die Beschäftigung mit „Sicherheit“ ein geeigneter Ansatzpunkt, um neue Perspektiven auf die Frühe Neuzeit kennzeichnende Fundamentalprozesse bzw. auf Epochencharakteristika zu eröffnen. So wirft gerade der Aufstieg eines nichtuniversalistischen Leitbegriffs Fragen zum Mentalitäten- und Wertewandel auf. Deutlich wird dies etwa im Umgang mit Naturkatastrophen, kann doch gezeigt werden, wie sich die auf die Vorstellung einer göttlichen Strafe ausgerichteten Deutungsmuster wandelten und Handlungsimperative im Hinblick auf innerweltlich-vorbeugende Maßnahmen eröffneten.29 Ähnliche Perspektiven ergeben sich im Bereich der Sozialgeschichte, etwa im Umfeld der Witwen- und Armenfürsorge. Gerade weil „Sicherheit“ ein Konzept ist, das sowohl auf kollektiver wie auch auf individueller Ebene virulent war, ermöglicht es ganz unterschiedliche Zugänge zur Geschichte der Frühen Neuzeit.

II. Sicherheit als geeignete Plattform unterschiedlicher Forschungsrichtungen der aktuellen Frühneuzeitforschung

Entsprechend den soeben skizzierten Leitlinien wurde bei der Planung der T ­ agung angestrebt, das Thema „Sicherheit in der Frühen Neuzeit“ so breit und facettenreich wie möglich zu erfassen, um somit eine Frageperspektive und einen Zugriff zu entwickeln, der einen neuen Blick auf die unterschiedlichen Aspekte der derzeitigen Frühneuzeitforschung zulässt. Dass es dabei zu Überschneidungen zwischen den Sektionen kommt, ist nicht nur unvermeidlich, sondern sogar gewollt: Schließlich zeigen sich daran nicht nur die engen Bezüge zwischen 28 Georg

Schmidt, Geschichte des Alten Reichs. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999, S. 212; Conze, Sicherheit (wie Anm. 5), S. 360; ­Makropoulos, Sicher­heit (wie Anm. 5), Sp. 748; und Christoph Kampmann, Ein Neues Modell von ­Sicherheit. Traditionsbruch und Neuerung als Instrument kaiserlicher Reichspolitik 1688/89, in: ders. u. a. (Hrsg.), Neue Modelle im Alten Europa. Traditionsbruch und Innovation als Herausforderung in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 213–233. 2 9 Vgl. etwa die Beiträge zu Sektion VI im vorliegenden Band.

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den einzelnen Themenfeldern und Forschungsrichtungen, sondern auch die Produktivität des Austausches, der gerade auch unter dem Aspekt „Sicherheit“ ermöglicht wird. Wie bereits angesprochen, geht es zunächst einmal darum, das Begriffsfeld „Sicherheit“ abzustecken und Vorarbeiten und grundlegende Überlegungen zu den mit dem Sicherheitsbegriff verbundenen Normen und Ordnungsvorstellungen in der Frühen Neuzeit zu bieten. Quentin Skinner übernimmt es in seinem Essay, das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit innerhalb der frühneuzeitlichen englischen Diskussion zu umreißen. Dieses Verhältnis konnte ideengeschichtlich ganz unterschiedlich gefasst werden: So war für zahlreiche republikanisch gesinnte Autoren der Mitte des 17. Jahrhunderts, wie etwa John Milton, Freiheit nur als sichere Freiheit denkbar. Dem gegenüber stand ein Denken, repräsentiert etwa durch Thomas Hobbes, das absolute Freiheit als absolute Unsicherheit klassifizierte, so dass Freiheit zugunsten von Sicherheit zurücktreten musste. Ausführlicher setzt sich dann Sektion I mit der Begriffsgeschichte und Begriffsverwendung sowie der Normativität von „Sicherheit“ auseinander, indem einerseits die Ambivalenz des Sicherheitsbegriffs in Predigttexten des sächsisch-thüringischen Raums untersucht wird30, andererseits die Verbindung von republikanischer Freiheit und Sicherheit im Kontext der konfessionspolitischen Auseinandersetzungen in Polen-Litauen zum Gegenstand wird, wobei die republikanischen Forderungen der Protestanten geradezu als Sicherheitsstrategie erscheinen.31 Neben der Dimension der Begriffsverwendung und der unterschiedlichen semantischen Ebenen werden in Sektion I auch die Bezüge des Themas „Sicherheit“ zu Fragen der Herrschaftsausübung sowie zu den Außenbeziehungen der sich entwickelnden frühmodernen Staaten erörtert. Mit Blick auf die Außenbeziehungen, die vor allem in Sektion II im Mittelpunkt stehen, aber auch in anderen Sektionen immer wieder zum Gegenstand werden, wird deutlich, wie wichtig das Sicherheitsdenken für die Herausbildung eines frühneuzeitlichen Völkerrechts und verschiedener Entwürfe für eine europäische Sicherheitsarchitektur war.32 Zudem kann für das Reich mit seinen mehrstufigen Abgrenzungen von innerer Staatsbildung und Außenbeziehungen nach 1555 eine Ablösung von bündischen Sicherheitsmechanismen durch eine ansatzweise sich entwickelnde Staatlichkeit des Reichsverbands aufgezeigt werden.33 Wichtig ist freilich auch der Vergleich mit einem außereuropäischen Fallbeispiel, nämlich 3 0

Beitrag Philip Hahn. Beitrag Maciej Ptaszyński. 3 2 Im Rahmen von Sektion I bereits der Beitrag von Anuschka Tischer, sodann in Sektion II die Beiträge von Sven Externbrink, Katja Frehland, Reinhard Stauber und Florian Kerschbaumer. 3 3 Beitrag Lanzinner. 31

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China, das deutlich macht, dass ähnliche Sicherheitsstrukturen hier erst spät und in geringerer Ausprägung eine Rolle spielten, weil die Hegemonialmacht China benachbarte Mächte über ein elaboriertes Tributsystem in seine Herrschaftsbeziehungen einbinden konnte.34 So wird deutlich, dass in Europa die Herausbildung eines Systems der Internationalen Politik ganz wesentlich ein Produkt von Sicherheitsbestrebungen war. Der Fokus auf Sicherheit bietet somit – das zeigen die hier versammelten Beiträge ganz deutlich – einen neuen Zugriff auf Themen der Geschichte der Außenbeziehungen der europäischen Mächte in der Frühen Neuzeit. Die Sicherheitsstrukturen des Heiligen Römischen Reichs und anderer föderal organisierter Staatswesen wie der Schweizer Eidgenossenschaft oder den frühen USA wird anschließend auch in Sektion III noch einmal thematisiert. Dagegen untersuchen die Beiträge der Sektion IV die Sicherheitsrisiken, die sich aus dem konfessionellen Radikalismus des 16. und 17. Jahrhunderts ergaben und die die traditionellen Legitimationsfiguren von Herrschaft zu untergraben drohten. Einen anders gelagerten Ansatz bietet das Konzept der „Human Security“, das in den letzten Jahren aus der politikwissenschaftlich geprägten Friedens- und Konfliktforschung und der praktischen Arbeit der UNO kommend Eingang auch in die Geschichtswissenschaft gefunden hat.35 In Ergänzung, bisweilen auch im Gegensatz zur „State Security“, der Sicherheit von Staaten und ihren Grenzen, geht es beim Human-Security-Ansatz um die Sicherheit des Individuums.36 Es liegt auf der Hand, dass die Sicherheit von Menschen vor existentiellen Bedrohungen durch Armut, Gewalt oder Naturkatastrophen auch und gerade eine zentrale Rolle im geschichtswissenschaftlichen Nachdenken über Sicherheit in der Vormoderne einnehmen muss, weil Unsicherheiten und Risiken geradezu allgegenwärtig waren.37 Im Grenzbereich zwischen State Security und Human Security bewegt sich Sektion V, die Gewalt thematisiert, wobei deutlich wird, dass Gewalt in der Frühen Neuzeit (wie auch in der Moderne) nicht einfach als Gegensatz zu Sicherheit zu sehen ist, stellte Gewalt doch zwar auf der einen 3 4

Beitrag Sabine Dabringhaus. Cornel Zwierlein/Rüdiger Graf, The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History, in: Zwierlein/Graf/Ressel (Hrsg.), Production (wie Anm. 1), S. 7–21. Zur Herkunft des Konzepts auch Ulbert/Werthes, Sicherheit (wie Anm. 1). 3 6 Vgl. etwa Georg Nolte, Vom Weltfrieden zur menschlichen Sicherheit? Zu Anspruch, Leistung und Zukunft des Völkerrechts, in: Herfried Münkler/Matthias Bohlender/Sabine Meurer (Hrsg.), Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2010, S. 125–154. 37 Zur Allgegenwart von Angst und Unsicherheit bereits Lucien Febvre, Le problème de l’incroyance au 16e siècle. La religion de Rabelais, Ndr. Paris 1968. Prägnante Darstellung, die durchaus für die gesamte Frühe Neuzeit zutrifft, bei Paul Münch, Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutsche Geschichte 1600–1700, Stuttgart 1999, S. 13–25.

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Seite eine permanente Bedrohung und Unsicherheit, auf der anderen Seite aber auch eine Sicherheitsressource dar. Gewalt oder auch die Androhung von Gewalt konnte somit ein wichtiges Instrument zur Herstellung von Sicherheit sein. Gerade hier lohnt sich jedoch der Blick nicht nur auf den „Staat“, sondern auch auf die – durchaus eigene Interessen verfolgenden – „Sicherheitseliten“.38 Deutlicher noch in dem Bereich, der heute ebenfalls zur „Human Security“ gerechnet wird, liegen die Beiträge der Sektion VI, die sich mit den Bedrohungen durch Naturkatastrophen und Hunger beschäftigen. Schon im Spätmittelalter, verstärkt dann im Laufe der Frühen Neuzeit wurde hier durch gezielte politische Maßnahmen versucht, mehr Sicherheit herzustellen. Grundbedingung hierfür war freilich der Wandel von einer Wahrnehmung der Katastrophen als göttlicher Fügung hin zu einem vom Menschen beherrschbaren Risiko.39 Eben diese Entwicklung liegt auch der Ausgestaltung des Versicherungswesens zugrunde, welches in Sektion VII behandelt wird. Cornel Zwierlein geht in seinem einleitenden ­Essay sogar soweit, dass gerade der planend-kalkulierende Umgang von Versicherungen mit der Zukunft und ihren Risiken wesentlich zur Einübung eines neuen Umgangs mit Zukunft in der Frühen Neuzeit beigetragen habe.40 Die Herstellung sozialer Sicherheit durch obrigkeitliche Fürsorgemaßnahmen, aber auch durch korporative Einbindung ist Thema von Sektion VIII, die damit einen Kernaspekt sowohl der spezifisch frühneuzeitlichen Risiken von Armut, Verwaisung oder Verwitwung anspricht als auch die staatlichen und nichtstaatlichen Sicherheitsstrategien. Wie nicht-staatliche Gruppen zu Sicherheitsakteuren werden konnten, zeigt sich auch im Kontext der Minderheiten41, die Gegenstand von Sektion IX sind. Gerade die verheerenden Konflikte des 16. und 17. Jahrhunderts und die Unmöglichkeit über universale Geltungsansprüche Koexistenzmöglichkeiten zu schaffen, führten dazu, dass den Sicherheitsstrategien von Minderheiten selbst Rechnung getragen wurde.42 Zwar konnten dadurch auch Sicherheitsdilemmata erzeugt werden, wie insbesondere das französische System der Places de sûreté zeigt, doch wurde zumindest temporär Sicherheit geschaffen, indem verbindliche Regelungen des Miteinanders aufgestellt wurden.43 Eine weitere Facette des Themas „Sicherheit“ ist mit dem Konzept der Rechtssicherheit in Sektion X angesprochen. Auch dieses Beispiel zeigt die bereits mehrfach angesprochene Paradoxie von Sicherheitsressource und Sicherheitsrisiko, denn während der werdende Staat einerseits Rechtssicherheit garantieren sollte, 3 8

So insbesondere die einleitenden Bemerkungen von Horst Carl. Vgl. die Beiträge von Stefanie Rüther und Marie Luisa Allemeyer. 4 0 Sektionseinleitung von Cornel Zwierlein. 41 Mit Blick auf Migranten insbes. die Beiträge von Raingard Eßer und Alexander S ­ chunka. 42 Beiträge von Maciej Ptaszyńsky und Ulrich Niggemann. 4 3 Beitrag von Ulrich Niggemann. 3 9

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musste zugleich ein zu weitgehender Eingriff des Staates in die Rechte seiner Bürger verhindert werden, wie insbesondere die Diskussionen des 18. Jahrhunderts zeigen.44 Darüber hinaus war Rechtssicherheit aber auch ein wichtiger Aspekt einer sicheren Existenz für Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft.45 Schließlich ist noch auf die Symbolik von Sicherheit hinzuweisen, die sich ­einerseits in der Konnotation bestimmter Räume als sicher oder unsicher spiegelt, wie in Sektion XI deutlich wird, andererseits in der baulichen Repräsentation von Sicherheit, namentlich in der Ausgestaltung von Festungsarchitektur, deren Bedeutung sich keineswegs nur auf die ‚tatsächliche‘ Schaffung von Sicherheit in ihrem Inneren beschränkte, wie die Beiträge in Sektion XII veranschaulichen.

III.  „Sicherheit in der Frühen Neuzeit“ als Basis gemeinsamer Frageansätze und Forschungsperspektiven

Integrierend wirkt das Rahmenthema Sicherheit nicht nur, weil es unterschiedliche Forschungsrichtungen und Teildisziplinen der Frühneuzeitforschung einzubinden vermag, sondern auch und vor allem deshalb, weil sich aus der gemeinsamen Beschäftigung mit Sicherheit über die unterschiedlichen Gegenstandsbereiche hinweg parallele Frageansätze und Forschungsperspektiven ergeben – Forschungsperspektiven, die zugleich wieder den Aktualitätsbezug der Erforschung von Sicherheit in der Frühen Neuzeit aufzeigen. Drei auf die Sicherheit bezogene Forschungsperspektiven waren im Rahmen des Marburger Frühneuzeittags von besonderer Bedeutung. 1. Genannt seien hier zunächst die Paradoxien und Ambivalenzen im Umgang mit Sicherheit. Dies zielt auf das wiederholt zu beobachtende Phänomen, dass Bemühungen um mehr Sicherheit aus Sicht der Akteure ihr Ziel verfehlen, ja, zuweilen geradezu kontraproduktiv wirken können, also im Ergebnis nicht zu einem Mehr, sondern zu einem Weniger an Sicherheit führen. In einem vielbeachteten Aufsatz hat der deutschamerikanische Politikwissenschaftler John Herz in diesem Zusammenhang vom „Sicherheitsdilemma“ gesprochen.46 Er verwendete diesen Begriff unter Bezug auf die militärische Sicherheit im Rahmen der Blockkonfrontation des Kalten Kriegs. In der Tat sind im Bereich militärischer Sicherheit solche Ambivalenzen auch in der Frühen Neuzeit wiederholt zu beobachten, etwa bei der Betrachtung der Außenpolitik Ludwigs XIV.47 Auch im Rahmen des Frühneuzeittags 4 4

Vgl. insbes. die Sektionseinleitung von Karl Härter und Siegrid Westphal. So insbesondere der Beitrag von André Griemert zu den jüdischen Prozessen am Reichshofrat. 4 6 John H. Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, in: World Politics 2 (1950), S. 157–180. 47 Christoph Kampmann, Sicherheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12, Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 1143–1150. 4 5

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wurde verschiedentlich auf ähnliche Beispiele hingewiesen. So verweist ­Bernd ­Klesmann auf das „Sicherheitsdilemma“ als Grundkonstellation in den Debatten der französischen Aufklärung.48 Doch auch in der Anwendung von Gewalt als ‚Sicherheitsressource‘ oder in der Schaffung von befestigten Sicherheitsplätzen im Zuge der französischen Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts werden solche Dilemmata deutlich.49 Für unseren Zusammenhang ist entscheidend, dass die entsprechenden Ambivalenzen also keineswegs auf den Bereich militärischer Sicherheit beschränkt sind. Sie begegnen auch im Bereich der konfessionellen Sicherheitspolitik, der Diplomatie, der Wirtschaftspolitik oder auf dem Feld der Rechts- und Verfassungspolitik. Ein wichtiger Grund ist der enge, ja notwendige Zusammenhang von Sicherheit und Vertrauensbildung. Gerade weil das energische Einfordern von Garantien und Sicherheiten von Partnern als Mißtrauensvotum aufgefasst werden und so der Vertrauensbildung schaden kann, wirkt es oftmals kontra­produktiv. Von einer vergleichenden Analyse solcher Sicherheitsdilemmata und Ambivalenzen in der Frühen Neuzeit ist sicherlich ein vertieftes Verständnis der Sicherheits-Paradoxien und der daraus resultierenden Unsicherheiten zu erwarten – ein vertieftes Verständnis, von dem auch Impulse für die aktuelle Diskussion ausgehen können. 2. Eine zweite systematische Frageperspektive bezieht sich auf das bereits angesprochene Konzept der „Securitization“ bzw. „Versicherheitlichung“. Im Prinzip kann das Konzept der „Versicherheitlichung“, der Transformation spezifischer Problemlagen zu Angelegenheiten der Sicherheitspolitik auch in der Frühen Neuzeit beobachtet werden. Dies gilt etwa für die beschriebenen Entwicklungen im Bereich der Konfessionspluralität. Die Akteure versuchten die theologisch bzw. – wenn man so will – „ideologisch“50 völlig verhärteten und für den Zusammenhalt der Gemeinwesen gefährlichen Gegensätze zu überbrücken, indem sie diese vornehmlich als Herausforderung für die Sicherheit behandelten und sie auf einer säkularen Ebene in begrenztem Rahmen zu lösen versuchten.51 Es

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Beitrag Bernd Klesmann. Sektionseinleitung von Horst Carl und Beitrag von Ulrich Niggemann. 5 0 David Onnekink/Gijs Rommelse, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Ideology and Foreign Policy in Early Modern Europe (1650–1750) (Politics and Culture in Europe, 1650–1750), Aldershot 2011, S. 1–9. 51 Fuchs, Medium (wie Anm. 10). Fuchs kann zeigen, dass die Normaljahrsregelung des Westfälischen Friedens keineswegs eine Banalisierung des Konfessionkonflikts bedeutet, wie lange Zeit angenommen worden ist, sondern einen höchst subtilen und schließlich auch erfolgreichen Versuch, die mit der Konfessionsproblematik zusammenhängenden Ehrkonflikte zu klären. 49

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ließen sich auch weitere Beispiele für Versicherheitlichung anführen, etwa im Bereich der Architektur oder im Umgang mit naturgegebenen Risiken.52 Freilich lässt sich dieses Konzept für die Frühneuzeitforschung nur dann gewinnbringend und systematisch anwenden, wenn die Bereitschaft besteht, es zu historisieren und es von der in der ursprünglichen politikwissenschaftlichen Staatszentriertheit zu lösen.53 Damit muss jedoch keineswegs zwangsläufig das Konzept verworfen werden, vielmehr wäre nach Erweiterungsmöglichkeiten der Überlegungen der Copenhagen School zu fragen. Denn eine nähere Betrachtung zum Streben nach Sicherheit in der Frühen Neuzeit zeigt deutlich, dass es keines­falls nur staatliche Akteure waren, die diese „Versicherheitlichung“ trugen. Weitet man das Konzept in diesem Sinne aus, ergibt sich daraus eine zweite, die einzelnen Untersuchungsgegenstände durchaus übergreifende Frageperspektive. Einiges spricht dafür, dass es in der Frühen Neuzeit – vielleicht aufgrund des besonderen, eingangs skizzierten Charakters dieser Epoche – eine generelle Tendenz zur Securitization gab – einer „Versicherheitlichung“ ursprünglich anders gelagerter Probleme und Gegenstandsbereiche. 3. Eine dritte Frageperspektive, die sich aus der systematischen Beschäftigung mit Sicherheit in der Frühen Neuzeit ergibt, bezieht sich auf ein angemesseneres Verständnis von Zukunft und Zukunftsplanung. Da das Streben nach Sicherheit stets auf Komplexitätsreduktion in der Zukunft zielt, ergibt sich aus dem Verständnis von Sicherheit auch ein vertiefter Einblick in das Denken über Planung und Zukunft. Damit ist ein wichtiges, gerade für die Frühneuzeitforschung noch nicht hinreichend erschlossenes Forschungsgebiet angesprochen. Grundsätzlich gilt die Frühneuzeitepoche nach einer verbreiteten Auffassung als eine Zeit, in der sich der Umgang mit Zukunft und Zukunftsplanung grundlegend ändert. Dies geht auf eine von Reinhard Koselleck entwickelte, seither vielfach aufgegriffene und modifizierte Sichtweise zurück, die in der sogenannten „Sattelzeit“54 eine Phase prinzipiellen Wandels der Vorstellungen von Zukunft und Zukunftsplanung erblickt. Bis ins 17. Jahrhundert sei von der Zukunft (im Rahmen eines zyklischen Weltbildes) eigentlich nur die Wiederholung bereits in der Vergangenheit beobachtbarer Entwicklungen erwartet worden, sei die Zukunft also Teil des allgemeinen „Erfahrungsraums“ gewesen. Die ungewisse Zukunft sei dagegen als nicht innerweltlich fassbar oder gar gestaltbar angesehen 5 2

Dazu die Sektionen VI, XI und XII. Diese Forderung generell auch bei Conze, Securitization (wie Anm. 1); und Zwierlein/ Graf, Production (wie Anm. 35). 5 4 Zur „Sattelzeit“ vgl. etwa Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XIII-XXVII, hier S. XV. Vgl. aber auch das der „Enzyklopädie der Neuzeit“ zugrundeliegende Epochenkonzept; Friedrich Jaeger, Vorwort, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2005, S. VII–XXIV, hier S. IXf. 5 3

Einleitung

worden, also eher als Gegenstand apokalyptischer Vorstellungen.55 In der Sattelzeit habe sich hier ein prinzipieller Wandel vollzogen, die ungewisse Zukunft sei zum offen gestaltbaren Handlungsraum geworden.56 Diese Sicht auf Inhalt und Wandel des Zukunftsverständnisses in der Frühen Neuzeit ist in vielerlei Hinsicht zweifellos anregend und überzeugend.57 Was bislang fehlt, ist eine systematische, gegenstandsbezogene und empirische Überprüfung dieser Auffassungen – eine differenzierte Perspektivierung, die indirekt eigentlich schon Koselleck eingefordert hat, die aber noch nicht geleistet worden ist. Genau dazu vermag eine umfassende, unterschiedliche Teildisziplinen einbindende Betrachtung von Sicher­heit und den Bemühungen um Schaffung von Sicherheit beizutragen. Die Diskussion etwa um die Schaffung von Sicherheit gegen das Wasser durch den Deichbau58, aber auch die Entstehung des Versicherungswesens59 lassen den Schluss zu, dass im Laufe der Frühen Neuzeit durchaus Wandlungsprozesse von einer eher passiven, auf die göttliche Fügung vertrauenden Haltung hin zu einer Auffassung, dass durch innerweltliche Maßnahmen Zukunft gestaltet und Risiken minimiert werden können. Freilich weist die Praxis der internationalen Politik, insbesondere die Ausgestaltung von Verträgen, darauf hin, dass dieser Prozess des Wandels nicht in allen Bereichen synchron verlief, sondern hier mit einer „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ zu rechnen ist.60 Eben hier wäre jedoch der Ansatzpunkt für weitere Forschungen.

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Zuletzt in diesem Sinne Christian Mathieu, Sicherheit, 2. Mentalitäten, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11, Stutt­gart/Weimar 2010, Sp. 1143–1145. 5 6 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1992, S. 17–37; und ders., ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in: ebd., S. 349–375; sowie Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999. 57 Zuletzt mit wichtigen Hinweisen etwa auf die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung Achim Landwehr, Das Ende der Endzeit, in: epoc 2011, H. 1, S. 16–23 5 8 Vgl. dazu den Beitrag von Marie Luisa Allemeyer; und ähnlich auch die Beiträge von Stefanie Rüther und Dominik Collet. 59 Beiträge zur Sektion VII. 6 0 Schon Koselleck, Erfahrungsraum (wie Anm. 56), S. 360f., wies darauf hin, dass in verschiedenen Lebensbereichen und Professionen unterschiedliche Auffassungen von Zukunft und Zukunftsplanung vorgeherrscht hätten. Zur Idee der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ jetzt auch Achim Landwehr, Von der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘, in: HZ 295 (2012), S. 1–34.

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Liberty and Security: ­The Early-Modern English Debate The theme of this conference is security in the early-modern period, and as my title indicates I shall be speaking about the place of this concept in English political debate. I must apologise for this narrow restriction of my historical gaze, especially in a conference largely devoted to continental Europe. But the English case is the one that I happen to know about, and experience has taught me that it is better to restrict myself to speaking on subjects that I happen to know about. My story begins in the opening decades of the seventeenth century, when English public debate, especially as conducted in Parliament, started to become increasingly acrimonious in the years leading up to the outbreak of the English civil wars in 1642. During this period the objections levelled by Parliament against the policies of the crown were mainly presented as threats not to security but to liberty. But there is a sense in which the debate was nevertheless about security. If, it was argued, we are merely able to act without interference in the pursuit of our chosen ends, we are not necessarily free; we are free only if we are secure from any such interference. This latter condition was regarded not as a preferable form of liberty but as the only liberty worthy the name. Unless we are securely free, it was claimed, we are not free at all. Nowadays this is such an unfamiliar contention that I first need to say something about how the parliamentarian writers arrived at it. The dispute between crown and Parliament in early Stuart England initially culminated in the protest known as the Petition of Right, which was presented by the two houses of Parliament to king Charles I in 1628. One policy to which both houses took exception was that, as they reminded the king, some of his subjects had lately been imprisoned without due cause being shown.1 But the main abuse of liberty cited in the Petition was the use of prerogative powers to impose levies on the people in the absence of parliamentary consent. This policy was widely held to involve interference with popular liberty, and was thus taken to be in violation of ‘the laws and free customs of this realm’.2 What did these writers mean by claiming that the crown’s policies were in violation of free customs? Partly they meant that Charles I was undermining the rights of his subjects. As the language of the Petition makes clear, however, what they basically opposed was the kind of arbitrary power that gave the king Samuel Rawson Gardiner (ed.), The Constitutional Documents of the Puritan Revolution 1625–1660 (3rd edition Oxford, 1906), pp. 66, 67. 2 Gardiner, Constitutional Documents (note 1), p. 67. 1

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the capacity to undermine their rights. The reason why they opposed these powers was that their mere existence, they claimed, had the effect of taking from the English their status as liberi homines, free men and women. This invocation in the Petition of Right of the idea of being a liber homo carries us back to Magna Carta, but also to the pioneering English common-law text of the mid-thirteenth century that many parliamentarians viewed with even greater reverence, Henry de Bracton’s De legibus of c.1260. Chapter 6 of Bracton’s opening book considers different types of personae and proceeds to ask ‘what is liberty’ and ‘what is servitude’.3 Bracton insists that by nature everyone is free, enunciating the principle in the form of a direct although unacknowledged quotation from the Digest of Roman law. ‘Servitude is an institution of the law of nations by which someone is, contrary to nature, made subject to the dominion of someone else’. As the maxim implies, however, ‘the civil law and the law of nations are capable of taking away this right of nature’. It is possible, in other words, to forfeit our natural liberty under systems of human law, and Bracton takes note of two ways in which this can come about. One is that we may be reduced to the condition of slaves. We are told, in a further quotation from the Digest, that under human law ‘all men and women are either free or else are slaves’. The other way of limiting our natural liberty (and here Bracton inserts a category unknown to antiquity) is by entering into a condition of vassalage, by which we are also ‘bound to a certain degree of servitude’. As in the Digest, what is held to take away the freedom of persons is thus the mere fact of living in subjection to the arbitrary power of someone else. If our property is at the disposal of such a master, then we are vassals; if our persons are additionally at their mercy, then we are slaves. From these definitions it follows, Bracton goes on, that what it must mean to be a liber homo, a free man or woman, is not to be dependent on the arbitrary will of a dominus, not to be in potestate, in the power of someone else, but rather to be sui iuris, capable of acting independently and in our own right. According to this legal tradition, there is thus the closest possible relationship between liberty and security. The nature of the connection becomes clear as soon as we recall the contention that it is possible to have complete de facto enjoyment of our rights without necessarily being free. The reason why this is possible is that we count as liberi homines, as free persons, if and only if we enjoy our rights independently of the capacity of anyone else to take them away from us by a mere act of arbitrary will. If, by contrast, the maintenance of our rights and liberty depends upon the will of anyone else, then we are not free

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All quotations in this paragraph are taken from Henry de Bracton, De Legibus et Consuetudinibus Angliae (London, 1640), 1. 6. 1–3, fo. 4v.

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persons but slaves, even though we may have the fullest de facto enjoyment of our liberty, and may be able to act entirely as we choose. When Charles I was finally obliged to recall the English Parliament in 1640, this was the view immediately put forward by his parliamentarian adversaries. They focused once again on the crown’s use of its prerogative powers to impose levies – such as the charge known as Ship money – without parliamentary consent. First in the field was the leading parliamentarian pamphleteer, Henry Parker, in his tract The Case of Shipmoney, published in November 1640 to coincide with the opening of Parliament. Parker begins by recurring to the Roman Law view of what it means to live in servitude. ‘Where the mere will of the Prince is law’, he declares, we can expect no justice, and the slavery of those ‘is most grievous, which have no bounds set to their Lord’s discretion’.4 Parker is clear that the mere existence of such arbitrary power is what reduces us to slavery. ‘It is enough that we all, and all that we have, are at his discretion’, for where all law is ‘subject to the King’s mere discretion’, there ‘all liberty is overthrown’.5 With these considerations in mind, Parker turns to the case of Ship Money. If we accept that the king has a right to impose this levy, so that ‘to his sole indisputable judgement it is left to lay charges as often and as great as he pleases’, the effect will be to ‘leave us the most despicable slaves in the whole world’.6 The reason is that we shall be left in a condition of total dependence on the king’s mere will. A similar case was developed in one of the most important anti-royalist tracts to appear at the outbreak of the civil war, John Goodwin’s Anti-cavalierisme of October 1642. Goodwin begins by asking what it means to be free men and women. It is to be able, he answers, to have ‘the disposal of your selves and of all your ways’ according to your own will. If your rulers are possessed of discretionary powers, you will be obliged to live ‘by the laws of their lusts and pleasures’ and ‘to be at their arbitrament and wills in all things.’ But to say that they are ‘Lords over you’ is to recognise that you live in dependence on their will, and have consequently lost the status of free persons and fallen into ‘miserable slavery and bondage.’7 The claim consistently put forward by the crown’s critics was thus that liberty must be secure liberty. But this contention obviously raises a further question about security. If we are not free under any circumstances in which our Henry Parker, ‘The Case of Shipmony briefly discoursed’, in Joyce Lee Malcolm (ed.), The Struggle for Sovereignty: Seventeenth-Century English Political Tracts (2 vols., Indianapolis, Ind., 1999), vol. 1, pp. 93–125, at p. 98. 5 Ibid. pp. 110, 112. 6 Ibid. p. 108. 7 John Goodwin, Anti-Cavalierisme (London, 1642), pp. 38–9. 4

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rights could be arbitrarily taken away from us, under what form of government can liberty be guaranteed? A challenging answer had been put forward in the Italian Renaissance tradition of republican political thought, and the text from this tradition best-known to English readers was Machiavelli’s Discorsi, first translated into English by Edward Dacres and published in London in 1636. If we are to live freely together, according to Machiavelli, then two conditions must be satisfied. One is that only the laws should rule, not any personal powers of princes. The other is that the laws should recognisably reflect the will of those who are subject to their power. For if the laws are not an expression of the will of the people (or at least their represented will), the inescapable implication is that they must be living under the will of someone else. But to live subject to the will of anyone else is what it means to live in servitude. As Machiavelli emphasises at the beginning of Book II of the Discorsi, what this entails is that the only form of government under which we can hope to live freely will be a self-governing republic in which the citizens are governed only by laws that they make themselves. His central constitutional claim is thus that that only republics can deliver secure liberty to their citizens, the only liberty worthy of the name. If we live under a monarchy, we may happen to enjoy de facto liberty, but we shall not be truly free; it will always be possible for our freedom to be infringed by acts of arbitrary power. So if we wish to live as liberi homines we must live in a republic. This explains why, in early-modern discourse, republics were often described as vivere liberi, ‘free states’ by contrast with the alleged slavery of living under kings. It was this claim about how civil liberty can alone be guaranteed that came to England with the establishment of the English commonwealth in 1649, when Charles I was executed and the monarchy abolished on the grounds it had proved ‘dangerous to the liberty, safety, and public interest of the people’.8 The most celebrated English republican writer of the 1640s and 1650s who argued in precisely the terms I have been laying out was the poet John Milton in the sequence of political tracts he published after the regicide. The first of these, The Tenure of Kings and Magistrates, was issued as early as February 1649. What does it mean, Milton asks at the end of his argument, to be a free people? He answers with a vindication of the trial of the king and the establishment of the commonwealth: Surely they that shall boast, as we do, to be a free nation, and not have in themselves the power to remove, or to abolish any governor supreme, or subordinate […] may please their fancy with a ridiculous and painted freedom, […] but are indeed under tyranny and servitude; as wanting that power, which is the root and source of all liberty, to dispose and economize in the land which God hath given them, as masters of family in their own 8 Gardiner, Constitutional Documents (note 1), p. 385.

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Quentin Skinner house and free inheritance. Without which natural and essential power of a free nation, though bearing high their heads, they can in due esteem be thought no better than slaves and vassals born, in the tenure and occupation of another inheriting lord.9

To be a free people, in other words, is to be self-governing, not subject to the will of anyone but that of the people themselves. A free people can therefore do anything they may choose to do, including removing their rulers from office should they so decide. If this alone is true freedom, under what form of constitution can it be ­enjoyed? This is one of the questions to which Milton turns in his Eikonoklastes, which he published at the end of 1649. Chapter 11 discusses the settlement proposed by the crown in 1642 and rejected – rightly, Milton insists – by Parliament. He replies by asking about the implications of conceding, as the crown had demanded, that it possessed a range of prerogative rights, including the right of the king to veto legislation put to him. Milton’s response is to offer a de­ finition of a free commonwealth, a commonwealth consisting of free p ­ ersons: Every Common-wealth is in general defined, a society sufficient of itself, in all things conducible to well being and commodious life. Any of which requisite things if it cannot have without the gift and favour of a single person, or without leave of his private reason, or his conscience, it cannot be thought sufficient of itself, and by consequence no Common-wealth, nor free; but a multitude of vassals in the possession and domain of one absolute Lord […] And if our highest consultations and purposed laws must be terminated by the king’s will, then is the will of one man our law, and no subtlety of dispute can redeem the Parliament and nation from being slaves.10

We cannot hope, in other words, to be securely free under a monarchy; we can hope to live as liberi homines only in a commonwealth or free state. According to this republican ideal of liberty, it is possible for freedom to be limited or taken away even if we never suffer any actual interference. This is because one way in which those who live in servitude suffer loss of liberty is through mechanisms of self-censorship. Milton furnishes an eloquent explanation of how these mechanisms operate in the course of his final political tract, his Ready and Easy Way to Establish a Free Commonwealth of 1660. If we fall into a condition of dependence, our awareness of our predicament will have the effect of limiting our choices in many demeaning ways. There are deeply reprehensible forms of conduct, Milton first observes, that those aware of their slavery will find it almost impossible to avoid. Not knowing what may happen to John Milton, ‘The Tenure of Kings and Magistrates’, in John Milton, Political Writings, ed. Martin Dzelzainis (Cambridge, 1991), pp. 3–48, at p. 32. 1 0 John Milton, ‘Eikonoklastes’, in Don M. Wolfe (ed.), Complete Prose Works of John Milton (8 vols., New Haven, Conn., 1962), vol. 3, pp. 458, 459. 9

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them, they will tend to behave in appeasing and ingratiating ways, becoming ‘a servile crew’, engaging in ‘flatteries and prostrations’, displaying ‘the perpetual bowings and cringings of an abject people’.11 At the same time, there are various lines of conduct they will find it almost impossible to pursue. We can never expect from them any ‘noble words and actions’, any willingness to speak truth to power, any readiness to offer frank judgments and be prepared to act on them.12 So far I have argued that, by the end of the 1630s, critics of the British monarchy were mounting two connected arguments, which triumphed by the end of the 1640s. One was that it is a fundamental duty of rulers to assure the rights and liberties of their subjects. The other was that Charles I was exercising a number of arbitrary powers, the effect of which was to take away the freedom of the English people as liberi homines, thereby reducing them to the condition of slaves dependent on a master’s will, and that such slavery is intolerable to a free people. At this precise juncture, however, a number of defenders of absolute monarchy came forward to insist that these critics of the crown were making a fundamental mistake in laying so much emphasis on the ideal of liberty. What matters most in civil life, these theorists retorted, is not that we should be free, but that we should be protected from harm. By far the most important of these writers was Thomas Hobbes, who scribally published his first treatise on politics, The Elements of Law, in 1640, in which he made these claims central to his political argument. To see why protection from harm is the supreme value in political life, accor­ ding to Hobbes, we need only consider the condition in which we would find ourselves if there were no civil association – the condition which Hobbes describes as the state of nature. There would be no laws, and we would therefore be in possession of all our rights. Because laws constrain us in the exercise of our rights, this may sound an appealing state of affairs. But Hobbes’s point is that, for two connected reasons, the state of nature is a condition that it is rational by all possible means to avoid. One reason is that we are inherently rivalrous and greedy for glory; the other is that we are roughly equal in our powers. As a result, we are bound to compete; but the competition, and the conflict that it cannot fail to generate, will inevitably be inconclusive, and indeed without end. The outcome, in Hobbes’s celebrated formulation, is that the state of nature would not only be a state of war but a bellum omnium contra omnes, a war of all against all. It would thus be a condition in which our basic experience would be complete lack of security. As Hobbes expresses the point in The Elements, ‘till 11

John Milton, ‘The Readie and Easie Way to Establish a Free Commonwealth’ in R. Ayers (ed.), Complete Prose Works of John Milton (8 vols., New Haven, Conn., 1980), vol. 7, pp. 458, 426, 428. 1 2 Ibid. p. 428.

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there be security amongst men for the keeping of the law of nature one towards another, men will still be in the estate of war, with nothing unlawful to any man that tendeth to his own safety or commodity’.13 The basic aim in instituting civil associations is not therefore the maintenance of liberty but the ensuring of personal protection from harm. How, then, is our security to be established and maintained? Hobbes answers in The Elements in gloomy and unequivocal terms. The only means to render ourselves secure from the depredations of others is to erect a sovereign power to which we absolutely submit ourselves. If we ask how much power is needed to impose security, Hobbes has a no less unequivocal answer: A man may then account himself in the estate of security, when he can foresee no violence to be done unto him, from which the doer may not be deterred by the power of that sovereign, to whom they have every one subjected themselves; and without that security there is no reason for a man to deprive himself of his own advantages, and make himself a prey to others.14

The only route to security, in short, is for everyone to submit without qualification to a supreme and unified form of sovereign power. But if we subject ourselves in this way, what becomes of our liberty? How can we hope to remain free under government? Hobbes’s rigorous answer is that we cannot; we simply have to say farewell to the idea of living as liberi homines. He agrees with his adversaries that, when we speak of liberty, we are referring to absence of subjection to the will and power of anyone else. His discussion in The Elements opens by accepting that every man originally enjoyed ‘the liberty that nature hath given him, of governing himself by his own will and power.’15 When he later speaks of ‘loss of liberty’ he equates this deprivation with the condition in which ‘a man may no more govern his own actions according to his own discretion and judgment’.16 However, he goes on, civil associations can only be established if everyone ‘covenanteth to subject his will to the command of another’, in consequence of which ‘the subjection of them who institute a commonwealth amongst themselves, is  […] absolute.’17 But this means that, under whatever form of civil association we live, we forfeit anything that can meaningfully be described as civil liberty. A man’s freedom, as Hobbes has laid down, consists in ‘governing himself by his own will and power.’ But this is precisely the freedom we have to give up in the name of security when we submit Thomas Hobbes, The Elements of Law Natural and Politic, ed. Ferdinand Tönnies (2nd edition, London, 1969), p. 100. 14 Ibid. p. 110. 15 Ibid. p. 79. 16 Ibid. p. 139. 17 Ibid. p. 134. 13

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to government. As Hobbes summarises, subjection is necessary, but ‘freedom cannot stand together with subjection’.18 As Hobbes was obliged to recognise, however, his fellow-citizens in 1640 were in no mood to be told that they needed to give up liberty in the name of security. His parliamentarian opponents fully agreed, of course, that we cannot hope to enjoy secure liberty under absolute sovereign power. But whereas Hobbes concluded that we must give up the ideal of secure liberty, his opponents concluded that we must outlaw absolute sovereign power. This was the sticking point, and as soon as Parliament reassembled in 1640 the enemies of the crown not only redoubled their demands for the people of England to be treated as liberi homines, but also began to imprison and threaten the lives of those who disagreed. Hobbes reacted to this crisis in two ways. First, he tells us in his autobiography, he saw that his life might be in danger and instantly fled to France, where he remained throughout the period of the civil wars, returning only in 1652 once the English commonwealth had been firmly established. Next, he began by devoting his exile to the reconsideration of his civil philosophy, and especially his core contention in The Elements of Law that the key to successful civil association is to recognise the need to give up liberty in the name of peace. He went on to publish, in 1642, a revised and extended Latin version of The Elements, to which he gave the ironic title De cive, and in which he announced a remarkable volte face, a change of mind at the core of his civil philosophy. Hobbes continues to argue in De cive that security from harm is what fundamentally matters, and that we need to submit ourselves to absolute sovereign power if our personal security is not to be compromised. But he now argues that this degree of subjection is fully compatible with the maintenance of liberty, and goes much further than his opponents in defending this alleged compatibility. As we have seen, critics of the crown had argued that the only way to preserve liberty under government is to live under a self-governing republic in which we make the laws ourselves. Under absolute monarchies, they had insisted, we cannot hope to live as free men but only as slaves. But Hobbes now insists that freedom is equally possible under all forms of government. As he later summarises in Leviathan, we can live just as freely in Constantinople (that is, under the absolute power of a sultan) as in Lucca (that is, under a self-governing republic).19 This reconciliation between liberty and security is a pivotal moment in English political theory. But how can Hobbes render his argument coherent? He 18 Ibid. p. 169. 19

Thomas Hobbes, Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a Common-wealth Ecclesiasticall and Civill, ed. Richard Tuck (Cambridge, 2008), p. 149.

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does so by insisting that, as he boldly puts it in chapter 9 of De cive, no one has ever properly understood the concept of liberty. People think, he says, that being free is a matter of being able to do anything you want without being subject to anyone else. As we have seen, this view was indeed widespread, and Hobbes in The Elements had shared it himself. But he now appeals to one of the fundamental assumptions of the new mechanistic philosophy, namely that the only thing which is truly real in the world is the motion of bodies. If this is so, then what else can freedom be except the freedom of bodies to move without being impeded? This accordingly is the doctrine that he now proclaims: ‘LIBERTY, to define it, is nothing other than the absence of impediments to motion.’20 Some of these impediments are said to be ‘arbitrary’, that is, hindrances to the will such as fear. But these do not inhibit free action, which for Hobbes is any action that we will to undertake; they merely have the effect of directing it in certain ways. The only impediments that actually take away liberty of action, according to his new doctrine, are what he calls external and absolute impediments of the kind that have the effect of rendering movement impossible. To illustrate his new doctrine, Hobbes takes the example of the free movement of a body of water. ‘When water is contained in a vessel it is not free, because the vessel acts as an impediment that prevents it from flowing out, but if the vessel is broken the water is freed.’21 A second example is that of a man who is ‘checked by hedges and walls from trampling on the vines and crops that border on the road.’22 The man is not free to walk on the crops because an external impediment has been imposed – in the form of the wall – in such a way as physically to prevent him from doing so. These examples are deliberately undramatic, but this is nevertheless a dramatic moment in English political theory. Before this time, as we have seen, it had been generally agreed that freedom is best understood as absence of dependence. If we find ourselves living in dependence on the goodwill of someone else, we may be able de facto to act as we will, but we shall not be free persons, liberi homines. But Hobbes argues that freedom of action is not a matter of absence of dependence; it is solely a matter of absence of interference. It may well be that someone enjoys arbitrary power to interfere with our actions should they choose to do so. But as long as they do not interfere we remain completely free to act as we choose. So for Hobbes de facto liberty is liberty. If Thomas Hobbes, De Cive: The Latin Version, ed. Howard Warrender (The Clarendon Edition of the Philosophical Works of Thomas Hobbes, vol. 2. Oxford, 1983), p. 167: ‘LIBERTAS, ut eam definiamus, nihil aliud est quam absentia impedimentorum motus’. 21 Hobbes, De Cive (note 20), p. 167: ‘ut aqua vase conclusia, ideo non est libera, quia vas impedimento est ne effluat, quae fracto vase liberator.’ 2 2 Ibid. p. 167: ‘sepibus & maceriis, ne vineas & segetes viae vicinas conterat […] cohibetur.’

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no one is stopping us from exercising our powers at will, even if they could do so, then we are free. This redefinition of liberty carried with it momentous consequences for the relationship between liberty and security. We first need to note that Hobbes never gives up his basic claim in The Elements of Law that the fundamental value in civil associations is security. This remains his commitment in De cive, and even more clearly in the final and fuller statement of his theory in Leviathan in 1651. When he presents his celebrated account of the ‘state of nature’ in Leviathan, he continues to insist that it is a condition in which, although we possess all our rights and liberties, we have no security at all. ‘And as long as this natural right of every man to every thing endureth, there can be no security to any man (how strong or wise soever he be) of living out the time which nature ordinarily alloweth men to live.’23 He accordingly continues to insist that the basic motive leading men to renounce their rights and subject themselves to sovereign power ‘is nothing else but the security of a man’s person, in his life, and in the means of so preserving life as not to be weary of it.’24 As we have seen, in The Elements of Law Hobbes had concluded that, in order to obtain this level of security, we have no choice but to give up our liberty. With his redefinition of the concept, however, he is able to insist that, when we submit our wills absolutely to sovereign power, this leaves us with almost the entirety of our natural liberty. But how can this possibly be? There are two distinct ways, Hobbes responds, in which our submission leaves our liberty unaffected. First, because our basic aim in submitting ourselves is security, we have no reason to agree to do anything that might endanger our capacity under government to live a secure life. But this means that we must retain the liberty to refuse any commands that might endanger the security of our life or even our reputation among our fellow-subjects. We cannot be obliged to serve in armies, to incriminate ourselves, or do anything to threaten the security of life and limb that constituted our motive for submitting to government in the first place. These inalienable rights are what Hobbes calls, in Leviathan, the true liberties of a subject.25 Yet more important, Hobbes also emphasises that, although it is true that we give up our other natural rights – and hence liberties of action – when we submit to the rule of law, the law is very far from seeking to control the entirety of our behaviour. The aim of law, as Hobbes lays down in Leviathan, is only to induce sufficient fear of punishment to prevent us from infringing the security of our fellow-subjects. According to his new definition of liberty, however, if I am 2 3 Hobbes, Leviathan (note 19), p. 91. 24 Ibid. p. 93.

2 5 Hobbes, Leviathan (note 19), p. 150.

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unimpeded in the exercise of my powers I am completely free. But this means that, as he had already expressed the point in De cive, there will be an almost infinite number of actions that I shall remain free to perform or not perform, even after I have wholly submitted myself to sovereign power, simply because the law takes no interest in whether I perform them or not. The resulting space within which we remain free at all times to do what we like is already described in De cive as libertas civium, the liberty of subjects.26 This argument in turn has momentous consequences for the claim that freedom depends on forms of government. As we have seen, Hobbes’s opponents had argued that, to live freely under government, we must ensure that the laws reflect our will (or at least our represented will). If they do not, we shall be subject to the will of others and will thus be slaves. According to Hobbes, however, the extent of our liberty is not measured by the degree to which we may have been active in making the laws; it is measured only by how many laws there are. For if, on Hobbes’s new account, there are no laws preventing us from acting, then we are free to act. But this amounts to saying that forms of government are irrelevant to the extent of civil liberty. We might indeed find, Hobbes suggests, that freedom is more extensive under a despotic monarchy than under a self-governing republic. The idea that republics are to be praised as in some special sense free – as ‘free states’ – is accordingly dismissed by Hobbes as nothing more than an abuse of words. Hobbes’s argument did not, of course, go unchallenged. If we turn to the leading English republican texts of the second half of the seventeenth ­century – to James Harrington’s Oceana of 1656, or to Algernon Sidney’s Discourses concerning Government of 1698  – we come upon a profound restatement of the rival view of freedom and security I began by laying out. As these writers insist, the only liberty worthy the name is the liberty that leaves us secure from dependence on others. As Sidney reiterates, ‘to depend upon the will of a man is slavery’.27 So the only form of government in which we can hope to live as free persons will be a self-governing republic in which, as Harrington puts it, there is ‘an empire of laws and not of men’, and in which the laws are made by the citizens themselves.28 However, Hobbes’s rival claim that there is simply no conflict between security and liberty, and that we can live with equal freedom under any form of government, eventually proved irresistible. Hobbes’s argument denies any 2 6 Hobbes, De Cive (note 20), p. 202.

Algernon Sidney, Discourses concerning Government, ed. Thomas G. West (Indianapolis, 1990), p. 17. 28 James Harrington, The Commonwealth of Oceana and A System of Politics, ed. John G. A. ­Pocock (Cambridge, 1992), pp. 8, 20. 27

­The Early-Modern English Debat

connection between liberty and equality, and proclaims that freedom is fully compatible with conditions of social domination and dependence. During the era of reaction against the American and the French revolutions, it is not surprising to find that these commitments gained a new prominence – and that Hobbes acquired a new respectability – in English public debate, especially in the utilitarian tradition as developed by such writers as William Paley, Jeremy Bentham and James Mill towards the end of the eighteenth century. The classic statement of the new orthodoxy can be found in perhaps the most widely-used handbook of political theory of the period, William Paley’s Principles of Moral and Political Philosophy, first published in 1785. Liberty, ­Paley lays down, we may define as absence of interference: ‘the degree of actual liberty’ always bears ‘a reversed proportion to the number and severity of the restrictions’ placed on our ability to pursue our chosen ends.29 Civil liberty is limited only by law, and because all forms of government – democratic as much as absolutist – impose laws on their subjects, there is no necessary connection between the preservation of individual liberty and the maintenance of any particular form of government. Carrying the argument even further, Paley concludes that there is no reason in principle why ‘an absolute form of government’ might not leave us ‘no less free than the purest democracy’.30 But what does Paley have to say about the basic claim with which I began – that if I am dependent on the will of someone else I am not free, because my dependence reduces me to servitude? Paley explicitly raises the question in his Principles, and answers that this argument simply confuses two separate concepts, liberty and security. It is true, he concedes, that if we depend on the goodwill of someone else for the continuation of our liberty, then our liberty will not be wholly secure. But liberty is merely absence of interference; so long as no one is interfering with my exercise of my powers, I remain entirely free. Those who equate liberty with independence, Paley infers, ‘do not so much describe liberty itself, as the safeguards and preservatives of liberty’.31 Whereas secure liberty had in earlier generations been seen as the only liberty worthy the name, security and liberty were now taken to be wholly separate. I should like to end by risking one contemporary as opposed to historical remark. We live in civil associations in which the dangers of insecurity have come to be regarded as paramount, and we are regularly warned that what matters most is our security. Governments are sometimes willing to concede that, in order to guarantee that we remain secure, they may have to take on various

2 9

William Paley, The Principles of Moral and Political Philosophy (London, 1785), p. 443.

3 0 Ibid. p. 445.

31 Ibid. pp. 446–7.

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emergency powers. We are regularly assured, however, that these powers carry no threat to our liberty; they are there simply to defend it. This line of argument is only coherent, however, if we agree that freedom is taken away only when someone actually interferes with our rights. But what if we were to agree with our early-modern forebears that freedom is not to be understood as mere absence of interference, but rather as absence of dependence upon precisely the sorts of arbitrary powers that are currently held to be indispensable to upholding liberty itself? The comfortable doctrine that liberty and security are compatible would be thrown into doubt, and some government actions currently defended on the grounds that they are necessary to uphold liber­ty might begin to look as if they are undermining it. Perhaps one moral of the story I have been telling is that the compatibility of liberty and security is a more complex question than we are currently invited to believe.

SEKTION I · Sicherheit – Norm und Begriff in der frühneuzeitlichen europäischen Kommunikation

Luise Schorn-Schütte

Sicherheit als Begriff und Phänomen in der Europäischen Frühen Neuzeit – ­Einleitung in die Sektion Sicherheit war für die frühneuzeitlichen Gesellschaften Europas eine zentrale Katego­rie. Sehr zu recht ist jüngst darauf hingewiesen worden, dass eine Blickrichtung, die sich allein auf die militärische Sicherheit konzentriert, wichtige Einsichten in die Bedeutung von Begriff und Sache versperrt.1 Eine der zentralen Bedingungen für das Funktionieren mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gesellschaften bestand darin, dass zwischen Herrschenden und Beherrschten (in welcher Gruppen­organisation auch immer) eine auf wechselseitiger Bindung beruhende Vereinbarung (Vertrag) geschlossen wurde, mit der die Zusicherung von Sicherheit (also Schutz und Schirm) gegen Anerkennung von Herrschaftsrechten/Legitimität (Rat und Hilfe) bestätigt wurde. Unter dieser Voraussetzung war „Sicherheit“ ein Strukturmerkmal, das Herrschaft und damit auch ein Gewaltmonopol legitimierte, ein Merkmal aber auch, das nicht auf Dauer gestellt war, dessen Gültigkeit an die Einhaltung der Vertragsbedingungen gebunden war. In keinem Fall kann „Sicherheit“ in der Frühneuzeit auf ein „nach außen“ gerichtetes, militärisches Agieren reduziert werden.2 Damit ist für die europäische Frühe Neuzeit festzuhalten, dass es jene strikte Trennung von öffentlich und privat, wie sie in der Forschung lange Zeit behauptet wurde, bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts nicht gegeben hat. Denn die mit der Herrschaftslegitimation zugesicherte Sicherheit bezog sich sowohl auf die Gesamtheit der Häuser als auch auf die aus dieser Gemeinsamkeit erwachsende Herrschaftsordnung, die

1

Siehe Harald Kleinschmidt, Legitimität, Frieden, Völkerrecht. Eine Begriffs- und Theorie­ geschichte der menschlichen Sicherheit (Beiträge zur politischen Wissenschaft 157), Berlin 2010, S. 19. 2 Siehe ebenso ebd., S. 20: „Sie [die Forschung] muss darüber hinaus die ältere Hypothese hinterfragen, dass die öffentliche Sphäre als Arena der Politik und der Kontroverse über Politisches zu bestimmen sei, wohingegen die Sphäre des Privaten als der Bereich der sozialen Beziehungen innerhalb des (ganzen) Hauses zu gelten habe.“

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Luise Schorn-Schütte

sich natürlich auch immer wieder mit den Ansprüchen anderer Herrschaftsordnungen auseinander zu setzen hatte.3 Auf dieser Grundlage hat sich der Begriff der Sicherheit seit dem 16. Jahrhundert in etliche Richtungen differenziert; dies ist im Bereich der politiktheoretischen Diskussionen ebenso wie in den theologischen Debatten zwischen und innerhalb der Konfessionen greifbar. Die nachfolgenden Beiträge wenden sich ihnen in unterschiedlicher Deutung zu. Bemerkenswerterweise fand sich der Begriff im frühen Protestantismus mit doppeltem Sinn. In Anknüpfung an antike Traditionen charakterisierte Luther „Sicherheit“ zunächst als negativ besetzten Begriff (securitas als malitia)4, der die Gläubigen veranlassen könne, das Evangelium zu vergessen, sich in Sorglosigkeit zu wiegen. Zugleich begegnet aber auch eine positive Wertung jener Sicherheit, die die weltliche Obrigkeit gewährt.5 In der Analyse des Sprachgebrauchs protestantischer Predigten des 16./17. Jahrhunderts scheint sich dieser doppelte Einsatz von Sprache zu verstetigen: Der säkulare Sprachgebrauch, den Luthers Hinweis auf die sicherheitsfunktionale Rolle der Obrigkeit eröffnete, setze sich im 17. Jahrhundert langsam durch.6 Dabei gab es weitere Bedeutungsdifferenzierungen, die sich im Blick auf die Untertanen ebenso ergaben wie im Blick auf die Rolle, die die weltliche Obrigkeit zu übernehmen hatte. Ob damit die zweifellos wichtige eschatologische Dimension des Begriffes im Protestantismus völlig verschwand, ist mit Hilfe der hier zunächst vorgelegten Auswertungs­ergebnisse nicht eindeutig zu belegen.7 Zu fragen bleibt, mit welchen Begriffen die Metapher der „himmlischen Sicherheit“ belegt wurde und in welchem Verhältnis diese zur weltlich bezogenen Begrifflichkeit stand.8

3 Ebd.,

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S. 22: „vor dem Hintergrund dieser Regel hing die Legitimität von Herrschaft von der erfolgreichen Bereitstellung von Sicherheit […] durch die Herrschaftsträger als Kernelemente des umfassenden Begriffs der Menschlichen Sicherheit ab.“ Siehe dazu den Beitrag von Philip Hahn sowie Michael Makropoulos, Sicherheit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt 1995, Sp. 745–750, hier Sp. 746. Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862, hier S. 841. Siehe den Beitrag von Philip Hahn im Folgenden. Dies wird gegen die Meinung von Kleinschmidt, Legitimität (wie Anm. 1), S. 91f. gesetzt. Diese Dimension wird in der noch nicht abgeschlossenen Auswertung des Materials aus dem Forschungsprojekt, auf das sich Hahns Ergebnisse stützen, in Gestalt einer Monographie weiter bearbeitet werden.

Sicherheit als Begriff und Phänomen

Wie stark der Sicherheitsbegriff in seiner weltlich bezogenen Bedeutung als Instrument im politischen Kampf zwischen den Konfessionen eingesetzt wurde, zeigt der Beitrag von Maciej Ptaszyński. Die anregende These lautet:9 Der Begriff der Sicherheit ist unverzichtbares Element des Freiheitsbegriffes der polnischen Protestanten des 16. Jahrhunderts; dieser wiederum war konstitutiv für das Herrschaftskonzept des Republikanismus, der für das Selbstverständnis des polnischen Adels gegenüber dem stärker werdenden Herrschaftsanspruch der polnischen Monarchen von erheblicher Bedeutung war. Ptaszyński begründet diese unverzichtbare Rolle des Sicherheitsbegriffes auch damit, dass die Reformation in Polen im Vergleich zum Alten Reich und Westeuropa erst spät einsetzte. Schon deshalb standen Strategien der Stärkung innerkirchlicher Organisationen und deren Verstetigung durch Abwehr von Kritik, die von außen kam, im Zentrum der Debatten.10 Das Muster der politischen Debatten, wie es für das Alte Reich im Umkreis des Interim schon bekannt war, wiederholte sich fast identisch in Polen: Die Protestanten wurden der Rebellion, des Aufruhrs verdächtigt. Um sich dagegen abzusetzen, schlossen sie sich einerseits mit anderen protestantischen Gruppen im Land zusammen und betonten andererseits ihre unbedingte Solidarität mit der polnischen patria, die als überkonfessionell charakterisiert wurde.11 Welche Bedeutung dieser überkonfessionelle Ansatz für die inneradlige und innerpolnische Debatte des 17. Jahrhunderts gewinnen sollte, kann Ptaszyński am Beispiel zweier Angehöriger einer polnischen Adelsfamilie skizzieren, deren Biographien er den unterschiedlichen Strategien der konfessionellen Sicherheitspolitik zuordnet. In ihrem Beitrag über die Rolle des Sicherheitsbegriffs für die Debatte zur Funktion der Universalmonarchie im Alten Reich des 16./17. Jahrhunderts betont auch Anuschka Tischer, dass die Zeitgenossen eine Hinwendung zum Jenseitigen, also zur eschatologischen Dimension der Wirklichkeitsbewältigung, sehr ernst nahmen. Ihre Frage lautet: Welche Konzepte gab es als Reaktion auf das Vergehen von Ordnungen? Die Wiederherstellung oder Herstellung der Ordnung war ein Deutungsproblem per definitionem, damit verbunden war die strikt politiktheoretische Frage: Wie sahen Ordnungen aus? Waren sie als göttliche oder als natürliche zu charakterisieren, gab es so etwas wie legitimitätsstiftende Traditionen, an die angeknüpft werden konnte? Sehr zu Recht wird betont, dass die unterschiedlichen Ordnungsentwürfe aufgrund ihrer Unvereinbarkeit wiederum Unsicherheit produzierten und damit erneut den Ruf nach einem Krieg

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Siehe S. 58.

10 Ebd., S. 58f.

11 Ebd., S. 62ff.

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Luise Schorn-Schütte

provozierten, der die verlorene Sicherheit wieder herzustellen in der Lage sei.12 Im Blick auf die Konkurrenz der Ordnungsentwürfe seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts diskutiert Tischer das Legitimitätspotential der Universalmonarchie unter dem Aspekt, ob die gegensätzlichen Sicherheitsvorstellungen in diesem Herrschaftsmodell praktisch politisch integrierbar gewesen wären. Die skizzierten Zugänge zum Verständnis des Sicherheitsbegriffes zeigen, dass die Forschung hier erst am Anfang steht. Der Sprachgebrauch der Zeitgenossen wird sich kaum hinreichend in der Konzentration allein auf das Wort „Sicherheit“ erschließen lassen; erst eine intensivierte Forschung zu dessen Semantik und eine methodisch sichere Kontextualisierung wird hier Erkenntnisfortschritt­ ­bringen.

12

Siehe Beitrag Tischer, S. 76f.

Philip Hahn

„Sicherheit“ – gut oder böse? Zur Semantik des Begriffs in protestantischen politischen Predigten im Alten Reich des 16. und 17. ­Jahrhunderts ‚Sicherheit‘ – würde man diesen Begriff in einer protestantischen Predigt erwar­ ten? Wenn ja, dann entweder in einem negativen Sinne, nämlich synonym zu ‚Sorglosigkeit‘ oder ‚Selbstzufriedenheit‘. So verwendete Luther etwa das ­lateinische securitas in einem Atemzug mit malitia, Bosheit, und folgte damit einer in die Antike zurückreichenden christlichen Tradition.1 Oder aber es ist die Rede von „wahre[r]“ oder „unfallsbefreyter Sicherheit“, die den Gläubigen im Jenseits zuteil wird.2 Doch gibt es bei Luther auch vereinzelte Hinweise auf ein anderes Verständnis dieses Begriffs: Geschützt durch die Obrigkeit, so der Reformator, säßen die Untertanen „sicher yn dieser mauren des friedes“, der „das grösseste gut auf erden“ darstelle.3 Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts, so ist an politiktheoretischen Texten, Fürstenspiegeln sowie diplomatischem und administrativem Schriftgut beobachtet worden, gewann der Begriff ‚Sicherheit‘ und die dazugehörige Wortfamilie dann zunehmend an Bedeutung und etablierte sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts fest im Sprachgebrauch.4 Haben sich protestantische Prediger nach Luther von der Konjunktur dieses Begriffs mitreißen lassen? Und welche Vorstellungen von ‚Sicherheit‘ vermittelten sie ihren Zuhörern und Lesern? Diese Fragen gewinnen dadurch an Bedeutung, dass die Kanzel eines der wichtigsten Kommunikationsmedien in der Frühen Neuzeit darstellte. Zudem war es in der Frühen Neuzeit vor allem in protestantischen Territorien üblich, dass zu politischen Anlässen gepredigt wurde, sei es bei einer Huldigung, der Eröffnung eines Landtages, vor einer Ratswahl, anlässlich eines Friedensschlusses oder eines Treffens mehrerer Fürsten, zum Geburtstag, zur Hochzeit oder 1 Michael

Makropoulos, Sicherheit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt 1995, Sp. 745–750, hier Sp. 746. 2 Vgl. die Titel der folgenden Funeraldrucke: Christian Chemnitz, Vera pax animae Oder Christliche Leichpredigt/Von Wahrer Sicherheit/Friede und Ruhe einer gleubigen Seelen, LP Johann Major, Jena 1654; Anon., Den unvermutheten und kläglichen Vnfall Des Wohlgenaturten/GOtt- und Tugendliebenden Jünglings Johann Friederich Hahns […] zur beständiger Unfallsbefreyter Sicherheit befödert, o. O. 1673. 3 So belegt in zwei Schriften von 1530, der „Auslegung des 82. Psalms“ und dem „Sermon odder Predigt, das man solle kinder zur Schulen halten“, zit. nach: Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 839–840. 4 Conze, Sicherheit, Schutz (wie Anm. 3), S. 841.

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Philip Hahn

Beerdigung eines Fürsten oder Bürgermeisters.5 Hier bot sich den Predigern die Gelegenheit, dem jeweiligen Ereignis ihre Deutung auf Basis der Auslegung der heiligen Schrift zu geben.6 Die Bedeutung des Biblizismus für die frühneuzeitliche politische Kommunikation ist nicht zu unterschätzen, wie zuletzt Andreas P ­ ečar aufgezeigt hat.7 Zwar sind die Predigten meist nur in gedruckter Form überliefert und bilden aufgrund von Überarbeitung, Eigen- und Fremdzensur nicht den genauen Wortlaut des auf der Kanzel Gesprochenen ab, erlauben aber dennoch einen Einblick in politische Vorstellungen, die weite Bevölkerungskreise erreicht haben.8 Denn für nicht wenige wird die Kanzel die einzige ihnen zugängliche politische Bildung geboten haben. Grundlage der folgenden Ausführungen ist die im Rahmen eines DFG-Projekts erfolgte semantische Auswertung von 175 in der Mehrzahl gedruckt vorliegenden lutherischen Predigten aus den Jahren 1550 bis 1675 aus der Forschungsbibliothek Gotha.9 Sie stammen aus einem geographisch umgrenzten Raum, der das 5 Mary J. Haemig/Robert Kolb, Preaching in Lutheran pulpits in the age of confessionalization,

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9

in: Robert Kolb (Hrsg.), Lutheran ecclesiastical culture, 1550–1675 (Brill’s companions to the Christian tradition 11), Leiden 2008, S. 117–157; Esther-Beate Körber, Öffentlichkeiten der frühen Neuzeit. Teilnehmer, Formen, Institutionen und Entscheidungen öffentlicher Kommunikation im Herzogtum Preußen von 1525 bis 1618 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 7), Berlin/New York 1998, S. 97, 155; Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 103), Göttingen 1994, S. 155. Pionierarbeit zur Semantik politischer Predigten hat Pasi Ihalainen geleistet: Pasi Ihalainen, Protestant Nations Redefined. Changing Perceptions of National Identity in the Rhetoric of the English, Dutch and Swedish Public Churches, 1685–1772, Leiden 2005; ders., Between historical semantics and pragmatics. Reconstructing past political thought through conceptual history, in: Journal of Historical Pragmatics 7 (2006), S. 115–143. Andreas Pečar, Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und England zwischen Reformation und Bürgerkrieg (1534–1642) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 69), München 2011; ders./Kai Trampedach (Hrsg.), Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne (Historische Zeitschrift, Beihefte 43), München 2007. Haemig/Kolb, Preaching in Lutheran pulpits (wie Anm. 5), S. 134, 157; Erik Margraf, Die Hochzeitspredigt der Frühen Neuzeit, Augsburg 2007, S. 34–5; Monika Hagenmaier, Predigt und Policey. Der gesellschaftspolitische Diskurs zwischen Kirche und Obrigkeit in Ulm 1614–1639, Baden-Baden 1989. DFG-Projekt „Religion und Politik in protestantischen Predigten des 16. und 17. Jahrhunderts im thüringisch-sächsischen Raum“, eine Kooperation zwischen der Forschungsbibliothek Gotha (Dr. Kathrin Paasch) und dem Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der J.W. Goethe-Universität Frankfurt a. M. (Prof. Dr. Luise Schorn-Schütte). Die Auswahl des Textkorpus erfolgte 2008/09 durch Dr. Anja Kürbis (Gotha), die Auswertung und Erstellung eines Online-Thesaurus zur politischen Sprache lutherischer Prediger in Thüringen und Sachsen, 1550–1675, 2009–2011 durch den Verfasser. Der Thesaurus und die damit verlinkten digitalisierten Predigten werden voraussichtlich 2013 online gehen

Zur Semantik des Begriffs in protestantischen politischen Predigten

Kurfürstentum Sachsen und zugehörige Länder, die ernestinischen Herzogtümer sowie weitere kleinere Territorien in Thüringen umfasst. Ausgewählt wurden bewusst nicht nur Predigten aus den größeren Städten wie Leipzig oder Dresden, sondern insbesondere aus über die ganze Region verteilten kleineren Städten und Dörfern. Auf diese Weise soll die politische Sprache lutherischer Prediger im gewählten geographischen Raum möglichst flächendeckend erfasst werden. Der Begriff „Sicherheit“ und seine Wortfamilie, darunter „sicher“ und „unsicher“, „sichern“, „Sicherung“, „sicherlich“ (nicht in der heute geläufigen Verwendung) sowie die lateinische „securitas“, sind in 48 Predigten, also knapp über einem Viertel des ausgewerteten Texkorpus nachweisbar. Es handelt sich demnach zwar nicht um ein zentrales, aber dennoch wichtiges Konzept in lutherischen poli­ tischen Predigten. Über den Zeitraum lässt sich – insofern die geringen Zahlen dies erlauben – tatsächlich ein Anstieg der Verwendungen von „Sicherheit“ (Grafik 1) und „sicher“ (Grafik 2) in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts beobachten. Der Anteil der Belege mit theologisch-moralischer Implikation bleibt mit einer Ausnahme gering, aber kontinuierlich präsent. Innerhalb der Wortfamilie sind nur „Sicherheit“ und das lateinische Äquivalent „securitas“ sowie „sicher“ vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges belegt, während „Sicherung“ 1621 erstmals verwendet wird, „sichern“ und „sicherlich“ hingegen erst in einer Landtagspredigt von 1628. Die Verteilung der gesamten Wortfamilie „Sicherheit“ auf die unterschiedlichen Predigtanlässe zeigt die Grafik 3. Hier fällt auf, dass dieser Wortfamilie bei einigen Ereignissen eine größere Bedeutung zukam, so etwa bei Friedensschlüssen, Huldigungen, Landtagen und Beerdigungen von Obrigkeitspersonen.10 Seine größte Bandbreite zeigt die Wortfamilie in den Predigten, die auf Landtagen im Kurfürstentum Sachsen und in thüringischen Territorien gehalten wurden: ­Neben „Sicherheit“ begegnen hier „sicher“, „sichern“, „sicherlich“ und „Sicherung“. Das um diese Wortfamilie herum gruppierte Wortfeld11 lässt deutlicher erkennen, dass der säkulare Sicherheitsbegriff in den Predigten ab dem dritten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts gegenüber dem traditionellen, christlich-reformatorischen Verständnis Raum gewinnt. Sind als verwandte Wörter für „Sicherheit“ in den Jahren um 1600 noch „Fleischliche Freiheit“ (1612), „Leichtsinnigkeit“ (1611) und „Vermessenheit“ (1597) im Gebrauch, so ist es 1621 „Freiheit“, dann ab 1639 „Ehre“ und „Gerechtigkeit“, vor allem aber „Frieden“ (bis 1662 in fünf Predigten unter der Internet-Adresse http://www.politische-predigten.de. Weitere Informationen zum Projekt unter http://www2.uni-erfurt.de/politische-predigten/(29. 02. 2012) sowie http://www.uni-erfurt.de/bibliothek/fb/forschen/projekte/alte-drucke/politische-predigten/ (29. 02. 2012). 10 In Grafik 3: LP=Leichenpredigt; Andere=diverse Anlässe, u. a. eine Teilung des reußischen Territoriums. 11 Vgl. hierzu Conze, Sicherheit, Schutz (wie Anm. 3), S. 833.

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Philip Hahn 5 4 4 3 3 2

„Sicherheit“ „sicher“ gesamt

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„Sicherheit“ „sicher“ theologisch

1 1 0 0

Grafik 1 

Belege für „Sicherheit“ in Predigten nach Jahrzehnten

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„sicher“ gesamt „sicher“ theologisch

1

0

Grafik 2 

Belege für „sicher“ in Predigten nach Jahrzehnten

belegt), hinzu kommen ab 1651 „Ruhe“ (in sechs Predigten) und „Landesruhe“ (1669) sowie 1668/69 „Schutz“ (in zwei Predigten). Allein 14 der 25 Belege für diese verwandten Wörter stammen aus Huldigungspredigten; bei „Ruhe“ sind es 5 von 6 (eine Fundstelle aus einer Friedenspredigt von 1650), und „Ehre“, „Freiheit“, „Frieden“ und „Gerechtigkeit“ werden sogar nur in Huldigungspredigten in einem Atemzug mit „Sicherheit“ genannt. Bei näherer Betrachtung der Fundstellen für die Wortfamilie ‚Sicherheit‘ werden mehrere Anwendungsfelder erkennbar. Zunächst ist dies die Schutzfunktion

Zur Semantik des Begriffs in protestantischen politischen Predigten

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belegt gesamt

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D

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Grafik 3 Gesamte Wortfamilie „Sicherheit“: Vorkommen nach Predigtanlässen

der Obrigkeit für die Untertanen. So heißt es unter Bezug auf Daniels Traum vom Regentenbaum (Dan 4) in einer Huldigungspredigt aus Gera von 1651, „die liebe Obrigkeit ist ein solcher schöner grosser Baum/ unter dessen Schatten die Leute wohnen/ sich nehren/ in Ruhe und Sicherheit leben können“, und ganz ähnlich auch in einer Huldigungspredigt aus Meiningen.12 Der Geraer Prediger bezeichnet den „öffentlichen Frieden/ Ruhe und Sicherheit“ an anderer Stelle erneut ausdrücklich als „Nutzen/ so wir von der Obrigkeit haben“.13 Er verweist dabei auf eine weitere, in diesem Kontext vielzitierte Bibelstelle (1 Kön 5), die sogar in einer Predigt über den christlichen Ehestand von 1600 auftaucht: „die obrigkeit thut jhr erbeit … das jhre Vnterthanen ein geruhig vnd stilles Leben führen mögen/ vnd ein jeglicher vnter seinem Weinstock vnd Feigenbaum sicher 12

Johann Caspar Zopf, OLEUM UNCTIONIS SACRUM. Geistlich und Heilig Salböle/ in einer Erb= und Landes=Huldigungs=Predigt/ Als der […] H. Heinrich der Ander Jünger/ und der Zeit Eltester Reuß/ Herr von Plauen […] Die Erb= und Landes=Huldigung […] zu Gera eingenommen […] Gera: Andreas Mamitzsch, 1651, 019; Johann Sebastian Güthe, Meinunger Bet=Altar/ Als im Namen Des Durchläuchtigsten […] Friederich Wilhelm/ Hertzogen zu Sachsen […] Die Erbhuldigungs=Pflicht […] der Städte und Aempter Meinungen/Maßfeld/ Themar und Behringen/ den 12. Novembr. des 1661. Jahrs alhier zu Meinungen […] Coburg (Johann Konrad Mönch) 1662, 025. Im Folgenden ist als Belegangabe statt der Foliierung die laufende Nummer des Digitalisats (in 2012 online unter der in Anm. 9 genannten Webseite) genannt (001=Titelseite). 1 3 Zopf, Oleum unctionis (wie Anm. 12), 054; vgl. Andreas Kesler, Coburgische Erb­ huldigungs=Predigt/ Als der […] Herr Friderich Wilhelm/ Hertzog zu Sachsen […] Die Erbhuldigung Von der getrewen Landschafft zu Coburgk einnehmen lassen […] in der Stad=Kirchen S. Moritz daselbst […] Coburg (Johann Eyrich) 1640, 033.

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Philip Hahn

wohne/ wie David, Salomo, Iosaphat, Iosia gethan haben“.14 In einer Torgauer Landtagspredigt des kursächsischen Oberhofpredigers Matthias Hoe von Hoenegg wird deutlich, dass unter dieser Schutzfunktion primär dasjenige, was heute als ‚äußere Sicherheit‘ bezeichnet wird, verstanden wurde: Der alttestamentliche König Hiskia „habe allen Schatz in des Herren Haus/ vnd was in seinem gantzen Königlichen Vermögen gewest/ hingegeben/ nur daß seine Land vnd Leute vor dem König in Assyrien gesichert vnd verwahret wurden“. Auch heute noch benötige ein Potentat „vnsäglich viel Spesen vnd Vnkosten“ zur Aufrechterhaltung des „Landesfriedens“ und damit der „allgemeine[n] Nahrung vnd Wohlfahrt“ der Untertanen und könne daher letztere „mit Schatzungen vnd Anlagen“ nicht verschonen.15 Der Oberhofprediger gibt hiermit den zu erwartenden finanziellen Forderungen des Kurfürsten im Vorhinein gegenüber den versammelten Landständen Rückendeckung. Zwei unterschiedliche Perspektiven auf diesen Bedeutungsaspekt des Begriffs ‚Sicherheit‘ bieten eine Eisenacher Gedächtnispredigt auf den Tod des schwedischen Königs Gustav Adolf von 1633 sowie eine Leichenpredigt auf einen sächsischen Landadligen. In der Gedächtnispredigt geht es unter anderem um die Bedingungen eines „rechtmessigen Kriege[s]“, zu denen auch die vorherige Erwägung der Kosten der Kriegführung und der Wahrscheinlichkeit, ihn zu gewinnen, gehöre, nicht zuletzt aber auch einer Rückzugsmöglichkeit, „wenn es jhm [d. h., dem Kriegführenden] etwa mit dem Krieg fehlschlagen vnd mißlingen sollte/ wo er als denn sich hin retteriren vnd sein sicherung suchen möge“.16 In besagter Leichenpredigt hingegen wirft die Bemerkung des Predigers, der verstorbene Landadlige habe „in den langwürigen Kriegswesen […] bald da/ bald dorthin fliehen/ und seine Sicherheit suchen/ auch dabey viel Elend ausstehen müssen“, Licht auf eine ganz andere Ebene des Sicherheitsproblems im Dreißigjährigen Krieg.17 14

Paul Jenisch, Der CXXVIII. Psalm: Wol dem/ der den HERRN fürchtet […] Jn Drey Hochzeitpredigten, Leipzig (Johann Börner) 1600, 029. 15 Matthias Hoe von Hoenegg, Des ChurFürstenthumbs Sachsen Hochlöblichster Landes Vater. Außgeführet in einer Predigt bey allgemeinem Landtag zu Torgaw/ den 18. Februarii, ANNO 1628 […] Leipzig (Zacharias Schürer/Matthias Götze/Gregor Ritzsch) 1628, 017 (erneut Bezug auf 1 Kön 5). 16 Georg Mechior Heiden, STATUA SVECICA, Das ist: Schwedisch Kriegs vnd Siegs/ Dacnk= vnd Gedechtnis Seule. Als des […] GUSTAVI ADOLPHI, der Reiche Schweden/ Gothen vnd Wenden Königs […] Leichnam vom Deutschen boden erhoben/ vnd mit gebührender Pomp vnd Solenniteten in das Königliche Erbbegräbnis naher Schweden abgeführet worden ist […] Erfurt (Martin Spangenberg) [1633], 014. 17 Johann Feinler, Abgefallene Regiments=Krone Der Osterhausischen Gemeinden und Dörffer […] zum rühmlichen Andencken Des […] Georg Sebastian von Osterhausen/ uf Kreypitzsch/ Rudelsburg/ Gleina/ und Gatterstädt […] Jena (Georg Sengenwalde) 1650, 009.

Zur Semantik des Begriffs in protestantischen politischen Predigten

Eine Huldigungspredigt von 1654 aus Frauenprießnitz bei Jena beschreibt die Obrigkeit als einen „rechte[n] Zaun und Wall umb die Kirche/ umb eines jeglichen Hauß/ Hoff und Güter. Daß man leben kann […] geruhig und stille/ und vor der Gewalt und Vnterdrückung sicher seyn“. Gemeint ist hier allerdings nicht eine Bedrohung von außen, denn zuvor hatte der Prediger von einem Brauch der antiken Perser berichtet, nach dem Tod eines Herrschers fünf Tage lang Anarchie herrschen zu lassen, um die Bevölkerung spüren zu lassen, welchen Nutzen die Königsherrschaft bringe.18 In einer Neujahrspredigt vor der sächsischen Garnison in Coburg aus dem Jahr 1643 wird über die Bewachung des Tempels in Jerusalem zur Zeit der Makkabäer berichtet, dass „zu weilen die Besatzung vmb besserer Sicherheit willen verstercket worden“ sei.19 Ebenfalls eindeutig um ‚innere Sicherheit‘ geht es in einer Ratspredigt aus Waltershausen von 1668, in der die Zuhörer ermahnt werden: „Also sol eine Erbare Christliche Bürgerschafft und alle Unterthanen sich gerne einschrencken/ oder in Gesetzen und Ordnungen halten lassen […] und […] aus Lieb und gutem Vertrauen/ Schutz/ Sicherheit und Recht suchen.“20 In einer Coburger Huldigungspredigt aus dem Jahr 1640 wird die Aufmerksamkeit auf den Fürsten selbst gelenkt. Dieser solle zwar den Adligen an seinem Hof „vertrawen/ vnd sie lassen schaffen“, aber dennoch Acht geben, „daß er dennoch den Zaum in der Faust behalte/ vnd nicht sicher sey noch schlaffe/ sondern zusehe/ […] vnd allenthalben besehe/ wie man regiert vnd richtet“.21 Zwar geht es hier um subjektive Sicherheit22, doch erhält das Attribut durch den Verwendungskontext eine politische Implikation. Um die Sicherheit des regierenden Fürsten selbst geht es in zwei Landtagspredigten aus dem ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts. Polycarp Leyser verteidigt 1605 auf dem Landtag in Torgau die Forderungen des Kurfürsten nach Kontributionen damit, dass hier „nichts vnbillichs erfordert“ werde, denn „die Hohe Obrigkeit muß ihr selbs ein ansehen machen/ viel stattlicher Officirer vnnd Diener erhalten/ nicht nur Prachts halb/ wie etlich meinen/ sondern Ampts vnnd eigner Sicherheit halb“, und verweist 18

Heinrich Tilemann, OLEUM INAUGURATIONIS MYSTICUM. Geistliches Salböhl Das ist: Art und Weise/ wie man newe Regenten und Obrigkeiten bey Gott verbitten […] soll. Bey Versamlung Der Adelichen Lehnleute/ und Prediger der Herrschaften Tautenburg […] Jena (Caspar Freyschmied) 1654, 029. 19 Maximilian Faber, Regulae Vitae Stratiotica Das ist/ Soldatische Ampts- und LebensRegul […] Coburg (Johann Eyrich) 1643, 013. 2 0 Johann Hattenbach, Der Stadt Waltershausen Wald=Lust/ So aus deren Jnsigel und ­Wapen […] Jn gehaltener Raths=Predigt/ beym Antritt des neuen Raths d. 11. Novembr. An. 1668. gezeiget worden […] Gotha (Johann Michael Schall) [1668], 020 (Verweis auf 1 Kön 5). 21 Kesler, Coburgische Erbhuldigungs=Predigt (wie Anm. 13), 051. 2 2 Vgl. Makropoulos, Sicherheit (wie Anm. 1), Sp. 746.

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auf das Exempel Sauls und seiner Leibwache.23 Ein anderes Vorgehen wird dem Fürsten im Hinblick auf seine eigene Sicherheit in einer Landtagspredigt aus Gotha nahegelegt. Das Exempel eines lakedämonischen Königs gebe eine Anleitung dazu, „wie es doch ein Regent angreiffen müste/ der über seine Vnterthanen sicher/ vnd ohne furcht herrschen/ vnd sie im gehorsam behalten wolt“. Wenn er seine Untertanen behandle wie ein Vater seine Kinder, „so wirdt jhm jederman willig/ vnd mit ehrerbietung vnterthan sein/ Vnd er wird kein Leibdiener die jhn beschützen/ bedürffen“.24 Andere Prediger beziehen hierzu nicht eindeutig Stellung und beschränken sich darauf, den Regenten „sicheres und friedseliges Regiment/ Gott behüte sie für Krieg vnd Feinden ewiglich“ zu wünschen.25 Eine Predigt von 1646 zitiert zu diesem Thema aus Luthers Tischreden: „Wenn ein Bauer die Fährlichkeit und Mühe eines Fürsten wüste/ er würde Gott dancken/ daß er ein Bauer were und in dem seligsten und sichersten Stande.“26 Das Bedürfnis der Regierten nach Sicherheit wird in einer Predigt aus Ronneburg zum Friedensschluss 1648 beschrieben: „Ist es nicht ein grosser Segen Gottes und des lieben Friedens/ wenn man von einem Ort zu dem andern zu Wasser und Lande sicher reisen und ehrliche Handthierung treiben kann?“ Außerdem könne dank des Friedens wieder „lauter und rein und sicher gelehret und geprediget werden“.27 Die Gewährleistung der Sicherheit der Fernstraßen, bereits seit dem späten Mittelalter auf der Tagesordnung, wird auch in einer Glückwunschpredigt anlässlich des Geburtstags des Herzogs Friedrich Wilhelm von Sachsen-Altenburg 1666 als „der Obrigkeit Ampt“ bezeichnet.28 Meist dient die bereits erwähnte, topische Bibelstelle vom Feigenbaum und dem Weinstock (1 Kön 5) als Sinnbild des Segens von Frieden und Sicherheit, was zeigt, dass 2 3

Polycarp Leyser, Eine Landtags Predigt/ Zur Ehre Gottes/ vnd zur Erinnerung frommer Christen […] Leipzig: Abraham Lamberg, 1605, 041. 24 Michael Julius, Christliche Landtags Predigt. Gehalten zu Gotha den 24. Septembris deß 1605. Jahrs […] Coburg: Justus Hauck, 1606, 016f. 2 5 Arnold Mengering, Peitharchia Subditorum Gloriosa Altenburgische Erbhuldigungs-Predigt […] in der StadtKirchen S. Bartholomaei den 12. Juni Anno 1639 gehalten, Altenburg (Fürstl. Sächsische Officin) 1639, 059; vgl. Christian Pauli, Der gute und wolgeübte Jäger/ Mit seinen löblichen Eigenschaften […] Brieg (Johann Christoph Jacob) 1673, 138. 2 6 Jacob Weller, Geistliche Schleuder Davids/ Das ist: Christliche Predigt vom PredigAmpt […] in der Kirchen zu S. Thomas in Leipzig den 8. Iunii Anno 1646. Als […] H. Christian Lange […] zum SuperintendentenAmpt öffentlich eingewiesen wurde, Leipzig (Thomas Schürer/Matthias Götze) 1646, 021. 27 Philipp Wernick, Herrlicher Friede […] in einer Christlichen Friedens=Predigt/ über den 133. Psalm […] den 15. Novembris in der Kirchen zu Ronnenburg fürgetragen, Zwickau (Melchior Göpner) 1648, 023. 28 Arnold Mengering/Andreas Kather, Horologium Principum Davidicum, Das ist Fürstliches Davidisches Regenten=Uhrlein: In dreyen Geburts=Tags=Predigten […] Eisleben (Andreas Koch) 1666, 131 („das Land von bösen Leuten reinige/ welche den gemeinen Frieden brechen/ die Strassen unsicher machen“).

Zur Semantik des Begriffs in protestantischen politischen Predigten

es den Predigern nicht nur um den bloßen Schutz vor Bedrohungen, sondern gleichzeitig um das (auch wirtschaftliche) Wohlergehen der Untertanen ging: „auff das ein jeder im Land frey sicher handeln vnnd wandeln“ könne, denn „wo Vnfried/ Krieg vnd Entpörungen sein/ da kann man die Nahrung schwerlich fortsetzen“. Aus der Perspektive des Nahrungserwerbs war es also prinzipiell einerlei, ob die Bedrohung der Sicherheit von außen oder innen kam.29 Frieden könne jedoch ebenso wenig erhalten werden, so heißt es in einer Predigt zum Prager Frieden von 1635, wenn man „mit Sicherheit/ Boßheit vnd Vnbußfertigkeit andere Plagen“ herbeilocke.30 „Sicherheit“ bleibt also besonders in Bezug auf die Untertanen ein ambivalenter Begriff, bei dem sich die Bedeutungsebenen aus unterschiedlichen Traditionssträngen überlagern. Besonders deutlich wird dies in einer 1655 anlässlich des einhundertjährigen Jubiläums des Augsburger Religionsfriedens in der Leipziger Nikolaikirche gehaltenen und von Studenten mitgeschriebenen Predigt. Fünfmal wird darin der Begriff „Sicherheit“ verwendet, etwa auf jeder fünften Seite. Der Friedensvertrag habe, so der Prediger Johann Hülsemann, „eine ewige Sicherheit“ für beide Teile verbrieft, „daß sie ihre Religion/ Glauben/ KirchenGebräuche/ Ceremonien […] ohne Hindernüß und Eintrag des andern Theils bestellen/ üben/ continuiren/ und auf ihre Nachkommen bringen mögen“. Ohne den Vertrag sei „das Pabsthumb so wenig sicher […] als wir“.31 Allerdings sei die „Sicherheit und befriedigung der heiligen Evangelischen Lehr“ während der vergangenen einhundert Jahre unablässig von katholischer Seite bedroht worden; die Predigt endet in einer Tirade über jüngste Angriffe gegen den Frieden von Münster und Osnabrück.32 Doch unterlässt Hülsemann es ebensowenig darauf hinzuweisen, dass „umb unsers Vndancks/ Sicherheit und Verachtung willen/ dem Scepter der Gottlosen auff eine Zeitlang über unserm Häupte zu schweben verstattet“ würde. Subjektive Sicherheit, so möchte man seine Aussage zusammenfassen, gefährdet also die objektive Sicherheit des Gemeinwesens.33 Diese Ambivalenz liegt freilich im Genre der untersuchten Texte begründet. Dennoch ist festzuhalten, dass der Sicherheitsbegriff in seiner säkularen, positiv konnotierten Bedeutung im Lauf der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in der 2 9

Polycarp Leyser, Landttagß predigt: Gehalten zu Torgaw/ den 9. Decembris/ Anno Dom. M.DCI. […] Leipzig (Abraham Lamberg) 1602, 025. 3 0 Paul Stockmann, Lamentationum Clausula, Das ist/ Danck= vnd Frewden=Sermon Vber den Friede/ Welchen die Römische Keyserl. Maj. vnd Churfürstl. Durchl. zu Sachsen […] gehalten […] zu Lützen, Leipzig (Johann Francke (Erben)/Samuel Scheibe) 1635, 021. 31 Johann Hülsemann, Jubel-Freud über den vor hundert Jahren publicirten Religion Frieden in Teutschland […] Am XXV. Tag Septembris dieses MDCLV. Jahres […] In der HaubtKirchen zu S. Nicolai in Leipzig, Leipzig (Johann Wittigau) 1655, 007. 3 2 Ebd., 019. 3 3 Ebd., 023.

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politischen Sprache lutherischer Prediger an Bedeutung gewann und sich hinsichtlich seiner Wortfamilie und der verwandten Begriffe entfaltete. Die sich seit etwa 1600 abzeichnende Trennung in ‚äußere‘ und ‚innere‘ Sicherheit ist auch in den Predigten erkennbar, wenn auch nicht eindeutig begrifflich geschieden.34 Damit wird deutlich, dass die von der älteren Forschung beschriebene semantische Entwicklung von ‚Sicherheit‘ im 16. und 17. Jahrhundert nicht auf die bisher ausgewertete politiktheoretische und administrative Literatur beschränkt war, sondern über die Kanzel die breite Bevölkerung erreichte. Anders herum betrachtet lässt sich aber auch vermuten, dass die Prediger in ihrer Wortwahl auf ein im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges gestiegenes Sicherheitsbedürfnis ihrer Zuhörer reagierten. In diese Richtung deutet auch ihr weiter gefasstes Sicherheitsverständnis, das eben nicht nur auf die Sicherung der Existenz abzielt.35 Indem sie das Thema Sicherheit auf der Kanzel zur Sprache brachten, trugen sie das Bedürfnis der Untertanen danach der anwesenden Obrigkeit vor und erfüllten somit ihre Aufgabe innerhalb der frühneuzeitlichen politischen Kommunikation.

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Vgl. Conze, Sicherheit, Schutz (wie Anm. 3), S. 844. Vgl. ebd., S. 847–849. Conzes Belege entstammen in erster Linie aus der internationalen politiktheoretischen Literatur (Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf, Christian Wolff).

Maciej Ptaszyn´ski

Das Ringen um Sicherheit der Protestanten in Polen-Litauen im 16. und 17. ­Jahrhundert Johann Amos Comenius, ein Pfarrer in der polnischen Ortschaft Lissa und Super­ intendent der Böhmischen Brüderunität, schrieb 1655 über die Lage in Polen: Es stunde so schlim um uns, so wol in- als ausser Lands, dass es schlimmer nicht sein können, von aussen wollte uns der Barbarische Feind üm Gut und Leben, von innen der falsche und verlarvte Freund üm die Freiheit bringen, so wol in Geistlichen als Staats-Sachen.1

Es gebe für Polen nur eine Rettung – und dies sei der König von Schweden, Karl X. Gustav. Comenius lobte in Anlehnung an ältere Fürstenspiegel, insbesondere die „Institutio Principis Christiani“ von Erasmus von Rotterdam, die Tugenden des Herrschers, ermahnte ihn aber auch, vernünftigen Ratschlägen zu folgen und Schmeichler und Machiavellisten zu meiden.2 Vor allem aber sollte der neue König auf die polnische Freiheit achtgeben: Freie Gemüter lassen sich anderst nicht beherrschen, als mit Freundlichkeit […] Die Polen sind zwar etwas von der Tugend ihrer VorEltern abgeartet, aber sie sind darum noch nicht gar verartet. Es lebet noch in ihnen die Liebe zur Freiheit.3

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Panegyricus Carolo Gustavo, magno Suecorum Vandalorum Regi, incruento Sarmatiae Victori et quaqua uenit liberatori pio, felici, Augusto, o. O. 1655, in: Johannis Amos ­Comenii Opera omnia, Prag 1974, Bd. 13, S. 67–94, hier S. 73 („Res hic tam male steterant, ut pejus non possent, foris domique. Foris erant barbari hostes bonis et vitae: domi simulati amici libertatibus inhiantes religiosis et politicis“). Eine moderne Übersetzung in: Jürgen Beer (Hrsg.), Johann Amos Comenius, Panegyricus Carolo Gustavo – Lobrede auf König Karl X. Gustav (Schriften zur Comeniusforschung 25), Berlin 1997. Hier zitiert nach einer zeitgenössischen Übersetzung: Milada Blekastad, Eine seltene Comenius-Ausgabe in der Königlichen Bibliothek von Kopenhagen, in: Scando-Slavica 6 (1960), S. 32–53, hier S. 43. 2 Die Interpretation im Kontext der Fürstenspiegel, der Vergleich mit Erasmus, der Antimachiavellismus: Vladimir Urbánek, J.A. Comenius’ Anti-Machiavellianism, in: Acta Comeniana 11 (1995), S. 61–70; Vladimir Urbánek, Reason of State and Celestial Politics. The Anti-Machiavellianism of J. A. Comenius, in: Werner Korthaase/Sigurd Hauff/Andreas Fritsch (Hrsg.), Comenius und der Weltfriede, Berlin 2005, S. 432–443; Jürgen Beer, Advice to Princes in the Work of J.A. Comenius and Erasmus of Rotterdam, in: ebd., S. 108–117; Jean-Claude Margolin, Érasme et Coménius, in: Faculté des sciences de l’éducation, Montréal (Hrsg.), Jan Amos Coménius (1592–1670). Aspects culturels, philosophiques, pédagogiques et didactiques de son œuvre, Montreal 1996, S. 149–179. 3 Comenii Opera omnia (wie Anm. 1), S. 75 („liberis imperare non poteris nisi liberaliter“). Die Übersetzung bei Blekastad, Eine seltene Comenius-Ausgabe (wie Anm. 1), S. 44.

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Comenius’ Aufsatz erschien während des Krieges zwischen Polen und Schweden als anonyme lateinische Flugschrift.4 Er weckte sogleich großes Interesse in der europäischen Öffentlichkeit und wurde in Breslau, Nürnberg, Frankfurt, London und Paris gedruckt.5 Von polnischen Katholiken wurde Comenius sofort des Staatsverrats beschuldigt, weil er die Vaterlandsliebe (amor patriae) von der Loyalität gegenüber dem Herrscher trennte. Aus Sicht der konfessionalisierten Welt des 17. Jahrhunderts stellten Comenius’ Toleranzanspruch und seine Loyali­ tät zur Republik, nicht zum Herrscher, einen Staatsverrat dar. Diese Urteile und Wertung wurden auch von der Geschichtsschreibung übernommen.6 Den geläufigen Thesen von der Toleranz des 16. Jahrhunderts und dem Betrug durch die Protestanten im 17. Jahrhundert soll im Folgenden ein anderer Erklärungsansatz entgegensetzt werden. Anstatt der wertenden Begriffe Toleranz und Betrug soll der Begriff der Sicherheitsstrategie in das geschichtliche Erklärungsmodell eingefügt werden. Die erste These dieser Abhandlung lautet, dass das Konzept der Sicherheit der Protestanten im 16. Jahrhundert stark mit dem „republikanischen“ Freiheitsbegriff verbunden war und als eine Verfassungsfrage verstanden wurde. Die zweite These beinhaltet, dass im 17. Jahrhundert neue Konzepte entwickelt wurden, die stärker in der Theologie und individuellen Ethik begründet waren. Die Entwicklung der Sicherheitsstrategien der Protestanten war in Polen stark mit der Reformationsgeschichte verbunden, deren drei charakteristische Eigenschaften hier nur kurz erwähnt werden sollen: das späte Aufstreben der Reformationsbewegung, die Heterogenität der Bewegung und das überkonfessionelle Sicherheitsstreben.7 Eine vorläufige Hypothese kann also lauten, dass 4

Über den Entstehungskontext: Jolanta Dworzaczkowa, „Panegyricus Carolo Gustavo“ i jego tło polityczne, in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 27 (1982), S. 93–105 [abgedruckt in Jolanta Dworzaczkowa, Reformacja i Kontrreformacja w Wielkopolsce, Poznań 1995, S. 311–328]; Hans-Joachim Müller, The Dimensions of Religious Toleration in the Eirenicism of Jan Amos Comenius (1642–1645), in: Acta Comeniana 17 (2003), S. 99–116; Dariusz Rott, Polityka a literatura. „Panegyricus Carolo Gustavo“ Jana Amosa Komeńskiego wobec kultury sarmackiej, in: Renarda Ocieczek (Hrsg.), Sarmackie teatrum, Bd. 1, Katowice 2001, S. 72–89. 5 Comenii Opera omnia (wie Anm. 1), S. 84. 6 Ein extrem einseitiges und nicht mehr wissenschaftliches Werk: Jędrzej Giertych, U źródeł katastrofy dziejowej Polski. Jan Amos Komensky, London 1964; Michał Mścisz, Amos Komensky w walce z państwem polskim, in: Kurier Literacko-Naukowy (3. ­Februar 1935), S. 6–8. Eine negative, aber abgewogene Haltung z. B. in: Antoni Danysz, Jan Amos Komeński. przyczynki do jego działalności w Polsce, in: Roczniki Towarzystwa Przyjaciół Nauk Poznańskiego 25 (1899), S. 109–202, hier S. 125f.; Komeński, in: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 13, Wrocław 1967–1968, S. 385–389. 7 Überblick über die Fachliteratur und Forschungslage Michael G. Müller, Refor­ma­tions­ forschung in Polen, in: ARG 100 (2009), S. 139–154.

Polen-Litauen im 16. und 17. J­ ahrhundert

die Spätreformation – als ein Typus der europäischen Reformation – ihre eigene Sicherheitsstrategie entwickelte. Obwohl die Rezeption der Reformationsideen in den städtischen und intellektuellen Milieus schon in den 1520er Jahren bemerkbar war8, setzten die Kirchenbildungsprozesse in der polnischen-litauischen Republik erst nach 1548 an.9 Neben den Kirchen des Lutherischen und des Reformierten Bekenntnisses bildete die Brüderunität, die nach dem Schmalkaldischen Krieg nach Polen wanderte und sich in Großpolen und im Königlichen Preußen niederließ, eine dritte Hauptkonfession.10 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts schufen die protestantischen Kirchen aller Konfessionen Superintendenturen und entwickelten ihre Synodalstrukturen relativ unabhängig voneinander. Trotz der Unterschiede in der lutherischen und reformierten Ekklesiologie wiesen die entstehenden Kirchengefüge starke Ähnlichkeiten auf.11 Auf diese Spätreformation übten Philipp Melanchthon, Johann Calvin und Heinrich Bullinger einen viel stärkeren Einfluss aus als Martin Luther.12 8

Besonders in deutschsprachigen Städten im Königlichen Preußen, in Groß- und Kleinpolen sowie unter den Humanisten, vgl. Tadeusz Glemma, Stosunki kościelne w Toruniu w stuleciu XVI-XVII na tle dziejów kościelnych Prus Królewskich, Toruń 1934; Józef Buława, Walki społeczno-ustrojowe w Toruniu w I połowie XVI wieku, Toruń 1971, S. 116; Marian Pawlak, Reformacja i Kontrreformacja w Elblągu w XVI–XVIII wieku, Bydgoszcz 1994; Ryszard Szczygieł, Konflikty społeczne w Lublinie w pierwszej połowie XVI wieku, War­ szawa 1977; Henryk Barycz, Historja Uniwersytetu Jagiellońskiego w epoce humanizmu, Kraków 1935, S. 20. 9 Diese eindeutige Chronologie und eine aussagekräftige Argumentation zuletzt bei Wojciech Kriegseisen, Stosunki wyznaniowe w relacjach państwo-kościół między reformacją a oświeceniem: Rzesza Niemiecka, Niderlandy Północne, Rzeczpospolita polsko-litewska, Warszawa 2010, S. 411–674. 10 Jaroslav Bidlo, Jednota bratrská v prvním vyhnaství, Bde. 1–4, Praha 1900–1932; Theodor Wotschke, Die Reformation im Lande Posen, Lissa 1913; Jolanta Dworzaczkowa, Bracia czescy w Wielkopolsce w XVI i XVII wieku, Warszawa 1997. 11 Eine vergleichende Analyse der Kirchenbildungsprozesse in der Rzeczpospolita fehlt noch. 12 Oskar Bartel, Marcin Luter a Polska, in: Odrodzenie i reformacja w Polsce 7 (1962), S. 27–50; Henning P. Jürgens, ‚Est mihi cum multis et doctis viris in Polonia dulcis amicitia‘: Die Wirkung Melanchthons in Polen im 16. Jahrhundert (im Druck); Henning P. Jürgens, Die Wirkung Melanchthons in Polen im 16. Jahrhundert, in: epd – Evangelischer Pressedienst Dokumentation Nr. 4, 26. 01. 2010, S. 32–41; Kęstutis Daugirdas, Die Nachwirkung Melanch­ thons im polnisch-litauischen Gemeinwesen, in: Irene Dingel/Armin Kohnle (Hrsg.), Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 13), Leipzig 2011, S. 353–364; Ernst W. Zeeden, Calvins Einwirken auf die Reformation in Polen-Litauen, in: Sytagma Friburgense I, Historische Studien, Festschrift für Hermann Aubin, Lindau, Konstanz 1956, S. 323–359 [abgedruckt in: ders., Konfessionsbildung, Stuttgart 1985, S. 192–221]; Erich ­Bryner, Der Briefwechsel Heinrich Bullingers mit polnischen und litauischen Adeligen, in: Kirchen im Osten. Studien zur osteuropäischen Kirchengeschichte und Kirchenkultur

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Als die Hoffnung auf die Konversion des Königs zu einem der protestantischen Bekenntnisse beendet war, bemühten sich die Protestanten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf andere Art und Weise, ihre Lage zu sichern. Analytisch können zwei Strategien unterschieden werden, die sich kurz charakterisieren lassen als innerkirchlicher Dialog und politische Sicherheitsmaßnahmen. Der sehr lebendige interkonfessionelle Dialog spielte im 16. Jahrhundert eine wichtige Rolle und kreiste um Fragen der Theologie und der Kirchenorganisation. Die wichtigsten Erfolge waren hierbei zwei Religionsgespräche in Koźminek (24. August bis 2. September 1555) und in Sandomierz (Sandomir, 9.–14. April 1570), die hier kurz als Fallbeispiele dargestellt werden.13 In Koźminek schlossen sich die Protestanten aus Kleinpolen der Böhmischen Brüderunität aus Großpolen an.14 Die Verhandlungen zeigten die unterschiedlichen Entwicklungslinien und ‑stufen der Konfessionen: Die Brüderunität glorifizierte die eigene Tradition und kritisierte die Uneinigkeit und den Mangel an Disziplin in den kleinpolnischen Kirchen.15 Sie verlangte eine unwiderrufliche Einigung, die in einer bedingungslosen Anerkennung „aller Wahrheiten“ begründet sein sollte:16 „Nur ein Handschüttel wird uns nicht gleich tun, sondern die gehaltene Wahrheit in der Lehre, in der [Kirchen]leitung und in den Ordnungen“.17 Die Protestanten aus Kleinpolen wollten dagegen nur das Glaubensbekenntnis der Brüderunität uneingeschränkt annehmen, aber die Unterschiede im Blick auf Zeremonien und das Recht der Exkommunikation belassen.18 Nach langen Verhandlungen und nach Verlesen des Bekenntnisses nahmen die Kleinpolen

23 (1980), S. 62–83; Theodor Wotschke (Hrsg.), Der Briefwechsel der Schweizer mit den Polen (Archiv für Reformationsgeschichte, Ergänzungsband 3), Leipzig 1908. 13 Zum folgenden vgl. Janusz Tazbir, Die Religionsgespräche in Polen, in: Gerhard Müller (Hrsg.), Die Religionsgespräche der Reformationszeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 191), Gütersloh 1980, S. 127–144; Paul Wrzecionko, Die Religionsgespräche in Polen unter dem Aspekt ihrer Unionsbestrebungen, in: ebd., S. 145–152; Kai E. Jordt Jørgensen, Ökumenische Bestrebungen unter den polnischen Protestanten bis zum Jahre 1645, Kopenhagen 1942. 14 Ein Protokoll der Verhandlungen herausgegeben in: Maria Sipayłło (Hrsg.), Akta Synodów Różnowierczych w Polsce, Bd. 1, Warszawa 1966, S. 18–45. Eine zuverlässige Analyse in: Oskar Halecki, Zgoda sandomierska 1570, Warszawa 1915, S. 28–31; Henryk Gmiterek, Bracia Czescy a Kalwiniści w Rzeczypospolitej. Połowa XVI – połowa XVII w., Lublin 1987, S. 18–22. 15 Sipayłło, Akta Synodów Różnowierczych (wie Anm. 14), S. 22–24, 38. 16 Ebd., S. 29 („Albowiem jednota między nami być nie może, [aż] doświadczenie wiadomo tej wszystkiej prawdy, przyjętej od nas, między [wami] nalezione będzie“). 17 Ebd., S. 33 („samo ręki podanie nas nie zrówna, ale prawda w nauce, w rządu i w porządkach ostrzegana i zachowana“). 18 Ebd., S. 26.

Polen-Litauen im 16. und 17. J­ ahrhundert

die Konfession der Brüderunität an und versprachen, ihre Kirchengebräuche schrittweise der Unität anzupassen.19 Die Union brach jedoch schon nach ein paar Monaten auseinander. Eine Gesandtschaft der Brüderunität nach Kleinpolen notierte 1556, dass „manche Herren […] diese Union wie einen Aal halten und wenig darauf achten“.20 Sie sahen, dass in Kleinpolen „Calvin wie ein Gott geehrt“ würde21 und schlossen daraus, dass „Koźminek ausgebrannt sei“.22 Meist wird die negative Haltung ­Johannes á Lascos und Francisco Lismaninos, des Gesandten aus Genf, als Grund des Scheiterns genannt23, dies ist aber nur eine Teilerklärung. Viel wichtiger schien in Kleinpolen der Fortschritt der Konfessionsbildungsprozesse zu sein, der zur weiteren konfessionellen Differenzierung führte. Diese Prozesse wurden von Theologen wie á Lasco und Lismanino nicht verursacht, aber mitgemacht. Neuerliche Unionsverhandlungen wurden durch den Tod á Lascos und die Annahme der Bestimmungen des Konzils von Trient durch König Sigismund II. August (1566) geschaffen. Die Reformierte Kirche wurde nicht nur durch den Verlust á Lascos, sondern auch durch die von Antitrinitariern (sogenannten „Arianern“) verursachte Spaltung geschwächt. Die in Sandomierz versammelten Vertreter der Lutheraner und der Brüderunität aus Großpolen sowie die der Reformierten aus Kleinpolen und Litauen schlossen die Antitrinitarier aus ihrem Kreis aus und einigten sich 1570 auf zwei Dokumente: ein gemeinsames Glaubensbekenntnis (Confessio Sendomiriensis) und ein Abkommen (Consensus Sendomiriensis) – die gegenseitige Anerkennung in theologischer und organisatorischer Hinsicht.24 Die Verhandlungen zeigen den Wechsel der Argumentationsweise: Obwohl die Confessio Sendomiriensis lediglich eine Übersetzung von Heinrich Bullingers Confessio Helvetica Posterior darstellte25, wurde sie von Befürwortern als „das polnische Glaubensbekenntnis“ gelobt.26 Dieser 19 Ebd., S. 41.

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Acta legationis ad synodum pinczoviensem A. D. 1556 legati fr.: Matthias Czerwenka, Ioannes Lorentius, Ioannes Gelecki, in: Sipayłło, Akta Synodów Różnowierczych (wie Anm. 14), S. 66–75, hier S. 73 („niektórzy panowie i ministrowie tę uniję koźmińską tak trzymają jako węgorza za ogon, a mało ją ważą“). 21 Ebd., S. 74 („Kalwin jest ich jako Bóg“). 2 2 Ebd., S. 75 („Koźminek tedy wygorzał“). 2 3 Halina Kowalska, Działalność reformacyjna Jana Łaskiego w Polsce 1556–1560, Warszawa 1999, S. 27. Über das Gutachten Calvins, vgl. Theodor Wotschke, Francesco Lismanino, in: Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen 18 (1903), S. 213–332, hier S. 230; Guilielmus Baum/Eduardus Cunitz/Eduardus Reuss (Hrsg.), Corpus Reformatorum, Bd. 43 (Ioannis Calvini Opera, Bd. 15), Brunsvigae 1876, Nr. 2373b. 24 Sipayłło, Akta Synodów Różnowierczych (wie Anm. 14), Bd. 3, S. 251–304. 2 5 Krystyna Długosz-Kurczabowa (Hrsg.), Konfesja Sandomierska, Warszawa 1995; Jerzy ­Lehmann, Konfesja sandomierska na tle innych wyznań, Warszawa 1937. 2 6 Sipayłło, Akta Synodów Różnowierczych (wie Anm. 14), Bd. 3, S. 277, 283, 287,

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nationale und patriotische Diskurs der Protestanten war eine Antwort auf die Forderung nach einer Nationalsynode, auf der die Religionsfrage durch einen Dialog beigelegt werden sollte. Die Idee wurde 1570 erneut aktuell, aber nicht realisiert.27 Oskar Halecki sah in den Appellen an „das polnische Glaubens­ bekenntnis“ eine Farce, die von den Reformierten aus Kleinpolen zusammen mit der Brüderunität den Lutheranern vorgespielt wurde.28 Trotz der Weigerung der Vertreter der Augsburgischen Konfession, auf ihr Glaubensbekenntnis und ihren spezifisch theologischen Wahrheitsanspruch zu verzichten, waren letztlich die „patriotischen Argumente“ stark genug, um den Widerstand zu überwinden. Die Bedeutung der „patriotischen Argumente“ war deshalb so stark, weil die protestantische Synode von katholischen Gegnern oft als Verschwörungs- oder sogar Rebellionsversuche dargestellt wurden.29 Mehrmals versuchten die Protestanten sich gegen diesen Rebellionsvorwurf durch Loyalitätserklärungen zu wehren, deshalb gibt es in den Synodenakten und Glaubensbekenntnisse aller Konfessionen zahlreiche solcher Erklärungen.30 Direkt nach der Wahl ­Heinrichs von Anjou, den die Protestanten für die Pariser Bluthochzeit verantwortlich machten, hielt im Mai 1573 Johannes Laurentius eine Predigt, in der er zwar eine kritische Bemerkung über die Ausländer machte31, aber deutlich formulierte, dass „alles nach Gottes Willen geht, non est nisi a Deo, jeder Obrigkeit sollte also gehorcht werden“.32 Bei jedem Königswechsel erklärten die Protestanten eine Fastenzeit, was auch durch die Beschlüsse nach dem Tod Sigismunds III. (1632), eines Befürworters der Jesuiten, bezeugt wird. Eine Woche nach dem Tod des Königs wurde in Oksza (in Kleinpolen; 7. Mai 1632) beschlossen, dass alle Geistlichen und Gläubigen „in dieser gefährlichen Interregni Zeit“ einen 27

Halecki, Zgoda sandomierska (wie Anm. 14), S. 147–149, 158–161, 171–174.

28 Ebd., S. 232, 240–246.

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Acta legationis ad synodum pinczoviensem, in: Akta Synodów Różnowierczych (wie Anm. 14), S. 66f. („o który przed KJM oskarżeni byli, jakoby na nim jaką konspiracyją a sedecyją przeciw Królewstwu wszczynali“), 74 („sedycje“). Vgl. Konfesja Sandomierska (wie Anm. 25), S. 9 („Ale naprzod rozliczne sądy a przymowki na nas kładli, jakobyśmy pod zakryciem tej świętej prawdy mieli sobie jakie bunty, jakie nowe wolności wymyślać kościoły i dochody ich psować, prawa niektóre sobie lekce ważyć, zwirzchność staradawną kościelnych przełożonych i inych stanów za nic sobie przekładać“). Diese Vorwürfe sind in vielen Schriften von Stanislaus Hosius, Piotr Skarga und anderen katholischen Polemikern zu finden und wurden im 17. Jahrhundert oft wiederholt. 3 0 Sipayłło, Akta Synodów Różnowierczych (wie Anm. 14), Bd. 1, S. 54; Konfesja Sandomierska (wie Anm. 25), S. 13. Wacław Sobieski, Król czy tyran. Idee rokoszowe a różnowiercy za czasów Zygmunta Augusta, in: Reformacja w Polsce 4 (1925), S. 1–14. 31 Sipayłło, Akta Synodów Różnowierczych (wie Anm. 14), Bd. 4, S. 24 („przed elekcyją, w której dawa Bóg instrukcyją, żeby sobie nie obierali, jeno z braci swych, nie z cudzoziemców“). 3 2 Ebd. („A wszysto idzie według Bożej woli, non est nisi a Deo. Wszelakiej tedy zwirzchności każe słuchać nam“).

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Tag in der Woche fasten und beten sollten.33 Die Protestanten fasteten auch währen der Wahl34 und während der Reichstage.35 1717 gab eine Synode schlicht an, „dass arma nostra gegen alle Gefährlichkeit Gebete und Fasten sind“.36 Auf Synoden wurden zwar oft Versuche unternommen, den protestantischen Adel politisch zu mobilisieren, diese Bemühungen hatten aber immer zum Ziel, den Landtags- und Reichstagsbesuch der Protestanten zu stärken.37 Das sollte dazu dienen, sich gegen die Politisierung der protestantischen Zusammenkünfte zu stellen und ihren theologischen Charakter zu sichern. Parallel dazu ergriffen die protestantischen Adligen politische Maßnahmen, um ihre Lage zu sichern. Auf den Reichstagen der 1550er und 1560er Jahre sprachen sie die Religionsfrage immer wieder an, in der Hoffnung auf Anerkennung der protestantischen Konfessionen bzw. auf rechtliche Garantien für diese.38 Nach den ersten offen erklärten Sympathien für die Reformation auf den Reichstagen 3 3

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Sipayłło, Akta Synodów Różnowierczych (wie Anm. 14), Bd. 3, S. 574 („Przez ten czas wszytek niebezpieczny interregni dla błagania Pańskiego gniewu stanowimy, aby wszyscy słudzy Boży w każdy tydzień dzień śrzody na modlitwach w poście trawili z audytorami do zboru należącymi“); Marzena Liedke/Piotr Guzowski (Hrsg.), Akt Synodów prowincjonalnych Jednoty Litewskiej 1626–1637, Warszawa 2011, S. 95. Sipayłło, Akta Synodów Różnowierczych (wie Anm. 14), Bd. 3, S. 92 (1587), 582 (1632). Acta et Conclusiones Conwokacyey Prowincialney, Wielki Tursk 21–24. 01. 1695, handschriftliche Überlieferung in: Biblioteka Uniwersytecka w Warszawie [im Folgenden BUW], Sign. 592, Bd. 2, fol. 227v–228v, hier 228v (andere Abschriften in: BUW, Sign. 593, fol. 33v–35v, hier 35v; sowie in: Archiwum Główne Akt Dawnych [im Folgenden AGAD], Archiwum Zamoyskich, Sign. 3157, S. 81–84, hier S. 84). Conclusiones Congresu generalnego we Gdańsku 1718, Gdańsk 2–3. 09. 1718, in: BUW (wie Anm. 35), Sign. 592, Bd. 2, fol. 249r–250v, hier 249r. BUW (wie Anm. 35), Rps 592, Bd. 2, fol. 153r (Synode Chmielnik 31. Oktober 1666: „Generalne Canony y insze często powtorzone o bywaniu na Seymikach IchMsci PP. Patronów obowiązujące, aby PP. Ministrowie do Exequtiey przywodzieli y w napominaniu y w animadvertowaniu na neglectorów“); ebd, fol. 188 (Synode in Kaszyce, 27–29. April 1678, [auch in AGAD, Archiwum Zamoyskich, Sign. 3157, S. 11]: „Nie przepomnią tesz Słudzy B. serio Jchmsciow PP. Patronów y seniorów swoich upomnić, żeby na Sejmiki zjeżdali, Prawa libertatis exerciti Religionis bronili, żeby na Sejmie tak ejusdem ratio habeatur“); Ebd., S. 224v (Synode in Wielkanoc 1–2. September 1693: „In Casu żeby z Provinciey naszej żadnego Posła na Seym mieć nie mogliśmy albo e medio sui albo z naszych Ichmsc kogo uprosić maią, żeby iechał na Seym et attendet , żeby Ecclesia[rum] nostra[rum] salvo respectu Kosztów podróżnych“). Weitere Beispiele: ebd., fol. 226v, 228r (auch in BUW Sign. 593, fol. 34v), 256v. Die Reichstagsprotokolle herausgegeben in: Józef Szujski (Hrsg.), Diariusze sejmów koronnych 1548, 1553 i 1570, Kraków 1872; Jan T. Lubomirski (Hrsg.), Dziennik Sejmów Walnych Koronnych 1555 i 1558, Kraków 1869; Adam T. Działyński (Hrsg.), Zrzodlopisma do Dziejow Unii Korony Polskiej i W. X. Litewskiego [1562/1563, 1563/1564, 1569] Bd. 2, T. 2, Bd. 3, Poznań 1861. Eine immer noch aktuelle Besprechung mit Hinblick auf die Refor­ mationsgeschichte bei Wincenty Zakrzewski, Powstanie i wzrost reformacyi w Polsce 1520–1572, Leipzig 1870.

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in Petrikau 1550 und 155239 präsentierten die Protestanten 1555 dem König ein kurzes allgemeinprotestantisches Glaubensbekenntnis.40 Die allgemeinen Formulierungen des Bekenntnisses und die bewusste Ausblendung aller theologischen Kontroversen bestätigten seinen politischen Charakter. Das Ziel des Adels bestand in der Anerkennung der Freiheit des privaten Kultus und der Aufhebung der Urteile der katholischen (bischöflichen) Kirchengerichte. Diese Forderungen nach religiöser Sicherheit wurden im parlamentarischen Diskurs in die Forderungen nach einer Staatsreform eingebunden. Die politische Reformdebatte hatte ihren Ursprung in den Auseinandersetzungen des Niederadels mit dem Hochadel und den Bischöfen. Der Niederadel strebte nach Umgestaltung der Machtverhältnisse und forderte schon 1520 einen gerechten Reichstag („conventus iustitiae“), der Konflikte zwischen den Ständen – auch zwischen Adel und Klerus – beilegen sollte.41 Diese Forderungen wurden schon 1520 und 1523 als eine „reformatio“ bezeichnet, womit die Wiederherstellung der Rechte und der alten Ordnung gemeint war.42 Die Forderungen, die stark den „Gravamina deutscher Nation“ ähnelten43, waren nicht direkt gegen den Papst und seine Legaten, sondern gegen die Bischöfe und den geistlichen Stand gerichtet. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde dies als Versuch formuliert, den Streit beizulegen und die Aussöhnung zwischen den Ständen („compositio inter status“) zu erreichen. Die Adeligen beriefen sich konsequent auf ihre alten Rechte, Privilegien und Freiheiten, wobei sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts der Begriff „exsecutio“ („egzekucja“) als Synonym

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Paul Foxe, The Reformation in Poland, in: William F. Reddaway (Hrsg.), The Cambridge History of Poland to 1696, Cambridge 1950, S. 322–347, hier S. 334–338. Zakrzewski, Powstanie i wzrost reformacyi (wie Anm. 38), S. 67. 4 0 Lubomirski, Dziennik Sejmów Walnych Koronnych (wie Anm. 38), S. 14. Brevis descriptio professionis fidei christianae in Comitiis Petrocoviae [!], in: Henricus D. Wojtyska (Hrsg.), Acta Nuntiaturae Polonae, Bd. 3, T. 1, Romae 1993, S. 333f.; Ludwik Finkel, Konfesya podana przez posłów na sejmie piotrkowskim w r. 1555, in: Kwartalnik Historyczny 10 (1896), S. 257–285; Jan Lehmann, Konfesja sandomierska na tle innych wyznań, Warszawa 1937, S. 14–17. 41 Oskar Balzer (Hrsg.), Corpus Iuris Polonici, Bd. 3, Kraków 1906, Nr. 242, Art. 3–4; Wacław Pociecha, Walka sejmowa o przywileje Kościoła w Polsce w latach 1520–1537, in: Reformacja w Polsce 2 (1922), S. 161–184. 42 Piotr Tomicki an Krzysztof Szydłowiecki, Petrkove fer. III. prox. ante festum S. Catharine [Piotrków 1523], in: Acta Tomiciana, Bd. 6, Nr. 308, S. 341–343, hier S. 341 („Responderunt Poloni se excusando quo ad loca, quod nullo modo aliter facere possent, quam ut prima tenerent, ad negotia vero a Mte. sua proposita non prius accedere possent, quam reformatio fieret eorum, que censent esse adversus statuta et ut conventus justitie haberetur“). 4 3 Bruno Gebhardt, Die gravamina der Deutschen Nation gegen den römischen Hof. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Reformation, Breslau 1895.

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für den Begriff der „alten Rechte“ durchsetzte, was eine gewisse Analogie zum englischen „quo warranto“ darstellte.44 Die politischen Bemühungen zur Festigung der Religionsdebatten blieben aber folgenlos, weil es in Polen keine protestantische politische Partei oder Fraktion gab, die in der Lage gewesen wäre, das Verlangen der Protestanten durchzusetzen. Es entstand weder eine protestantische Union noch eine katholische Liga. Erst 1573, während des Interregnums nach dem Tod des Königs, legte die sogenannte Warschauer Konföderation den Grundstein für einen Religionsfrieden.45 Die Konföderation war eine gegenseitige Verpflichtung zwischen den Ständen wie auch gegenüber dem zukünftigen König: Ausdruecklichen aber / und vornemblich / sol Er sich dahin verpflichten und verbinden / das Er ins gemein Fried und Ruhe zwischen den ungleich in Religions sachen gesinten je und allezeit in diesem Koenigreich erhalten wolle.46

Diese Bedeutung des Friedens und der politischen Ruhe wurde durch die konfessionelle Spaltung und die Gefahr des Religionskriegs deutlich unterstrichen: Und weil in diesem Unserem Koenig=Reich nicht ein geringes sondern grosses unverneh=men wegen Christlicher Religion / in Glaubens=sachen entstanden / hieraus leicht zwischen dißfals strittigen teilen schaedliche empoerungen / massen sol=che an anderen frembden Koenigreichen vor au=gen schweben / sich anspinnen und erheben koend=en / haben Wir auch solchen in zeiten vorzubeugen der unumbgaenglichen notturfft zu sein erachtet.47

Es handelte sich um den Frieden zwischen den konfessionellen Gruppierungen („dissidentes de religione“), der Sicherheit gewährleisten sollte – also nicht um einen theologischen, sondern um einen politischen Schritt, der die Mehrkonfes-

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Foxe, The Reformation in Poland (wie Anm. 39), S. 341; vgl. Catherine Patterson, Quo Warranto and Borough Corporations in Early Stuart England. Royal Prerogative and Local Privileges in the Central Courts, in: EHR 120 (2005), S. 879–906. 4 5 Mirosław Korolko, Klejnot swobodnego sumienia, Warszawa 1974. 4 6 Zitat nach einer deutschen Übersetzung aus dem 17. Jahrhundert aus: Mirosław Korolko/ Janusz Tazbir (Hrsg.), Konfederacja warszawska 1573 roku wielka karta polskiej tolerancji, Warszawa 1980. Auf Polnisch lauten diese Fragmente: „A mianowicie to poprzysiąc pokój pospolity miedzy rozerwanymi i różnymi ludźmi w wierze i w nabożeństwie zachowywać“, in: Korolko, Klejnot (wie Anm. 45), S. 173. 47 Korolko/Tazbir, Konfederacja (wie Anm. 46); Korolko, Klejnot (wie Anm. 45), S. 174 („A iż w Rzeczypospolitej naszej jest dissidium niemałe in causa religionis christianae, zabiegając temu, aby się z tej przyczyny między ludźmi sedycyja jako szkodliwa nie wszczęła, którą po inszych królestwach jaśnie widziemy“).

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sionalität ermöglichen sollte.48 Dadurch wurde die Freiheit der Konfessionswahl in das Verfassungssystem integriert. In diesem zähen Kampf dienten den Verteidigern der Konföderation sowohl juristische als auch militärische Begrifflichkeiten. Laut protestantischer Redner und Flugschriften kämpfte man um den „Prozess der Konföderation“ („proces konfederacji“), was so viel wie Exekution, also Ausführung und Inkrafttreten der alten Gewohnheiten und Rechte bedeutete, aber auch eindeutige juristische Konnotationen umfasste.49 Daneben wurden auch militärische Begrifflichkeiten wie „owarowanie“ („Befestigung“)50 und „obrona“ („Verteidigung“)51 durch die Protestanten ins Spiel gebracht. Die Bedeutung der „militärischen“ Begriffe, die schon in Verfassungsdebatten als Metapher fungiert hatten, war aber eindeutig defensiv, passiv, wenn nicht gar pazifistisch.52 Die Konföderation sollte die Religionsfrage und damit auch den Dialog zwischen den Konfessionen beenden. Stattdessen eröffnete sie aber einen vieljährigen Streit um die Durchführung dieser Bestimmungen und behinderte die Konfessionsbildungsprozesse.53 Als Johann Amos Comenius 1655 über „den falschen und verlarvten Freund“ schrieb, der Polen „um die Freiheit bringt, so wol in Geistlichen als Staats-Sachen“, meinte er wahrscheinlich vor allem die Religionsfreiheit, die einen Teil des politischen Systems darstellte und immer von „falschen Freunden“ bedroht war. Die Ursache für seine Worte war die Verschlechterung der Lage der Protestanten im 17. Jahrhundert, als ihre Freiheiten zwar zunächst nicht de iure abgeschafft, aber de facto immer stärker eingeschränkt wurden.

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G. Müller, ,Nicht für die Religion selbst ist die Conföderation inter dissidentes eingerichtet…‘ Bekenntnispolitik und Respublica-Verständnis in Polen-Litauern, in: Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Aspekte der politischen Kommunikation im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts (Historische Zeitschrift, Beihefte 39), München 2004, S. 311–328. 49 Vgl. Beispiele und Definition in: Maria R. Mayenowa (Hrsg.), Słownik polszczyzny XVI wieku, Bd. 30, Wrocław 1992, S. 304f.; vgl. eine Flugschrift Obrona przeciw procesowi Konfederacyjej, teraz pod sejmem krakowskim wydanemu (1595), in: Korolko, Klejnot (wie Anm. 45), S. 262–291. 5 0 Mayenowa, Słownik (wie Anm. 49), Bd. 22, Wrocław 1994, S. 375 („owarowanie“). 51 Ebd., S. 391–406 („obrona“). Vgl. eine anonyme Flugschrift Przestroga i obrona do wszytkich obywatelów Korony Polskiej i Wielkiego Księstwa Litewskiego uczyniona imieniem wszytkich ewangelików, in: Korolko, Klejnot (wie Anm. 45), S. 305–333. 5 2 Vgl. Stichwort „Obwarowanie“, in: Mayenowa, Słownik (wie Anm. 49), Bd. 19, Wrocław 1990, S. 465–467. Siehe auch Obrona przeciw procesowi Konfederacyjej (wie Anm. 49), S. 291 („Toż ci by pewnie i u nas za obwarowaniem i utwirdzeniem konfederacyjej być mogło, gdyby ci, którzy do wojny domowej inszych podżegają, nas braciej swej w nię niepotrzebnie nie zaciągając, więcej pokoju pospolitej przestrzegać chcieli […], żadnej wojny nie pragniemy ani do podniesienie jej przyczyny żadnej dawać chcemy“). 5 3 So zuletzt: Kriegseisen, Stosunki (wie Anm. 9), S. 27, 33. Zbigniew Ogonowski, Filozofia polityczna w Polsce XVII wieku i tradycje demokracji europejskiej, Warszawa 1992, S. 87.

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Diese Einschränkung war ein langer Prozess. Entsprechend lassen sich die Fragen, wie die Protestanten darauf reagierten, wie sie mit der wachsenden Unsicherheit umgingen und welche Sicherheitsstrategien sie entwickelten, beim heutigen Forschungsstand nicht umfassend beantworten.54 Stattdessen sollen hier die Sicherheitsbestrebungen des mittleren Adels anhand zweier Fallbeispiele beleuchtet werden. Es handelt sich um Vertreter einer deutschen Adelsfamilie, die ihren Sitz seit dem frühen 16. Jahrhundert in Großpolen hatte und ihren deutschen Namen „Schlichting“ zu dieser Zeit auf Polnisch als „Szlichtyng“ schrieb.55 Im Folgenden sollen zwei wichtige Vertreter dieser Familie, ­Johann ­Georg Schlichting (1597–1658) und Jonas Schlichting (1592–1661), in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Johann Georg Schlichting hatte ein Richteramt in Fraustadt (Wschowa) und ein Senioramt in der Brüderunität inne. Seine Karriere war mit der Magnatenfamilie Leszczynski verbunden, wobei seine Beziehung zu dieser Familie sowohl als Patronat als auch als persönliche Freundschaft beschrieben werden kann.56 Seine politische Karriere begann 1625 in Großpolen. Nach sieben Jahren bekam er 1632 nicht nur das Richteramt in Fraustadt, sondern wurde auch vom Landtag zum Reichstagsabgeordneten gewählt. In den folgenden 20 Jahren verlieh ihm der Landtag fünfzehnmal diese Funktion; seit den 1640er Jahren gehörte er zu den aktivsten Mitgliedern des Sejm. Während der Sitzungen galt Johann Georg Schlichting zusammen mit Piotr Kochlewski aus Litauen und Stanisław Chrząstowski aus Kleinpolen als Sprachrohr der protestantischen Interessengruppen, die an jeder Debatte über die Warschauer Konföderation aktiv beteiligt waren.57 Auf dem Wahlreichstag (27. September bis 15. November 1632) protes 5 4

Henryk Wisner, Rozróżnieni w wierze. Szkice z dziejów Rzeczypospolitej schyłku XVI i połowy XVII wieku, Warszawa 1982; Leszek Jarmiński, Bez użycia siły. Działalność polityczna protestant w Rzeczypospolitej u schyłku XVI wieku, Warszawa 1992; Jan Dzięgielewski, O tolerancję dla zdominowanych, Warszawa 1986; Jacek W. Wołoszyn, Problematyka wyznaniowa w praktyce parlamentarnej Rzeczypospolitej w latach 1648–1696, Warszawa 2003; Tomasz Kempa, Wobec Kontrreformacji. Protestanci i prawosławni w obronie swobód wyznaniowych w Rzeczypospolitej w końcu XVI i w pierwszej połowie XVII wieku, Toruń 2007. 5 5 Włodzimierz Dworzaczek, Schlichtyngowie w Polsce, Warszawa 1938; B.F.L. v. Schlichting, Uebersicht zur Genealogie aller dem Verfasser bekannten jetzt lebenden Mitglieder der adligen und freiherrlichen Familie von Schlichting, Detmold 1882/1883. 5 6 So: Jan Dzięgielewski, Izba poselska w systemie władzy Rzeczypospolitej w czasach Władysława IV, Warszawa 1992, S. 116, 133, 142. 57 Władysław Czapliński, Sprawy wyznaniowe na sejmie 1640 roku, in: Acta Universitatis Wratislaviensis. Historia 36 (1981), S. 107–117; Dzięgielewski, O tolerancję (wie Anm. 54), S. 23, 65f., 129, 150f., 160; Kempa, Wobec Kontrreformacji (wie Anm. 54), S. 380f., 389, 407, 415f., 454–464, 503.

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tierte er gegen ein Manifest des Bischofs Achacy Grodecki, der die Bestimmung der Konföderation in Frage stellen wollte.58 Während des Krönungsreichstags (31. Januar bis 17. März 1633) trat er gegen den Primas Jan Wężyk auf und verteidigte die Wahlkapitulation in ihrer bisherigen Gestalt.59 Zugleich hielt er auf dem Reichstag eine Lobrede auf den neugewählten König (Acclamatio panegyrica super Coronatione Serenissimi Potentissimiq. Principis Vladislai IV) und unterzeichnete den Wahlakt Wladislaws IV.60 Während der ersten Reichstage der Regierungszeit von Wladislaw Vasa gehörte Johann Georg Schlichting nicht zu den aktivsten Parlamentariern. 1637 unterzeichnete er zwar zusammen mit seinen Patronen aus der Familie Leszczyński und Radziwiłł eine Erklärung für die Friedenspläne von John Dury61, aber erst 1638 wurde er bekannter. Auf diesem Reichstag wurde über den Fall des Jakub Sieneński verhandelt, der ein anerkannter Unterstützer der Arianer war und der verdächtig wurde, ein Kreuz entweiht zu haben. Zusammen mit Rafał Leszczyński, Zbigniew Gorajski, Piotr Kochlewski sowie Vertretern der Radziwiłł (Krzysztof, Janusz und Bogusław) verteidigte Schlichting den Arianer. Auf den Reichstagen von 1640, 1643, 1645, 1648 (Konvokationsreichstag 16. Juli bis 1. August 1648, Wahlreichstag 6. Oktober bis 19. November 1648) und 1649 (Krönungsreichstag) vertrat er die Interessen der Protestanten in der Öffentlichkeit.62 In seiner Karriere ist nur ein Fall eines bewussten Fernbleibens von der Religionsdebatte bekannt,

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Włodzimierz Kaczorowski, Sejmu konwokacyjny i elekcyjny w okresie bezkrólewia 1632 r., Opole 1986, S. 264, 366, 372 5 9 Włodzimierz Kaczorowski (Hrsg.), Jakub Sobieski, Diariusz sejmu koronacyjnego w Krakowie w 1633 roku, Opole 2008, S. 69, 114, 145, 152, 168, 201; vgl. Włodzimierz Kaczorowski, Koronacja Władysława IV w roku 1633, Opole 1992, S. 37f. 6 0 Jerzy Borkowski-Dunin, Mieczysław Wąsowicz-Dunin, Elektorowie, in: Rocznik Towarzystwa Heraldycznego 1 (1908), S. 208; vgl. eine fehlerhafte Angabe in VD17 7:693154F und VD17 32:672999C, wo die Acclamatio Jonas Schlichting zugeschrieben wird. 6 1 Urszula Augustyniak, Dwór i klientela Krzysztofa Radziwiłła, Warszawa 2001, S. 24; Ryszard Kołodziej, Pierwszy sejm z 1637 roku, Toruń 2004, S. 174, 259, 267, 276. 6 2 Wiktor Czermak (Hrsg.), Stanisława Oświęcima Dyaryusz 1643–1651, Kraków 1907, S. 176, 190, 192, 196, 291; Albrecht S. Radziwiłł, Pamiętnik, Bd. 3, Warszawa 1980, S. 90, 122, 124, 182. Czapliński, Sprawy wyznaniowe (wie Anm. 57); Łucja Częścik, Sejm warszawski w 1649/1650, Wrocław 1978, S. 55, 76, 79, 83, 86, 103, 108f., 111, 114, 148; Stefania Ochmann, Sejm koronacyjny Jana Kazimierza w 1649 r., Wrocław 1985, S. 35, 54, 61, 88, 92, 128, 132, 143f., 150, 157, 159f., 162, 195, 199, 224–229, 246; dies., Protestacja Braci Polskich na sejmie elekcyjnym 1648 r., in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 28 (1983), S. 241–245; Przemysław Paradowski, W obliczu „nagłych potrzeb“ Rzeczypospolitej. Sejmy ekstraordynaryjne za panowania Władysława IV Wazy, Toruń 2005, S. 203, 256; Wołoszyn, Problematyka (wie Anm. 54), S. 74, 117, 125f., 131, 133, 140, 275, 294.

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nämlich 1650, als sein Patron Bogusław Leszczyński den Sejm als Sejmmarschall leitete und großes Interesse an einem reibungslosen Ablauf des Reichstags hatte.63 Parallel zu diesen politischen Aktivitäten war Johann Georg als einer der Adelspatrone tätig; seit 1645 war er ein Senior der Brüderunität.64 Wie auch andere protestantische Kirchen in Polen war die Brüderunität vollkommen von der Unterstützung der adligen Patrone abhängig. Die Rolle Schlichtings war umso bedeutender, weil er als ein Vertreter des Kirchenpatrons Bogusław ­Leszczynski fungierte. Seine Position war nach der Konversion Leszczynskis zum Katholizismus im Jahre 1642 noch stärker, weil der katholische Magnat und die protestantischen Gemeinden für ihre Güter einen Vermittler brauchten. In Großpolen galt der Landespolitiker Schlichting als Befürworter Brandenburgs, was seine überlieferten Briefe an die Kurfürstenagenten bestätigen.65 Im April 1655, kurz vor dem Ausbruch des Krieges mit Schweden und Brandenburg, entschied er über die Freilassung eines gefangenen brandenburgischen Agenten, worauf der Große Kurfürst einem anderen Agenten, Johann Dietrich von Hoverbeck, befahl, Schlichting gegen die Missgunst des polnischen Adels zu verteidigen.66 Aufgrund des Einmarsches der schwedischen Armee wurde Johann Georg kurz danach als Vertreter Leszczynskis zum Armeeoberhaupt der Provinz Großpolen.67 Nach der Kapitulation der polnischen Armee am Ujście unterschrieb er am 25. Juli 1655 die Kapitulation und begab sich nach Krakau, wo sich der König von Schweden, Karl X. Gustav, aufhielt. Im Oktober 1655 legte Johann Georg vor Karl Gustav einen Treueeid ab. Danach begab er sich zurück nach Großpolen und befahl den geistlichen Senioren der Brüderunität in Lissa (Leszno), Martin Gertiech und Johann Amos Comenius, eine Lobrede für Karl Gustav zu schrei 6 3 6 4

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Stanisława Ochmann-Staniszewska/Zdzisław Staniszewski, Sejm Rzeczypospolitej za panowania Jana Kazimierza Wazy. Prawo-doktryna-praktyka, Bd. 1, Wrocław 2000, S. 66–91. Dazu: Jolanta Dworzaczkowa, Bracia czescy w Wielkopolsce w XVI i XVII wieku, Warszawa 1997, S. 100, 110, 126; Henryk Gmiterek, Utrata Ostroroga i zabiegi o utworzenie nowego ośrodka Braci Czeskich w Obrzycku, in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 23 (1978), S. 103–121; Juliusz Łukaszewicz, O Kościołach Braci Czeskich w dawnej Wielkopolsce, Poznań 1835, S. 206, 211–213, 224–227, 417. Barbara Szymczak, Nieudana próba zawarcia sojuszu Wielkopolsko-Brandenburskiego w przededniu „potopu“, in: Almanach Historyczny 2 (2000), S. 69–72; dies., Stosunki Rzeczypospolitej z Brandenburgią i Prusami Książęcymi w latach 1648–1658 w opinii i działaniach szlachty koronnej, Warszawa 2002, S. 72, 82, 119, 132–134, 224. Bernhard Erdmannsdörfer (Hrsg.), Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Bd. 1, Berlin-Leipzig 1864, S. 361–365, Bd. 6, S. 694, Bd. 7, S. 364. Kazimierz Jarochowski, Wielkopolska w czasie pierwszej wojny szwedzkiej od roku 1655. do 1657., Poznań 1864, S. 19–21; Adam Kersten, Hieronim Radziejowski. Studium władzy i opozycji, Warszawa 1988, S. 114, 149, 390, 393

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ben, so entstand das Panegyricus „Carolo Gustavo“.68 Kurz danach starb Johann Georg Schlichting (1658). Johann Georgs Lebenslauf weist bedeutende Parallelität mit der Biographie seines Cousins Jonas Schlichting (1592–1661) auf. Im Gegensatz zu Johann Georg trat Jonas zu den sogenannten Polnischen Brüdern über und entschied sich für eine geistliche Karriere. Seit den 1620er Jahren war er als Lehrer und Pfarrer in Raków, der Hauptgemeinde der Arianer, tätig.69 Seit seiner Studienaufenthalte in Altdorf (April bis November 1616) und Leiden (November 1616 bis Februar 1618) war er sehr aktiv am Austausch mit den Remonstranten in den Niederlanden beteiligt70, konzentrierte sich aber auch auf seelsorgerische und theologische Tätigkeiten. Jonas Schlichting gehörte schon in den 1630er Jahren zu den geistlichen Führern der Arianer und war zwischen 1633 bis 1638 inoffizieller Superintendent der Kirche der Polnischen Brüder.71 In diesen Jahren veröffentlichte er zahlreiche Streitschriften gegen einen reformierten Theologen, Daniel Clementinus, einen Lutheraner, Balthasar Meisner, und einen Vertreter der Brüderunität, Georg Vechner.72 Als typischer Streittheologe versuchte er, die Arianer von anderen 6 8

Jolanta Dworzaczkowa, „Panegyricus Carolo Gustavo“ i jego tło polityczne, in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 27 (1982), S. 93–106. 6 9 Dworzaczek, Schlichtyngowie (wie Anm. 55), S. 26–40; Zofia Śniechowska, Jonas Szlichtyng przywódca Braci Polskich w XVII wieku, Kraków [unpublizierte Seminararbeit, die unter Leitung von Stanisław Kot entstand und heute in der Biblioteka Jagiellońska aufbewart wird]; Arthur Pfefferkorn, Jonas von Schlichting. Ein Beitrag zur Geschichte des Antitrinitarismus in Polen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Würde eines Licentiaten der Theologie, der Hochwürdigen Evangelisch-Theologischen Fakultät der Schlesischen Friedrich-Wilhelm-Universität zu Breslau, Bromberg 1918. 70 Vgl. Elias von Steinmeyer (Hrsg.), Die Matrikel der Universität Altdorf, Bd. 1, Würzburg 1912, S. 141; Album studiosorum Academiae Lugduno-Batavae, Leiden 1875, S. 128; ­Katarzyna Kotońska (Hrsg.), Album przyjaciół Jana Naeranusa, in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 34 (1989), S. 169–206; Karl Braun, Der Socinianismus in Altdorf 1616, in: Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte 8 (1933), S. 65–81; Domenico Caccamo, Sozinianer in Altdorf und Danzig im Zeitalter der Orthodoxie, in: ZfO 19 (1970), S. 42–78; ders., Ernest Soner i kryptokalwinizm w Altdorfie, in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 9 (1964), S. 85–104; Sibbe J. Visser, Samuel Naeranus (1582–1641) en Johannes Naeranus (1608–1679). Twee remonstrantse theologen op de bres voor godsdienstige verdraagzaamheid, Groningen 2011, S. 165f.; Stanisław Kot, Oddziaływanie Braci Polskich w Anglii, in: Reformacja w Polsce 7–8 (1936), S. 227. 71 Georg H. Williams, The Place of the Confessio Fidei of Jonas Schlichting in the Life and Thought of the Minor Church, in: Lech Szczucki (Hrsg.), Socinianism and its Role in the Culture of XVI-th to XVIII-th Centuries, Warszawa 1983, S. 103–114. 7 2 Vollständige Bibliographie seiner Schriften in: Roman Pollak (Hrsg.), Bibliografia literatury polskiej „Nowy Korbut“, Bd. 3: Piśmiennictwo staropolskie, Warszawa 1965, S. 314f.; Christophorus Sandius, Bibliotheca antitrinitariorum, Varsoviae 1967, S. 126–132; Philip Knijff/Sibbe J. Visser/Piet Visser (Hrsg.), Bibliographia Sociniana. A Bibliographical Re-

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protestantischen Kirchen abzugrenzen. Er stellte die traditionelle Trinitätslehre und Christologie in Frage und kritisierte die Lehre von der Präexistenz C ­ hristi, er modifizierte die Prädestinations- und Rechtfertigungslehre (setzte sich gegen iustitia imputativa ein) und verteidigte eine synergistische Auffassung der Willenslehre. Um 1638 kam es infolge dramatischer Ereignisse zu einem diametralen Kurswechsel. Am 20. April 1638 befahl der Sejm die Vertreibung der Gemeinde sowie die Schließung der Schule und Druckerei in Raków.73 In den kommenden Jahren veröffentlichte Schlichting keine Polemiken mehr, sondern arbeitete an einem Glaubensbekenntnis, das er 1642 veröffentlichte.74 Es erschien fast gleichzeitig mit dem Zusammentreten des Colloquium Charitativum unter König Wladislaw IV.75 Schlichtings Werk passte sehr gut zur ökumenischen Stimmung der Zeit: Er milderte die Kritik am Trinitätsdogma und entwickelte eine neue Christologie. Er sprach sich jetzt für die Präexistenz Christi aus und akzeptierte die traditionelle Rechtfertigungslehre, die er früher abgelehnt hatte.76 Mit seiner moderaten Auffassung stand er der reformierten Orthodoxie sehr nahe. Trotzdem wurde Schlichting 1645 aus dem Colloquium Charitativum ausgewiesen, worauf ein paar Monate später eine Vorladung vor das Reichstagsgericht

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ference Tool for the Study of Dutch Sociniansim and Antitrinitarism, Amsterdam 2004, Nr. 2001–2003, 2010, 2023–2026, 2030, 2094–2114, 4123, 6083, 6399, 6551. Vgl. Friedrich S. Bock, Historia antitrinitariorum, Regiomontani et Lipsiae 1776, Bd. 1, T. 2, S. 763–825; Sławomir Radoń, Z dziejów polemiki antyariańskiej w Polsce XVI–XVII wieku, 1993, S. 23–27, 34–38, 44–58, 63–74, 81–87, 137–140. Vgl. Irena Kaniewska, Sienieński Jakub, in: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 37, Warszawa 1996–1997, S. 174–179; Janusz Tazbir, Walka z Braćmi Polskimi w dobie kontrreformacji, in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 1 (1956), S. 165–207; Wacław Urban, Zmierzch ariańskiego Rakowa, in: Sobótka 30 (1975), S. 255–266. Confessio fidei Christianae edita nomine Ecclesiarum Polonicarum quae unum Deum et Filium eius unigenitum Jesum Christum cum Spiritu Sancto corde sancto profitentur, o. O. [Lusławice 1642]. Das Bekenntnis wurde ins Polnische (1646), Französische (1646), Niederländische (1652) und Deutsche (1653) übersetzt, vgl. Bibliographia Sociniana (wie Anm. 72), Nr 2098. Über die Auflagen vgl. Alodia Kawecka-Gryczowa, Ariańskie oficyny wydawnicze Rodeckiego i Starnackiego. Dzieje i biliografia, Wrocław 1974, S. 50, 55f., 64–73. Englische Übersetzung und Kommentar in: Georg H. Williams (Hrsg.), The Polish Brethren. Documentation of the History and Thought of Unitarianism in the Polish-Lithuanian Commonwealth and in the Diaspora 1601–1685, Bd. 2, Ann Arbor 1980, S. 389–418. Hans-Joachim Müller, Irenik als Kommunikationsreform. Das Colloquium Charitativum von Thorn 1645 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 208), Göttingen 2004, S. 274–279, 281, 283, 285–289, 302f., 312, 318–322, 374, 443f., 505, 513; Edmund Piszcz, Colloquium Charitativum w Toruniu A.D. 1645, Toruń 1995, S. 106–108; Henryk Gmiterek, Obóz różnowierców w Polsce wobec idei colloquium charitativum za Władysława IV, in: Annales Universitatis Mariae Curie-Skłodowska 35–36 (1980–1981), S. 69–89. Diese Eigenschaften der Confessio betont Williams, The Place (wie Anm. 71).

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folgte.77 1647 wurde die Confessio fidei durch ein Gerichtsurteil beschlagnahmt und aufgrund des „crimen laesae Divinae Maiestatis et Reipublicae“ verbrannt. Laut Urteil sollten arianische Schulen und Druckereien geschlossen werden und Schlichting als Verfasser der Confessio mit der Todesstrafe und der Beschlagnahmung seiner Güter belegt werden.78 Die Todesstrafe wurde nicht vollzogen, weil Schlichting rechtzeitig nach Schlesien und vermutlich bis in die Niederlande geflohen war. Somit wurde am 14. Mai 1647 nur seine Confessio in Warschau verbrannt. Er kam erst 1655 zurück und begab sich bald mit anderen Arianern nach Krakau, wo sie den König von Schweden, Karl Gustav, um Hilfe und Schutz baten.79 Schlichtings Aufenthalt im schwedischen Krakau dauerte über ein Jahr und war laut seinem Biographen zum großen Teil theologischen Studien gewidmet.80 Im August 1657 verließ er Krakau nach der Kapitulation der Stadt vor der polnischen Armee und begab sich zunächst nach Stettin, anschließend nach Schlesien, wo er 1661 starb.81 In der Zwischenzeit beschloss der Reichstag in Warschau am 30. August 1658 trotz des Widerspruchs durch den protestantischen Adel die Vertreibung der Polnischen Brüder aus der Rzeczpospolita.82 Unter Jonas Schlichtings apologetischen Schriften soll in diesem Kontext die „Apologia pro veritate accusata“ von 1654 erwähnt werden.83 Das Werk war an die Generalstände in den Niederlanden gerichtet. Schlichting charakterisierte und verteidigte darin nicht nur die Theologie der Polnischen Brüder, sondern 7 7 Müller, Irenik (wie Anm. 75), S. 233–235, 419–421. 78

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Vgl. Wiktor Czermak (Hrsg.), Stanislai Temberski annales 1647–1656, Cracoviae 1897, S. 67, 276. Ludwik Chmaj, Samuel Przypkowski, Kraków 1927; ders., Bracia Polscy. Ludzie, idee, wpływy, Warszawa 1957, S. 14, 24, 30, 43, 47, 73, 100f., 106, 111, 120, 127, 132, 136, 140, 144–147, 158, 163, 166, 168, 178, 180, 184, 189, 190f., 193, 200, 205, 222f., 226, 274, 281, 283, 297f., 302, 319, 322, 326, 340, 360, 364, 418, 482; Marek Wajsblum, Ex regestro arianismi (Teil 2), in: Reformacja w Polsce 9–10 (1937–1939), S. 93, 98–99, 102, 168, 171, 195, 239, 250; Dzięgielewski, O tolerancję (wie Anm. 54), S. 145; Wołoszyn, Problematyka wyznaniowa (wie Anm. 54), S. 35f., 120, 135, 137–139, 144, 276. Jørgensen, Lubieniecki in Kraków 1655, in: Ludwik Chmaj, Studia nad arianizmem, ­Warschau 1959, S. 199–202; ders., Stanisław Lubieniecki. Zum Weg des Unitarismus von Ost nach West im 17. Jahrhundert (Kirche im Osten, Monographienreihe 6), Göttingen 1968, S. 26–29, 31, 37–45, 50–51. Stanisław Lubieniecki, Exemplum Epistolae Stanislai Lubieniecii de Lubienietz, gedruckt als eine Einführung zur: Bibliotheca Fratrum Polonorum, Irenopoli 1656 [= Amsterdam 1685], Bd. 2, T. 1 (ohne Seitenzahl). Ausführlich über diese letzte Phase Schlichtings Leben und das Schicksal der Exulanten: Janusz Tazbir, Stanisław Lubieniecki, przywódca ariańskiej emigracji, Warszawa 1961, S. 103, 118, 120–123, 126f., 145f., 149, 155–157, 176, 270–275, 317, 335, 346, 351f. Jozefat Ohryzko (Hrsg.), Volumina Legum, Bd. 4, Petersburg 1860, S. 238f. Jonas Schlichting, Apologia pro veritate accusata. Ad Illustrissimos et potentissimos ­Hollandiae et West-Frisiae ordines. Conscripta ab Equite Polono, o. O. 1654.

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entwickelte auch eine neue Staatsauffassung. Die weltliche Gewalt solle zwar die Kirche verteidigen, aber keinen Herrschaftsanspruch innerhalb konfessioneller Auseinandersetzungen haben.84 Im Falle eines Meinungsunterschieds dürfe der Magistrat nicht handeln, da Staat und Kirche getrennt sein sollten und die Gewissensfreiheit nicht verletzt werden dürfe: „Discinta enim inter se sunt, Ecclesia & Republica“.85 Schlichting befürwortete die Trennung von Staat und Kirche in einem sehr modernen Sinne und betrachtete die Unantastbarkeit der Gewissensfreiheit als eine Grundlage der Toleranz gegenüber Andersgläubigen.86 Das Beispiel der Familie Schlichting bezeugt die Fortsetzung zweier Sicher­ heitsstrategien unter den Protestanten im 17. Jahrhundert. Johann Georg Schlichting kämpfte durch sein politisches Engagement um die Durchführung der Warschauer Konföderation, d. h. für die Sicherstellung der Rechte der Protestanten in Gestalt der Umsetzung schon beschlossenen Rechts. Jonas Schlichting versuchte dagegen, die Lage der Arianer durch Aufnahme des interkonfessionellen Dialogs und durch Milderung der konfessionellen Unterschiede zu verbessern. Beide Strategien waren tief im 16. Jahrhundert verwurzelt. Sie dürfen separat betrachtet werden, obwohl sie keine Alternativen bildeten, sondern sich gegenseitig ergänzten. Die Verflechtung der Strategien wird fast symbolisch durch die Lebensschicksale der Vertreter der Familie Schlichting verkörpert, die beide 1645 8 4 Ebd., S. 38 („Verum est, Civiles Potestates Ecclesiae Educatores & Tutores esse: sed adversus

illos, qui Ecclesiam armis, & externa vi invadunt; non qui solas Scripturas & rationes offerunt, parati aut Ecclesiam melius erudire si erret; aut ab Ecclesia, si ipsi errent, erudiri“). 8 5 Ebd., S. 108 („Discinta enim inter se sunt, Ecclesia & Respublica, nec sine omnium rerum perturbatione confundi possunt; quod tot atrocissimae clades, & bella, & eversarum Ecclesiarum simul & Rerumpublicarum tristissima exempla docent. Ecclesia illos solos, qui normam pietatis a Christo praescriptae susceperunt, recipit; illos solos retinet ac fovet, qui ab hac norma non recedunt. Respublica recipit & fovet cujuscunque generis & Religionis homines, etiam idolatras, etiam paganos, etiam haereticos, etiam a Christi nomine apostatas, & illae demum Respublicae vel maxime, populorum multitudinae & civium concordia florent, quibus ‚Tros Rutilusve fuat, nullo discrimine habetur‘“); vgl. ebd., S. 116f. („Angelorum hic ministerio opus est, non hominum; quorum hic facilis est error, at exitu tristis & luctuosus. Civilium Potestatum est, qua talium, si videant diffensiones de fide & Religionis Christianae dogmatis in Ecclesia, nulli partium potestatem suam commodare: sed omnes aequabili jure regere, & ut inter sese innoxie agant, neve Ecclesiasticae dissensiones quidquam Republica turbent, providere; supplicationes in perniciem diversa sentientium directas, a se repellere, & in Ecclesia caepta, ad solamque Ecclesiam spectantia, Ecclesiae tribunali judicanda relinquere“). 8 6 Ebd., S. 119 („Magistratus Civilis, civilia habet, quae judicet; qui si rerum Ecclesiasticarum, & quaestionum ad Religionem spectantium, merito sibi forense judicium non sumit; ne quidem paenam & coercitionem eorum, quae forensis judicii non sunt, debet usurpare“). Vgl. Zbigniew Ogonowski, La liberté de citoyen et la liberté religieuse dans la philosophie politique en Pologne au XVIIe siècle, in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 39 (1995), S. 155–162.

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sehr aktiv am Colloquium Charitativum beteiligt waren87 und sich 1655/1656 in Krakau trafen. Johann Georg verteidigte Jonas auf Reichstagen88 und sorgte vermutlich auch für Hilfe durch die Landtage.89 Im 17. Jahrhundert gewannen diese Strategien eine neue Bedeutung. Das Ringen um die Verwirklichung der Rechte und das Plädoyer für die Freiheit in der Republik wurden nur durch Unterstützung von außen möglich – durch Kontakte mit Schweden, Brandenburg oder den Remonstranten. Der Krieg gegen das lutherische Schweden eröffnete in dieser Hinsicht neue Möglichkeiten, die auch der katholische Adel wahrnahm. Die eindeutige politische Stellungnahme der Arianer und mancher protestantischer Adliger wurde aber von ihren politischen und konfessionellen Gegnern sofort ausgenutzt, um erst die Arianer aus dem Land zu vertreiben und in weiteren Schritten auch gegen andere Protestanten vorzugehen. Der „Mythos des Verrats durch die Protestanten“ ist eine Spätfrucht dieser katholischen Politik. Aus historischer Perspektive hatte die Sicherheitsstrategie, die Jonas Schlichting und seine Nachfolger entwickelten, eine weitaus größere Bedeutung. Der Entwurf der Trennung zwischen Staat und Kirche fand ebenso wie die Befürwortung der religiösen Toleranz in intellektuellen europäischen Milieus breite Rezeption. Die Schriften Schlichtings wurden in das Editionsprojekt „Bibliotheca Fratrum Polonorum“ aufgenommen und später von Pierre B ­ ayle, John ­Locke, John Milton, Thomas Hobbes und Isaac Newton rezipiert.90 Das durch Jonas entworfene 87

Vgl. die Literatur in Anm. 75 und Theodor Wotschke, Die Lutheraner Großpolens und das Thorner Religionsgespräch, in: Deutsche Wissenschaftliche Zeitschrift für Polen 31 (1936), S. 31–79. 8 8 Stefania Ochmann, Protestacja Braci Polskich na sejmie elekcyjnym 1648 r., in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 28 (1983), S. 241–245. 8 9 Zahlreiche Proteste der Landtage gegen das Urteil über Jonas Schlichting (17. Dezember 1648, 9. Dezember 1651, 11. Juni 1652, 8. März 1653, 31. Dezember 1653, 19. Mai 1654), in: Adam Przyboś (Hrsg.), Akta Sejmikowe Województwa Krakowskiego, Bd. 2, Kraków 1953, S. 313, 328, 334, 375, 427, 441, 461, 495, 509. 9 0 Pierre Bayle, Dictionnaire historique et critique, Bd. 13, Geneva 1969, S. 359f. (Schlichting als „une de leurs [les sociniens – M.P.] meilleures plumes“); Barbara Sher Tinsley, Pierre Bayle’s Reformation. Conscience and Criticism on the Eve of the Enlightenment, London 2001, S. 317f.; Jeroom Vercruysse, Crellius, Le Cène, Naigeon ou les chemins de la tolérance socinienne, in: Tijdschrift voor de Studie van de Verlichting 1 (1973), S. 244–320; John Marshall, Locke, Socinianism, „Socinianism“, and Unitarianism, in: M. Alexander Stewart (Hrsg.), English Philosophy in the Age of Locke (Oxford studies in the history of philosophy 3), Oxford 2000, S. 111–182; ders., John Locke, Toleration and Early Enlightenment Culture (Cambridge Studies in Early Modern British History), Cambridge 2006, S. 314, 319, 494. Nicholas Jolley, Leibniz on Locke and Socinianism, in: Journal of the History of Ideas 39 (1978), S. 233–250; Stephen D. Snobelen, „God of Gods, and Lord of Lords“: The Theology of Isaac Newton’s General Scholium to the Principia, in: Osiris 16 (2001), S. 169–208; John Rogers, Milton and the Heretical Priesthood of Christ, in: David Loewenstein/John

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neue Freiheitskonzept ist auch in Comenius’ Panegyricus zu finden: „Ich sage, dass alles frei sein muss, Körper, Geist und Gewissen, damit nicht einer dem anderen in diesen drei Hinsichten Fesseln anlege“.91 Das Konzept der Gewissensfreiheit sprengte den Rahmen der ständischen Freiheiten der Warschauer Konföderation und des Diskurses der „republikanischen Freiheiten“, die durch die Republik überhaupt erst ermöglicht wurden.92 Die Gewissensfreiheit aber konnte nur durch die Trennung von Staat und Kirchen gewährleistet werden.

Marshall (Hrsg.), Heresy, Literature, and Politics in Early Modern England, Cambridge 2006, S. 203–220; Sarah Mortimer, Reason and Religion in the English Revolution. The Challenge of Socinianism (Cambridge Studies in Early Modern British History), Cambridge 2010, S. 115f. 91 Comenii Opera omnia (wie Anm. 1), S. 76 („Dico libera debere esse omnia, c ­ orpora, mentes, conscientias“); Blekastad, Eine seltene Comenius-Ausgabe (wie Anm. 1), S. 45. 9 2 Vgl. Quentin Skinner, Hobbes and Republican Liberty, Cambridge 2008, S. 60, 124–177, 211–216.

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Sicherheit in Krieg und Frieden Die Frühe Neuzeit gilt als eine der unsicheren Epochen der Weltgeschichte: Als Übergangsepoche zwischen Mittelalter und Moderne war sie geprägt von zahlreichen Brüchen und dem Versagen alter Ordnungen und entsprechenden Auseinandersetzungen um die Gestaltung respektive die Neugestaltung der Welt. Die besondere Kriegsintensität besonders des 16. und 17. Jahrhunderts war ein Ausdruck dieser Auseinandersetzungen.1 Die Hinwendung zum Jenseitigen als dem einzigen Ort der Sicherheit gilt deshalb als symptomatisch für diese Jahrhunderte. Allerdings ist die Politik dieser Zeit zugleich geprägt von einer aktiven Suche nach Sicherheit und Stabilität. Reformdiskurse belegen eine ­rasche problemorientierte Reaktion auf das Versagen der Ordnung, und politische Akteure bemühten sich entsprechend um die Herstellung bzw. Wiederherstellung der Ordnung. Genau dort aber lag das Kernproblem, stellte sich doch die Frage, welche Ordnung hergestellt respektive wieder hergestellt werden solle. Es war eine Frage nach der Deutungshoheit über die natürliche bzw. göttliche Ordnung und zugleich nach der Deutungshoheit über die Vergangenheit, welche die Legitimationsbasis fast aller Ordnungsentwürfe am Beginn der Neuzeit war.2 Die Frühe Neuzeit war mitnichten eine Epoche, in der das Sicherheitsdenken nur schwach ausgeprägt gewesen wäre: Schutz, und damit Sicherheit, war die zentrale Verpflichtung jeder Obrigkeit.3 Eine Obrigkeit, die diesen Aspekt vernachlässigte, stellte ihre eigene Autorität und Akzeptanz in Frage. Die Frühe Neuzeit war aber eine Epoche, in der konkrete gegensätzliche – in der Regel 1

Zum Krieg als einem prägenden Phänomen der Frühen Neuzeit siehe grundlegend Bernhard R. Kroener, Krieg, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, Stuttgart/Weimar 2008, Sp. 137–162. Zur besonderen Kriegsintensität dieser Epoche und Versuchen ihrer theoretischen Deutung siehe: Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: ZHF 24 (1997), S. 509–574; Johannes Kunisch (Hrsg.), Fürst, Gesellschaft, Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln u. a. 1992. Eine epochenübergreifende Betrachtung des Phänomens Krieg unter auch quantitativen Aspekten, welche die These der Kriegsintensität der Frühen Neuzeit untermauern, bietet Quincy Wright, A Study of War, 2. Aufl. Chicago 1965. 2 Zu Theorie und Praxis von Neuanfängen in der Frühen Neuzeit siehe: Christoph Kampmann/Katharina Krause/Eva Krems/Anuschka Tischer (Hrsg.), Neue Modelle im alten Europa. Traditionsbruch und Innovation als Herausforderung der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2012. Konkret zur Reichsreform als einem Diskurs um die richtige Ordnung siehe Anuschka Tischer, Alte Ordnung oder neue Ordnung? Die Reichsreform von 1495, in: ebd., S. 37–48. Zur strukturierenden Rolle des Begriffs der Ordnung in politischen Debatten der Frühen Neuzeit vgl. auch grundsätzlich Luise Schorn-Schütte, Historische Politikforschung. Eine Einführung, S. 86–93. 3 Vgl. dazu auch den Beitrag von Philip Hahn in dieser Sektion.

Sicherheit in Krieg und Frieden

unvereinbare – Sicherheitsvorstellungen massive Unsicherheit produzierten: Die Kriege der Frühen Neuzeit sind vielfach Ausdruck konkurrierender Vorstellungen von politischer, gesellschaftlicher, religiöser oder auch ökonomischer Ordnung als der eigentlichen Grundlage von Sicherheit und Stabilität, Vorstellungen, die geprägt waren von weltanschaulichen Denkmustern – „Ideologien“4 –, aber auch von kulturellen Missverständnissen und subjektiven Wahrnehmungen bis hin zur Angst.5 Kriegsursachen und Kriegsbegründungen, die den Aspekt des Schutzes in jedem militärischen Vorgehen betonten,6 markieren dabei die Wunschvorstellungen des frühneuzeitlichen Sicherheitsstrebens. Am anderen Ende der Skala standen Friedensverhandlungen und Friedensverträge als die Wirklichkeit des Durchsetzbaren. Dies war ein Spannungsverhältnis, das aufgrund des notwendigerweise unbefriedigenden Verhältnisses zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu immer wieder neuen Kriegen führte. Das früheste und politisch vielleicht prägendste Beispiel einer solchen Konkurrenz war am Beginn der Neuzeit die Auseinandersetzung um die Universalmonarchie: Die Universalmonarchie war zunächst ein Modell, das im Umfeld Karls V., namentlich vom Großkanzler Mercurino di Gattinara, positiv vertreten wurde. Die Idee der Universalmonarchie griff die Idee vom Kaiser als traditioneller 4

Neuerdings mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen, dass auch die Außenpolitik nach dem Westfälischen Frieden mitnichten nur unter säkularen Aspekten wie nationalen Interessen oder Staatsräson erfasst werden könne. Explizit von „Ideologie“ sprechen David Onnekink/Gijs Rommelse (Hrsg.), Ideology and Foreign Policy in Early Modern Europe (1650–1750) (Politics and Culture in Europe, 1650–1750), Farnham 2011. 5 Siehe dazu exemplarisch: Helmut Gabel/Volker Jarren, Kaufleute und Fürsten. Außenpolitik und politisch-kulturelle Perzeption im Spiegel niederländisch-deutscher Beziehungen 1648–1748. Mit einer Einleitung von Heinz Duchhardt und Horst Lademacher (Niederlande-Studien 18), Berlin u. a. 1998; Franz Bosbach (Hrsg.), Angst und Politik in der europäischen Geschichte (Bayreuther Historische Kolloquien 13), Dettelbach 2000; Michael ­Rohrschneider, Tradition und Perzeption als Faktoren in den internationalen Beziehungen. Das Beispiel der wechselseitigen Wahrnehmung der französischen und spanischen Politik auf dem Westfälischen Friedenskongreß, in: ZHF 29 (2002), S. 257–282; ­Michael Rohrschneider/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V. 31), Münster 2007. Zur langfristigen Verfestigung einer Wahrnehmung als handlungsleitendem Faktor in den internationalen Beziehungen siehe Jörg Ulbert, Von der Furcht einer habsburgischen Umklammerung zur Angst vor einem übermächtigen Konkurrenten im Osten. Der Kampf gegen die deutsche Einheit als Triebfeder der französischen Deutschlandpolitik (16.–20. Jahrhundert), in: Patrick ­Bormann/Thomas Freiberger/Judith Michel (Hrsg.), Angst in den Internationalen Beziehungen (Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte 7), Bonn 2010, S. 275–294. 6 Siehe dazu Anuschka Tischer, Offizielle Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit. Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 12), Münster 2012, S. 148–151.

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Ordnungsinstanz auf, speiste sich aber auch aus anderen Traditionen. Vor allem baute sie auf der Tatsache auf, dass Karl als Inhaber des burgundischen Erbes und der spanischen Kronen mit ihrem Besitzanspruch von Italien bis nach Amerika vor seiner Wahl zum Kaiser bereits einen tatsächlich universalen Herrschaftsbereich besaß. Gattinara riet Karl 1519 dazu, sich zum Kaiser wählen zu lassen, weil er wegen seiner Machtfülle, die vorherigen Kaisern gefehlt hatte, das Kaisertum ausfüllen konnte.7 Ein solches neu gefülltes Kaisertum als Stabilisierungsprinzip der Christenheit musste nicht a priori als abwegig erscheinen, hatte doch noch 1495 die sogenannte Heilige Liga gegen Karl VIII. von Frankreich dem Reichsoberhaupt eine Führungsrolle in einem System kollektiver Sicherheit zugewiesen.8 Durch seinen Eroberungszug nach Neapel mit weitreichenden Folgen für ganz Italien galt 1494 der französische König den christlichen europäischen Mächten als die Sicherheitsbedrohung schlechthin. Die kriegsintensive Regierungszeit des römischen Königs und späteren Kaisers Maximilian I. allerdings, auf dem Hoffnungen auf eine Wiederherstellung des Status quo ante zunächst ruhten, war das Gegenteil sowohl von friedensstabilisierender als auch von durchsetzungsfähiger Herrschaft. Sie war somit kein Gegenentwurf zur neuen Unsicherheit am Beginn der Neuzeit, auch wenn 1510 selbst der Botschafter eines französischen Königs, nun im Bündnis mit dem Kaiser gegen Venedig, bekräftigte, Kaiser und Reich seien die „erste Seul“ der christlichen Freiheit.9 7

Quellenbeispiele dafür, dass im Umfeld Karls V. insbesondere im ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft zugunsten eines übergeordneten starken Kaisertums als Ordnungsinstanz bzw. eines positiven Programms einer Universalmonarchie argumentiert wurde, sind zusammengestellt in: Wolfgang Lautemann/Manfred Schlenke, Geschichte in Quellen (Renaissance – Glaubenskämpfe – Absolutismus), bearb. von Fritz Dickmann, 3. Aufl. München 1982, S. 211–215, 218. Vgl. dazu auch Burkhardt, Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 515f. Zum Selbstverständnis des Kaisertums Karls V. und den verschiedenen Traditionen, aus denen sein Herrschaftsverständnis sowie das Programm der Universalmonarchie sich speisten, siehe auch Franz Bosbach, Selbstauffassung und Selbstdarstellung Karls V. bei der Kaiserkrönung in Bologna, in: Alfred Kohler/Barbara Haider/ Christine Ottner (Hrsg.), Karl V. 1500–1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee (Zentraleuropa-Studien 6), Wien 2002, S. 83–103, hier bes. S. 88–89 und 94; ­Hans-Joachim ­König, Plus Ultra – ein Weltreichs- und Eroberungsprogramm? Amerika und Europa in politischen Vorstellungen im Spanien Karls V., in: ebd., S. 197–222. 8 Auszüge aus dem Liga-Vertrag finden sich in deutscher Übersetzung in: Lautemann/­ Schlenke, Geschichte in Quellen III (wie Anm. 7), S. 37f. 9 Oration An Keyserliche Mayestät Maximilianum I, Gehalten durch Ludwig Ælianum von Verzell / deß Allerchristlichen Königes in Franckreich fürnembsten Raht vnd Oratorn im Jahr 1510. Siehe: Verantwortung / So zu behauptung der / Vrsachen / derentwegen deß Ertz­hertzogs / Ferdinandi Durchleuchtigkeit / etc. zu gegenwärtigem Krieg bewogen worden / fürnemblich gestellt / Vnd der Herrschaft zu Venedig publicirten / Schrifft IL ­MANIFESTO intitulirt, entgegengesetzt wird. / Jetzo erst auß der Italiänischen in Teutsche / Sprach gebracht / Sampt einer auß dem Latein verteutschten ORATION, Welche Ludwig

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Karl V. war dann ein Herrscher, der mit seinem ererbten kastilisch-aragonesisch-burgundischen Besitz das vermeintliche alte Kaisertum ausfüllen konnte. Tatsächlich aber wurde diese Universalmonarchie in Europa erst recht als Faktor von Unsicherheit, nicht als neue Sicherheitsoption, wahrgenommen, auch wenn Karl nicht nur seine Herrschaft universal verstand, sondern sie argumentativ mit universalem Frieden und dem universalen Wohl der Christenheit zu einem gemeinsamen Konzept verband – einem Konzept freilich, das den Krieg einschloss.10 Hier zeigte sich deutlich die Ambivalenz des frühneuzeitlichen Friedensbegriffs, der immer auch Gerechtigkeit und damit die notfalls gewaltsame Herstellung eines als gerecht postulierten Zustandes implizierte. Das Konzept eines Universalfriedens konnte so gerade zu universaler Unsicherheit beitragen. Spätestens als die Truppen Karls V. 1525 den französischen König in der Schlacht von Pavia gefangen nahmen und 1527 plündernd und mordend ausgerechnet durch Rom zogen und den Papst fest setzten, erschien die Herrschaft Karls V. selbst als eine Bedrohung, gegen die neue Sicherheitskonzepte gefragt waren. Der Begriff der Universalmonarchie wurde in der Frühen Neuzeit zu dem politischen Kampfbegriff und zur Chiffre für Unsicherheit durch die Übermacht eines einzelnen Fürsten oder Landes schlechthin.11 Über mehr als ein Jahrhundert hinweg richtete sich der Vorwurf, nach der Universalmonarchie zu streben und so die Sicherheit der anderen zu bedrohen, gegen die Habsburger. Bereits Karl V. vertrat darum die Universalmonarchie niemals offen als politisches Programm, sondern er bemühte sich alsbald, diesen Vorwurf zurückzuweisen, zumal der Vorwurf der Monarchie auch eine Umwandlung der konsensuell-ständischen Herrschaft im Heiligen Römischen Reich implizierte und damit die Reichsstände ­ lianus, Weyland Ludovici des 12. Königs in Franckreich gesandter Wider jetztgemeldete Æ Herrschaft auff dem Reichstage zu Augspurg vor Kayser Maximiliano dem Ersten im Jahr 1510 gehalten. S. l. 1618 (VD 17: 23:237271R), S. 38. 10 1525 ließ Karl V. den Cortes von Toledo durch einen Repräsentanten versichern, seine Ziele seien „paz universal de la cristiandad, y conservación de su imperial y real autoridad y de sus reinos y señoríos“; Francisco de Laiglesia, Estudios historicos (1515–1555), Bd. 1, Madrid 1918, S. 370. 1538 ließ er ebenfalls vor den Cortes von Toledo vortragen: „[…] las guerras a las cuales Su Majestad, sin poderlas excusar y contra su voluntad, por defensión y conservación de sus reinos, bien universal de la cristiandad y cumplir con su dignidad y autoridad, ha sido necesitado, deseando siempre evitarlas con los príncipes cristianos, y estar en paz y quietud por servicio de nuestro Señor.“ Ebd., S. 401. 11 Zur Verwendung und Entwicklung dieses Begriffs in der politischen Kommunikation siehe Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der Frühen Neuzeit (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 32), Göttingen 1988. Zur Verwendung gegen Habsburg und Spanien im Dreißigjährigen Krieg siehe Peer Schmidt, Spanische Universalmonarchie oder „teutsche Libertet“. Das spanische Imperium in der Propaganda des Dreißigjährigen Krieges (Studien zur modernen Geschichte 54), Stuttgart 2001.

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alarmierte.12 Intern blieb die Universalmonarchie für die habsburgische Herr­schaft jedoch ein positiv konnotiertes Ordnungsmodell, das man am Kaiserhof noch im 18. Jahrhundert gerade vor dem Hintergrund der nachmaligen Entwicklung im Heiligen Römischen Reich als eine vertane Chance bedauerte.13 Spätestens seit der Herrschaft Philipps II. in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts richtete sich der politische Vorwurf der Universalmonarchie allerdings stärker gegen die spanischen Habsburger als gegen ihre kaiserlich-österreichischen Vettern. Die Kritik an der politischen Dominanz der spanischen Könige verband sich dabei vor allem im protestantischen Raum auch mit der sogenannten „Schwarzen Legende“14, einer Feindbildpropaganda, welche den Aufund Ausbau des spanischen Weltreichs mit zum Teil übertriebenen Darstellungen in den Blick nahm und dabei Spanien und die Spanier mit zahlreichen negativen Stereotypen belegte. Spanische Grausamkeit, Ehrgeiz und Arroganz schienen nicht nur ­Europa und die Christenheit, sondern die ganze Welt zu bedrohen. Für Wilhelm von Oranien, einen der Anführer des Niederländischen Aufstandes, waren die Spanier „Ungeziefer“15, „eine verfluchte Rasse, die von Land zu Land

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1535 ließ Karl V. vor den Reichsständen versichern, dass er nicht nach der „Monarchie“ strebe. Der Brief mit den entsprechenden Formulierungen wurde kurz darauf publiziert in dem Sammeldruck Recueil d’aucunes lectres et Escriptures. Par lesquelles se comprend la verite des choses passees / Entre la Mageste de Lempereur Charles / cinquiesme. Et F ­ rancois Roy de France premier de ce nom. […] Antwerpen (Witwe des Martin ­Lempereur ­[Merten de Keyser]) 1536. BSB: 4 J.publ.e 336,6, Zitat hier Riii. Am Ostermontag 1536 versicherte der Kaiser in einer öffentlichen Rede vor dem Papst, auch im internationalen Kontext nicht nach der „Monarchie“ zu streben; ebd., Bii. 13 Siehe dazu eine Denkschrift des österreichischen Staatsministers Johann Anton Pergen an Kaiser Josef II. von 1766, in Auszügen abgedruckt in: Rainer A. Müller (Hrsg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung (Zeitalter des Absolutismus 1648–1789 Bd. 5), Stuttgart 1997, S. 121–130, hier S. 125. Vgl. auch Burkhardt, Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 519f. 14 Zum politischen Feindbild Spanien siehe den Titel von Schmidt, Spanische Universalmonarchie (wie Anm. 11). Zur Schwarzen Legende siehe darüber hinaus Judith Pollmann, Eine natürliche Feindschaft. Ursprung und Funktion der Schwarzen Legende über Spanien in den Niederlanden, 1560–1581, in: Franz Bosbach (Hrsg.), Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit (Bayreuther Historische Kolloquien 6), Köln/u. a. 1992, S. 73–93. Eine historiographische Kritik des Begriffs unternimmt Friedrich Edelmayer, Die „Leyenda negra“ und die Zirkulation antikatholisch-antispanischer Vorurteile, in: Institut für Europäische Geschichte (IEG) (Hrsg.), Europäische Geschichte Online (EGO), Mainz 2010–12-03, URL: http://www. ieg-ego.eu/edelmayerf-2010-de (22. Februar 2012). 15 The Apologie of Prince William of Orange against the Proclamation of the King of Spaine, nach der englischen Ausgabe von 1581, hrsg. v. Hans Wansink (Textus Minores in usum academicum sumptibus 40), Leiden 1969, S. 62: „[…] this vermin of the Spaniards“.

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geht, um die ganze Welt zu quälen und zu belästigen“.16 Der spanischen Krone und ihren Funktionsträgern in Europa und der ganzen Welt wurde vorgeworfen, ständig weiter zu expandieren und in den von ihnen so beherrschten Gebieten absolut und tyrannisch und ohne Rücksicht auf die Landesbewohner, ihre Sitten und Gebräuche oder ihre Rechte zu regieren. Auch wenn bei den Vorwürfen gegen die spanische Politik nur schwer zwischen Propaganda und realem Bedrohungsszenario, zwischen ernsthafter Kritik und Übertreibung unterschieden werden kann, so hatten sie doch insofern einen wahren Kern, als der neue Universalismus seinen Ursprung ganz wesentlich in einem spezifischen spanischen Universalismus hatte. Dieser verwob sich zwar in der Ära Karls V. zunächst mit der Idee des Kaisertums, kam aber aus einer mit ihr eigentlich unvereinbaren Tradition17 und bildete dann das Fundament des politisch weitaus erfolgreicheren spanischen Imperialismus.18 Schon deshalb war die Universalmonarchie wohl niemals eine Alternative zur kriegerischen Entwicklung von Nationalstaaten als die sie rückblickend vielleicht erscheinen könnte. Mit dem Argument der universalen Sicherheitsbedrohung, die von Spanien ausgehe, wurde immer wieder ein gewaltsames Vorgehen gegen das Land gerechtfertigt.19 Je weiter sich dieses Stereotyp der spanischen Sicherheitsbedrohung über Generationen hinweg verfestigte, desto mehr wurde es dabei selbst zu einem Unsicherheit produzierenden Faktor, da schlimmstenfalls Friedensgespräche an traditionell vorgeprägten Wahrnehmungen und Meinungen über den Gegner scheiterten.20 16 Ebd., S. 132: „[…] wherefore then, doth this cursed race of Spaniardes, go from countrey

to countrey, to torment and to trouble all the worlde?“ Siehe dazu König, Plus Ultra (wie Anm. 7), S. 212–221. Eine Systematisierung der besonderen spanischen Traditionen unternehmen aus unterschiedlichen Perspektiven: Max S. Hering ­Torres, Rassismus in der Vormoderne. Die „Reinheit des Blutes“ im Spanien der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2006; Jean-Frédéric Schaub, La France espagnole. Les racines hispaniques de l’absolutisme française, Paris 2003. 18 Siehe dazu Ana Crespo Solana, A change of Ideology in Imperial Spain? Spanish commercial policy with America and the change of dynasty (1648–1740), in: Onnekink/Rommelse (Hrsg.), Ideology and Foreign Policy (wie Anm. 4), S. 215–242. 19 So in der Apologie Wilhelms von Oranien im Niederländischen Aufstand 1581 (wie Anm. 15), hier bes. S. 53–60. In der Begründung Elisabeths I. für ihr Eingreifen in den Niederländischen Aufstand: A declaration of the cavses mooving the Queene of England to giue aide to the Defence of the People afflicted and oppressed in the lowe Countries, London (Christopher Barker) [1585], hier bes. S. 5–11. Oder in der Kriegserklärung Oliver Cromwells gegen Spanien 1655, wieder abgedruckt in: Wilhelm G. Grewe (Hrsg.), Fontes Historiae Iuris Gentium/Quellen zur Geschichte des Völkerrechts/Sources Relating to the History of the Law of Nations. 1493–1815, Bd. 2, Berlin u. a. 1988, S. 457–463. 2 0 So im Fall der französisch-spanischen Friedensverhandlungen auf dem Westfälischen Friedenskongress, die trotz eines bereits 13 Jahre andauernden Krieges und trotz massiven Drucks anderer Mächte auf die beiden Gegner scheiterten; siehe dazu Rohrschneider, Tradition (wie Anm. 5). Ein Jahrhundert früher, im Frieden von Cateau-Cambrésis 1559, 17

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Zu Vorkämpfern gegen die habsburgisch-spanische Bedrohung wurden vor allen anderen für mehr als ein Jahrhundert die französischen Könige. H ­ einrich II. formulierte dabei 1552/53 explizit worum es ihm bei der Abwehr der Habsburger ging: um die Sicherheit Frankreichs („zů mehrer sicherheit der Cronen Franckreich“)21 und die Sicherheit Deutschlands („la seureté de la Germanie“)22. Dabei wird deutlich, dass Sicherheit primär ein regionaler, auf ein konkretes Herrschaftsgebiet bezogener und nicht ein universaler Begriff war. Universale Unsicherheit aber bedeutete eine Bedrohung jeder regionalen Sicherheit, und aus der regionalen Sicherheit leitete sich, in der Konzeption Heinrichs II., die allgemeine Sicherheit ab: Der französische König mochte die neue universalmonarchische Dimension des Kaisertums ablehnen, aber ihn verband mit Karl V. die grundsätzliche Idee, dass Deutschland und Frankreich gemeinsam eine besondere Führungsrolle zum Wohl der Christenheit hatten. Für Heinrich II. waren die beiden die stärksten Nationen und die deutsche dabei „ain veste vorburg“, von deren Stabilität der Schutz Frankreichs und der ganzen Christenheit abhing.23

war es Frankreich und Spanien dagegen noch gelungen, ihre Unterschiede zu überwinden: Bertrand Haan, Une paix pour l’éternité. La négociation du traité du Cateau-Cambrésis (Bibliothèque de la Casa de Velázquez 49), Madrid 2010. 21 „Zůdem / dz vnser Vorfaren / jederzeyt mit dē Stenden des Hailigē Reychs von gleychhait wegen der sitten / je vnd alwege höchste freüntschaft gehabt habē / welchs alles zů vnserm nutz vñ wolfart / auch zů mehrer sicherheit der Cronen Franckreich gereycht hat […]“; Sendschrifften der kün. May. zu Franckreich etc. an die Chur vnd Fürsten / Stennd vnnd Stette des Heyligen Römischē Reichs Teütscher Nation darvon sy sich irer yetzigen Kriegs Rüstung halbenn/auff das kürtzest erklert. [S. l.] 1552 (Bibliothèque Nationale de France Paris: 4-LB31–109), unpaginiert. 2 2 Lettres du Roy escriptes aux Princes & estats du Sainct Empire. Traduittes de Latin en François. Paris (Charles Estienne) 1553 (Bibliothèque Nationale de France Paris: 4-LB31–52), unpaginiert. 2 3 „[…] dieweyl wir gůt wissens tragen / das die Teütsche Nation ain veste vorburg ist /da sy vnzerüttet inn ihrem Standt bleibt / nit allain der Cronen Franckreich / sonder der gantzen Christenheit / Derhalben habē wir auch jederzeit höchste hoffnung getragen / es würden einmal dise beide aller sterckeste Nation d. Christenhait / ire waffen zůsamen setzen / also dz wir vns gantz vnd gar nichts vor den vngleubigen vnd andern Feinden / wer die auch weren / zůbefarn oder zůbeförchten hetē […]“; Sendschrifften der kün. May. zu Franckreich, 1552 (wie Anm. 21), unpaginiert. Ganz ähnlich in Bezug auf die gemeinsame Rolle Deutschlands und Frankreichs Karl V.: „[…] il y auroit perpetuelle amyte entre eulx / et leurs hoirs / et pourroient faire grandes choses pour le bien de ladicte Christiente / et benefice dicelle […]“; Recueil d’aucunes lectres et Escriptures, 1536 (wie Anm. 12), unpaginiert. Der für die Frühe Neuzeit problematische Nationenbegriff ist in jüngster Zeit Gegenstand neuer Forschungen aus der deutschen und der französischen Perspektive: Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005; Georges ­Minois, La Guerre de Cent Ans. Naissance de deux nations, Paris 2008.

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Aus der Führungsrolle der französischen Könige beim Schutz gegen die Universalmonarchie sollte langfristig eine Politik erwachsen, welche die französischen Könige selbst als Sicherheitsbedrohung erscheinen ließ: Der Vorwurf, nach der Universalmonarchie zu streben, richtete sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und im frühen 18. Jahrhundert gegen den kriegsfreudigen Ludwig XIV. und damit also gegen einen französischen König.24 Letztlich erwies sich die Kategorie der Sicherheitsbedrohung damit auch als eine der subjektiven Wahrnehmung, denn gerade in dieser Phase kollektiver Sicherheitsanstrengungen gegen Ludwig XIV., in der es schien, dass die Habsburger nach dem Westfälischen Frieden und endgültig nach dem Spanischen Erbfolgekrieg ihr Bedrohungspotential verloren hatten, begann der kriegerische habsburgische Wiederaufstieg zur künftigen neuen Großmacht Österreich.25 Die politischen Akteure in Frankreich sahen auch und gerade während des Spanischen Erbfolgekrieges eine Sicherheitsbedrohung nach wie vor in den Habsburgern.26 Johannes Burkhardt hat in seinem Modell zur Erklärung der „Friedlosigkeit“ des frühneuzeitlichen Europa darauf hingewiesen, dass das Denken in hierarchischen Ordnungsvorstellungen ein Faktor war, der wesentlich zur Entstehung von Kriegen beitrug. Nicht nur die Habsburger oder die Könige von Frankreich, sondern alle Monarchen operierten mit hierarchischen Vorstellungen, und es gab durchaus weitere Kandidaten wie Gustav II. Adolf von Schweden oder aber die russischen Zaren, die im Verlauf der Frühen Neuzeit mit eigenen universalistischen Ansprüchen hervortraten. Das galt gerade auch dann, wenn man über Europa hinaus blickt.27 Europa erscheint rückblickend am Beginn der Neuzeit folglich geprägt von „Expansion und Hegemonie“.28 Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, die Sicherheitskonzepte der politischen Akteure schlicht mit konkurrierenden Hegemonialbestrebungen gleichzusetzen. Kaiser Karl V. und Heinrich II. von Frankreich ließen deutlich erkennen, dass sie einander in ihre Sicherheitskonzepte grundsätzlich 24

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Siehe dazu Bosbach, Monarchia (wie Anm. 11). Zur Kriegspolitik Ludwigs XIV. siehe John A. Lynn, The Wars of Louis XIV. 1667–1714, London 1999; ders., The French Wars 1667–1714. The Sun King at war, Oxford 2002. Siehe dazu Michael Hochedlinger, Austria’s Wars of Emergence 1683–1797, London u. a. 2003. – Gegen die in der niederländischen Historiographie nach wie vor fest verankerte These vom Streben Ludwigs XIV. nach der Universalmonarchie wendet sich jetzt David ­Onnekink, The ideological context of the Dutch war (1672), in: Onnekink/Rommelse (Hrsg.), Ideology and Foreign Policy (wie Anm. 4), S. 131–144, hier S. 133. Jörg Ulbert, Die österreichischen Habsburger in bourbonischer Sicht am Vorabend des Spanischen Erbfolgekriegs, in: Christoph Kampmann/Katharina Krause/Eva Krems/Anuschka ­Tischer (Hrsg.), Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa. Bourbon – Habsburg – Oranien um 1700, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 241–254. Burkhardt, Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit (wie Anm. 1), S. 515–525. Alfred Kohler, Expansion und Hegemonie. Internationale Beziehungen 1450–1559 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 1), Paderborn 2008.

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einbezogen und keinesfalls bis zur Handlungsunfähigkeit ausschalten wollten.29 Dies galt erst recht, wenn die französischen Könige Sicherheitskonzepte entwarfen, die das Heilige Römische Reich am Kaiser vorbei einbezogen: Franz I. und Heinrich II. argumentierten gezielt mit einer deutsch-französischen Freundschaft und Verflechtung als der Basis beiderseitigen Wohlergehens.30 Die Freiheit der Reichsstände war dabei das Konzept, das einem kaiserlich-habsburgischen Universalanspruch von Seiten der französischen Könige entgegengesetzt wurde. Die allgemeine Sicherheit wurde eng mit dieser Freiheit verknüpft.31 Habsburgisch-spanische Universalmonarchie und deutsche Libertät wurden spätestens im 17. Jahrhundert zu einem griffigen Gegensatzpaar der politischen Propaganda.32 Gegen die universalmonarchischen Bestrebungen der Habsburger oder gegen hegemoniale Bestrebungen anderer Herrscher bedurfte die Freiheit des Schutzes: Eine gezielte Protektionspolitik verband die französischen Könige mit unterschiedlichen Reichsständen seit der Ära Karls V. Sie fand ihren ersten klaren Ausdruck im Vertrag von Chambord 1552, mit dem protestantische Reichsstände Metz, Toul und Verdun an Heinrich II. von Frankreich als einem Schutzherrn übergaben.33 Nach einer Unterbrechung in der Zeit der Schwäche der französischen Krone während der Religionskriege in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert erreichte die französische Schutz- und Protektionspolitik einen neuen Höhepunkt während der Regierung Kardinal Richelieus, der sie auch nach Norditalien oder in die Eidgenossenschaft ausdehnte.34 Das 17. Jahrhundert, 2 9

Vgl. Anm. 23. „Or ie loue Dieu […] de reputer entre les […] bienfaictz […] enuers noz deux nations Gallique et Germanique / que ceste amytie […] est trop auant enracinee pour estre vancue par telles leurs machinations ne quilz vous puissent seduire […] alencontre dung Roy vostre amy et allye […] ensuyuant la coustume de ces ancestres / a tousiours desire vous estre a honneur / appuy et prouffict […].“; aus der französischen Übersetzung eines lateinischen Briefes von Franz I. an die Reichsstände von 1534, abgedruckt in: Recueil d’aucunes lectres et Escriptures, 1536 (wie Anm. 12), P. Zu Heinrich II. siehe Anm. 21–23. – Zu einer deutsch-französischen Geschichte aus der Verflechtungsperspektive siehe jetzt die bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt erscheinende DeutschFranzösische Geschichte und hier für die Frühe Neuzeit Bd. 3: Rainer Babel, Deutschland und Frankreich im Zeichen der habsburgischen Universalmonarchie. 1500–1648, Darmstadt 2005. – Bd. 4: Guido Braun, Von der politischen zur kulturellen Hegemonie Frankreichs. 1648–1789, Darmstadt 2008. – Bd. 5: Bernhard Struck/Claire Gantet, Revolution, Krieg und Verflechtung. 1789–1815, Darmstadt 2008. 31 So in dem bereits in Anm. 22 zitierten Brief Heinrichs II. an die Reichsstände von 1553. 3 2 Vgl. dazu den Titel von Schmidt, Spanische Universalmonarchie (wie Anm. 11). 3 3 Christine Petry, „Faire des sujets du roi“. Rechtspolitik in Metz, Toul und Verdun unter französischer Herrschaft (1552–1648) (Pariser Historische Studien 73), München 2006. 3 4 Exemplarisch untersucht die Protektionspolitik Richelieus am Beispiel des Elsass die umfassende Studie von Wolfgang H. Stein, Protection Royale. Eine Untersuchung zu den Protektionsverhältnissen im Elsaß zur Zeit Richelieus 1622–1643 (Schriftenreihe der Ver 3 0

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e­ inerseits die kriegsintensivste Phase der Frühen Neuzeit, andererseits die Epoche aktiver Staatsbildungsprozesse, aber noch nicht ausgebildeter Staatlichkeit, stellte überhaupt den Höhepunkt von Protektions- und Schutzpolitik dar.35 Im Dreißigjährigen Krieg griffen sowohl Christian IV. von Dänemark als auch Gustav II. Adolf von Schweden als Schutzherren ständischer Sicherheit und Freiheit gegen den Kaiser zu den Waffen.36 Ludwig XIII. erklärte 1635 dem spanischen König Philipp IV. den Krieg mit dem altbekannten Vorwurf der Universalmonarchie und konkret zum Schutz des von spanischen Truppen gefangen genommenen Kurfürsten von Trier.37 Das letzte große Ereignis, bei dem Reichsstände sich auf französischen Schutz einließen, war der Rheinbund von 1658.38 Künftig aber war für die Stände der französische König eine größere Bedrohung ihrer Sicherheit als der Kaiser, so dass sie schließlich 1686 in der Augsburger Liga „Sicherheit und Beschützung dieser getreuer Stände“ gegen Ludwig XIV. in die Hände Leopolds I. legten.39 Tatsächlich war die französische Sicherheitspolitik allerdings schon während der Minderjährigkeit Ludwigs XIV., während der Regierung Kardinal Mazarins, auf neue Grundprinzipien umgeschwenkt: weg von vormoderner Protektionspolitik, die sich mit Sicherheitsplätzen zufrieden gab, weg auch von Richelieus Plänen

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einigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V. 9), Münster 1978. Für Italien siehe Sven Externbrink, Le Coeur du Monde. Frankreich und die norditalienischen Staaten (Mantua, Parma, Savoyen) im Zeitalter Richelieus 1624–1635, Münster 1999. Zur frühneuzeitlichen Protektionspolitik allgemein siehe Anuschka Tischer, Protektion, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 10, Stuttgart/Weimar 2009, Sp. 471–174. Christian IV. von Dänemark erklärte Ferdinand II. 1625 in einem öffentlichen Schreiben, dass sein militärisches Vorgehen im Niedersächsischen Reichskreis „allein zur Versicherung des Crayses“ geschehe, dass jegliches Vorgehen des Kaisers gegen ihn hingegen eine „der Teutschen libertet schnurstracks zu wider lauffende Procedur“ sei; Michael C. Londorp, Der Römischen Kayserlichen Majestät Und Deß Heiligen Römischen Reichs Geist- und Weltlicher Stände / Chur- und Fürsten / Grafen / Herren und Städte Acta Publica […], Teil 3, Frankfurt a. M. (Johann Baptist Schönwetter) 1668, S. 822. Zur schwedischen Kriegsbegründung siehe Pärtel Piirimäe, Just War in Theory and Practice. The Legitimation of Swedish Intervention in the Thirty Years War, in: HJ 45 (2002), S. 499–523. Zur langfristigen französischen Protektionspolitik gegenüber Kurtrier siehe Hermann Weber, Frankreich, Kurtrier, der Rhein und das Reich 1623–1635 (Pariser Historische Studien 9), Bonn 1969. Zur Begründung der französischen Kriegserklärung von 1635 siehe: ders, Zur Legitimation der französischen Kriegserklärung von 1635, in: HJb 108 (1988), S. 90–113. Sowie: Randall Lesaffer, Defensive Warfare, Prevention and Hegemony. The Justifications for the Franco-Spanish War of 1635, in: Journal of the History of International Law 8 (2006), S. 91–123 und 141–179. Zum Rheinbund von 1658 siehe das ausführliche Dokumentationsportal des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, URL: http://www.historicum.net/themen/ersterrheinbund-1658 (4. März 2012). Jean DuMont, Corps Universel Diplomatique du Droit des Gens, Bd. VII, 2, Amsterdam/ Den Haag 1731, S. 131.

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eines europäischen Ligasystems zur Friedensgarantie, hin zu geostrategischen Sicherheitskonzepten.40 Doch es war nicht nur die veränderte Sicherheitspolitik des traditionellen Protektors, die diese Wende brachte. Die Schutz- und Protektionspolitik hatte systemimmanente Schwächen, die sie als langfristiges Sicherheitskonzept unbrauchbar erscheinen ließen: Zum einen war sie auf Ungleichheit zwischen den politischen Akteuren angelegt. Zum anderen zeigt das Beispiel der französischen Protektionspolitik beginnend bei Metz, Toul und Verdun, dass Schutz und Protektion in letzter Instanz in institutionalisierte Herrschaft mündeten. Damit beförderte die Schutz- und Protektionspolitik im Ergebnis das, was sie als Sicherheitskonzept mit der Universalmonarchie verhindern wollte. Mit dem Westfälischen Frieden begann unter dem Schlagwort der „Assecuratio pacis“ eine immer intensivere Suche nach kollektiven Sicherungssystemen und Sicherheitsgarantien, die weniger einen abstrakten Frieden im Allgemeinen als vielmehr den jeweils konkreten, geschlossenen Frieden sichern sollten.41 Daneben standen allerdings auch weiterhin kriegsfördernde systemische Sicherheitsvorstellungen. Freiheit war dabei nicht nur für das Heilige Römische Reich ein Kernbegriff politischer Kommunikation: Von der Freiheit Italiens, über die Libertät der Reichsstände, von der Freiheit der Meere und des Handels bis hin zur Freiheit Europas wurde mit diesem Begriff immer wieder neu – und immer wieder anders – argumentiert, immer wieder aber in dem Sinne, dass mit der jeweiligen Freiheit die allgemeine Sicherheit bedroht schien. Doch Freiheit war nicht nur aufgrund der Instrumentalisierbarkeit dieses weitgehend abstrakten Begriffs ein problematischer politischer Leitbegriff. So zeigte die Diskussion um die Freiheit der Meere rasch, dass völlige Freiheit auch Schutzlosigkeit bedeutete. Dem – bis in die Gegenwart aktuellen – Problem der Piraterie wurden in der Frühen Neuzeit konsequenterweise Ansprüche auf Seeherrschaft entgegengehalten, weil nur Herrschaft Schutz zu gewähren schien.42 Einmal mehr zeigte sich, dass Freiheit, Herrschaft und Schutz nicht als absolute Gegensatzbegriffe konstruiert werden konnten, sondern in ein ausbalanciertes System zueinander gebracht werden mussten. Was subjektiv als Sicherheitsbedrohung empfunden wurde, variierte zudem. Die Angst vor der Universalmonarchie war mitnichten die einzige, welche die politischen Akteure umtrieb: Nicht von ungefähr kommt Betrand Haan in der jüngst vorgelegten, ersten umfassenden Studie zum Frieden von Cateau-Cambrésis von 1559 zu dem Ergebnis, dieser Friede sei von Philipp II. und Heinrich II. 4 0

Anuschka Tischer, Französische Diplomatie und Diplomaten auf dem Westfälischen Friedenskongreß: Außenpolitik unter Richelieu und Mazarin (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V. 29), Münster 1999, S. 292. 41 Siehe dazu jetzt Guido Braun (Hrsg.), Assecuratio pacis. Französische Konzeptionen von Friedenssicherung und Friedensgarantie 1648–1815 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V. 35), Münster 2011. 42 Siehe dazu Tischer, Kriegsbegründungen (wie Anm. 6), S. 189–208.

Sicherheit in Krieg und Frieden

durchaus auf Langfristigkeit angelegt gewesen43, verdanke seine Langfristigkeit mithin nicht erst der folgenden inneren Krise Frankreichs. Laut Haan sahen der spanische und der französische König nämlich die weitaus größere, neue Bedrohung darin, dass die Protestanten sich immer weiter ausbreiteten. Dies habe beide Herrscher zur Revision ihrer vormaligen politischen Prioritäten veranlasst. Die Frühe Neuzeit war in der Tat eine Epoche pluraler Sicherheitsbedrohungen. Die Ordnung war an vielen Stellen im europäischen Herrschaftsgefüge zerbrochen, und die daraus resultierenden Veränderungen und Neuordnungen konnten stets neue und variierende Unsicherheiten bzw. Wahrnehmungen von Unsicherheit produzieren. Neben den Habsburgern und Spanien, neben ­Ludwig XIV., neben Anderskonfessionellen und natürlich Andersgläubigen wie den Osmanen empfanden zum Beispiel die politischen Akteure etablierter Monarchien Republiken als Bedrohung. Dies galt insbesondere dann, wenn reiche Handelsrepubliken durch ihre Wirtschaftskraft auch zu politischen und insbesondere militärischen Mächten aufstiegen und vermeintlich auch ihre andere Art zu herrschen verbreiten oder schlicht Herrschaft über andere ausüben wollten. Venedig wurde bereits am Beginn der Neuzeit vorgeworfen, die „Christliche Freyheit“ zu bedrohen und dieser Vorwurf wurde langfristig immer wieder wiederholt.44 Gegen die Niederlande wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Vorwurf erhoben, eine der Universalmonarchie vergleichbare „universal democratia“ errichten zu wollen.45 Später im Jahrhundert war es die Angst vor der niederländischen Handelsdominanz, die vor allem englische Politiker umtrieb.46 So plural wie die Sicherheitsbedrohungen waren folglich auch die Sicherheitskonzepte, und neben diversen Entwürfen in und für Europa gab es auch isolationistische Ansätze, die davon ausgingen, die Sicherheit des eigenen Herrschaftsgebietes könne nur durch eine Abschottung von anderen Mächten und ein Heraushalten aus der europäischen Politik erreicht werden: In Russland folgte der sogenannten Zeit der Wirren (Smuta) und dem als katastrophal empfundenen Eingreifen europäischer Mächte in die russische Politik zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine solche jahrzehntelange Abschottung, die erst unter Zar Peter I. wieder überwunden wurde.47 In England bzw. Großbritannien war die Frage, ob 4 3

Siehe Anm. 20. Siehe dazu die in Anm. 9, zitierte Rede eines französischen Botschafters von 1510, die 1618 im Rahmen eines habsburgischen Krieges wieder aufgelegt wurde, hier S. 38. 4 5 Karl Nolden, Die Reichspolitik Kaiser Ferdinands II. in der Publizistik bis zum Lübecker Frieden 1629. Diss. phil., Köln 1958, S. 122f. 4 6 Siehe dazu Onnekink, The ideological context (wie Anm. 25), S. 133f. Zur gegenseitigen misstrauischen Wahrnehmung von „Kaufleuten und Fürsten“ siehe Gabel/Jarren, Kaufleute (wie Anm. 5). 47 Günther Stökl, Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 4. Aufl. Stuttgart 1983, S. 293f. Für eine ausführliche Darstellung der Zeit der Wirren siehe Chester S. L.

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man Europapolitik betreiben oder aber sich um der eigenen Sicherheit willen isolieren und gegebenenfalls eine alternative Hochsee- und Handelspolitik verfolgen solle, über Jahrhunderte Gegenstand außenpolitischer Richtungsdebatten.48 Innerhalb der europäischen Politik brachte der Kampf gegen die Universalmonarchie allerdings immer neue Konzepte hervor, die sich auf das Ganze des Herrschafts- bzw. Staatensystems bezogen. Das europäische Gleichgewicht im 18. Jahrhundert war keine Balance aller, sondern eine Balance der Großmächte. Auch die Gleichheit aller Akteure war etwas, das sich erst allmählich als Norm und noch weitaus später als internationale Praxis durchsetzte.49 Das ständige Miteinander aller aber erwies sich schließlich als das zukunftsweisende Sicherheitsinstrument: Ständige Diplomatie und modernes Völkerrecht haben hier ihren Ursprung als Basis einer heute nicht nur europäischen, sondern globalen Sicherheitsarchitektur. Bereits in der frühneuzeitlichen Völkerrechtsliteratur war die Völkergemeinschaft universal konzipiert50, auch wenn das Völkerrecht faktisch durchaus als Instrument kolonialer Interessen genutzt wurde.51 Das universale Völkerrecht war insgesamt das positive Ergebnis der frühneuzeitlichen Suche nach Sicherheit und der frühneuzeitlichen Auseinandersetzungen um Ordnung und Sicherheit.52 Die Idee einer Universalmonarchie scheiterte zwar bereits im Ansatz, die universale Konzeption aber erwies sich als durchaus zukunftsweisend, weil ein reiner Partikularismus kaum Sicherheitsperspektiven bot und bietet.53

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Dunning, Russia’s First Civil War. The Time of Troubles and the Founding of the Romanov Dynasty, University Park/PA 2001. Daniel A. Baugh, Great Britain’s Blue-Water Policy, 1689–1815, in: International History Review 10 (1988), S. 33–58; Steve Pincus, Absolutism, ideology and English foreign policy. The ideological context of Robert Molesworth’s Account of Denmark, in: Onnekink/ Rommelse (Hrsg.), Ideology and Foreign Policy (wie Anm. 4), S. 29–54, hier S. 37. Dies zeigen verschiedene Beiträge auch für das 19. Jahrhundert in: Hillard von Thiessen/ Christian Windler (Hrsg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel (Externa – Geschichte der Außenbeziehungen in neuen Perspektiven 1), Köln 2010. Heinz G. Justenhoven, Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden (Theologie und Frieden 5), Köln 1991, S. 62–64. Siehe dazu verschiedene Beiträge in: Olaf Asbach/Peter Schröder (Hrsg.), War, the State and International Law in Seventeenth-Century Europe, Farnham 2010. Vgl. dazu auch grundlegend: Heinhard Steiger, Ius bändigt Mars. Das klassische Völkerrecht und seine Wissenschaft als frühneuzeitliche Kulturerscheinung, in: Ronald G. Asch/Wulf E. Voß/Martin Wrede (Hrsg.), Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, München 2001, S. 59–85. Vgl. dazu auch Christoph Kampmann, Universalismus und Staatenvielfalt. Zur europäischen Identität in der Frühen Neuzeit, in: Jörg A. Schlumberger/Peter Segl (Hrsg.), Europa – aber was ist es? Aspekte seiner Identität in interdisziplinärer Sicht (Bayreuther Historische Kolloquien 8), Köln/Weimar/Wien 1994, S. 45–76.

SEKTION II · Politische Sicherheitssysteme vom 16.–19. Jahrhundert: Instrumente, Techniken, Regeln für die Herstellung von Sicherheit – und Frieden?

Reinhard Stauber

Einführung I. Sicherheit als Forschungsthema

„Sicherheit“, ein „Schlüsselbegriff der modernen politischen Sprache“1, ist im Begriff, sich als wichtige erkenntnisleitende Kategorie der Geschichtswissenschaft zu etablieren;2 die neueste Bilanz zum Thema sieht in der „Sicherheitsforschung ein längst breit etabliertes Feld“ und vermittelt Anstöße für eine „allgemeinere[n] Sicherheitsgeschichte“.3 Als basale Dimension der conditio humana bringt „Sicherheit“ (wie ­„Ver­trauen“, „Angst“, „Krise“ oder „Risiko“) eine Erwartung an die Zukunft auf der Basis ­einer als unsicher perzipierten Gegenwart zum Ausdruck.4 Sinnvolle Bezüge als Thema historischer Forschung ergeben sich von daher auf den Gesamt­ bereich des menschlichen Lebens: Naturkatastrophen, Lebensbewältigung und Daseinsvorsorge, Sozialpolitik, Rechtsgarantien, um nur einige zu nennen.5 Die konkrete „Herstellung“ von Sicherheit begann mit dem Aufbau eines institutionalisierten Versicherungswesens zur Verminderung des Risikos im Seeverkehr des Mittelmeerraums im 14. Jahrhundert.

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Christoph Kampmann/Christian Mathieu, Sicherheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11, Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 1143–1150, Zitat Sp. 1143. Siehe den Tagungsbericht von Maria-Elisabeth Brunert: Sicherheit in der Vormoderne und Gegenwart. Aktuelle Perspektiven der Konflikt- und Friedensforschung. 15. 11. 2012, Düsseldorf, in: H-Soz-u-Kult, 02. 02. 2013, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4615 (10. 02. 2013). Cornel Zwierlein, Sicherheitsgeschichte. Ein neues Feld der Geschichtswissenschaften, in: GG 38 (2012), S. 365–386; mit zahlreichen Literaturhinweisen, Zitate S. 365, 381. Kampmann/Mathieu, Sicherheit (wie Anm. 1), Sp. 1144. Zu diesen Aspekten vgl. zuletzt Cornel Zwierlein u. a. (Hrsg.), Sicherheit und Krise. Inter­ disziplinäre Beiträge der Forschungstage 2009 und 2010 des Jungen Kollegs der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Paderborn u. a. 2012.

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In der Analyse der internationalen Beziehungen durch die Wissenschaft von der Politik und die Völkerrechtslehre war die Sicherheitspolitik im Zeichen der Spaltung der Welt in zwei große Machtblöcke eines der großen Themen der Nachkriegsepoche nach 1945. Angesichts der fortschreitenden Entkopplung von Staat und Kriegführung haben sich als Maßstäbe neuer Sicherheitspolitik inzwischen die Asymmetrie der „neuen Kriege“ und Kategorien wie Vulnerabilität und Resilienz etabliert. Versteht man unter Sicherheit das Bereitstellen wirksamen Schutzes für unterschiedliche Personengruppen mit dem Ziel erfolgreicher Begründung legitimer Herrschaft, so rückt, ohne Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Sphäre, zwischen Innen- und Außenpolitik, die erfolgreiche Gewährung von Leben und Besitz unterschiedlich ausgedehnter Personengruppen in den Mittelpunkt.6 Für frühere Epochen gab es dabei eine Vielfalt „konkurrierender Anbieter von Sicherheit und Schutz“,7 bis die Bereitstellung von Sicherheit und das Bringen von Schutz im 19. Jh. auf Ebene des Einzelstaats monopolisiert wurde. Blickt man mit konkretem Fokus auf die aktuelle Arbeit an Themen der Internationalen Geschichte, wie sie der Band von Jost Dülffer und Wilfried Loth vorführt, so spielt das Thema „Sicherheit“ eine zentrale Rolle für viele der dort vermessenen „Dimensionen“ einer systemischen Sicht der trans- und internationalen Politik:8

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So der Ansatz von Harald Kleinschmidt, Legitimität, Frieden, Völkerrecht. Eine Begriffsund Theoriegeschichte der menschlichen Sicherheit (Beiträge zur Politischen Wissenschaft 157), Berlin 2010, S. 19–104. 7 Ebd., S. 21. 8 Jost Dülffer/Wilfried Loth (Hrsg.), Dimensionen internationaler Geschichte (Studien zur internationalen Geschichte 30), München 2012. Zum systemischen Aspekt vgl. etwa: ­Andreas Osiander, The states system of Europe, 1640–1990. Peacemaking and the conditions of international stability Oxford 1994; Matthew S. Anderson, The origins of the modern European state system, 1494–1618, London 1998; Barry Buzan/Richard Little, International systems in world history. Remaking the study of international relations, Oxford 2000; Anselm Doering-Manteuffel, Internationale Geschichte als Systemgeschichte. Strukturen und Handlungsmuster im europäischen Staatensystem des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten (Studien zur Internationalen Geschichte 10), München 2000, S. 93–115; ­Eckart ­Conze, Jenseits von Männern und Mächten. Geschichte der internationalen Politik als Systemgeschichte, in: Hans-Christof Kraus/Thomas Nicklas (Hrsg.), Geschichte der Politik. Alte und Neue Wege (Historische Zeitschrift Beihefte 44), München 2007, S. 41–64; ebenso die sieben seit 1997 erschienenen Bände des von Heinz Duchhardt und Franz Knipping herausgegebenen „Handbuchs der Geschichte der internationalen Beziehungen“.

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Das begriffliche Modell der „Weltordnung“ erlaubt die Kombination eines strukturgeschichtlichen Zugangs zur Außenpolitik mit den normativen und ideengeschichtlichen Grundlagen der internationalen Beziehungen.9 Eine weit gefasste Begrifflichkeit erfasst internationale Institutionen als „Orte der Aushandlung von Normen und der Regulierung von Interessenkonflikten“, in denen Ordnungsleistungen auf zwischenstaatlicher Ebene erbracht werden, die „nach annähernd geregelten Verfahren“ abrufbar sind.10 Im Spannungsverhältnis zwischen dem Aufbau kollektiver Regulierungsund Sicherheitssysteme und den Interessen globaler oder regionaler Hege­ monialmächte schlägt sich die Sonderstellung einiger weniger, durchsetzungsstarker Großmächte in Gestalt direktorialer Strukturprinzipien vom „Europäischen Konzert“ des 19. Jahrhunderts bis in die Verfassung des heutigen UN-Sicherheitsrats nieder. Die Suche nach der langwierig auszuhandelnden, einigermaßen praktikablen Verbindung von Macht und Recht im Völkerrecht war und ist gekennzeichnet von scharfen Divergenzen zwischen appellativem Charakter und Durchsetzungschancen einerseits, unterschiedlichen Abrufmöglichkeiten in unterschiedlichen globalen Ordnungsräumen andererseits.11 Auseinandersetzungen, die als „Krieg im Frieden“ (Jürgen Osterhammel) infolge eines mit (angeblichen) Not- und Zwangslagen begründeten Rechts bestimmter „Spieler“ im System zu „humanitärer“ Intervention entstanden und entstehen, haben in letzter Zeit besondere Beachtung gefunden12, ebenso

Jürgen Osterhammel, Weltordnungskonzepte, in: Dülffer/Loth (Hrsg.), Dimensionen (wie Anm. 8), S. 409–427. 10 Matthias Schulz, Internationale Institutionen, in: Dülffer/Loth (Hrsg.), Dimensionen (wie Anm. 8), S. 211–232, hier S. 212, 215. 11 Jörg Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 26), Stuttgart 1984; Olaf Asbach, Die Zähmung der Leviathane. Die Idee einer Rechtsordnung zwischen Staaten bei Abbé de Saint-­Pierre und Jean-Jacques Rousseau (Politische Ideen 15), Berlin 2002; Ulrich Lappenküper/Reiner Marcowitz (Hrsg.), Macht und Recht. Völkerrecht in den internationalen Beziehungen (Otto-von Bismarck-Stiftung, Wiss. Reihe 13), Paderborn 2010. 12 Dieser Aspekt gewinnt zunehmendes Interesse; vgl. Jürgen Osterhammel, Krieg im Frieden. Zu Form und Typologie imperialer Interventionen, in: ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 147), Göttingen 2001, S. 283–321; ­Ingeborg Kreutzmann, Missbrauch der humanitären Intervention im 19. Jahrhundert, Glücksburg 2006; Gary J. Bass, Freedom’s battle. The origins of humanitarian intervention, New York 2008; Mark Swatek-Evenstein, Geschichte der „Humanitären Intervention“ (Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte 8), Baden-Baden 2008; Miloš Vec, Intervention / Nichtintervention. Verrechtlichung der Politik und Politisierung des Völkerrechts im 19. Jahr-

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die Anwendung von Kategorien wie Angst, Risikoperzeption oder Ver­ trauensbildung bei der Analyse des internationalen Systems, wie sie etwa der (neo-)realistischen Schule stets vertraut waren.13

Gerade in systemischer Sicht und in der Perspektive der Geschichtswissenschaft wie des Völkerrechts bleiben die Zusammenhänge zwischen „Sicherheit“ und „Krieg / Frieden“ eng:14 Der Friede ist universale Norm und in Verträgen festgeschriebener Wunschzustand, Sicherheit markiert räumlich, zeitlich oder kategorial begrenzte Umsetzungsmaßnahmen dieser Norm. Freilich waren das Fehlen von Krieg, der Status der Konfliktfreiheit nicht notwendigerweise deckungsgleich mit der Perzeption der beteiligten Akteure, es sei ein ausreichendes Maß an politisch-militärischer Sicherheit gegeben.15 Deshalb kann eine „Historische Friedensforschung“, wie sie eben unter Leitung von Maximilian Lanzinner an der Universität Bonn institutionalisiert wurde, zentrale Beiträge zu einer „Geschichte der Sicherheit“ leisten. Die von Leibniz 1670 unterschiedenen Bereiche der (in heutigen Termini) „äußeren“ und „inneren“ Sicherheit („securitas publica interna et externa“)16 fanden schon im frühmodernen Territorialstaat unterschiedliche institutionelle Ausprägung (Militär und Diplomatie bzw. „Polizei“). Angesichts der Dauerpräsenz des Krieges als legitimes Mittel der Politik und der geringen Verbindlichkeit der Friedensschlüsse waren die Fortschritte bei der Herstellung verlässlicher Regelwerke im Inneren dabei rascher und sichtbarer als im hochgradig fragilen Bereich der äußeren, interstaatlichen Sicherheit. Trotzdem bleiben Aspekte der inneren oder äußeren Sicherheit und ihr Einfluss auf das Handeln der Akteure des internationalen Systems bis heute eng gekoppelt, wie ein Blick auf so unterschiedliche Ausprägungsformen wie Erbfolgekriege, Aufrüstungsmechanismen

hundert, in: Lappenküper/Marcowitz (Hrsg.), Macht und Recht (wie Anm. 11), S. 135–160 sowie, stärker historisch im Zugriff: Brendan Simms/D.J.B. Trim (Hrsg.), Humanitarian intervention. A history, Cambridge 2011. 13 Wilfried Loth, Angst und Vertrauensbildung, in: Dülffer/Loth (Hrsg.), Dimensionen (wie Anm. 8), S. 29–46. 14 Vgl. etwa Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses (Sprache und Geschichte 3), Stuttgart 1979; Richard Tuck, The rights of war and peace. Political thought and the international order from Grotius to Kant, Oxford 1999; Christof Kampmann, Gleichheit – Gleichgewicht – Dynastie. Leitvorstellungen europäischer Friedensverträge im Wandel, in: ders. u. a. (Hrsg.), L’art de la paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 34), Münster 2011. S. 361–388. 15 Kampmann/Mathieu, Sicherheit (wie Anm. 1), Sp. 1146–1149, 16 Ebd., Sp. 1146; vgl. dazu Zwierlein, Sicherheitsgeschichte (wie Anm. 3), S. 369f.

Einführung

oder die Berufung auf ein angebliches Interventionsrecht zeigt, die sämtlich schon im 18./19. Jh. eine Rolle spielten und bis heute spielen. Souveränität, Territorialität und Nicht-Intervention der Akteure als Grundlagen eines für die Neuzeit angeblich typischen „Westfälischen Systems“ tragen deutliche Züge idealtypischer Modellkonstruktionen durch die jüngere Politik­ wissenschaft.17 Dagegen wird die „Wiener Ordnung“ des internationalen Systems von 1815 mit ihrem Übergang von Interessenegoismen zu kooperativen Mustern ganz überwiegend als realhistorische Zäsur interpretiert; „die drei längsten Friedensphasen im System der Großmächte erstreckten sich in den Jahren nach 1815.“18 Die Voraussetzung dafür war mindestens eine doppelte: Der normative Konsens in der „Generation Metternich“, Hegemonie und Expansionswillen als strukturelle Kriegsgründe zurückzudrängen, bildete sich ab in einem koopera­tiven Politikstil neuer Qualität.19 Damit einher ging ein Gestaltwandel der Diplo­ matie mit stärkerer Orientierung an gemeinsamen Interessen innerhalb der Sphäre gleichgestellter Akteure, aber auch der Selbstermächtigung zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten mindermächtiger Staaten. Die zweifache Herstellung des europäischen Friedens wurde 1814/15 gekoppelt mit institutionell gebundenen Regelwerken, formalen Bündnissen und vor allem dem Willen der vier Großmächte zum Konsens, der sich auch auf die Einbindung Frankreichs, Schwedens und der iberischen Mächte in einer nachgeordneten, aber zur Mitsprache berechtigten Rolle auf dem Wiener Kongress bezog. So entstand das „Europäische Konzert“ als System des Konfliktmanagements mit der Selbstermächtigung/Selbstverpflichtung der Großmächte, als eine Art „Sicherheitsrat“ zur Sicherstellung eines konkreten normativen Anspruchs zu fungieren: der Wahrung des Friedens.20 Auch das Konzept der „Sicherheit“ begegnet 1815 als konkrete Vorsichtsmaßnahme in der Festsetzung des Zweiten Pariser Friedens, die Ostgrenze Frankreichs für drei bis fünf Jahre militärisch zu besetzten, um „la sûreté des Ètats voisins“ zu garantieren.21 17 18

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Duchhardt, Heinz: „Westphalian System“. Zur Problematik einer Denkfigur, in: HZ 269 (1999), S. 305–315. Jörg Echternkamp, Krieg, in: Dülffer/Loth (Hrsg.), Dimensionen (wie Anm. 8), S. 9–28, hier 11. Vgl. Paul W. Schroeder, The transformation of European politics, 1763–1848, Oxford 1994, S. vii, 579f; Wolfram Pyta, Konzert der Mächte und kollektives Sicherheitssystem: Neue Wege zwischenstaatlicher Friedenswahrung in Europa nach dem Wiener Kongreß 1815, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1996, S. 133–173; Matthias Schulz, Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, 1815–1860 (Studien zur Internationalen Geschichte 21), München 2009, S. 46–72. Wolfram Siemann, Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne, München 2010, S. 72f. Schulz, Normen und Praxis (wie Anm. 18), S. 2f. [Angeberg, Comte d’ [Chodźko. Léonard]], Le Congrès de Vienne et les traités de 1815. Avec une introduction historique par M. Capefigue, Tome quatrième, Paris 1864, S. 1599; den Hinweis verdanke ich Gabriele Haug-Moritz.

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II. Politische Sicherheitssysteme vom 16. – 19. Jahrhundert

Das Rahmenargument und seine thematische Auffächerung in den folgenden Aufsätzen verstehen sich als Beitrag zu einer Systemgeschichte der Internationalen Politik der Neuzeit und damit auch als Reverenz an den Forschungsstandort Marburg, von dem hierzu wichtige Impulse ausgegangen sind und weiter ausgehen. Im Fokus der themenbezogenen Arbeit stehen quellengestützte Befunde zur Existenz eines außenbezogenen Konzepts von „Sicherheit“ sowie die systemische Ausprägung und Qualität des Bedürfnisses nach Sicherheit bzw. ihrer Garantie, sei es als machtpolitisch gestaltetes Faktum, im Rahmen bi- und multilateraler Abkommen oder aufgrund engerer Bezüge zwischen Außen- und Innenpolitik. Den geographischen Rahmen liefern drei politische Ordnungsräume: das Alte Reich im 16./17. Jahrhundert, das chinesische Imperium in der Transformation von der Ming- zur Mandschu-Dynastie, schließlich das europäische Staatensystem des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wirkten, wie Maximilian Lanzinner darlegt, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts drei Prinzipien politischer Sicherheit: dynastische Vernetzung und konkrete Kontakte zum Beispiel über Gesandte, Verträge in der Form von Bündnissen und Erbeinungen und schließlich die wachsende „Verfasstheit“ des Reichsverbandes selbst ab 1495. Lanzinner interpretiert diesen letzteren Prozess nicht in der überkommenen Terminologie Peter Moraws („Verdichtung“) oder Heinz Angermeiers („Reichsreform“), sondern, in Anlehnung an die Auffassung Georg Schmidts, als Aufbau frühmoderner Staatlichkeit auch auf der Ebene des Reichs – mit dem expliziten Ziel, Sicherheit herzustellen.22 Mit der Exekutionsordnung von 1555 sei dieses Ziel im Prinzip erreicht worden, freilich nicht in Form eines beständigen, zentralen Organs, sondern als eine Art „ad hoc-Exekutive“, die von den Reichsständen über die Kreise kontrolliert wurde. Genau damit sei ein charakteristisches Merkmal jener bündischen Organisationsmuster fortgeführt worden, die im Reichsverband zwischen 1488 und 1635 durchgängig präsent gewesen seien. Lanzinner unterscheidet nach dem Zweck der Vereinigung zwischen Landfriedensbünden älteren und Sonderbünden neueren Typs, wobei er sicherheitsbezogene Motive bis hin zu den konfessionellen Bündnissen der Jahre 1608/09 gegeben sieht. Die epochemachende Grundform lieferte der Schwäbische Bund (1488–1534) mit seiner ständeübergreifenden Mitgliederstruktur, seinen beständigen Institu 2 2

Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter 1250 bis 1490 (Propyläen Geschichte Deutschlands 3); Berlin 1985; Heinz A ­ ngermeier, Die Reichsreform 1410–1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984; Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999.

Einführung

tionen, seiner ausgefeilten Verfahrensordnung und seiner militärischen Wirksamkeit. Gerade an diesem Beispiel lässt sich die Verbindung von Entstehung und Institutionalisierung der Bünde mit dem genossenschaftlichen Politikmodell des Spätmittelalters mit seinem Gedanken der Selbstverpflichtung gut greifen. Deswegen und wegen ihrer zeitlichen Befristung mussten, so Lanzinner, die Bünde gegenüber der Staatlichkeit des Reiches und vor allem der Territorien zurückbleiben. Zweck der Bünde waren Unterstützung und Flankierung, nicht Ersatz für die Institutionen des Reichs, und so führte die „ad hoc-Exekutive“ von 1555 ein charakteristisches Merkmal aller Bünde weiter, die ständische Exklusivität nämlich ohne Beteiligung des Reichsoberhaupts. Durch ihre Beteiligung an der Exekutive wollten die Stände das Reich gerade soweit gestärkt sehen, dass es die Sicherung ihrer eigenen politischen Autonomie gewährleisten konnte. Für das chinesische Kaiserreich bedeutete, wie Sabine Dabringhaus im vergleichenden Blick auf einen wichtigen außereuropäischen Fall darlegt, die Herrschaftsübernahme durch die mandschurische Qing-Dynastie 1644 eine deutliche Zäsur in der Definition und in der Ausgestaltung imperialer Sicherheitspolitik. Bis dahin hatte sich der Alleinherrschaftsanspruch des Kaisers „unter dem Himmel“ in asymmetrischen Tributbeziehungen des Kaisers zu anderen Völkern ausgestaltet, zu deren Inventar auch Heiratsallianzen, der regelmäßige und genau formalisierte Empfang von Gesandten am Kaiserhof, die Stellung von Geiseln und Vereinbarungen zum Güteraustausch gehörten, nicht aber Bündnisse oder Friedensgarantien. In der Mandschu-Epoche entstand ein sino-mandschurisches Vielvölkerimperium, das Züge eines „composite empire“ anzunehmen begann. Die QingKaiser selbst setzten ihrer Anpassung an die han-chinesische Kultur deutliche Grenzen und pflegten bis in das späte 18. Jahrhundert ein doppeltes ­Image als Kaiser und Khane. Die Beziehungen zu den Grenzvölkern wurden durch die Banner-Ordnung des Heeres und die Einrichtung eines eigenen Ministeriums für die sukzessive eroberten innerasiatischen Regionen („Lifanyuan“) ein institutioneller Teil imperialer Politik. Gezielt wechselnde Bündnisse, die Eingrenzung und Auskreisung von Gegnern sowie Militäraktionen wurden eingesetzt, um eine langfristige, institutionell verankerte Integration der mongolischen Stämme in das Qing-Imperium zu sichern. Imperiale Integration bedeutete auch im Fall Qing-Chinas gerade nicht die Aufhebung ethnischer Differenzen, auch nicht den Verzicht auf die Kooperation mit einheimischen Machthabern (etwa den Führern des tibetischen Lamaismus) oder auf die Loyalität der lokalen Eliten. Im Vergleich zu den europäischen Entwicklungen ist festzuhalten, dass im Fall Chinas „Sicherheit“ als Leitkonzept der nach außen gewandten, zwischenstaatlichen Politik erst spät eine Rolle spielte. Von den europäischen Mächten wurde im 17./18. Jahrhundert nur das russische Zarenreich – wegen der langen gemeinsamen Grenze – als gleichberechtigter

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Verhandlungspartner anerkannt (Grenz- und Handelsverträge von Nertschinsk 1689, Kjachta 1727). Den Kontakt mit den westlichen Seemächten suchte der Hof von Beijing bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in die überkommenen Perzeptionen tributärer Beziehungen einzufügen. Die Beiträge zu den sicherheitspolitischen Dimensionen des europäischen Systems im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert knüpfen in unterschiedlicher Weise an Paul W. Schroeders These von der „Transformation“ der europäischen Politik zwischen 1763 und 1848 (mit dem entscheidenden Angelpunkt 1814/15) vom kompetitiven, kriegsbereiten Gleichgewichts- zum stabilen, friedensorientierten „Konzert“-System an.23 Sven Externbrink konstatiert zunächst eine relativ große Stabilität des europäischen Staatensystems schon zwischen 1763 und 1792 sowie einen in Richtung Deeskalation und Konfliktvermeidung weisenden Trend; nicht umsonst seien die kompromissorientierten Politiker der „Generation Metternich“ in dieser Phase politisch geprägt worden. Der Beginn der Revolutionskriege und die französische Expansion seien demgegenüber eher als ein „Rückfall“ in die Kategorien der Macht- und Expansionspolitik des 17. Jahrhunderts zu werten. Externbrink verweist auf das Bild von Europa als politischem System mit einem gemeinsamen Regelwerk, wie es die französische Staatstheorie im Gefolge des Abbé de Saint-Pierre in der Überzeugung herausarbeitete, ein machtpolitisch geprägtes „Gleichgewicht“ sei für sich kaum geeignet, Sicherheit und Frieden zu gewährleisten. Als unlösbares Problem erwiesen sich dabei freilich Verpflichtung und Verpflichtbarkeit der Akteure auf gemeinsame Normen, deren organisatorische Ausgestaltung und vor allem die Exekution im Konfliktfall. Angesichts des Fehlens einer umfassend bevollmächtigten Zentralinstanz oder eines entsprechend engmaschigen Vertragssystems blieben nur Appelle wie jener des Merkantilisten Guillaume-François Le Trosne (1728–1780), die Normen für das außenpolitische Handeln der Monarchen zu verändern, Mäßigung (modération) anstelle von Ruhm (gloire), Status quo anstelle von Expansion treten zu lassen. Den Verträgen, dem zwischenstaatlichen Kitt des politischen Systems Europa, geht Katja Frehland in einer Zusammenfassung ihrer begriffsgeschichtlichen Befunde zur Relevanz und lexematischen Abspiegelung von „Sicherheit“ in den Texten der 77 zwischen 1713 und 1814 abgeschlossenen, weit überwiegend bilateralen Bündnisverträgen nach.24 Eine erste Phase 1714–1739 zeigt sich geprägt von häufigen Wechseln und Brüchen von Bündnisverträgen; die zunehmend häufiger eingebaute Bestimmung einer Erstreckung auf die Erben und Nachfolger der bündnisschließenden Dynasten sollte dieser Tendenz entgegen wirken. 2 3 24

S. o. Anm. 18. Vgl. Katja Frehland-Wildeboer: Treue Freunde? Das Bündnis in Europa 1714–1914 (Studien zur Internationalen Geschichte 25), München 2010.

Einführung

Der Erfahrungshorizont der interterritorialen Politik ließ auch 1740–1788 die Skepsis überwiegen, ob Bündnisse überhaupt berechenbare Sicherheit vermitteln könnten. Immerhin finden sich nun mehr Verweise auf gemeinsame Interessen und teilweise, so in den Absprachen zwischen Österreich und Frankreich 1756, eine deutlich erhöhte Regelungstiefe. Gemeinsame politische Prinzipien scheinen dann als Novum in den Verträgen der Ersten Koalition ab 1792 auf in Gestalt einer Selbstverpflichtung, die „alte Ordnung der Dinge“ wiederherzustellen. Nach einer Phase der Entmutigung durch das Scheitern 1796/97 betont Frehland die neuartige multilaterale Form der Absprachen zwischen Russland, Preußen, Großbritannien und Österreich 1813/14, an deren Tragfähigkeit Napoleon bis zuletzt nicht recht glauben wollte und damit seinen Untergang beförderte. Auch wenn die „diplomatische Revolution“ auf dem Wiener Kongreß 1814/15 eine längerfristig funktionsfähige Friedensordnung etablierte, auf der Basis multilateraler Verträge und mit neuen diplomatischen Instrumentarien, so blieb doch gerade angesichts dieser systemischen Verdichtung der europäischen Staatengemeinschaft ein bereits im 18. Jahrhundert beschriebenes und bis heute aktuelles Dilemma bestehen, wie Reinhard Stauber und Florian Kerschbaumer erinnern: Wer definiert, wann wessen Sicherheitsinteressen bedroht sind? Mit welchen Mitteln und auf welcher Grundlage können internationale Vertragsregelungen garantiert, gegebenenfalls auch durchgesetzt werden? Das Problem der politisch-militärischen Intervention in Drittstaaten (zeitgenössisch im Deutschen meist als „Dazwischenkunft“ bezeichnet) ist eine geeignete Sonde, um, gerade angesichts der immer stärkeren Verwobenheit innen- und außenpolitischer Vorgänge ab 1792, das Spannungsfeld zwischen Souveränitätsprinzip und Sicherheitsgarantien zu vermessen. Es ergibt sich ein scheinbar paradoxer Befund: Wer für ein funktionierendes europäisches Staatensystem sei, müsse auch zur Intervention fähig und bereit sein – so Friedrich Gentz im Frühjahr 1814 in belehrendem Ton gegenüber seinem Chef Metternich (als es um die Absetzung Napoleons ging), so der preußische Justizpolitiker Karl ­Albert von Kamptz 1821 in der ersten systematischen Abhandlung zu dieser Frage. Die Auseinandersetzung um eine normierende Engführung zwischen innenpolitischen Ordnungsprinzipien und der Garantie zwischenstaatlicher Sicherheit führte 1820/21 im Umfeld der europäischen Mächtekongresse in Troppau und Laibach zu eingehenden Debatten der politischen Praktiker, bei denen sich bald eine Sonderstellung der Briten herausstellte: Was sie ablehnten, waren nicht interventionistische Maßnahmen an sich (sie praktizierten sie weidlich in den von ihnen beherrschten globalpolitischen Ordnungsräumen außerhalb Europas), sondern alle Arten von Automatismen, die Beistandsverpflichtungen und Militär­aktionen hätten auslösen können. Ihrem pragmatischen Politikverständnis entsprach es, nicht jeden Reformversuch als Umsturz und materielle Gefährdung

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Reinhard Stauber

anderer Staaten zu werten; daraus automatisch ableitbare Zwangsmaßnahmen lehnten sie als Anmaßung einer europäischen „superintendence“ ab. Der Beitrag führt auch vor Augen, dass in der Debatte um das politische Handlungsinstrument der Intervention nicht nur politische, sondern auch zivil­ gesellschaftliche Akteure auftraten und dass bei Themen wie dem Verbot des Sklavenhandels oder der Korsaren im Mittelmeer, zu deren „Vertilgung“ in einer Schrift von 1817 aufgerufen wurde, die öffentliche Meinung bereits eine wichtige Rolle spielte.

III.  Zur Weiterarbeit

An Desideraten für die Weiterarbeit an systemgeschichtlichen Fragen der internationalen Politik unter Anwendung der polaren Analysekategorien „Krieg – Frieden“, „Sicherheit – Risiko“, „Vertrauen – Angst“ seien schließlich noch zwei ganz unterschiedliche Ebenen kurz angesprochen. Bei der Analyse imperialer Politik spielt die Kategorie der „Sicherheit“ im Rahmen der von Imperien erbrachten Ordnungsleistung eine tragende, wenngleich nicht immer explizierte Rolle: „Solange es keine globale Rechtsordnung gibt, die tatsächlich beachtet wird, ist die Gewaltreduktion durch imperiale Herrschaft das Grundmuster von Weltordnung.“25 Neben einer asymmetrischen, autoritär verwalteten Zentrum-Peripherie-Struktur, einer hochgradig aufgeladenen Symbol­ politik und einer universalistischen Ideologie gehört ein „Zwangsapparat“ zu den idealtypischen Merkmalen eines Imperiums, verbunden mit der „Fähigkeit zur Massenkriegsführung“.26 Bei der konkreten Auseinandersetzung mit den Quellen fällt auf, dass die politische Sprache von Friedens- und Bündnisverträgen inzwischen recht eingehend untersucht ist; für die Vereinbarungen über Waffenstillstand, ihre Vorbereitung und ihre Garantie gilt dies sehr viel weniger, ebenso wie für flankierende „vertrauensbildende Maßnahmen“ wie etwa Neutralisierung von Truppenteilen und die Definition von Militärrouten. Vor allem aber harrt die komplexe wirtschafts- und finanzpolitische Dimension der internationalen Verträge, von der Aufbringung der Kriegskontributionen bis hin zur Abwicklung innerstaatlicher Zwangsanleihen, einer detaillierteren Aufarbeitung, spielen doch auch hier sicher­ heitsbezogene Denkfiguren wie Pfandschaften eine zentrale Rolle.

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Osterhammel, Weltordnungskonzepte (wie Anm. 9), S. 414. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl. München 2009, S. 615; Jörn Leonhard/Ulrike von Hirschhausen, Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert (FRIAS Rote Reihe 1), Göttingen 2009, S. 79–105, Zitat S. 102.

Maximilian Lanzinner

Ein Sicherheitssystem zwischen Mittelalter und Neuzeit: die Landfriedens- und Sonderbünde im Heiligen Römischen Reich I.  Fragestellung und Einführung

Welche Funktion hatten Landfriedens- und Sonderbünde vom 14./15. Jahrhundert bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts für die Sicherheit im Heiligen Römischen Reich? Diese Frage wurde bisher nur für einzelne Bünde beantwortet, so für den Schwäbischen und Schmalkaldischen Bund wie für die Union und die Liga, wozu umfängliche Forschungen vorliegen. Im Folgenden wird ein Querschnitt versucht, der die Bünde von 1488 bis 1643 zusammenhängend analy­siert. Bereits die Kontinuität vom späten Mittelalter bis weit in die Frühe Neuzeit hinein verweist auf eine anhaltende Bedeutung. Landfriedensbünde erstrebten regionale Sicherheit und bestanden nur auf begrenzte Dauer, wurden aber oftmals sicherheitspolitisch überhaupt nicht aktiv. Im Allgemeinen war ihr Ziel, unter den Mitgliedern friedliche Beziehungen herzustellen, regional gegen Friedbrüche vorzugehen und Kriegszüge gegen Mitglieder abzuwehren. Von den Landfriedensbünden abzugrenzen sind die Sonderbünde, die sich ebenfalls in genossenschaftlicher Organisation gegen konfessionelle Gegner vereinigten. Auf einem anderen Blatt stehen zweckbestimmte Bündnisse zweier oder mehrerer Partner, die in die folgende Betrachtung nicht systematisch einbezogen sind. Die Landfriedens- und Sonderbünde unterschieden sich von einem reinen Bündnis dadurch, dass die Mitglieder Verfahren und Einrichtungen vereinbarten, um ihr Zusammenwirken bindend festzulegen. Die Bundesnormen regelten militärische Aufgebote und Finanzleistungen, die Versammlungsformen und ihr Verfahren, schließlich die Einrichtungen für die Geschäftsführung und Streitschlichtung. Ein Bund beruhte indessen wie ein Bündnis stets auf der Selbstverpflichtung der Mitglieder und damit auf Konsens und Loyalität. Betrachten wir kurz die Landfriedens- und Sonderbünde vom 15. bis zum beginnenden 17. Jahrhundert, um einen Überblick über die Vielfalt ihrer Siche­ rungsfunktionen zu gewinnen. Im 15. Jahrhundert lässt sich meistens noch unterscheiden zwischen Städte-, Ritter- und Fürstenbünden, also nach Art der Mitgliedschaft.1 Diese Formen hatten ihren Ursprung in den Städte- und Ritter­ bünden des 14. Jahrhunderts, die sich nach Ständen organisierten, um Privilegien, Reichsunmittelbarkeit und ihre Existenz gegen die mächtigeren Territorialfürsten zu verteidigen. Unter den Dutzenden dieser Bünde exponierten sich unter anderem der Löwenbund, der Schwäbische Städtebund und die Ritter vom Sankt 1

Hinweise selbst nur auf neuere Titel zu geben, ist beim weit gefassten Thema nicht möglich. In den Fußnoten finden sich überwiegend nur Zitatnachweise.

100 Maximilian Lanzinner

­Georgenschild. Angesichts der allgemein beklagten Friedlosigkeit des 15. Jahrhunderts schlossen Städte, Ritter und Fürsten häufiger untereinander Bünde, um Friedensstörer zu bekämpfen. Das Reichsoberhaupt beteiligte sich nicht, suchte aber seinerseits, die unablässigen Fehden mittels des Kammergerichts und der Gebote eines regionalen und Reichslandfriedens einzudämmen. König Friedrich III. vereinbarte beim Frankfurter Tag 14422 mit den anwesenden Ständen erstmals nach dem Mainzer Reichslandfrieden von 1235 wieder einen unbefristeten Landfrieden. Er war ohne Vorkehrungen zur Exekution nicht durchzusetzen, hob indes wenigstens das Fehdeverbot bis 1495 ins allgemeine Bewusstsein. Herausragende Bedeutung für Politik und Sicherheit im Reich gewann vor 1500 der 1488 gegründete Schwäbische Bund (bis 1534), der besonders den deutschen Südwesten zu befrieden suchte, eine territorial zersplitterte und daher äußerst störanfällige Region des Reichs. Der Bund übertraf alle Vorläufer­organisationen hinsichtlich der Zahl der Mitglieder und des Wirkungsgrads. Seine ­Organisation setzte neue Maßstäbe mit ständigen Organen, darunter Bundesrat und Bundesgericht (ab 1496/1500), und mit einer Verfahrensordnung, die unter den Verhandelnden, Fürsten wie kleinen Herren und Städten, Mehrheitsentscheidungen vorsah.3 Der Schwäbische Bund wurde zwar organisatorisch das frei nachgestaltete Modell für die Bünde des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. Aber deren Mitgliederstruktur und sicherheitspolitische Wirksamkeit divergierten erheblich. Im Schwäbischen Bund trug die Führungsrolle der weltlichen und geistlichen Fürsten maßgeblich zur kollektiven Sicherheit bei. Der Schmalkaldische Bund (1531–46) jedoch war kein Landfriedens-, vielmehr ein Sonder- oder Defensivbund, der sich um den inneren Ausgleich zwischen Fürsten- und Städtemit­gliedern bemühte, um gegen die befürchtete katholisch-kaiserliche Gewalt bestehen zu können. Dem Kaiserlichen Neunjährigen Bund (1535–44), hervorgegangen aus dem Rheinischen (1532), Eichstätter (1534) und Fränkischen Fürstenbund (1532), gehörten neben Karl V. und Ferdinand I. nur Fürsten an. Gegründet als Gegenorganisation gegen die Schmalkaldener, verharrte der Neunjährige Bund in einer passiven Rolle. Passiv verhielt sich auch der rein fürstlich-habsburgische Nürnberger (oder Katho­lische) Bund, der 1538 für elf Jahre geschlossen wurde. Er verursachte durch seine Präsenz kaum mehr als die „Stärkung des Schmalkaldischen Bundes“4. 2 Ludwig

Quidde (Hrsg.), Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe, XVI. Band (Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III., Zweite Abteilung 1441–1442), Ndr. Göttingen 1957, Nr. 28. Hartmut Boockmann/Heinrich Dormeier, Konzilien, Kirchen- und Reichsreform 1410–1495 (Handbuch der deutschen Geschichte 8), 10. Aufl. Stuttgart 2005, S. 89f. 3 Horst Carl, Der Schwäbische Bund 1488–1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation (Schriften zur südwestdeutschen Landes­ kunde 24), Tübingen 1998, Leinfelden-Echterdingen 2000, S. 256, S. 380–386. 4 Karl Brandi, Kaiser Karl V. Werden und Schicksal einer Persönlichkeit und eines Welt­ reiches, Frankfurt a. M. 1986, S. 341.

Die Landfriedens- und Sonderbünde im Heiligen Römischen Reich 101

Nach dem Schmalkaldischen Krieg (1546/47) wurden Bünde nur noch konfessionsübergreifend als Landfriedensbünde geplant oder vereinbart. Der erste beachtenswerte war der Heidelberger Bund (1553–56)5, eine Einung von Fürsten. Allerdings erwies er sich im Vorfeld des Augsburger Friedens als ungeeignet, dem Friedbrecher Albrecht Alkibiades von Brandenburg entgegenzutreten. Auch bot er zu wenig Sicherheit gegenüber politisch-konfessionell motivierter Gewalt, weil ihn die internen Spannungen lähmten, zum einen zwischen Kurfürsten und Fürsten, zum anderen zwischen Katholiken und Protestanten. Der gemischtkonfessionelle und gemischtständische Landsberger Bund (1556–98) wollte unmittelbar nach dem Augsburger Religionsfrieden die mittel- und süddeutsche Germania Sacra abschirmen. Er wurde, weil sich der Reichsverband unerwartet rasch stabilisierte, im Lauf der 1560er-Jahre sicherheitspolitisch bedeutungslos. Nach der Gründung des Landsberger Bunds versiegten bundespolitische Initiativen völlig bis 1591, als sich Kurpfalz und Kursachsen mit anderen protes­ tantischen Reichsständen in Torgau auf eine Bundesakte verständigten. Der Sonderbund zerfiel kurz darauf wegen des Herrschaftswechsels in den beiden Kurfürstentümern. Die fürstlich-städtische Union (1608–21), in Anknüpfung an die Torgauer Akte, und die fürstliche Liga (1609–35) kompensierten mit ihrer Gründung das Defizit an Sicherheit, das infolge der konfessionspolitischen Pola­ risierung um 1600 auftrat, erhöhten es aber zugleich. Darauf wird später noch zurückzukommen sein. Zudem nutzten die Direktoren, der Pfälzer Kurfürst und der Herzog von Bayern, die Bünde jeweils als Instrumente dynastisch-territorialer Politik. Alles in allem freilich waren Union und Liga zwar konfessionelle ­Defensiv- oder Sonderbünde, aber ihnen lag durchaus an einer „handthabung“6 des Landfriedens im Reich. Es gab also vom 15. bis zum 17. Jahrhundert Bünde zur Sicherung des Landfriedens wie auch Bünde zur eigenen „Defension“, weil Stände den Schutz des Reichs für unzureichend hielten – einerseits also den Typus des Landfriedensbunds, andererseits den Sonder- oder Defensivbund. Studien, die für beide Formen ­allein die Klassifizierung Landfriedensbund verwenden, machen e­ inen markanten Unterschied unkenntlich. Denn die Landfriedensbünde, die auf Fehdegenossen 5

Albrecht P. Luttenberger, Landfriedensbund und Reichsexekution. Erster Teil: Friedenssicherung und Bündnispolitik 1552/1553, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 35 (1982), S. 1–34, hier S. 20–24; Bernhard Sicken, Der Heidelberger Verein (1553–1556). Zugleich ein Beitrag zur Reichspolitik Herzog Christophs von Württemberg in den ersten Jahren seiner Regierung, in: ZWLG 32/2 (1973), S. 321–435, hier S. 337–345. 6 So die Willenserklärung in beiden Bundesakten. Albrecht Ernst, Gründungsdokumente von Union (1608) und Liga (1609), in: Albrecht Ernst/Anton Schindling (Hrsg.), Union und Liga 1608/09. Konfessionelle Bündnisse im Reich – Weichenstellung zum Religionskrieg? (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg: Reihe B, Forschungen 178), Stuttgart 2010, S. 343–372, hier S. 350f., S. 364.

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schaften zurückgingen, richteten sich gegen Friedbrüche jeder Art, dagegen der Schmalkaldische Bund, die Union oder die Liga gegen eine konfessionspolitische Bedrohung. Der folgende Beitrag fragt nach der Funktion und Bedeutung dieser Bünde für die Sicherheit im Heiligen Römischen Reich, allerdings nicht in einer isolierten Betrachtung. Denn die Rolle der Bünde lässt sich nur innerhalb des gesamten Sicherheitssystems des Reichs hinreichend erklären. Dieses System war vom 15. zum 17. Jahrhundert einem beträchtlichen Wandel unterworfen, aber seine Komponenten, informelle Vernetzung, formeller Vertrag und Verfasstheit, blieben die gleichen. Die Landfriedens- und Sonderbünde beruhten zwar auf der Selbstorganisation der Mitglieder durch Vertrag, blieben jedoch immer in eine Gemeinschaft von Reichsständen und in die Reichsverfassung eingebunden. Deshalb wäre eine isolierte Bewertung der Bünde verfehlt. Das Reich war aufgrund der schwachen Herrschaftsgewalt des Kaisers beziehungsoffen strukturiert und lässt sich vor 1500 im Kern als Lehnsverband verstehen, danach zunehmend als staatlicher Verband. Damit ist von Sicherheit in einem eigentümlichen rechtlich-politischen Feld zu sprechen, in dem einerseits nicht souveräne, sondern lehnsabhängige Dynasten agierten, das aber andererseits auch nicht von einer durchgreifenden monarchischen Gewalt geordnet wurde. Einleitend scheint noch eine Bemerkung zur Stellung der Bünde in der Verfasstheit des Reichs geboten, um Missverständnissen vorzubeugen. Grundsätzlich beanspruchten Kaiser und Reich endgültig mit dem Ewigen Landfrieden von 1495, der zeitlich und räumlich unbegrenzt jede Fehde verbot, das Monopol legitimer Gewaltsamkeit – mit Max Weber gesprochen. Im Verständnis der Zeit hingegen konkurrierten die Landfriedens- und Sonderbünde nicht mit diesem Monopol. Vielmehr verstanden sie sich als unterstützend Exekutierende, die dem Landfrieden und den Reichskonstitutionen zur Geltung verhalfen. So gehörte König Maximilian I. auch nach 1495 der Fehdegenossenschaft des Schwäbischen Bunds an, obwohl er den Ewigen Landfrieden verantwortete. Die Legitimation der Bünde, aus eigenem Recht zur Stützung des Reichsfriedens Gewalt anzuwenden, wurde von Kaisern und Reichsständen bis zur Auflösung der Liga 1635 politisch wie rechtlich anerkannt. Diese Akzeptanz fügt sich in die vormoderne, noch nicht ausdifferenzierte Rechts- und Verfassungswirklichkeit. Denn das Verfassungsleben des Reichs folgte nicht allein und manchmal gar nicht dem Geltungsanspruch des Rechts, sondern auch dem Herkommen, der Traditionsbildung und dem politischen Konsens. Demgemäß wurde das Reich als ein Verband von Lehns- und Herrschaftsträgern gesehen, die sich, um eigene Untertanen zu schützen und den Frieden zu erhalten, auch in Bünden zusammenfinden konnten. Deren Gewaltausübung, die streng genommen nach modernen (aber anachronistischen) Maßstäben gegen das Fehdeverbot verstieß, wurde als Beitrag zur Sicherheit im Reich anerkannt.

Die Landfriedens- und Sonderbünde im Heiligen Römischen Reich 103

II.  Bewaffnete Konflikte und Sicherheitssystem im 15. Jahrhundert. ­Der ­Schwäbische Bund

Welche Kräfte wirkten im noch sehr labilen Sicherheitssystem des Reichs im 15. Jahrhundert? Der Schwäbische Bund 1488 und der Reichstag, der sich in „zwei Beschleunigungsphasen“ (1471–86, 1486–95) ausbildete7, waren nicht zuletzt die Reaktion auf die zuvor ausufernden bewaffneten Händel und Kleinkriege. Wie wurden sie eingedämmt oder beendet, wie wurde Sicherheit hergestellt? Im Zeitraum zwischen 1444 und 1477 reifte die „Übereinstimmung zwischen Kaiser und Ständen“, dass „ein Friede ohne verfassungsmäßige Überwindung der F ­ ehde“ nicht möglich war.8 Die Fehden verdichteten sich in drei Konfliktregionen: im Nordwesten am Niederrhein, in Franken mit angrenzenden Gebieten und am Oberrhein. Von besonderem Interesse ist, wie jeweils Sicherheit hergestellt wurde, bevor sich die Systeme des Schwäbischen Bunds und des Reichs entwickelten. In der Soester Fehde (1444–49) und der Stiftsfehde zu Münster am Niederrhein (1450–57) bekämpften sich der Kölner Kurfürst Dietrich von Moers, der nach Westfalen vordrang, und die Herzöge von Kleve bzw. die Grafen von Hoya. Der Schiedsspruch eines Legaten und der vermittelnde Einfluss der Kurie beendeten den Waffengang. In Franken widerstand ein Bund von 31 Städten, angeführt von Nürnberg (1448–53), dem Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg, der sich mit Fürsten verbündet hatte, allerdings erst nach militärischer Gegenwehr.9 Im nachfolgenden Markgrafenkrieg (1459–63)10 waren es erneut Fürstenbündnisse, auf der einen Seite der Markgrafen von Brandenburg mit Württemberg und Baden, auf der anderen Seite der Münchner Bayernherzöge mit Pfalzgraf Friedrich I. (zeitweilig König Georg von Böhmen), deren Söldnertruppen im bayerisch-fränkischen Raum aufmarschierten. Die Niederlage des Markgrafen und die Vermittlung des Böhmenkönigs beschlossen die Kämpfe. Nachfolgend stabilisierte Herzog Ludwig von Niederbayern den Landfrieden, indem er mit schwäbischen Reichsstädten und dem Herzog von Württemberg 1464/65 einen Bund zur Absicherung Ostschwabens schloss.11 Am Rhein brach Karl der ­Kühne 7 Reinhard

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Seyboth, Die Reichstage der 1480er Jahre, in: Peter Moraw (Hrsg.), Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter (Vorträge und Forschungen 48), Stuttgart 2002, S. 519–545, hier S. 520. Heinz Angermeier, Die Reichsreform 1410–1555. Die Staatsproblematik in Deutschland zwischen Mittelalter und Gegenwart, München 1984. S. 142. Friedrich Baethgen, Schisma und Konzilszeit, Reichsreform und Habsburgs Aufstieg (Handbuch der deutschen Geschichte 6), 9. Aufl. Stuttgart 1973, S. 120f. Andreas Kraus, Sammlung der Kräfte und Aufschwung (1450–1508), in: Max Spindler/ Andreas Kraus (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte Bd. 2: Das alte Bayern. Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, 2., überarb. Aufl. München 1988, S. 289–323, hier S. 301–306. Heinz Angermeier, Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter, München 1966, S. 430–435.

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in den 1470er-Jahren einen Raubkrieg vom Zaun. Nach dem Neusser Krieg (1474/75) brach er zu Expansionszügen an den Oberrhein und nach Schwaben auf. Oberrheinische und elsässische Territorien vereinigten sich gegen den Burgunderherzog im Konstanzer Bund, ein Reichskrieg ­wurde ausgerufen. Landsknechte der Eidgenossenschaft besiegten schließlich den Herzog 1477 in der Schlacht bei Nancy. Diese Fehden wurden zwar durch Verhandlungen, Bündnisse, Bundesorganisationen (Städtebund, Konstanzer Bund) beigelegt, aber zumeist erst nach Kriegszügen durch Waffengewalt. Das Fehdeverbot des Landfriedens und die Friedensgewalt des Reichsoberhaupts hatten keine bzw. wenig Bedeutung. Denn der Reichslandfrieden von 1471, der den vorausgehenden von 1442 erneuerte, verfügte zwar, dass jeder mit einer Fehde verfolgte Anspruch nichtig war, aber noch existierten für Sanktionen oder ein Gericht lediglich Pläne. Die Bedrohten schlossen als Sicherheitsbehelfe Bünde und Bündnisse, sie schalteten auch Vermittler und Schiedsgerichte ein, freilich erst dann, wenn Kämpfe bevorstanden oder entbrannten. Demgegenüber erreichte der Schwäbische Bund eine wesentliche Besserung zunächst für den Südwesten, dann für ganz Süd- und Mitteldeutschland. Seine Besonderheit lag erstens darin, dass er im machtpolitisch offenen Raum Schwabens ein System der Friedenssicherung errichtete und wiederholt militärische Exekutionen durchführte. Das zweite Spezifikum war, dass der Schwäbische Bund in den verschiedenen Einigungsperioden zwischen 1488 und 1534 mit mehr Ständen einen größeren Raum befriedete als die Bünde oder Einungen zuvor. Repräsentiert waren zudem alle Ständegruppen von den Städten bis zu den Kurfürsten, darunter über 30 Reichsstädte, Hunderte von Adligen, Herren und Prälaten, ferner geistliche und weltliche Fürsten.12 Eine dritte Besonderheit war, dass der Schwäbische Bund Konflikten vorzubeugen vermochte. Er war nicht immer wieder genötigt, unmittelbar vor oder während einer Auseinandersetzung eine Ad-hoc-Sicherheitspolitik betreiben zu müssen. Viertens schließlich praktizierte er eine „verfahrensorientierte Form von Politik“13 mit permanent arbeitsfähigen Ämtern, anders als frühere Bünde. Juristen hatten in der ihnen eigenen Professionalität die bündischen Verfahren und Ämter entwickelt und 12

Die Beteiligung der Fürsten verweist auf den räumlichen Aktionsradius. Dem Bund gehörten an die Bischöfe von Augsburg und Konstanz, die Erzherzöge von Tirol, die Herzöge von Württemberg, Ludwig V. von der Pfalz und die Markgrafen von Baden, in Mitteldeutschland die Erzbischöfe von Mainz und Trier, Philipp von Hessen, in Franken die Markgrafen von Ansbach-Kulmbach, die Bischöfe von Würzburg, Bamberg und Eichstätt, im bayerischen Raum die Münchener Herzöge, Pfalz-Neuburg und der Erzbischof von Salzburg. Siehe Karl ­Klüpfel, Urkunden zur Geschichte des schwäbischen Bundes (1488–1533), 2 Theile, Stuttgart 1846/53, passim. 1 3 Carl, Bund (wie Anm. 3), S. 506.

Die Landfriedens- und Sonderbünde im Heiligen Römischen Reich 105

führten auch die Geschäfte, unter anderem der ebenso brillante wie energische Leonhard von Eck aus Bayern. Auf diese Besonderheiten ist die Schlagkraft des Schwäbischen Bunds zurückzuführen: auf die Größe der Einung, auf die genossenschaftliche und dennoch straffe Organisation, auf die Entscheidungsfähigkeit, schließlich die finanzielle und militärische Effizienz. Bemerkenswert war dabei die institutionelle Ausprägung des Bunds: Bundeshauptleute (der Städte, des Adels und der Fürsten) für die Führung der Geschäfte; dazu eine permanente Bundeskanzlei; der Bundestag, der drei „an sich gleichberechtigte“14 Ständegruppen vereinigte und durchschnittlich fünfmal pro Jahr zusammentrat; die Bundesräte als Vertreter der vereinigten Städte, Adligen und Fürsten; das Bundesgericht (ab 1496/1500), das in Konflikten zwischen Bundesmitgliedern schieds- und formalrechtlich entschied; schließlich die Finanzordnung mit Bundesmatrikel, Grundlage jeder militärischen Exekution. Der Bund, zumal im Zusammenwirken der kleineren Stände mit Maximilian I. (als Erzherzog ab 1490 Mitglied des Bundes), bekämpfte adlige Friedensstörer ebenso wie die mächtigen Wittelsbacher Georg, Albrecht V., Philipp und ­Ruprecht sowie die Herzöge Eberhard und Ulrich von Württemberg. 1525 machten seine Söldner die Bauernhaufen nieder. Der Schwäbische Bund zerfiel 1534, weil der katholische Adel und die protestantischen Städte kaum noch zu einer Einigung fanden. Auch hatte sich der Schwerpunkt der Mitglieder von den Grafen und Rittern hin zu den Fürsten verschoben, die auf Schutz weniger angewiesen waren. Es war jedenfalls nicht die Sicherheit, die der Reichsverband gewährte, die 1534 eine Selbstorganisation der Stände im Bund überflüssig machte. Im Gegenteil brachen im Reich 1528/29 schwere innere Verwerfungen auf, zunächst der Streit um das Kirchengut im Zuge des Aufbaus protestantischer Landeskirchen, beginnend in Kursachsen und Hessen. Nach 1530 trat der Saalfelder Bund (1531–34; Kursachsen, Hessen, Bayern) der Königswahl Ferdinands entgegen. Außerdem begann der rechtliche Krieg gegen die neugläubigen Reichsstände.

III. Strukturen des Sicherheitssystems im Reich am Beginn der ­Neuzeit

Das Sicherheitssystem des Schwäbischen Bunds substituierte noch im Zusammenwirken mit dem Reichsoberhaupt die Friedenssicherung des Reichs, die sich erst im Aufbau befand. Da der Ewige Landfrieden 1495 keine Exekutionsordnung festsetzte, hatte sich gegenüber den Landfriedensordnungen von 1442 oder 1471 nichts geändert. Dennoch wurden nun der Reichstag, das Reichskammergericht, 14 Ernst Bock, Monarchie, Einung und Territorium im späteren Mittelalter. Ein Beitrag zur

deutschen Verfassungsgeschichte, in: Historische Vierteljahrsschrift 24 (1929), S. 557–572, hier S. 564.

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das Reichsregiment und die Projektion der Reichskreise, die erst unter Karl V. politisch aktiv wurden, zu beachtenswerten Größen. Schwäbischer Bund und Reichsorgane sind jedoch nur die wichtigsten Bestandteile des gesamten Sicherheitssystems. Sie nur isoliert zu betrachten, wäre verfehlt. Denn grundsätzlich wirkten im Reich drei Prinzipien politischer und rechtlicher Sicherheit: erstens die Vernetzung, zweitens der Vertrag, drittens die Verfasstheit. Zur Vernetzung gehörten die informellen Kontakte, die die Kurfürsten, Fürsten, Mindermächtigen und Reichsstädte durch fortgesetzte Begegnung, Gesandtschaft oder gute Korrespondenz unterhielten. Vor allem die Fürsten erweiterten im 16. Jahrhundert das Kontaktnetz. Über die Höflichkeitsschreiben bei Taufen, Hochzeiten oder Todesfällen hinaus bildeten sich permanente Korrespondenzbeziehungen, zeitgenössisch „gute und vertrauliche Korrespondenz“ genannt.15 Auch die Kontakte durch Gesandte nahmen zu. Anlass waren vor allem die Reichstage, die ab 1542 häufigeren Kreistage, nach 1555 die rasche Abfolge der Kurfürsten-, Reichsdeputations-, Moderations-, Deputierten-, Kammergerichtsvisitations-, Probations- und Mehrfach-Kreistage. Dabei förderten bereits die Kooperation und Suche nach Konsens die allgemeine Sicherheit. Neben der Vernetzung festigte sich im 16. Jahrhundert gleichermaßen die zweite strukturbildende Kraft des Sicherheitssystems, der Vertrag. Unter anderem sind zu nennen die Grenz- und Nachbarschaftsverträge, Verträge bei Fürstenheiraten, dynastische und Hausverträge von Fürstengeschlechtern16, Schutzbündnisse, Bundesbriefe, Hilfs- und Sukzessionsabkommen, Erbverbrüderungen und Erbeinungen.17 Die beiden letzteren, gebräuchlich schon im Spätmittelalter, wurden für das 16. Jahrhundert allzu oft übersehen. Um ein Beispiel zu nennen: Ohne die stetig erneuerten Erbverträge zwischen den Häusern Sachsen, Brandenburg,

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Cornel Zwierlein, Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 74), Göttingen 2006, S. 594–597. 16 Ernst Schubert, König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 63), Göttingen 1979, S. 111–113. 17 Zu Erbverbrüderungen (Erbnachfolge beim Aussterben einer Dynastie) und Erbeinigungen (Erneuerung der Nachbarschaftsverträge bei Herrscherwechsel) s. Thomas Ott, Präzedenz und Nachbarschaft: das albertinische Sachsen und seine Zuordnung zu Kaiser und Reich im 16. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 217: Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte), Mainz 2008, S. 20f.

Die Landfriedens- und Sonderbünde im Heiligen Römischen Reich 107

Hessen, Henneberg und Böhmen18 lässt sich die Friedenssicherung im Norden und Osten des Reichs nicht erklären. Gerade die dynastischen Abkommen erzeugten Vertrauen auf lange Sicht und machten Landfriedensbünde entbehrlich. Einschneidend änderte sich die Verfasstheit des Reichsverbands. Bedeutung für Sicherheit hatten im 15. Jahrhundert die Landfriedensgebote, ferner die Gerichts- und Schiedsfunktion des Reichsoberhaupts, die spürbarer als sonst im bayerischen Erbfolgekrieg 1505 zum Tragen kam, sodann die regionalen und „gemeinen tage“19, schließlich die Versammlungen der Kurfürsten. Somit wurden bewaffnete Fehden durch eine praktizierte, aber defizitäre Verfasstheit, weil es an Sanktionen fehlte, nur unzureichend eingedämmt. Demgegenüber bedeutete die staatlich-strukturelle Verfasstheit, die bei Reichstagen seit 1487/88 und endgültig seit 1495 einsetzte, eine neue und andersartige Stufe der Sicherheit. Es begann ein Prozess, in dem die Reichstage das Ziel, „Frieden und Recht“ durchzusetzen, mittels kodifizierten Rechts bis 1555 und im Verfassungsleben bis 1566/70 verwirklichten. Der Prozess wurde als „Reichsreform“ (Heinz Angermeier) oder als „Verdichtung“ (Peter Moraw) bezeichnet. Beide Begriffe erfassen nicht den Kern des Vorgangs. Es handelte sich nicht um eine „Reform“ des „Reichs“ oder seiner Einrichtungen, da Gericht, Regiment, Exekutionsordnungen oder Kreise zuvor nicht existierten; lediglich Reichssteuern waren seit 1422 sporadisch veranlasst worden. Es verwundert daher nicht, dass der Begriff Reichsreform selbst in Lexika mit „sogenannt“ oder Anführungszeichen versehen wird.20 „Verdichtung“ hingegen ist ein diffuser Begriff mit historisch unbestimmten Anwendungsmöglichkeiten, außerdem wurde um 1500 auch nicht „gestaltend“ ‚komprimiert‘. Allenfalls nahm die Verflechtung reichsständischer Beziehungen zu. Letztlich haben die Bezeichnungen „Reichsreform“ oder „Verdichtung“ vom Entscheidenden abgelenkt, und das war der Staatsbildungsprozess des Reichs. Im Zeitraum von 1495 bis 1555 wurden teils neue, teils zuvor nur diskutierte Ämter und Praktiken, die zum Kernbestand eines frühmodernen Staats gehörten, im Verfassungsgefüge des Reichs implementiert. Folglich vollzog sich wie in anderen

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S. die Liste bei Ott, Präzedenz (wie Anm. 17), S. 535–540 (beginnend mit einem Schutz- und Trutzbündnis Meißen-Thüringens mit Böhmen 1307, bis zur erneuerten Erbverbrüderung Sachsens, Hessens und Brandenburgs 1614). 19 Zum Begriff: Gabriele Annas, Hoftag – Gemeiner Tag – Reichstag. Studien zur struk­ turellen Entwicklung deutscher Reichsversammlungen des späten Mittelalters (1349–1471) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 68), 2 Bde., Bd. 1, S. 113 f.; Bd. 2, S. 177–470 Auflistung der Tage 1400–1471 (mit Nachweisen, Lit.). 2 0 Pars pro toto: Wolfgang Hardtwig, Bund, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart/ Weimar 2005, Sp. 530–535.

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Teilen Europas auch im Reich eine staatliche Strukturbildung, mithin der Aufbau frühmoderner Staatlichkeit – mit dem Ziel der Herstellung von Sicherheit. Die frühmoderne Staatlichkeit der europäischen Monarchien und Reichsterritorien, die sich früher, zeitgleich oder später als im Reich entwickelte, zeichnete sich gleichermaßen durch Friedenssicherung, Rechtsordnung, Gericht und Steuern aus. Somit schuf das Reich ab 1495 erste Grundlagen staatlicher Verfasstheit, aber die Entwicklung stagnierte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, weil die Reichsstände ihre autonomen Herrschaftsrechte behaupten wollten. Denn eine noch weitergehende überwölbende Staatlichkeit des Reichs hätte ihren Status gefährdet. Dennoch, bis dahin wurde durch die Normen, Erwartungen, Vollzugsdrohungen und Organe des Reichsverbands deutlich mehr Sicherheit erreicht, mehr als es Beziehungen, Verträge oder Bundesorganisationen vermochten. Fehden und Raubzüge von Fürsten wurden seltener. Schließlich wurde auf der Grundlage der Reichsexekutionsordnung und der Beschlüsse des Reichstags 1566 im Jahr 1567 die letzte Ritterfehde Wilhelms von Grumbach niedergeschlagen, zugleich mit Herzog Johann Friedrich II. von Sachsen ein friedbrüchiger Fürst zur Rechenschaft gezogen, der den Rittern Unterschlupf gewährt hatte. Die Landfriedensordnungen des Reichs vor 1555 waren noch Appelle an die Gutwilligen und für Friedbrecher nur dann gefährlich, wenn diese rechtlos erklärt wurden. Erst die Reichsexekutionsordnung von 1555 machte es überhaupt möglich, von Reichs wegen gegen Friedensstörungen auf rechtlich verbindlicher Grundlage einzuschreiten. Das Maßnahmenpaket der Ordnung wurde in wesentlichen Teilen und in einer Fülle von Details beim Reichstag 1555 gänzlich neu entworfen, da es zuvor eingespielte Praktiken einer Reichsexekution nicht gab. Entworfen wurde indes keine beständige, sondern nur eine „Ad hoc-Exekutive“.21 Jedoch entsprach das ausgeklügelte Werk gelehrter Juristen vollkommen dem politischen Willen ihrer Herren, nämlich dass die Reichsstände selbst in jedem Einzelfall über eine Exekution entschieden, und zwar ohne Mitwirkung des Kaisers. Die Verfassungswirklichkeit erwies im Übrigen, dass eine Exekution ohne den Kaiser nicht zu entscheiden und noch weniger zu organisieren und durchzuführen war. Für die Entscheidungsfindung der Reichsstände sollten Versammlungen eines Kreises, dann mehrerer Kreise zuständig sein; schließlich sollte eine Reichsdeputation zusammentreten, je nach Gefahrenpotential eines Friedbruchs. Dem Kaiser war in der Ordnung keine zentrale Lenkung zugedacht, er kam darin gar nicht vor. Die Reichsstände hatten mithin die Entscheidung über die Anwendung legitimer Gewaltsamkeit gegen Friedensstörer. 2 1 Maximilian Lanzinner, Friedenssicherung und politische Einheit des Reiches unter Kaiser

Maximilian II. (1564–1576) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 45), Göttingen 1993, S. 343.

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Die Reichsexekutionsordnung bedeutete daher verfassungspolitisch eine Rücken­deckung für die Bünde. Denn die Reichsstände waren nun ausdrücklich auf Reichsebene, nicht nur in ihren eigenen Territorien, berechtigt, über Gewalt zu entscheiden und sie anzuwenden. Dem Verfassungsleben blieb überlassen, in welchen Fällen und nach welchem Verfahren die Gewaltanwendung legitim war. Rechtsanwendung im Reich war eben mit dem Herkommen und dem politischem Leben verwoben – anders als im Staat der ausdifferenzierten Moderne. Vorkehrungen für Landfriedensbünde traf die Reichsexekutionsordnung nicht. Aber sie verschob die Rechtsvorstellung, wie die Friedensgewalt im Reich ausgeübt wurde, auf Kosten des Kaisers zugunsten der Reichsstände. Folglich stellte sie die Landfriedens- und Sonderbünde in keiner Weise in Frage. Die Ordnung trug wesentlich dazu bei, Ritter- und Fürstenfehden zu unterbinden. Indessen erwies sich ihr kompliziertes Regelwerk gegenüber gartenden Knechten und Aufmärschen von Söldnerhaufen als nur begrenzt brauchbar. Ihre Bewährungsprobe kam mit dem Beginn der Hugenottenkriege 1563 und dem Beginn des Niederländisch-Spanischen Kriegs 1567/68. Seitdem wurden fortgesetzt Söldnerhaufen im Reich angeworben und von Kriegsunternehmern zu den Schauplätzen der Kämpfe im Westen geführt. Um gegen allfällige Friedbrüche einzuschreiten, versammelten sich, wie in der Exekutionsordnung vorgesehen, immer wieder Vertreter von drei oder fünf Kreisen, schließlich traten auch Reichsdeputationstage in Straßburg und Frankfurt 1569 zusammen. Aber die Beratungen blieben wiederholt ergebnislos, weil die Vertreter der Kreise für entfernte Regionen keine Sicherheitskräfte finanzieren wollten und oft zu spät entschieden, um gegen die rasch durchziehenden, marodierenden Truppen noch einschreiten zu können. Dagegen initiierten Reichstage seit 1556/57 auf der Basis der Reichsexekutionsordnung in den meisten Reichskreisen Regelungen und Ämter, die dort die innere Sicherheit wesentlich verbesserten. Dies wurde erreicht entweder durch kollektiv funktionierende Kreisorganisationen wie im Fränkischen und Schwäbischen Kreis oder wie im Obersächsischen Kreis durch mächtige Reichsstände, hier Kurbrandenburg und Kursachsen, die aber im Kreis nach Vorgaben der Exekutionsordnung handelten. Insofern konnte jeder Friedbruch nach 1555 weit besser bekämpft werden, ob durch ein großes Aufgebot von 15 000 Söldnern wie gegen Wilhelm von Grumbach 1567 oder durch eine effizientere Nacheile bei der Bekämpfung von Räubern und Marodierern. Die Sicherheit im Reich nach 1555 hing natürlich nicht nur von Reichs- und Kreisordnungen zur Exekution ab, die nach einem Diskussionsprozess von mehr als hundert Jahren endlich beschlossen und teilweise realisiert wurden. Sicherheit schuf mehr noch die rasche Akzeptanz des Religionsfriedens und die konfessionspolitische Entspannung. Zudem wurde die Vernetzung der Reichsstände engmaschiger. Die weltlichen, nachfolgend die geistlichen Fürstenhöfe

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bauten, weil sie deren Vorteile erkannten, die „gute Korrespondenz“ aus. Auch Bayern und Kursachsen, führend unter den katholischen bzw. protestantischen Reichsständen, unterhielten einen ständigen Briefwechsel.22 Die Art der Kontakte veränderte sich. Fürsten selbst gingen seltener auf Reisen, aber immer häufiger ihre Gesandten, die mehr denn je nach 1555 Reichs- und Kreisversammlungen besuchten. Bis 1586 fanden allein 20 Reichs-, Reichkreis-, Reichsdeputations- und Kurfürstentage statt, in jedem der acht aktiven Reichskreise mehrfach im Jahr Versammlungen, darunter Kreisobersten-, Probations- und Gesamtkreistage. Die Verdichtung politischer Kommunikation erhöhte per se die Sicherheit. Es ist bezeichnend, dass die Polarisierung des reichspolitischen Felds am Ende des 16. Jahrhunderts einherging mit einem deutlichen Rückgang der Reichs- und Kreisversammlungen.

IV.  Landfriedens- und Sonderbünde im sicherheitspolitischen K­ ontext

Die Auswirkungen des Exekutionssystems und der Kommunikationsstrukturen auf Landfriedens- und Sonderbünde nach 1555 liegen auf der Hand. Bünde wurden für die Sicherheit im Reich entbehrlicher. Überblicken wir aber vor einer genaueren Bewertung noch einmal das gesamte 16. Jahrhundert. Die Durchsetzungskraft des Schwäbischen Bunds wurde erklärt mit den organisatorischen Vorzügen. Dass er so viel bewirken konnte, lag auch an exogenen Faktoren. Dazu gehörten zunächst die schwierige Sicherheitslage der mindermächtigen Stände in Schwaben, ihre unzureichende Sicherung durch Vernetzung und Vertrag und der Druck von außen vonseiten der Bayernherzöge und der Eidgenossenschaft. Mehr freilich fiel ins Gewicht, dass Städte und Adel noch nicht von einem Kreis- und Reichsexekutionssystem geschützt wurden. Ohne Bund wäre damit die Existenz der kleinen Stände Schwabens prekär gewesen. Auf die Notwendigkeit, Schutz mittels einer „Vereinigung“ zu suchen, berief sich daher schon 1488 die erste achtjährige „verainigung“, der erste Schwäbische Bundbrief23: Der Kaiser habe „ainen gemainen Landfriden gemacht“ und angeordnet, „vnß gegen vnd mit einander zu verainen vnd zu verbinden“, heißt es da, um „seiner Kayserl. May. dester baß“ zu dienen. Insofern lässt sich die

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Die Briefe ediert in der nicht unproblematischen Sammlung von Reiner Zimmermann (Hrsg.), Evangelisch-katholische Fürstenfreundschaft. Korrespondenzen zwischen den Kurfürsten von Sachsen und den Herzögen von Bayern von 1513–1586 (Friedensauer Schriftenreihe: Reihe A, Theologie Bd. 6), Frankfurt a. M. u. a. 2004. 2 3 14. 2. 1488. Vertrag auf acht Jahre, neben den Grafen und Rittern die Reichsstädte Ulm, Esslingen, Reutlingen usw. Datt, Johann Philipp, Volumen Rerum Germanicarum Novum. Sive de Pace Imperii Publica Libri V, Ulm 1698, S. 281.

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friedenspolitische „Ordnungsmacht“ des Schwäbischen Bunds als Delegation der kaiserlichen Friedensgewalt und Annex der Reichsverfassung verstehen.24 Anders sind die konfessionsbedingten Einungen seit 1530 zu beurteilen. Der Schmalkaldische Bund als der bedeutendste war eine Defensivallianz gegen den Kaiser und als solcher eine Absonderung vom Reich, ein „Bündnis in reiner Form“.25 Im Bundesvertrag von 1531 (abgeändert 1536/37) verpflichteten sich die Schmalkaldener, gemeinsam Gegenwehr zu leisten, wenn ein Mitglied einem Angriff wegen des „Wortes Gottes“ ausgesetzt war. Gabriele Haug-Moritz hat deutlich gemacht26, wie sehr Kurfürst Johann Friedrich I. die Form und Politik des Bundes bestimmte. Damit korrigierte sie die zuvor kanonisierte Meinung von einer hessisch-kursächsischen Doppelführung und relativierte auch das Bild eines „konfessionellen Kampfbunds“27, dessen offensive Phase in den 1540erJahren weniger konfessionelle als expansionspolitische Züge hatte. Denn gerade in der Instrumentalisierung durch den sächsischen Kurfürsten offenbarte sich der allgemeinpolitische Allianzcharakter des Bundes. Der Kurfürst war es, der seit 1540/41 Landgraf Philipp in eine ausgreifende Bundespolitik zog und im mitteldeutschen Raum eine kursächsische Vormacht aufbaute. Dies und der Einfluss im Bund verleiteten ihn, sich „über Recht und Gesetz hinwegzusetzen“.28 Als er 1542 mit einer „schmalkaldischen Kriegspartei“ das Territorium Herzog Heinrichs d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel eroberte und besetzte, rechtfertigten die Kriegführenden dies mit der Pflicht der Obrigkeit, den „vordruckten und überweltigten“ Untertanen Braunschweig-Wolfenbüttels „rettunge zuthun“.29 Weil er Gewalt zugunsten benachbarter Untertanen gegen ihren 24

Volker Press, Die Bundespläne Kaiser Karls V. und die Reichsverfassung, in: Heinrich Lutz/ Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Das römisch-deutsche Reich im politischen System Karls V. (Schriften des Historischen Kollegs 1), München 1982, S. 55–106, hier S. 59–61. 2 5 Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund, 1530–1541/42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 44), LeinfeldenEchterdingen 2002, S. 578. 2 6 Gabriele Haug-Moritz, Johann Friedrich I. und der Schmalkaldische Bund, in: Volker ­Leppin/Georg Schmidt/Sabine Wefers (Hrsg.), Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 204), Gütersloh 2006, S. 85–101. 27 So noch Hardtwig, Bund (wie Anm. 20). 2 8 Uwe Schirmer, Die ernestinischen Kurfürsten bis zum Verlust der Kurwürde (1485–1547), in: Frank L. Kroll (Hrsg.), Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918, München 2007, S. 55–75, hier S. 73. 2 9 Gabriele Haug-Moritz, Der Wolfenbütteler Krieg des Schmalkaldischen Bundes (1542), die Öffentlichkeit des Reichstags und die Öffentlichkeiten des Reichs, in: Maximilian Lanzinner/ Arno Strohmeyer (Hrsg.), Der Reichstag 1486–1613. Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 73), Göttingen 2006, S. 259–280, hier S. 275. Dies., Widerstand als „Gegenwehr“. Die schmalkaldische Konzeption der „Gegenwehr“ und der „gegenwehrliche

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Fürsten ausübte, setzte sich der Kurfürst dem Vorwurf des Landfriedensbruchs aus. Er war damit weit vom Zweck des Bundes abgerückt. Dieser legitimierte sich nämlich in seiner „Vereinigung“ vom 27. Februar 1531 unter Bezug auf die Unantastbarkeit der religiösen Überzeugung auf das natürliche und Gemeine Recht zur Gegenwehr. Diese gestand er sich zu für den Fall, „das iemants uns oder unser undertane mit gewalt oder der tat von dem wort Gots und erkannter warhait zu dringen“ sucht, allerdings nur „zu gegenwehr und rettungsweise“.30 Nach 1530 häuften sich Landfriedens- und die (Defensiv- oder) Sonderbünde, wobei die beiden Formen auch ex post nicht immer sauber zu trennen sind. Richtete sich das Saalfelder Bündnis (1531) noch gegen Habsburg, so folgten dann Zusammenschlüsse altgläubiger Reichsstände teils mit, teils ohne Habsburg, die religions-, hegemonial- oder friedenspolitische Absichten verfolgten. Sie waren zumindest latent gegen die Schmalkaldener gerichtet, darunter als wichtigste der Kaiserliche Neunjährige Bund und der Nürnberger (oder Katholische) Bund. Beide wurden 1535 bzw. 1538 als Landfriedenseinungen gegründet, der Neunjährige Bund entlehnte „seine Satzung aus der des Schwäbischen Bundes“.31 Exekutionen wurden allerdings nicht durchgeführt. Faktisch waren beide Bundesorganisationen wegen des unausgesprochenen Gegensatzes zwischen den Reichsständen und dem Kaiser nicht handlungsfähig. Auch gelang es nur wenigen mindermächtigen Ständen, als Mitglieder unter den Schutzschirm des Katholischen Bunds zu gelangen. Die Rechnung Karls V., die katholischen Bünde zu überkonfessionellen Friedenseinungen auszubauen, um den Schmalkaldischen Bund zu entwerten, ging nicht auf. Bayern und andere Mitglieder beharrten auf der altgläubigen Homogenität, evangelische Reichsstände hielten sich von kaiserlichen Bünden fern. Auch wenn frühere Studien den Konsens im Schmalkaldischen Bund überschätzt haben, waren doch die Bünde der Gegenseite politisch labiler und nicht zu einer Aktion zu bewegen. Dass sich nach dem Sieg Karls V. 1546 kein neuer Bund bildete, ist auf seine Dominanz bis zum Beginn der 1550er Jahre zurückzuführen. Der Einfluss, den das Reichsoberhaupt in einem Bund ausüben konnte, machte seine Mitgliedschaft für die Stände wenig wünschenswert. Denn Bünde verloren nie ihren genosKrieg“ des Jahres 1542, in: Robert von Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischen Vergleich (ZHF Beiheft 26), Berlin 2001, S. 141–161. 3 0 Ekkehart Fabian, Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes und seiner Verfassung. 1524/29–1531/35. Brück, Philipp von Hessen u. Jakob Sturm. Darstellung und Quellen. Mit einer Brück-Bibliographie (Schriften zur Kirchen- und Rechtsgeschichte 1), 2. Aufl. Tübingen 1962, S. 347–353, S. 357–377, hier S. 350f. Ebenso „Verfassung zur eilenden rettung und gegenwehr“1535; sie gelte nur für den Fall der „gegenwär und röttungsweiß und zu entschitung unbillichs gewalts“. Fabian, Entstehung (wie Anm. 30), S. 359. 31 Press, Bundespläne (wie Anm. 24), S. 69.

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senschaftlichen Charakter, in ihrer Selbstorganisation wollten die Stände unter sich bleiben. Die Beteiligung des Reichsoberhaupts implizierte unvermeidlich Elemente der Hierarchie und Herrschaft. Deshalb stieß Karl V. geradezu auf eine Mauer der Ablehnung, als er nach seinem Sieg bei Mühlberg vor dem Augsburger Reichstag 1547/48 den Reichsständen den Plan eines kaiserlichen Reichsbunds vorlegte. Ein solcher vom Kaiser geführter Landfriedensbund, der Reichsstände aus dem ganzen Reich zusammenführte, hätte die Gewichte zu sehr zu seinen Gunsten verschoben, zumal eine Matrikel zur Finanzierung, eine Bundeskasse und ein Heer die permanente Aktionsfähigkeit sicherstellen sollten. Vorbild war der Schwäbische Bund. Der Reichsbund hätte aus ständischer Sicht im schlechtesten Fall den Kaiser noch mächtiger werden lassen, im besten Fall das Friedensgebot von 1495 erstmals mit einer Exekutive versehen, um Friedensstörer militärisch zu bekämpfen. Damit freilich wäre der Reichsbund ein Teil der Reichsverfassung geworden, der jedoch nicht dem Verfahren des Reichstags und damit nicht dem Veto der Reichsstände unterworfen war. Angesichts der Machtfülle Karls V. im Jahr 1547 reagierten die Reichsstände bei den Verhandlungen in Ulm hinhaltend, aber ihre Taktik der Verschleppung hatte Erfolg. In dem Maß, in dem sich Karl V. in den Jahren zwischen 1552 und 1555 aus dem Reich zurückzog, lebten die Initiativen zur Gründung von Landfriedenseinungen wieder auf. Der Passauer Vertrag erzeugte zudem ein ordnungs- und machtpolitisches Vakuum, so dass Markgraf Albrecht Alkibiades die mitteldeutschen geistlichen Territorien mit einem Raubkrieg überziehen konnte. König Ferdinand I. vermochte zwar mit einer erhöhten Präsenz königlicher Kommissare seine „Repräsentation“ und „Autorität“32 zu steigern, aber den vom Kaiser begünstigten Markgrafen nicht aufhalten. Karl V. selbst startete 1552/53 noch einmal einen Versuch, einen Landfriedensbund nach der Art des Reichsbunds von 1547 zustande zu bringen, fiel aber damit sofort in den Brunnen, wie die Münchener Räte zufrieden registrierten.33 Allerdings wies das Memminger Bundesprojekt Karls V. immerhin religionspolitisch die Richtung, indem es überkonfessionell angelegt war wie die nachfolgenden Bünde und Projekte. Die Reichsstände hatten aus den Erfahrungen der 1530er- und 1540er-Jahre einen ähnlichen Schluss wie der Kaiser gezogen, dass Sonderbünde die Konflikte verschärften und in den Krieg führten. Deshalb verhandelten König Ferdinand und Kurfürst Moritz von Sachsen mit Ständen aus dem gesamten Reich 1553 in 3 2

Christine Pflüger, Kommissare und Korrespondenzen. Politische Kommunikation im Alten Reich (1552–1558), Köln 2005, S. 333. 3 3 Maximilian Lanzinner, Der Landsberger Bund und seine Vorläufer, in: Volker Press (Hrsg.), Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit? (Schriften des Historischen Kollegs 23), München 1995, S. 65–80, hier S. 76.

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Eger über einen groß dimensionierten, konfessionsneutralen Landfriedensbund. Er sollte mit einer Doppelstruktur sowohl den norddeutschen wie den süddeutschen Raum erfassen34, organisatorisches Vorbild der Schwäbische Bund sein. Die Initiative endete indessen mit dem Tod Moritz von Sachsens in der Schlacht von Sievershausen 1553, obwohl sie bereits zu einem Satzungsentwurf gelangt war. Statt des geplanten großen gründete dann eine reichsständische Vermittlungspartei 1553 den Heidelberger Bund. Er verpflichtete sich zur „pflanzung und erhaltung“ des Friedens, „doch nit anderst dann defensive, sich und die iren vor thätlichem gewalt zu retten“.35 Der neue Landfriedensbund erwies sich wegen der Gegensätze der katholischen und protestantischen, auch der kurfürstlichen und fürstlichen Mitglieder als nicht funktionsfähig. „Zur Paralysierung“ führte die Aufnahme König Ferdinands36, weil damit die divergierenden Sicherheitsinteressen der Beteiligten unvereinbar wurden. Der Bund löste sich deshalb schon 1556 auf. Ihn ersetzte der Landsberger Bund (1556–99), der Österreich (zunächst König Ferdinand I.), Bayern, einige geistliche Fürsten und das protestantische Nürnberg zusammenführte. Sie verpflichteten sich zu gegenseitiger Hilfe bei Raubkriegen und Überfällen. Dem Schwäbischen Bund gegenüber war nun neu, und das bezeichnete den Wandel infolge der Beschlüsse von 1555, dass der Beistands­artikel des Landsberger Bundes nur galt, wenn die Hilfe der Kreise und des Reichs gemäß der Reichsexekutionsordnung ausblieb. Der Gründungsvertrag wies die „Verainigung“ unmissverständlich als Landfriedensbund aus, der „zu mehrer vollziechung vnnd handhabung deß haylligen Reichs, Gmainen Landfridtens, vnnd Jüngst darauff beschlossner Exequution Ordnungen, auch dennselben aller ding vnabbrüchig, doch allain defensive“37 geschlossen wurde. Nur einmal, 1564 gegen Grumbach, nahm der Bund kurzzeitig ein Söldneraufgebot in Dienst. Ansonsten boten die Kreise und das Reich genügend Schutz. Immerhin hatte die Landsberger „Schirmvereinigung“ in ihren Anfängen die katholische Position und die Sicherheit der Hochstifte Würzburg und Bamberg zusätzlich gefestigt. Am meisten Aufsehen erregte der Bund, als Herzog Albrecht V. von Bayern um 1570 die Spanischen Niederlande und damit den spanischen König in die Vereinigung aufnehmen wollte. Die Instrumentalisierung des Bundes für

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Ott, Präzedenz (wie Anm. 17), S. 266–291. Viktor Ernst (Hrsg.), Briefwechsel des Herzogs Christoph von Wirtemberg, Bd. 2: 1553–1554, Stuttgart 1900, Nr. 98, S. 89–97, hier S. 92. „Verständnis“ des Heidelberger Bunds vom 29. März 1553. 3 6 Dietmar Heil, Die Reichspolitik Bayerns unter der Regierung Herzog Albrechts V. (1550– 1579) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 61), Göttingen 1998, S. 79. 37 Franz Dominicus Häberlin, Neueste Teutsche Reichs-Geschichte, vom Anfang des Schmalkaldischen Krieges bis auf unsere Zeiten, 20 Bde., Halle 1774–86, Bd. 17, S. XI. 1. Juni 1556.

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die bayerische Reichs- und Europapolitik gelang allerdings nicht, weil sich die geistlichen Fürsten widersetzten. Kommen wir noch zu Union und Liga. Es ist evident, seitdem die Editionen der „Briefe und Akten“ vorliegen, dass es die Konfessionsbünde ohne die Krise des Reichs nicht gegeben hätte.38 Jedoch sind andere Urteile, die seit der Generation Moriz Ritters und Felix Stieves ebenso unanfechtbar schienen, fraglich geworden. Die Historiker vor und um 1900 standen bei aller bewundernswerten Gründlichkeit unter dem Eindruck der Rekonfessionalisierung des Kaiserreichs von 1871. Demgemäß lasen sie die Quellen zwar bemüht konfessionsneutral, aber unvermeidlich konfessionsfixiert. Im Narrativ waren sie sich einig: Der Augsburger Religionsfrieden wurde als Scheinkompromiss abqualifiziert, er habe unausgetragene Verwerfungen nur dissimulierend zugedeckt. Die Verschleppung habe jedoch die offenen Probleme unlösbar gemacht und den großen Krieg verursacht. Die Polarisierung des Reichs seit 1590 sei dazu das Vorspiel gewesen. Die Sicht galt noch unhinterfragt für Heinrich Lutz, der sich 1983 wunderte, dass erst Jahrzehnte nach 1555 „und dann auch nicht eigentlich zwischen den Reichsständen […] der große Brand entflammte“.39 In dieses Narrativ wurden Union und Liga als konfessionelle Allianzen eingefügt, die sich eine nur geheuchelte Fassade als Landfriedenseinungen gaben. Neuere Studien lassen hingegen zweifeln, ob nicht neben der Konfession andere Dynamiken zu sehr vernachlässigt wurden, etwa Ehre, Einfluss, Rang in der Fürstengemeinschaft, Machtgewinn, gerade bei den pfälzischen und bayerischen Wittelsbachern. Die Liga war seit ihrer Gründung primär auf Sicherheit bedacht, die Union zwar mehrfach von der Kurpfalz zur Offensive getrieben, aber nach zehn Jahren der Auflösung nahe. Spannungen innerhalb der Union lähmten bereits jede Aktivität, die Liga war vor 1618 zur „Nachbarlichen Versicherung“40 Bayerns und einiger Fürststifte geschrumpft. Georg Schmidt, um wenigstens die Tendenz neuer Urteile anzudeuten, erkennt als Funktion der Union und Liga, „der Suche nach einem gütlichen Kompromiss Nachdruck zu verleihen“.41 Das ist exakt die Gegenposition der herkömmlichen Bewertung, nämlich dass Union 3 8 Moriz

Ritter/Felix Stieve (Hrsg.), Briefe und Acten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges in den Zeiten des vorwaltenden Einflusses der Wittelsbacher, Band 1–7, München 1870–1905. 3 9 Heinrich Lutz, Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung, Berlin 1983, S. 359. 4 0 Dieter Albrecht, Maximilian I. von Bayern 1573–1651, München 1998, S. 448. 41 Georg Schmidt, Die Union und das Heilige Römische Reich deutscher Nation, in: Albrecht Ernst/Anton Schindling (Hrsg.), Union und Liga 1608/09. Konfessionelle Bündnisse im Reich – Weichenstellung zum Religionskrieg? (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 178) Stuttgart 2010, S. 9–28, hier S. 10.

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und Liga eben nicht, wie man glaubte, den Weg zum Krieg bahnten, sondern einen Weg zu mehr Sicherheit suchten. Eine verlässliche Bewertung der beiden Positionen erscheint beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht möglich. Vielmehr setzt ein abgewogenes Urteil voraus, dass die neueren, postkonfessionellen Deutungskonzepte umfassend an den Quellen geprüft werden. Aufschlussreich sind die Gründungsverträge, auch wenn man daraus keine weittragenden Schlussfolgerungen ziehen darf, weil sie Absichtserklärungen formulieren, die auch Nichtmitgliedern bekannt wurden. Die Texte von 1608/09 deuten auf den ersten Blick eine unterschiedliche Legitimation an. Die ­Union rechtfertigte ihre Existenz damit, dass die Reichsexekutionsordnung „zum theil in beschwerlichen mißverstand gezogen, zum theil aber und von vielen durch feindtliche und thätliche handlungen überschritten“ worden sei. Daher sei zu besorgen, dass „etliche außer- auch innerhalb des heyligen reichs“ die „fridliebende[n]“ Reichsstände bekriegen würden. Dem müssten die Bedrängten „mit nothwendiger und erlaubter defension mannlich begegnen“.42 Ein Bezug zur Religion findet sich nicht. Das Recht zur Gewalt wird eindeutiger als beim Schmalkaldischen Bund als Causa iusta, als Recht zur Gegenwehr begründet. Auch die Liga verantwortete sich mit dem Recht auf Gegenwehr gegen „unrüebige“, zusätzlich mit der Stabilisierung der Reichsverfassung: Die „einigung“ habe sich „zu mehrer volziechung und handthabung deß hey[ligen] reichs satzungen“ zusammengeschlossen, auch um die „außreittung der alten, wahren allein seeligmachenden catholischen religion“ zu verhindern.43 Wie die Schmalkaldener berief sie sich also ausdrücklich auf die Verteidigung der Religion. Indessen betonte die Liga wie die evangelischen Konfessionsbünde, „allein defensive“ zu handeln.

V. Zusammenfassung

Landfriedens- und Sonderbünde existierten nahezu fortwährend in dem näher betrachteten Zeitraum von 1488 bis 1635 (Auflösung Liga), nur in den Jahren 1547–1552 und 1599–1607 nicht. Die Landfriedensbünde verbesserten die Sicherheit für Stände und Untertanen einer Region, indem sie Schutz gegen willkürliche, unrechtmäßige Gewalt boten. Sie verbesserten damit zugleich die Sicherheit im Reich. Dies gilt in hohem Maß für den Schwäbischen Bund, ungleich weniger für die Nachfolgeorganisationen. Die zahlreichen Bünde der 1530er- und 1540erJahre, vielfach Gegengründungen gegen den Sonderbund der Schmalkaldener, 42

Albrecht Ernst, Gründungsdokumente von Union (1608) und Liga (1609), in: Albrecht Ernst/Anton Schindling (Hrsg.), Union und Liga 1608/09. Konfessionelle Bündnisse im Reich – Weichenstellung zum Religionskrieg? (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 178), Stuttgart 2010, S. 343–372, hier S. 350f. 4 3 Ders., Gründungsdokumente (wie Anm. 42), S. 363f.

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firmierten als Landfriedensbund, schützten allerdings teils nur sich selbst, teils blieben sie inaktiv. Bundesaufgebote wie der Schwäbische mobilisierten jedoch der Heidelberger und der Landsberger Bund nicht. Immerhin trugen die beiden Einungen mit dem Anspruch auf Friedenssicherung und mit einer formalen Überkonfessionalität zur Vorbereitung und Akzeptanz des Augsburger Friedens bei. Sonderbünde rechtfertigten sich mit dem unzureichenden Schutz gegenüber der Bedrohung durch konfessionell motivierte Gewalt. Der Schmalkaldische Bund, der sich gegen den Kaiser wandte, berief sich darüber hinaus nachdrücklich auf das Naturrecht und Gemeine Recht, wonach Gegenwehr als Causa iusta zulässig war. In anderer bzw. abgeschwächter Form folgten darin Union und Liga. Die Sonderbünde konnten die Sicherheit erhöhen, wenn sie konfessionspolitische Gegner von Gewaltsamkeit abhielten, aber zugleich schwächen, wenn sie konfliktsteigernde Frontbildungen erzeugten. Der Schmalkaldische Bund, auch infolge der hegemonialen Ambitionen des sächsischen Kurfürsten, verschärfte das Religions- und Gewaltproblem des Reichs. Ob Union und Liga die konfessionspolitische Polarisierung um 1600 vertieften oder ob sie (gewollt oder ungewollt) den Status quo sicherten, um Lösungen für Sicherheit im Reichsverband zu finden, lässt sich gegenwärtig nicht beantworten. Die Landfriedens-, begrenzt auch die Sonderbünde beabsichtigten, das Sicherheitssystem des Reichs abzustützen. Sie mussten es um 1500 weitgehend noch substituieren, nach 1555 nur noch flankieren oder begleiten. Aber sie hatten nie die Intention, es zu ersetzen. Ausnahme war allein das eklatant gescheiterte Reichsbundprojekt Karls V. des Jahres 1547. Damit versuchte das Reichsoberhaupt, mittels eines reichsübergreifenden Bundes die Schwächen der kaiserlichen Exekutivgewalt zu kompensieren. Die Stände ließen sich auf diesen kaiserlichbündischen Annex zu den staatlichen Strukturen des Reichs nicht ein, der ihnen die Mitentscheidung im Reichstag entwunden hätte, zumal in einer Situation, in der ihre Libertät ohnehin durch den Triumph Karls V. über die Schmalkaldener bedroht schien. Das Reich war, auch unter Karl V., „vor allem ein Reich der Fürsten“44 und damit ein Verband von Herrschaftsträgern. Die Reichsfürsten hatten ein existenzielles Interesse, dass das Reich die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit für ihre politisch-dynastische Autonomie gewährleistete. Die Sicherheit erforderte offen gestaltete staatliche Strukturen, deren Grenzen durch die ständische Libertät gezogen waren. Diese staatlichen Strukturen wurden 4 4

Volker Press, Habsburgisches Reichssystem und deutsche Reformation, in: Hans R. ­Guggisberg/Gottfried G. Krodel (Hrsg.), Die Reformation in Deutschland und ­Europa. Interpretationen und Debatten. Beiträge zur gemeinsamen Konferenz der Society for ­Reformation Research und des Vereins für Reformationsgeschichte, 25.–30. September 1990, im Deutschen Historischen Institut, Washington, D.C. (Archiv für Reformationsgeschichte Sonderbd.), Gütersloh 1993, S. 533–553, hier S. 538.

118 Maximilian Lanzinner

von Reichstagen ab 1495 entwickelt und von 1541 bis 1570 fixiert, auch in ihren Begrenzungen. Herausragend war natürlich der Reichstag von 1555, der trotz der Reichsexekutionsordnung den Bünden die Existenzberechtigung ließ. Ein Terminus für die Bünde etablierte sich nicht. Man findet in den Quellen Vereinigung, Bundesvereinigung, Schirmvereinigung, Einung, Einigung, Verbündnis, Verständnis, Union und schließlich „Defension“ für die Liga. Die Liga kann, obschon mehr als zwei Jahrhunderte Bundesgeschichte zurück­lagen, immer noch Beispielfall für die Unsicherheit in der Bezeichnung dienen. „Katho­lische Liga“ setzte sich erst einige Zeit nach der Gründung als polemische Benennung durch; sie identifizierte den Bund mit der französisch-spanischen Liga des 16. Jahrhunderts, die gemäß protestantischem Gedächtnis die Hugenotten als Ketzer ausrotten wollte. Wie so oft zuvor, wenn es um die Bezeichnung des Bundes im Gründungsvertrag ging, wurden auch für die Liga 1609 verschiedene Namen erwogen: neben Defension unter anderem Katholischer Bund, Defensivrettungsbund, Bundes- oder Schirmvereinigung.45 „Defension“ war nur eine Verlegenheitslösung, im Gründungsvertrag wird auch von „einigung“ und „unierten stenden“ gesprochen. Dass es nie in der Geschichte der Bünde zu einer Begriffsbereinigung kam, war wohl kein Zufall. Die Vielfalt der Bezeichnungen drückte zum einen aus, dass den Zeitgenossen die divergierenden Bünde in ihren unterschiedlichen Zielen und Organisationsformen als Durcheinander erschienen. Zum anderen war die bunte Begriffspalette eine Folge davon, dass die Bünde keinen festen Platz im Verfassungsleben gewannen. Im Gegenteil, sie wurden in der Form des Landfriedensbunds überflüssig. Dennoch ist es zweckmäßig, die mittel­alterliche organisations- und personenbezogene Gemeinschaft der Bünde von neuzeitlichen, zweckgerichteten Bündnissen zu unterscheiden. Heuristisch hilfreich ist ebenso die Unterscheidung von Landfriedens- und Sonder- oder Defensivbünden. Der Schwäbische Bund lieferte in der Organisation eine Grundform, an der sich die Bünde bis zur Union und Liga orientierten. Eine vergleichende Untersuchung zur Organisation von Bünden gibt es im Übrigen nicht. Jedenfalls musste die komplizierte Struktur- und Verfahrensbalance zwischen mächtigen Fürsten und kleinen Rittern und Städten, die dem Schwäbischen Bund mit Mühe gelang, bei den späteren Bünden nicht mehr hergestellt werden. Immer noch verpflichteten sich jedoch die Mitglieder durch Eid und/oder Unterschrift. Das entscheidende Organ war stets die Bundesversammlung, die ein Direktorium, meist einen Fürsten, oder geschäftsführende Gremien beauftragen konnte. Hinzu kamen die Regelungen, wie Abgaben zu entrichten und Exekutionen durchzuführen waren. Auf den ersten Blick mutet das Entscheidungsverfahren der Bundesorganisationen moderner an als das Verfahren des Reichstags, weil es nach dem 4 5

Franziska Neuer-Landfried, Die Katholische Liga, Kallmünz 1968, S. 91.

Die Landfriedens- und Sonderbünde im Heiligen Römischen Reich 119

Prinzip der Gleichheit angelegt war. In der Gleichstellung kommt indes anhaltend der Charakter „gemeindeartiger Schwurverbände“46 des späten Mittelalters zum Ausdruck, also die genossenschaftliche politische Gemeinschaftsbildung. Schon deshalb wäre die Bewertung „modern“ problematisch, mehr noch, weil im 16. Jahrhundert das nach Ständen gestufte Verfahren des Reichstags der nun immer schärferen neuzeitlichen Ständetrennung entsprach. Die Beachtung des Rangs war integraler Bestandteil von Entscheidungen in der sich nun verfestigenden Ständeordnung. Die stratifikatorische Gesellschaft, so die heuristisch nützliche Trennung von Niklas Luhmann, fragt nach Rang und Würde, wenn die richtige Lösung zu finden ist. Erst die ausdifferenzierte Gesellschaft will den Experten und die (vermeintlich ausschließlich) rationale Analyse des Problems. Deshalb bediente sich der Reichstag des eigentlich „modernen“, stratifikatorischen Verfahrens im 16. Jahrhundert. Darin aber kam „Modernisierung“ so zum Ausdruck, dass sich die Kurfürsten zunehmend aus gemeinsamen Ausschüssen aller Fürsten und Städte zurückzogen und seit dem Augsburger Reichstag 1547/48 vorwiegend exklusiv im Kurfürstenrat verhandelten, um nicht „übermeert“47 zu werden. Fürsten und Städte akzeptierten dies. Die Bünde organisierten sich zwar mittels staatlicher Strukturelemente, der Bundesversammlungen, Räte, Finanz- und Exekutionsordnungen. Sie blieben jedoch immer weiter hinter der Staatlichkeit des Reichs und in noch stärkerem Maß hinter der Staatlichkeit der Territorien zurück. Dies konnte schon deshalb nicht anders sein, weil sie stets nur Vereinbarungen auf Zeit schlossen, oft für ein Jahrzehnt; danach wurden sie verlängert oder lösten sich auf. Ihre Prinzipien waren die Selbstverpflichtung, die Nivellierung ständischer Differenz und die Gleichgewichtung der Akteure bei den Entscheidungen. Bundesorganisationen sind somit dem Leitprinzip Genossenschaft zuzuordnen, einem genuinen staatlichen Gestaltungsprinzip des späten Mittelalters, das freilich deutsche Historiker in der Nachfolge Otto von Gierkes gern überschätzten. In der Staatsgestaltung der Neuzeit durchdrang das Prinzip Herrschaft mehr und mehr den politischen Prozess. In diesem Fundamentalvorgang wurden Bünde allmählich zu Fremdkörpern, die sich freilich im Heiligen Römischen Reich mit seiner offenen Staatlichkeit noch behaupten konnten.

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Peter Moraw, Die Funktion von Einungen und Bünden im spätmittelalterlichen Reich, in: Press (Hrsg.), Alternativen (wie Anm. 33), S. 1–22, hier S. 3. 47 Helmut Neuhaus, Wandlungen der Reichstagsorganisation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichs­ geschichte (ZHF Beiheft 19), Berlin 1987, S. 113–135, hier S. 128.

Sabine Dabringhaus

Sicherheit als Dimension imperialer Integration: Das Beispiel China Seit Gründung des chinesischen Kaiserreiches im 3. vorchristlichen Jahrhundert prägten Tributbeziehungen Chinas Kontakte zu anderen Völkern und Staaten. Dem sinozentrischen Weltbild gemäß umfasste der Herrschaftsbereich des chinesischen Kaisers „Alles unter dem Himmel“ (tianxia).1 Zu gleichberechtigten und symmetrischen Außenbeziehungen kam es nur in Zeiten staatlicher Zersplitterung.2 Anders als in Europa gingen chinesische Kaiser keine Heiratsbeziehungen zu anderen Herrschern ein. Die Entstehung einer Doppelmonarchie wie in Europa war in China daher nicht möglich. Zwar gehörten Heiratsallianzen (heqin) zum Instrumentarium chinesischer Außenpolitik, doch wurden sie nur einseitig vom Kaiser gewährt, indem er seine Töchter mit Tributpartnern aus dem zentralasiatischen Nachbarraum verheiratete, um sich deren Loyalität zu sichern. Heiratsallianzen gehörten – wie auch der Grenzhandel – zum Instrumentarium kaiserlicher Friedenssicherung und wurden den militärischen Mitteln kostspieliger Feldzüge vorgezogen.3 Niemals hätte freilich ein fremder Monarch durch Heirat Kaiser von China werden können.4 Stabilität und Routine in Chinas Außenbeziehungen wurden durch das Tributsystem geregelt. Da eine Bindung entfernter Gebiete an das dynastische Imperium sich langfristig nicht allein durch ökonomische Mittel und militärische Gewalt aufrecht erhalten ließ, wurde gegenüber den unterworfenen Völkern und den Nachbarreichen mit dem Tributsystem eine ritualisierte Fassade der Überlegenheit des chinesischen Kaisers geschaffen.5 John K. Fairbank und Teng 1 Eine

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detaillierte Analyse der ideologischen Grundlagen des frühen chinesischen Imperiums bietet Yuri Pines, Envisioning Eternal Empire: Chinese Political Thought of the Warring States, Honolulu 2009. Im Rückblick entwickelt der Autor in seinem jüngsten Werk, ders.,The Everlasting Empire. The Political Culture of Ancient China and Its Imperial Legacy, Princeton/Oxford 2012, eine Linie der imperialen Einheit und Rechtfertigung, die ihre Wirkung auch für das Selbstbild Chinas in der Zukunft zeige. Lehren aus der politischen Kultur des alten China für den aktuellen Aufstieg des Landes zur Weltmacht zieht Yan Xuetong, Ancient Chinese Thought, Modern Chinese Power, Princeton/Oxford 2011. Dies war zwischen 220 und 581 sowie zwischen 1127 und 1271 der Fall. Dazu Kai Vogelsang, Geschichte Chinas, Stuttgart 2012, S. 194–230, 333–354. Siehe dazu ausführlich Cui Mingde, Zhongguo gudai heqin shi [Geschichte der Heiratsallianzen im alten China], Beijing 2005. Zur Thronfolge chinesischer Monarchen siehe Yang Zhen, Qingchao huangwei xucheng zhidu [Das System der Thronfolge in der Qing-Zeit], Beijing 2001, S. 3–10. Die Ursprünge des Tributsystems gehen auf Kaiser Wu (reg. 141–87 v. Chr.) der HanDynastie zurück. Vgl. dazu Pines, Everlasting Empire (wie Anm. 1), S. 35. Eine kritische Bewertung der Bedeutung des Tributsystems und der Forschung dazu bietet Zhang Feng,

Das Beispiel China 121

Ssu-yü haben in den 1940er bis 1960er Jahren ihre Theorie einer chinesischen Weltordnung in Ostasien entwickelt.6 Chinesische Autoren betonen den büro­ kratischen Charakter dieser außenpolitischen Institution.7 Zhang Y ­ ongjin, ein Vertreter der English School der internationalen Beziehungen, bezeichnet das Tributsystem als wichtiges Strukturelement im traditionellen Ostasien und Garanten der pax sinica.8 Tributmissionen bildeten für die unterworfenen – meist nomadischen – Völker an den innerasiatischen Grenzen des chinesischen Reiches und für die Herrscher asiatischer Nachbarreiche die einzige Möglichkeit, Kontakt zum chinesischen Kaiser zu halten.9 Den Zeitpunkt und den Umfang solcher Tributmissionen (jingong) bestimmte die chinesische Seite. Die ausländischen Gesandten wurden auf Kosten der chinesischen Regierung eskortiert, beherbergt, verköstigt und unterhalten. Bei Audienzen am Kaiserhof wurde auf die strikte Einhaltung des Kotau-Rituals (sangui jiukou) geachtet. Dafür empfingen die Tributgesandten ein kaiserliches Siegel sowie den kaiserlichen Kalender, der ihre Regierung zur Einhaltung der chinesischen Zeitrechnung in der gemeinsamen Kommunikation verpflichtete. Prinzen aus den Tributländern blieben als Geiseln in der chinesischen Hauptstadt zurück (zhizi). Als Gegenleistung für die Tributgeschenke, die meist aus lokalen Produkten bestanden, gab der chinesische Kaiser den ausländischen Gesandten luxuriöse Geschenke und kaiserliche Ehrentitel mit, die in ihrer Heimat seine Überlegenheit und Machtstellung zum Ausdruck bringen sollten. Da Tributgesandtschaften immer von Kaufleuten begleitet wurden, die in der chinesischen Hauptstadt Handel trieben, waren sie für beide Seiten von hohem ökonomischen Nutzen. Tributmissionen dienten folglich auch dem Außenhandel und förderten das Interesse der Nachbarreiche an chinesischen Luxuswaren. Umgekehrt sicherte sich China auf diese Weise seinen Bedarf an Pferden, Leder­ waren, Pelzen und anderen Gütern, die es nicht selbst produzierte. Die politische Bedeutung des Tributsystems lag vor allem darin, dass sich Chinas außenpolitisches Sicherheitsbedürfnis auf diese Weise ohne Einschrän-

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Rethinking the ‚Tribute System‘. Broadening the Conceptual Horizon of Historical East Asian Politics, in: Chinese Journal of International Politics 2 (2009), S. 545–574. John K. Fairbank/S.Y. Teng, On the Ch’ing Tributary System, in: Harvard Journal of Asiatic Studies 6,2 (1941), S. 135–246, hier S. 137, 139; John K. Fairbank (Hrsg.), The Chinese World Order. Traditional China’s Foreign Relations, Cambridge/MA 1968. Zum Beispiel Li Yunquan, Chaogong zhidu shilun: Zhongguo gudai duiwai guanxi tizhi yanjiu [Eine Geschichte des Tributsystems: Forschungen über Chinas klassische Institution der Außenbeziehungen], Beijing 2004. Zhang Yongjin, System, Empire and State in Chinese International Relations, in: ­Michael Cox u. a. (Hrsg.), Empires, Systems and States. Great Transformation in International Politics, Cambridge 2001, S. 43–63, hier S. 57. Diese Asymmetrie im Verhältnis zu anderen Staaten am Beispiel Vietnams zeigt B ­ rantly Womack, China and Vietnam: The Politics of Asymmetry, New York 2006.

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kung des sinozentrischen Weltbilds aufrechterhalten ließ. Peter ­Perdue warnt jedoch davor, Chinas traditionelle Tributbeziehungen als stabiles System der Außenkontakte zu betrachten. Nicht immer ließ sich der Tribut einfordern. Dessen Bezeichnung als „System“ ist nicht zeitgenössisch, sondern beruht auf Interpretationen der westlichen China-Forschung, findet sich allerdings seltener in heutigen chinesischen Darstellungen.10 Ungeachtet der heute unterschiedlichen Deutungen des Tributverhältnisses erklärt seine Existenz jedoch, warum chinesische Kaiser keinen Anlass zur Schaffung von Bündnissen oder multilateralen Friedensgarantien sahen, wie sie die Außenpolitik im frühneuzeitlichen Europa bestimmten. Gleichzeitig ist seine institutionelle Verankerung ein Beispiel für die frühe „Verfasstheit“ des chinesischen Imperiums. Ähnlich wie seit der Reichsexekutionsordnung von 1555 stand den chinesischen Monarchen mit dem Tribut eine Art „ad hoc-Exekutive“ zur Verfügung. Ein beständiges, zentrales Organ chinesischer Außenpolitik (zongli yamen) wurde erst 1861 geschaffen, ein den anderen Ministerien gleichgestelltes Auswärtiges Amt (waijiaobu) erst 1901. Mit der Gründung der mandschurischen Qing-Dynastie (1644–1911), Chinas letztem Kaiserhaus, entstanden neue Formen chinesischer Sicherheitspolitik. Dies hing mit den Ursprüngen der Dynastie zusammen: Sie entwickelte sich aus einer Stammeskonföderation und integrierte bereits in ihrer Entstehungsphase in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts chinesische Überläufer und mongolische Nachbarstämme in ihren Herrschaftsverband.11 Ein wichtiges strukturelles Element der mandschurischen Staatsgründung war das militärische System der Acht Banner (baqi zhidu).12 Es bestand ursprüng­ lich aus acht mandschurischen Bannerabteilungen, die später um jeweils acht chinesische und acht mongolische Banner ergänzt wurden.13 Nach ihrer Erobe­ rung Chinas setzten die Qing-Kaiser ihre Bannertruppen als Eliteeinheiten ein und verteilten sie auf das gesamte Imperium. Im chinesischen Kerngebiet wurde Ackerland von chinesischen Bauern konfisziert und den Bannerleuten zur Erwirtschaftung ihres Unterhalts übertragen. Die traditionelle chinesische Armee, 10

Peter Perdue, A Frontier View of Chineseness, in: Giovanni Arrighi/Takeshi Hamashita/ Mark Selden (Hrsg.), The Resurgence of East Asia: 500, 150 and 50 Years Perspective, Abingdon 2003, S. 51–77, hier S. 67. Zur aktuellen Debatte vgl. Zhang Yongjin/Barry Buzan, The Tributary System as International Society in Theory and Practice, in: The Chinese Journal of International Politics 5 (2012), S. 3–36. 11 William T. Rowe, China’s Last Empire. The Great Qing, Cambridge/MA/London 2009, S. 17–30. 12 Yao Nianci, Qingchu zhengzhi shi tansuo [Das politische System der frühen Qing], S ­ henyang 2008, S. 19–176. 13 Zur ethnischen Integration der Banner siehe Mark C. Elliott, Ethnicity in the Qing Eight Banners, in: Pamela Kyle Crossley/Helen F. Siu/Donald S. Sutton (Hrsg.), Empire at the Margins. Culture, Ethnicity, and Frontier in Early Modern China, Berkeley u. a. 2006, S. 27–57.

Das Beispiel China 123

die sogenannten Grünen Standarten, blieb zwar erhalten, war aber eher für die landesweite polizeiliche Kontrolle als für innere und äußere Sicherheit und imperiale Expansion zuständig. Die Banner trugen die militärische Hauptlast im sino-mandschurischen Staat. Ihnen kam zudem eine wichtige identitätstiftende Funktion zu. Denn sie symbolisierten das mandschurische Selbstverständnis als Herrscherelite und vermittelten der Dynastie ein Gefühl der Sicherheit in ihrer chinesischen Umgebung.14 Die langsame Akkulturation der Qing-Kaiser und ihre teilweise Selbst-Sinisierung gelangten an Grenzen, die durchaus absichtlich eingehalten wurden. Bis ins späte 18. Jahrhundert hinein pflegten die Qing-Herrscher ein doppeltes Image als chinesische Kaiser und innerasiatische Khane.15 Dieser duale Charakter prägte auch ihren Herrschaftsapparat. Ähnlich wie gleichzeitig in Europa lassen sich in Qing-China daher neuartige Zusammenhänge von Innen- und Außenpolitik finden. Die westliche Forschung hat dafür den Begriff des „composite empire“ geschaffen. Dass es sich auch beim frühneuzeitlichen China um ein „zusammengesetztes Imperium“ handelte, dafür sprechen die Veränderungen in seinen Verwaltungsstrukturen. Während die Banner als dezentrales Instrument der Friedenssicherung auf das gesamte Land verteilt wurden, entstand in der Reichshauptstadt ein spezielles Ministerium für die Verwaltung der innerasiatischen Reichsteile, das Lifanyuan. Es war bereits vor der Herrschaftsübernahme in China (1644) zur Organisation der Kontakte mit den Mongolen gegründet worden und ergänzte im 1636 proklamierten Qing-Staat, der damals noch auf die Mandschurei beschränkt war, die vom chinesischen Vorbild übernommenen sechs Ministerien als innovatives Element der Zentralregierung.16 Durch die Einführung der Banner und des Lifanyuan wurden die traditionellen Außenbeziehungen zu den Grenzvölkern Chinas Teil der Innenpolitik im sino-mandschurischen Vielvölkerimperium. Die traditionelle „Barbarengrenze“ wurde auf diese Weise internalisiert. Gleichzeitig verwandelten sich die ehemaligen innerasiatischen Bündnispartner der Frühphase des Qing-Reiches zu Untertanen des Mandschu-Kaisers.17 Diese strukturellen Einschnitte im Verhältnis zwischen Chinesen und innerasiatischen Grenzvölkern zeigte sich besonders deutlich bei den Mongolen. Im Umgang mit den mongolischen Völkern bediente sich die Qing-Regierung eines 14

Dazu ausführlich Mark C. Elliott, The Manchu Way. The Eight Banners and Ethnic Identity in Late Imperial China, Stanford 2001, bes. S. 345–362. 15 Pamela Kyle Crossley, A Translucent Mirror. History and Identity in Qing Imperial Ideology, Berkeley u. a. 1999, S. 223–280, S. 311–336. 16 Pamela Kyle Crossley, Qing China, in: Kimberly Kagan (Hrsg.), The Imperial Moment, Cambridge 2010, S. 78–108, hier S. 95–99. 17 Sabine Dabringhaus, Das Qing-Imperium als Vision und Wirklichkeit. Tibet in Laufbahn und Schriften des Song Yun (1752–1835) (Münchener ostasiatische Studien 69), Stuttgart 1994, S. 28–42, S. 228–238.

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breiten Methodenrepertoires, das von einer friedlichen Bündnisdiplomatie bis zu umfangreichen Kriegszügen reichte. Eine flexible Strategie der Machtsicherung ließ sich nicht zuletzt deshalb gegenüber den Mongolen besonders erfolgreich umsetzen, weil es sich bei ihnen – im Gegensatz zu Chinesen, Tibetern oder Russen – um eine Vielzahl von Stämmen handelte, die teilweise untereinander verfeindet waren und daher gegen einander ausgespielt werden konnten.18 Vor allem in der Frühphase der mandschurischen Staatsbildung überwog eine Bündnispolitik, die freilich immer bilateral ausgerichtet war und niemals – wie in Europa – zu einem multilateralen System entwickelt wurde, das eine gewisse Gleichstellung der beteiligten Parteien vorausgesetzt hätte. Die Überlegenheit der Mandschu, die sie schließlich über sämtliche Widersacher triumphieren ließ, lag nicht allein in einem materiell-militärischen Vorsprung begründet, sondern auch in ihrer strategisch konzipierten, Gegensätze brillant ausbeutenden Politik wechselnder Bündnisse. Sie ermöglichte es der Qing-Dynastie, ihre anfangs relativ begrenzten Machtmittel optimal zu nutzen. Durch geschickte Allianzen wurden die jeweils gefährlichsten Gegenspieler zunächst isoliert und dann in Vernichtungsfeldzügen ausgeschaltet.19 So erging es in den 1630er Jahren den Chahar-Mongolen, deren Khan sich als Nachfolger Ghengis Khans verstand und alle mongolischen Völker unter seiner Herrschaft einigen wollte.20 Ein ähnliches Schicksal erlitten zwischen den 1670er und 1720er Jahren die Dzungaren, als sie mehrfach versuchten, Tibet ihrer Herrschaft zu unterwerfen und ein eigenes Großreich im Westteil Innerasiens zu errichten.21 Ihre endgültige Niederlage im Jahre 1758 sicherte der Qing-Dynastie zugleich die Oberherrschaft über Ost­turkestan, das 1764 seinen heutigen Namen „Xinjiang“ (wörtlich: „neue Gebiete“) erhielt.22 Für die Qing-Kaiser ging es bei ihren militärischen Auseinandersetzungen mit den mongolischen Gegenspielern nicht nur um die Oberherrschaft über die mongolischen Völker, sondern ebenso darum, deren Allianz mit Chinesen oder Russen zu verhindern. Die Gefahr eines mongolisch-chinesischen Gegenbündnisses war nach der mandschurischen Eroberung Chinas, die sich nach 1644 noch mehrere Jahrzehnte hinzog, zwar gebannt; unklar war die Situation jedoch lange Zeit in Bezug auf das Zarenreich. So hatten die nordostmongolischen Qalqa-Stämme, die Vorfahren der heute in der Mongolischen Republik 18

Wuyun Bilege/Cheng Chongde/Zhang Yongjiang (Hrsg.), Menggu minzu tongshi [General History of the Mongolian peoples], Bd.4, Hohhot 2002, S. 64–75, S. 164–271. 19 Joanna Waley-Cohen, The Culture of War in China (International library of war studies 7), London/New York 2006, S. 5–17. 2 0 Wuyun Bilege u. a., Menggu minzu (wie Anm. 18), S. 1–38. 21 Ebd., S. 98–147. 2 2 James Millward, Beyond the Pass: Economy, Ethnicity and Empire in Qing Central Asia, 1759–1864, Stanford/CA 1998, bes. S. 1–19.

Das Beispiel China 125

lebenden Mongolen, eine Anlehnung an das Russländische Reich erwogen und erst 1691 endgültig auf einem Fürstentag ihrer Angliederung an das Qing-Reich zugestimmt.23 Dies zeigt auch, wie wichtig es für die Qing-Dynastie war, sich die Loyalität der mongolischen Völker langfristig zu sichern. Dazu reichte es nicht aus, sich einfach auf eine Fortsetzung der chinesischen Tributstrategie zu beschränken. Die Mongolen mussten stärker an die kaiserliche Oberherrschaft gebunden wer­den. Folglich schloss sich der imperialen Expansion nach Innerasien eine institutionelle Integration der unterworfenen Völker in den Qing-Staat an. Auf diese Weise ließ sich ein zentrales Sicherheitsproblem an der kontinentalen Peri­ pherie Chinas endgültig lösen. Das Bannersystem und das Lifanyuan waren dazu die wichtigsten Instrumente. Die Ursprünge der Banner gehen auf das Jahr 1626 zurück, als bei der Proklamation des ersten Qing-Kaisers (Hong Taiji) 49 Fürsten aus sechzehn mongolischen Stämmen ihre Loyalität bekundeten. Aus ihren Herrschaftsgebieten entstanden die 49 Banner der Inneren Mongolei. Die neu eingerichtete Bannerbürokratie wurde von der mongolischen Stammesaristokratie geleitet, die wiederum dem Lifanyuan unterstand. Gleichzeitig entsandte das Lifanyuan zur Wahrung der kaiserlichen Oberaufsicht über die Lokalverwaltung eigene Vertreter in die neu eingegliederten Reichsgebiete. Dies gilt nicht nur für die Mongolei, sondern für alle innerasiatischen Grenzregionen. Der Nordosten, die Heimat der MandschuDynastie, wurde unter Militärverwaltung gestellt und in drei Bezirke (Shengjing, Jilin und Heilongjiang) unterteilt, die jeweils einem Militärgouverneur (jiangjun) zugeordnet waren.24 Militärfarmen (guanzhuang) gewährleisteten die Versorgung der Grenztruppen. Permanente Garnisonsstädte – wie Aigun am Amur-Fluss (1683), Mergen (1690) und Qiqiha’er (1691) am Nonni-Fluss oder Hailar (1732) in der Hulunbuir-Steppe – wurden gegründet und fügten die ersten urbanen Elemente in die Steppen- und Waldlandschaften ein.25 Auch in Xinjiang setzte die Qing-Regierung auf ein stärker militärisches Element in den Verwaltungsstrukturen. Ähnlich wie in anderen Grenzregionen wurde in Xinjiang die lokale Elite in die bürokratische Organisation des QingImperiums integriert. Denn selbst dort, wo die Zentralregierung eine starke, permanente Militärpräsenz zeigte, war sie auf die Kooperationsbereitschaft 2 3

Dazu ausführlich Veronika Veit, Die vier Qane von Qalqa. Ein Beitrag zur Kenntnis der politischen Bedeutung der nordmongolischen Aristokratie in den Regierungsperioden Kang’hsi bis Ch’ien-lung (1661–1796), Wiesbaden 1990; Peter Perdue, China Marches West: The Qing Conquest of Central Eurasia, Cambridge/MA u. a. 2005, S. 256–302. 24 Christopher Mills Isett, State, Peasant and Merchant in Qing Manchuria, 1644–1862, Stanford 2007, S. 1–42. 2 5 James Reardon-Anderson, Land use and society in Manchuria and Inner Mongolia during the Qing dynasty, in: Environmental History 5,4 (2000), S. 503–530.

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einheimischer Machthaber angewiesen. Dies galt ebenso für eine Region wie Tibet, wo eine kostspielige militärische Besetzung und der Aufbau eines externen Mitarbeiterstabes auch in den unteren Rängen nicht in Frage kamen. Seit 1728 beaufsichtigte ein kaiserlicher Tibet-Amban (zhu Zang dachen) die regionale Regierung, die ab 1751 wieder ganz in den Händen der beiden theokratischen Oberhäupter, des Dalai Lama und des Panchen Lama, lag.26 Ziel der Qing-Regierung war es, die unterworfenen Gesellschaften Inner­asiens zwar in ihr Vielvölkerreich zu integrieren, die interethnischen Differenzen aber zur Absicherung ihrer Oberherrschaft aufrechtzuerhalten. Durch verwaltungstechnische Trennung blieben die unterschiedlichen Wirtschaftsweisen, Sprachen, Religionen und Gebräuche bewahrt. Herrschaftssicherung durch „kulturelle Koexistenz“ hieß die Devise im Qing-Imperium. In Bezug auf die innerasiatischen Völker wurde die traditionelle chinesische Außenpolitik der Tributbeziehungen durch eine flexible Strategie gegenüber Untertanen abgelöst. Durch Privilegien, Heiratsallianzen, Titelbelehnungen und kaiserliche Audienzen sicherte sich die Qing-Regierung die Loyalität der lokalen Eliten.27 Entscheidend waren die jeweiligen Machtverhältnisse, denen man sich bei der Wahl der Mittel der Herrschaftssicherung realpolitisch anzupassen wusste (yin shi er yi). Dabei nutzten die Mandschu-Kaiser geschickt die kulturspezifischen Merkmale der unterworfenen Völker aus (yin su er zhi). Sowohl die umfangreiche kaiserliche Förderung des tibetischen Lamaismus als auch der Rückgriff auf örtliche Herrschaftstraditionen in der Mongolei und in Xinjiang entsprangen diesem Denken. Obwohl die duale Herrschaftsstrategie die Antagonismen zwischen Chinesen und innerasiatischen Völkern nicht aufhob, sondern langfristig eher verschärfte, gelang es den Qing-Kaisern auf diese Weise, ihre Herrschaft über C ­ hina und weite Teile Innerasiens zu stabilisieren und langfristig zu sichern.28 Zu den neuen qing-kaiserlichen Sicherheitsstrategien gehörte die Verwandlung von kulturell definierten Grenzräumen, in denen die Konturen der Begegnung zwischen Chine­sen und Nicht-Chinesen keineswegs eindeutig gezogen waren, in politisch definierte und eindeutig demarkierte Grenzlinien, die mit modernen Methoden der Grenzverteidigung, etwa durch Wachtürme und Grenzpatrouillen, kontrolliert wurden. Anders als im Umgang mit ihren unmittelbaren Nachbarvölkern sah die QingRegierung gegenüber den europäischen Mächten keinen Anlass, neue Wege der Sicherheitspolitik zu beschreiten und hielt an den konventionellen Methoden des 2 6

Dabringhaus, Qing-Imperium (wie Anm. 17), S. 50–57. Beispiel sind die zahlreichen Heiratsallianzen der Qing mit Mongolen. Vgl. dazu ausführlich Du Jiayi, Qingchao manmeng lianhun yanjiu [Forschungen über die Heiratsallianzen zwischen Manchu und Mongolen in der Qing-Zeit], Beijing 2003. 28 Dabringhaus, Qing-Imperium (wie Anm. 17), S. 215–238. 27 Ein

Das Beispiel China 127

chinesischen Tributsystems und des Monopolhandels fest. Alle diplomatischen Vorstöße europäischer Mächte im 17. und 18. Jahrhundert wurden als Tributmissionen interpretiert. Dass die meisten europäischen Gesandten das Tributritual des Kotaus vollzogen, bestärkte die Qing-Regierung in dieser Einschätzung, obwohl die Europäer keineswegs in regelmäßigen Abständen erschienen, wie die Delegationen aus Korea oder Siam es taten. Dennoch waren die Qing-Kaiser nicht zu Zugeständnissen und Neuerungen in den Beziehungen mit den europäischen Seemächten bereit.29 Nur ihr Verhältnis zur russischen Kontinentalmacht bildete eine Ausnahme. Da das Zarenreich mit Qing-China eine kontinentale Grenze von mehreren tausend Kilometern teilte und sich hier – wie bereits erwähnt – die größten Sicherheitsprobleme stellten, sahen sich die MandschuKaiser gegenüber Russland zu mehr Pragmatismus und Realpolitik gezwungen.30 Gegenüber den europäischen Seemächten fehlte ein solcher außenpolitischer Handlungsimpuls. Daher zeigten sich die Qing-Kaiser nicht bereit, ihre Beziehungen zu Portugiesen, Niederländern oder Briten außerhalb der tributären Konventionen neu zu definieren. Die Realität eines florierenden europäischen Chinahandels wurde durch die Tributfunktion freilich kaum beeinflusst, wenngleich der maritime Handel vielfachen Reglementierungen ausgesetzt war.31 Historiker haben dafür den Begriff des „Kanton-Systems“ geprägt – als Gegenstück zum „Kjachta-System“ an der russisch-chinesischen Grenze. Jedoch kam es vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen China und den westeuropäischen Staaten zu keiner völkerrechtlichen Kodifizierung der gegenseitigen Beziehungen nach dem Vorbild der Verträge von Nerčinsk (1689) und Kjachta (1727).32 Organisiert wurde der Kanton-Handel vielmehr durch ein Doppelmonopol: Auf europäischer Seite wurden von den Regierungen privilegierte Handelskompanien – etwa die East India ­Company – mit seiner Durchführung beauftragt; auf chinesischer Seite überwachte ein von der Qing-Regierung eingesetzter Zollbeamter (hoppo) die speziell für den Außen­handel zugelassenen chinesischen Kaufmannsfirmen (hong).33 Ihr gegen 2 9 3 0 31

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Dazu ausführlich Paul Arthur Van Dyke, The Canton Trade: Life and Enterprise on the China Coast, 1700–1845, Hongkong 2005. Peter C. Perdue, Military Mobilization in seventeenth and eigthteenth century ­China, Russia and Mongolia, in: Modern Asian Studies 30,4 (1996), S. 757–793. John K. Fairbank, The Canton Trade and the Opium War, in: ders. (Hrsg.), Cambridge History of China, Bd. 10: Late Ch’ing, 1800–1911, Teil 1, Cambridge 1978, S. 163–212, hier S. 163–170; Paul A. Van Dyke/S.L. Tang, Merchants of Canton and Macao. Politics and Strategies in Eighteenth Century Chinese Trade, Hongkong 2011. Klaus Heller, Der russisch-chinesische Handel in Kjachta. Eine Besonderheit in den außen­ wirtschaftlichen Beziehungen Russlands im 18. und 19. Jahrhundert, in: JbbGOE (Neue Folge) 29, 4 (1981), S. 515–536. Weng Eang Cheong, The Hong Merchants of Canton. Chinese Merchants in Sino-Western Trade, 1684–1798, New York 2000.

128 Sabine Dabringhaus

eine Lizenzgebühr geführter Privathandel mit den Ausländern unterlag strengen Beschränkungen und durfte nur in dafür bestimmten Bezirken Kantons durchgeführt werden. Das „Kanton-System“ basierte auf einem Netzwerk aus kaiserlichen Zoll­ beamten, Kaufleuten, Übersetzern, Kompradoren, Schiffstechnikern und Lotsen, das sich an der Chinaküste, weit weg von Beijing, weithin selbst regulierte. Die Qing-Regierung machte sich dabei nur durch kaiserliche Dekrete bemerkbar. So verfügte sie 1741, dass sich die ausländischen Kaufleute lediglich während ihrer Handelsgeschäfte in Kanton aufhalten durften und danach wieder in die portugiesische Kolonie Macao zurückkehren mussten. Dies reichte aus kaiserlicher Sicht aus, um an Chinas maritimer Grenze genügend Sicherheit zu garantieren. Das Beispiel des Kanton-Handels zeigt, dass ein außenbezogenes Sicherheitskonzept – wie es 1670 von Leibniz als „securitas publica externa“ formuliert w ­ urde – in China eine geringere Rolle spielte und der Akzent vielmehr auf internen Sicherheitserwägungen lag. Sicherheit als ein Leitkonzept zwischenstaatlicher Politik wurde in China erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt.34

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Shogo Suzuki, Civilization and Empire: China and Japan’s Encounter with European International Society, London/New York 2009 (The new international relations series), S. 11–33, 57–62, 69–81.

Sven Externbrink

Sicherheit durch Verhandlung? Strukturwandel im europäischen Staatensystem des 18. Jahrhunderts* I. Ordnungsmodelle des Staatensystems: Ludwig Dehio und Paul W. Schroeder

Es ist sicherlich nicht unpassend, auf einem Historikertag in Marburg an einen Marburger Außenseiter der „Zunft“ zu erinnern, der 1948 einen viel beachteten Essay über ein „Grundproblem der neueren Staatengeschichte“ vorgelegt hat. Zutiefst geprägt durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg, die Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkriegs, wollte ­Ludwig Dehio in seiner „Gleichgewicht oder Hegemonie“ betitelten Studie die „Hauptmomente“ der Staatengeschichte aufzeigen“.1 Mit der Entstehung des Staatensystems am Beginn der Neuzeit sei das Prinzip des Gleichgewichts, zuerst in Italien, an die Stelle der alten Ordnungsmodelle von Sacerdotium und Imperium getreten, um durch die Wahl Karls I. von Spanien zum deutschen Kaiser sofort bedroht zu werden: „Das Gleichgewicht, das sich soeben eingespielt hatte, wurde nicht nur in Italien in Frage gestellt, sondern im Abendland überhaupt. Kaum, dass das System den ersten Schritt ins Leben getan, wurde es schwerster Belastungsprobe unterworfen: [E]s wurde von dem Gespenst der Hegemonie bedroht, das als revenant in den folgenden Jahrhunderten so oft wiederkehren sollte“.2 Der predigtartige Ton in Dehios Darstellung und seine methodischen Prämissen wirken rund 60 Jahre nach dem Erscheinen seines Essays sehr befremdlich. Ausdrücklich stellt sich Dehio in die Tradition Rankes als Europa- und Welthis * Um Fußnoten ergänzter, ansonsten nur geringfügig erweiterter Text meines auf der Mar-

burger Frühneuzeittagung gehaltenen Vortrags. Ich danke Reinhard Stauber für die Einladung, in der von ihm geleiteten Sektion vorzutragen. 1 Ludwig Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, hrsg. v. Klaus Hildebrand, Zürich 1996, S. 10. Über Dehio (1888–1963) siehe die Bemerkungen von Klaus Hildebrand ebd., S. 387–414, und: Karl ­Hammer, Ludwig Dehio, in: Ingeborg Schnack (Hrsg.), Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 35, 1), Marburg 1977, S. 48–63 (vor allem Biographisches); Volker R. Berghan, Ludwig Dehio, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker IV, Göttingen 1972, S. 97–116; Ernst Schulin erwähnt ihn in seiner Liste von Historikern der „Frontgeneration“ nicht, obwohl er ihnen zuzuordnen ist: Ernst Schulin, Weltkriegserfahrung und Historikerreaktion, in: ­Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hrsg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 4: Krisen­ bewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880–1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 165–188, S. 173–178. 2 Dehio, Gleichgewicht (wie Anm. 1), S. 47.

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toriker und schließt in seine Betrachtung die gegenwärtig noch immer aktuelle Frage nach der Genese eines globalen Staatensystems ein.3 Die Fragen Dehios nach den Ordnungskriterien des Staatensystems haben auch heute nicht an Relevanz verloren – im Gegensatz zu seinem Zugang. Der Staat tritt bei Dehio wie ein Individuum mit eigener Persönlichkeit auf, dessen Schicksal – etwa „Flügelmacht“ zu sein – gleichsam vorbestimmt ist. Von dergleichen Prämissen hat sich die Erforschung der Staatenbeziehungen bekanntlich schon seit langem gelöst.4 Anliegen dieses Beitrags ist es, ausgehend von der Wahrnehmung der Zeitgenossen, den Blick auf einen kleinen, aber nicht unwichtigen Ausschnitt der Geschichte des Staatensystems zu werfen. Es geht mir um die Jahrzehnte zwischen dem Ende des Siebenjährigen Krieges 1763 und dem Beginn der Revolutionskriege 1792. Diese Phase ist von Historikern der Internationalen Beziehungen in den letzten Jahrzehnten nur wenig beachtet worden. Abgesehen von Einzelstudien, etwa zur Außenpolitik Friedrichs des Großen und zur Polnischen Teilung, liegen so gut wie keine umfassenden Versuche einer Gesamtdarstellung vor.5 In seiner vieldiskutierten Studie über die „Transformation“ der europäischen Politik zwischen 1763 und 1815 vergleicht Paul W. Schroeder die Jahrzehnte vor der Französischen Revolution mit der Zwischenkriegszeit der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, das heißt mit einer Epoche fortgesetzter Unsicherheit.6 Doch 3 Ebd., S. 13–15. 4

Zum Forschungsstand siehe: Hillard von Thiessen/Christian Windler (Hrsg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel (­ Externa 1), Köln, Weimar, Wien 2010; Sven Externbrink, Internationale Politik in der Frühen Neuzeit. Stand und Perspektiven der Forschung zu Diplomatie und Staatensystem, in: HansChristof Kraus/Thomas Nicklas (Hrsg.), Geschichte und Politik: Alte und Neue Wege (HZ Beihefte 44), München 2007, S. 15–39. Zur Diskussionsstand im Hinblick auf das 19. und 20. Jahrhundert: Wilfried Loth/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten (Studien zur internationalen Geschichte 10), München 2000. 5 Z. B. Thomas Altgeld, Untersuchungen zum Gleichgewicht der Mächte in der Außenpolitik Friedrichs des Großen nach dem Siebenjährigen Krieg (1763–1786) (Quellen und Forschungen zur Brandenburgisch-Preußischen Geschichte 10), Berlin 1995. Tadeusz ­Cegielski, Das Alte Reich und die erste Teilung Polens 1768–1774 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte, Abt. Universalgeschichte, Beiheft 17), Stuttgart 1988. Von den Synthesen zur Geschichte des Staatensystems im 18. Jahrhundert sind hervorzu­ heben: Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 4), Paderborn 1997 und Hamish M. Scott, The Emergence of the Eastern Powers 1756–1775, ­Cambridge 2001, sowie ders., The Birth of a Great Power System 1740–1815, London u. a. 2006. 6 Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763–1848, Oxford 1994, S. 5. Einen Einstieg in die Diskussion um Schroeders Thesen ermöglicht: Peter Krüger/ Paul W. Schroeder/Katja Wüstenbecker (Hrsg.), „The Transformation of European Poli-

Strukturwandel im europäischen Staatensystem des 18. Jahrhunderts 131

entgegen der Interpretation Paul W. Schroeders, so die These dieses Beitrags, ging der „Trend“ des späten 18. Jahrhunderts nicht in Richtung Eskalation, sondern im Gegenteil in Richtung Konfliktvermeidung.7 Schroeder spricht von der „structural instablility of the system“ zwischen 1763 und 1815, doch bewirkten, so meine These, gerade die Strukturen und Verfahren, die nach ­Schroeder das System als solches nach 1815 stabilisieren, bereits eine relative Stabilität in den Jahrzehnten vor der Revolution. Ausgangspunkt für die Ordnung des „internationalen Systems“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die sagenumwobene „diplomatische Revolu­tion“ von 1756, die Überwindung der „natürlichen und ererbten Feindschaft“ der beiden Dynastien Habsburg und Bourbon, die bereits 1680 in einer Instruktion für den französischen Gesandten am Wiener Hof als „natürlich und gleichsam erblich“ betrachtet wurde.8 Die „diplomatische Revolution“ oder auch der „Umsturz der Bündnisse“ (renversement des alliances) war keineswegs, wie es ­Georg ­Dehio schrieb, ein Zeichen für die „Nivellierung und Labilität der Machtverhältnisse“ und gab auch keineswegs „Intrigen und Zufällen […] weite[n] Raum.“9 Beginnen wir nun erstens mit der Deutung der internationalen Politik des 18. Jahrhunderts durch die Zeitgenossen und deren Suche nach Normen für außenpolitisches Handeln, und prüfen dann zweitens, inwiefern sich bereits nach 1763 im Verhalten der Akteure Hinweise auf die von Schroeder beschriebene „Transformation of European Politics“ finden lassen. Gibt es Äußerungen oder Verhaltensweisen der Akteure, die auf das Bemühen um die Überwindung von Gewalt und reiner Machtpolitik hindeuten? Gibt es Anzeichen für einen Wandel der Ideen, von kollektiven Mentalitäten und Anschauungen?10 Dies sind die Fragen, auf die dieser Beitrag zumindest im Ansatz Antworten geben möchte.

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tics 1763–1848“. Episode or Model in Modern History? (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit. Marburger Beiträge 5), Münster/Hamburg/London 2002. „The late eighteenth-century trend was towards escalation, not diminution, of conflict“, Schroeder, Transformation (wie Anm. 6), S. 5. Albert Sorel (Hrsg.), Recueil des Instructions données aux ambassadeurs et ministres de France depuis les traités de Westphalie jusqu’à la Révolution française, Bd. 1: Autriche, Paris 1884, S. 81: „il paroît néanmoins que l’opposition si naturelle et comme héréditaire de la Maison de l’Autriche aux intérêts de l aFrance est fort augmentée par le déplaisir qu’on a eu à Vienne de la paix“. Dehio, Gleichgewicht (wie Anm. 1), S. 157f. „Europe’s finding a way beyond war, transcending violence, changing the previous goals and limits of power politics. The transformation occured first and over all in the fields of ideas, collective mentalities, and outlooks“. Schroeder, Transformation (wie Anm. 6), S. VI.

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II. Ordnungsmodelle des Staatensystems: Antworten des ­18. ­Jahrhunderts

„Spätestens mit Übergang zum 18. Jahrhundert“, so Olaf Asbach, „wurde das Nachdenken über die Struktur der europäischen Staatenwelt und ihre mögliche Pazifizierung zum Gegenstand breiter politischer, diplomatischer und philosophischer Diskussionen“.11 Gab der Spanische Erbfolgekrieg bzw. die Epoche der Kriege während der Regierung des Sonnenkönigs Ludwigs XIV. den Anstoß für die Entwicklung eines umfangreichen „Projet pour rendre la paix universelle“ durch den Abbé de Saint-Pierre, so boten auch die europäischen Kriege in der Mitte des 18. Jahrhunderts Material, um über die „Hauptmomente“ (Dehio) des Staatensystems nachzudenken. Drei Beispiele für die Konzeptualisierung des Staatensystems in der Mitte des 18. Jahrhunderts seien hier kurz vorgestellt. Dabei wird auf eine Gesamtdarstellung der jeweiligen Entwürfe verzichtet und nur geprüft, wie die Autoren internationale Politik beschreiben: Greifen sie auf das Modell des Staatensystems zurück, und wenn ja, welches sind die Prinzipien oder Strukturen, die es prägen? Worin bestehen die Voraussetzungen für die Etablierung einer Friedensordnung bzw. einer friedlichen Koexistenz der Akteure innerhalb des Staatensystems?12 Der erste der hier behandelten Autoren muss nicht weiter vorgestellt werden: Jean-Jacques Rousseau.13 Sicherlich war es kein Zufall, dass Jean-Jacques Rousseau ausgerechnet Ende 1754, im Moment einer sich anbahnenden englisch-französischen Krise, Zugang zu den Papieren und Schriften des Abbé de Saint-Pierre erhielt und diese seit 1756 einem intensiven Studium unterzog, das 1761 – während der Endphase des Siebenjährigen Krieges – in der Publikation eines eigenständigen „Auszuges“ („Extrait“) mündete.14 Nur den Spezialisten sind Guillaume-François Le Trosne (1728–1780)15 und Pierre-Paul ­Lemercier de La ­Rivière (1719–1792)16 bekannt, die beide zum Kreis der Physiokraten um 11

Olaf Asbach, Die Zähmung der Leviathane. Die Idee einer Rechtsordnung zwischen Staaten bei Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau (Politische Ideen 15), Berlin 2002, S. 39. 12 Zum Staatensystem in der Frühen Neuzeit siehe Sven Externbrink, Staatensystem, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12, Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 558–565. 13 Über Rousseau zuletzt: Raymond Trousson, Jean-Jacques Rousseau, Paris 2003; Bernard ­Cottret/Monique Cottret, Jean-Jacques Rousseau en son temps, Paris 2005. 14 Umfassend: Asbach, Zähmung (wie Anm. 11), S. 93–184. 15 Jerome Mille, G.-F. Le Trosne (1728–1780). Étude économique fiscale et politique. Un Physiocrate oublié, Paris 1905 [Ndr. New York 1905]; eine Kurzbiographie bei Rainer Gömmel/ ­Rainer Klump, Merkanitilisten und Physiokraten in Frankreich, Darmstadt 1994, S. 68. 16 Kurzbiographie bei Gömmel/Klump, Merkantilisten (wie Anm. 15), S. 69. Louis Philippe May, Le Mercier de La Rivière (1719–1801). Aux origines de la science économique, Paris 1975. Zu Merciers praktischen Erfahrungen siehe Pernille Roge, „Legal Despotism“ and Enlightened Reform in the Îles du Vent: The Colonial Gouvernment of Chevalier de

Strukturwandel im europäischen Staatensystem des 18. Jahrhunderts 133

François Quesnay gerechnet werden. Auch wenn sich beide in erster Linie als Wirtschaftstheoretiker einen Namen gemacht haben, so finden sich dennoch in ihren Werken Reflexionen über das Wesen der zeitgenössischen Politik. An der Existenz eines europäischen Staatensystems gab es für alle drei Autoren keinen Zweifel. „Alle europäischen Mächte bilden zusammen eine Art System, zusammengehalten durch eine gleiche Religion, das gleiche Völkerrecht, durch die Sitten, durch die Kultur, durch den Handel, und durch eine Art Gleichgewicht, das in der Tat hierzu notwendig ist“, so die Feststellung Rousseaus.17 Von einem „sistême de l’Europe“ sprach Le Trosne in zwei 1762 publizierten „Reden“ (Discours) über das Völkerrecht und den „État politique de l’Europe“.18 Mercier de la Rivière stellte fest, dass „alle Nation dieses Teil der Erde [d. h. Europa, S.E.] sich als eine einzige und gleiche Gesellschaft betrachten, die auf einem gemeinsamen Interesse gegründet ist“, nämlich der „persönlichen Sicherheit“ („sûreté personnelle“) jeder Nation.19 Doch alle drei sahen sich gezwungen anzumerken, dass der Krieg – und nicht der Frieden – gleichsam der Normalzustand zwischen den Angehörigen dieses Systems sei: „Wir sind uns demnach einig, dass das allgemeine Verhältnis zwischen den europäischen Mächten im Prinzip ein Kriegszustand ist, und dass alle zwischen einigen von ihnen geschlossenen Verträge eher als Waffenstillstände denn als wirkliche Friedensverträge zu betrachten sind“, stellte beispielsweise Rousseau fest.20 Die Ursachenforschung der Autoren erhellt zugleich ihre spezifische Wahrnehmung der Funktionsweise des Staatensystems. Bei Rousseau, aber auch bei Le Trosne21, war der Grundpfeiler des Staatensystems das „corps germanique“, Mirabeau and Mercier de la Rivière, 1754–1764, in: Gabriel Paquette (Hrsg.), Enlightened Reform in Southern Europe an ist Atlantic Colonies, c. 1759–1830, Farnham 2009, S. 167–182. 17 Jean-Jacques Rousseau, Extrait du projet de Paix Perpétuelle de Monsieur l’abbé de SaintPierre (1761), in: ders., Œuvres complètes, hrsg. v. Bernard Gagnebien/Marcel Raymond, Bd. 3: Écrits politiques (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 2003 [zuerst: 1964], S. 565: „[T] outes les Puissances de l’Europe forment entre elles une sorte de système qui les unit par une même religion, par le même droit des gens, par les mœurs, par les lettres, par le commerce, et par une sorte d’équilibre qui est l’effet nécessaire de tout cela.“ 18 [Guillaume-François Le Trosne], Discours sur le Droit des Gens et sur l’Etat politique de l’Europe, Amsterdam 1762. Ich danke Isabelle Deflers, Freiburg, für den Hinweis auf diese Schrift. 19 [Paul-Pierre Mercier de la Rivière], L’Ordre naturel et essentiel des sociétés politiques, 2 Bde., London/Paris 1767, Bd. 1, S. 323: „[T]outes les Nations de cette partie de la terre [d. h. Europa] se regardent [comme] une seule & même société formée par un intérêt commun, la sureté personelle de la Nation“. 2 0 Rousseau, Extrait (wie Anm. 17), S. 572: „Convenons donc que l’état relatif des Puissances de l’Europe est proprement un état de guerre, et que tous les Traités partiels entre quel­ ques-uns de ces Puissances sont plutôt des trêves paasagères que de véritables Paix“. 21 Le Trosne, Discours (wie Anm. 18), S. 54ff.

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das, so Rousseau, solange es existiere, niemals das europäische Gleichgewicht stören werde. Dies ist eine bekannte und oft zitierte Passage, doch weniger häufig wird erwähnt, dass ein zweites Prinzip existiert, das als „Stütze“ („soutien“) des europäischen Systems fungiert: „Das Spiel der Verhandlungen, die sich beinahe immer ausgleichen“.22 Gleichgewicht war ein zentrales Element in allen Beschreibungen, doch wurde es kritisch gesehen, denn es sei kein Garant für den Frieden: „Dies so gepriesene Gleichgewicht, das vielmehr das Ergebnis des Zufalls als der Politik ist, war zugleich tausendfach Ursache von Unruhen, Misstrauen, Besorgnis: Tausendfach diente der Eifer für seine Erhaltung als Vorwand für Ligen und für Projekte, die sich als verhängnisvoll für den Frieden in Europa erwiesen“, so eine Beobachtung von Le Trosne.23 Das „systême de la balance de l’Europe“, schrieb Mercier de la Rivière, sei wenig hilfreich, „Kriege unter den Mächten Europas zu verhindern. Es dient ihnen vielmehr als Anlass, oder Vorwand, denn täglich bekriegen sie sich, um das Gleichgewicht zu erhalten. Die Völker erwürgen sich gegenseitig, gegen den anderen bewaffnet mit einem System, das erdacht wurde, um sie daran zu hindern, sich gegenseitig zu erwürgen“.24 Gleichgewicht, so kann man bis hierhin zusammenfassen, wird von den Autoren in der Tat als eine Grundstruktur der Staatenbeziehungen (oder „Hauptmoment“, um noch einmal die Dehiosche Terminologie aufzugreifen) angesehen. Diese kritische Perspektive auf das Gleichgewicht der Kräfte als ein stabilisierendes Prinzip der Politik wird auch von anderen Zeitgenossen geteilt, so etwa vom Abbé ­Bernis, der von 1757 bis 1758 Staatssekretär für die Auswärtigen Angelegenheiten war, sowie von seinen Mitarbeitern im Staatssekretariat. Hier sah man darin vor allem einen Vorwand, der den Briten dazu diente, ihre Expansionspolitik zu

2 2 Rousseau, Extrait (wie Anm. 17), S. 572: „Ce qui fait le vrai soutien du systême de l’Europe,

c’est bien en partie le jeu des négociations, qui presque toujours se balancent mutuellement; mais ce systême a un autre appui plus solide encore; et cet appui c’est le Corps Germanique, placé presque au centre de l’Europe, lequel en tient tous les autres parties en respect, et sert peut-ête encore plus au maintien de ses Voisins, qu’à celui des ses propres membres“; „le jeu des négociations, qui presque toujours se balancent mutuellement“. 2 3 Le Trosne, Discours (Anm. 18), S. 62: „Cet équilibre si vanté, qui semble plutôt l’effet du hazard que de la politique a été mille fois une occasion de trouble, de défiance, d’inquiétude: mille fois le zèle pour sa conservation, a servi de prétexte à des ligues, à des projets funestes au repos de l’Europe“. 24 Mercier de la Rivière, L’ordre naturel (wie Anm. 19), S. 322: „à prévenir les guerres parmi les Puissances de l’Europe; il semble plutôt leur servir d’occasion, ou de prétexte; car tous les jours elles font la guerre pour maintenir la balance: les peuples ainsi s’entr’égorgent, armés les uns contre les autres par un systême imaginé pour les empêcher de s’entr’égorger“.

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verschleiern.25 Umgekehrt kritisierte auch Johann Heinrich Gottlob Justi (1717– 1771) in seiner 1758 publizierten pro-preußischen Schrift über die „Chimäre des Gleichgewichts“, dass Letzteres der „Deckmantel zu unnöthigen Kriegen gewesen [sei], die Millionen Menschen auf die Schlachtbank geliefert“ hätten.26 Welche Lösung gab es nun für das Problem, dass einerseits das Staatensystem scheinbar unlösbar mit dem Gleichgewicht verbunden war, andererseits aber die sûreté personelle einer Nation, so Mercier de la Rivière, nicht dadurch gesichert wurde? Kriegsfördernd, so die Erkenntnis der drei, sei die Abwesenheit einer Instanz, die die Akteure des Staatensystems zu friedlichem Handeln zwingen könne. Dies könnte nach Rousseau dadurch erfolgen, dass sich die Mächte mittels eines „universellen contrat social“ zusammenschließen und somit einen veritablen corps politique bilden. Bezogen auf die Philosophie Rousseaus hieße dies, den contrat social durch einen internationalen Gesellschaftsvertrag zu erweitern.27 Saint-Pierre modifizierend entwarf auch Rousseau eine Konföderation der europäischen Staaten. Dadurch könne ein „Rechtszusammenhang“ der euro­päischen Mächte geschaffen werden, der langfristig den beständigen Kriegszustand über­ winden könne und ein wirkliches „Recht zwischen den Staaten“, ein wahrhaftiges Völkerrecht schaffen würde.28 Die Realisierungschancen des Planes schätzte er jedoch gering ein; nicht weil er utopisch sei, sondern weil ihm die Dummheit der Menschen entgegenstehe.29 Den Weg einer Konföderation wählte auch Mercier de la Rivière, jedoch ausgehend von anderen Prämissen. Eine confédération générale sei der europäische Naturzustand, denn trotz der Spaltungen bestehe eine Rechtseinheit in Europa. Es 2 5

Vgl. Sven Externbrink, Friedrich der Große, Maria Theresia und das Alte Reich. Deutschlandbild und Diplomatie Frankreichs im Siebenjährigen Krieg, Berlin 2006, S. 205f. 2 6 So Justi zitiert v. Harm Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der politischen Wissenschaft und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert (Historische Forschungen 29), Berlin 1986, S. 90. Hinzuweisen in diesem Kontext ist auch auf Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), in: ders., Werke, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, 10 Bde., Darmstadt 4. Aufl. 1983, Bd. 9, S. 171–172: „Kein Staat ist gegen den andern wegen seiner Selbständigkeit, oder seines Eigentums, einen Augenblick gesichert. […] Nun ist hierweder kein anderes Mittel, als ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder Staat unterwerfen müßte, gegründetes Völkerrecht […] möglich; – denn ein dauernder allgemeiner Friede, durch die so genannte Balance der Mächte in Europa ist, wie Swifts Haus, welches von einem Baumeister so vollkommen nach allen Gesetzen des Gleichgewichts erbauet war, daß, als sich ein Sperling darauf setzte, es sofort einfiel, ein bloßes Hirngespinst“. 27 Asbach, Zähmung (wie Anm. 11), S. 266. 28 Ebd., S. 268. 2 9 Rousseau, Œuvres (wie Anm. 11), S. 589.

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sei also lediglich das richtige Mittel zu bestimmen, um eine friedliche Koexistenz zu garantieren.30 Dieses fand Mercier de la Rivière im Begriff der Brüderlichkeit (fraternité). Aus der Angewohnheit der Monarchen, einander frère zu titulieren, schloss er auf eine fraternité naturelle des nations, deren Essenz darin bestehe, dass sich die Nationen wie Individuen gegenüber ihresgleichen zu verhalten hätten. Kern der Beziehung zwischen den Individuen sei der Respekt vor dem Eigentumsrecht. Entsprechend sei der Intérêt général einer Nation nichts anderes als die potenzierten Einzelinteressen ihrer Angehörigen.31 Die Beachtung dieser Regel – Respekt vor dem Eigentum des Anderen – müsse Ausgangspunkt für ein friedliches Miteinander der Mächte sein. Je mehr die Souveräne auf die Sicherung des Eigentums ihrer Untertanen achteten, desto weniger Konfliktursachen gebe es auf der Ebene der Staatenbeziehungen. Mercier de la Rivière betrachtete somit den Frieden als einen Prozess, hervorgerufen durch die Konzentration der Mächte auf den Schutz des Eigentums.32 Doch ist sein Entwurf eines Weges zu einer friedlichen Koexistenz im europäischen System wahrscheinlich weniger aus der Beobachtung der Realitäten gewonnen, als vielmehr im Kontext seines physiokratischen Denkens einzuordnen. Ganz anders dagegen Le Trosne, dessen beiden Discours einen Kommentar zum Siebenjähri­gen Krieg darstellen. In der Schaffung von Gesetzen, die die Souveräne zur Gerechtigkeit zwingen sollten, sah er die einzige, jedoch utopische Lösung, um der endlosen Folge der durch Ehrgeiz und Wunsch nach Vergrößerung hervorgerufenen Konflikte Herr zu werden.33 Einen Ausweg gab es für Le Trosne aus dieser Situation – angesichts des Krieges, der dem König von Frankreich aufgezwungen worden sei – nicht. Ihm blieb nur der Appell an die Souveräne und insbesondere an Friedrich II., eine Politik des Ruhmes durch eine Politik des Friedens zu ersetzen.34 Alle drei Autoren entwickelten ein weitgehend identisches Bild eines europäischen Mächte- oder Staatensystems, von einem Gleichgewicht der Kräfte 3 0 Mercier de la Rivère, L’ordre naturel (wie Anm. 19), S. 327f.

31 Mercier de la Rivère, L’ordre naturel (wie Anm. 19), S. 328ff., S. 329: „Sitôt nous prendrons

pour base de notre politique la fraternité naturelle des nations, nous examinerons ce qui appartient à l’essence de cette fraternité, & nous trouverons que de nation à nation la nature a établi les mêmes devoires & les mêmes droites qu’entre un homme & un autre homme; nous trouverons que le meilleur état possible de chaque homme en particulier est attaché à la plénitude de son droit de propriété & de la liberté qui en es tun attribut essentiel; or dès que nous connoissons ce qui constitue le meilleur état possible de chaque homme en particulier, nous conaissons aussi ce qui constiue le meilleur état possible de chaque nation; car enfin l’lintérêt public, l’intérêt général d’une nation n’est autre chose que le produit des divers intérêts particuliers de ses mebres.“ 3 2 Mercier de la Rivière, L’ordre naturel (wie Anm. 19), S. 330–333. 3 3 Le Trosne, Discours (wie Anm. 18), S. 53f. 3 4 Ebd., S. 67–71.

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geprägt, das mehr schlecht als recht für Sicherheit und Frieden sorgte. Und alle drei waren sich darin einig, dass es dem Staatensystem an einer verpflichtenden Gewalt fehle, die die Souveräne zum Frieden zwingen könnte. Als Ausweg schlugen vor allem Rousseau und Mercier de la Rivière die Gründung von mehr oder weniger komplexen Staatenbünden vor, für deren Realisierung sie selbst – z. B. Rousseau – wenig Chancen sahen. Einzig Le Trosne wies indirekt auf einen Weg zu mehr Frieden und Stabilität hin: Es seien die Souveräne, die sich dem Allmächtigsten zur Sicherung des Friedens verpflichtet hätten. Nicht mehr das Streben nach Ruhm, wie er ausdrücklich Friedrich II. von Preußen ermahnte, solle handlungsleitend sein, sondern die modération, die besonders Ludwig XV. auszeichne, bedauerlicherweise als einzigen der europäischen Monarchen.35 Es sollte nicht mehr – wie beim Preußenkönig – die Sehnsucht nach Ruhm handlungsleitend sein, sondern – wie bei Ludwig XV. – die Zurückhaltung. Mit anderen Worten: die außenpolitisches Handeln prägenden Normen müssten sich verändern.

III. Sicherheit durch Allianzen und Verhandlung?

Blicken wir nun auf die Handlungsebene und prüfen wir, ob sich die Akteure die Ermahnung Le Trosnes zu Eigen gemacht haben, und ob sich somit der von Paul W. Schroeder als entscheidend für die Zeit nach 1815 angesehene Wandel von Regeln, Normen und Prozeduren nicht schon nach 1763 ankündigt.36 Ein Ansatz zum Verhaltenswandel der Akteure im europäischen Staatensystem lässt sich bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts feststellen. Die Entscheidung Ludwigs XV. im Friede von Aachen die zuvor im Krieg eroberten Österreichischen Niederlande im Tausch gegen die von den Engländern eroberten französischen Kolonien zurückzugeben, stieß vor allem in Frankreich auf Unverständnis. Dahinter stand die Überzeugung des Königs, dass er diese Eroberung auf Dauer nicht halten können würde und daher die „Französische Niederlande“ ein beständiger Anlass von Konflikten sein würden. Diese Bereitschaft zum Verzicht auf Eroberungen und zur Rückkehr zum Status quo ante bellum wurde in ihrer Neuartigkeit nicht gewürdigt, sondern als Zeichen der Schwäche gedeutet.37 Daher kennzeichnet den Aachener Frieden ein grundsätzlicher Widerspruch, denn er enthält einerseits eine Friedensgeste des französischen Königs, der seinen militärischen Erfolg nicht bis zum Äußersten ausreizt, andererseits wird – nicht zuletzt mit französischer Unterstützung – der Raub Schlesiens sanktioniert und 3 5 Ebd., S. 66ff. (Friedrich II.); ebd., S. 70 (Ludwig XV.). 3 6

Schroeder, Transformation (wie Anm. 6), S. X. Dies müsste natürlich die systematische Einbeziehung der Denkwelten der Entscheidungsträger mit einbeziehen. 37 Vgl. umfassend: Bernard Hours, Louis XV. Un portrait, Paris 2009; Jean-Pierre Bois, Fontenoy 1745. Louis XV arbitre d’Europe, Paris 1996.

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völkerrechtlich garantiert. Dies war jedoch durchaus im Interesse Frankreichs, da so die Habsburgermonarchie geschwächt wurde und an Bedrohungspotential für Frankreich verlor. Dass auf dem Aachener Friedenskongress die überseeischen Interessensgegensätze zwischen Frankreich und England nicht wirklich beigelegt werden konnten, ist ein Indiz für die wirtschaftliche Konkurrenz als immer stärker außenpolitisches Handeln bestimmenden Faktor. Es ist nicht mehr die dynastische Rivalität, die Konflikte schürt, sondern der Kampf um die Märkte und Produkte Außer­ europas.38 Frankreich führe, um Le Trosne noch einmal zu zitieren, Krieg gegen England, das nicht nach der monarchie universelle, sondern nach dem commerce universel strebe.39 Entsprechend richtete sich der Blick der beiden europäischen Vormächte England und Frankreich nach Westen, Richtung Ozean. Zu ernsthafter Konkurrenz auf See waren die ehemaligen „Weltmächte“ Spanien und die Republik der Niederlande nicht mehr in der Lage, genauso wie die Handelsinitiativen Österreichs, Preußens, Dänemarks und anderer mitteleuropäischer Mächte keine wirkliche Bedrohung darstellten. Diese nach 1748 immer schärfer werdende globale Konkurrenz hatte Auswirkungen auf die Formen des Konfliktaustrags zwischen den beiden Staaten. Nachdem die Scharmützel in der ostamerikanischen Wildnis bis Ende 1755 zu einem unerklärten Krieg eskaliert waren, entschied man sowohl in London als auch in Versailles, dass dieser Konflikt nicht auf Europa übertragen werden sollte. Diese Überlegung stand sowohl hinter der englischen Politik, die letztlich zur Westminster-Konvention vom Januar 1756 führte, als auch hinter der französischen Entscheidung, das österreichische Verhandlungsangebot vom Herbst 1755 anzunehmen. Sowohl London als auch Versailles betrachteten das Alte Reich als den Stabilitätsfaktor für einen europäischen Frieden und suchten nach einer Sicherheitsarchitektur für das Reich, um nicht in einen kontinentalen Krieg hinein gezogen zu werden.40 Dem entgegen stand der preußisch-österreichische Gegensatz, denn den Verlust Schlesiens wollte man in Wien nicht hinnehmen. So waren es Verhandlungen mit grundverschiedenen Zielsetzungen, die unter äußerster Geheimhaltung im Stadtpalais der Madame de Pompadour im September 1755 begannen. Letztlich 3 8

Vgl. Le Trosne, Discours (wie Anm. 18), S. 50: „Le commerce, cet agent si propre à entretenir la correspondance; à rapprocher les nations par l’intérêt; si utile à tous; si ami de la paix par lui-même que le moindre trouble l’allarme, le désole, le met en fuite; ne devient-il pas lui-même un sujet de jalousie & de dissention“. 3 9 Ebd., S. 62f. 4 0 Über die globalen Ursprünge des Siebenjährigen Krieges umfassend: Fred Anderson, Crucible of War. The Seven Years’ War and the Fate of Empire in British North America 1754–1766, New York 2000; Daniel Baugh, The Global Seven Years’ War, 1754–1763, Harlow 2011.

Strukturwandel im europäischen Staatensystem des 18. Jahrhunderts 139

setzte sich Ludwig XV. durch: Der Versailler Vertrag vom Mai 1756, bei weitem keine Panikreaktion auf die Westminster-Konvention, war ein Defensivvertrag, der den Status quo von 1748 festschrieb. Mitte 1756, als sich England und Frankreich den Krieg erklärten, war Europa neutralisiert, und Ludwig XV. gab dem österreichischen Kanzler Kaunitz deutlich zu verstehen, dass man nicht willens sei, in einen Krieg gegen Preußen zu ziehen.41 Den europäischen Krieg löste dann Friedrich der Große in einer Panikreaktion aus. Damit zwang er England und Frankreich eine europäische Front auf, letztendlich zum Vorteil der Engländer. Die Bündniskonstellationen von 1756 blieben auch nach 1763 erhalten. Bis 1792 prägte eine doppelte Allianzstruktur, die auf Ludwig XV. zurückzuführen ist, das europäische Staatensystem. Der bourbonische Familienpakt zwischen Versailles und Madrid, 1761 erneuert, bescherte dem Mittelmeerraum, Mittelund Süditalien eine Periode lange nicht gekannten Friedens, die französischösterreichische Allianz sorgte für Stabilität und Sicherheit nicht nur im Alten Reich, sondern auch in Westeuropa und Norditalien.42 Europa bis zur Weichsel erlebte bis zur Revolution eine in dieser Form zuvor nicht gekannte Friedensepoche. Einzig die europäische Ostgrenze konnte nicht in dieses Sicherheitssystem eingebunden werden – zum Leidwesen des Königreichs Polen, das dem Expansionshunger Preußens, Russlands und Österreichs zum Opfer fiel. Die französische Politik des Status quo scheiterte an dieser wunden Flanke Europas. Doch gab es auch Stimmen, die in der Teilung eine Chance für Polen sahen, da mit dem Herrschaftswechsel die Ideen der Aufklärung in das rückständige Land gelangen würden.43 Die größte Belastungsprobe musste dieses „System“ Ende der 1770er Jahre bestehen. Wie Mitte der 1750er Jahre gab es zwei Konfliktherde: die Amerikanische Revolution und den Bayerischen Erbfolgekrieg. Doch im Gegensatz zu 1756 sollte es keinen europäischen Krieg geben, sieht man von einem als „Kartoffelkrieg“ berühmt gewordenen Winterfeldzug ab. Ludwig XVI. ließ sich 1778 nicht von der 41 Gustav B. Volz/Georg Küntzel (Hrsg.), Preußische und österreichische Acten zur Vorge-

schichte des Siebenjährigen Krieges (Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven 74), Leipzig 1899, S. 478, 513, 519. Vgl. auch: Sven Externbrink, Ludwig XV. als Außenpolitiker. Zum politischen „Stil“ des Monarchen (am Beispiel des renversement des alliances), in: Klaus Malettke/Christoph Kampmann (Hrsg.), Französisch-Deutsche Beziehungen in der Neueren Geschichte. Festschrift für Jean Laurent Meyer zum 80. Geburtstag (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit. Marburger Beiträge 10), Münster 2007, S. 221–240. 42 Vgl. Sven Externbrink, Die „diplomatische Revolution“ und der Frieden in Europa, 1756/63–1789/92, in: Guido Braun (Hrsg.), Assecuratio Pacis. Französische Konzeptionen von Friedenssicherung und Friedensgarantie von 1648 bis 1815 (Schriftenreihe des Vereins für die Erforschung der Neueren Geschichte 35), Münster 2011, S. 219–236. 4 3 Marc Belissa, Les Causes de la première partition de la Pologne, in: RHDipl 122 (2007), S. 249–270; ders., Les Lumières, le premier partage de la Pologne et le système politique de l’Europe, in: AHRF 356 (2009), S. 57–92.

140 Sven Externbrink

Habsburgermonarchie in einen Krieg im Reich ziehen. Die Besetzung Bayerns durch die Österreicher löste nicht den „Bündnisfall“ aus.44 In Versailles war man vor allem an der Bewahrung des Status quo von 1748/1756 interessiert. Daher unterstützte man stillschweigend die Abwehrmaßnahmen Preußens und nahm auch hin, dass das von einer deutschen Zarin regierte Russland mehr Einfluss im Reich gewann.45 So zerbrach die französisch-österreichische Allianz nicht am Krieg, da es auch für Wien keine ernsthafte Alternative gab.46

IV. 1763–1792: Vorbild für die „Wiener Ordnung“ von 1815?

Bis zum Ausbruch der Revolutionskriege 1792 wurde in Europa im Krisenfall mehr verhandelt als geschossen. Der Einsatz von Militär, etwa im Kontext der „Revolutionen“ in den Niederlanden Ende der 1780er Jahre glich eher Polizeimaßnahmen. Dies bedeutete aber nicht, dass alle Souveräne Europas zu Friedensfürsten geworden waren. Friedrich der Große war weiterhin an der Vergrößerung seines Machtbereichs interessiert, genau wie Kaiser Joseph II. und Kaunitz, die nach einer Kompensation für den Verlust Schlesiens suchten.47 Nur riskierten sie keinen großen Krieg mehr, sie suchten vielmehr den Interessensausgleich auf dem Verhandlungswege.48 Weniger die Liebe des Friedens, sondern vor allem die Konkurrenz mit England bewirkte, dass die Sicherheit des Kontinents ein außenpolitisches Leitmotiv 4 4

John Hardmann/Munro Price (Hrsg.), Louis XVI and the Comte de Vergennes. Correspondence 1774–1787 (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 364), Oxford 1998, S. 256: „Nous avons une alliance qui nous unit de bien près avec l’Autriche, mais elle ne nous oblige pas d’entrer dans leurs vues d’ambition et d’injustice“, ähnlich bereits Vergennes S. 247–250. 4 5 Einen Überblick über den Bayerischen Erbfolgekrieg aus der Perspektive des Reiches Karl O. von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806, 3 Bde., Stuttgart 1993–1997, Bd. 3, S. 183–212. 4 6 Entwicklungen von großer Tragweite gab es außerhalb Europas: die britischen Kolonien in Nordamerika errangen, unterstützt durch Franzosen und Spanier, ihre Unabhängigkeit, in Indien vergrößerte sich der Territorialbesitz der East India Company, und mit den Entdeckungsfahrten von James Cook und Louis-Antoine de Bougainville wurden große weiße Flecken auf den Landkarten getilgt. 47 Über Kaunitz: zusammenfassend Lothar Schilling, Kaunitz und das Renversement des alliances. Studien zur außenpolitischen Konzeption Wenzel Anton von Kaunitz (Historische Studien 50), Berlin 1994, S. 378–380. 4 8 Vgl. die Einschätzung Ludwigs XVI. angesichts des Verhaltens Friedrichs nach dem Einmarsch der Österreicher in Bayern: „je crois qu’il [FdG] est très inquiet des vues de la cour de Vienne mais qu’il préférait la voie de négociation pour discuter les droits au lieu des voies de fait. […] il a envie d’entrer en négociation pour une compensation dont il ne veut pas faire la demande à Vienne“. Hardman/Price, Correspondence (wie Anm. 44), S. 256.

Strukturwandel im europäischen Staatensystem des 18. Jahrhunderts 141

Ludwigs XV. wurde.49 Seine Nachfolger übernahmen diese Maximen und damit auch die österreichische Allianz, die ihnen ein geeignetes Mittel schien, die Sicherheit des Friedens in Europa zu erhöhen.50 Dies ist nun sicherlich noch nicht die Transformation of European Politics, wie sie Paul Schroeder für die Zeit nach 1815 entworfen hat. Doch die Bevorzugung der Verhandlung, die Sorge um den Erhalt des Status quo und der zumindest in Frankreich handlungsleitende Verzicht auf Eroberungen („L’esprit des conquêtes n’animant point la conduite de Votre Majesté“, so Vergennes 177751) – all dies sind wichtige Normen und Ideen, die nach 1815 die europäische Politik prägen sollten. Zudem darf man nicht vergessen, dass die Jugend der „Generation Metternich“, also derjenigen Persönlichkeiten, die die Wiener Ordnung maßgeblich geprägt haben, in diese Jahrzehnte fiel. Ob Talleyrand, Metternich, Hardenberg, Stein oder Castlereagh – sie alle erhielten in den Jahrzehnten zwischen dem Ende des Siebenjährigen Krieges und dem Beginn der Revolutionskriege ihre politische und intellektuelle Ausbildung.52 So sei abschließend die These gewagt, dass der Ursprung des von Paul W. Schroeder als Transformation beschriebene Normwandels in der internationalen Politik in den Jahren nach 1763 liegt. In dieser Hinsicht waren die Revolutionskriege und das napoleonische Reich ein Rückfall in die Expansions- und Machtpolitik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts.

49

Hours, Louis XV (wie Anm. 37), S. 562. Hardman/Price, Correspondence (wie Anm. 37), S. 247–250. Es handelt sich um ein Gutachten Vergennes’ angesichts des Besuches Josephs II. in Frankreich. 51 Hardman/Price, Correspondence (wie Anm. 37), S. 248. 5 2 Hierzu Sven Externbrink, Kulturtransfer, Internationale Beziehungen und die „Generation Metternich“ zwischen Französischer Revolution, Restauration und Revolution von 1848, in: ­Wolfgang Pyta (Hrsg.), Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongreß 1815 bis zum Krimkrieg 1853 (Stuttgarter Historische Forschungen 9), Köln/Weimar/Wien 2009, S. 59–78, S. 68–77.

5 0

Katja Frehland

Völkerrechtliche Regeln und internationale Sicherheit zwischen Utrecht (1713/14) und Wien (1814) – Der Befund der Bündnistexte Es gab Zeiten, in denen sich die Menschen in Europa sehr unsicher fühlten, zum Beispiel während des Dreißigjährigen Krieges, wie viele Quellen eindrücklich belegen.1 Vor allem auch in der Politik – insbesondere in der äußeren Politik – herrschten zu dieser Zeit Unsicherheit und Misstrauen. So formulierte zum Beispiel Ludwig XIV: „Wenn man ganz offen die Wahrheit sagen soll, so werden die Verträge von den Staaten von vornherein mit Hintergedanken geschlossen […] Vertragsverletzungen […] erwartet jeder von jedem.“2 Ein dem Staatsphilosophen Edmund Burke zugeschriebenes Zitat aus der Zeit Anfang des 18. Jahrhunderts lautet: „Vorsorgliche Angst ist die Mutter der Sicherheit“. Ein ähnliches Sprichwort aus Frankreich heißt: „Das Misstrauen ist die Mutter der Sicherheit.“ Folgt man diesen sprichwörtlichen Aussagen, kann man vermuten, dass auf die starken Unsicherheitsgefühle und infolge des latenten gegenseitigen Misstrauens der Menschen im 17. Jahrhundert der Wunsch nach mehr Sicherheit für das Leben im 18. Jahrhundert ganz besonders dringend wurde. In der Tat hat schon Werner Conze in seinem Beitrag über den Begriff der ‚Sicherheit‘ festgestellt, dass seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ‚Sicherheit‘ als ersehnter Zustand friedlicher Ruhe, als Friedenswunsch nach den Schrecken des langen Krieges immer häufiger in die politische Sprache eindrang, weil offenbar das alte Wort ‚Frieden‘ allein nicht mehr genügte. […] Sicherheit wurde zu einem der Hauptbegriffe des europäischen Staatensystems und seines Völkerrechts.3

Dieser Wunsch nach Sicherheit manifestierte sich insbesondere in den ab dieser Zeit geschlossenen zwischenstaatlichen Bündnisverträgen: Bündnisse erschienen als ein geeignetes Mittel, um durch vorbeugende, präventiv installierte Abkommen völkerrechtliche Vereinbarungen für die Zukunft zu treffen – ‚Sicherheit‘ wurde zum Leitbegriff vieler Allianzen des 18. Jahrhunderts.4 Dies soll im Folgenden anhand von Bündnissen skizziert werden, die im Zeitraum zwischen Frieden 1

Vgl. u. a. bei: Hans Jennsen (Hrsg.), Der Dreißigjährige Krieg in Augenzeugenberichten, Düsseldorf 1963. 2 Ludwig XIV., Memoiren, Basel 1931, S. 82. Zu den Memoiren siehe: Jean-Louis Thireau, Les idées politiques de Louis XIV (Travaux et recherches de l’Université de Droit, d’Economie et de Sciences Sociales de Paris: Série Sciences historiques 4), Paris 1973. 3 Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862, hier S. 841 u. 842. 4 Vgl. die Formulierung „‚Sicherheit‘ als Leitbegriff “ ebd., S. 843.

Utrecht (1713/14) und Wien (1814) – Der Befund der Bündnistexte 143

von Utrecht und Wiener Kongress innerhalb des europäischen Staatensystems, das heißt zwischen mindestens zwei der fünf (Groß-) Mächte Großbritannien, Frankreich, Österreich, Russland und Preußen geschlossen wurden.5 Folgende Fragen stehen dabei im Vordergrund: 1.  Was für Bündnisse – also bilaterale oder multilaterale? – wurden warum, zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Erfolg geschlossen? 2. Wie hat sich der Begriff der ‚Sicherheit‘ in den Bündnissen jeweils niedergeschlagen? Um die Veränderungen in der Begrifflichkeit der Verträge und damit im Bemühen um Sicherheit deutlich zu machen und um die Befunde untereinander vergleichen zu können, ist der Zeitraum 1714 bis 1814 in drei Abschnitte unterteilt.

I.  Der Befund der Bündnistexte in der Epoche nach Utrecht (1714 bis 1739)

Die Jahrzehnte nach den Friedensschlüssen von Utrecht sind geprägt durch eine bemerkenswert rasche Abfolge von Bündnisverträgen. Insgesamt werden in diesem Zeitraum 25 Bündnisverträge unterzeichnet, wobei insbesondere in den 20er Jahren häufige Bündniswechsel, bzw. Bündnisbrüche stattfinden. Der Großteil der Allianzen dieses Zeitraums ist bilateraler Natur. Es werden aber auch drei multilaterale Bündnisse geschlossen.6 In diesen Allianzen geht es den Parteien um eine kollektive, internationale Sicherheit, von der man sich einen allgemeinen Friedenszustand in Europa erhofft.7 Eine genaue Untersuchung der Bündnistexte dieses Zeitabschnitts zeigt, wie wichtig der Begriff der Sicherheit für die europäische Bündnispolitik in diesem Zeitraum ist: In 68 % der Verträge ist der Begriff der ‚Sicherheit‘ ausdrücklich formuliert. Häufig versteckt sich ‚Sicherheit‘ auch hinter anderen Begriffen, wie zum Beispiel ‚Ruhe und Frieden‘.8 Der Begriff des ‚Gleichgewichts‘, der mit

5

Seit den Friedensschlüssen von 1713/14 bilden diese fünf (Groß-)Mächte den Rahmen, in dem sich über die Revolutionskriege hinaus die Strukturgeschichte des europäischen Mächte- bzw. Staatensystems darstellt. Vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen: Katja Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? Das Bündnis in Europa, 1714–1914 (Studien zur Internationalen Geschichte 25), München 2010, S. 22f. 6 Vgl. eine Auflistung der 25 Bündnisverträge ebd. S. 423–424. Multilateral sind das Bündnis zwischen Russland, Frankreich und Preußen vom 4. (15.) August 1717, die QuadrupelAllianz zwischen Österreich, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden vom 22. Juli (2. August) 1718 oder die sogenannte Herrenhausener Allianz zwischen Frankreich, Großbritannien und Preußen vom 3. September 1725. 7 Siehe hierzu Anm. 9. 8 Vgl. Conze, Sicherheit (wie Anm. 3), S. 844. Vgl. die Belege zur Begrifflichkeit in den Verträgen zwischen 1714–1739 ausführlich bei Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? (wie Anm. 5), S. 53ff., hier bes. S. 67, 69, 71.

144 Katja Frehland

den Friedensverträgen von Utrecht als Voraussetzung von Ruhe und Frieden in ­Europa verkündet worden war, ist dagegen nur in drei multilateralen Verträgen auffindbar – und zwar in Verträgen mit britischer Beteiligung. Nach britischer Vorstellung führte nämlich die Kombination eines multilateralen Bündnisses mit den Grundsätzen des Gleichgewichtsgedankens zu einem Zustand von Sicherheit und Frieden in Europa.9 Das Begriffsfeld der ‚Sicherheit‘ in den Bündnisverträgen: Kriterium

Anteil gesamt (1714–1739)

Stichwort ‚Sicherheit‘

in 17 von 25 Verträgen = 68 %

Motto ‚Ruhe und Frieden‘

in 20 von 25 Verträgen = 80 %

Stichwort ‚Gleichgewicht‘

in 3 von 25 Verträgen = 12 %

Zweck ‚gegenseitige Verteidigung‘

in 22 von 25 Verträgen = 88 %

Stichwort ‚Garantie‘ (ausdrücklich)

in 20 von 25 Verträgen = 80 %

Das Bedeutungsfeld der ‚Sicherheit‘ ist in den Verträgen allerdings noch weitaus vielfältiger verankert. Schon die Zweckbestimmung der Allianzen identifiziert ‚Sicherheit‘ als Leitbegriff der Bündnisse. Schließlich wird in fast allen Verträgen dieses Zeitraums als Zweck das Versprechen zur ‚gegenseitigen Verteidigung‘ genannt. Daneben steht in 80 % der Verträge der mit dem Begriff der ‚Sicherheit‘ fast noch enger verwobene Begriff der gegenseitigen ‚Garantie‘, der etwas umschrieben sogar in 100 % der Verträge enthalten ist. Somit wird deutlich, dass das Bemühen um außenpolitische und internationale Sicherheit tatsächlich als ein Leitgedanke der Bündnispolitik dieses Zeitabschnitts benannt werden kann. Welchen Effekt aber hatten nun diese völkerrechtlichen Vereinbarungen? Fühlte man sich sicherer? War man in Europa sicherer? Fakt ist, dass in Europa in den Jahrzehnten nach 1714 und nach dem Ende des Nordischen Krieges 1721 eine gewisse Beruhigung stattgefunden hat. Zumindest gab es zunächst keine großen kriegerischen Auseinandersetzungen mehr. Von

9

Vgl. Ragnhild Hatton, Georg I., Ein deutscher Kurfürst auf Englands Thron, 2. Aufl. ­Frankfurt a. M. 1982, S. 248. Vgl. Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? (wie Anm. 5), S. 87.

Utrecht (1713/14) und Wien (1814) – Der Befund der Bündnistexte 145

Beruhigung, von außenpolitischer oder internationaler Sicherheit zu sprechen, wäre allerdings übertrieben. Denn häufige Bündniswechsel und Bündnisbrüche in diesem Zeitraum zeigen, dass außenpolitische oder internationale Sicherheit vielleicht ein Ziel, aber keineswegs ein Zustand war. Zeitgenössische Aussagen sprechen für sich: ­Europäische Diplomaten bezeichnen vor allem England als einen „Ausbund an Unzuverlässigkeit“10, die Rede ist von „unaufrichtiger Gesinnung bei den englischen Ministern“.11 Aber auch die anderen europäischen Mächte erzeugen durch ihr Verhalten Unsicherheit und Misstrauen. Die Allianzen würden nur solange dauern, wie es „den großen Herren gefällig“ sei12, klagt ein Diplomat; man könne dem französischen Hof nicht trauen, verlautet es von englischer Seite; und auch über den Kaiser werden deutliche Worte laut.13 Bündnisverträge, die ja eigentlich Sicherheit erzeugen sollen, gelten somit als höchst unsicher. Vielfältige Formulierungen in den Texten weisen auf diese Problematik hin. Denn die Parteien bemühen sich, gezielt gegen diese Unsicherheiten vorzugehen und somit die völkerrechtlichen Vereinbarungen abzusichern und verlässlicher zu gestalten. Das Kriterium der Dauer: Kriterium

Anteil gesamt (1714–1739)

Stichwort ‚ewig‘

in 10 von 25 Verträgen = 40 %

Vertrag gilt auch ‚im Namen der ­Nachfolger und Erben‘

in 17 von 25 Verträgen = 68 % (ab 1725: 91,5 %)

Hier fällt besonders das Kriterium der Dauer der Bündnisse auf: Zehn Ver­ träge bestimmen etwas unrealistisch, dass das Bündnis ‚ewig‘ dauern soll. Erst nach dem wiederholten Scheitern von Bündnissen enthalten die Verträge ab 10

Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 4), Paderborn 1997, S. 303. 11 Vgl. Johann Christof Bartenstein (Berater von Kaiser Karl VI.), in: Archiv für österreichische Geschichte 46 (1871), S. 110 und S. 142. Vgl. Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? (wie Anm. 5), S. 85. 12 Zedlers Universal-Lexikon von 1732, hier zitiert nach: Reinhart Koselleck, Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 626. 13 Vgl. Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? (wie Anm. 5), S. 92.

146 Katja Frehland

dem Jahr 1725 fast durchgängig eine Klausel, mit der festgehalten wird, dass das Bündnis auch im Namen der Nachfolger und Erben gilt. Diese Klausel erhält ihre Brisanz gerade dadurch, dass viele Bündnisbrüche im Zusammenhang mit Herrscherwechseln stattfinden.14 Eine andere Maßnahme, mit der die Sicherheit und Verlässlichkeit der Bündnisse erhöht werden soll, scheint die Maßnahme gewesen zu sein, die Vereinbarung möglichst detailliert zu Papier zu bringen: In 80 % der Verträge erfolgt eine genauere Auflistung der militärischen Hilfs- oder auch Subsidienleistungen im Bündnisfall. Und ab dem Jahr 1722 sind in 80 % der Verträge sogar mehrere Artikel zu Hilfeleistungen für den casus foederis enthalten.15 Vereinbarungen zu Hilfsleistungen im Bündnisfall: Kriterium

Anteil gesamt (1714–1739)

Artikel zu Hilfsleistungen

in 20 von 25 Verträgen = 80 %

Mehrere Artikel zu Hilfsleistungen

in 12 von 25 Verträgen = 48 % (zwischen 1722–1730: 80 %)

Neben solchen konkreten Vereinbarungen gibt es aber noch eine andere Kategorie der Absicherung der Verträge, die wiederum ab den 20er Jahren verstärkt in die Bündnistexte Einzug hält: Man könnte es eine moralische Absicherung nennen. Ein Großteil der Verträge enthält schließlich Formulierungen, die die Beziehung zwischen den Bündnispartnern als ‚freundschaftlich‘ bzw. ‚eng‘ beschreiben. Außerdem wünschen elf Verträge eine vertrauliche Kommunikation zwischen den Vertragspartnern. Mit leicht zunehmender Tendenz findet sich in den Verträgen auch die gegenseitige Versicherung der Partner, keine gegenläufigen Bündnisverträge eingehen zu wollen. In diesem Zusammenhang kommen 22 Verträge auf das Thema ‚Bündnistreue‘ zu sprechen oder verwenden zumindest eine Begrifflichkeit, die diese Thematik aufgreift. Insgesamt sieben, vor allem ab 1725 unterzeichnete Verträge halten für dieses Thema der ‚Bündnistreue‘ sogar einen eigenen Artikel bereit.16

14

Vgl. ebd., u. a. S. 84f., 93f. Vgl. zur Dauer der Bündnisse vgl. bes. S. 62f. Vgl. ebd., S. 67. 1 6 Vgl. Formulierungen zur Absicherung der Verträge ebd. S. 74ff. 15

Utrecht (1713/14) und Wien (1814) – Der Befund der Bündnistexte 147

Die Absicherung der Bündnisse: Kriterium

Anteil gesamt (1714–1739)

Stichwort ‚Freundschaft‘

in 20 von 25 Verträgen = 80 %

Stichwort ‚enge Bindung‘

in 15 von 25 Verträgen = 60 %

Motto ‚vertraulich kommunizieren‘

in 11 von 25 Verträgen = 44 %

Motto ‚keine gegenläufigen Bündnisse ­eingehen‘

in 8 von 25 Verträgen = 24 % (1725–1732: 41,5 %)

Stichwort ‚Treue‘, ‚Bündnistreue‘

in 22 von 25 Verträgen = 88 % (1725–1732: 100 %)

Eigener Artikel zur Bündnistreue

in 7 von 25 Verträgen = 28 % (1725–1732: 50 %)

II.  Der Befund der Bündnistexte in der Epoche Friedrichs des Großen ­(1740 bis 1788)

Im Jahr 1740 betreten in Berlin, in Wien, in St. Petersburg – und kurze Zeit später auch in England und Frankreich – neue Herrscher oder Minister die Bühne der internationalen Politik. Nicht zuletzt deshalb wird das Jahr 1740 von der Forschung oft als ‚Wendejahr‘ der Europäischen Geschichte bezeichnet, zumal nach einer relativ friedlichen Zeitspanne jetzt wieder größere bewaffnete Konflikte folgen.17 Auch mit Bezug auf die europäische Bündnispolitik kann von einer Wende gesprochen werden – womit eintritt, was den Vorfahren schon bekannt gewesen war: Herrscherwechsel bedeuten oftmals einen Bruch der Bündnispolitik, und zwar nicht nur bestehender Verträge, sondern vor allem auch der Einstellung gegenüber den Verträgen. Insgesamt werden wieder 25 Verträge unterzeichnet, und zwar – bis auf eine Ausnahme – bilaterale Verträge. Größere bzw. umfassendere Friedens- oder Sicherheitsbündnisse bleiben in diesem Abschnitt aus.18 17

18

Vgl. u. a. Duchhardt, Balance (wie Anm. 10) 1997, S. 303. Vgl. eine Auflistung der zwischen 1740–1788 im Kreis der fünf europäischen Mächte geschlossenen Bündnisverträge bei: Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? (wie Anm. 5), S. 424f.

148 Katja Frehland

Mit Blick auf die Sicherheit und Verlässlichkeit der Verträge kann festgestellt werden, dass in diesem Zeitabschnitt zwar nicht unbedingt mehr Bündnisbrüche stattfinden, doch sind die Vertragsbrüche deutlich spektakulärer. Das heißt trotz aller Absicherungsbemühungen werden Bündnisse immer noch schnell gebrochen. Besonders hohe Wellen schlägt der Bruch der preußisch-französischen Allianz durch Friedrich II. im Jahr 1756.19 Diese Unsicherheit von Bündnissen bleibt wiederum nicht folgenlos, sondern hinterlässt teilweise deutliche Spuren in den Verträgen und auch in der Einstellung der Verantwortlichen zu den Bündnissen: Die Aussagen über die Sicherheit von und durch Bündnisse sind auffallend skeptisch. Insbesondere einzelne Akteure wie zum Beispiel Friedrich II. gelten als notorische Bündnisbrecher. So warnt die österreichische Herrscherin Maria Theresia immer wieder vor Bündnissen mit Friedrich II., den sie manchmal sogar als „Monstrum“ oder „Ungeheuer“ bezeichnet.20 Friedrich II. selber steht – zumindest zu Anfang seiner Regierungszeit – zu einer Politik der offenen Bündnisbrüche und warnt: „Hütet Euch wohl, auf die Zahl und die Treue Eurer Verbündeten zu bauen. Rechnet nur auf Euch selbst, dann werdet Ihr Euch nie täuschen. Seht Eure Verbündeten und Eure Verträge nur als Notbehelf an.“21 Das Begriffsfeld der ‚Sicherheit‘ in den Bündnisverträgen: Kriterium

Vergleich 1714–1739

Zeitraum 1740–1788

Stichwort ‚Sicherheit‘

68 %

in 18 von 25 Verträgen = 72 %

Zweck: ‚gegenseitige ­Verteidigung‘

88 %

in 23 von 25 Verträgen = 92 %

Stichwort ‚Garantie‘

80 %

in 24 von 25 Verträgen = 96 %

Motto: ‚Ruhe und Frieden‘

68 %

in 18 von 25 Verträgen = 72 %

19

Zum sog. ‚Renversement des Alliances‘ vgl. ausführlich (mit Literaturhinweisen) ebd., S. 108ff. 2 0 Zitiert nach Friedrich Walther (Hrsg.), Maria Theresia. Briefe und Aktenstücke in Auswahl (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 12), Darmstadt 1968, hier Brief an Joseph II. vom 21. Juni 1778 (Original französisch), S. 446f. 2 1 Friedrich der Große, Politisches Testament von 1752 (übersetzt von Friedrich von OppelnBronokowski), Stuttgart 1982, S. 101.

Utrecht (1713/14) und Wien (1814) – Der Befund der Bündnistexte 149

Trotz der Skepsis gegenüber dem zwischenstaatlichen Bündnisschluss halten die politischen Akteure aber weiterhin an diesem außenpolitischen Instrument fest. Auf Bündnisse kann und will nachwievor kein Staat verzichten. Der Blick in die Verträge zeigt, dass ein wichtiges Hauptmotiv der Bündnischlüsse immer noch der Faktor der ‚Sicherheit‘ ist (72 %). Der Zweck der ‚gegenseitigen Verteidigung‘ wird mit 92 % Anteil in den Verträgen sogar noch deutlicher als im vorangegangenen Abschnitt formuliert, und auch die Begriffe ‚Garantie‘ (96 %) sowie ‚Ruhe und Frieden‘ (72 %) stellen weiterhin die zentralen Anliegen der Verträge dar. Verschiedene Vertreter aus Wissenschaft und Philosophie denken in dieser Zeit über Möglichkeiten nach, wie sich der „leichtsinnige Bruch öffentlicher Verträge verhindern“ lasse.22 Auch Friedrich II. bemerkt bald, dass er sich mit seinem treulosen Verhalten selber am meisten geschadet hat: wer möchte schon einen notorischen Bündnisbrecher als Bündnispartner haben? In seinem Polititschen Testament von 1768 kommt er deshalb zu der Überzeugung: „Verlassen wir ­diese Abscheulichkeiten; man kann sie sich ersparen und selbst peinliche Lagen vermeiden, indem man die Bündnisverträge, die man schließen will, gut prüft, indem man Zweideutigkeiten vermeidet und nur mögliche Sachen verspricht, die auszuführen man die Absicht hat.“23 Im Jahr 1756 findet ein kompletter Wechsel im europäischen Bündnissystem statt. Ausgelöst wird dieser Wechsel mit dem Bruch der preußisch-französischen Allianz durch Friedrich II., der am 16. Januar 1756 ein Bündnis mit Großbritan­ nien unterzeichnet, worauf Frankreich in einer Art Trotzreaktion ein Bündnis mit Österreich schließt.24 Als Reaktion auf diesen Bruch zeichnet sich eine allgemeine Veränderung des Bündnisverständnisses und des Umgangs mit Bündnissen in Europa ab, deren Tendenz aber schon ab den 20er Jahren erkennbar gewesen war: Es wird vermehrt um die wichtige Institution Bündnis gerungen, man versucht, den Unsicherheiten durch weitere Neuerungen und Vertragsklauseln endlich wirksam zu begegnen. Viele in der Utrechter Epoche etablierten Absicherungs-Instrumente werden ab diesem Zeitpunkt nicht nur wieder eingesetzt, sondern sogar deutlich ausgebaut. Das Stichwort der ‚Treue‘ findet sich in 92 % der Verträge; und in immerhin 40 % der Texte ist ein eigener Artikel zur Bündnistreue formuliert. Auffallend ist auch die häufige Verwendung der Formel, man wolle „den Allianz­knoten fester und unauflöslich schnüren“, die jetzt mit 80 % Anteil zum festen Bestandteil 2 2

Christian Garve, Schreiben an Herrn Friedrich Nicolai. Über die Verbindung der Moral mit der Politik, in: Kurt Wölfel (Hrsg.), Christian Garve, Gesammelte Werke, Zweite Abteilung. Selbständig erschienene Schriften, Bd. VI, Hildesheim u. a. 1987, S. 3–156, hier S. 88f. 2 3 Friedrich der Große, Politisches Testament von 1768, in: Richard Dietrich (Hrsg.), Die Politischen Testamente der Hohenzollern, Köln/Wien 1986, S. 653. 24 Vgl. hierzu schon Anm. 19.

150 Katja Frehland

der Verträge wird. Ebenso das gegenseitige Versprechen der Parteien, „keinen Frieden im Alleingang“ zu schließen, entwickelt sich nun mit 68 % Anteil in den Verträgen gegenüber 20 % Anteil im vorangegangenen Abschnitt zum festen Inventar der Bündnisverträge.25 Die Absicherung der Verträge: Kriterium

Verleich 1714–1739

Zeitraum 1740–1788

Stichwort ‚Treue‘

88 %

in 23 von 25 Verträgen = 92 %

Eigener Artikel zur ­Bündnistreue

28 %

in 10 von 25 Verträgen = 40 %

Motto: ‚Den ­Allianzknoten fester schnüren!‘

52 %

in 20 von 25 Verträgen = 80 %

Motto: ‚Keinen Frieden im ­Alleingang schließen!‘

20 %

in 17 von 25 Verträgen = 68 %

Formulierung ­‚gemeinsamer Interessen‘

8 %

in 9 von 25 Verträgen = 36 %

Ein neues Instrument zur Absicherung der Verträge zeigt sich im Versuch der Parteien, ihre Bündnispartner von nun an gezielter auszusuchen. Der österreichische Staatskanzler Kaunitz propagiert in diesem Sinne ein Bündnis mit einem „natürlichen Verbündeten“ und Maria Theresia äußert sich später gegenüber ihrer Tochter Marie Antoinette über das Bündnis mit Frankreich mit den Worten „unser Bündnis (ist) fest und unauflöslich, sowohl durch die Bande des Blutes als auch durch die gemeinsamen Vorteile und Interessen.“ Eine solche Betonung der ‚gemeinsamen Interessen‘ der Bündnispartner findet sich in den Verträgen mit immerhin 36 % Anteil gegenüber lediglich 8 % in den Verträgen des vorangegangenen Abschnitts.26

2 5

Vgl. die Nachweise bei: Frehland-Wildeboer. Treue Freunde? (wie Anm. 5), S. 146–149.

2 6 Ebd., bes. S. 148, Anm. S. 183.

Utrecht (1713/14) und Wien (1814) – Der Befund der Bündnistexte 151

Länge und Ausführlichkeit der Bündnisverträge: Kriterium

Vergleich 1714–1739

Zeitraum 1740–1788

5–8 Artikel

48 %

4 von 25 Verträge = 16 %

deutlich über 8 Artikel

44 %

18 von 25 Verträge = 72 %

Eine weitere Auffälligkeit aus dem Befund der Bündnistexte ist die Ausführlichkeit der französisch-österreichischen Allianzverträge um 1756. Mit ihren weit in die Details gehenden Vertragsvereinbarungen in bis zu 32 Artikeln versuchen die Parteien offensichtlich, präventiv gegen Missverständnisse oder Unsicherheiten vorzugehen. Mögliche Freiheiten in der Auslegung der Verträge werden minimiert. Zum Vergleich: die Verträge des vorangegangenen Zeitabschnitts enthielten durchschnittlich etwa acht bis zwölf Artikel.27 Ab ca. 1760 scheint das Misstrauen Allianzen gegenüber abzunehmen – wohl nicht von ungefähr bezeichnen sich die Bündnispartner ab diesem Zeitpunkt durchgängig, das heißt in 100 % der Verträge als ‚Freunde‘.28 Sicherheit durch Bündnisse scheint um bzw. ab 1760 in Europa keine Utopie mehr, der Wert der Bündnisse ist auf einem relativ hohen Niveau angekommen. Es gilt zur eigenen Sicherheit und mit Blick auf den eigenen außenpolitischen Kredit zunehmend eines: das Gebot der Bündnistreue.

III.  Der Befund der Bündnistexte in der Epoche der Französischen Revolution und Napoleons (1789 bis 1814)

In den Jahren zwischen 1789 und 1814 können wieder 27 Bündnisverträge gezählt werden. Die Bündnisse sind in diesem Abschnitt bis auf eine Ausnahme bilateraler Natur – erst ab 1813 werden die Bündnisse multilareral.29 Schon die ersten Zusammenschlüsse der europäischen Mächte gegen das revolutionäre Frankreich sind aber wieder nur von kurzer Dauer – Vertragsbrüche reichen einander die Hand. Damit kollabiert auch die Einstellung Bündnissen gegenüber. Die klassischen Bündnisse gelten bald nicht mehr als wirksames Instru­ment außenpolitischer Sicherheit und außenpolitischen Handelns – der ab ca. 1756 etablierte, relativ hohe europäische Bündniswert fällt in sich zusammen.

27

Vgl. ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 137, Tabelle und Anm. 155; S. 144, Anm. 173. 2 9 Vgl. eine Auflistung der Verträge bei Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? (wie Anm. 5), S. 426f. 28

152 Katja Frehland

Am Ende dieses Zeitabschnitts steht eine „Eskalation des Misstrauens“30 auf allen Seiten – nicht nur gegenüber einzelnen Parteien oder Personen, sondern vor allem gegenüber der Institution ‚Bündnis‘ selber. Das Begriffsfeld der ‚Sicherheit‘ in den Verträgen: Kriterium

Vergleich 1714–1739

Vergleich 1740–1788

Zeitraum ­­1789–1814

Stichwort ‚Sicherheit‘

68 %

72 %

in 13 von 27 Verträgen = 48 %

Stichwort ­‚­Ruhe und ­Frieden‘

80 %

72 %

in 23 von 27 Verträgen = 85 %

Stichwort ‚Garantie‘

80 %

96 %

in 20 von 27 Verträgen = 74 %

Zweck ­‚gegenseitige ­Verteidigung‘

88 %

92 %

in 19 von 27 Verträgen = 70,5 %

Stichwort ­‚Gleichgewicht‘

12 %

4 %

in 5 von 27 Verträgen = 18,5 %

Stichwort ­‚gemeinsamer Feind‘

16 %

36 %

in 17 von 27 Verträgen = 63 %

So geht auch das Stichwort der ‚Sicherheit‘ mit jetzt nur noch 48 % Anteil in den Verträgen erheblich zurück. Allerdings zeigt die Formulierung anderer Begriffe wie von ‚Ruhe und Frieden‘ (85 %), von ‚Garantie‘ (74 %), ‚gegenseitiger Verteidigung‘ (70,5 %), ‚Gleichgewicht‘ (18,5 %), oder der formulierte Hinweis auf einen ‚gemeinsamen Feind‘ (63 %), dass die Akteure zumindest am Anfang dieses Zeitabschnittes noch auf den zwischenstaatlichen Bündnisschluss als Instrument für außenpolitische Sicherheit bauen.31 Denn mit den ersten Bündnissen ab 1789 wird die seit 1760 eingeschlagene Richtung europäischer Bündnispolitik zunächst weitergeführt. Das heißt der relativ hohe Bündniswert in Europa bleibt zunächst bestehen, Form und Inhalt des seit ca. 1760 etablierten Bündnisvertrags werden sogar präzisiert und vollendet; die Verträge werden zunehmend auf Dauer und Haltbarkeit angelegt und in

3 0

Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III. – der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992, S. 217. 31 Vgl. die Nachweise in Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? (wie Anm. 5), S. 213, 218, 221–224.

Utrecht (1713/14) und Wien (1814) – Der Befund der Bündnistexte 153

wachsendem Maße durch ein formuliertes ‚gemeinsames Interesse‘ (insgesamt 37 %) abgesichert.32 Kriterium

Vergleich 1714–1739

Vergleich 1740–1788

Zeitraum 1789–1814

Stichwort ­‚gemeinsames Interesse‘

8 %

36 %

in 10 von 27 Verträgen = 37 %

Stichwort ‚Ordnung der ­Dinge‘



4 %

in 7 von 27 Verträgen = 26 %

Motto: ‚gemeinsame ­politische Prinzipien‘

--

12 %

in 12 von 27 Verträgen = 44,5 %

In ihrer Furcht vor einem Hinübergreifen der Revolution auf ihre eigenen Staaten gelingt den Koalitionären damit anfangs der Zusammenschluss in e­ inem Bündnis mit einem gemeinsamen Ziel: den revolutionären Umbruch in Frankreich zu beenden und dort bestenfalls sogar die alte ‚Ordnung der Dinge‘ zu restaurieren33, ein Wunsch, der sich – wie das neue Kriterium der „gemeinsamen politischen Prinzipien“ (44,5 %) – nicht von ungefähr zunehmend im Vertragsvokabular der Bündnisverträge einnistet. Einige Jahre später urteilt Friedrich von Gentz über diese Bündnisse: „Man wollte […] durch Separatbündnisse erreichen, was das Projekt von St. Pierre durch ein allgemeines Bündnis zu leisten versprach“.34 Allerdings zeichnet sich schon um 1793 ab, dass die Bündnisse nicht bestehen werden, dass Ruhe, Frieden und internationale Sicherheit durch Bündnisse nicht erreicht werden können. Der österreichische Graf Clemens von Metternich schildert seine Eindrücke über das Scheitern der Ersten Koalition: „Man sann über die Ursachen der unglücklichsten Ereignisse […]. Erstaunen über die Stärke der immer mehr um sich greifenden Anarchie und ein Gefühl eigener Schwäche bemeisterten sich der meisten Seelen.“35 Die Folge des Scheiterns der Bündnisse der Ersten Koalition gegen Frankreich ist weitreichend – trotz einheitlicher Vertragsformen und trotz der formulierten 3 2 Ebd., S. 221, 224 und 218.

3 3

Vgl. Andreas Hillgruber, Formveränderung in der Koalitionskriegführung in der Epoche 1792/1815 – ein Aufriß, in: GWU 17 (1996), S. 265–283, hier S. 266f., vgl. S. 270. 3 4 Friedrich von Gentz, Ueber den ewigen Frieden (1800), in: Hagen Schulze/Ina Paul (Hrsg.), Europäische Geschichte. Quellen und Materialien, München 1994, S. 348–350, hier S. 349. 3 5 „Ueber die Notwendigkeit einer allgemeinen Bewaffnung des Volkes an der Grenze Frankreichs von einem Freunde allgemeiner Ruhe.“ Anonyme Flugschrift vom Grafen Clemens von Metternich, gedruckt im August 1794, in: Jean-Jacques Langendorf (Hrsg.), Clemens Fürst von Metternich. Ordnung und Gleichgewicht. Ausgewählte Schriften, Wien/­Leipzig 1995, S. 7–13, hier S. 8 und 10.

154 Katja Frehland

gemeinsamen politischen Interessen und Prinzipien. Weitere Vorgänge, wie zum Beispiel der skrupellose Umgang Napoleons mit Bündnissen verstärken diese Tendenz, wie auch der Befund der Bündnistexte deutlich erkennen lässt: Hatte man nach 1760 noch gehofft, dass man sich auf ein Bündnis bzw. den Bündnispartner auch tatsächlich verlassen kann, dass das Instrument des Bündnisschlusses also ein wirksames Instrument außenpolitischer Sicherheit darstellt, so zeigt sich jetzt, dass dieser Anspruch nicht einlösbar ist. Die Folge ist Resignation gegenüber dem außenpolitischen Instrument ‚Bündnis‘, was sich auch deutlich in den Bündnisverträgen widerspiegelt. So nehmen viele der nach Utrecht etablierten Absicherungsinstrumente der Bündnisverträge rapide ab: Die Begriffe ‚Treue‘ (63 %) oder ‚Freundschaft‘ (66,5 %) gehen merklich zurück. Ein eigener Artikel zur Bündnistreue ist nur noch in drei von 27 Verträgen und damit in 11 % der Texte vorhanden und die Artikel zu Hilfsleistungen im Bündnisfall werden sogar um die Hälfte reduziert (55,5 %); in einigen Verträgen begnügt man sich sogar mit dem lapidaren Hinweis, solche Vereinbarungen könne man ja dann später noch treffen (14,5 %).36 Veränderungen in den Verträgen: Kriterium

Vergleich 1714–1739

Vergleich 1740–1788

Zeitraum 1789–1814

Stichwort ‚Treue‘

88 %

92 %

in 17 von 27 Verträgen = 63 %

Stichwort ‚Freundschaft‘

80 %

92 %

in 18 von 27 Verträgen = 66,5 %

Eigener Artikel zur­ ­Bündnistreue

28 %

40 %

in 3 von 27 Verträgen = 11 %

Beschreibung der Hilfs­ leistungen im Bündnisfall

72 %

96 %

in 15 von 27 Verträgen = 55,5 %

Mehrere Artikel zu Hilfsleistungen im Bündnisfall

48 %

80 %

in 12 von 27 Verträgen = 44,5 %

Beschreibung der Hilfsleistungen auf später verschoben

-

-

in 4 von 27 Verträgen = 14,5 %

3 6

Vgl. die Nachweise in: Frehland-Wildeboer, Treue Freunde? (wie Anm. 5), S. 221–227, 214, bes. Anm. 213.

Utrecht (1713/14) und Wien (1814) – Der Befund der Bündnistexte 155

Ein zeitgenössischer Kommentar des preußischen Generals Scharnhorst (1755– 1813) mit Bezug auf das Scheitern der ersten Koalitionen gegen Frankreich belegt den Wandel des Verständnisses von Bündnissen von wertvoll zu wertlos eindrücklich: „Jede Koalition führt schon den Keim des heimlichen Betruges mit sich […]. Das Wesen einer Koalition ist nun einmal Verletzung des gemeinschaftlichen Interesses.“37 Ähnlich und in weiser Voraussicht war es schon einige Jahre zuvor (1795) formuliert worden, von keinem geringeren als ­Immanuel Kant, der in Reflexion auf das politische Geschehen zusammengefasst hatte: „Ungewiss ist ein […] Völkerrecht, welches […] nur ein Wort ohne Sache ist und auf Verträgen beruht, die in demselben Akt ihrer Beschließung zugleich den geheimen Vorbehalt ihrer Übertretung enthalten.“ 38 Diese pessimistische Einschätzung von Bündnissen sollte allerdings einem zum Verhängnis werden: dem französischen Kaiser. Denn sein – allerdings berechtigter – Zweifel an der Wirksamkeit von Bündnissen führt ihn am Ende in sein Verderben. Als sich 1813 eine letzte große Koalition gegen ihn formiert, glaubt Napoleon nicht an den Erfolg dieser Allianz – er geht, wie so oft, von einem baldigen Ende der Zusammenarbeit seiner Gegner aus und sieht für sich keinen dringenden Handlungsbedarf. Gegenüber dem österreichischen Außenminister Graf Clemens von Metternich, der ihn im Juni 1813 in Dresden zu einem baldigen Friedensschluss überreden will, äußert er sich unverhohlen: Wollen Sie mich etwa durch eine Koalition zugrunde richten? […] Wieviel seid ihr denn, Ihr Alliierte? Euer vier, fünf, sechs, zwanzig? […] Aber ich kann Sie versichern, […] im nächsten Oktober sehen wir uns in Wien. Dann wird es sich zeigen, was aus Euren guten Freunden, den Russen und Preußen geworden ist […].39

Napoleon konnte ja nicht ahnen, dass er sich dieses eine Mal irren sollte. Dieses eine Mal scheiterte die Allianz seiner Gegner nicht, im Gegenteil: Mit ihrer neuartigen, multilateralen Form zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, die mit dem klassischen Bündnisvertrag kaum etwas mehr gemeinsam hatte, sondern die auf neuen, durchaus wirksamen Mechanismen und Absicherungsinstrumenten fußte, schufen die Koalitionäre in Chaumont 1814 und in Wien 1815 ein euro­ päisches Bündnissystem, das dem Ziel, internationale Sicherheit und Frieden zu gewährleisten, für viele Jahre sehr nahe kommen sollte.

37 General Scharnhorst zitiert nach: Hillgruber, Formveränderung (wie Anm. 33), S. 271f.

3 8 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), hrsg. v. ­Rudolf 3 9

­Malter, 2. Aufl. Stuttgart 2002, Anhang 1, S. 45. Aus Metternichs Materalien zur Geschichte meines öffentlichen Lebens (1773 bis 1815), in: Gottfried Guggenbühl/Hans C. Huber (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Neuesten Zeit, 5. Aufl. Zürich 1978, S. 78–81, hier S. 79.

Reinhard Stauber und Florian Kerschbaumer

Revolution, Restauration und Intervention. Beobachtungen zum Politikraum Europa in der Zeit des Wiener Kongresses Metternichs Befund vom Februar 1814, die „allgemeine Neuordnung Europas“ sei „gewissermaßen als […] Gegenstand der Innenpolitik zu betrachten“1, birgt bemerkenswerte Herausforderungen für die Analyse der politischen Situation Europas – vor 200 Jahren, aber auch heute. Dimensionen dieser Herausforderung sind die Realität eines pluralen Staatensystems, das durch ein Regelwerk von Vertragsabsprachen zusammengehalten wurde, weiters die schon im 18. Jahrhundert diagnostizierte Widersprüchlichkeit zwischen dem Selbstbestimmungsrecht souveräner Staaten und den Sicherheitsinteressen der internationalen Gemeinschaft, schließlich eine neue Qualität der Verwobenheit von Vorgängen innerhalb und außerhalb der Staatsgrenzen. Für diese Verwobenheit, ja Untrennbarkeit von Innen- und Außenpolitik stehen seit 1792 der prinzipiell-ideologische Charakter der Kriegserklärung Frankreichs und der Export zuerst revolutionärer, später imperialer Doktrinen und Institutionen über ganz Europa. Aber auch in der Phase der sogenannten „Kongresspolitik“ in Europa 1814/15–1825 konnte die Außen­politik der fünf Großmächte „der Prägung durch innenpolitische Leitvorstellungen nicht mehr entzogen werden“2 – so etwa im Falle der Überzeugung des österreichischen Staatskanzlers Fürst Metternich, „Ruhe“ (und zwar gleichermaßen in den internationalen Beziehungen wie in den innenpolitischen Verhältnissen) habe als „erstes Bedürfnis“ jeden Staatswesens zu gelten.3 Qualitäten und Aporien dieser neuartigen Verbindung von Außen- und Innenpolitik will der vorliegende Beitrag nachgehen, wobei er die Friedensfähigkeit der europäischen Staatenwelt im Zeichen der neuen Ordnung von 1814/15 und der ihr zugrunde liegenden Regelsysteme in den Blick nimmt. Ausgehend von der prinzipiellen – und aktuellen – Frage, mit welchen Mitteln und auf welcher Grundlage internationale vertragliche Regelungen gewahrt und im Zweifelsfall auch durchgesetzt werden sollten, stehen quellengestützte Erörterungen zum Leitbegriff der „Intervention“ im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen.

1

Zitat nach Volker Sellin, Die geraubte Revolution. Der Sturz Napoleons und die Restauration in Europa, Göttingen 2001, S. 88. 2 Dieter Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 13), 5. Aufl. München 2007, S. 10. 3 So im nach 1849 niedergeschriebenen „Politischen Testament“; vgl. Klemens Wenzel ­Nepomuk Lothar von Metternich, Denkwürdigkeiten. Bd. 2, hrsg. u. eingeleitet v. ­Otto H. Brandt (Denkwürdigkeiten aus Altösterreich 23), München 1921, S. 465f.

Politikraum ­Europa in der Zeit des Wiener Kongresses 157

I.  Die Debatte um das Recht zur Intervention in Frankreich 1814

Der Frühjahrsfeldzug des Jahres 1814 in Frankreich gegen Napoleon hatte für die verbündeten Monarchen Russlands, Preußens und Österreichs sowie den Abgesandten der britischen Regierung, Außenminister Castlereagh, nicht nur eine militärische, sondern auch eine politische Dimension. Kontrovers diskutiert wurde im Februar 1814 – bis zur konkreten Gefahr eines Auseinanderbrechens der Allianz – vor allem die Frage, ob man mit Napoleon zu einem Waffenstillstand oder gar einem Friedensvertrag kommen könne (das war die Position Metternichs) oder ob man, wie es vor allem Zar Alexander seit je offensiv vertrat, den militärischen Vormarsch nach Paris fortsetzen und dabei den Sturz des Empereur betreiben solle.4 Als im Februar 1814 mit dem französischen Außenminister Caulaincourt in Châtillon-sur-Seine über ein Friedensangebot verhandelt wurde, fanden die Alliierten nur mit großer Mühe zu einer gemeinsamen Verhandlungsposition. Im Zuge dieser internen Debatten, die Metternich anhand eines Fragenkatalogs moderierte, formulierte der österreichische Staatskanzler eine Art Nicht-Einmischungsprinzip: Zwar könne er sich vorstellen, Belange von Drittstaaten gegenüber der französischen Regierung zu vertreten (was er mit dem bemerkenswerten, eingangs zitierten Hinweis begründete, die „allgemeine Neuordnung Europas“ sei als „Gegenstand der Innenpolitik zu betrachten“), doch komme ein Eingreifen in die Regierung eines souveränen Staates nicht in Frage. Dahinter verbargen sich die Probleme eines möglichen Nachfolgers für Napoleon, der Legitimität seiner Dynastie und der Konflikt um die Rolle der Bourbonen. Ein eventueller Dynastiewechsel in Frankreich dürfe nicht von den Alliierten vorgeschrieben werden, sondern könne allenfalls aus einem Willensakt der französischen Nation hervorgehen.5

4

Die neuesten Abrisse zu den Ereignissen finden sich, stärker politik- bzw. militärgeschicht­ lich akzentuiert, bei Sellin, Die geraubte Revolution (wie Anm. 1), S. 41–142 bzw. bei D ­ ominic Lieven, Russland gegen Napoleon. Die Schlacht um Europa, München 2011, S. 552–634; ­Wilhelm ­Oncken, Zeitalter der Revolution, des Kaiserreiches und der Befreiungs­kriege, Bd. 2, Berlin 1886, S. 686–787, bleibt für die Einzelheiten grundlegend. Weitere Synthesen zu wichtigen Aspekten der europäischen Politik 1814: Charles K. ­Webster, Foreign ­Policy of Castlereagh 1812–1822, Bd. 1. 1812–1815. Britain and the Reconstruction of Europe, London 1931, Ndr. 1963, S. 193–276; Enno E. Kraehe, Metternich’s German Policy, Bd. 1. The Contest with Napoleon 1799–1814, Princeton 1963, S. 281–312; Paul W. Schroeder, The Transformation of European politics 1763–1848 (Oxford history of modern Europe), Oxford/New York 1994, S. 477–509. 5 August Fournier, Der Congress von Châtillon. Die Politik im Kriege von 1814, Wien/Prag 1900, S. 110–126, 283–294; Sellin, Die geraubte Revolution (wie Anm. 1), S. 99–107 (Zitat ebd., S. 88, nach Fedor von Demelitsch, Actenstücke zur Geschichte der Coalition vom Jahre 1814 (Fontes Rerum Austriacarum II 49, 2), Wien 1899, S. 287). Vgl. dazu auch die

158 Reinhard Stauber und Florian Kerschbaumer

Gerade diese Formulierung und die ihr entspringenden Aporien aber unterzog Metternichs Chef-Publizist Friedrich Gentz in Wien einer scharfen und grundsätzlichen Kritik.6 Er befürwortete nachdrücklich das Prinzip der Intervention als Recht eines Souveräns, „sich in die Regierungsangelegenheiten fremder Staaten zu mischen“, und zwar, im Fall „benachbarter Staaten“, „direkt“ und „tätig“. Juristisch werde dieses Recht legitimiert durch die berechtigte Sorge um die Sicherheit des eigenen Staats und die in Europa bestehende Rechtsgemeinschaft („communio eminentissima“) aller Träger souveräner Herrschaft. In politischer Hinsicht sei Intervention erlaubt, weil ein Verzicht darauf das Zugeständnis bedeute, dass „die Frage von der Regierungsveränderung eine Nationalfrage sei [und] daß der Nation die Initiative dabei zustehe“.7 Auf Interventionsbefugnisse zu verzichten, laufe also darauf hinaus – so weitete Gentz die Frage aus in Richtung des großen Prinzipienstreits der ­Epoche – dem Volk und seinen Repräsentanten Souveränitätsrechte zuzugestehen und so das „Prinzip der permanenten Volkssouveränität an[zu]erkennen“, was in fundamentalem Widerspruch stehe zu den „rein-monarchischen Ideen“ der Verbündeten (sein Feindbild ist hier aber nicht, wie man erwarten würde, das revolutionäre und republikanische Frankreich, sondern die Verfassungsordnung Großbritanniens und ihr von Gentz konstatierter modellhafter Export in Gestalt der Verfassung von Cádiz 1812).8 Gentz warnte auch, hier den Überzeugungen seines Vorgesetzten sekundierend, vor einer Fortsetzung des Kriegs in Frankreich und vor einer Absetzung des Kaisers, denn wer, so lautete seine rhetorische Frage, könne zum Richter über die Herrschaft Napoleons bestellt werden? Sollten es (wie zu legitimierende?) Repräsentanten des Volks oder der Nation sein, so hieße dies, „das Richteramt über die Könige“ dem Volk zuzugestehen und damit die „Thron- und Dynastierevolution“ von 1789/92 anzuerkennen. Von daher gelangte Gentz zu der bemerkenswerten Feststellung, dass eine Wiedereinsetzung der Bourbonen ebenso „ein Akt der Willkür und Gewalt“ wäre wie ihre Absetzung in der Französischen Revolution.9 Die militärisch-politischen Entwicklungen des Frühjahrs 1814 verliefen auf einer anderen Bahn als diese prinzipiellen Erörterungen. Napoleon desavouierte, nach einer Serie kleinerer Erfolge gegen die Armee Blüchers, schon Mitte Februar die Position seines Außenministers in Châtillon und zeigte sich an VerhandKorrespondenz Castlereaghs bei Charles K. ­Webster (Hrsg.), British Diplomacy 1813–1815. Select documents dealing with the reconstruction of Europe, London 1921, S. 138–165. 6 Friedrich Carl Wittichen/Ernst Salzer (Hrsg.), Briefe von und an Friedrich von Gentz, Bd. 3/1. Schriftwechsel mit Metternich, Teil 1. 1803–1819, München/Berlin 1913, Nr. 145, S. 243–255, vgl. dazu Sellin, Die geraubte Revolution (wie Anm. 1), S. 107–111. 7 Zitate: Ebd., Nr. 145, S. 245f. 8 Ebd., S. 246f. 9 Ebd., S. 249f.

Politikraum ­Europa in der Zeit des Wiener Kongresses 159

lungen nicht mehr interessiert. Umgekehrt gelang es Castlereagh mit dem auf zwanzig Jahre Laufzeit abgeschlossenen Vertrag über die „Quadrupelallianz“ von ­Chaumont (9. März 1814) ein Instrument zur Erzwingung der künftigen Vertragstreue Frankreichs (zu welchen Friedensbedingungen und unter welcher Regierung auch immer) zu schmieden – „ein Vorgang ohne Beispiel in der europäischen Staatengeschichte“.10 Nach der am 24. März getroffenen Entscheidung, offensiv Richtung Paris vorzugehen, fiel noch am Abend der Kapitulation der Hauptstadt am 31. März die Entscheidung, nicht mehr mit Napoleon oder Mitgliedern seiner Familie zu verhandeln, sondern eine provisorische Regierung unter Talleyrand einzusetzen, legitimiert durch den Senat und eine von diesem neu auszuarbeitende Verfassung. Am 3. April verkündete der Senat die Absetzung Napoleons.

II.  Das Interventionsprinzip – Stand der Theoriebildung des Völkerrechts und erste systematische Apologie bei Kamptz 1821

Die erste systematische Abhandlung über die Interventionsfrage (im Titel spezi­ fiziert als „Recht[s] der europäischen Mächte, in die Verfassung eines einzelnen Staats sich zu mischen“) erschien nicht zufällig 1821, im Jahr nach dem Abschluss der restaurativen Wende im Deutschen Bund.11 Die zu erwartende Tendenz des Werks war schon aufgrund der Person des Verfassers klar: Karl ­Albert von Kamptz, Mitglied des preußischen Staatsrats und leitender Mitarbeiter des Polizei­ministers seit 1817, gehörte schon vor seiner Zeit als Justizminister Preußens 1830–1842 dem weiteren Kreis der konservativen Kamarilla um König ­Friedrich Wilhelm III. an und hatte sich im Zug der Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse von 1819 bei den sogenannten „Demagogenverfolgungen“ einschlägig profiliert.12 Kamptz’ Feindbild war ebenso klar: Schon auf den ersten Seiten seiner „Erörterung“ wettert er gegen „revolutionäre Elemente“, Unruhestifter und „Feinde der bürgerlichen Ordnung“ jakobinischer Prägung, die sich selbst das Recht zur revolutionären Missionierung der europäischen Staaten herausnähmen und über Aktionsketten geheimer Gesellschaften Ziele wie Aufwiegelei und Republikanisierung auch weiterhin verfolgten.13 10

Sellin, Die geraubte Revolution (wie Anm. 1), S. 114. Text des Vertragswerks bei [Angeberg, Comte d’ [Chodźko, Léonard]]: Le Congrès de Vienne et les traités de 1815, précédé et suivi des documents diplomatiques qui s’y rattachent. Avec une introduction historique par M. Capefigue, Deuxième Partie, Paris 1863, S. 116–120. 11 Karl Christoph Albert Heinrich von Kamptz, Völkerrechtliche Erörterung des Rechts der Europäischen Mächte in die Verfassung eines einzelnen Staats sich zu mischen, Berlin 1821. 12 Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947, München 2008, S. 464, 504f. 13 Kamptz, Völkerrechtliche Erörterung (wie Anm. 11), S. IX–XV.

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Deshalb sei, so Kamptz, das Recht zur Intervention (synonym verwendet wird „zur Dazwischenkunft“) für die Staatenlenker Europas schon im Sinn der Möglichkeit zur Gegenwehr keine „Maxime des Despotismus“, sondern ein „seit Jahrhunderten befolgter Grundsatz des europäischen Völkerrechts“. Definitorisch umschrieben wird das Interventionsprinzip als „Recht der europäischen Mächte, von der öffentlichen Verfassung einzelner Staaten Kenntniß zu nehmen, und, insofern sie die Ruhe und Sicherheit der europäischen Völkergesellschaft oder wohlerworbene Ansprüche andrer Mächte verletzt [haben], in dieselbe sich zu mischen“.14 In der engen sachlichen Kopplung von Außen- und Innenpolitik, die auch für Metternichs Denken so charakteristisch war, lagen für Kamptz Ziel, Zweck und rechtfertigender Grund des Interventionsrechts gleichermaßen beschlossen in der Erhaltung von Ruhe, Ordnung, Sicherheit und Frieden sowie im ungefährdeten Bestand der gesetzmäßigen Regierungssysteme. Kamptz’ Argumentation vollzog sich in einem recht typischen Ablauf, wie die Befunde der von Miloš Vec geleisteten Sichtung der völkerrechtlichen Lite­ ratur zur Frage des Interventionsrechts zeigen.15 Das Thema war aufgrund seiner grundsätzlichen Bedeutung für die Formierung des Völkerrechts seit der Spätaufklärung breit präsent in der einschlägigen Literatur, denn jede Diskussion über das Recht einer Intervention betraf die beiden entscheidenden Grundprinzipien der Existenz einer Staatengemeinschaft: das Recht auf staatliche Selbstbestimmung auf der einen, die Sicherheitsinteressen der internationalen Gemeinschaft auf der anderen Seite. Ausgangspunkt auch für Kamptz ist das Souveränitätsprinzip, von ihm konkretisiert als Recht jeden unabhängigen Staats, über seine Verfassung selbst zu entscheiden. Dieses Recht gelte aber insofern nur bedingt, als die Verfassung eines Staatswesens nicht nur dessen „res domestica“ sei, sondern auch Auswirkungen auf das Staatensystem habe. Deswegen seien die übrigen Mächte „befugt“, vom Regierungssystem eines Einzelstaats „Kenntniß zu nehmen“ und gegebenenfalls dagegen vorzugehen.16 Diese Befugnis leite sich ab aus einer Reihe allgemeiner und besonderer Gründe. Zu den allgemeinen Gründen argumentiert Kamptz, die „Staatsverfassung“ müsse einerseits gewährleisten, dass ein Staat seiner Hauptaufgabe gerecht werden könne, nämlich Sicherheit und Ruhe zu gewährleisten, und zwar im Innern wie nach außen. Andererseits sei auch auf die „Erhaltung des europäischen Staaten-Systems“ Bedacht zu nehmen, denn 14 Ebd., S. VII, XVI.

15 Miloš Vec, Intervention/Nichtintervention. Verrechtlichung der Politik und Politisierung

des Völkerrechts im 19. Jahrhundert, in: Ulrich Lappenküper/Reiner Marcowitz (Hrsg.), Macht und Recht. Völkerrecht in den internationalen Beziehungen (Otto-von-BismarckStiftung 13), Paderborn u. a. 2010, S. 135–160. 1 6 Kamptz, Völkerrechtliche Erörterung (wie Anm. 11), S. 9, 15.

Politikraum ­Europa in der Zeit des Wiener Kongresses 161

Sicherheit und Ruhe und ihre Gewährleistung durch den Einzelstaat seien gerade in Europa angesichts der „Societätsverhältnisse aller […] Mächte“ von höchster Verbindlichkeit.17 Zu den besonderen Gründen, die die Kontroll- und Interventionsbefugnis auslösen könnten, zählt Kamptz die benachbarte Lage, dynastische Verbindungen, eine explizite Aufforderung oder vertragliche Verpflichtungen. Letztere könnten etwa aus föderalen Konstruktionen, die gegenseitige Sicherheitsgarantien beinhalten (er zählt die schweizerische Eidgenossenschaft, die Vereinigten Staaten und eben auch den Deutschen Bund auf), erwachsen, aus multilateralen Garantieabsprachen im Verfassungsrang (Westfälischer Friede 1648) oder auch aus Einzelverträgen wie der Garantie der Ostmächte für den neutralen Status der freien Stadt Krakau 1815.18 Den historischen Teil seiner Abhandlung gestaltet Kamptz als Durchgang durch die europäischen Geschichte vom frühen 16. Jahrhundert bis zu den aktuellen Unruhen in Italien 1820/21, um die Praxis der Intervention als lange etablierten, selbstverständlichen Bestandteil der „Europäische[n] Völker-Observanz“ vorzuführen (wobei zu Mitteln und Methoden der Einmischung gar nichts gesagt wird).19 Kamptz’ prononciert pro-interventionistischer Standpunkt steht, im 18. wie im 19. Jahrhundert, eher für eine Minderheitenposition in den Erörterungen des werdenden Völkerrechts; die Mehrheitsmeinung war und blieb interventionsablehnend. Angesichts der komplexen Abwägungen zwischen Souveränitätsprinzip, Nichteinmischungsgebot und deren möglicher Außerkraftsetzung durch höherwertige Grundsätze (etwa bei der Abwendung von Gefahren, die der zwischenstaatlichen Ordnung durch innerstaatliche Ereignisse drohten), war anderes auch nicht zu erwarten; es blieb beim Pluralismus widerstreitender Prinzipen ohne universalisierbare Metanorm (wie sie etwa Kant anzugeben versucht hatte).20 Hier kamen die europäischen Mächte nach der Einschätzung von Vec „rund um den Wiener Kongress“ nur einen kleinen Schritt voran, nämlich zu einer „rechtsförmig niedergelegte[n] Übereinstimmung der politischen Interessen“, doch fehlten zu deren Absicherung „ein dauerhaft gültiger Kollektivvertrag“ sowie feste zwischenstaatliche Institutionen wie ein entscheidungsbefugter Gerichtshof.21 Deutlich wird bei Gentz wie bei Kamptz eine bei den Juristen wie den politischen Praktikern bereits selbstverständlich verwurzelte, systematische Voraussetzung aller Erörterungen über das Interventionsrecht: Europa und seine Staatenwelt werden aufgefasst als politisches und rechtliches System mit reziproken Rechten. 17 Ebd., S. 15–32, Zitate S. 15, 31. 18 Ebd., S. 32–49.

19 Ebd., S. 83–214, Zitat S. 83.

2 0

Vec, Intervention/Nichtintervention (wie Anm. 15), S. 147–155.

21 Ebd., S. 160, 158.

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Dieser Systemcharakter bildet sich ab in Kamptz’ bereits zitierter Wendung von den „Societätsverhältnisse[n] der europäischen Mächte“; zum entsprechenden Bedeutungsfeld gehören bei ihm auch Begriffe wie „Völker-Rechts-System“, „Gesellschaft von Nationen“, „Nationen-Verein“ oder „Völkergesellschaft“.22 Nur in einem Europa, das als politisch-juristisches System aufgefasst wurde, konnten Prinzipien des Völkerrechts zumindest potentiell die Souveränitätsmaximen des Staatsrechts durchbrechen, war die Befugnis zur Intervention nicht nur positivvertragsrechtlich festgelegt, sondern auch im Naturrecht begründet und deswegen prinzipiell unaufkündbar. Diese Vorstellung ging im Wesentlichen zurück auf die Debatten der politischen Theorie des 18. Jahrhunderts und ihr Bild von der Staatenwelt­­Europas, wie es etwa der Abbé de Saint-Pierre in seinem „Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe“ von 1712/13 als Fortsetzung des Naturzustandes zwischen den Menschen vor Abschluss des Gesellschaftsvertrages entwarf.23 Der potentielle Krieg aller (Staaten) gegen alle bedurfte der Einhegung durch eine dauerhafte, institutionalisierte Rechts- und Friedensordnung. Ihren Kern musste die von allen akzeptierte Regelung darstellen, zugunsten einer universellen, permanenten Schiedsinstanz („Arbitrage perpétuel“ bzw. „Congrez ou Sénat perpétuel“) auf das Recht zu verzichten, in eigener Sache Richter zu sein. Durch einen Vertrag („Traité d’Union“) sollte so eine von Saint-Pierre als „Union européenne“ bezeichnete Föderation souveräner Staaten entstehen, deren Modell und Vorbild der Abbé in der 1648 festgelegten Verfassungsstruktur des Alten Reiches erblickte. Diese Konzeption eines Europa als Friedens-und Rechtsgemeinschaft spitzte Jean-Jacques Rousseau weiter zu, als er sich in den 1750er-Jahren mit den Vorschlägen Saint-Pierres beschäftigte.24 Auch für ihn formten die Mächte Europas bereits ein System („système“) oder eine Gemeinschaft („société“), in dem/der Diplo­matie und öffentliches Recht („droit public“) die wichtigsten verbindenden Elemente darstellten. Und auch Rousseau verlangte den Abschluss eines dauerhaften Bundes („confédération solide et durable“), dessen zentrales Ratsgremium („une Diete ou un Congrès permanent“) zur Anwendung legitimer, notfalls auch bewaffneter Zwangsmaßnahmen bevollmächtigt sein sollte. Überdies setzten Lehre und Praxis des Völkerrechts schon im 18. Jahrhundert die plurale staatliche Struktur Europas voraus, sei es in der Charakterisierung Europas als „Staats-Cörper“ bei Johann Jacob Moser, in der Wertung der Verträge als Kitt des „droit public de l’Europe“ bei Mably und Martens, sei es als 2 2

Kamptz, Völkerrechtliche Erörterung (wie Anm. 11), S. 3f., 31. Olaf Asbach, Die Zähmung der Leviathane. Die Idee einer Rechtsordnung zwischen Staaten bei Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau (Politische Ideen 15), Berlin 2002, v. a. S. 34–44, 103–122, 157–184. 2 4 Ebd., v. a. S. 228–233, 249–276, 288–294.

2 3

Politikraum ­Europa in der Zeit des Wiener Kongresses 163

erfahrungsgeschichtlich-realpolitisches Substrat der „civitas maxima“ Wolffs oder der „société des nations“ Vattels.25 Für das Grundproblem eines freiwilligen Souveränitätsverzichts aller beteiligten Akteure zugunsten einer supranationalen Institutionen, bis heute Kern aller Debatten um das Recht zur politisch-militärischen Intervention, hatten freilich auch die Theoretiker des 18. Jahrhunderts keine Lösung. Rousseau setzt angesichts des von ihm konstatierten Zusammenhangs zwischen der inneren Verfassung der Staaten und der Organisierbarkeit ihrer Beziehungen untereinander bei der Herstellung einer innerstaatlichen Bürgergesellschaft an, und Saint-Pierre löst das Problem der verbindlichen Letztentscheidung bei einer Verletzung des internationalen Regelwerkes letztlich zugunsten der Staaten als den primären Trägern souveräner Rechte. Die potentiell einander widerstrebenden Grundprinzipien staatlich-souveräner Selbstbestimmung bzw. der Gewährleistung internationaler Sicherheit konnten weder auf juristischer noch auf politischer Ebene durch eine „Metanorm“ gebändigt, sondern mussten jeweils situativ ausbalanciert werden.26

III.  Die europäischen Friedenkongresse und die Frage nach dem ­Automatismus der Intervention

Zu den bemerkenswerten Neuerungen des Wiener Friedenssystems von 1814/15 gehörte die Etablierung eines institutionellen Konsultationsmechanismus der fünf Großmächte in Gestalt von drei ständigen Botschafterkonferenzen und regelmäßigen Gipfeltreffen.27 Nachdem in Aachen 1818 Einvernehmen über den Abzug der alliierten Besatzungsarmee aus Frankreich und über die Modalitäten der französischen Entschädigungszahlungen hergestellt worden war, setzte sich der nächste Mächtegipfel, einberufen für den Oktober 1820 in das österreichischschlesische Troppau/Opava und fortgesetzt ab Januar 1821 in Laibach/ ­Ljubljana im habsburgischen Kronland Krain, mit den Unruhen auf der italienischen Halbinsel auseinander. Als das festländische Neapel 1806 zum zweiten Mal von französischen Truppen erobert worden war, wurde die von der britischen Flotte kontrollierte Insel Sizilien 2 5

Heinhard Steiger, Ius bändigt Mars. Das klassische Völkerrecht und seine Wissenschaft als frühneuzeitliche Kulturerscheinung, in: Ronald G. Asch/Wulf E. Voß/Martin Wrede (Hrsg.), Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt (Der Frieden 2), München 2001, S. 59–85, v. a. S. 72–83. 2 6 Vec, Intervention/Nichtintervention (wie Anm. 15), S. 152f. 27 Vgl. Schroeder, Transformation (wie Anm. 4), S. 575–582; Michael Erbe, Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785–1830 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 5), Paderborn u. a. 2004, S. 343–381; und besonders Wolfram Pyta, Konzert der Mächte und kollektives Sicherheitssystem. Neue Wege zwischenstaatlicher Friedenswahrung in Europa nach dem Wiener Kongreß 1815, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2 (1996), S. 133–173, S. 144–161.

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zum Refugium des bourbonischen Königspaars. Auf den politischen Einfluss des britischen Militärkommandanten Lord William Henry Cavendish-Bentinck ging der Erlass einer Verfassung 1812 zurück, die, nach der Rückkehr der Bourbonen nach Neapel im Mai 1815 und der Schaffung des „Königreichs beider Sizilien“ unter dem bisherigen König Ferdinand, nunmehr Ferdinand I. (1759/1816–1825), Ende 1816 wieder aufgehoben wurde. An die Stelle der Briten trat als politischer Mentor nun der Kaiserstaat Österreich, der sich in einem Geheimvertrag vom Juni 1815 maßgeblichen Einfluss auf die institutionelle Ausgestaltung des Königreichs sicherte und außerdem bis 1817 eine Besatzungsarmee im Land beließ, für die auch Unterhaltszahlungen zu leisten waren. 28 Gegen diese restaurativen Verhältnisse richteten sich ab Juli 1820 die vom Geheimbund der Carbonari gezielt geschürten, in der Gegend von Avellino auf dem Festland beginnenden Unruhen, denen ein reformmonarchistisches Programm in Anknüpfung an die Ära Murat zugrunde lag. Auf Sizilien herrschten bald Tumulte und bürgerkriegsähnliche Zustände. Als König Ferdinand sich im Oktober 1820 gezwungen sah, eine Verfassunggebende Versammlung nach Neapel einzuberufen (versprochen worden war schon im Juli 1820 eine Konstitution nach dem spanischen Vorbild von 1812), luden ihn die Mächtevertreter auf dem Troppauer Kongress am 20. November ein, persönlich zu einer Fortsetzung ihrer Konferenz nach Laibach zu kommen. Der König verließ sein Land Ende 1820 auf einem britischen Kriegsschiff Richtung Triest, fuhr weiter nach ­Laibach, bezeichnete das Verfassungsversprechen vom Herbst 1820 als erzwungen und ersuchte um militärische Hilfe zur Wiederherstellung seiner Regierung. Am 4. Februar 1821 setzten österreichische Truppen unter Führung des venezianischen Militärkommandanten Johann Maria von Frimont über den Po und eroberten am 23. März Neapel. Es folgten ein innenpolitischer Repressionskurs unter dem neuen Polizeiminister Antonio Canosa und eine neue, diesmal bis 1827 anhaltende Militärbesatzung durch Österreich. 28

Hierzu und zum Folgenden vgl. John A. Davis, Naples and Napoleon. Southern Italy and the European Revolutions 1780–1860, Oxford 2009, S. 287–316; Günther Heydemann, Konstitution gegen Revolution. Die britische Deutschland- und Italienpolitik 1815–1848 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 36), Göttingen/Zürich 1995, S. 67–111; Werner Daum, „Beide Sizilien“ – Doppelmonarchie oder Reichseinheit? Kontinuität und Wandel dynastischer Herrschaft in Neapel-Sizilien 1806–1821, in: Helga Schnabel-Schüle/Andreas Gestrich (Hrsg.), Fremde Herrscher – fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa (Inklusion, Exklusion 1), Frankfurt a. M. 2006, S. 191–215, S. 200–208, 210–215. Zitat aus dem Vertrag vom 12. 6. 1815 ebd., S. 208 Anm. 34, wonach die institutionelle Neueinrichtung des Königreichs Beider Sizilien sich nicht in Widerspruch setzen dürfe „soit avec les anciennes institutions monarchiques, soit avec les principes adoptés par S.M. Impériale et Royale Apostolique pour le régime intérieur de ses provinces italiennes.“

Politikraum ­Europa in der Zeit des Wiener Kongresses 165

Die wesentlichen Schritte auf dem Weg zu dieser Interventions-Entscheidung markierten das sogenannte „Troppauer Protokoll/Protocole préliminaire“ vom 19. November und eine „Aperçu des premiers résultats des Conférences de Troppau“ betitelte Zirkulardepesche der Ostmächte vom 8. Dezember 1820.29 Die zentrale Linie der Argumentation berief sich zunächst auf den „Geist/esprit“ der euro­ päischen Allianzen gegen Napoleon und die universal und reziprok gültigen Grundsätze der Unverletzlichkeit des Territoriums und der friedlichen Koexistenz. Freilich seien auch revolutionäre Änderungen in der Regierungsverfassung einzelner Staaten als illegal zu betrachten (das entsprechende Bedeutungsfeld wird durch den Gebrauch von Ausdrücken wie „Revolte und Verbrechen/révolte et crime“ oder „Ansteckung durch Verbrechen/contagion du crime“ deutlich negativ markiert), dürften deshalb nicht anerkannt werden und zögen den Ausschluss aus der europäischen Mächteallianz und ihren Sicherheitsgarantien nach sich. Wenn ein in der Nähe gelegenes Land durch solche Umwälzungen für sich selbst eine Gefahr befürchte, sei es berechtigt, zunächst „freundschaftliche Schritte/démarches amicales“, dann aber „Zwangsmaßnahmen/force coërcitive“ zu ergreifen. In der Depesche wurde dann die Umsetzung solcher Maßnahmen im Sinne des monarchischen Prinzips im Königreich Beider Sizilien angekündigt und die Höfe in London und Paris von den nächsten Schritten informiert, vor allem von der geplanten Einladung König Ferdinands I. zum nächsten Mächtetreffen. Es erging die Einladung an die Westmächte, sich diesem Vorgehen anzuschließen, da es in Übereinstimmung stehe mit dem System der abgeschlossenen Verträge, keine Neuerungen enthalte und weder auf Eroberungen noch Einmischungen abziele, sondern im Gegenteil die „enge Kooperation/union intime“ der Höfe und damit den Frieden Europas befestigen werde. Die Reaktion des Kabinetts Liverpool, das die Entwicklungen in Neapel von Beginn an aufmerksam verfolgt hatte, konnte die Ostmächte nicht überraschen, denn sie setzte eine bereits bekannte Linie eindeutig fort. Als Zar Alexander I. nach der konservativen Wende bei der Ausgestaltung des Deutschen Bundes 1819/20 die Bereitschaft zur politischen Intervention im Sinne des VerfassungsPrinzips erkennen hatte lassen, riet Casteleragh entschieden ab (14. ­Februar 1820), um die Stabilisierung der Mitte Europas nicht zu gefährden, auch um den Preis einer Abstützung der Repressionspolitik Metternichs. Und als nach dem Ausbruch der Revolution in Spanien zu Beginn des Jahres 1820 wiederum der Zar das legitime Recht der Großmächte zum Eingreifen propagierte, negierte der Außenminister in einem „State Paper“ vom 5. Mai 1820 das Recht der Groß-

2 9

Wilhelm G. Grewe (Hrsg.), Fontes Historiae Iuris Gentium/Quellen zur Geschichte des Völkerrechts/Sources Relating to the History of the Law of Nations, Bd. 3/1. 1815–1945, Berlin/New York 1992, Nr. 10c i, S. 110–113 bzw. Nr. 10c ii, S. 113–115.

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mächte, sich als Weltregierung oder Aufsichtsorgan („Government of the World“, „Superintendence of the Internal Affairs of other States“) zu gerieren.30 London anerkannte sehr wohl, dass die Wiederherstellung berechenbarer Verhältnisse in Neapel im Interesse Österreichs liege und konkrete Maßnahmen der Wiener Politik ohne weiteres zustünden – allerdings ohne die Allianz aller europäischen Mächte damit zu befassen: Es handle sich um eine „affaire spéciale plutôt que générale“, wie Österreichs Londoner Botschafter Paul A ­ nton Fürst Esterházy von Galántha im September 1820 an Metternich weitergab. Außerdem ließ Castlereagh den russischen Botschafter Christoph Fürst von Lieven wissen, in Neapel gehe es um Reformen und Fragen der Innenpolitik; eine materielle Gefährdung eines anderen Staats sei nicht absehbar.31 Das ausführliche und sehr differenziert argumentierende Memoire Castlereaghs an seinen Halbbruder, den Wiener Botschafter Lord Charles Stewart, der die Troppauer Verhandlungen vor Ort verfolgte, vom 16. Dezember 1820 ist in diesem Zusammenhang von zentralem Interesse.32 Der britische Außen­minister äußerte zunächst seine Anerkennung für die Tatsache, dass die in Troppau versammelten Mächte im Sinn der 1814/15 vereinbarten vertrauensbildenden Maßnahmen über ihre nächsten politischen Schritte Informationen erteilten und bewertete diese als reine Absichtserklärung. Was Westminster beunruhige, sei nicht die Tatsache, dass gegen Neapel militärische Maßnahmen geplant würden, denn, so Castlereagh, auch er hege keine Sympathien für die Umtriebe geheimer Gesellschaften oder für Militärrevolten. Misstrauen errege dagegen der offenkundige Wille der Ostmächte, ihre Absichtserklärung („Projét“) fortzuentwickeln in Richtung eines vertragsgestützten „general system“ „of international law“. Allen solchen Tendenzen zur Entwicklung eines internationalen Garantiesystems mit verbindlichen, automatisch greifenden Verpflichtungen erteilte Castlereagh erneut eine klare Absage seitens der Briten – dies laufe auf eine Art europäischen Gerichtshof („penal Superintendance over all the other States of Europe“) hinaus, der über die Bestrafung fremder Territorien aufgrund der Beschlüsse Dritter entscheiden würde. Bei der Klausel, dass jeder Staat, der in seinem Regierungssystem Veränderungen erfahre, aus den Status-quo-Garantien

3 0

Heydemann, Konstitution gegen Revolution (wie Anm. 28), S. 48f., 62, 64f.; ­Charles K. Webster, The Foreign Policy of Castlereagh 1812–1822, Bd. 2. 1815–1822. Britain and the European Alliance, London 1934, Ndr. 1947, S. 226–246. 31 Heydemann, Konstitution gegen Revolution (wie Anm. 28), S. 92f.; Webster, Foreign Policy of Castlereagh 2 (wie Anm. 30), S. 261–284. 3 2 HHStA Wien, Staatskanzlei Kongreßakten, Kart. 21, Fasz. 38, fol. 130–155. Das Dokument ist erwähnt bei Webster, Foreign Policy of Castlereagh 2 (wie Anm. 30), S. 303–306, und folgendermaßen charakterisiert: „Never before had Castlereagh spoken so clearly and so openly“; ebd., S. 305.

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der europäischen Allianz auszuschließen sei, handle es sich um eine ungehörige Überdehnung der Absprachen von 1815, die angesichts eines historischen Sonderfalls getroffen worden seien. Sie dürften nicht als Präzedenzfall herangezogen werden, da sie die Alliierten nur für den Fall neuer revolutionärer Unruhen in Frankreich selbst zum Eingreifen mit den aufgestellten Besatzungstruppen verpflichteten. Das Recht zur Intervention („right of interference“) in Drittstaaten lehnte ­Castlereagh nicht aus Prinzip ab; es stehe jedem unabhängigen Staat insbesondere in Bezug auf seine direkte Nachbarschaft als Maßnahme der Selbstverteidigung zu, und auch Großbritannien werde dieses Recht nötigenfalls in Anspruch nehmen. Das Problem sei die unbestimmte Generalisierung der Interventionsregel bzw. ihre Einfügung in einen multilateralen Allianzvertrag. Das Interventionsrecht greife nämlich nur als das Recht eines Einzelstaats unter bestimmten (bedrohlichen) Bedingungen, nicht als automatisch auslösbares Recht a priori in einem Allianzsystem. Denn dies laufe hinaus auf die Etablierung einer gesamteuropäischen Regierung mit gewissen polizeiähnlichen Befugnissen („a species of General Government in Europe“; „a General European Police“). Eine solche Institution war für einen britischen Außenminister – damals wie heute – natürlich undenkbar, da sie den (in britischer Sicht) korrekten Begriffen von einzelstaatlicher Souveränität und von der politischen Praxis zwischenstaatlicher Politik („acknowledged practice of nations“) völlig zuwider lief. Großbritannien entsandte aus diesen grundsätzlichen Erwägungen keinen Bevollmächtigten zu den Beratungen in Troppau und Laibach (wohl aber einen Beobachter in der Person des erwähnten Lord Stewart) und trat den Beschlüssen nicht bei. Ein vor allem für die britische Öffentlichkeit bestimmtes „Circular Dispatch“ vom 19. Januar 1821 (wenige Tage zuvor war das Troppauer Zirkular vom 8. Dezember 1820 von einer englischen Zeitung veröffentlicht worden) hielt fest, auf europäischer Ebene gebe es eben kein territoriales, politisches Garantiesystem („federative system“), wie es der Deutsche Bund für Mitteleuropa darstelle, und jeder Versuch einer Überdehnung der bestehenden internationalen Absprachen in diese Richtung sei als Anmaßung von „supremacy“ zu werten.33 In Wien gab Lord Stewart die Erklärung ab, Neapel falle nicht unter die gültigen Bündnisverträge; London anerkenne die besonderen Interessen Österreichs in Italien und die Auswirkungen der dortigen Vorgänge auf die Sicherheitslage des Kaiserstaats, werde sich an einer Militäraktion aber nicht beteiligen.34 Im

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British and Foreign State Papers 1820–1821, London 1830, S. 1160–1162. Vgl. zu den gesamten Vorgängen auch Webster, Foreign Policy of Castlereagh 2 (wie Anm. 30), S. 259–345, speziell zum Circular Dispatch vom 19. 1. 1821 S. 320–324. 3 4 HHStA Wien, Staatskanzlei Kongreßakten, Kart. 21, Fasz. 38, fol. 173–189.

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Hinblick auf Metternichs zunehmende Verabsolutierung des monarchischen Prinzips, die mit der pragmatischen Bereitschaft der Briten zur maßvollen Reform bestehender Herrschafts- und Regierungsformen immer stärker in Konflikt geriet, hatte Stewart Metternich schon im November 1820 darauf hingewiesen, es drohe eine zunehmende Entfremdung zwischen „Representative and nonRepresentative Governments“ in Europa und auch von daher eine Gefahr für gemeinsame Stabilitätsinteressen.35 Einige Monate später kam Castlereagh im Unterhaus nochmals auf das Zirkular vom 19. Januar 1821 zurück, das er als felsenfeste Grundposition („as on a rock“) der internationalen Politik der britischen Regierung bezeichnete. Den Anlass zur Debatte der Commons gaben zwei neue Dokumente, die die Ostmächte zur offiziellen Beendigung des Kongresses von Laibach am 12. Mai 1821 herausgegeben hatten. Eine erste Erklärung diente der Rechtfertigung des (inzwischen erfolgreichen) Eingreifens österreichischer Truppen zur Stützung der Position des Königs von Sardinien-Piemont, Carlo Felice, im April 1821; die Intervention habe dazu gedient, die Ausübung rechtmäßiger Regierungsgewalt zu schützen und Rebellion niederzuhalten.36 Das zweite Dokument, eine Zirkulardepesche, beschäftigte sich nochmals mit der eben abgeschlossenen Wiederherstellung der legitimen Regierungsgewalt im Königreich Beider Sizilien. In aller Deutlichkeit finden sich hier geopolitische Interessenlagen, eine prinzipielle AntiVeränderungs-Doktrin hinsichtlich der innenpolitischen Verhältnisse und ein anti-konstitutionell grundiertes Bekenntnis zum monarchischen Prinzip zur Doktrin einer konservativen Entwicklungsblockade amalgamiert.37 „Unwandelbarer Grundsatz/principe invariable“ der Politik der Italien benachbart liegenden Mächte sei es, alles „rechtmäßig Bestehende [zu] erhalten/conserver ce qui est légalement établi“. Jede angebliche Reform, die sich der Empörung und Gewalt bediene, sei unvereinbar mit den Grundsätzen des „europäischen Staatsrechts/ droit public de l’Europe“; nützliche Veränderungen in Gesetzgebung und Verwaltung dürften ausschließlich „von dem aufgeklärten, überlegten Entschlusse derer, welche[n] Gott die Verantwortung für den Gebrauch der ihnen anvertrauten Macht auferlegt hat, ausgehen/de la volonté libre, de l’impulsion réfléchie et éclairée de ceux que Dieu a rendus responsables du pouvoir“. Diese normierende Engführung zwischen innenpolitischen Ordnungsformen und europäischer Sicherheit widersprach dem britischen Pragmatismus, Staatsform und Verfassung nicht normierend a priori zu beurteilen, sondern am Nutzen für ein politisches Ziel, in diesem Fall eines stabilen Friedens in Europa, zu messen. Bei der Debatte über das Laibacher Zirkular im britischen 3 5

Heydemann, Konstitution gegen Revolution (wie Anm. 28), S. 96.

3 6 Grewe, Fontes (wie Anm. 29), Nr. 10d i, S. 116–118.

37 Ebd., Nr. 10d ii, S. 119–122 (daraus die folgenden Zitate).

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Unterhaus am 21. Juni 1821 schrieb der Tory James Stuart-Wortley dem Dokument die Verbreitung freiheitsfeindlicher Prinzipien zu. Der Wortführer der Whigs, Sir James Mackinthosh, erklärte, er bewundere Revolutionen nicht um ihrer selbst willen, doch habe es nachweislich Umwälzungen gegeben, die ein missbräuchliches System abgeschafft und eine positive Ordnung neu etabliert hätten. Castlereagh, der sich der Notwendigkeit bewusst war, britische Außenpolitik unter Rückbezug auf den „mind of the nation“ zu betreiben, sekundierte („We had had our revolutions, but we had never admired them as revolutions“) und erklärte erneut, die Anmaßung eines generellen Rechtstitels auf Intervention wegen unerwünschter Änderungen in der Innenpolitik eines Drittstaates bedeute die Selbstautorisierung einiger Mächte als Gerichtshof („tribunal“) und damit eine ungeheure (und ungeheuerliche) Arrogation von Macht „in defiance of the law of nations and the principles of common sense“.38

IV. Interventionistische Impulse von „unten“? Zur Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure in der Interventionsdebatte

Die Debatte um das politische Handlungsinstrumentarium der Intervention stellt am Beginn des 19. Jahrhunderts keineswegs ein exklusives Projekt der Eliten dar. Vielmehr versuchten im Zuge der europäischen Friedenskongresse auch private Interessensgemeinschaften bzw. Individuen verstärkt Einfluss auf die internationale Politik auszuüben. Diese Akteure, die im Zwischenraum von Staat, Wirtschaft und Privatsphäre agierten, können trotz ihrer unterschiedlichen inhaltlichen und organisatorischen Akzentuierungen durchaus unter dem Terminus Zivilgesellschaft subsummiert werden.39 Prominentestes Beispiel ist die von Großbritannien ausgehende Abolitionsbewegung, deren transnationaler Kampf gegen Sklaverei und Sklavenhandel durchaus mit der Arbeit moderner NGOs verglichen werden kann.40

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Sitzungsprotokoll des House of Commons vom 21. 6. 1821 zur „Declaration of the allied Sovereigns at Laybach“ unter http://hansard.millbanksystems.com/commons/1821/jun/21/ declaration-of-the-allied-sovereigns-at (02. 05. 2012); vgl. Andreas Fahrmeir, Revolutionen und Reformen. Europa 1789–1850, München 2010, S. 182 (Sprecher war Castlereagh, nicht Canning); Heydemann, Konstitution gegen Revolution (wie Anm. 28), S. 29; John Bew, „From an umpire to a competitor“. Castlereagh, Canning and the issue of international intervention in the wake of the Napoleonic Wars, in: Brendan Simms/David J.B. Trim (Hrsg.), Humanitarian intervention. A History, Cambridge 2011, S. 117–138, hier S. 134f. 3 9 Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft in historischer Perspektive, in: Ralph Jessen/Sven ­Reichardt/ Ansgar Klein (Hrsg.), Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 29–42. 4 0 Betty Fladeland, Abolitionist Pressures on the Concert of Europe. 1814–1822, in: JModH 38 (1966), S. 355–373.

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Im Bezug auf die Interdependenz von Intervention und privaten Akteuren erscheint jedoch die Barbareskenfrage als besonders aufschlussreich. Die seit dem 16. Jahrhundert vom Maghreb ausgehende Piraterie, und damit verbunden die Versklavung von Christen, war immer wieder ein Reizthema in der europäischen Öffentlichkeit.41 Im Zuge der Verhandlungen am Wiener Kongress waren es nun nicht die offiziellen Vertreter, die dieses Thema auf die politische Bühne brachten, sondern auf Eigeninitiative handelnde private Personen. Bekanntester Proponent vor Ort war der britische Kriegsheld Admiral Sir Sidney Smith (1764–1840)42, der nach Wien angereist war, um eine militärische Bewegung gegen die nordafrikanischen „Raubstaaten“ – so die zeitgenössische Bezeichnung – ins Leben zu rufen. Hierfür lud er die europäische Gesellschaft in seine Wiener Unterkunft ein, wo sich laut geheimpolizeilichen Berichten oft „zweimal mehr Personen“ versammelten, „als das Quartier, bestehend aus zwei Zimmern“ fassen konnte.43 Darüber hinaus organisierte er zumindest eine größere Benefizveranstaltung zu Gunsten der „geknechteten Christensklaven“ im Wiener Augarten, deren Erfolg in den Quellen zwar völlig unterschiedlich bewertet wird, doch zumindest große Aufmerksamkeit unter den europäischen Gesandten erregte.44 Schließlich forderte er in einem Schreiben an die europäischen Verantwortlichen die Intervention in Nordafrika und bot sich zugleich als deren militärischer Führer an: Animé par le souvenir de ses sermens comme chevalier, et desirant exciter la même ardeur dans les autres chevaliers chrétiens, il propose aux nations les plus intéressées au succès de cette noble entreprise, de s’engager par un traité à fournir leur contingent d’une force maritime et pour ainsi dire amphibie, qui, sans compromettre aucun pavillon, et sans dépendre des guerres ou crises politiques des nations, aurait constamment la garde des côtes de la Méditerranée, et le soin important de surveiller, d’arrêter et de poursuivre tous les pirates par terre et par mer. Ce pouvoir avoué et protégé par toute l’Europe, non-seulement rendrait au commerce une parfaite sécurité, mais finirait par civiliser les côtes de l’Afrique, en empêchant ses habitans de continuer leur piraterie au préjudice de leur industrie et de leur commerce légitime.45

41 Ernstpeter Ruhe, Christensklaven als Beute nordafrikanischer Piraten. Das Bild des ­Maghreb

im Europa des 16.–19. Jahrhunderts, in: Ernstpeter Ruhe (Hrsg.), Europas islamische Nachbarn. Studien zur Literatur und Geschichte des Maghreb, Würzburg 1993, S. 159–186. 42 Tom Pocock, A Thirst for Glory. The Life of Admiral Sir Sidney Smith, London 1998. 4 3 August Fournier (Hrsg.), Die Geheimpolizei auf dem Wiener Kongress. Eine Auswahl aus ihren Papieren, Wien/Leipzig 1913, S. 307. 4 4 Ebd., S. 330; Graf August de la Garde, Gemälde des Wiener Kongresses 1814–1815. Erinnerungen, Feste, Sittenschilderungen, Anekdoten, Bd. 2, 2. Aufl. München 1914, S. 89–104. 4 5 Johann Ludwig Klüber, Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815, Bd. 5, Ndr. Osnabrück 1966, S. 533.

Politikraum ­Europa in der Zeit des Wiener Kongresses 171

Nicht nur durch realpolitischen Lobbyismus, sondern auch über publizistische Einflussnahme wurde versucht, Bewegung in die Barbareskenfrage zu bringen. So stieß das an „den erlauchten Kongreß in Wien“ adressierte Werk „Über die Seeräuber im Mittelmeer und ihre Vertilgung“ aus der Feder des in Lübeck wirkenden Professors Friedrich Herrmann ebenfalls auf Beachtung. Darin plädierte der Autor für eine verschärfte Intervention im Norden Afrikas, die schließlich in der Errichtung eines christlichen Reiches münden sollte. Die Barbareskenstaaten müssten, so Herrmann, in eine Lage gebracht werden, „daß auf jedes ihrer Verbrechen gegen die Sicherheit unserer Flaggen sogleich von unserer Seite die Strafe folgen kann, und daß sie demnach aus Furcht unterlassen, was sie aus freiem Antrieb und aus Achtung gegen das Recht zu unterlassen nicht Willens sind.“46 Dass der Wiener Kongress und in weiterer Folge das gesamte Europäische Konzert für einige Zeitgenossen durchaus einen „humanitären“ Auftrag hatten47, wird nicht nur in der Barbareskenfrage deutlich, sondern lässt sich auch an den Forderungen nach einem progressiveren Arbeitsrecht bis hin zur Debatte um die Gleichstellung der Juden ablesen.48 Diese „historische“ Mission des Europäischen Konzerts stieß keineswegs auf allgemeine Zustimmung. So merkte ein Rezensent des Hermann’schen Barbaresken-Opus in der „Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung“ aus dem Mai 1815 durchaus kritisch an, dass dieser Gegenstand dem Congresse fremd seyn müsse, weniger, weil er zu keinem Artikel des Friedens gezogen werden kann, […] als weil er ausser den Grenzen desselben liegen muss. Denn was soll nicht alles an den Congress kommen, wenn man von dem Begriff der erhabenen Beschützer alles Edeln, Grossen, Schönen, wenn man von der Erwartung eines volleren und kräftigeren Lebens für die europäische Menschheit ausgeht?49

Die Barbareskenfrage wurde erst im Zuge der Botschafterkonferenzen in London sowie auf dem Kongress von Aachen 1818 offizielles Thema und unterlag in weiterer Folge der Dynamik der europäischen Mächtepolitik. Nachdem Großbritannien bereits 1816 eine Flotte an die nordafrikanische Küste entsandt hatte, einigten sich die europäischen Mächte in Aachen – die Idee einer gemeinsamen militärischen Mission wurde verworfen – darauf, London und Paris mit dem Problem zu betrauen. Trotz der Entsendung einer britisch-französischen Flotte 4 6

Friedrich Herrmann, Über die Seeräuber im Mittelmeer und ihre Vertilgung. Ein Völkerwunsch an den erlauchten Kongreß in Wien. Wohlfeile Ausgabe, Lübeck 1817, S. 375. 47 Carsten Holbraad, The Concert of Europe. A Study in German and British International Theory, 1815–1914, London/Southampton 1970, S. 162–176. 4 8 Salo Baron, Die Judenfrage auf dem Wiener Kongreß, Wien/Berlin 1920; Albert T ­ angeman Volwiler, Robert Owen and the Congress of Aix-la-Chapelle 1818, in: The Scottish Historical Review 19 (1922), S. 96–105. 49 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 95 (Mai 1815), S. 273.

172 Reinhard Stauber und Florian Kerschbaumer

bevorzugten die europäischen Mächte einzelstaatliche, sowohl diplomatische als auch militärische Lösungen anzustreben, so dass das eigentliche Ende der maghrebinischen Piraterie erst mit der Eroberung Algiers durch Frankreich im Jahre 1830 datiert werden kann.50 Dennoch zeigt das Beispiel der Barbareskenstaaten deutlich, dass zivilgesellschaftliche Bestrebungen – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität und realpolitischem Einfluss – sowohl als Analysekriterium in der Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis bzw. der Außenwahrnehmung des Europäischen Konzerts als auch im Diskurs um die Intervention, und hier insbesondere – bis heute immer wieder kontrovers diskutiert – im Zusammenhang mit dem Attribut „humanitär“, bedeutsam sind.

V. Intervention und die Pluralität politischer Ordnungsräume im 19. Jahrhundert

Nach der Ansicht Paul W. Schroeders gehörte zum Gelingen des politischen Systemwechsels von 1814/15 neben der Etablierung multilateraler Verträge und funktionierender Konsultationsmechanismen die Abschottung Europas von potentiellen und tatsächlichen Konfliktschauplätzen in Übersee.51 Eine stabile Friedensordnung auf dem Alten Kontinent war eine notwendige Bedingung für die Dynamik der europäischen Expansion über den Globus im 19. Jahrhundert52, und die „Abschirmung Europas gegenüber einer konfliktreichen Peripherie“ einerseits eine „geniale friedensstiftende Idee“, andererseits ging damit der Verzicht auf jegliche Initiative in Richtung einer „globalen Rechtsordnung“ einher.53 Es waren die Briten, die „dem Ansinnen, jedem europäischen Staat eine normierende Konformität seiner Außenpolitik aufzuerlegen“, wiederholt und konsequent „das Prinzip der völligen Autonomie seiner außenpolitischen Aktionsfähigkeit“ entgegensetzten.54 Sie taten dies vor allem im Blick über Europa hinaus auf die Aufrechterhaltung ihrer Dominanz zur See. Schon früh im Jahr 1814 setzten sie durch, dass Fragen der „maritime rights“ in den künftigen Verhandlungen mit und über Frankreich keine Rolle spielen durften; sie wurden 5 0

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Salvatore Bono, Piraten und Korsaren im Mittelmeer. Seekrieg, Handel und Sklaverei vom 16. bis 19. Jahrhundert, Stuttgart 2009, S. 58–63; Webster, Foreign Policy of Castlereagh 2 (wie Anm. 30), S. 462ff. Paul W. Schroeder, The 19th-Century International System. Changes in the Structure, in: World Politics 39 (1986), S. 1–26, S. 13–17, Zitat S. 13. John Darwin, Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche 1400–2000, Frankfurt a. M./New York 2010, S. 213–215. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 679f. Heydemann, Konstitution gegen Revolution (wie Anm. 28), S. 28f.

Politikraum ­Europa in der Zeit des Wiener Kongresses 173

(außer der Frage des Flaggengrußes zwischen zwei Schiffen auf offener See) vom Wiener Kongress ferngehalten, ebenso wie alle Agenden des britisch-amerikanischen Kriegs von 1812–1814. Eine nur scheinbare Ausnahme bildeten die kurzen Verhandlungen über das Verbot des Handels mit afrikanischen Sklaven, denn die hier deklaratorisch ins Auge gefasste „abolition universelle“ wurde nach weiteren Verhandlungen bei der Londoner Botschafterkonferenz und auf dem Aachener Kongress realpolitisch von Großbritannien alleine auf dem Weg bilateraler Verträge umgesetzt. Die Idee normierender Zusammenhänge zwischen internationaler Sicherheit und innenpolitischer Ordnung gehörte seit dem 18. Jahrhundert zu den politiktheoretischen wie den juristischen Beschreibungen der pluralen Realität Europas in den Kategorien eines Systems. Im Zuge des durch die Wiener Ordnung beförderten Übergang Europas vom „Staatensystem“ zur „Staatengemeinschaft“ mit einer Verdichtung des „regelgeleitete[n] Zusammenhang[s]“ zwischen den staatlichen Akteuren, der auch eines neuartigen „politischen Managements“ bedurfte55, stellten die geschilderten Ansichten der österreichischen und preußischen „Interventionisten“ (zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts56), die das Einfrieren innenpolitischer Verhältnisse als legitimes Ziel der Außenpolitik betrachteten, eher die Regel als die Ausnahme dar. Die Briten mit ihrem traditionell eher mäßigen Interesse an den Verhältnissen Europas waren auch in der Zeit des Wiener Kongresssystems die Verkörperung dieser Ausnahme. Man kann, zumindest bei Castlereagh, nicht von einer generellen Ablehnung des „rights of interference“ sprechen; ganz deutlich aber ist die Ablehnung eines allgemeinen, auf multilateralen Verträgen basierenden Systems „of international law“, was in britischer Sicht auf automatische Beistands­ mechanismen und eine überstaatliche Entscheidungsinstanz hinausgelaufen wäre, die wahlweise als „government of the world“ oder „general government of ­Europe“ geschmäht und als Anmaßung ungehöriger „supremacy“ zurückgewiesen wurden. Aus dieser von der führenden Weltmacht des 19. Jahrhunderts forcierten unterschiedlichen Anwendung internationaler Rechtsregeln entstand eine Vielfalt weltpolitischer Ordnungsräume. Dabei hat man nicht nur an die Amerikas (­Monroe-Doktrin 1823) oder an den Indischen Ozean zu denken, wie ein abschließender Hinweis auf den östlichen Mittelmeerraum in Erinnerung rufen soll. Zunächst bestanden durchaus Pläne der Briten und der Österreicher, das Osmanische Reich in die Sphäre des Wiener Garantiesystems einzubeziehen,

5 5 5 6

Zitate bei Osterhammel, Verwandlung der Welt (wie Anm. 53), S. 673f. Vec, Intervention/Nichtintervention (wie Anm. 15), S. 150f.

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doch wurden diese von der russischen Diplomatie durchkreuzt. Mit der Behauptung von Malta und der Übernahme des Protektorats über die Ionischen Inseln signalisierte Castlereagh den politischen Willen, als Ordnungsmacht in diesem Raum neben Russland und Österreich präsent zu bleiben. Und dieser Wille mündete wenige Jahre später in ein überaus deutliches politisches Signal: „Entgegen allen Absprachen, wie sie für Europa selbst galten“, setzte Castlereaghs Nachfolger Canning an der Seite des neuen Zaren Nikolaus’ I. 1826/27 auf Intervention, gegen die Hohe Pforte und die legitime Dynastie des Hauses Osman, zugunsten der 1821 ausgelösten Revolte der griechischen ­„Philiké Etaireía“ und der russischen Ansprüche auf die Donaumündung und die Meerengen. 57

57

Schroeder, Transformation (wie Anm. 4), S. 572–574; Osterhammel, Verwandlung der Welt (wie Anm. 53), S. 679–682, Zitat S. 679.

SEKTION III · Religiös-konfessionelle Vielfalt als sicherheitspolitische Herausforderung in der Frühen Neuzeit: Die strategischen Antworten der föderal verfassten Staaten

Jürgen Overhoff

Föderale Verfassungen als politische und religiös-konfessionelle Sicherheitsgarantien. Einführende Überlegungen zu einem bemerkenswerten Versprechen der frühneuzeitlichen Staatstheorie Der an Staatsbildungen und Staatsumwälzungen reiche Zeitraum zwischen der Mitte des 17. und dem Ende des 18. Jahrhunderts ist die historische Epoche, in welcher der Föderalismus erstmals und dann auch bleibend als tragfähige Alternative zur absolutistisch-zentralistisch strukturierten Staatsform wahrgenommen wurde, als deren Wegbereiter Jean Bodin, der Verfasser der 1576 erschienen „Six livres de la République“, beansprucht wird.1 Vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts priesen führende politische Philosophen der Aufklärung das Konzept des föderativen Staatsaufbaus immer häufiger als vielversprechendsten Teil des europäischen Verfassungserbes.2 Einer der bedeutendsten Staatstheoretiker dieser Zeit, der französische Richter und Rechtsphilosoph Charles Louis de Secondat, Baron de Montesquieu, widmete dem föderalen Staat in seinem 1748 erschienenen, bahnbrechenden Buch über Wesen und Geist der Gesetze, „De l’Esprit de Loix“3, gleich mehrere Kapitel, in denen er die ins Auge springenden Vorteile, „avantages“4 der „République fédérative“5 aufzählte. So gewähre ein Bundesstaat – also ein politisches Gemeinwesen, in dem mehrere, grundsätzlich selbständige „Corps politiques“6

1

Vgl. Wolfgang Reinhart, Absolutismus und Staatsraison in Frankreich, in: Hans Fenske/ Dieter Mertens/Wolfgang Reinhart/Klaus Rosen (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen. Von Homer bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1987, S. 304–306. 2 Vgl. Karl Härter, Föderalismus, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 1046–1049; George Anderson, Föderalismus, Opladen/Farmington Hills 2008, S. 20. 3 Charles Louis de Secondat, Baron de Montesquieu, De L’Esprit des Loix, Genf 1748. 4 Ebd., 9. Buch, 1. Kapitel, S. 204. 5 Ebd., S. 205. 6 Ebd.

SEKTION III · Religiös-konfessionelle Vielfalt als sicherheitspolitische Herausforderung in der Frühen Neuzeit: Die strategischen Antworten der föderal verfassten Staaten

Jürgen Overhoff

Föderale Verfassungen als politische und religiös-konfessionelle Sicherheitsgarantien. Einführende Überlegungen zu einem bemerkenswerten Versprechen der frühneuzeitlichen Staatstheorie Der an Staatsbildungen und Staatsumwälzungen reiche Zeitraum zwischen der Mitte des 17. und dem Ende des 18. Jahrhunderts ist die historische Epoche, in welcher der Föderalismus erstmals und dann auch bleibend als tragfähige Alternative zur absolutistisch-zentralistisch strukturierten Staatsform wahrgenommen wurde, als deren Wegbereiter Jean Bodin, der Verfasser der 1576 erschienen „Six livres de la République“, beansprucht wird.1 Vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts priesen führende politische Philosophen der Aufklärung das Konzept des föderativen Staatsaufbaus immer häufiger als vielversprechendsten Teil des europäischen Verfassungserbes.2 Einer der bedeutendsten Staatstheoretiker dieser Zeit, der französische Richter und Rechtsphilosoph Charles Louis de Secondat, Baron de Montesquieu, widmete dem föderalen Staat in seinem 1748 erschienenen, bahnbrechenden Buch über Wesen und Geist der Gesetze, „De l’Esprit de Loix“3, gleich mehrere Kapitel, in denen er die ins Auge springenden Vorteile, „avantages“4 der „République fédérative“5 aufzählte. So gewähre ein Bundesstaat – also ein politisches Gemeinwesen, in dem mehrere, grundsätzlich selbständige „Corps politiques“6

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Vgl. Wolfgang Reinhart, Absolutismus und Staatsraison in Frankreich, in: Hans Fenske/ Dieter Mertens/Wolfgang Reinhart/Klaus Rosen (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen. Von Homer bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1987, S. 304–306. 2 Vgl. Karl Härter, Föderalismus, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 1046–1049; George Anderson, Föderalismus, Opladen/Farmington Hills 2008, S. 20. 3 Charles Louis de Secondat, Baron de Montesquieu, De L’Esprit des Loix, Genf 1748. 4 Ebd., 9. Buch, 1. Kapitel, S. 204. 5 Ebd., S. 205. 6 Ebd.

176 Jürgen Overhoff

zugleich als „Etat plus grand“7 zusammengeschlossen und vereint seien – seinen diversen Teilstaaten und einzelnen Bürgern nach innen eine solche Freiheit, wie sie sonst nur republikanische Freistaaten genössen, und nach außen eine solche Macht, wie sie eigentlich nur die großen Monarchien ausübten.8 Denn sollte im Inneren eines Teilstaates einmal ein seine Regierungsmacht missbrauchender Usurpator auftreten, würden die anderen Glieder des Bundes ihn mit Waffengewalt rasch in seine Schranken weisen, um ihren Staat vor ihm zu schützen und wieder zu befrieden, „appaiser“.9 Und auch einem äußeren Feind könne ein flexibel agierendes föderales Gemeinwesen besser widerstehen als ein zentralistisch orga­nisierter Staat.10 Der wichtigste und unschätzbare Vorzug, den ein föderativ verfasster Staat somit gegenüber allen anderen Staatsformen besitze, sei demnach, wie Montesquieu unterstrich, das Vermögen, ihren vereinten Mitgliedern ein hohes politisches Gut zu bieten, das in der Frühen Neuzeit besonders kostbar war: Sicherheit – „sureté“.11 Als die bedeutendsten zeitgenössischen föderativen Staaten, die im Genuss dieser Frieden und Freiheit gewährenden Sicherheit gedeihen konnten, bezeichnete Montesquieu die Vereinigten Niederlande, „la République de Hollande“, die Schweizerische Eidgenossenschaft, „les Ligues Suisses“, und das Deutsche Reich, „la République fédérative d’Allemagne“.12 Diese drei Staaten schienen ihm, trotz einiger Mängel im Detail ihrer jeweiligen Verfassungen, aufgrund ihrer föderativen Struktur so gut gebaut zu sein, dass er sie für nahezu unzerstörbar hielt. So pries er Holland, die Schweiz und Deutschland in einem kühnen Schluss als „Républiques éternelles“.13 Auch der überragende Göttinger Staatswissenschaftler Johann Stephan ­Pütter lobte in der Mitte des 18. Jahrhunderts in überschwänglichen Tönen die von ihm lateinisch „systema foederatarum civitatum“14 genannte bundesstaatliche Staatsform dafür, dass sie den in ihnen lebenden Menschen ein hohes Maß an Rechtssicherheit gewährte.15 Wie Montesquieu erblickte auch er in den Vereinigten Provinzen der Niederlande, in der Schweiz und im Deutschen Reich die 7 Ebd. 8

Vgl. ebd., 205–206.

10

Vgl. ebd.

9 Ebd., S. 206.

11 Ebd., 9. Buch, 4. Kapitel, S. 209. 12 Ebd., 9. Buch, 1. Kapitel, S. 205. 13 Ebd. 14

Johan Stephan Pütter, Kurzer Begriff des Teutschen Staatsrechts, Göttingen 1764, S. 15. Pütter legt allerdings auch großen Wert auf die Feststellung, dass die vielen föderierten deutschen Staaten zugleich in ihrer Gesamtheit als ein einziger Staat, „vna respublica“, zu betrachten seien, ebd. 1 5 Vgl. ebd.

Föderale Verfassungen als politische und religiös-konfessionelle ­­Sicherheitsgarantien 177

wichtigsten föderativen Staatssysteme seiner Zeit.16 In diesem Zusammenhang setzte er mit der Definition, Deutschland sei ein „Staat, dessen einzelne Glieder wieder förmliche Staaten sind“17, eine seither viel zitierte Formel des deutschen Föderalismus in Umlauf, die in den deutschen Reformdebatten der Aufklärung bundesstaatlichen Theorien weiteren Auftrieb gab.18 1777 wurden die von Montesquieu und Pütter beschriebenen Vorzüge des Föderalismus, dann auch im von Fortunato Bartolommeo de Felice in Y ­ verdon herausgegebenen dreizehnbändigen „Dictionnaire universel raisonné de J­ ustice naturelle et civile“19 hervorgehoben, also in einem der voluminösesten und einflussreichsten Nachschlagewerke zum Staatsrecht seiner Zeit. Aus de F ­ elices Dictionnaire, vor allem aus den darin enthaltenen einschlägigen Artikeln „Confédération“20 und „République fédérative“21, bezog auch der virginische Jurist James Madison sein Wissen über die föderativ verfassten Staaten Europas.22 Dieses Wissen konnte er dann 1787 als Architekt der Verfassung der USA bei den Debatten der in Philadelphia abgehaltenen Constitutional Convention

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Zu Pütters Vergleich zwischen der Schweiz, den Vereinigten Niederlanden und dem deutschen Reich vgl. Ulrich Schlie, Johann Stephan Pütters Reichsbegriff (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien 38), Göttingen 1961, S. 48ff. Johann Stephan Pütter, Historisch-politisches Handbuch von den besonderen Teutschen Staaten, Erster Theil, Von Oesterreich, Bayern und Pfalz, Göttingen 1758, Vorrede §1, S. III; Vgl. auch Pütter, Kurzer Begriff (wie Anm. 14), S. 14: „So bestehet ganz Teutschland jetzt aus lauter besonderen Staaten“. Vgl. dazu Johannes Burkhardt, Bedeutung und Wirkung des Westfälischen Friedens, in: Peter C. Hartmann/Florian Schuller (Hrsg.), Der Dreißigjährige Krieg. Facetten einer folgenreichen Epoche, Regensburg 2010, S. 192f. Fortunato Bartolommeo de Felice (Hrsg.), Dictionnaire universel raisonné de Justice naturelle et civile. Contenant le droit naturel, la morale universelle, le droit des gens, le droit politique, le droit public, le droit romain, le droit canonique et le droit feudal, avec l’Histoire litteraire relative à ces sciences. Ouvrages compose par une société de Moralistes, de Jurisconsultes & de Publicistes, indiqués à la page suivante. Le tout revu & unis en ordre par M. de Felice, 13 Bde., Yverdon 1777/1778. Fortunato Bartolommeo de Felice, Conféderation, in: Felice, Dictionnaire (wie Anm. 19), Bd. 3, S. 416–418. Fortunato Bartolommeo de Felice, République federative, in: Felice, Dictionnaire (wie Anm. 19), Bd. 12, S. 191–193. Zwischen 1784 und 1786 studierte Madison Aufbau, Struktur und Funktionsweise der europäischen Föderationen im Detail. Aus Paris ließ er sich von dem zu dieser Zeit dort amtierenden amerikanischen Botschafter Thomas Jefferson alle erreichbaren zeitgenössischen Werke der politischen Föderalismustheorie zusenden, unter anderem auch de Felices Dictionnaire, vgl. James Madison, Notes on Ancient and Modern Confederacies [1786], in: Robert A. Rutland (Hrsg.),The Papers of James Madison, Bd. 9, Chicago 1975, S. 3ff.

178 Jürgen Overhoff

nutzbringend anwenden.23 Wie Pütter, Montesquieu und de Felice schätzte auch Madison – genau wie sein ebenfalls am europäischen Föderalismus interessierter politischer Weggefährte Benjamin Franklin24 – an einer gut ausbalancierten bundesstaatlichen Ordnung die Sicherheit, die diese Staatsform ihren einzelnen Mitgliedern und Bürgern bot.25 Übrigens sei an dieser Stelle mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass es noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts keine saubere begriffliche Unterscheidung zwischen einer Konföderation und Föderation, oder auch zwischen Staatenbünden und Bundesstaaten gab, wie wir sie in den entsprechenden Nachschlagewerken unserer Zeit vorfinden.26 Ein aus Staaten zusammengesetzter Staat – ganz gleich ob es sich um eine eher lose Assoziation von weitgehend souveränen Staaten handelte oder um einen Staat, welcher der Bundesgewalt im Vergleich zu den Befugnissen der Einzelstaaten sehr große Vollmachten gewährte – wurde auf Französisch gleichermaßen „confédération“ oder „république fédérative“ genannt27, im Lateinischen zumeist systema civitatum foederatarum.28 Auch im Englischen war eine begriffliche Unterscheidung zwischen Bundesstaaten und Staatenbünden unbekannt. So wurde die erste US-Verfassung, also die 1777 ausgearbeiteten und 1781 ratifizierten Konföderationsartikel – die wir heute ja gerne als staatenbündische Konstitution charakterisieren –, von Franklin mit dem gleichen Begriff bezeichnet wie die heute als bundesstaatlich bezeichnete zweite US-Verfassung von 1787: Die Konföderationsartikel beschrieb er demgemäß als

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Bundesrepublik Amerika. Wie der deutsche Föderalismus die Väter der US-Verfassung inspirierte, in: ZEITGeschichte Nr. 3/2011 (Themenheft: Unser Amerika. Wie Deutsche die USA prägten), S. 37f. Benjamin Franklins frühester Versuch, die englischen Kolonien Nordamerikas zu einer echten Föderation zusammenzuschmieden, ist in seinem „Albany Plan of Union“ von 1754 enthalten: Benjamin Franklin, The Albany Plan of Union, in: Benjamin Franklin, Writings, hrsg. v. J.A. Leo Lemay, New York 1987, S. 378–382. Franklin kommt darin zu dem Schluss, dass allein ein föderaler Zusammenschluss der amerikanischen Kolonien zu deren „Mutual Defence and Security“ führen werde, ebd. S. 378. Vgl. dazu Madisons einschlägige Ausführungen über die Sicherheitspolitik der „Germanic Confederacy“, also des föderativen Deutschen Reiches; Madison, Notes (wie Anm. 21), S. 21. Vgl. Bardo Fassbender, Staatenbund, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12, Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 554–557. Vgl. dazu exemplarisch die entsprechenden Artikel aus de Felices Dictionnaire (wie Anm. 20 und 21). Vgl. auch Samuel Pufendorf, De statu imperii Germanici [1667]/Die Verfassung des Deutschen Reiches, lat./dt., hrsg. u. übers. v. Horst Denzer, Frankfurt a. M. 1994, wo das Reich im 6. Kapitel, § 9, auch als „systema sociorum inaequali foedere nexorum“ bezeichnet wird, das das Potential dazu habe, ein „systema rerumpublicarum foederatarum“ zu werden.

Föderale Verfassungen als politische und religiös-konfessionelle ­­Sicherheitsgarantien 179

eine „Federal Constitution“29 und die gründlich überarbeitete Bundesverfassung von 1787 schlicht als „new federal constitution“.30 Madison wiederum übersetzte Montesquieus „république fédérative d’Allemagne“ in seinen Schriften gerne mit dem englischen Begriff „Confederate Republic of Germany“.31 Außerdem charakterisierte er die Verfassung des Deutschen Reichs wechselweise als „federal system“ oder als „Confederacy“.32 Dabei meinte er aber immer das zeitgenössische, nach föderativen Prinzipien strukturierte frühneuzeitliche Deutsche Reich. Ende des 18. Jahrhunderts wurden dann auch die jungen USA neben dem Reich, den Niederlanden und der Schweiz von den damals lebenden Staatsphilosophen und Verfassungsrechtlern als neues, föderativ verfasstes Gemeinwesen angeführt, wenn es darum ging, die Vorzüge des Föderalismus anschaulich zu beschreiben. In Deutschland tat dies 1794 Pütters Schüler Carl Friedrich Häberlin, als er in seinem „Handbuch des Teutschen Staatsrechts nach dem System des Herrn Geheimen Justizrath Pütter“ die föderalistische deutsche Staatsstruktur als ein politische Sicherheit bietendes Schutzschild beschrieb, als „Palladium der bürgerlichen Freyheit“33, und ihr in dieser Hinsicht nun auch den „Amerikanische[n] Freystaat“34 als ein neues „systema foederatarum civitatum“35 vergleichend gegenüberstellte. Die Frage, ob der frühneuzeitliche Föderalismus nun wirklich – wie von Montesquieu, Pütter, de Felice, Madison, Franklin und Häberlin behauptet – eine in besonderer Weise Frieden, Freiheit und Sicherheit stiftende Verfassungsstruktur war, ist in der Frühneuzeitforschung schon mehrfach aufgeworfen worden. In Deutschland beispielsweise haben Johannes ­Burkhardt oder auch Olaf ­Asbach dieser Frage wiederholt Studien gewidmet, in denen sie aus der Perspektive des heutigen Historikers zu einer ähnlichen Einschätzung kommen wie die genannten Staatsphilosophen des Zeitalters der Aufklärung.36 2 9

Benjamin Franklin an Thomas Jefferson, April 1787, in: Albert H. Smyth (Hrsg.), The Writings of Benjamin Franklin, Bd. 9, New York 1907. 3 0 Benjamin Franklin an Ferdinand Grand, 22. Oktober 1787, in: Smyth (Hrsg.), Writings of Benjamin Franklin (wie Anm. 29). 31 James Madison, The Federalist, Number 19, in: Robert A. Rutland (Hrsg.),The Papers of James Madison, Chicago 1977, S. 305–309. 3 2 Ebd. 3 3 Carl Friedrich Häberlin, Handbuch des Teutschen Staatsrechts nach dem System des Herrn Geheimen Justizrath Pütter. Zum gemeinnützigen Gebrauch der gebildetern Stände in Teutschland, mit Rücksicht auf die neuesten merkwürdigen Ereignisse bearbeitet, Berlin 1794, Vorrede. 3 4 Ebd., S. 122. 3 5 Ebd., S. 123. 3 6 Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648– 1763 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. völlig neu bearb. Aufl., Bd. 11), Stuttgart 2006, S. 346–363 und 438–442; Olaf Asbach, Die Zähmung der Leviathane. Die

180 Jürgen Overhoff

Allerdings wurde in der historischen Forschung bislang noch kaum einmal danach gefragt, ob und inwiefern die föderativ verfassten Staaten speziell den in ihnen lebenden diversen Religionsgemeinschaften ein besonders hohes Maß an Sicherheit gewähren konnten, also religiöse Vielfalt eher begünstigten, und zwar in einer Zeit, in der religiös-konfessionelle Vielfalt eine große sicherheitspolitische Herausforderung darstellte. Die nun folgenden Beiträge, die sich eben dieser Fragestellung mit Blick auf die Schweiz, das deutsche Reich und die englischen Kolonien Nordamerikas widmen, verstehen sich demzufolge als Versuch, auf diesem noch weitgehend unbetretenen Terrain der Frühneuzeitforschung die nötige Pionierarbeit zu leisten. Weitere und ausführlichere Nachforschungen zur so bezeichneten Thematik können und sollen sich dann an diese Vorarbeiten anschließen.37

Idee einer Rechtsordnung zwischen Staaten bei Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau (Politische Ideen 15), Berlin 2002; ders., Die Reichsverfassung als föderativer Staatenbund. Das Alte Reich in der politischen Philosophie des Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseaus, in: Olaf Asbach (Hrsg.), Altes Reich, Frankreich und Europa. Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 171–218. 37 Ein von der DFG finanziertes Projekt zur Erforschung auch dieser Aspekte der frühneuzeitlichen Föderalismustheorien und -praktiken wird derzeit an den Universitäten Regensburg und Augsburg von Johannes Burkhardt, Volker Depkat und Jürgen Overhoff unter dem Titel „Das frühneuzeitliche deutsche Reich als politisches Referenzsystem des amerikanischen Föderalismus im Entstehungsprozess der USA (1751–1788)“ bearbeitet. Vgl. dazu den jüngsten Forschungsbericht zu den ersten Ergebnissen dieses Projektes Jürgen Overhoff, Die Reichsverfassung als Vorbild. Die USA haben den Föderalismus nicht erfunden, auch wenn die Amerikaner das gern glauben. Die Gründungsväter der amerikanischen Verfassung orientierten sich in viel stärkerem Maß als bisher gedacht an der föderalen deutschen Reichsverfassung, in: Damals. Das Magazin für Geschichte 5 (2012), S. 41–42.

Johannes Burkhardt

Konfessionsbildung als europäisches Sicherheitsrisiko und die Lösung nach Art des Reiches Nach dem eindrucksvollen Einstieg unseres Sektionsleiters Jürgen O ­ verhoff in die gemeineuropäischen, transatlantischen, aber eben auch deutschen Spielarten des Föderalismus mit dem Fokus auf deren Sicherheitsleistungen habe ich den Eindruck, dass der Reichsföderalismus von den zitierten Kollegen aus älteren Zeiten und anderen Ländern besser verstanden wurde als immer noch von Teilen der deutschen Geschichtswissenschaft. Vor allem aber von einer föde­ralismusmüde gewordenen Öffentlichkeit, die endlich neue Impulse aus der schieren Kenntnis einer geglückten föderalen, nachhaltig lebendigen Vergangenheit bekommen sollte.1 Die gestellte Aufgabe, die sicherheitspolitische Leistung des deutschen Föderalismus ausgerechnet auf dem Felde der Religion zu suchen, erscheint für das Zeitalter der Konfessionskonflikte und Religionskriege in Europa allerdings nicht gerade einladend. Denn die Eidgenossen führten als erstes zwei Religionskriege (Kappeler Kriege), später noch zwei (Villmerger Kriege), die Niederlande einen besonders langen religionsgespeisten Achtzigjährigen Krieg, und in Deutschland spielte erst der kleine Schmalkaldische und tobte dann der große Dreißigjährige Krieg, die beide nicht nur, aber auch Religionskriege waren. Das reicht an die Serie der neun französischen und der englischen Religionskriege nahezu heran, wenn man diese als nichtföderalistische Vergleichsgrößen sehen will. Hinter all diesen Konflikten stand zudem eine ganz einzigartige „strukturelle Intoleranz“2, die zuerst in Deutschland, dem Land der Reformation und ersten Konfessionsbildung, manifest geworden ist.

I.  Warum ein Wunder nötig war und wie es gemacht wurde

Alle Konfessionen nämlich gründen auf der Vorstellung, dass es nur eine religiöse Wahrheit geben könne, und sie allein die ganze alte Wahrheit des Christentums verkörpere. Denn wo sollte die Kirche sein, wenn nicht da, wo das Wort Gottes gelehrt werde, so Luther. Und wo es auch praktisch umgesetzt wird, ergänzte die von Calvin „nach Gottes Wort reformierte“ Konfessionskirche. Nein, nur 1 Eine ermutigende Pionierleistung ist die aus Recherchen zur Vorgeschichte des heutigen

Bundesrates und zu den Ergebnissen der neueren frühneuzeitlichen Fachdiskussion hervorgegangene Gesamtdarstellung von Albert Funk, Kleine Geschichte des Föderalismus. Vom Fürstenbund zur Bundesrepublik, Paderborn 2010. 2 Einführung dieses Begriffs in Johannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002, S. 134f.

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da, so die katholischen Konfessionalisten, wo die Kirchenorganisation selbst gottgestiftet und geleitet ist. Ich habe das die drei Primate genannt: die biblische Lehre, die christliche Praxis, oder die kultische Kirchenorganisation3, die als konkurrierende Kriterien der religiösen Wahrheitsfindung dienten und vor der sich als Erst- und Letztbegründung alle anderen legitimieren mussten. Es gab Religionsgespräche, ja Reichstage, zur Ermittlung der religiösen Wahrheit, aber angesichts der einander ausschließenden Wahrheitskriterien wurde das zum größten Aneinandervorbeireden aller Zeiten. Die Evangelischen konnten nur Ketzer sein, die Katholischen „Antichristen“, und in einer Zeit, in der es allen als Pflicht der Obrigkeit galt, für das Seelenheil der Untertanen und die wahre Religion zu sorgen, blieb es nicht bei Worten. Eine Pluralisierung der Religion wurde nicht für legitim gehalten, die eigene Konfessionsbildung vielmehr als Vorleistung gesehen, der sich alle anschließen sollten. Denn alle glaubten jeweils, wie es Luther in einer seiner wichtigsten Abhandlungen ausführte, „daß wir bey der rechten alten Kirchen blieben, ja daß wir die rechte alte Kirche sind“.4 Der exklusive Wahrheitsanspruch sprach den anderen das Daseinsrecht ab, und das in ganz Europa nicht nur theologisch. Erstaunlicherweise ist das Reich deutscher Nation, das am stärksten im Zentrum der unlösbaren Konfessionskonflikte stand, darüber aber nicht auseinandergebrochen. Die Bindekräfte der Reichsinstitutionen und die Integrationskraft von Sprache und Nation erwiesen sich oft im letzten Moment als stärker als die hochideologisierte Unvereinbarkeit der Konfessionsbildungen. Immer wieder handelten die Krisenmanager aus, auf welchem Wege man das Reich erst einmal erhalten könne. Wie aber konnte man aus einem so unlösbaren Problem wie der konfessionellen Unvereinbarkeit und Unverträglichkeit auf Dauer herauskommen? Nur ein Wunder schien da helfen zu können. Es ereignete sich 1555, und ich habe es das „Wunder von Augsburg“ genannt.5 Aber es war ein säkularer Zauber, und er gelang mit einem Griff in das politische Instrumentarium des Reiches. Der Kniff war erst einmal, dass man ein Problem, das man nicht lösen kann, auf eine andere Ebene verschieben muss, auf der man damit fertigwerden kann. Der Augsburger Religionsfrieden, ein Teil des Reichsabschiedes und darum wie fast alles am Reichstag in deutscher Sprache gehalten, ist ein glänzend stilisierter Text. Er verrät genau, ja inszeniert geradezu, wie das gemacht wurde: Auf dem Reichstag zu Augsburg, berichtet der Kaiser in dem 3

Burkhardt, Reformationsjahrhundert (wie Anm. 2), S. 81–131, konziser mit Kontrastmodell: Johannes Burkhardt, Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit (Beck Wissen), München 2009. 4 Martin Luther, Wider Hans Worst (1541), in: Matin Luther. Werke. Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883–1985, Hauptwerke Abt. I. Bd. 1–60, Bd. 51, S. 478f. 5 Burkhardt, Deutsche Geschichte (wie Anm. 3), S. 45.

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Dokument, habe man sich natürlich zuerst dem Problem der „spaltigen Religion“ zugewandt, das immer noch unerledigt sei. Dabei habe man gleich bemerkt, dass eine Einigung in einer so weitläufigen Sache so schnell nicht zu machen sein werde. Darum habe der Reichstag das alles „bis auf andere gelegene“ Zeit verschoben und sich erst einmal einen anderen Tagungsordnungspunkt vorgenommen, heißt es unschuldig zur Beruhigung der fundamentalistischen Theologen beider Seiten, und zwar den Ewigen Landfrieden. Der nämlich bedürfte dringend näherer Ausführungsbestimmungen, zumal viele Probleme 1495 noch gar nicht absehbar gewesen wären, und zwar vor allen anderen – die Religion. Elegant wird die unlösbare Wahrheits- und Einheitsfrage auf eine politisch-rechtliche Ebene verschoben, auf der man das Problem angehen konnte. Ausdrücklich wurde die föderal gehaltene Landfriedensformel von 1495 wiederholt, aber nun versprachen spezifiziert König Ferdinand und die katholischen Reichsstände auf der einen Seite, die evangelischen Kollegen nicht mit Gewalt „zu überziehen, beschädigen und vergewaltigen“ usw., sondern sie bei ihrer Religion „ruhiglich und friedlich“ bleiben zu lassen. In der gleichen Landfriedensformel gaben die Evangelischen den Gewaltverzicht zurück.6 Auch Wunder haben ihre Vorzeichen.7 So ist auf der politischen Ebene des Reichstages eine gewisse Mäßigung der religiösen Sprache zu beobachten, konnte man doch die anderskonfessionellen Kollegen nicht gut als alten Ketzer oder vermaledeiten Antichristen begrüßen. Soeben hat Bent Jörgensen die hochinteressanten Wandlungen und Textsortenabhängigkeiten der konfessionellen Fremd- und Selbstbezeichnung untersucht.8 Und natürlich gab es die Stillhalteabkommen wie den Nürnberger Anstand 1532 und den Frankfurter Anstand 1539. Der Einbau in die Novellierung des Ewigen Landfriedens aber verlieh dem Beschluss eine ganz andere Qualität und verwandelte ein weiteres Moratorium in eine Dauerregelung des ganzen künftigen Religionsrechts. Die Wiederherstellung der christlichen Einheit wurde zwar als letztes Ziel genannt, aber ausdrücklich um einzuschärfen, dass der Gewaltverzicht bis zu diesem unbekannten Termin gelte – also solange es Konfessionen gibt. Bis heute gilt ja tatsächlich die auf diese deutsche Weichenstellung zurückgehende öffentlich-rechtliche Privilegierung

6

Arno Buschmann, Kaiser und Reich. Klassische Texte zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806, München 1984; Augsburger Reichsabschied von 1555 auf S. 215–283, hier §15, S. 224. 7 Zur Vorgeschichte und Textentstehung vgl. generell Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 148), Münster 2004. 8 Bent Jörgensen, Zwischen Konfrontation und Kompromiss. Zur Terminologie der konfessionellen Selbst- und Fremdbezeichnung in theologischen und amtlichen Texten des 16. Jahrhunderts, Augsburg 2012.

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mehrerer Konfessionsvereine.9 Beide Konfessionen waren damit per Reichsgesetz politisch-rechtliche Reichsreligionen und die Integration in die Exekutionsordnung des Landfriedens sicherte ihnen unkündbaren Verfassungsrang. So wurde aus diesem Reichsabschied von Augsburg ein Grundgesetz des gesamten Reichsreligionsrechts, das interpretierbar war und auch übertreten wurde, das aber in seiner Gültigkeit von keinem verfassungstreuen Reichsstand bezweifelt werden konnte.10

II. Sicherheitsbedarf und föderale Einlösung im Reich

Wozu aber eigentlich dieser ganze Aufwand? Woher kam die politische Konsensbereitschaft und was war eigentlich bezweckt? Auch darüber gibt dieses großartige Dokument der deutschen Geschichte selbst Auskunft und macht uns und unserer Tagung die Freude, klipp und klar zu sagen, man habe über die Religionseinung nicht beraten können, weil man gesehen habe, „daß durch allerhand Unruhe und Kriegs-Empörungen im H. Reich Teutscher Nation die gemeine Sicherheit gestöhrt werde“, die man zuvor herstellen müsse.11 Das war ein Argument zur Legitimation der Änderung der Tagesordnung, und gleich zwei Paragraphen weiter wird auch positiv das Ziel angegeben: „Und haben demnach den Articul des Friedens, wie gemeine Ruhe und Sicherheit in Teutscher Nation zu erlangen, zu erbauen und zu erhalten vorgenommen.“12 Und wieder zwei Paragraphen weiter wird der Begriff nun ausdrücklich auf „beiderseits Religionen“ bezogen, die sich bisher einer „gewissen Sicherheit nit zu getrösten, sondern für und für jeder in unträglicher Gefahr zweifenlich stehen“ mussten. Darum gelte es nun, diese „Unsicherheit aufzuheben, der Stend und Untertan Gemüther in Ruhe und Vertrauen gegeneinander zu stellen, die Teutsche Nation, unser geliebtes Vaterland, vor endlicher Zertrennung und Untergang zu verhüten.“13 Dies zielt nicht mehr allein auf Gewaltprävention, sondern auf Solidarität und Rechtssicherheit. Dieser gleich dreimal gesetzte Zielbegriff „Sicherheit“ mitsamt dem zu verhütenden Gegenbegriff „Unsicherheit“ spielte zuvor nach ersten Recherchen in den Reichsgesetzen kaum eine Rolle. „Der Ewige Landfriede“ war ebenfalls ausgehandelt, aber hier sprach formal das Reichsoberhaupt und setzte ihn fast 9

Vgl. zum Hintergrund Ronald G. Asch, „Denn es sind ja die deutschen ein frey Volk“. Die Glaubensfreiheit als Problem der westfälischen Friedensverhandlungen, in: Westfälische Zeitschrift 148 (1998), S. 113–137. 10 Vgl. zur Bedeutung des Augsburger Religionsfriedens umfassend Carl A. Hoffmann u. a. (Hrsg.), Als Frieden möglich war – 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Begleitband zur Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg, Regensburg 2005. 11 Buschmann, Kaiser (wie Anm. 6), §9; Hervorhebung des Tagungsbegriffs „Sicherheit“ hier und im Folgenden durch den Autor. 12 Ebd., §11. 13 Ebd., §13.

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ohne Begründung. Ordnung und Einigkeit, Recht und Frieden sind dann die vorherrschenden Legitimationsbegriffe. Nicht einmal der Schmalkaldische Bund, der sich doch ersichtlich bedroht fühlte und sich 1532 „rettungsweise“ formierte, nutzte explizit das Wort „Sicherheit“ im Sinne der Abwendung von Gefährdung und Gewalt.14 Offenbar war es die Kriegserfahrung, die Religion als politisches Sicherheitsproblem unübersehbar machte und nach Regelungen rufen ließ, die ausdrücklich „Sicherheit“ gewährleisten sollten. Bemerkenswerterweise wird der Begriff auch in die nicht zum Reichsgesetz gehörige Zusatzerklärung, der Declaratio Ferdinandea, die den bereits evangelischen Landständen der geistlichen Staaten ihre Erhaltung verspricht, aufgenommen und zu „merer Sicherhait“ von König Ferdinand eigenhändig unterschrieben.15 Darüber hinaus scheint der Konfessionskonflikt sogar als Schrittmacher für einen auch auf weitere politische Regelungen ausgedehnten Sicherheitsbegriff gewirkt zu haben, der nun auch andere gewaltbekämpfende Maßnahmen legitimierte wie die gleich anschließenden Regelungen der Exekutionsordnung für die Reichskreise, die ebenfalls Verfassungsrang erlangten bis ans Ende des Reiches.16 Wie aber war es denn inhaltlich überhaupt möglich, die unverändert sperrig bleibende religiöse Pluralität in die Reichsverfassung einzubinden, ja einzubauen? Das war überhaupt nur machbar durch den deutschen Föderalismus, ja seiner spezifischen Form einer die ganze deutsche Geschichte prägenden Doppelstaatlichkeit: einerseits die Einzelstaatlichkeit und andererseits eine sie durch Reichsoberhaupt, Reichsinstitutionen und Reichsrecht überwölbende Gesamtstaatlichkeit.17 Der politische Dreh war die Auslagerung und Verteilung der in ein und derselben politischen Verwaltungseinheit noch nicht koexistenzfähigen Konfessionsbildung auf die verschiedenen Territorien. Die in den Ländern und Herrschaften politisch Verantwortung Tragenden sollten jeweils selbst entschei 14

Vgl. Ekkehart Fabian, Die Entstehung des Schmalkaldischen Bundes und seiner Verfassung 1529 – 1531/33 (Schriften zur Kirchen- und Rechtsgeschichte 1), Tübingen 1956; Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530–1541/42. Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, Leinfelden-Echterdingen 2002. 15 Karl Brandi, Der Augsburger Religionsfrieden vom 25. September 1555. Kritische Ausgabe des Textes mit den Entwürfen und der königlichen Deklaration, 2. Aufl. Göttingen 1927, S. 54. Vgl. zur Echtheit und Druckgeschichte Helmut Urban, Zur Druckgeschichte der „Declaratio Ferdinandea“ (1555), in: Gutenberg- Jahrbuch 51 (1976), S. 254–263. 16 Vgl. zuletzt Johannes Burkhardt, Wer hat Angst vor den Reichskreisen? in: Wolfgang Wüst (Hrsg.), Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa. Horizonte und Grenzen im spatial turn, Frankfurt a. M. 2011, S. 39–60. Vgl. zur Landfriedensexekution durch Reichskreise und Bünde auch Fabian Schulze, Schwäbischer Bund und Schwäbischer Reichskreis zu Beginn der Frühneuzeit (unveröffentlichte Magisterarbeit), Augsburg 2010. 17 Vgl. dazu zuletzt Burkhardt, Deutsche Geschichte (wie Anm. 3), Einleitung u. S. 43–52, in manchem konvergierend: Gotthard, Augsburger Religionsfrieden (wie Anm. 7), S. 196f.

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den, nach welcher der beiden unvereinbaren Konfessionen sie ihr Kirchenwesen einrichten oder reformieren wollten. Dies ist der Sinn des nachträglich von Juristen auf den Begriff gebrachten Grundprinzips des „Ius Reformandi“, das in der populären Version „wes das Land, des der Glaube“ in heutigen Ohren schrill klingt, aber nicht die Anfänge individueller Freiheitsrechte beschneiden sollte, sondern die friedwirkende politische Lösung für ein sonst unlösbares Problem fand. Diese Religionszuständigkeit, die in der Konsequenz das landesherrliche Kirchenregiment auf die Konfessionsfrage erweiterte, hat die Landesherrschaft sicher insgesamt verstärkt und endgültig irreversibel gemacht. Das ist oft bemerkt worden, aber nur die halbe Wahrheit. Denn andererseits hat auch die Reichsgewalt, die diese Lösung fand, rechtlich legitimierte und einheitlich regulierte, damit ihre Position bestärkt. Zunächst einmal sind ja nicht so viele Konfessionen entstanden wie Landesherrschaften, sondern zwei, später drei Konfessionen, die durchaus verfassungskonform Bünde bilden konnten – noch der Westfälische Friede bestätigte dieses Recht generell „zu ihrer Sicherheit“ – und sich zunehmend nicht nur abgrenzend, sondern auch integrierend als Religionsparteien in den gesamtstaatlichen Reichsgremien organisierten. Vor allem aber waren die zahllosen Einschränkungen und Abweichungen für die geistlichen Staaten, für die Reichsstädte und für einen ersten Minderheitenschutz dem Zugriff der Landesherren entzogen und reichsweit einklagbar. Reichsrecht und Reichsgewalt behielten das komplexe Regelwerk tatsächlich unter Kontrolle. Das Reichkammergericht erlebte eine Glanzzeit. Reichsoberhaupt, Reichshofrat und Reichstag brachten gerade in der Konfessionsfrage die Gesamtstaatlichkeit zur Geltung. So gelang es, die „strukturelle Intoleranz“ der frühen konfessionellen Pluralität durch die Verschiebung auf die politisch-rechtliche Ebene und die Nutzung der doppelten Staatlichkeit des Reichsföderalismus in den Griff zu bekommen. Diese Lösung nach Art des Reiches ist angesichts der schier unlösbar scheinenden Schwierigkeiten eine der größten Leistungen des deutschen Föderalismus. In dem Land, in dem mit Reformation und Konfessionsbildung die Probleme entstanden waren und am dichtesten aufeinander stießen, gelang dank seiner politischen Struktur eine sicherheitspolitisch bemerkenswerte, über zwei Generationen überaus erfolgreiche Lösung. Während Westeuropa in einer Serie von Religionskriegen versank, herrschte im Reich deutscher Nation mit ganz geringfügigen Störungen mehr als ein halbes Jahrhundert lang Frieden.

III.  Bewährungsproben des föderalen Religionsfriedens Das wäre ja nun ein schöner Schluss, aber alle wissen, dass es ein Trugschluss war. Das dicke Ende kam: die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, der vor allem als Religionskrieg überliefert ist. Hat hier das föderale Konzept sicherheitspolitisch

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in der Bändigung der religiösen Pluralität versagt? Es ist hier nicht möglich, die Diskussion um Ursache und Charakter dieses Kriegs noch einmal zu führen. Nach meiner Lehrmeinung war es primär gar kein Religionskrieg, sondern ein europäischer Staatsbildungskrieg, der in das an sich befriedete Reich hineinwirkte und hier ausgetragen wurde.18 Und was an Religionskrieg übrig bleibt, rührte keineswegs unvermeidbar aus unklaren Regelungen des Augsburgischen Religionsfriedens, sondern aus der neuen konfessionellen Intoleranz des europaweiten tridentinisch-jesuitischen Aktivismus und der Internationalen einer calvinistisch-reformierten Militanz, die nach Deutschland hineindrückten und die reichstreuen Lutheraner und die Reichskirche in die Enge trieben. Das soll nicht heißen, das böse Ausland sei schuld, denn es gab vom Kaiser angefangen bis zum Kurfürsten von der Pfalz genügend Mittäter, die unter dem Eindruck religiösen Fundamentalismus und europäischer Machtpolitik ihre Reichspflichten hintan stellten und das föderale System ins Schlingern brachten, freilich auch besonnene, aber zunächst unterliegende Gegenkräfte wie Kursachsen. Das heißt aber eigentlich: Dem föderalen System und seiner an sich gelungenen Bewältigung des religiösen Pluralismus fehlte es noch an stützenden Synergien durch ein Europa, das damals anders organisiert war oder im föderalen Institutionalisierungsniveau nachhinkte. Der Westfälische Frieden aber hat endgültig die Regelungen für das Reich als „perpetua lex et imperii sanctio“ kodifiziert. Der Jüngste Reichsabschied hat das mit „Grundgesetz“ übersetzt, und wenn man dabei an die moderne Verfassungsbedeutung des Wortes denkt, dann ist das überhaupt nicht anachronistisch, sondern genauso gemeint. Der Verfassungsartikel VIII hat die föderale Doppelstaatlichkeit wiederhergestellt und sie für 150 Jahre festgeschrieben. Die Landesherrschaften wurden bestätigt, aber auch die Reichsgewalt bekam Ausbauaufträge, die zum größten Teil gegen alle Falschmeldungen auch abgearbeitet wurden. Der Reichstag perpetuierte und institutionalisierte sich, etablierte sich als oberstes Verfassungsorgan und erlangte die höchste sicherheitspolitische Kompetenz, denn er entschied über Krieg und Frieden. Analog wurde der politisch-rechtliche Einbau der Religion in das föderale System bestätigt, aber entscheidend nachgebessert: durch Parität und das Normaljahr, neuerdings sogar als „Medium zum Frieden“ charakterisiert.19 Ich muss hier kein Grund- und Prüfungswissen wiederholen, aber falls jemand ein anderes Handbuch als den Gebhardt benützt, sei doch auf einen un 18

Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a. M. 1992, 7. Aufl. 2006 (edition suhrkamp. Neue Historische Bibliothek. Moderne Deutsche Geschichte, Bd. 2). Vgl. zuletzt modifiziert Burkhardt, Deutsche Geschichte (wie Anm. 3), S. 53–66. 1 9 Ralf-Peter Fuchs, „Ein Medium zum Frieden“. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges (Bibliothek Altes Reich 4), München 2010.

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abweisbaren und gleichwohl auch noch nach der Überwindung der deutschen Zersplitterungshistoriographie übersehenen Sachverhalt hingewiesen. Im religionspolitischen Regelungsbereich wurde die Doppelstaatlichkeit 1648 eindeutig zugunsten der übergeordneten Reichsgewalt nachjustiert: Die Normaljahrsregel, nach der auch künftig die Bevölkerung ihre seit 1624 eingeführte Religion behalten konnte, wenn sie unter anderskonfessionelle Landesherrschaft geriet, schränkte die Rechte des Landesherrn ein. Und mit den Paritätsbestimmungen in allen Reichsgremien – numerisch oder verfahrensmäßig – stieg deren Bedeutung in allen Konfliktfällen, auch als überparteiliche sicherheitspolitische Kontrollinstanz. Selbst die konfessionellen Organisationen, allen voran das Corpus Evangelicorum, wurden zu überterritorialen Institutionen, die Reichspolitik betrieben. Auf dem religionspolitischen Felde gab es fortan nicht weniger, sondern mehr Reich! Mit diesem nachjustierten föderalen System war nicht der Krieg, wohl aber der Religionskrieg in Deutschland nun wirklich ein für allemal abgeschafft. Schon das Wort „Religionskrieg“ war fortan tabu oder ein warnendes Scheltwort. Das heißt nicht, dass es keine Konfessionskonflikte mehr gab, aber man verhandelte oder führte Prozesse, keine Kriege. Es gab zwei gefährliche Situationen, die zum Religionskrieg hätten entgleisen können: Im Zuge der Rekonfessionalisierung der Politik um 1700 seit der umkämpften Ryswiker Klausel, mit der die von Frankreich aufgezwungene Rekatholisierung der Pfalz legitimiert werden sollte, brachten militante Verschwörungs- und Mobilisierungsgerüchte um einen Heidelberger Konfessionseklat das Reich 1721 noch einmal an den Rand eines Religionskriegs. Aber kaum war das Unwort ausgesprochen, liefen sämtliche Kommunikationskanäle des föderalen Reichsmanagements heiß und bannten die Gefahr. In der Schweiz war dies kurz zuvor in zwei ähnlichen Fällen noch nicht gelungen. Und im Siebenjährigen Krieg versuchten das Papsttum auf der einen Seite, England und die preußische Propaganda auf der anderen Seite die Konstellation nach der Diplomatischen Revolution, in der plötzlich die katholischen Mächte Frankreich und Habsburg gegen die evangelischen Mächte England und Preußen standen, dazu zu nutzen, den Deutschen einen Religionskrieg einzureden. Aber Reichsoberhaupt, Reichstag und die große Mehrheit der Reichsglieder von beiderlei Konfessionen ließen sich nicht beirren und beschlossen einen Reichskrieg gegen das friedbrüchige Brandenburg-Preußen. Das wurde zum „Abschied vom Religionskrieg“ für das Papsttum und endete mit der Wiederherstellung des status quo nicht nur für Europa, sondern für das föderale und paritätische Reich, das nichts Anderes gewollt hatte.20 Denn die aus den Kontingenten der Reichsstände 2 0

Johannes Burkhardt, Abschied vom Religionskrieg. Der Siebenjährige Krieg und die päpstliche Diplomatie (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 61), Tübingen 1985.

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zusammengesetzte Reichsarmee war nicht revanchistisch für das bereits von Österreich völkerrechtlich abgetretene Schlesien in den Krieg gezogen, sondern das Kriegsziel war die Befreiung des vom Preußenkönig und brandenburgischen Nachbarn überfallene und okkupierte Kurfürstentum Sachsen. In Wahrheit hat das Reich den Siebenjährigen Krieg gewonnen, weil es als einziger der Kombattanten sein Kriegsziel erreichte. Diese von Karl Otmar von Aretin entdeckte und von mir genauer begründete unverfälschte Lesart des Siebenjährigen Krieges21 wird selbst von differenzierten und kritischen Historikern und Publizisten im Jubiläumsjahr des großen Friedrich – mit rühmlichen Ausnahmen22 – nicht aufgegriffen, weil sie das föderale politische System der deutschen Geschichte nicht verstehen, in dem sich dieser reichsferne Preußenherrscher mit seinem Anschlag auf Sachsen wie ein Elefant im Porzellanladen aufführte, um sich nach dem angerichteten Scherbenhaufen dann doch noch als lernfähig zu erweisen und nach dem Hubertusburger Frieden im novellierten deutschen Föderalismus erfolgreich mitzuspielen.23 Denn das Reich wahrte die konfessionelle Parität – preußische Vorschläge zur Säkularisation von Fürstbistümern als Kompensationsmasse wurden für diesmal abgewehrt – und hat mit dem Einbau des deutschen Dualismus ins föderale System die sicherheitspolitische Voraussetzung gelegt für noch einmal ein Vierteljahrhundert Frieden – innenpolitisch, außenpolitisch und konfessionspolitisch.

IV. Resümee: Das föderale Sicherheitskonzept des Religionsfriedens im Reich

Das Reich hat als föderales System mit der Bewältigung der multikonfessionellen Intoleranz ein bemerkenswerte sicherheitspolitische Leistung erbracht: In zwei Anläufen (1555/1648), gestört und unterbrochen durch eine exogen induzierte, jedenfalls nicht auf die Rechnung des Föderalismus zu setzende Katastrophe, konnte das Religionsproblem auf die politisch-rechtliche Ebene der deutschen Landfriedenstradition gehoben und auf ihr ausgehandelt werden. Dank der deutschen Doppelstaatlichkeit wurde gleichsam die strukturelle Intoleranz auf die Teilstaaten ausgelagert, die überkonfessionelle Gesamtstaatlichkeit des Reiches 2 1

Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich, Bd. 3. Das Reich und der österreichisch-preußische Dualismus 1745–1806, Stuttgart 1997, S. 106f.; Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648–1763 (Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte 11), Stuttgart 2006, S. 438–442; Burkhardt, Deutsche Geschichte (wie Anm. 3), S. 118–120. 2 2 Marian Füssel, Der Siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18. Jahrhundert, München 2010, hier S. 89. Vgl. auch S. 21–23. Vgl. zur Forschungslage auch Einleitung und Beiträge von Sven Externbrink (Hrsg.), Der Siebenjährige Krieg (1756–1763). Ein europäischer Weltkrieg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2011. 2 3 Vgl. dazu schon Volker Press, Friedrich der Große als Reichspolitiker, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Friedrich der Große, Franken und das Reich, Köln 1986, S. 25–56, hier S. 26 u. 43.

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aber legitimierte das und übernahm die sicherheitspolitische Kontrolle. Nach der Verstärkung der Reichsgewalt 1648 war der Religionskrieg in Deutschland endgültig überwunden. Soweit der Sache nach. Was den Begriff „Sicherheit“ selbst angeht, so wird dessen Herkunft von Werner Conze in dem grundlegenden Artikel dazu in einer im Mittelalter doch noch blass bleibenden Reichstradition, vor allem aber im frühneuzeitlichen deutschen Fürstenstaat vermutet.24 Das ist aber zumindest nicht alles und übersieht die Bedeutung des besonderen religionspolitischen Sicherheitsbedarfs. In der Tat erscheint der Begriff recht markant schon am Anfang der großen religionspolitischen Regelungen als Sicherheit im Sinne der Gewaltprävention und Rechts­ sicherheit der reichsständischen Religionsparteien und hat sich möglicherweise – das bliebe zu untersuchen – sogar an dieser schwierigsten, spektakulärsten und nachhaltigsten Beseitigung von „Unsicherheit“ auf andere politische Bereiche ausgeweitet und übertragen.

24

Werner Conze, Sicherheit, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862.

André Holenstein

Konfessionalismus und die Sicherheit von Föderationen in der Frühen Neuzeit. Beobachtungen zur Eidgenossenschaft Für das historische Verständnis der friedens- und sicherheitspolitischen Implikationen der Konfessionalisierung für die politische Praxis, für die Gestaltung des Handlungsspielraums und letztlich auch für den Zusammenhalt von Föderationen in der Frühen Neuzeit bietet sich eine Betrachtung der Alten Eidgenossenschaft an. Neben den Generalstaaten stellt die Schweiz den zweiten herausragenden Fall einer Föderation dar, die im frühneuzeitlichen Europa Gemeinwesen mit rivalisierenden Glaubensrichtungen in einem komplexen, diese Gemeinwesen überwölbenden und durchwirkenden Geflecht von Allianzen integrierte.1 Der folgende Beitrag skizziert zuerst die konfessionspolitischen Verhältnisse in der Alten Eidgenossenschaft, fragt sodann nach den Instrumenten und Verfahren des Konfliktmanagements innerhalb der alteidgenössischen Föderation und stellt schließlich vor dem Hintergrund des schweizerischen Fallbeispiels Überlegungen zu den friedens- und sicherheitspolitischen Weiterungen föderativer Republiken in der Frühen Neuzeit an.

I.  Bikonfessionalität und Konfessionskonflikte

Die Eidgenossenschaft gehört zu den Kernlanden der Reformation.2 Der Prozess der Glaubenserneuerung führte hier sehr rasch zum politisch sanktionierten Bruch mit der römischen Kirche. Etwas mehr als 10 Jahre nach Ulrich Zwinglis ersten kirchenkritischen Äußerungen in der Stadt Zürich 1519/1520 gelangte die Frühphase der Reformation in der Eidgenossenschaft bereits zu ihrem Abschluss. 1

Vgl. allgemein als Einführung in die politische und staatsrechtliche Struktur der Alten Eidgenossenschaft Andreas Würgler, Eidgenossenschaft, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Basel 2005, S. 114–121; ders., ‚The League of the Discordant Members’ or How the Old Swiss Confederation Operated and How it Managed to Survive for so Long, in: A ­ ndré Holenstein/Thomas Maissen/Maarten Prak (Hrsg.), The Republican Alternative. The Netherlands and Switzerland Compared, Amsterdam 2008, S. 29–50. Zum Föderalis­mus in der Frühen Neuzeit s. Karl Härter, Föderalismus, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 1046–1049; Bardo Fassbender, Staatenbund, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12, Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 554–557. 2 Als Überblick über die schweizerische Reformationsgeschichte s. Hans Berner/­Ulrich ­Gäbler/Hans Rudolf Guggisberg, Schweiz, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Teil 5: Der Südwesten, Münster 1993, S. 278–323; Bruce Gordon, The Swiss Reformation (New frontiers in history), Manchester/New York 2002; Caroline Schnyder, Reformation, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 10, Basel 2011, S. 168–174.

192 André Holenstein

Zwischen 1523/1525 und 1529 hatten die Räte der meisten führenden Städte im schweizerischen Raum die neue Lehre für ihre Stadt und ihre Untertanengebiete verbindlich erklärt (Zürich 1523/25, St. Gallen 1525, Bern 1528, Basel und Schaffhausen 1529). Auch in den Ländern Appenzell und Glarus hatte sich manche Gemeinde der reformatorischen Bewegung angeschlossen. Ebenso rasch hatten sich im Gegenzug die ländlichen Kantone der Innerschweiz – Uri, S­ chwyz, Unter­ walden und Zug – zusammen mit den Städten Luzern und Freiburg zu einem anti-reformatorischen Block formiert.3 Zürichs erste Positionsbezüge für die neue Lehre und die stetige Erweiterung des reformatorischen Lagers in der zweiten Hälfte der 1520er Jahre belasteten die Beziehungen zwischen den eidgenössischen Obrigkeiten. Diese sahen sich mit der bündnispolitischen Herausforderung konfrontiert, die Agenda ihrer partikularen Religionspolitik auf die Anforderungen und Regelmechanismen ihrer föderativen Sicherheitspolitik abstimmen zu müssen. An dieser Herausforderung sind die Orte zunächst einmal gescheitert. Zwar konnte 1529 der Ausbruch des Kriegs zwischen den Hauptkontrahenten Zürich auf der einen und den katholischen fünf Inneren Orten auf der anderen Seite mit der Einigung auf den Ersten Kappeler Landfrieden in letzter Minute noch verhindert werden.4 Zwei Jahre später jedoch brach der Konflikt erneut aus. Im sogenannten Zweiten Kappeler Krieg im Oktober 1531 fand Ulrich Zwingli den Tod und erlitten Zürich und Bern eine militärische Niederlage gegen die katholischen Kantone der Innerschweiz.5 Der Zweite Kappeler Landfriede vom November 1531 beendete die Frühphase der Reformation in der Eidgenossenschaft und legte die bündnisrechtlichen Rahmenbedingungen für die Koexistenz von altem und neuem Glauben innerhalb der Föderation fest.6 Die Beilegung des Konflikts durch das Instrument des Landfriedens macht deutlich, dass die Konfliktparteien die Frage der religiösen Wahrheit als unlösbares Problem ausklammerten und gewissermaßen auf Eis legten. Sie begnügten sich damit, politische und rechtliche Regeln für ein möglichst einvernehmliches und friedliches Nebeneinander der Glaubensrichtungen sowie Verfahren für die Ahndung von Friedensstörungen festzulegen. Der Landfrieden 3

Peter Blickle, Warum blieb die Innerschweiz katholisch?, in: Mitteilungen des Historischen Vereins des Kantons Schwyz 86 (1994), S. 29–38. 4 Eidgenössische Abschiede, Bd. 4 Ib, Zürich 1876, S. 1478–1483 (Erster Kappeler Landfriede, 26. Juni 1529). 5 Eidgenössische Abschiede, Bd. 4 Ib, Zürich 1876, S. 1567–1571, 1571–1575 (Friede der fünf Orte mit Zürich vom 20. November 1531; Friede der fünf Orte mit Bern vom 24. November 1531). – Helmut Meyer, Der Zweite Kappeler Krieg, Zürich 1976; ders., Kappelerkriege, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7, Basel 2008, S. 91–93. 6 Hans U. Bächtold, Landfriedensbünde, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7, Basel 2008, S. 591f.

Beobachtungen zur Eidgenossenschaft 193

von 1531 war wie bereits jener von 1529 sowie die späteren Landfrieden nach dem Ersten bzw. Zweiten Villmerger Krieg von 1656 bzw. 1712 ein Regelwerk, das die Rahmenbedingungen für die Koexistenz zweier Konfessionslandschaften im Rahmen eines größeren föderativen Systems festlegte und damit nachhaltig den Frieden sowie den weiteren Bestand der eidgenössischen Organisation kollektiver Sicherheit gewährleisten sollte. Für die partikularen Herrschaftsgebiete der dreizehn Kantone statuierte der Kappeler Friede von 1531 das Prinzip des „cujus regio, eius religio“. Jeder Ort sollte unangefochten bei seinem Glaubensstand verbleiben. Die einzelnen eid­ genössischen Obrigkeiten sollten ihre Glaubensüberzeugung ungestört von äuße­ ren Eingriffen durch die übrigen Orte auch gegenüber den eigenen Untertanen durchsetzen können. Gegenseitig garantierten sich die Kantone ihren Konfes­ sionsstand und erteilten damit Zwinglis und Zürichs aggressiver Religionspolitik, die für den Krieg von 1531 maßgeblich verantwortlich gewesen war, eine klare Absage.7 In den Herrschaftsgebieten der Kantone war der reformatorische Prozess damit stillgestellt. Die neue Lehre konnte sich fortan nur noch außerhalb der eid­genössischen Kerngebiete ausbreiten – in der Westschweiz (Neuenburg, Waadt, Genf), in den drei Bünden und im Wallis –, weil dort die einschränkenden Bestimmungen des Zweiten Landfriedens nicht galten.8 Wesentlich schwieriger als in den Hoheitsgebieten der einzelnen Kantone gestaltete sich die bündnisrechtliche Klärung der Bikonfessionalität in den sogenannten Gemeinen Herrschaften. Die reformatorische Bewegung hatte in den 1520er Jahren besonders in den Gemeinen Herrschaften des Aargaus und der Ostschweiz zahlreiche Anhänger gefunden.9 7

Sigmund Widmer, Zwinglis Schrift „Was Zürich und Bern not ze betrachten sye im fünförtigen Handel“, in: Zwingliana 8/9 (1948), S. 535–555. 8 Berner u. a., Schweiz (wie Anm. 2); Bertrand Forclaz, Religiöse Vielfalt in der Schweiz seit der Reformation, in: Martin Baumann/Jörg Stolz (Hrsg.), Eine Schweiz – viele Religionen, Bielefeld 2007, S. 89–99; Thomas Maissen, Konfessionskulturen in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Eine Einführung, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 101 (2007), S. 225–246; Ulrich Pfister, Konfessionskonflikte in der frühneuzeitlichen Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 101 (2007), S. 257–312; André Holenstein, Reformation und Konfessionalisierung in der Geschichtsforschung der Deutschschweiz, in: ARG 100 (2009), S. 65–87; Thomas Lau, Die Alte Eidgenossenschaft im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 103 (2009), S. 27–40. 9 Randolph C. Head, Shared Lordship, Authority, and Administration. The Exercise of Dominion in the Gemeine Herrschaften of the Swiss Confederacy, 1417–1600, in: CEH 30/4 (1997), S. 489–512; Daniela Hacke, Zwischen Konflikt und Konsens. Zur politischkonfessionellen Kultur in der Alten Eidgenossenschaft des 16. und 17. Jahrhunderts, in: ZHF 32 (2005), S. 575–604; dies., Church, Space and Conflict: Religious Co-Existence and Political Communication in Seventeenth-Century Switzerland, in: German History 25 (2007), S. 285–312; Randolph C. Head, Fragmented Dominion, Fragmented Churches.

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Die eidgenössischen Kondominate wurden von unterschiedlich vielen (zwei bis 12) Orten kollektiv regiert und nach einer festen Kehrordnung durch Landvögte aus den beteiligten Kantonen verwaltet. Da in den Gemeinen Herrschaften mit der Glaubensspaltung kein einheitlicher Konfessionsstand der Obrigkeit mehr gegeben war, konnte dort das im Landfrieden statuierte kirchenhoheitliche Eingriffsrecht der weltlichen Obrigkeit mit seinem Grundsatz des „cujus regio, eius religio“ nicht zur Anwendung gelangen. Der Streit der Orte über den Glaubensstand in den Kondominien entzündete sich an der Grundsatzfrage, welches Prinzip über die Glaubensfrage entscheiden sollte. Die altgläubigen Orte vertraten die Auffassung, die Religionsfrage sollte wie alle übrigen Beschlüsse zu den Gemeinen Herrschaften nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden.10 Dieses Herkommen begünstigte die altgläubigen Orte, weil sie in allen Gemeinen Herrschaften gegenüber den reformierten Kantonen in der Mehrheit waren. Zürich und die reformierten Orte hingegen wollten die Entscheidung über die Lehre den einzelnen Kirchgemeinden anheimstellen. Das kommunalistische Prinzip entsprach frühreformatorischem Kirchenverständnis.11 Zudem ließ es die Ausbreitung des neuen Glaubens in den Gemeinen Herrschaften unabhängig vom Eingriffsrecht bzw. Vetorecht der altgläubigen Kantone zu und eröffnete der Verkündigung des „reinen Evangeliums“ durch reformatorisch gesinnte, von Zürich ausgesandte Prädikanten ein weites Betätigungsfeld. Die Gemeinen Herrschaften wurden damit zwangsläufig zu religionspolitischen Kampfzonen im Streit der Orte um die religionspolitische Vorherrschaft in der Eidgenossenschaft. Die Kollektivherrschaft über die gemeinsamen Untertanengebiete und das Bündnissystem der eidgenössischen Orte als solches wurden schweren Belastungsproben ausgesetzt. Der Erste Kappeler Landfriede, der 1529 in letzter Minute einen Krieg zwischen den Kantonen abgewendet hatte, war in dieser Grundsatzfrage Zürich und der reformatorischen Sache entgegen gekommen und hatte die Glaubensentscheidung The Institutionalization of the Landfrieden in the Thurgau, 1531–1610, in: ARG 96 (2005), S. 117–144; André Holenstein, Gemeine Herrschaften, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 5, Basel 2006, S. 200f.; ders., Die Herrschaft der Eidgenossen. Aspekte eidgenössischer Regierung und Verwaltung in den Landvogteien und Gemeinen Herrschaften, in: Pascale Sutter/Lukas Gschwend (Hrsg.), Zwischen Konflikt und Integration. Herrschaftsverhältnisse in Landvogteien und gemeinen Herrschaften (15.–18. Jahrhundert) – Entre conflict et intégration: les rapports de pouvoir dans les baillages et les baillages communs (XVe–XVIIIe siècles), Basel 2012, S. 9–30. 10 Ferdinand Elsener, Das Majoritätsprinzip in konfessionellen Angelegenheiten und die Religionsverträge der schweizerischen Eidgenossenschaft vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: ZRG KA 55 (1969), S. 238–281. 11 Peter Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1985.

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den Kirchgemeinden überlassen.12 Nach der Niederlage Zürichs und Berns 1531 jedoch setzten die siegreichen altgläubigen Orte ihren Standpunkt durch. Der Friedensschluss legte fest, dass die zur Reformation übergetretenen Gemeinden in den Kondominien wieder zum alten Glauben zurückkehren konnten. Ein Reformationsrecht hingegen blieb den Untertanen bzw. Kirchgemeinden fortan verwehrt. Darüber hinaus sollten katholische Minderheiten in den Kirch­ gemeinden der Gemeinen Herrschaften jederzeit die Teilung der Gemeinde und ihrer Güter verlangen dürfen – eine Option, die den reformierten Minderheiten verwehrt blieb. Damit war gesichert, dass sich langfristig die reformierte Lehre in den Gemeinen Herrschaften nicht weiter ausdehnen, der römische Glauben hingegen verlorenes Terrain wieder zurückgewinnen konnte. Indem die Freien Ämter sowie die beiden Städte Bremgarten und Mellingen im Aargau nach der militärischen Entscheidung 1531 nicht nur sogleich durch die Inneren Orte rekatholisiert wurden, sondern auch ausdrücklich von den Bestimmungen des Landfriedens ausgeklammert blieben, sicherten sich die katholischen Sieger dauer­haft bzw. bis zum Zweiten Villmerger Krieg 1712 die (konfessions)politische Kontrolle über diesen geostrategisch bedeutsamen Korridor im Mittelland, der sich wie ein Keil zwischen die Herrschaftsgebiete Berns und Zürichs schob und damit die territoriale Verbindung zwischen den beiden führenden Städten des reformierten Lagers verhinderte.13 Letztlich waren die kommunal-föderale Verfassung und das Fehlen einer übergeordneten Zentralgewalt dafür verantwortlich, dass das reformatorische Geschehen in der Eidgenossenschaft eine komplexe Konfessionslandschaft entstehen ließ. In elf der dreizehn Kantone setzte sich bis 1531 eine der beiden Glaubensrichtungen als hegemoniale Staatskirche durch und wurde mit dem Landfrieden als solche auch bundesrechtlich anerkannt: Sieben Kantone – Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Solothurn – blieben der römischen Kirche verbunden. Vier – die Städte Zürich, Bern, Basel und Schaffhausen – traten zum neuen Glauben über. Die beiden Länderorte Appenzell und Glarus sowie mehrere Gemeine Herrschaften blieben für längere Zeit oder auf Dauer konfessionell gemischt.14 12

Bächtold, Landfriedensbünde (wie Anm. 6), S. 591. Außerdem blieben auch Rapperswil, das Toggenburg, Gaster und Weesen vom Landfrieden ausgeschlossen (Eidgenössische Abschiede, Bd. 4 I b, Zürich 1876, N 19a, S. 1567–1571, hier S. 1568). – S. a. Bächtold, Landfriedensbünde (wie Anm. 6), S. 592; Elsener, Majoritätsprinzip (wie Anm. 10), S. 260f.; Hans C. Peyer, Verfassungsgeschichte der alten Schweiz, Zürich 1978, S. 91. – Für die geostrategische Lage der Aargauer Gemeinen Herrschaften s. Holenstein, Gemeine Herrschaften (wie Anm. 9), S. 200f. (mit der entsprechenden Karte S. 201). 1 4 Peter Blickle, Verfassung und Religion. Voraussetzungen und Folgen der Landesteilung des Appenzell 1597, in: ZRG GA 115 (1998), S. 339–360; Beat Immenhauser/Barbara Studer, 13

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Bei allen grundsätzlichen religionspolitischen Differenzen stimmten die beiden Glaubensparteien in der Auffassung überein, dass in der Eidgenossenschaft keine weiteren christlichen Denominationen geduldet würden. Davon waren insbesondere die Täufer betroffen, die weder in katholischen noch in reformierten Kantonen toleriert oder überhaupt geduldet, sondern bis zum Ende des Ancien Régimes kriminalisiert und verfolgt wurden.15 Trotz der frühen bundesrechtlichen Klärung der Konfessionslage im Machtund Einflussbereich der eidgenössischen Orte blieb die Koexistenz der beiden Glaubensrichtungen auf vergleichsweise kleinem Raum eine strukturelle Belastung und sicherheitspolitische Herausforderung für die Eidgenossenschaft – und dies aus mehreren Gründen: Das nominelle Übergewicht der sieben katholischen Orte über die vier reformierten Kantone entsprach nicht den faktischen Machtverhältnissen innerhalb des Bündnissystems. Es trug langfristig immer weniger den sozio-ökonomischen Verhältnissen Rechnung, weil sich die reformierten Orte im 17. und 18. Jahrhundert protoindustriell und demographisch wesentlich stärker entwickelten als die agrarischen, auf das Soldgeschäft ausgerichteten katholischen Kantone. In den meisten Orten hatte der Kappeler Friede von 1531 die religionspolitische Dynamik zwar einigermaßen stillgestellt und für konfessionell homogene Verhältnisse gesorgt. Es existierten aber weiterhin gemischtkonfessionelle Territorien, wo verhältnismäßig schwache Obrigkeiten nicht in der Lage waren, eine der beiden Konfessionen staatskirchenrechtlich für das ganze Land durchzusetzen. Dies war in den beiden Kantonen Appenzell und Glarus sowie in den zum eidgenössischen Einflussbereich zählenden drei Bünden in Rätien, im Fürstbistum Basel und in der Fürstabtei St. Gallen der Fall. In diesen Territorien lebten auch nach 1531 Angehörige beider Glaubensparteien in unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen zusammen. Diese fragile lokale Koexistenz wurde im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts unter dem Eindruck der aufkommenden Konfessionalisierung zunehmend prekär. Der Konfessionsstreit mündete im Fall von Appenzell 1597 in die förmliche Teilung des Kantons in einen protestantischen und in einen katholischen Teil. In Glarus führte eine Kaskade von konfessionspolitischen Krisen und anschließenden Konfessionsverträgen im 16. und 17. Jahrhundert zur konsequenten Teilung der zentralen politischen Institutionen entlang konfessioGeld vor Glauben? Die Teilung Appenzells 1597 aus finanzgeschichtlicher Sicht, in: ­Peter ­Blickle/Peter Witschi (Hrsg.), Appenzell – Oberschwaben. Begegnungen zweier Regionen in sieben Jahrhunderten, Konstanz 1997, S. 177–199; Head, Fragmented Dominion (wie Anm. 9); Forclaz, Religiöse Vielfalt (wie Anm. 8), S. 89–99. 1 5 Heinold Fast, Heinrich Bullinger und die Täufer, Neustadt a. d. Aisch 1959; ders. (Hrsg.), Ostschweiz (Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. 2), Zürich 1973; Martin Haas (Hrsg.), Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz. Kantone Aargau, Bern, Solothurn. Quellen bis 1560, Zürich 2008.

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neller Grenzen, ohne dass es jedoch zur förmlichen Teilung des Landes kam. Im Fürstbistum Basel und in der Fürstabtei St. Gallen sorgten in den Jahrzehnten an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert geistliche Landesherren mit einer forschen gegenreformatorischen Politik für konfessionelle Unruhe.16 Doch auch in den bikonfessionellen Gemeinen Herrschaften blieb die Konfessionsfrage ein Stachel im Fleisch der eidgenössischen Orte. Auseinandersetzungen um die gemeinsame Nutzung von Kirchen und Friedhöfen, Streitigkeiten um den Gebrauch religiöser Symbole oder um den öffentlichen Vollzug kirchlicher Rituale, Konflikte um ehegerichtliche Zuständigkeiten und die Ausübung von Patronatsrechten erschwerten das Zusammenleben der beiden Konfessionsgruppen in den Tessiner Vogteien, in der Grafschaft Baden, im Toggenburg, im Thurgau und Rheintal.17 Lokale Streitigkeiten in Religions- und Kirchenfragen konnten leicht auf eidgenössischer Ebene virulent werden, indem interessierte 16

Für Appenzell: Blickle, Verfassung und Religion (wie Anm. 14); Achilles Weishaupt, ­ ppenzell (Kanton), in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 1, Basel 2002, S. 391–393. – A Für Glarus: Markus R. Wick, Der „Glarnerhandel“. Strukturgeschichtliche und konflikt­ soziologische Hypothesen zum Glarner Konfessionsgegensatz, Glarus 1982; Karin MartiWeissenbach, Glarus (Kanton), in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 5, Basel 2006, S. 455–457. – Für das Fürstbistum Basel: Hans Berner, „Die gute correspondenz“. Die Politik der Stadt Basel gegenüber dem Fürstbistum Basel in den Jahren 1525–1585 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft), Basel 1989; ders., Gemeinden und Obrigkeit im fürstbischöflichen Birseck. Herrschaftsverhältnisse zwischen Konflikt und Konsens (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Landeskunde des Kantons Basel-Landschaft 45), Liestal 1994; Jean-Claude Rebetez u. a. (Hrsg.), Pro Deo. Das Bistum Basel vom 4. bis ins 16. Jahrhundert, Basel u. a. 2006; Anna C. Fridrich, Glauben und Leben nach der Reformation, in: Nah dran, weit weg (Geschichte des Kantons Basel-Landschaft, Bd. 4), Liestal 2001, S. 159–182; dies., Konfessionelle Kultur und Handlungsspielräume für Andersgläubige, in: ebd., S.183–210. – Für die Fürstabtei St. Gallen: Johannes Duft, Die Glaubenssorge der Fürstäbte von St. Gallen im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Seelsorgsgeschichte der katholischen Restauration als Vorgeschichte des Bistums St. Gallen, Luzern 1944; Bruno Z’Graggen, Tyrannenmord im Toggenburg. Fürstäbtische Herrschaft und protestantischer Widerstand um 1600, Zürich 1999. 1 7 Zum Locarner Handel s. Verena Jacobi, Bern und Zürich und die Vertreibung der Evangelischen aus Locarno (Antiquarische Gesellschaft: Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich 43,2), Zürich 1967. – Zum Matrimonial- und Kollaturhandel im Thurgau und Rheintal s. Frieda Gallati, Eidgenössische Politik zur Zeit des Dreissigjährigen Krieges, in: Jahrbuch für Schweizerische Geschichte 43 (1918), S. 1*–149*, 44 (1919), S. 1*–258*. – Zum Thurgau: Frauke Volkland, Konfessionelle Grenzen zwischen Auflösung und Verhärtung. Bikonfessionelle Gemeinden in der Gemeinen Herrschaft Thurgau (CH), in: HA 5 (1997), S. 370–387; dies., Katholiken und Reformierte im Toggenburg und Rheintal, in: Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 4, St. Gallen 2003, S. 131–146; dies., Konfession und Selbstverständnis. Reformierte Rituale in der gemischtkonfessionellen Kleinstadt Bischofszell im 17. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 210), Göttingen 2005. – Zur Grafschaft Baden: Sebastian Bott/Matthias Fuchs, „Es ist denen Herren von Zürich gram um das würenlos.“ Bausteine zu einer Konfessionalisierungsgeschichte der

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Konfliktparteien ihre Anliegen und Standpunkte vor die Tagsatzung trugen, um die Vermittlung durch eidgenössische Orte anzurufen oder die Unterstützung seitens der Glaubensbrüder unter den eidgenössischen Obrigkeiten zu gewinnen.

II.  Konfliktmanagement in der eidgenössischen Föderation

Welche Folgen hatte diese komplexe konfessionspolitische Lage für die Sicher­ heitspolitik der Eidgenossenschaft? Wie sind die Orte mit den potentiell destabilisierenden und zentrifugalen Folgen der Bikonfessionalität in ihrem Einflussbereich umgegangen? Welche Möglichkeiten bot die föderative Ordnung sowohl für agonale Strategien als auch für deeskalierende Verfahren der Konfliktlösung? Zunächst hat die sich verschärfende Konfessionalisierung im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts auf beiden Seiten zentrifugale Tendenzen verstärkt und den Abschluss partikularer konfessioneller Schutzbündnisse nach innen und nach außen begünstigt.18 Auf katholischer Seite ist hier besonders der sogenannten Goldene Bund von 1586 zu erwähnen – ein Bündnis der sieben katholischen Orte zum Schutz ihrer Konfession. Die Bündnispartner „versprachen sich gegenseitige Hilfe bei der Abwehr äusserer oder innerer Gefahren. Dazu gehörte auch das Recht, bei der Gefährdung der katholischen Konfession innerhalb eines der vertragsschließenden Orte zu intervenieren.“19 Die Blockbildung wurde durch konfessionspolitisch motivierte Allianzen mit benachbarten Mächten gefördert. Die Mehrheit der katholischen Orte verbündete sich 1560 mit Savoyen, 1587 mit Spanien-Mailand und 1715 mit Frankreich („Trücklibund“), während Zürich und Bern 1584 mit Genf und 1588 mit Straßburg eine Allianz eingingen. In Teilen der politischen und kirchlichen Elite Zürichs ist in den frühen 1630er Jahren selbst eine Allianz mit Schweden in Erwägung gezogen worden, als Gustav Adolfs Armeen bis an den Bodensee vordrangen und sich für Zürich kurzzeitig die verlockende Option eröffnete, mit schwedischer Rückendeckung einen Krieg gegen die Inneren Orte zu wagen und die seit 1531 bestehende Hegemonie der katholischen Orte in der Eidgenossenschaft zu beseitigen.20 Keine der Glaubensparteien hat allerdings jemals von einer verbündeten Grafschaft Baden: Die Reformierten im 17. Jahrhundert, in: Argovia 114 (2002), S. 148–175; Hacke, Konflikt und Konsens (wie Anm. 9); dies., Church, Space (wie Anm. 9). 18 Auf reformierter Seite sind das Schutzbündnis zwischen Zürich, Bern, Basel und Schaffhausen von 1572 und das Bündnis von Bern und Zürich mit Genf 1584 zu erwähnen. Die katholischen Orte schlossen Bündnisse mit dem Wallis (1578) und dem Fürstbischof von Basel (1579). – Vgl. als Überblick Peter Stadler, Das Zeitalter der Gegenreformation, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 1, Zürich 1980, S. 571–672, bes. S. 580–621. 19 Rudolf Bolzern, Goldener Bund, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 5, Basel 2006, S. 518. 2 0 André Holenstein, L’enjeu de la neutralité: Les cantons suisses et la guerre de Trente Ans, in: Jean-François-Chanet/Christian Windler (Hrsg.), Les ressources des faibles. Neutralités,

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ausländischen Macht militärische Unterstützung für einen innereidgenössischen Waffengang in Anspruch genommen. Eine abschreckende, dissuasive Wirkung auf die Verbündeten aus dem gegnerischen konfessionellen Lager dürften diese Allianzen gleichwohl ausgeübt haben. Neben politischen Entwicklungen mit klar agonaler Tendenz sind auch die deeskalierenden Verfahrenselemente zu nennen, die in der bündischen Konfliktkultur der Orte wurzelten und diesen für die Stabilisierung der inneren Ordnung zur Verfügung standen.21 Neben dem Schiedsgericht, das alle Bündnisverträge als Verfahren für die Konfliktbeilegung zwischen den Orten vorsahen, ist vor allem die sogenannte Eidgenössische Vermittlung als Möglichkeit der formlosen, pragmatischen und flexiblen Schlichtung von Streitigkeiten zu erwähnen.22 Die aktive Vermittlung zwischen zerstrittenen Bündnispartnern in der Eid­ genossenschaft war den drei Orten Basel, Schaffhausen und Appenzell ausdrücklich als Verpflichtung in deren Bündnisverträge von 1501 bzw. 1513 eingerückt worden.23 Damit diese drei Orte dieser Pflicht umso überzeugender nachkommen und allseitig Vertrauen für ihre Friedensdiplomatie genießen konnten, hatten ihnen die zehn alten Orte zudem die Wahrung strikter Neutralität in Konflikten zwischen den Orten auferlegt. Basel, Schaffhausen und Appenzell durften bei innereidgenössischen Streitigkeiten nicht Partei ergreifen, sondern mussten vielmehr tatkräftig Frieden stiften. Basel und Schaffhausen haben sich denn auch in den verschiedenen Religionskriegen – trotz ihres reformierten sauvegardes, accomodements en temps de guerre (XVIe–XVIIIe siècle), Rennes 2009, S. 47–61. 21 André Holenstein, Händel – Schiedsgerichte – Vermittlungen. Konflikte und Konflikt­ lösungen in der alten Schweiz, in: Martin Scheutz/Peter Rauscher (Hrsg.), Die Stimme der ewigen Verlierer? Aufstände, Revolten und Revolutionen in den österreichischen Ländern (ca. 1450–1815), Wien/München 2013, S. 387–413. 2 2 Emil Usteri, Das öffentlich-rechtliche Schiedsgericht in der Schweizerischen Eidgenossenschaft des 13.–15. Jahrhunderts, Zürich 1925; Andreas Würgler, Eidgenössische Vermittlung, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 4, Basel 2005, S. 127f.; ders., Mediation der Gravamina. Politische Lösungen sozialer Konflikte in der Schweiz (15.–18. Jahrhundert), in: Cecilia Nubola/ders. (Hrsg.), Praktiken des Widerstandes. Suppliken, Gravamina und Revolten in Europa 1400–1800, Bologna, Berlin 2006, S. 51–80; Andreas Würgler, „Reden“ und „mehren“. Politische Funktionen und symbolische Bedeutungen der eid­genössischen Tagsatzung (15.–18. Jahrhundert), in: Tim Neu u. a. (Hrsg.), Zelebrieren und verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa, Münster 2009, S. 89– 106; ders., Tagsatzung, in: Historisches Lexikon der Schweiz (URL: http://www.hls.ch, 7. Mai 2012); ders., Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution im europäischen Kontext (1470–1798), Epfendorf 2013. 2 3 Walter Schläpfer/Karl Schib/Alfred Stoecklin/Bruno Amiet, Neutralität und Vermittlung innerhalb der alten Eidgenossenschaft (Verein Schweizerischer Geschichtslehrer), A ­ arau 1946.

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Bekenntnisses – nie offen auf die Seite Zürichs und Berns geschlagen, so dass Zürich und Bern in den drei Konfessionskriegen von 1531, 1656 und 1712 jeweils auf sich alleine gestellt blieben. Besonders die Basler Bürgermeister haben sich in der Frühen Neuzeit als engagierte Friedensdiplomaten innerhalb der Eidgenossenschaft hervorgetan. Dieses besondere Engagement erfolgte nicht zuletzt auch aus Rücksicht auf die besonders exponierte Randlage ihrer Stadt an der Grenze sowohl zum Reich als auch zu Frankreich.24 Sie agierten als Vermittler im Auftrag der Tagsatzung, die sich im 15. Jahrhundert immer stärker zum periodischen Treffpunkt der Gesandten aus den eidgenössischen Orten entwickelt hatte und in die Rolle einer Vermittlungsinstanz bei Konflikten hineingewachsen war. Die Tagsatzung konnte Gesandte entsenden und Verhandlungen initiieren, einzelne Orte mit Vermittlungen beauftragen oder Schiedsgerichte einsetzen. Neben die förmlichen Schiedsgerichte trat im 15. Jahrhundert immer mehr die sogenannte Eidgenössische Vermittlung. Darunter fielen vielfältige Formen der Konfliktbeilegung, die von der bloßen Gesprächsleitung über materielle Lösungsangebote und gütliche oder schiedsgerichtliche Entscheide bis hin zur militärischen Intervention reichten.25 Auf dem Weg eidgenössischer Vermittlung ist etwa 1632 nach langwierigen Verhandlungen der Badener Vertrag zustande gekommen, der eine einvernehmliche Lösung für die Behandlung konfessioneller Streitigkeiten in den Gemeinen Herrschaften fand. Die Orte verständigten sich damals darauf, Religions- und Glaubensstreitigkeiten in den Gemeinen Herrschaften künftig paritätischen Schiedsgerichten zur Entscheidung zu übertragen.26 Die Bikonfessionalität des föderativen Corpus helveticum hatte auch Konsequenzen für die Außenpolitik der Eidgenossenschaft. Sie zwang die Orte zur Einsicht, dass der konfessionelle Gegensatz ihren machtpolitischen Handlungsspielraum stark einschränkte und ihnen den Verzicht auf eine eigenständige Außenpolitik abforderte. Angesichts des Gegensatzes zwischen katholischen und 24

Schläpfer/Schib u. a., Neutralität und Vermittlung (wie Anm. 23). Es fehlt eine systematische Analyse der Basler Friedensdiplomatie. Stattdessen sei auf biographische Forschungen zu exemplarischen Fällen hingewiesen: Julia Gauss/Alfred Stoecklin, Bürgermeister Wettstein. Der Mann, das Werk, die Zeit, Basel 1953; Markus Fürstenberger, Die Mediationstätigkeit des Basler Bürgermeisters Johann Balthasar Burckhardt 1642–1742, Basel 1960; Veronika Feller-Vest, Andreas Ryff, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 10, Basel 2011, S. 588f. 2 5 Niklaus Bütikofer, Zur Funktion und Arbeitsweise der eidgenössischen Tagsatzung zu Beginn der frühen Neuzeit, in: ZHF 13 (1986), S. 15–41; ders., Konfliktregulierung auf den Eidgenössischen Tagsatzungen des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Parliaments, Esta­tes and Representation 11 (1991), S. 103–115; Würgler, Mediation (wie Anm. 22); ders. Eidgenössische Vermittlung (wie Anm. 22); ders., Tagsatzung (wie Anm. 22). 2 6 Gallati, Eidgenössische Politik (wie Anm. 17); Elsener, Majoritätsprinzip (wie Anm. 10), S. 263–266; Ulrich Pfister, Konfessionelle Parität, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 7, Basel 2008, S. 350f.; Eidgenössische Abschiede, Bd. 5/2, Basel 1875, S. 1541–1543.

Beobachtungen zur Eidgenossenschaft 201

reformierten Kantonen wären Offensivallianzen der einen Seite unweigerlich mit Offensivallianzen der anderen Seite beantwortet worden. Die Fragilität des eidgenössischen Bündnisgeflechts diktierte geradezu das Abseitsstehen der Eidgenossen in den Mächtekonflikten Europas. Diese Selbstneutralisierung trug der inneren Spaltung der Eidgenossenschaft ebenso wie der kriegerischen Dynamik in Europa im 17. und 18. Jahrhundert Rechnung. Sie erwies sich als kleinster gemeinsamer Nenner für die außenpolitische Strategie der föderierten Orte. Diese arrangierten sich mit der Tatsache, dass sie angesichts ihrer Zerstrittenheit nur dann eine Überlebenschance besaßen, wenn sie sich ihre außenpolitische Schwäche eingestanden und auf eine eigenständige Rolle auf der Bühne der Machtpolitik in Europa verzichteten. Das außenpolitische Abseitsstehen garantierte den Orten ihre Eigenständigkeit am Rande der großen Konflikte. Gleichzeitig war sie aber auch Ausdruck ihres politischen Immobilismus und der internen Blockaden ihres Bündnissystems.27

III.  Konfessionalisierung – Föderation – Sicherheit: Die eidgenössische Erfahrung

In seinen historisch-staatstheoretischen Überlegungen zum europäischen Republikanismus benannte Montesquieu die politischen und moralischen Gefahren, die die Sicherheit der kleinen Republiken der Antike und Alteuropas von innen wie von außen bedrohten: „Si une république est petite, elle est détruite par une force étrangère; si elle est grande, elle se détruit par un vice intérieur.“ Um nicht die politischen Nachteile einer monarchischen Alleinherrschaft in Kauf nehmen zu müssen und ihre militärische Schwäche zu kompensieren, mussten Republiken folglich auf eine Verfassung und politische Organisation bedacht sein, die ihnen die äußere Stärke von Monarchien verschaffte, ohne sie des Vorzugs republikanischer Freiheit im Innern zu berauben. Der Schlüssel dazu lag für Montesquieu in der Föderation der kleinen Republiken zu einem größeren Ganzen: Je parle de la république fédérative. Cette forme de gouvernement est une convention par laquelle plusieurs Corps politiques consentent à devenir citoyens d’un État plus grand qu’ils veulent former. C’est une société de sociétés, qui en font une nouvelle, qui peut s’agrandir par de nouveaux associés qui se sont unis. Ce furent ces associations qui firent fleurir si longtemps le corps de la Grèce. Par elles les Romains attaquèrent l’univers, et par elles seules l’univers se défendit contre eux; et quand Rome fut parvenue au comble de sa grandeur, ce fut par des associations derrière le Danube et le Rhin, associations que la frayeur avoit fait faire, que les Barbares purent lui résister. C’est par là que la Hollande, l’Allemagne, les Ligues suisses, sont regardées en Europe comme des républiques éternelles.28 27

Holenstein, Enjeu de la neutralité (wie Anm. 20).

28 Montesquieu, De l’Esprit des lois (Oeuvres complètes), hrsg. v. Roger Caillois, Paris 1951,

S. 369f. (livre 9, chapitre 1).

202 André Holenstein

Die Föderation mit ihresgleichen und die Verbindung zur größeren „république fédérative“ stärkte in den Augen Montesquieus die Macht kleiner Republiken nach außen, ohne damit die Freiheit ihrer Bürger im Innern zu schmälern. Ganz im Sinne Montesquieus fasste auch der Verfasser des einschlägigen Artikels in der „Encyclopédie d’Yverdon“ die Konföderation bzw. „république fédérative“ als bewährtes politisches Instrument, wie kleine (fürstliche oder republikanische) Staaten ihren Einfluss zu stärken vermochten.29 Idealerweise gleiche eine Föderation einer einmütigen und wohl regierten Familie. „Si les parties qui composent un tout veulent se persuader que leur intérêt particulier dépend de l’intérêt général, le corps aura une force infinie. La douceur, la bonne intelligence régneront plus que le commandement.“ Weil in Föderationen die Einzelinteressen der verbündeten Staaten mit dem Gesaminteresse der Föderation konvergierten, entstünden nur selten Streitigkeiten unter den Verbündeten. Komme es gleichwohl zu Meinungsverschiedenheiten, so sei der oberste Rat als Leitungsorgan der Föderation auch dazu bestimmt, zwischen den Streitenden zu vermitteln, den Konflikt zu beenden und die gestörte Ordnung wiederherzustellen. Die größte Gefahr für den inneren Zusammenhalt von Föderationen erblickte die „Encyclopédie d’Yverdon“ im Gegensatz der Konfessionen, der die ernsthaftesten Zerwürfnisse verursachen könne. Diesen Grundsatz illustrierte 2 9

Der Verfasser des Artikels „République“ bzw. „république fédérative“ lehnt sich eng an Montesquieu an und übernimmt streckenweise wörtlich dessen Formulierungen aus dem „Esprit des lois“: „RÉPUBLIQUE ­FÉDÉRATIVE […], forme de gouvernement par laquelle plusieurs corps politiques consentent à devenir citoyens d’un Etat plus grand qu’ils veulent former. C’est une société de sociétés qui en font une nouvelle, qui peut s’aggrandir par de nouveaux associés qui s’y joindront. Si une république est petite, elle peut être bientôt détruite par une force étrangère : si elle est grande, elle se détruit par un vice intérieur. Ce double inconvénient infecte également les démocraties & les aristocraties, soit qu’elles soient bonnes, soit qu’elles soient mauvaises. Le mal est dans la chose même; il n’est point de forme qui puisse y remédier. Aussi y a-t-il grande apparence que les hommes auroient été à la fin obligés de vivre toujours sous le gouvernement d’un seul, s’ils n’avoient imaginé une manière de constitution & d’association, qui a tous les avantages intérieurs du gouvernement républicain, & la force extérieure d’une monarchie. […] Cette sorte de république, capable de résister à la force extérieure, peut se maintenir dans sa grandeur, sans que l’intérieur se corrompe; la forme de cette société prévient tous les inconvénients. S’il arrive quelque sédition chez un des membres confédérés, les autres peuvent l’appaiser. Si quelques abus s’introduisent quelque part, ils sont corrigés par les parties saines. Cet Etat peut périr d’un côté, sans périr de l’autre; la confédération peut être dissoute, & les confédérés rester souverains. Composés de petites républiques, il jouit de la bonté du gouvernement intérieur de chacune; & à l’égard du dehors, il a par la force de l’association, tous les avantages des grandes monarchies.“; Fortunato Bartolomeo de Felice, République fédérative, in: Encyclopédie ou Dictionnaire universel raisonné des connoissances humaines, Bd. 36, ­Yverdon 1774, S. 561f.

Beobachtungen zur Eidgenossenschaft 203

der Verfasser bezeichnenderweise mit einem Hinweis auf die Geschichte der Eidgenossenschaft . „C’est la seule cause qui ait soulevé en Suisse des animosités assez fortes pour faire prendre les armes, & craindre une division qui seroit suivie de la perte de la liberté.“30 Wie nimmt sich im Vergleich zu diesen Lobreden der Staatstheorie des 18. Jahrhunderts auf die Vorzüge der föderativen Republik die Erfahrung der Eidgenossenschaft in der Frühen Neuzeit aus? Die Eidgenossenschaft erfüllte zwar zentrale Erwartungen Montesquieus an das Leistungsvermögen föderierter Republiken. Sie bot ihren Einwohnern ein hohes Maß an politischer Sicherheit und sicherte ihnen einen dauerhaften Frieden. Sie schützte ihre Bürger und Einwohner vor der Macht von Alleinherrschern und vor den Feindseligkeiten benachbarter Mächte. Seit dem 17. Jahrhundert wuchs die Reputation der Eidgenossenschaft als Insel des Friedens mitten in einem Europa der Kriege. Allerdings wird man die Hypothese Montesquieus hinterfragen müssen, derzufolge diese Vorteile dem föderativen Charakter der Verfassung und dem Zusammenschluss der zahlreichen eidgenössischen Kleinstaaten geschuldet waren. Zwar bestätigt ein Blick zurück ins 15. Jahrhundert und in die Zeit der Burgunder- und Mailänderkriege die Tatsache, dass die kleinen eidgenössischen Städte und Länder ihr Macht- und Gewaltpotential dank ihres bündischen Zusammenschlusses enorm hatten steigern können. Allerdings hatten sich in jener Zeit der größten äußeren Machtentfaltung der Orte auch die macht- und außenpolitischen Grenzen dieser föderativen Republik gezeigt. Diese mochte wohl einigermaßen in der Lage sein, die partikularen Kräfte der einzelnen Bundesgenossen für den Krieg zu bündeln. Ungleich schwerer fiel ihr jedoch eine konzertierte Politik in Friedenszeiten, wo zentrifugale Tendenzen und kommunaler Partikularismus – nicht zuletzt unter dem Einfluss der Diplomatie der benachbarten Großmächte – durchbrachen und sich die politisch-diplomatische Handlungsunfähigkeit der föderierten Republik erwies.31 Statt der angeblichen Stärken der föderativen Republik wird man zur Erklärung für die dauerhafte Sicherheit der „Friedensinsel“ Eidgenossenschaft in der Frühen Neuzeit eher jenes „Geschäftsmodell“ der eidgenössischen Orte anführen müssen, das die Existenz einer sicheren, befriedeten und unversehrten Eid­ genossenschaft auch für die umliegenden europäischen Großmächte interessant 3 0

Fortunato Bartolomeo de Felice, Confédération, in: Encyclopédie ou Dictionnaire universel raisonné des connoissances humaines, Bd. 10, Yverdon 1772, S. 759–762, hier S. 760. 31 André Holenstein, Macht und Ohnmacht der Eidgenossen. Adrian I. von Bubenberg und die eidgenössische Friedensdiplomatie nach den Burgunderkriegen, in: ders./Georg von Erlach (Hrsg.), Vom Krieg zum Frieden. Eidgenössische Politik im Spätmittelalter und das Wirken der Bubenberg (Berner Zeitschrift für Geschichte 74), Baden 2012, S. 57–70.

204 André Holenstein

machte. Das Geschäftsmodell lässt sich auf die Kurzformel „Verflechtung und Abseitsstehen“ bringen. Mitten in Europa und an äußerst sensibler geopolitischer Lage am mittleren Alpenkamm zwischen den Staaten und den neuralgischen Konfliktzonen des Nordens und des Südens gelegen, überlebte die Eidgenossenschaft, weil sie sich selber als eigenständiger außenpolitischer Akteur aus dem Spiel nahm, gleichwohl aber mit dem Abschluss von Allianzen und mit der Lieferung von Soldtruppen vitale Sicherheitsinteressen der benachbarten Mächte bediente. Fragt man zudem nach dem Maß an Sicherheit, welches die föderative Struktur der Eidgenossenschaft den verschiedenen Glaubensgemeinschaften bot, so wird man auch hier die Leistungsfähigkeit der föderativen Verfassung nicht überbewerten dürfen. Sie garantierte keine religiöse Toleranz im eigentlichen Sinn. Allenfalls ließe sich von einer bündnisrechtlich sanktionierten Duldung andersgläubiger Gemeinschaften in den Territorien der verbündeten Orte sprechen. Allerdings profitierten allein die katholische und die reformierte Staatskirche von dieser Lösung, während dem Täufertum als einem weiteren genuin reformatorischen Kirchentum das Existenzrecht aberkannt wurde. Innerhalb eines einzelnen Territoriums blieben bikonfessionelle Verhältnisse nur dort bestehen, wo die Obrigkeit schwach (Fürstabtei St. Gallen; Fürstbistum Basel; Glarus; Appenzell) oder auf mehrere Orte aufgesplittert war (Gemeine Herrschaften). Und auch dort ging die Tendenz nicht in Richtung Toleranz, sondern eher in Richtung Abgrenzung und rechtliche Ausscheidung von Zuständigkeitsbereichen. Gleichwohl kann die föderative Ordnung der Alten Eidgenossenschaft beachtliche sicherheitspolitischen Leistungen für sich verbuchen. Sie liegen in der Entwicklung spezifischer Verfahren der Konfliktlösung. Die Einrichtungen des Schiedsgerichts und der Eidgenössischen Vermittlung, die bündnisrechtliche Verpflichtung mehrerer Kantone auf Neutralität und Mediation sowie schließlich die Einigung auf paritätische Schiedsgerichte für die Klärung aller Religionsfragen in den Gemeinen Herrschaften ab 1632 waren genuine Hervorbringungen der föderativen Struktur. Der Föderation eignete aufgrund ihrer Konstruktionsprinzipien ein Zwang zu Konzessionen und Kompromissen unter den Mitgliedern.32 Die verbündeten Kommunen bzw. Republiken fanden allerdings – trotz 3 2

Vgl. gerade im Hinblick auf die Gemeinen Herrschaften das Urteil von Abraham Stanyan, des britischen Gesandten in der Eidgenossenschaft um 1700, zu den langfristigen Auswirkungen des Kappeler Landfriedens von 1531: „This agreement was made in 1531, and restored peace to Switzerland; not but that some dissentions have since happened among them, which have broken out into wars, but they have always been of short continuance; the desire of living in peace, imposing upon each party a necessity of mutual toleration in their common bailliages, where there is often a mixture of both religions; whose disputes have nevertheless given rise to all the wars that have hitherto happened between the cantons.“ (Abraham Stanyan, An Account of Switzerland, London 1714, S. 150).

Beobachtungen zur Eidgenossenschaft 205

aller anderslautenden bündischen Rhetorik – nicht so sehr aus gegenseitiger Freundschaft als vielmehr für die Wahrung ihrer partikularen Interessen immer wieder zusammen. Hierin lag letztlich aus Sicht der Verbündeten die institutionelle Logik ihrer Föderation begründet: Die Föderation erhöhte für die föderierten Kleinstaaten die Aussichten, ein größtmögliches Maß an Autonomie und Eigenständigkeit zu bewahren und zugleich mehr Macht – das heißt auch mehr Sicherheit – zu gewinnen, als jedem einzelnen von ihnen aus eigener Kraft möglich gewesen wäre.

Volker Depkat

Sicherheit in der föderalen Theologie der Puritaner im kolonialen Neuengland I.  Zu den Ursprüngen des amerikanischen Föderalismus

Dass der Föderalismus in den USA allgegenwärtig und in vieler Hinsicht die Grundlage des American Way of Life ist, ist eine Binsenweisheit.1 Dabei gilt der Föderalismus vielen als eine Erfindung der Amerikaner, genauer gesagt der Verfassungsväter, die während der Amerikanischen Revolution im ausgehenden 18. Jahrhundert das historische Novum einer föderal organisierten, flächenstaatlichen Republik kreierten, die in allen Teilen auf dem Prinzip der Volkssouveränität gründete und deren einziger Staatszweck es war, die grundrechtlich definierte Freiheit des Einzelnen zu sichern. Dieser Lesart zu Folge ist der amerikanische Föderalismus das Kind der Amerikanischen Revolution. Seine Wiege stand in Philadelphia, wo die Constitutional Convention – vom sonst eigentlich doch recht vernünftigen Thomas Jefferson einmal als eine Versammlung von Halbgöttern bezeichnet – im Sommer des Jahres 1787 angestrengt darüber nachdachte, wie Freiheit, Demokratie und Flächenstaat miteinander in Einklang gebracht werden könnten.2 In vielen einschlägigen Darstellungen zur Geschichte der Amerikanischen Revolution, besonders in denen amerikanischer Kollegen, ist der Föderalismus deshalb oft so etwas wie ein deus ex machina, der in den späten 1780er Jahren gerade rechtzeitig noch erscheint, um die revolutionsgeborene und von heftigen Krisen geschüttelte amerikanische Republik vor dem Untergang in die Anarchie zu retten.3 1

Zum Föderalismus in den USA hier nur: Gordon S. Wood, The Creation of the American Republic, 1776–1787, Neuausgabe New York/London 1993, S. 469–615; Alison L. ­LaCroix, The Ideological Origins of American Federalism, Cambridge, MA/London 2010; D ­ avid C. ­Hendrickson, Peace Pact. The Lost World of the American Founding (American Political Thought), Lawrence/KS 2003; Peter S. Onuf, The Origins of the Federal ­Republic. Jurisdictional Controversies in the United States, 1775–1787, Philadelphia 1983; ders., Föderalismus und Expansionspolitik in Amerika, in: Hermann Wellenreuther/­Claudia Schnurmann (Hrsg.), Die Amerikanische Verfassung und Deutsch-Amerikanisches Verfassungs­denken. Ein Rückblick über 200 Jahre (Krefelder Historische Symposien: Deutschland und ­Amerika 1) New York/Oxford 1991, S. 54–78; Richard Beeman/­Stephen ­Botein/­Edward C ­ arter II (Hrsg.), Beyond Confederation. Origins of the Constitution and American National Identity, Chapel Hill, NC 1987; Maurice J.C. Vile, The Structure of American Federalism, London 1961. 2 Thomas Jefferson an John Adams, 30. August 1787, The Thomas Jefferson Papers Series 1. General Correspondence, 1651–1827, http://hdl.loc.gov/loc.mss/mtj.mtjbib001508 (21. 05. 2013). 3 LaCroix, Origins (wie Anm. 1), S. 1. Wie wenig selbstverständlich und wie kontrovers die föderale Bundesverfassung im Kontext der 1780er Jahre eigentlich war, zeigt Saul Cornells Studie zur politischen Vorstellungswelt der Anti-Federalists; Saul Cornell, The

Sicherheit in der föderalen Theologie der Puritaner im kolonialen Neuengland 207

Dieser Sichtweise steht allerdings eine vielfach von nicht-amerikanischen Historikern getragene Forschungsdiskussion über die Ursprünge und Traditionen des amerikanischen Föderalismus gegenüber, die bereits vor einiger Zeit begonnen hat und sich gegenwärtig im Zuge des sogenannten transnational turn auf beiden Seiten des Atlantiks intensiviert. In den 1980er Jahren legte Jan Willem Schulte Nordholt Studien zur Rolle der Niederlande als Modell für den amerikanischen Föderalismus vor, und auch der Einfluss der Schweiz auf die amerikanische Bundesverfassung ist erörtert worden.4 Seit 2009 fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein auf drei Jahre angelegtes Projekt, das die Bedeutung des Alten Reiches als Referenzsystem für die amerikanischen Föderalismusdiskussionen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts systematisch erforscht5, und im Jahr 2010 legte die amerikanische Rechtshistorikerin Alison L. LaCroix ihre viel beachtete Studie „The Ideological Origins of American Federalism“ vor. Gleich in der Einleitung stellt LaCroix fest, dass die Frage, woher die föderalen Ideen, Modelle und Erfahrungen im Jahr 1787 eigentlich kamen, bislang noch nicht niemals systematisch erforscht worden sei. Der Moment des Ursprungs des amerikanischen Föderalismus, so schreibt LaCroix treffend, scheine selbst ohne Ursprung zu sein.6 LaCroix hat nun einen gewichtigen Beitrag zur Erforschung von Idee und Praxis des Föderalismus im kolonialen Nordamerika geleistet. Die Diskussion ist damit jedoch noch längst nicht vorbei, denn insgesamt bewegt sich die Studie von LaCroix noch viel zu sehr im anglo-amerikanischen Kontext und lässt dabei andere Referenzsysteme weitgehend außer Acht. Zudem ist ihre Studie sehr eng auf die Zeit der amerikanischen Revolution und damit auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts konzentriert. Doch gerade die sowohl zeitliche als auch regionale Ausweitung des Blicks in der Suche nach den Ursprüngen und Traditionen des amerikanischen Föderalismus scheint geboten, da sich dessen Geschichte eigentlich nur im Kontext einer Atlantischen Geschichte verstehen lässt. In diesem Zusammenhang kommt der föderalen Theologie des reformierten Protestantismus, insbesondere der englischen Puritaner, eine zentrale Scharnierfunktion zu, wie vor allem die Arbeiten aus dem Umfeld von Daniel J. Other Founders. Anti-Federalism and the Dissenting Tradition in America, 1788–1828, Chapel Hill/NC 1999. 4 Jan Willem Schulte Nordholt, The Example of the Dutch Republic for American Federalism, in: Johann Christian Boogman/G.N. van der Plaat (Hrsg.), Federalism. History and Current Significance of a Form of Government, Den Haag 1980, S. 65–77; ders., The Dutch Republic and American Independence, Chapel Hill/NC 1982; Paul Widmer, Der Einfluss der Schweiz auf die amerikanische Verfassung von 1787, in: SZG 38 (1988), S. 359–389. 5 Volker Depkat/Johannes Burkhardt (Leiter) und Jürgen Overhoff (Bearbeiter), „Das frühneuzeitliche deutsche Reich als politisches Referenzsystem des amerikanischen Föderalismus im Entstehungsprozeß der USA (1751–1788)“. 6 LaCroix, Origins (wie Anm. 1), S. 1–2.

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Elazar eindrucksvoll gezeigt haben.7 Dabei ist die Scharnierfunktion der auf alttestamentarisch-jüdischen Traditionen aufbauenden föderalen Theologie der Puritaner auf mehreren Ebenen angesiedelt. Sie stellt zum einen eine Brücke zwischen Diesseits und Jenseits, zum anderen eine Brücke zwischen dem frühneuzeitlichen Europa und dem frühneuzeitlichen Amerika her, da ja nur eine Minderheit der englischen Puritaner Europa für jenseits aller Reformen hielt und deshalb in den 1620/40er Jahren nach Neuengland auswanderte, um dort ihr utopisches Gesellschaftsexperiment zu starten, das zentral in dem Gedanken eines Bundes zwischen Gott und den Puritanern einerseits und den Puritanern untereinander andererseits ankerte.8 Sowohl als theologisches Konzept wie auch als politisch-sozialer Ordnungsbegriff hat das Konzept des Bundes die Religions-, Politik- und Sozialgeschichte der in Neuengland im 17. Jahrhundert neu entstandenen Plangesellschaften maßgeblich bestimmt, und es stellt zugleich eine der stärksten Wurzeln des amerikanischen Föderalismus dar.9 Allerdings muss man sich, wenn man über den Zusammenhang der puritanischen Bundestheologie mit dem modernen Föderalismus nachdenkt, von der Konzentration auf rein verfassungsgeschichtliche und staatsrechtliche Aspekte lösen und seinen Blick auf die allgemeine Frage richten, wie puritanische Vorstellungswelten die Idee des Bundes nutzten, um den Zusammenhang von Teil 7

Daniel J. Elazar, Covenant and Polity in Biblical Israel. Biblical Foundations and Jewish Expressions, New Brunswick/NJ/London 1995; ders., Covenant and Commonwealth. From Christian Separation through the Protestant Reformation, New Brunswick/NJ/London 1996; ders., Covenant and Constitution. The Great Frontier and the Matrix of Federal Democracy, New Brunswick/NJ/London 1997; ders., Covenant and Civil Society. The Constitutional Matrix of Modern Democracy, New Brunswick/NJ/London 1998; ders./ John Kincaid (Hrsg.), The Covenant Connection. From Federal Theology to Modern Federalism, Lanham u. a. 2000. 8 Zur Kolonialgeschichte Neuenglands allgemein: Alan Taylor, American Colonies. The Settling of North America, New York 2001; Hermann Wellenreuther, Niedergang und Aufstieg. Geschichte Nordamerikas vom Beginn der Besiedlung bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts (Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart 1), Hamburg 2000; ders., Ausbildung und Neubildung. Die Geschichte Nordamerikas vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Amerikanischen Revolution 1775 (Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart 2), Hamburg 2001; Jack P. Greene, Pursuits of Happiness. The Social Development of Early Modern British Colonies and the Formation of American Culture, ­Chapel Hill/NC/London 1988; Francis J. Bremer, The Puritan Experiment. New England Society from Bradford to Edwards, Hanover 1995. 9 Grundlegend zur politisch-sozialen Vorstellungswelt der Puritaner immer noch: Perry ­Miller, The New England Mind. From Colony to Province, Cambridge/MA 1953; ders., The New England Mind. The Seventeenth Century, Cambridge/MA 1954; Sacvan Bercovitch, The Puritan Origins of the American Self, New Haven 1975; Philip F. Gura, A Glimpse of Sion’s Glory. Puritan Radicalism in New England, 1620–1660, Middletown/CT 1984; Janice Knight, Orthodoxies in Massachusetts. Rereading American Puritanism, Cambridge/MA 1994.

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und Ganzem zu konzipieren. Damit ist der Zusammenhang von Individuum und Gemeinde gemeint, und zwar der der Gemeinden untereinander und schließlich auch der von Gemeinwesen und Gott. Was auch immer der Begriff „Bund“ – also „covenant“, „compact“, „contract“ oder auch „agreement“ im zeitgenössischen Englisch – im Einzelnen genau beschrieb, er verwies immer auf ein aus Teilen zusammengesetztes Ganzes, das sowohl die religiös-transzendentale als auch die säkular-politische Sphäre umfasste.10 Die Frage, die dieser Aufsatz beantworten möchte, ist die nach dem Verhältnis von „Bund“ und „Sicherheit“ in den föderal-theologischen Vorstellungswelten der neuenglischen Puritaner. Für die Antwort wurden nicht nur die einschlägige Forschungsliteratur und einige weithin bekannte Quellen konsultiert, sondern auch gedruckte Pamphlete, die im kolonialen Neuengland um 1700 erschienen und das Verhältnis von „Security/Safety“ und „Federation/Consociation/Covenant“ in ganz verschiedenen Zusammenhängen erörtern. Das insgesamt heterogene Quellenmaterial wurde durch eine systematische Internetrecherche in den „Early American Imprints“ geborgen, die dank des DFG-Nationallizenzen-Projekts auch von Deutschland aus zugänglich sind.11 Als Ergebnis meiner bisherigen Forschungsarbeiten möchte ich die These aufstellen, dass die Debatte über „Bund“ im kolonialen Neuengland untrennbar mit einem Gefühl verbunden war, dass das utopische Projekt einer gottgefälligen Gesellschaft im kolonialen Neuengland immer und überall bedroht war und dass allein die föderale Verbindung aller Teile – die „consociation“ – dazu im Stande war, sowohl die theologisch-spirituelle als auch die säkular-materielle Sicherheit der „city upon a hill“ zu gewährleisten.

II.  Die Covenant-Idee und das Problem von Sicherheit  

Die im Jahr 1630 von John Winthrop aus England nach Nordamerika geführten Kongregationalisten waren eine Gruppe innerhalb des sehr diversen Lagers der englischen Puritaner. Sie hielten Europa für unreformierbar, weshalb sie ihr Ideal einer gottesfürchtigen, allein auf die Bibel gegründeten Gesellschaft in Amerika verwirklichen wollten. Dies allerdings war nun kein selbstvergessener Rückzug von der Alten Welt und keine erbitterte Abkehr von Europa; vielmehr wollten John Winthrop und seine Freunde in den entlegenen Wäldern Nordamerikas

10

Vgl. dazu Donald S. Lutz, Liberty and Equality from a Communitarian Perspective, in: Elazar/Kincaid (Hrsg.), Covenant Connection (wie Anm. 7), S. 223–243, hier S. 227. 11 Early American Imprints: Evans 1639–1800 (Series I)/EAI I. URL: http://www.nationallizenzen.de/angebote/nlproduct.2006-03-14.3838869390 (21. 05. 2013).

210 Volker Depkat

eine Gesellschaft etablieren, von der die Erneuerung des Christentums auch in Europa ausgehen sollte.12 Dabei gründete das kongregationalistische Projekt in der Idee des „Covenant“. Das hat John Winthrop in seiner berühmten Predigt „A Model of Christian Charity“ im Jahr 1630 seinen Glaubensgenossen klar verständlich erklärt.13 In diesem zentralen Text der amerikanischen Geschichte führte Winthrop aus, dass die Migranten einen Bund mit Gott geschlossen hätten. Sollten sie sicher in Amerika ankommen, so würde dies ein Zeichen dafür sein, dass Gott den Bündnisvertrag von seiner Seite aus ratifiziert habe, was wiederum sie, die Kongregationalisten, im Gegenzug dazu verpflichten würde, streng nach seinen Gesetzen zu leben. Nur wenn es ihnen gelänge, ein Modell brüderlicher Nächstenliebe, christlicher Barmherzigkeit, Bescheidenheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen, würde der Bund Bestand haben. Sollte dies nicht gelingen, so hätten sie den Bund ihrerseits aufgekündigt und Gottes Rache würde fürchterlich sein. In der föderalen Theologie der Kongregationalisten waren Auserwähltheitsbewusstsein und Bewährungsverpflichtung somit auf eine fast schon beängstigende Weise untrennbar ineinander verschlungen. Aus dem „Covenant“ resultierte einerseits die privilegierte Stellung der Kongregationalisten als Bundesvolk Gottes, andererseits aber auch ihre besondere Verantwortung für die weitere Entwicklung des Christentums und der Menschheit.14 Sollten sie es in der Neuen Welt nämlich nicht schaffen, eine gottgefällige Ordnung zu realisieren, oder vom wahren Glauben abfallen, dann würden sie und ihr religiöses Projekt auf dem Abfallhaufen der Geschichte landen. Die in Neuengland entstehende utopische Gesellschaft war also hochgradig fragil; sie ankerte zentral in der permanent gegebenen Möglichkeit des Scheiterns. Daraus resultierte ein dauerhaftes Gefühl der Unsicherheit, dessen Ursachen einerseits in den Prämissen puritanischer Theologie, andererseits aber in der konkreten kolonialen Situation in Nordamerika lagen.15

12

Zu John Winthrop im Kontext der Great Migration siehe: Edmund S. Morgan, The Puritan Dilemma. The Story of John Winthrop, Boston 1958; James G. Moseley, John Winthrop’s World. History as a Story. The Story as History, Madison/WI 1992; Taylor, American Colonies (wie Anm. 8), S. 164–170; Greene, Pursuits of Happiness (wie Anm. 8), S. 21–22. 13 John Winthrop, A Model of Christian Charity (1630): http://religiousfreedom.lib.virginia. edu/sacred/charity.html (21. 05. 2013). 14 Vgl. dazu auch Daniel J. Elazar, „Introduction. From Biblical Covenant to Modern Fede­ ralism. The Federal Theology Bridge, in: ders./Kincaid (Hrsg.), Covenant Connection (wie Anm. 7), S. 1–13, hier S. 9. Zu den Ursprüngen der Bundestheologie: J. Wayne ­Baker, Covenant and Community in the Thought of Heinrich Bullinger, in: Elazar/Kincaid (Hrsg.), Covenant Connection (wie Anm. 7), S. 15–29. 15 Zur utopischen Dynamik des puritanischen Denkens: James Holstun, A Rational Millenium. Puritan Utopias of Seventeenth-Century England and America, New York 1987; Bernd Engler/Jörg O. Fichte/Oliver Scheiding (Hrsg.), Millennial Thought in America.

Sicherheit in der föderalen Theologie der Puritaner im kolonialen Neuengland 211

In theologischer Hinsicht resultierte das Gefühl der Unsicherheit einerseits aus der Individualisierung des Verhältnisses zu Gott und andererseits aus der daran gekoppelten Idee von der Autonomie der einzelnen Kirchengemeinde als Grundbaustein jeglicher kirchlich-sozialer Ordnung.16 Um mit dem ersteren anzufangen, sei hier noch einmal festgestellt, dass die theologische Vorstellungswelt der Puritaner in zwei Grundüberzeugungen ankerte: Erstens im Gedanken der Erbsünde und zweitens in der Idee, dass die Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Gläubigen direkt und individuell, das heißt durch keinerlei kirchliche Institutionen vermittelbar sei. Der ultimative Ausweg aus dem Leben in Sünde war für John Winthrop und seine Freunde die persönliche Hinwendung zu Gott in einem sichtbar demonstrierten Akt der Konversion. Am Beginn eines gottgefälligen Lebens stand somit immer die individuelle Entscheidung für Gott, die sich durch keinerlei kirchliche Institution oder Praxis erzwingen ließ. Prediger konnten dem Einzelnen ins Gewissen reden, sie konnten versuchen, ihn von der Sündhaftigkeit der eigenen Existenz zu überzeugen, und die Strafen der Hölle so plastisch wie nur möglich ausmalen, die letzte Entscheidung lag jedoch bei dem einzelnen Gläubigen. Damit war das Individuum zu einer autonomen Einheit geworden, womit seine Einbindung in das Ganze einer christlich konfigurierten Gesellschaft nicht mehr so ohne weiteres gegeben war. Das autonome Individuum – sündhaft und den weltlichen Versuchungen immer und überall ausgesetzt – war eine permanente Quelle von Unsicherheit in einem „Christian Commonwealth“, dessen Gesellschaft sich eben immer auch als Kollektiv, und niemals nur in einzelnen Individuen vor Gott bewährte. Das Projekt der „city upon an hill“ konnte nämlich nur dann gelingen, wenn die Gesellschaft als Ganze und jedes einzelne Mitglied ein gottesfürchtiges Leben führte, denn nur dadurch wurde der Bund mit Gott erhalten. Puritaner konnten es sich also gar nicht leisten, sich nicht darum zu kümmern, was der Nachbar oder die Nachbargemeinde machte. Man durfte den einzelnen in seiner Sündhaftigkeit eben nicht allein lassen; tat man es, machte man sich selbst mit schuldig. Eine zweite Quelle der Unsicherheit erwuchs aus der Prämisse von der Auto­nomie der einzelnen Kirchengemeinde. Wie andere Gruppen im Lager des reformierten Protestantismus, so waren auch die Kongregationalisten der Meinung, dass Amtskirchen mit ihren autoritären Hierarchien, zentralisierten Instanzenzügen und ihren von oben bestimmten Glaubensdogmen der erwünschten direkten Beziehung zwischen dem einzelnen Gläubigen und Gott im Weg Historical and Intellectual Contexts, 1630–1860, Trier 2002; Ruth H. Bloch, Visionary Republic. Millennial Themes in American Thought, 1756–1800, Cambridge/MA 1985. 16 Zum Folgenden: Bremer, Puritan Experiment (wie Anm. 8), S. 101–120; Miller, New ­England Mind. The Seventeenth Century (wie Anm. 9), S. 365–491. Konzise: Wellenreuther, Nieder­ gang und Aufstieg (wie Anm. 8), S. 340–344.

212 Volker Depkat

standen. Für sie war deshalb die autonome Kirchengemeinde – die Kongregation – Kern- und Ausgangspunkt jeglicher Ordnung, doch diese Autonomie der Gemeinde war ein genauso großer Faktor von Unsicherheit wie die Autonomie des Individuums. Auch hier bestand permanent die Gefahr, dass sich Irrglaube und Häresie breit machten oder dass die einzelne selbstorganisierte Gemeinde von der orthodoxen Lehre abfiel. In seinem Vergleich der Unterschiede zwischen Presbyterianern und Kongregationalisten arbeitet der puritanische Theologe Increase Mather genau dieses Problem heraus, wenn er schreibt: „A principal [difference between the Presbyterians and the Congregationalists] is, that Presbyterians suppose that Synods have a Juridical Power, that they have Authority to Censure Erring Churches, and if obstinate, to deliver them to Satan. But those of the Congregational Persuasion think, that such Authority belongs only to a Particular Church, and that Synods cannot proceed any further than to a Sentence of Non communion.”17 Diese Gefahr des Abfalls war unter den Bedingungen religiöser Vielfalt im kolonialen Kontext Nordamerikas, in dem amtskirchliche Strukturen fehlten und eine bunte Vielfalt von religiösen Gruppen miteinander um die Seelen der Gläubigen konkurrierten, natürlich besonders ausgeprägt. In den Pamphleten, die für diesen Beitrag untersucht wurden, war deshalb viel von der möglichen Vergiftung von Individuen, von ganzen Kongregationen und vom gesamten „holy commonwealth“ durch Irrglauben und Abfall von Gott die Rede. In einem Pamphlet, das im Jahr 1662 die Taufe als Akt der „Konföderation” von Kindern, Eltern und der Kirchengemeinde erörterte, wird so beispielsweise die besondere kollektive Verantwortung der Kirchengemeinden für die frühzeitige Taufe von Kindern festgestellt und dann behauptet: „Otherwise Irreligion and Apostacy would inevitably break into Churches, and no Church-way left by Christ to prevent or heal the same: which would also bring many Church-members under that dreadful judgement of being let alone in their wickedness”.18 Drei Jahre später stellte John Eliot in seinem Entwurf einer idealen Ordnung „Communion of Churches” fest: „[A]ll difference of Opinion is apt to breed alienation of affection and give entrance to the Satan.”19 Deshalb dürften sich kirchliche Gremien auf gar keinen Fall aus ihrer Verantwortung für die weltliche Ordnung

17 Increase

Mather, A Disquisition Concerning Ecclesiastical Councils, Boston 1716, S. xi. Aus der Prämisse der Autonomie der einzelnen Kirchengemeinde resultierte das Problem der Orthodoxie im puritanischen Neuengland; Perry Miller, Orthodoxy in Massachusetts, 1630–1650, Boston 1959; Knight, Orthodoxies in Massachusetts (wie Anm. 9). 18 Congregational Churches in Massachusetts, Propositions Concerning the Subject of Baptism and Consociation of Churches. Collected and Confirmed out of the Word of God by a Synod of Elders […], Cambridge 1662, S. 17. 19 John Eliot, Communion of Churches […], Cambridge 1665, S. 25.

Sicherheit in der föderalen Theologie der Puritaner im kolonialen Neuengland 213

zurückziehen. Rigoros verwirft Eliot die Doktrin von der Trennung von Staat und Kirche, wenn er schreibt: Where great care is to be had, to keep a clear distinction betwixt Civil and Ecclesiastical Power, and not to meddle, or in the least intrude or intrench upon Civil Authority. The usurpation of Antichrist upon the Civil Authority, must ever keep the Ecclesiastical Councils in a vigilant fear of that aspiring pride: a worm too apt to breed and grow in the breasts of learned, and eminently gifted men, if there be not a vigilant spirit of mortification, and humble subjection unto Order.20

Insgesamt zeigen diese Angstszenarien, dass die Kongregationalisten in Neuengland vor dem Grundproblem standen, wie man Teile und Ganzes in einer utopischen Gesellschaft so vermittelt, dass „security to a Christian State“, wie es bei John Cotton 1663 heißt, gewährleistet sei.21 In diesem Zusammenhang wird „consociation“ zu einem Zentralbegriff sowohl der theologischen als auch der politischen-sozialen Theorie, denn durch „consociation“ schlossen die Kongregationalisten untereinander vielfältige, in ganz verschiedenen Zusammenhängen angesiedelte Bünde, die so etwas wie auf Freiwilligkeit basierende „Sicherheitspartnerschaften“ zum Gelingen des utopischen Projektes waren.22 Die durch „consociation“ verbundenen Partner verpflichteten sich, gemeinsam darauf zu achten, dass das Ganze der Gesellschaft und jedes ihrer Teile ihrer Bündnisverpflichtung gegenüber Gott nachkamen. Besonders deutlich wird dies in dem schon erwähnten Pamphlet von John Cotton, in dem dieser bezüglich der von Gott gewollten kongregationalistisch-föderalen Kirchen­ ordnung feststellt: „That by virtue of this Order, they [the individual believers] are bound to mutual helpfulness, in Watching over one another, Instructing, Admonishing, and Exhorting one another to prevent sin, or to recover such as are faln [fallen], or to encourage one another, and strengthen them in well-doing.“23 2 0 Eliot, Communion of Churches (wie Anm. 19), S. 33. 21

John Cotton, A Discourse about Civil Government in a New Plantation whose Design is Religion, Cambridge 1663, S. 21. 2 2 Das Pamphlet „Propositions Concerning the Subject of Baptism“ forderte 1662 eine „consociation of churches“ oder „Communion of Churches“, um die Kindertaufe systematischer und effizienter sicherstellen zu können (Congregational Churches in Massachusetts, Proposition Concerning the Subject of Baptism (wie Anm. 18), ohne Paginierung, S. 7). John Eliot entwarf 1665 das Ideal einer „communion of churches“ zur Absicherung der christlichen Ordnung (Eliot, Communion of Churches (wie Anm. 19). 1716 argumentierte Increase Mather dafür, durch eine „consociation“ der einzelnen Kirchengemeinden die Aufrechterhaltung der gottgefälligen Ordnung zu gewährleisten (Increase Mather, A Disquisition (wie Anm. 17), Titelblatt im Untertitel). Zur Bedeutung von „consociation“ als Ziel von Politik im Kontext der föderalen Theologie: Thomas O. Hueglin, Covenant and Federalism in the Politics of Althusius, in: Elazar/Kincaid (Hrsg.), Covenant Connection (wie Anm. 7), S. 31–54. 2 3 Cotton, Discourse about Civil Government (wie Anm. 21), S. 22.

214 Volker Depkat

Insofern strukturierte die Bundesidee alle Aspekte der sozialen Beziehungen in der frühkolonialen Gesellschaft Neuenglands; sie war in all ihren Zusammenhängen und Teilen Abbild und Fortsetzung jenes initialen Bundes zwischen Gott und den Kongregationalisten. „Covenant“ definierte somit die politischen und sozialen Normen für die Gestaltung einer Gesellschaft, die sich unter den Bedingungen puritanischen Denkens aus lauter autonomen und doch untereinander verbundenen Einheiten zusammensetzte. Bei alledem ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass diese hochkomplexen Debatten über Sicherheit, „covenant“ und „consociation“ keine abstrakten, aus theologisch-theoretischen Prämissen generierten, also gewissermaßen ‚blutleere‘ Diskurse waren. Vielmehr waren sie erfahrungsgeschichtlich tief in der kolonialen Situation verankert und wurden durch sie immer wieder aufs Neue plausibilisiert. Die Puritaner begriffen ihr Projekt bekanntlich als ein „Errand into the Wilderness“, als einen Gang in die Wildnis also. Dies definierte zugleich auch ihre Wahrnehmung der nordamerikanischen Umwelt, die sie meist als bedrohlichen Urwald und entlegenen Ort voller Gefahren wahrnahmen.24 William Bradford, der Anführer der Pilgerväter, die 1620 schon auf der „Mayflower“ nach Massachusetts kamen, meinte, dass die nordamerikanischen Wälder „full of wild beasts and wild men“ seien. Zusätzlich zieht sich die Rede von Neuengland als eine “waste and howling Wilderness” (Samuel Danforth), die als entlegener Ort durch einen großen, bedrohlichen Ozean von Europa getrennt war, bald schon formelhaft durch die für diesen Aufsatz gelesenen Texte.25 Aus Sicht der Puritaner bot der Gang in die Wildnis einerseits die Chance auf ein wahrhaft christliches Leben in der Nachfolge Johannes des Täufers, aber sie war auch voller realer Bedrohungen und Entbehrungen. Jede neue Ansiedlung musste mühsam dem Wald abgerungen werden, und war das erst einmal gesche 24

Alan Heimert, Puritanism, the Wilderness and the Frontier, in: New England Quarterly 26 (1953), S. 361–382. Peter N. Carroll, Puritanism and the Wilderness. The Intellectual Significance of the New England Frontier, 1629–1700, New York 1969; Michael Zuckerman, Pilgrims in the Wilderness. Community, Modernity and the Maypole at Merry Mount, in: New England Quarterly 50 (1977), S. 255–277; Perry Miller, Errand into the Wilderness, Cambridge/MA 1956. 2 5 William Bradford, Of Plymouth Plantation, 1606–1646. An Electronic Edition, Kap. 9, S. 125. http://mith.umd.edu/eada/html/display.php?docs=bradford_history.xml (21. 05. 2013). Samuel Danforth, A Brief Recognition of New-Englands Errand into the Wilderness, (1670), transkribiert und herausgegeben von Paul Royster, Online Electronic Text Edition, Faculty Publications, UNL Libraries. Paper 35, S. 11. http://digitalcommons.unl.edu/libraryscience/35 (21. 05. 2013). Auch Urian Oakes beschreibt die Gesellschaft Neuenglands als eine gottesfürchtige Gesellschaft, die sich erfolgreich in einer gefährlichen Wildnis etabliert, deren Gefahren inzwischen zwar gebannt, aber noch nicht ganz verschwunden sind. Urian Oakes, New-England Pleaded with and Pressed to Consider the Things which Concern her Peace at least in this her Day, Cambridge 1673.

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hen, bestand stets die Gefahr, von den vielfach als „Teufel“ wahrgenommenen Indianer überfallen zu werden.26 Von Neufrankreich her drohten die Papisten, von Süden her drohten für eine Zeit lang die Niederlande. Das koloniale Nordamerika war eine Welt am Rande des Chaos, und deshalb wurde „consociation“ in den verschiedensten theologischen und politischen Zusammenhängen geradezu zur Bedingung der Möglichkeit von Ordnung und Sicherheit. Paradigmatisch ist in diesem Zusammenhang die New England Confederation von 1643, der erste Versuch einer kolonialen Konföderation zwischen Massachusetts, Plymouth, Connecticut und New Haven.27 Diese vier politischen Einheiten unterzeichneten im Mai 1643 Konföderationsartikel, die eine „firm and perpetual league of friendship and amity“ zwischen ihnen begründeten. Die vier Parteien schlossen sich zu einem als „consociation“ bezeichneten Bund zusammen, um die eigene Sicherheit und Wohlfahrt („mutual safety and welfare“) zu fördern und zugleich „the truth and liberties of the Gospel“ zu bewahren und zu verbreiten. Allgemein ging es um die Absicherung des eigenen als utopisch erfahrenen Projekts. Gleich im ersten Absatz heißt es, dass alle Bündnispartner mit nur einem Ziel nach Nordamerika gekommen seien, nämlich: „to advance the Kingdom of our Lord Jesus Christ and to enjoy the liberties of the Gospel in purity with peace.“28 Insgesamt also hat der moderne Föderalismus starke theologische Wurzeln, die gleichermaßen im europäischen und im amerikanischen Boden wuchsen. Die föderale Theologie, die das protestantisch-reformierte Lager in Europa und Nordamerika verband, ist in diesem Zusammenhang ein Schlüssel zum Verständnis, denn sie konstituierte einen transnationalen theologisch-politischen Raum, der sich von der Schweiz über die Rheinschiene zur Nordsee und von dort nach England und Schottland bis hinüber in das koloniale Britisch-Nordamerika erstreckte.29 Insofern sind die Ursprünge und Traditionen des amerikanischen Föderalismus auch im kontinentalen Europa zu suchen, und mit dieser Suche kann man schon im 17. Jahrhundert anfangen. 2 6

Wahrnehmung der Indianer als Teufel siehe Robert F. Berkhofer, The White Man’s Indian. Images of the American Indian from Columbus to the Present, New York 1979, S. 80–85; Roy H. Pearce, The „Ruines of Mankind“. The Indian and the Puritan Mind, in: ­JHIdeas 13 (1952), S. 200–217. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Genre der „Captivity Narratives“. Alden T. Vaughan/Edward W. Clark (Hrsg.), Puritans among the Indians. Accounts of Captivity and Redemption, 1676–1724, Cambridge/MA 1981. 27 Zur New England Confederacy as föderales Experiment: LaCroix, Origins (wie Anm. 1), S. 20–22. Zur New England Confederacy als Schutz- und Sicherheitsbündnis: Frederick K. ­Lister, The Early Security Confederations. From the Ancient Greeks to the United Colonies of New England, Westport/CT 1999. 28 Alle Belege: The Articles of Confederation of the United Colonies of New England, 19. Mai 1643, http://avalon.law.yale.edu/17th_century/art1613.asp (21. 05. 2013). 2 9 Daniel J. Elazar, Preface, in: ders./Kincaid (Hrsg.), Covenant Connection (wie Anm. 7), S. XVII.

SEKTION IV · Konfessioneller Radikalismus, prophetische Autorität und „Single Rebellion“ als politisches Sicherheitsrisiko im Zeitalter der Religionskriege

Ronald G. Asch

Konfessioneller Radikalismus als politisches Sicherheitsrisiko im Zeitalter der Religionskriege – Zur Einführung Die Ereignisse, mit denen wir selber in Europa zur Zeit konfrontiert sind, zeigen, dass Sicherheit sehr viel mit dem Vertrauen in eigentlich fiktive Entitäten zu tun hat. Solche fiktiven Größen sind das Geld ebenso wie der Staat, respektive die Handlungs- und Zahlungsfähigkeit des Staates.1 Schwindet das Vertrauen, dann gibt es auch keine Sicherheit mehr in der Realität. Nun ist das Thema dieser Sektion ein anderes, es geht nicht um Staatsschulden und Währungen, sondern um politische Gewalt und die Delegitimation von Herrschaft. Blickt man auf Westeuropa, besonders auf England und Frankreich, auf die ich mich in diesen einführenden Bemerkungen konzentrieren will, aber ähnliches lässt sich für Teile Mitteleuropas wie die östliche Schweiz konstatieren, dann können wir für die Jahre des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts eine rasche Erosion jener Strukturen beobachten, die namentlich religiös legitimierte oder motivierte Gewalt einzudämmen vermochten. Der konfessionelle Gegner wurde zum Ziel gewaltsamer Übergriffe und auch der Herrschermord, der traditionell als Frevel betrachtet worden war, mochte es in manchen Epochen des Mittelalters auch genug Beispiele für diese Form der politischen Konfliktlösung geben, wurde nun gewissermaßen hoffähig und konnte ganz offiziell gerechtfertigt werden.2 Die Radikalisierung des Denkens und Handelns setzte vor allem 1 Ich beschränkte im Folgenden die Anmerkungen auf ein Minimum und verweise auf meine

in Vorbereitung befindliche Studie „Sacral Kingship between Disenchantment and Reenchan­tment: The French and English Monarchies 1587–1688 – Representations, Practices, Interactions“, die voraussichtlich 2013/14 erscheinen wird. 2 Robert von Friedeburg (Hrsg.), Murder and Monarchy: Regicide in European History, 1300–1800, Basingstoke 2004; vgl. ders. (Hrsg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven im deutsch-britischen Vergleich (ZHF Beiheft 26), Berlin 2001; sowie Nicolas Le Roux, Un régicide au nom de Dieu. L’assassinat d’Henri III, 1er août 1589, Paris 2006; und Mario Turchetti, Tyrannie et tyrannicide de L’antiquité à nos jours, Paris 2001.

SEKTION IV · Konfessioneller Radikalismus, prophetische Autorität und „Single Rebellion“ als politisches Sicherheitsrisiko im Zeitalter der Religionskriege

Ronald G. Asch

Konfessioneller Radikalismus als politisches Sicherheitsrisiko im Zeitalter der Religionskriege – Zur Einführung Die Ereignisse, mit denen wir selber in Europa zur Zeit konfrontiert sind, zeigen, dass Sicherheit sehr viel mit dem Vertrauen in eigentlich fiktive Entitäten zu tun hat. Solche fiktiven Größen sind das Geld ebenso wie der Staat, respektive die Handlungs- und Zahlungsfähigkeit des Staates.1 Schwindet das Vertrauen, dann gibt es auch keine Sicherheit mehr in der Realität. Nun ist das Thema dieser Sektion ein anderes, es geht nicht um Staatsschulden und Währungen, sondern um politische Gewalt und die Delegitimation von Herrschaft. Blickt man auf Westeuropa, besonders auf England und Frankreich, auf die ich mich in diesen einführenden Bemerkungen konzentrieren will, aber ähnliches lässt sich für Teile Mitteleuropas wie die östliche Schweiz konstatieren, dann können wir für die Jahre des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts eine rasche Erosion jener Strukturen beobachten, die namentlich religiös legitimierte oder motivierte Gewalt einzudämmen vermochten. Der konfessionelle Gegner wurde zum Ziel gewaltsamer Übergriffe und auch der Herrschermord, der traditionell als Frevel betrachtet worden war, mochte es in manchen Epochen des Mittelalters auch genug Beispiele für diese Form der politischen Konfliktlösung geben, wurde nun gewissermaßen hoffähig und konnte ganz offiziell gerechtfertigt werden.2 Die Radikalisierung des Denkens und Handelns setzte vor allem 1 Ich beschränkte im Folgenden die Anmerkungen auf ein Minimum und verweise auf meine

in Vorbereitung befindliche Studie „Sacral Kingship between Disenchantment and Reenchan­tment: The French and English Monarchies 1587–1688 – Representations, Practices, Interactions“, die voraussichtlich 2013/14 erscheinen wird. 2 Robert von Friedeburg (Hrsg.), Murder and Monarchy: Regicide in European History, 1300–1800, Basingstoke 2004; vgl. ders. (Hrsg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit. Erträge und Perspektiven im deutsch-britischen Vergleich (ZHF Beiheft 26), Berlin 2001; sowie Nicolas Le Roux, Un régicide au nom de Dieu. L’assassinat d’Henri III, 1er août 1589, Paris 2006; und Mario Turchetti, Tyrannie et tyrannicide de L’antiquité à nos jours, Paris 2001.

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mit der Bartholomäusnacht in Frankreich 1572 ein, die in dem Reich der Valois eine Vertrauenskrise auslöste, die weit über die Protestanten hinausging und auch viele Katholiken an der Fähigkeit Karls IX., das Land zu beherrschen und zu befrieden, zweifeln ließ.3 Konfessionell legitimierte, wenn auch keineswegs notwendigerweise motivierte Gewalt, breitete sich endemisch jedoch auch auf andere westeuropäische Länder aus, von den Niederlanden bis England, Irland und Schottland. Erst nach der Mitte des 17. Jahrhunderts konnte ein dauerhafter modus vivendi zwischen den Konfessionen erreicht werden, denn trotz des Ediktes von Nantes, das die französischen Religionskriege – die freilich in den 1620er Jahren noch einmal wieder aufflammen sollten – einstweilen beendet hatte, verbanden sich noch im irischen Aufstand der 1640er Jahre ethnische und konfessionelle Elemente auf brisante Weise und auch Großbritannien blieb für gewaltsame konfessionelle Konflikte ein fruchtbares Feld. In Schottland fiel noch 1679 ein Erzbischof einem Mordanschlag radikaler Presbyterianer zum Opfer.4 Die Beiträge dieser Sektion greifen verschiedene Teilaspekte des Themas „konfessionelle Gewalt und Sicherheit“ auf. Markus Völkel konzentriert sich auf die politische Theorie der sogenannten Monarchomachen, oder genauer, auf das Geschichtsverständnis eines der prominentesten Autoren, die diesem Kreis zugerechnet werden, des spanischen Jesuiten Juan de Mariana. Andreas Pečar geht auf das einzige regicidium dieser Epoche ein, das nicht nur mit einer Herrscherabsetzung endete, dafür gibt es auch andere Beispiele, sondern mit einer öffentlichen Hinrichtung. Daran schließt sich ein Beitrag von Randolph Head an, der den Konflikten in Monarchien ein republikanisches Beispiel an die Seite stellt: die konfessionellen und politischen Auseinandersetzungen in Graubünden zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die deutlich machen, dass in Abwesenheit eines souveränen monarchischen Herrschers, der einen einheitlichen Glauben durchzusetzen vermochte, selbst tendenziell radikale Verfechter konfessioneller Ideale genötigt waren, auf die Regeln der politischen Klugheit Rücksicht zu nehmen und ein Minimum von Toleranz für akzeptabel zu erklären. In der ersten Phase der konfessionellen Auseinandersetzungen, so etwa noch im Schmalkaldischen Krieg, aber auch in der Anfangsphase der französischen Religionskriege, hatte das Widerstandsrecht lange als Vorrecht der Stände, der 3

Arlette Jouanna, Le thème polémique du complot contre la noblesse lors des prises d’armes nobiliaires sous les derniers Valois, in: Yves-Marie Bercé (Hrsg.), Complots et conjuration dans l’Europe moderne (Collection de l’Ecole Française de Rome 220), Rom 1996, S. 475–490. 4 Gordon Donaldson, Scotland, James V – James VII, Edinburgh 1965, S. 370–371, zur Ermor­ dung von Erzbischof James Sharp durch die Covenanters; vgl. Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und Gemeiner Mann im deutschbritischen Vergleich 1530 bis 1669 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 27), Berlin 1999, S. 135–147.

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magistratus inferiores, gegolten. Da die Stände selber obrigkeitliche Rechte ausübten – in besonders ausgeprägter Form zum Beispiel im Fall der deutschen Reichsfürsten – konnte man durch eine solche Theorie das Widerstandsverbot von ‚Römer 13‘ elegant umgehen. Allerdings hatte es auch schon zu diesem Zeitpunkt radikalere Positionen gegeben, namentlich im Umfeld des Calvinismus. In Schottland trat John Knox für das Recht der Kirche, ungläubige Herrscher abzusetzen, ein – nach dem Vorbild des Alten Testamentes. So wie die Propheten Israels Herrscher ein- und abgesetzt und gegebenenfalls auch bestraft hatten, so kam dieses Recht auch jetzt dem Volk Gottes, geführt von denen, die den wahren Glauben verkündeten, zu. Zwar konnte sich kein moderner Prophet darauf berufen, von Gott gesalbt zu sein und mit seinen Worten und Taten figurativ auf das Wirken Christi hinzuweisen, doch auch die Monarchie war desakralisiert. Das Kommen Christi, des einzig wahrhaft gesalbten Königs, hatte die Herrschersalbung delegitimiert und dem König das Recht genommen, als „figure of Christ Jesus“ zu erscheinen.5 Während sich im calvinistischen Bereich schon in den 1560er Jahren die Möglichkeit einer radikalen Desakralisierung monarchischer Herrschaft andeutete, machten sich theokratische Tendenzen von vergleichbarer Radikalität im Katholizismus erst später bemerkbar. Als Reaktion auf die Unterdrückung des Katholizismus in England, auf den Niederländischen Aufstand, vor allem aber auf die schwankende Haltung Heinrichs III. in Frankreich, der es verabsäumte, die Ketzer so rückhaltlos zu verfolgen, wie man es von ihm erwartete, und vor allem die Möglichkeit für eine protestantische Thronfolge nach 1584 offen ließ, spitzten sich auch im katholischen Bereich widerstandsrechtliche Argumentationen zu. Der Gedanke gewann nun an Raum, dass auch Einzelne berechtigt seien, auf eigene Faust gegen einen Tyrannen vorzugehen, ja der radikale Katholizismus, der die Ermächtigung dieser Attentäter durch einen päpstlichen Richtspruch immerhin zur Legitimation mit heranziehen konnte, gewährte der Tat des Einzelnen zunächst einen deutlich größeren Stellenwert als die protestantische Seite. Das mochte auch dadurch begründet sein, dass man sich auf katholischer Seite mit Problemen konfrontiert sah, die scheinbar durch die Beseitigung eines einzelnen Gegners, insbesondere eines ungläubigen Monarchen, wirklich lösbar waren. Das hatte für Elisabeth I. vor 1587 gegolten – bis dahin konnte Maria Stuart als ihre Erbin gelten – es galt auch für Heinrich III. und IV. von Frankreich, weniger vielleicht für Jakob I., der ja 1605 ebenfalls beseitigt werden sollte. Das Attentat mochte hier als ein Mittel erscheinen, um die – wie man meinte – strukturelle Überlegenheit der katholischen Seite im Konfessionskonflikt ohne Einschränkungen wirksam werden zu lassen. 5

John Knox, The Debate at the General Assembly June 1564, in: ders., On Rebellion, hrsg. von Roger A. Mason, Cambridge 1994, S. 182–209, hier S. 202.

Konfessioneller Radikalismus im Zeitalter der Religionskriege 219

Jedenfalls wurde der Attentäter, der sein eigenes Leben opferte, um einen Ketzer aus dem Weg zu räumen, weithin zur heroischen Leitfigur, und es war bezeichnend, dass man über den Tod des Mannes, der 1584 Wilhelm von Oranien tötete (Balthasar Gérard), meinte, er sei „a holy and living sacrifice offered to God the Lord his creator“.6 Männer wie Gérard, wie Jacques Clement, der ­Heinrich III. 1589 ermordete, oder wie Jean Châtel, der 1594 ohne Erfolg versuchte, Heinrichs IV. zu beseitigen, galten den Anhängern der militanten Heiligen Liga in Frankreich als unmittelbar von Gott inspiriert, als Propheten der Tat und als heroische Figuren, deren Heroismus eben auch das rechtfertigte, was für den normalen Sterblichen ein Verbrechen war. Einer der führenden Theologen der Liga, Jean Boucher, der 1589 schon die religiöse Rechtfertigung für die Ermordung Heinrichs III. geliefert hatte, schrieb eigens eine Apologie für Jean Châtel, in der er nochmals eingehend begründete, warum es sich hier um einen – so wörtlich – „acte heroïque“ handelte. Heroisch sei eine Handlung, die durch ihre Tugendhaftigkeit, aber auch durch „magnanimité, force courage und constance“ das Normalmaß des Menschlichen deutlich überschreite und den Menschen gewissermaßen göttlich werden lasse; „rend l’homme divin en quelque sorte“.7 Vorausgesetzt war dabei zugleich, dass solche Märtyrer-Attentäter unmittelbar göttlich inspiriert waren.8 Selbst für den, der dies bezweifelte, konnten sie immer noch wie für Mariana als eine „ewige Zierde“ ihres Landes („aeternum Galliae decus“) erscheinen.9 Wollte man solche theologischen oder historischen Argumentationsstrategien bekämpfen und das Sicherheitsrisiko begrenzen, das der konfessionelle Radikalismus darstellte, war es wichtig, zu betonen, dass im nachbiblischen Zeitalter allenfalls der König von sich behaupten konnte, in politischen Fragen von Gott inspiriert zu sein; für göttliche Offenbarungen, die sich unmittelbar an andere Individuen richteten, durfte kein Platz mehr sein.10 Niemand konnte beanspruchen, über einen besonderen göttlichen Auftrag zu verfügen, wie der Prophet Samuel im Alten Testament, der Saul abgesetzt hatte. Auch der Papst verfügte 6

Brad S. Gregory, Salvation at Stake. Christian Martyrdom in Early Modern Europe (Harvard Historical Studies 134), Cambridge/MA 1999, S. 295f. 7 Jean Boucher, Apologie pour Iehan Chastel. Parisien, executé à mort, par François de Verone Constantin [Pseudonym für Jean Boucher], [s. l.] 1610, Teil II, Kap. 1, S. 26. 8 Zu dieser Problematik siehe auch Paul-Alexis Mellet, L’ange et l’assassin: les vocations extraordinaires et le regicide jusq’au 1610, in: Marie-Luce Demonet (Hrsg.), Hasard et providence XIVe–XVIIe siècle (2007), http://umr6576.cesr.univ-tours.fr/HasardetProvidence [13. Juni 2011]. 9 Siehe unten, S. 232, Beitrag Völkel. 10 Robert Descimon/José Javier Ruiz Ibáñez, Les Ligueurs de l’exil. Le refuge Catholique Français après 1594, Paris 2005, S. 21–28; vgl. Denis Crouzet, Les fondements idéologiques de la royauté d’Henri IV’, in: Jacques Pérot/Pierre Tucoo-Chala (Hrsg.), Henri IV: Le Roi et la reconstruction du royaume, Pau 1990, S. 165–94, bes. S. 174–176, 180–182.

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aus dieser Perspektive nur über eine „ordinaria potestas“ und konnte sich auf keine besondere göttliche Offenbarung stützen, wenn er sein Amt ausübte. So jedenfalls betonte es der gemäßigte Katholik William Barclay, der große Gegner der Monarchomachen, in seinem Werk „De potestate Papae“ von 1609.11 Auf protestantischer Seite spielte der individuelle Attentäter zunächst zumindest in der Praxis eine deutlich geringere Rolle, obwohl in der Bibel-Exegese Gestalten wie Samson oder Ehud durchaus als „heroes divinitus excitati“ hervorgehoben wurden.12 In Frankreich versprach die Beseitigung des Königs selbst vor 1589 für Protestanten nur einen begrenzten politischen Profit und nach diesem Datum war gerade die Loyalität gegenüber dem legitimen Herrscher aus protestantischer Sicht die einzige Option. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der Positionen des französischen Protestantismus distanzierten sich auch in England viele Theologen und Theoretiker von einem aktiven Widerstandsrecht.13 Der Ausbruch des Bürgerkrieges 1642 ließ die Gegner des Königs, die ihren Kampf anfänglich durchaus im Namen des Königs als Rechtsperson gegen den König als natürliche Person geführt hatten, freilich kritischer gegenüber der monarchischen Herrschaft an sich werden. Trotz mancher Anleihen bei naturrechtlichen und republikanischen Argumentationen war es am Ende aber wohl eher eine biblizistisch-theokratische Auffassung von Herrschaft, die den Ausschlag dafür gab, Karl I. 1649 hinzurichten, wie Andreas Pečar in seinem Beitrag hervorhebt. Allerdings legte man Wert darauf, den König auf dem Wege eines förmlichen öffentlichen Prozesses aus dem Weg zu räumen und für seine Verfehlungen zu bestrafen. Wohl gerade weil heimlich vorbereitete Attentate sich auf katholischer Seit als Mittel des Widerstandes gegen vermeintliche Tyrannen in der Vergangenheit einer gewissen Beliebtheit erfreut hatten, schied diese Form des regicidium in England ausdrücklich aus. Hinzu kam das auch in England sehr sichtbare Bemühen, sich vom religiösen Radikalismus in jeder Form eher zu distanzieren, wie man das ähnlich auch im kleinräumigen Graubünden feststellen kann.14 Auch wenn von Cromwell und anderen Gegnern Karls I. die 11

William Barclay, ‚De Potestate Papae‘, vgl. ders., De potestate papae liber posthumus eiusdem de regno et regali potestate, adversus Buchanum […] et reliquos monarchomachos, libri VI, Hanau 1612, bes. S. 140 und 143. 12 Robert von Friedeburg, Bausteine widerstandsrechtlicher Argumente in der frühen Neuzeit (1523–1668). Konfessionen, klassische Verfassungsvorbilder, Naturrecht, direkter Befehl Gottes, historische Rechte der Gemeinwesen, in: Christoph Strohm/Heinrich de Wall (Hrsg.), Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit (Historische Forschungen 89), Berlin 2009, S. 116–66, hier S. 143–146. 13 Glenn Burgess, Religious War and Constitutional Defence: Justifications of Resistance in English Puritan Thought, 1590–1643, in: Friedeburg (Hrsg.), Widerstandsrecht (wie Anm. 2), S. 185–206, bes. S. 189–196. 14 Glenn Burgess, Was the English Civil War a War of Religion? The Evidence of Political Propaganda, in: Huntington Library Quarterly 61, 2 (1999/2000), S. 173–201.

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Hinrichtung des Königs auch als Einfallstor für die zukünftige Königsherrschaft Christi gesehen wurde, wie Andreas Pečar in seinem Beitrag zeigt, galt es doch den Prozess gegen den Herrscher als ein Verfahren zu präsentieren, das auch für diejenigen akzeptabel war, die zwar das Streben nach Freiheit teilten, aber nicht das nach einem Gottesreich auf Erden oder gar bereit waren, eine prophetische Vollmacht inspirierter Einzelner in der Politik der Gegenwart anzuerkennen. Es gab freilich genug Bibelstellen wie nicht zuletzt die Beschreibung des Exodus des Volkes Israel aus Ägypten, die es erlaubten, beide Argumentationslinien, die Berufung auf die Herrschaft Gottes und auf die Freiheit als höchstes Gut, gleichzeitig zu verfolgen.15 Dennoch stellte sich in dem Augenblick, als das Scheitern der Republik absehbar wurde, also seit Ende der 1650er Jahre, auch in England die Frage, ob nicht auch ein Einzelner berechtigt sein könne, gewaltsam gegen einen Herrscher vorzugehen. Milton’s Samson Agonistes von 1671 konnte man jedenfalls als Rechtfertigung einer solchen „single rebellion“ lesen, die für ein Christentum, das an die unmittelbare Inspiration des Einzelnen jenseits kirchlicher Strukturen glaubte, keineswegs abwegig war.16 Wie Randolph Head zeigt, war der politische Mord auch in einem so relativ entlegenen Gebiet wie Graubünden für manche Protestanten durchaus ein probates Mittel der politischen Auseinandersetzung. Es gab freilich im protestantischen Bereich wohl nie einen so prononcierten Kult des Märtyrerattentäters, wie er zeitweilig in der Endphase der französischen Religionskriege im katholischen Bereich um sich griff, ein Kult, der ein Echo auch noch in Spanien fand, wie die Schriften von Juan de Mariana, so wenig eindeutig sie in manchen Passagen sind, zeigen, denn ob sie nun an sich zu billigen war oder nicht, so bot die Ermordung Heinrichs III., wie Mariana sie darstellte, doch in jedem Fall ein Exempel, das andere Herrscher davon abschrecken konnte, sich ihren religiösen Pflichten zu entziehen. Generell könnten wir überdies im Zuge der Religionskriege feststellen, wie sich das Bild des Märtyrers und des Martyriums änderte. Der Märtyrer war nicht mehr in erster Linie das unschuldige und ohnmächtige Opfer, er war selber Täter und Held oder Täterin, der im politischen Kampf für den wahren Glauben starb, wie etwa Peter Burschel in seiner Studie über den Märtyrerkult hervorgehoben hat. Zugleich, das hat für England Thomas Freeman gezeigt, wurde die Passion Christi stärker als in der Vergangenheit zum Vorbild für das 15

John Coffey, England’s Exodus, The Civil War as a War of Deliverance, in: Charles W. A. Prior/Glenn Burgess (Hrsg.), England’s Wars of Religion, Revisited, Farnham 2011, S. 253–280. Vgl. allgemein Glenn Burgess, British Political Thought, 1500–1660, Basingstoke 2009, S. 234–241. 1 6 Richard W. Serjeantson, Samson Agonistes and „Single Rebellion“, in: Nicholas McDowell/­ Nigel Smith (Hrsg.), The Oxford Handbook of Milton, Oxford 2009, S. 613–631, hier S. 625f.

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Leben und Sterben von Märtyrern oder jedenfalls für die Konstruktion solcher Biographien in hagiographischen Schriften. Das Martyrium wurde politisiert und zugleich dem Modell der imitatio Christi angenähert.17 Für Herrscher, die in den Verdacht gerieten, nicht rechtgläubig zu sein, stellte der Märtyrerheld, trotz oder wegen dieser christologischen Deutungen eine erhebliche Gefahr dar. Dass Herrscher, die selber Opfer von Gewalttaten wurden, ihrerseits zu Märtyrern in der Nachfolge Christi stilisiert wurden – wie dies mit gewissen Einschränkungen mit Heinrich IV. nach 1610 oder sehr viel stärker mit Karl I. von England ab 1649 geschah – oder sich selbst in dieser Rolle darstellten, muss auch als Gegenstrategie gegen die Heroisierung und Politisierung des Martyriums verstanden werden. In traditionellen Darstellungen wird die Eindämmung konfessionell motivierter oder legitimierter Gewalt, die erneut politische Sicherheit verbürgen sollte, oft als Sieg eines säkularisierten oder sich zumindest schrittweise säkularisierenden Staates über die streitenden Konfessionsparteien gesehen. Indem die theologischen Wahrheitsansprüche relativiert und die Kirchen der uneingeschränkten Souveränität des Staates unterworfen wurden, wurde der religiöse Bürgerkrieg überwunden. Das war zumindest das Rezept, das Thomas Hobbes in seinem Leviathan von 1651 anbot, um das Chaos zu beenden. Allerdings darf dieser Aspekt der Säkularisierung der politischen Ordnung nicht überbetont werden. In Frankreich können wir als Reaktion auf die Religionskriege und auf den Mord an Heinrich III. 1589 eher eine prononcierte Resakralisierung der Monarchie beobachten. Dass der französische König ein halb geistliches Amt innehatte, wurde nach 1594, als Heinrich IV. in Chartres gekrönt wurde, mit größerem Nachdruck denn je betont, und zu Recht ist von Denis Crouzet und anderen betont worden, dass die Säkularisierung der Politik die emphatische Sakralisierung der Person des Monarchen geradezu zur Voraussetzung hatte.18 Sicher vor Attentätern konnte nur ein Herrscher sein, der selber an der Sphäre des Sakralen Anteil hatte. Im Gegensatz zu älteren Vorstellungen von der Rolle des Monarchen entwickelte sich nun allerdings eine starke Tendenz, das Amt des Königs in seiner menschlichen Person aufgehen zu lassen. 17

Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der Frühen Neuzeit, München 2004, S. 281; Thomas S. Freeman, Imitatio Christi with a Vengeance: The Politicisation of Martyrdom in Early Modern England, in: ders./Thomas F. ­Mayer (Hrsg.), Martyrs and Martyrdom in England (Ancien Régime, Aufklärung und Revolu­ tion 35), Woodbridge 2007, S. 35–69, bes. S. 57–61. 1 8 Joël Cornette, Henri IV à Saint-Denis. De l’abjuration à la profanation, Paris 2010, S. 111; Denis Crouzet, Le Haut Cœur de Catherine de Médicis, Paris 2005, S. 566; Thierry Amalou, Le Lys et la Mitre. Loyalisme monachique et pouvoir episcopal pedant les Guerres de Religion (1580–1610), Paris 2007, bes. S. 344: “Pour autant cette religion civique est tout sauf une sécularisation”. Vgl. auch S. 472.

Konfessioneller Radikalismus im Zeitalter der Religionskriege 223

Der mystische Körper des Königs war in Frankreich im 17. Jahrhundert nicht mehr zu trennen von seinem sterblichen Leib. Dass dies in einer späteren Phase der Monarchie, als die Schwächen des Monarchen als Mensch allzu deutlich wurden, auch zur Gefahr werden konnte, wurde zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch nicht in vollem Umfang deutlich. In England trug die Antwort auf die Bedrohung durch konfessionell legitimierte Gewalt, wie sie 1605 im Gun Powder Plot und 1649 im Königsmord kulminierte, deutlich andere Züge. Auf der Ebene der politischen Theorie entwarf, wie bereits betont, Thomas Hobbes im Leviathan das Modell eines Herrschers, der in gewisser Weise zugleich Prophet und weltlicher Machthaber war und der selber bestimmen konnte, was als Offenbarung zu gelten hatte. Damit war der Weg für einen Angriff, der sich durch eine prophetische Vollmacht rechtfertigte, versperrt. Allerdings blieb bei Hobbes letztlich offen, ob dieser Herrscher wirklich ein Erb-Monarch im traditionellen Sinne sein konnte. Für die wiederhergestellte Monarchie war dieses Modell nach 1660 daher auch kaum brauchbar. Zu stark blieb sie angewiesen auf die Unterstützung durch eine kirchliche Hierarchie, die sich selbst göttlich legitimiert sah und keineswegs gewillt war, sich unter das Joch eines rein erastianischen Kirchenregimentes zu beugen. Karl I. selber hatte im Moment seines Todes ohnehin eine ganz andere Antwort auf den Königsmord.19 Er nahm die Rolle des Opfers und Märtyrers bewusst an und betonte auf diese Weise die Nachfolge Christi, in der der Herrscher stand. Das Problem dieses Modells sakraler Herrschaft war, dass es auf ein ganz bestimmtes konfessionelles Publikum zugeschnitten war.20 Das Martyrium als Legitimation von Herrschaft mochte im Übrigen brauchbar sein, wenn es mehrere Jahrhunderte zurücklag wie beim Heiligen Ludwig in Frankreich oder, wenn es sich wie bei Heinrich IV. mit dem militärischen Sieg über die politischen Gegner und dem geistigen respektive spirituellen Sieg über sich selber verband, aber nicht, wenn es nur die Niederlage verewigte. Sicherheit im Sinne von politischer Stabilität war durch die Perpetuierung der politischen und konfessionellen Frontstellungen des Bürgerkrieges ohnehin nicht zu gewährleisten. Nicht nur in England hatten die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen oder politischen Richtungen, die unter einem konfessionellen Banner kämpften, noch einmal jene große Streitfrage aufgeworfen, die schon im Mittelalter immer wieder im Vordergrund gestanden hatte, nämlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen sacerdotium und imperium, die keineswegs ob 19

Jeffrey R. Collins, The Allegiance of Thomas Hobbes, Oxford 2006; und Jon Parkin,­­Taming the Leviathan: The Reception of the Political and Religious Ideas of Thomas Hobbes, 1640–1700, Cambridge 2007. Zu Hobbes vgl. auch den Beitrag von Quentin Skinner in diesem Band; und Quentin Skinner, Hobbes and Republican Liberty, Cambridge 2008. 2 0 Andrew Lacey, The Cult of King Charles the Martyr, Woodbridge 2003.

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solet geworden war, denn sowohl von katholischer als auch von calvinistischer Seite sahen die Inhaber weltlicher Herrschaftsrechte sich mit implizit oder explizit theokratischen Autoritätsansprüchen konfrontiert. Der Papst hatte auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen in den französischen Religionskriegen Heinrich III. von Frankreich 1589 exkommuniziert und auch Heinrich IV. musste nach seiner Thronbesteigung sechs Jahre warten, bevor er vom Papst aus dem Kirchenbann gelöst wurde. Elisabeth I. von England hingegen war bekanntlich schon 1570 durch eine päpstliche Bulle aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen worden. Der prononcierte Gallikanismus der Anhänger des Königs von Navarra in der Endphase der französischen Religionskriege setzte sich nach der Ermordung Heinrichs IV. 1610 in dem Versuch fort, dem Papst jedes auch noch so abgeschwächte Richterrecht in politischen Fragen zu bestreiten und die französische Kirche noch weiter als bisher seiner Aufsicht außer in Fragen der Kirchenlehre zu entziehen.21 Um eine ähnliche Einschränkung potentiell theokratischer Herrschaftsansprüche war es schon Jakob I. im Oath of Allegiance von 1606 gegangen. Auch er versuchte, die Autorität des Papstes, aber letztlich auch jeder anderen geistlichen Instanz, auf eine Herrschaft über die Gewissen zu beschränken. Diesen Raum des Gewissens ließ man frei, um so gemäßigte Anhänger einer oppositionellen Konfession doch noch für die eigene Sache zu gewinnen oder zumindest von Gewalttaten abzuhalten, eine Befriedungsstrategie, die in England und Irland bei vielen Katholiken zwischen 1606 und 1688 durchaus ein gewisses Echo fand.22 Wichtig an dieser vorerst letzten Phase des Kampfes zwischen sacerdotium und imperium war, dass er, wenn auch auf Umwegen den Weg bereitete für den modernen Dualismus zwischen „privatem“ Gewissen und persönlicher Religiosität auf der einen Seite und einem Staat auf der anderen, der sich von der Autorität der Kirche emanzipiert hatte, wie Jeffrey Collins noch jüngst in einer großen Studie über Thomas Hobbes hervorgehoben hat.23 Allerdings war dieser Staat keineswegs notwendigerweise säkularisiert, sondern fand sein Fundament, wie bereits betont, oft in einer betonten Re-Sakralisierung des Königtums. Diese mochte sich zwar in England nach 1688 und 1714 wieder abschwächen, aber der Monarch blieb durch sein persönliches Glaubensbekenntnis Garant des konfessionellen status quo, oder, wie der finnische Historiker Pasi Ihalainen es formuliert hat: „the monarch was no longer seen as a God-sent deliverer of an 21

Sylvio Hermann de Franceschi, La Crise théologico-politique du premier âge baroque. Antiromanisme doctrinal, pouvoir pastoral et raison du prince. Le Saint-Siège face au prisme Français (1607–1627), Rom 2009. 2 2 Stefania Tutino, Law and Conscience. Catholicism in Early Modern England, 1570–1625, Aldershot 2007, S. 117–134 und 165–168, vgl. dies., Thomas White and the Blackloists: Between Politics and Theology during the English Civil War, Aldershot 2008. 2 3 Collins, The Allegiance (wie Anm. 19), S. 279.

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oppressed Protestant people, but rather as fellow Christian who had particular duties in showing his subjects how they should lead virtuous and pious lives“.24 Diese Individualisierung des Religiösen, die einen Ausgleich zwischen den Konfessionen erleichtern konnte und nun auch das Königtum erfasste, verband sich tendenziell in England nach 1688 mit einer neuen Form von „civil religion“, die, wenn wir im Anschluss an Justin Champion diesen Ausdruck verwenden wollen25, den reformatorischen und aufklärerischen Antiklerikalismus ergänzte durch einen relativ unspezifischen, aber dennoch wirkungsmächtigen Glauben an die Bedeutung der göttlichen Vorsehung als Legitimationsgrundlage politischer Herrschaft. Etwas von dieser politischen Grundeinstellung, die im „providential deism“ des aufgeklärten 18. Jahrhunderts26 ebenso wurzelt wie im älteren mit der Prädestinationslehre verbundenen Providentialismus des Puritanismus, lebt auch als Erbe des Zeitalters der konfessionellen Auseinandersetzungen, wenn schon nicht in Großbritannien, so doch zumindest in Amerika, bis heute fort. Mag nun auch an die Stelle der Auserwähltheit des Monarchen als Werkzeug der Vorsehung endgültig die Auserwähltheit der Nation als Instrument des Heils getreten sein.27 Der Glaube an eine missionarische Sendung des eigenen Landes kann allerdings bestehende „culture wars“, die einem manchmal durchaus als das Äquivalent zu den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts erscheinen mögen, ebenso verstärken, wie er in besseren Zeiten als Garant der Einheit und Sicherheit einer eigentlich sehr heterogenen politischen Gemeinschaft zu fungieren vermag.

24

Pasi Ihalainen, Protestant Nations Redefined: Changing Perceptions of National Identity in the Rhetoric of the English, Dutch and Swedish Public Churches, 1685–1772 (Studies in medieval and reformation traditions 109), Leiden 2005, S. 348. 2 5 Justin A. Champion, The Pillars of Priestcraft Shaken: The Church of England and its Enemies 1660–1730, Cambridge 1992, S. 173, 207, 221–222. Wie Champion betont, ging es Republikanern wie John Toland um 1700 darum, eine Einheit von Staat und Religion (im Sinne eines Staatskultes letztlich) herzustellen, auf der Basis einer neuen „civic theology“, für die die virtus des Bürgers wichtiger war als die traditionellen Dogmen des Klerus. 2 6 Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge/MA 2007, S. 221–234. 27 Über „civil religion“ in Amerika siehe Robert N. Bellah, The Broken Covenant: American Civil Religon in Time of Trial, 2. Aufl. Chicago 1992; vgl. Civil Religion in America, in: Daedalus 134 (2005), S. 40–55; siehe auch George Washington International Law Review 41,4 (2010) (special issue: Civil Religion in the United States and Europe), besonders den allerdings skeptischen Beitrag von Frederick Gedicks, American Civil Religion: An Idea Whose Time is Past, S. 891–908.

Markus Völkel

Die historischen Grundlagen der Lehre vom Tyrannenmord bei Juan de Mariana und ihre Implikationen I. Einleitung

Juan de Mariana SJ (1536–1624) gehört zweifellos zu den großen europäischen Figuren des politischen Denkens und der Historiographie um 1600. Obwohl das Interesse an ihm in den letzten Jahren stark zugenommen hat, man denke an Harro Höpfls „Jesuit Political Thought“ und Harald Brauns „Juan de ­Mariana and Early Modern Spanish Political Thought“, kann man nicht sagen, der ­Autor sei nun fundamental neu vermessen worden. Der Grund dafür liegt in der Ausklammerung der umfangreichen religiösen und historischen Werke, deren argumentative Wichtigkeit zwar immer wieder betont wird – Mariana denke seine Theorien vor allem als ‚Historiker‘ – aber in extenso bislang nicht nachgewiesen wurde.1 Auf die Intertextualität des Werkes des Verfassers von „De rege et regis institutione libri III“ wurde zwar immer wieder hingewiesen, diese dann aber auch wieder mutlos liegengelassen; so in den Worten von Harald Braun: „Mariana identifiziert seine Quellen nur selten. Er ist darauf aus, Wissen in etwas umzuwandeln, das sowohl sein ‚eigenes‘ ist als auch durch ‚Autoritäten‘ bestätigt ist. Er folgt der humanistischen Praxis, wie sie sich von Seneca in den ‚Epistolaemorales‘, lxxxiv, 3–9, inspirieren läßt.“2 Bislang schlägt Mariana seine modernen Leser also mit seinen eigenen Waffen, insofern sie ihn in einem Diskurs ansiedeln, aber dann doch keine rechte Lust haben, diesen aufzulösen.3 Das beschränkte Format 1

Vgl. Harald Braun, Juan de Mariana and Early Modern Spanish Political Thought, Aldershot 2007, S. 111: „Mariana is adamant that historical experience does not just complement, but enhance, and indeed far exceed ‚pure human reason‘“. Siehe auch S. 112: „What makes the study of history absolutely indispensable is the fact that tutors and counsellors will not always dare to speak their minds. History is ‚the mute teacher‘ of prudence who speaks, where others do not even dare murmur a word‘.“ 2 Ebd., S. 65, Anm. 12. 3 Überdeutlich verficht diese Ideen das immer noch nicht ersetzte Standardwerk über den ‚Historiker Mariana‘ des französischen Hispanisten George Cirot, Mariana Historien, Bordeaux/Paris 1904, S. 354–355: „écarterions-nous cette idée que, dans son Histoire d’Espagne, Mariana aurait voulu donner quelque chose comme ‘la confirmation pratique et expérimentale des principes du ‚De rege‘“. Ebd., S. 357: „Il n’a mis dans son Histoire que les miettes de ses doctrines.“ Geschichtsschreibung und politische Philosophie seien getrennt, weil Mariana im Vorwort zu De Rege behaupte, er wolle dieses Werk aus den Exempla verfertigen, die er in den historischen Autoren bei der Arbeit an der Geschichte gefunden habe. Nimmt man aber das Mittelalter wie Frühe Neuzeit übergreifende Konzept des Exemplum ernst, dann müsste eben diese ‚exemplarische Verflechtung‘ zwischen politischer Theorie und Geschichtsschreibung den Gedanken nahe legen, dass wir als historisches Ereignis verwirklicht und bewertet sehen, worüber die politische Theorie

Tyrannenmord bei Juan de Mariana und ihre Implikationen 227

dieser Ausführungen genügt natürlich nicht im Mindesten, dies nachzuholen, aber sie wollen doch versuchen, einige Fragmente der hartnäckig verleugneten historiographischen Basis – im Werk wie zeithistorisch – freizulegen. Kurz gesagt, dieser Beitrag will einige neue Schlaglichter auf den Zusammenhang von Historiographie und Sicherheit/Unsicherheit am Beispiel der Konstruktion des Tyrannenmordes in „De Rege“ werfen.

II.  Die Entstehungssituation von „De Rege“: ­­Sicherheit oder ­Unsicherheit?

Das Ende der langen Regierungszeit Philipps II. war von Ermüdung und Enttäuschung gekennzeichnet. Die Mannschaft um den Monarchen wusste zwar, was sie dem unermüdlichen Aktenleser verdankte, aber ihr Phrasen gesättigtes Lob für ihn hatte sich längst von der Staatsraison, an die sie eben auch dachte, losgelöst. Es überrascht deshalb nicht wirklich zu lesen, dass das große monarchische Vorbild für die kastilischen Räte Elisabeth I. von England war, scheuten sie doch nicht davor zurück, in ihren Häusern neben ihrem Porträt auch das von Sir Francis Drake aufzuhängen.4 Dennoch bestand angesichts eines zwanzigjährigen Thronfolgers keine dynastische Unsicherheit und schon gar kein Zweifel über dessen Unfähigkeit und Unwillen, selbst zu regieren.5 Dies ist der Kontext, in dem Mariana seit etwa 1589 einen „Prinzen- oder Fürstenspiegel“ schrieb, wahrscheinlich im Auftrag von García de Loaysay Giron (1534–1598/99), dem Almosenier und Kaplan, den Philipp II. zum Erzieher für seinen Sohn bestellt hatte.6 Loaysa war 1599, genau ihr Urteil endlos hinauszögert; vgl. vor allem Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policratus“ Johanns von Salisbury, 2. Aufl. Hildesheim/Zürich/New York 1996. 4 Henry Kamen, Felipe de España, Madrid 1997, S. 339, zitiert einen Brief Juan de Silvas an Cristóbal de Moura: „Estas dos personas nos handado mejor a conocer el mundo que fray Luis de Granada.“ 5 Eine wenig schlüssige Gegenthese zu den Regierungsfähigkeiten Philipps III. findet sich bei Paul C. Allen, Philipp III and the Pax Hispanica, 1598–1621, New Haven/London 2000. 6 García de Loaysa y Girón, Pedro (1542–1599) wurde, wie Mariana, im nahe Toledo gelegenen Talavera de la Reina geboren und studierte Philosophie und Theologie in Alcalá de Henares. Dem bedeutenden Domkapitel von Toledo gehörte er bis 1585 an, als er von Philipp II. nach Madrid berufen wurde, um dort die Erziehung seines Sohnes und Nachfolgers Philipp III. zu leiten. Zusätzlich fungierte er als Almosenier, Mitglied des Consejo de Inquisicíon und Kaplan des Herrschers. Im Schlüsseljahr 1598 wurde er zum Erzbischof von Toledo berufen, starb aber, ohne den Kardinalshut erlangt zu haben. Loaysas Rolle bei der Erziehung des Thronfolgers war von großer Wichtigkeit, fand aber angesichts des introvertierten und schüchternen Charakters seines Zöglings auch rasch ihre Grenzen. Gleichwohl machte ihn Philipp II. noch zum Mitglied des Staatsrates, den er zur Unterstützung seines Sohnes nach seinem Tod vorgesehen hatte. Diesen löste der neue Favorit (privado) Lerma aber rasch auf, so dass Loaysa rasch Gelegenheit fand, sich nach Toledo

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in dem Jahr, in dem „De Rege“ erschien, Erzbischof von Toledo geworden. Man darf annehmen, dass allein die kurze Amtszeit des Mariana eng verbundenen Prälaten die Drucklegung des Werkes ermöglichte. War Philipp III. auch gänzlich anders erzogen worden, als Mariana dies vorsah, so kann „De Rege“ doch als eine Art Idealprogramm gelten, das Loaysa vorgeschwebt hatte und nunmehr als indirektes politisches Bekenntnis des neuen Primas von Spanien der Öffentlichkeit vorgelegt wurde. Loaysa sollte ja im neugebildeten Consejo de Estado ausdrücklich eine Führungsrolle einnehmen. Über diesen Rechtfertigungsaspekt hinaus war aber bereits vor dem Regierungswechsel von 1598 klar geworden, dass sich der Regierungsstil drastisch ändern würde. Vom allein mit wenigen ­Juntas entscheidenden König würde der Weg zurück zu den alten Consejos de ­Estado führen und zu einer gänzlich in Vergessenheit geratenen Mitwirkung des hohen Adels.7 Das führt zu der Frage, an wen sich „De Rege“ nun eigentlich richtete, und man geht nicht fehl in der Vermutung, dass die Schrift die erwähnte Einschätzung eigentlich abbilden sollte. Die Ausgangslage ist also einigermaßen paradox. „De Rege“ bezieht sich natürlich auf den Solitär im Machtgefüge, aber doch schon so, dass sich das Werk vermehrt auf das Umfeld des Monarchen und seine Verantwortlichkeit richtet, was bedeutet, dass sich auch die Frage des Tyrannenmordes aus dieser verschobenen Perspektive stellt. Das heißt, es geht bereits um einen Typus von Monarchen, der wieder in ältere Abhängigkeiten zurückgeglitten ist, die sich aber ihrerseits mit neuen Formen der Öffentlichkeit verbinden können. Und genau hier stellt sich das Problem des Tyrannenmordes, und zwar fast selbstverständlich in einer verstärkt ‚historischen Perspektive‘.

III. Tyrannenmord und Geschichte

Die Grundthese Marianas ist einfach zu rekapitulieren: Die Regierungsgewalt geht permanent vom Volk aus. Sie kann zwar an einen erblichen König delegiert werden, der die Kriegführung und die Einsetzung von Richtern als Grundrecht übereignet erhält, wobei aber die Zustimmung zu den Steuern und die Überwachung der Fundamentalgesetze (leyes fundamentales) stets beim Volk bleiben, ebenso wie die Rede- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht, Waffen zu tragen. Die Definition des Tyrannen läuft im Grunde auf seine konsistente Verweigerung der Einhaltung seiner Grundpflichten hinaus: Gerechtigkeit und an seinen Amtssitz zurückzuziehen. Er verschied nach kaum sieben Monaten Amtszeit in Alcalá de Henares. 7 Vgl. zum Regierungsstil des Herrschers Antonio Feros, Kingship and Favouritism in the Spain of Philip III, 1598–1621, Cambridge 2006, und Patrick Williams, The Great Favourite: the Duke of Lerma and the Court and Government of Philip III of Spain, 1598–1621, Manchester 2006.

Tyrannenmord bei Juan de Mariana und ihre Implikationen 229

Wohlstand, ja das Glück der Bürger und die Respektierung der Grundgesetze. Es herrscht Beratungspflicht für den Monarchen und umgekehrt die Verpflichtung des Volkes, sich in beratungsfähigen Organen zu organisieren. Der Fall der Fälle, die Unumgänglichkeit des Tyrannenmordes, tritt dann ein, wenn ein Herrscher die Fähigkeit eines Volkes, sich selbst als einziges politisches Telos zu bewahren, nachhaltig angreift. Mit den Worten Marianas: „id agit, ut cives omnibus malis oppressi miserrimam vitam agant: singulos, universos patriis possessionibus iniuria pellit, ut in omnium fortunis solus dominetur“.8 Dass nun ein Tyrann ermordet werden kann, ist in dieser Perspektive nichts Unbilliges, setzt doch das Volk seinerseits, ohne zu zögern, sein Leben für das Vaterland und die Ehre des Herrschers ein. Wer dieses Opfer annimmt, entkommt der Äquivalenzrelation nicht mehr: „Equidem in eo consentire tum philosophos tum Theologos video, eum Principem qui vi et armis rempublicam occupavit, nullo praeterea iure, nullo publico civium consensu, perimi a quocumque, vita principatu spoliari posse.“9 Die Gewalt, die er ausübt, fällt voll auf ihn zurück. Diese Gewalt reziprok anzuwenden, steht im Notfall jedem Einzelnen zu, ausnahmslos! Gehen wir nun kurz zu den drei Kapiteln des Buches I., in denen Mariana seine Theorie – und man kann sagen, teilweise auch die ‚Praxis‘ – des Tyrannenmordes ausführt. Das Kapitel V, „Unterschied zwischen König und Tyrann“, bringt zwei positive und zwei negative historische Beispiele. Die positiven sind der römische Konsul Paulus Aemilius und der kastilische König Heinrich III., „El Doliente“ (1379/1390–1406), die beide dem Staat große, rechtmäßig erworbene Reichtümer hinterließen. Die negativen Beispiele sind Kaiser Nero und Tarquinius Superbus, der letzte König in Rom. Nero zeichnete sich hier durch den Einsatz von landfremden Söldnern gegen seine Landsleute aus, Tarquinius ließ den Senat verwaisen und behielt allein sich das Recht auf die Todesstrafe vor. Wichtig an diesen Beispielen ist, dass nicht der Name allein schon den Tyrannen bezeichnet, sondern deutliche politische Strategien, die schon weit im Vorfeld von künftigen Ereignissen Gefahr anzeigen. Ein Tyrann ist für Mariana somit weniger ein politischer Typus als ein Mann mit klaren Konzepten.10 8

Juan Mariana, De Rege et eius institutione libri tres, Toledo 1599, S. 65: „so handelt er [der Tyrann], dass die Bürger, von allen Übeln bedrückt, ein erbärmliches Leben führen, auch die Einzelnen um ihr väterliches Erbe bringt, um sich zum Herren des Schicksals aller zu machen.“ 9 Ebd., S. 74–75: „Darin nämlich sehe ich Philosophen wie Theologen übereinstimmen, dass der Fürst, der mit Gewalt und Waffen sich den Staat unterworfen hat, ohne vorige rechtliche Befugnis, ohne öffentliche Zustimmung der Bürger, von jedermann vertilgt und des Lebens und der Regierung beraubt werden kann.“ 10 Mariana konnte in seiner Definition des Tyrannen vor allem an seine Kenntnisse und Beurteilungen der zahlreichen ‚tyrannischen‘ Herrscher des spätmittelalterlichen Kastilien

230 Markus Völkel

Das folgende Kapitel VI, „Ob es erlaubt sei, den Tyrannen zu töten“, bringt den einzigen – man könnte sagen – erzählerischen historischen Bericht über das Attentat auf Heinrich III. am 1. August 1589 in Saint-Cloud. Anders als sie es sonst tut, illustriert hier die Historie nichts, sondern sie wird selbst zum Brennpunkt der Interpretation, das heißt zum Ort, an dem man alle Argumente pro und contra den Tyrannenmord anbinden kann. Mariana ist über den Vorgang erstaunlich gut informiert und kann es sich deshalb leisten, ein differenziertes Urteil über den König und seinen Mörder zu fällen, das dann mit dem berühmten Satz schließt: De facto monachi non una opinio fuit. Multis laudantibus atque immortalitate dignum iudicantibus, vituperant alii prudentiae et eruditionis laude praestantes, fas esse negantes cui quam privata auctoritate Regem consensu populi renunciatum, sacroque oleo de more delibitum sanctumque adeo perimere.11

Die nachfolgende Diskussion der Rechtmäßigkeit der Tat bedient sich der klassischen exempla von Saul und David, der Ermordung Neros bei Tacitus (Annales, XV, 67–68) und der Rechtmäßigkeit der Verdammung der Proposition „Quilibet tyrannus“ in der Session XV (06. 07. 1415) des Konzils von Konstanz.12 Das Kapitel VII, „Ob man den Tyrannen durch Gift töten darf “, bringt sich Mariana bemerkenswerterweise selbst ins Spiel. Diese Frage habe ihm ein Fürst in Sizilien gestellt, als er in Messina von 1567–69 Theologie las, genauer casus conscientiae. Wäre das Schwert nicht besser? Dürfen List und Täuschung den Tyrannenmord begleiten? Mariana lehnt das als „contro las leyes de la naturaleza“ ab. Die exempla dazu stammen ausschließlich aus der spanischen mittelalter­ lichen Geschichte: Carlos II. el Malo (1322/1349–1387) von Navarra, Mohamed de ­Guadix (+1392) und Jussuf von Granada (+1392), wobei den Mauren der beson-

anknüpfen, vgl.: José Manuel Nieto Soria, Rex inutilis y tiranía en el debate político de la Castilla bajo medieval, in: François Foronda/Jean Philippe Genet/José Manuel Nieto Soria (Hrsg.), Coups d’État à la fin du Moyen Âge? Aux fondements du pouvoir politique en Europe occidentale (Collection de la Casa de Velásquez 91), Madrid 2005, S. 73–92; vgl. auch José Manuel Nieto Soria, El tiranicidio entre el teologismo y el humanismo: una influencia portuguesa y dos italianas, in: Manuel Gonzáles Jiménez/Isabel Montes RomeroCamacho (Hrsg.), La península Ibérica entre el Mediterraneo y el Atlantico, Cadiz 2006, S. 525–534. 11 Mariana, De Rege (wie Anm. 8), S. 69–70: „Über die Tat des Mönchs waren die Meinungen geteilt. Während ihn viele Lobende der Unsterblichkeit würdig befanden, tadelten andere, die sich durch Klugheit und Bildung hervortaten, es sei ein Verbrechen, dass jemand ‚aus eigener Autorität‘ und ohne Konsens des Volkes einen König zurückweise, und also den mit dem heiligen Salböl geweihten vertilge“. 12 Zum Gesamtzusammenhang des Tyrannenmordes Mario Turchetti, Tyrannie et tyrannicide de l’Antiquité à nos jours, Paris 2001, zu Konstanz § 13, zur „Tyrannomanie Jésuitique“ § 21.

Tyrannenmord bei Juan de Mariana und ihre Implikationen 231

ders schlechte Ruf anhängt, vergiftete Geschenke an ihre christlichen Kollegen zu senden. Der Giftmord bleibt also untersagt. Was lässt sich nun aus diesem komplexen Argumentationsmuster in den drei entscheidenden Kapiteln folgern? Der Tyrannenmord ‚hängt‘ gleichsam zwischen zwei Extremen ‚historischer Analyse‘. Auf der einen Seite finden sich die historischen exempla ‚alten Stils‘. Sie sind unstrittig und damit beweisend. ­Davids unerschütterlicher Respekt für die heilige Person von König Saul leuchtet die Schutzzone eines Gesalbten des Herrn aus. Was Tacitus über die Pisonische Verschwörung berichtet, beinhaltet seinerseits alle Indizien für das Handeln eines Tyrannen und die Notwehr der Verschwörer.13 Exemplarität in den Geschichten fungiert hier ihrerseits als Beweismittel dafür, dass der Tyrannenmord rechtens ist. Ihre Überlieferung und die Diskurse, biblisch wie heidnisch, aus denen sie stammen, rechtfertigen ihrerseits einen zeitgenössischen Diskurs über den Tod von Staatsverbrechern. So könnte man also sagen, dass es die Geschichte selbst ist, die das Problem als legitim diskutierbares stellt. Ganz anders hingegen verhält es sich mit der Zeitgeschichte, d. h. mit ihrem einzigen großen Niederschlag in diesem politischen Traktat als Bericht über die Ermordung von Heinrich III. Dieser Bericht ist voll von Zweideutigkeiten: „foedum spectaculum in paucis memorabile, sed quo principes doceantur impios ausus haud impune cadere“.14 Schon eine flüchtige Durchsicht des im Lateinischen etwa vierseitigen Textes fördert viele davon zutage: Da ist etwa der Hinweis auf den von Heinrich III. erwählten protestantischen Nachfolger, der jetzt Katholik sei, somit ein rechtmäßiger König. Dann war also die Aufregung der Heiligen Liga darüber grundlos? Oder war im Gegenteil die Gegenbewegung unter den Guise, die das erzwang, gerechtfertigt? Weiter geht es mit der Journée des Barricades in Paris am 12. Mai 1588: Gerechtfertigter Aufstand oder bloße Rebellion, wie die Einberufung der Generalstände nach Blois vermuten lassen könnte? Dort freilich ließ der König die beiden Guise ermorden und als Hochverräter ausrufen. Dagegen wiederum trat damals die Sorbonne mit ihren Gutachten auf. Und als der Zorn des katholischen Volksteils bereits abebbte und kein Heilmittel mehr möglich schien, da trat ein Einzelner, Jacques Clément (1567–1589), vor und vollbrachte – nicht autorisiert, aber um die Meinung der extremen Theologen der Liga wissend – ohne Mithilfe die Tat. War die Lage schon so, dass ein Beschluss der Notablen gar nicht mehr möglich war, oder wäre nicht umgekehrt dieser Beschluss offiziell gar nicht statthaft gewesen?

13

Vgl. Tacitus, Annales 15, 48–74.

14 Mariana, De Rege (wie Anm. 8), S. 66: „ein hässlicher und ansonsten wenig erinnerungs-

würdiger Anblick, aber doch für gottlose Fürsten eine Warnung, dass sie nicht ungestraft stürzen werden“.

232 Markus Völkel

Mariana geht so weit, die Tat (1. August 1589 im Château des Gondi in SaintCloud) und ihre Heimtücke direkt darzustellen und Clément und den König in einem leidenschaftlichen Handgemenge zu zeigen; plötzlich geht es Auge um Auge, denn der Monarch verletzt seinen Angreifer mit dem entwundenen Messer am Auge und an der Brust: Ergo ipsis Augusti Kalendis qui dies Petri Apostoli vinculis sacer est, sacris operatus ad Regem e lecto surgentem nondum plane vestitum eo advocante ingreditur. Sermonibus ultro citro que habitis, cum prope accessisset, specie alias litteras in manus tradendi, cultro, quem herbis noxiis medicatum manu tegebat, supra vesicam altum vulnus inflixit: insignem animi confidentiam, facinus memorabile. Dolore Rex percitus, eodem cultro interfectoris oculum et pectus ferit, proditorem, parricidam inclamans. Irrumpunt aulici re insolita commoti: prostrate atque exanimi pleraque vulnera feritate et saevitia imponunt. Nihil elocuto ac laeto potius, uti ex vultu apparebat, quod re patrata cruciatus alios evaderet, quibus ut par esset veritus erat. Simul suo sanguine patriae communis et gentis libertatem redemptam, inter ictus et vulnera impense laetabatur scilicet.15

Und auch das Schlussurteil bleibt ambivalent: „Caeso Rege ingens ibi nomen fecit. Caede caedes expiata, ac manibus Guisani Ducis perfide perempti regio sanguine est parentatum.“16 So wird also ein Tod, der der Guise, mit dem Tod des Königs gesühnt, und Clément büßt seinerseits sofort mit seinem Leben, denn die Kammerherren des Monarchen töten ihn auf der Stelle. Es ist aufschlussreich, dass Mariana an dieser Stelle seinen Bericht, den er mit der Sterbeszene des Königs und einem keineswegs eindeutigen moralischen Endurteil fortsetzt, unterbricht und zwar folgendermaßen: „Sic Clemens periit eternum galliae decus!“17 Das ist in der Geschichte der Um- und Ausstieg zum 15 Ebd., S. 68: „Also trat er [Clement] am 1. August, nachdem er die Messe gelesen hatte, zu

dem König, welcher ihn, eben dem Bett entstiegen und noch nicht ganz bekleidet, hatte rufen lassen. Nachdem nun ein Wortwechsel hierüber erfolgt war, und er sich genähert hatte, so als ob er ihm weitere Briefe in die Hände geben wolle, brachte er mit einem Messer, das er mit giftigen Kräutern behandelt hatte und das er in der Hand versteckt hielt, dem König oberhalb der Harnblase eine tiefe Wunde bei: unerhörter Wagemut, denkwürdiges Verbrechen. Der König, von Schmerzen ergriffen, verwundete den Mörder mit demselben Messer am Auge und an der Brust, wobei er ‚Verräter‘ und ‚Vatermörder‘ schrie. Darauf stürzten die Höflinge, alarmiert durch den ungewöhnlichen Vorgang, herein und brachten dem am Boden Liegenden grausame und schreckliche Wunden bei. Er aber blieb stumm und sah eher fröhlich aus, um so nach vollbrachter Tat anderen Verletzungen zu entgehen, die jenseits seines Leidensvermögens lägen. Man denke nur, dass er, nachdem er mit dem eigenen Blut das gemeinsame Vaterland und die Freiheit des Volkes erkauft hatte, unter Stichen und Wunden sich unmäßig freute.“ 16 Ebd. S. 68–69: „der also das Blut des Königs als Sühneopfer für den heimtückisch ermordeten Guise darbrachte“. 17 Ebd., S. 69. In den späteren Ausgaben von „De Rege“, etwa Mainz 1605, wurde dieser Satz „So starb Clément, der ewige Ruhm Galliens!“ gestrichen.

Tyrannenmord bei Juan de Mariana und ihre Implikationen 233

Exemplarischen, das heißt die Übergabe dieses historischen Faktums an die überhistorische Moral, an die leyes de naturaleza. Mariana vollzieht, und das soll hier nur in Klammern angemerkt sein, keineswegs als Einziger diesen Transfer. Nur vollziehen ihn andere hin zum negativen Pol der Exemplarität. Cléments Leichnam wurde umgehend auf dem Platz vor der Kirche in Saint-Cloud gevierteilt. Anschließend wurde er verbrannt, um keinen Märtyrerkult entstehen zu lassen, so wie zuvor auch die Leichen der beiden Guise aus dem gleichen Grund verbrannt worden waren und so wie – war es bloßer Zufall? – Heinrich IV. es versäumte, als es möglich gewesen wäre, Heinrich III. aus seinem versteckten Grab in Saint-Corneille de Compiègne zu holen und ihn in Saint-Denis beizusetzen. Hier ging es um den Abbruch von Erzählbarkeit und das Einfrieren zu einem negativen Exemplum.18

IV. Ein knappes Fazit

Die ‚historischen Grundlagen‘ des Tyrannenmordes sind diejenigen, die die natürlichen Gesetze des Staates erst transparent und verständlich machen. Anders ausgedrückt: ‚Natürlich‘ sind die Gesetze erst, wenn die Fakten, die in ihrer Vielfalt stets uneindeutigen, unabschließbaren Vorgänge, in ihrem Erzählfluss unterbrochen und zu isolierbaren, festen Exempla geworden sind. Was ist damit erreicht? Erreicht ist, dass die Gemeinschaft eine feste, approbierte Haltung zum Tyrannenmord einnehmen kann, die notwendig ist, damit der König seinen eige­ nen prospektiven Charakter erkennen kann. In den Worten von Mariana: „Est tamen salutaris cogitatio, ut sit Principibus persuasum, si republicam represserint, si vitiis et foeditate intolerandi erunt, ea conditione vivere ut non iure tantum, sed cum laude et Gloria perimi possint.“19 Diese Position ist bemerkenswert: 18

Der Abbruch der Erzählbarkeit wurde allerdings nur mühsam und durch die gründliche Verdrängung der gesamten ligistischen Pamphletistik, an der sich noch Mariana orientierte, erreicht. Aufschlussreich ist hier der Kommentar, den Pierre de l’Estoile nach der Ermordung von Heinrich III. in sein Tagebuch schrieb. Das Staunen über das Missverhältnis von ‚Tatwerkzeug‘ und Wirkung schlägt unwillkürlich gegen den Monarchen aus: Pierre de l’Estoile, Registre-Journal du règne de Henri III. Tome VI (1588–1589), hrsg. von Madeleine Lazard/Gilbert Schrenck, Genf 2003, S. 208–209: „plus on y recherche d’observations et particularités, plus on y trouve des merveilles, si qu’à la posterité ceste mort sera une merveille remplie d’infinies merveilles. Quand il n’y auroit autre chose à remarquer que de dire de voir un Roy, en fleur d’aage, au milieu de son camp, tousjours environné de gardes de toutes parts, tousjours en doubte de ce qui lui avinst, et cependant adverti de celui devoir advenir, et qu’un Jacobin le devoit tuer, ester ainsi pauvrement et miserablement assassiné, jusques dans sa chambre et pres de son lit, par un petit gueux de moine qui lui donne un coup de son meschant petit cousteau, duquel il meurt en si peud’heures, apres le coup, sans avoir jamais peu trouver à son mal.“ 1 9 Mariana, De Rege (wie Anm.8), S. 78: „Es ist ohne Frage heilsam, dass die Fürsten davon überzeugt sein dürfen, dass sie, sollten sie sich durch ihre Laster und Verbrechen uner-

234 Markus Völkel

Nicht allein auf das Recht kommt es an, sondern auch und gerade auf die Zustimmung der kommenden Generationen – und auch auf die Zustimmung der vergangenen! Der Weg führt also über die Geschichte zum Exemplum und von dort zu einer permanenten Haltung, einer Einstellung, einem festen Habitus, die die Möglichkeit ebenso wie die Tatsächlichkeit des Tyrannenmordes begründen.20 Dabei erweist sich die theoretisch fassbare Rechtmäßigkeit des Tyrannenmordes – das heißt, war dieser oder jener in diesem Moment ein echter Tyrann?, und war dieser oder jener in jenem Moment wirklich zum Mord berechtigt? – als im Grunde zweitrangiges Problem. Bevor man, stets im Vorgriff auf kommende Entscheidungen, den ‚richtigen Entschluss‘ gefasst hat, kann der Tyrann oder der Attentäter bereits tot sein. Deshalb muss es heißen: Sobald der Mächtige in die vom Volk übertragenen Rechte eintritt, tritt unmittelbar das Recht des Volkes auf sein Leben in Kraft. Mit dieser Überlegung ist ein Rückgang zum Grundthema dieser Tagung, der „Sicherheit“, möglich. Das Misstrauen des Volkes gegenüber seiner eigenen Rechts- und Friedensfähigkeit leitet es an, dem Monarchen den Schlüssel zum Recht zu übergeben. Es schaltet sich als handelndes Subjekt durch diesen Akt, de facto wie symbolisch, aus der Sphäre der Unsicherheit aus. Aber in dem Maße, in dem die natürlichen Gesetze des Volkes gewahrt werden oder gewusst bleiben, folgt dem Handeln des Herrschers seinerseits ein Verdacht, der total werden kann. Dann wird der Herrscher zum Sicherheitsrisiko, das durch Tötung ausgeschaltet werden kann. Um dieser Zwangsläufigkeit zu entgehen, müsste ein Herrscher weniger die leyes de naturaleza abschaffen als das bisher exemplarisch gefasste historische Wissen. In diesem Wissen ist seine finale Beseitigung bereits mehrfach – erst historisch erzählt, dann exemplarisch verfestigt – enthalten, wird die Geschichte also zur eigentlichen Gegenmacht. Gerade in diesem Sinne ist „De rege et regis institutione libri tres“ auch ein Traktat über die Macht von Geschichte wie Geschichten sowie ihrer Überführung in die Unzweideutigkeit des exemplum.

träglich machen, ihres Lebens beraubt werden können, nicht allein zu Recht, sondern unter dem Beifall und dem Ruhm kommender Generationen.“ 2 0 Ein analoges Beispiel wäre Marianas Erwähnung der 1592 wegen der bekannten „Alte­ raciones“ bereits in ihren Kompetenzen beschnittenen Justicia de Aragon als de facto exemplarisch weiterwirkendes Präzedenz für eine Rechtslandschaft, die ein König in seinen Königreichen zu respektieren hat; De Rege, (wie Anm. 8), S. 88: „Idem recentiori memoria in Hispania Aragonii praestiterunt, studio tuendae libertati sacres et incitati, neque ignari, a parvis initiis multum imminui iura libertatis.“

Andreas PeCˇ  ar

Warum musste Karl I. sterben? I. Einführung

Sicherheit in England konnte nur gewährleistet sein, wenn die von Gott eingerichtete und seit alters her überlieferte politische, soziale und religiöse Ordnung gewahrt blieb. Alle politischen Akteure dürften sich hierin auch noch während des Bürgerkrieges, der die politische Nation seit 1642 in zwei Lager zerriss, einig gewesen sein, unabhängig davon, ob sie sich der Sache des Königs oder aber des Parlaments verpflichtet fühlten. Auch über die Tatsache, dass es vorrangig die Sache des Königs war, diese Ordnung in England zu garantieren, bestand zunächst Einigkeit. Wie in jeder Monarchie war der König der Garant dafür, dass die überkommene Ordnung auch in Gegenwart und Zukunft Bestand hatte, er personifizierte diese Ordnung mit seinem Amt ebenso wie mit seiner Person, er regierte „kraft Glaubens an die Heiligkeit der von jeher vorhandenen Ordnungen und Herrengewalten“, um mit Max Weber zu sprechen.1 Trotz der intensiven Debatte in der Geschichtswissenschaft über die auslösenden Faktoren des Bürgerkrieges gibt es in einem Punkt weitgehende Übereinstimmung: Die Rebellion richtete sich nicht gegen die Monarchie oder den König allgemein, sondern gegen die Person Karls I. Das aufständische Parlament und dessen Sympathisantenkreis warfen ihm vor, die politische und religiöse Ordnung Englands untergraben zu haben und seine Herrschaft statt auf Freiheit, Recht und wahren Glauben auf „popish tyrannie“ gründen zu wollen. Wer die althergebrachte Ordnung Englands bewahren wolle, müsse sich den Plänen Karls I. in den Weg stellen. Sicherheit im Sinne eines Rechts auf persönliche Unversehrtheit und die Bewahrung des privaten Eigentums könne es nur geben, wenn man diesen König zahlreicher Prärogativrechte beraube, die es ihm ermöglichten, ohne die Zustimmung des Parlaments zu regieren. Auch der Ruf zu den Waffen folgte noch der Logik, Karl I. und dessen Unterstützer zu attackieren, um die althergebrachte monarchische Ordnung in England zu beschützen. Es war daher ein erheblicher Schritt, als sich die Armeeführung im Sommer 1648 dazu entschloss, dem König wegen Hochverrats den Prozess zu machen und seine Hinrichtung ins Auge zu fassen. Man verfuhr ausdrücklich nicht nach der Logik des Tyrannenmordes, in der man sich eines Tyrannen entledigte, um dann seinem Rechtsnachfolger die Bahn freizumachen, das Land wieder gemäß den Grundsätzen der althergebrachten Ordnung regieren zu können. Stattdes 1 Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders., Gesammelte Aufsätze

zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 7. Aufl. Tübingen 1988, S. 475–488, hier S. 478.

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sen versuchte man sich darin, Karl I. auf scheinbar rechtsförmige Weise wegen Hochverrats zu verurteilen. Die Legitimationsprobleme eines solchen Verfahrens lagen auf der Hand: Hochverrat war in seinen mittelalterlichen Ursprüngen als Verfahren gegen Königsmord definiert.2 Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts hatte man den Anklagepunkt immer stärker ausgedehnt und jegliches Verhalten damit unter Strafe gestellt, das geeignet sei, den König und sein Ansehen soweit zu beschädigen, dass dadurch Gefahr für seine Herrschaftsausübung heraufbeschworen werden könne. Wer sich beispielsweise weigerte, Heinrich VIII. als „supreme head of the church“ den Eid zu leisten wie Thomas Morus oder John Fisher, wurde als Hochverräter hingerichtet, da diese Weigerung ja die Legitimität des Königs als oberster Kirchenherr in Frage stelle und damit geeignet sei, Rebellion und Aufruhr zu befördern. Die Rechtstradition der Hochverratsprozesse bietet jedoch keinerlei Ansatzpunkte dafür, einen König im Amt wegen Hochverrats zu verurteilen.3 Auch der Vorwurf des Tribunals, der König habe gegen sein eigenes Volk Krieg geführt, lässt sich mit der im Common Law definierten Kategorie des Hochverrats nicht in Deckung bringen, umso weniger, als das Common Law ausdrücklich den Passus kennt: „the king can do no wrong“.4 Zwar hatten die Anhänger des Parlaments während des Bürgerkrieges Übung darin erlangt, zwischen der Person und dem Amt des Königs zu unterscheiden.5 Beim Prozess gegen Karl I. standen aber beide Körper des Königs vor Gericht, da ansonsten Karl I. von seiner Herrschaft zuerst hätte entbunden werden müssen, um ihm anschließend als Privatperson den Prozess zu machen. Genau das war aber nicht beabsichtigt, und genau das machte das Skandalträchtige dieses Vorgangs aus. In der Logik des Tribunals gegen Karl I. und seiner Fürsprecher bedeutete die Hinrichtung Karls I. keineswegs den Erbfall für seine Nachkommen, sondern das Ende der Monarchie. Dieses Ziel 2

D. Alan Orr, Treason and the State. Law, Politics, and Ideology in the English Civil War, Cambridge 2002, S. 11–29. 3 Zum Prozess vgl. Daniel P. Klein, The Trial of Charles I., in: Journal of Legal History 18 (1997), S. 1–25; Sean Kelsey, The Trial of Charles I., in: EHR 118 (2003), S. 583–616; ferner David Langomarsino/Charles T. Wood, The Trial of Charles I. A Documentary History, Hanover/NH 1989; Sean Kelsey, Staging the Trial of Charles I., in: Jason Peacey (Hrsg.), The Regicides and the Execution of Charles I., Basingstoke 2001, S. 71–93. 4 The Commentaries, or Reports of Edmund Plowden, […] Containing Divers Cases upon Matters of Law, Argued and Adjudged in the Several Reigns of King Edward VI., Queen Mary, King and Queen Philip and Mary, and Queen Elizabeth, London 1816, Nr. 487. Vgl. ferner in einschränkender Perspektive Johann P. Sommerville, Royalists and Patriots. Politics and Ideology in England 1603–1640, 2. Aufl. London/New York 1999, S. 75f.; Glenn Burgess, British Political Thought 1500–1660. The Politics of the Post-Reformation, Basingstoke 2009, S. 239f. 5 Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, S. 41–46; vgl. ferner Orr, Treason (wie Anm. 2), S. 45–51.

Warum musste Karl I. sterben? 237

ließ sich nun endgültig nicht mehr rechtsförmig bewerkstelligen; das Verfahren des Prozesses bot wenig Chancen auf Legitimität.6 Der Prozess war damit der rite de passage zwischen der althergebrachten monarchischen Ordnung und einer Ordnung, die erst noch etabliert werden musste. Um die politischen Ursachen, die zur Hinrichtung Karl  I. und zur Abschaffung der Monarchie geführt hatten, nachzuvollziehen, soll daher hier nach der politischen Begründungsrhetorik gefragt werden, mit der das ungeheuerliche Ereignis der Hinrichtung eines regierenden Königs gerechtfertigt werden sollte, nach den Ordnungsmustern, die dieses Ereignis in einen größeren Sinnzusammenhang einbetteten. Welches politische Ideal legte es nahe, Karl I. und mit ihm der Monarchie insgesamt den Garaus zu machen?

II.  Die Hinrichtung Karls I. in der Geschichtswissenschaft

Interessanterweise spielt diese Frage in den jüngsten Beiträgen der englischen Geschichtswissenschaft über die Hinrichtung des englischen Königs nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr hat sich im Zuge des sogenannten Revisionismus eine neue Position etabliert, die rundweg bestreitet, dass Oliver Cromwell und seine Mitstreiter in Armee und Parlament den Tod Karls I. angestrebt hätten. Ihnen sei es nur darum gegangen, den politischen Druck auf den starrsinnigen Karl I. zu erhöhen, um ihn zum Einlenken zu zwingen, d. h. das Unterhaus als wichtigstes politisches Entscheidungsorgan anzuerkennen, auf sein Vetorecht im Gesetzgebungsverfahren zu verzichten und die Legitimität des Gerichtsverfahrens gegen ihn anzuerkennen. Sofern der König hier zu Konzessionen bereit gewesen wäre, hätte man sein Leben und sein Amt nicht weiter angetastet. Der König hätte als politisch weitgehend bedeutungslose Repräsentationsfigur weiterbestehen können. Es sei nicht der Wille von Cromwell und seinen Mitstreitern zur Abschaffung der Monarchie gewesen, der Karl den Kopf gekostet habe, sondern die Kompromisslosigkeit und Starrsinnigkeit Karls I., so lautete die neue Deutung. Diese Interpretation fußt insbesondere auf angeblichen späten Vermittlungsbemühungen der Akteure um Cromwell, mit denen die Armeeführer noch in letzter Minute versucht hätten, Karl I. zu einem Ausgleich zu bewegen

6

Der Kommentar von Kevin Sharpe zur zeitgenössischen Wahrnehmung der Legitimität dieses Prozesses in England lautete treffend: „The Comonwealth began its life not with a reputation for justice but – probably among a majority – a reputation for murder“; ­Kevin Sharpe, Image Wars. Promoting Kings and Commonwealths in England 1603–1660, New Haven/London 2010, S. 384; Orr, Treason (wie Anm. 2), S. 7, hält das Verfahren für „clearly illegal“. Auch der für diesen Prozess eigens neu etablierte High Court of Justice stellte ein Novum dar; ebd., S. 182.

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und auf diese Weise die Hinrichtung abzuwenden – ein Versuch, der nur an der Starrsinnigkeit des Königs gescheitert sei.7 Nach Beiträgen von Mark Kishlansky und Clive Holmes wissen wir allerdings, dass es diese vermeintlichen Ausgleichsbemühungen und geheimen Vermittlungsmissionen in letzter Minute wohl gar nicht gegeben hat, zumindest die verfügbaren Quellen diese Deutung in keiner Weise rechtfertigen.8 Diese Legende dürfte sich wohl auch dem Versuch verdanken, Cromwell vom Vorwurf des Königsmordes zu entlasten und Karl I. für seine Hinrichtung selbst verantwortlich zu machen. Man wird daher wohl davon ausgehen dürfen, dass die Armeeführung und deren Fürsprecher im Parlament seit dem sogenannten zweiten Bürgerkrieg, also seit Sommer 1648, entschlossen waren, Karl I. aus dem Weg zu räumen, und ihre Handlungen darauf gerichtet waren, dieses politische Ziel – soweit möglich – mit dem Gewand formaler Rechtsförmigkeit zu bemänteln. Die Entschlossenheit zur Hinrichtung Karls I. zeigt sich daran, welche politischen Kosten die Akteure auf sich nahmen, um dieses Ziel zu verwirklichen. Die Widerstände gegen einen Prozess gegen den amtierenden König waren schließlich beträchtlich. Die Schotten waren von Beginn an gegen ein solches Verfahren. Karl I. vor Gericht zu stellen bedeutete daher, die Schotten als Bündnispartner zu verlieren, bedeutete die Gefahr eines neuen Krieges zwischen englischen und schottischen Truppen, der dann ja in den Jahren 1650/51 Wirklichkeit wurde. Die Mitglieder des Parlaments waren ebenfalls mehrheitlich gegen ein Gerichtsverfahren gegen den König. Diese Skepsis der Abgeordneten ließ sich nur dadurch lösen, dass man zum einen das Oberhaus für politisch bedeutungslos erklärte, da deren Mitglieder sich weigerten, eine Anklage des Königs wegen Hochverrat mitzutragen. Zum anderen verwehrten die Befürworter eines Prozesses gegen Karl I. im „Pride’s Purge“ mit einem Gewaltstreich allen Zweiflern den Zutritt zum Unterhaus und „reinigten“ das Parlament so von allen Kritikern des eingeschlagenen Kurses.9 Man führte Karl I. im Namen des Volkes vor Gericht, ohne die Mehrheit der 7

Vgl. hierzu Stefan Gardiner, History of the Great Civil War, 4 Bde., London 1893, hier Bd. 4, S. 287f.; Sean Kelsey, The Death of Charles I, in: HJ 45 (2002), S. 727–754; ders., Politics and Procedure in the Trial of Charles I., in: Law and History Review 22 (2004), S. 1–26; ferner John S. Adamson, The Frighted Junto. Perceptions of Ireland and the Last Attempts at Settlement with Charles I., in: J. Peacey, The Regicides and the Execution of Charles I., Basingstoke 2001, S. 36–70; Richard Cust, Charles I. A Political Life, Harlow 2005, S. 448–465; Austin Woolrych, Britain in Revolution 1625–1660, Oxford 2002, S. 300f. und 398–400. 8 Vgl. Clive Holmes, The Trial and Execution of Charles I, in: HJ 53 (2010), S. 289–316; Mark Kishlansky, Mission Impossible: Charles I, Oliver Cromwell and the Regicide, in: EHR 125 (2010), S. 844–874. 9 David Underdown, Pride’s Purge. Politics in the Puritan Revolution, Oxford 1971.

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Volksvertreter hinter sich zu wissen. Dies alles tat man sicherlich nicht nur, um in weiteren Verhandlungen den König besser unter Druck setzen zu können. Vielmehr scheint klar zu sein, dass mit der Eröffnung des Verfahrens auch dessen Ausgang bereits feststand: die Hinrichtung des Königs und die Abschaffung der Monarchie. Niemand spielte auf Zeit, um den Prozess zu politischen Verhandlungen zu nutzen. Stattdessen ging das Verfahren im Rekordtempo über die Bühne: Am 6. Januar 1649 beschloss das Unterhaus, Karl I. den Prozess zu machen. Am 20. Januar begann das Gerichtsverfahren, am 27. Januar folgte das Todesurteil. Am 30. Januar wurde das Urteil vollstreckt. Es bleibt jedoch die Frage bestehen, weshalb die Armeeoffiziere und deren Mitstreiter der Monarchie den Strom abdrehen wollten. Was waren die politischen Ziele, die es wert waren, einen neuen Krieg mit Schottland in Kauf zu nehmen und das Long Parliament in seiner bestehenden Form zu zerschlagen? Dies möchte ich im Folgenden diskutieren.

III.  Die Hinrichtung des Königs und der Republikanismus

Quentin Skinner hat seit 15 Jahren wiederholt dafür plädiert, den Ausbruch des Bürgerkrieges und die zeitweilige Abschaffung der Monarchie in England mit dem Republikanismus der politischen Akteure zu erklären. Das politische Ziel der Aufständischen gegen Karl I. im englischen Bürgerkrieg war für Skinner die Errichtung eines „Free State“ im Neo-Römischen Sinne.10 Nur wenn sich die Bürger eines Landes nicht der Herrschaft eines einzelnen unterwerfen müssten, sondern über alle politischen Dinge selbst entscheiden könnten, nur dann seien sie die Bürger eines freien Staates.11 Die Befürworter einer Hinrichtung des Königs wollten damit sicherstellen, dass sie in Zukunft nie mehr der Gefahr ausgesetzt seien, in ihrem eigenen Land zu Sklaven zu werden. Skinner zufolge ging es den Mitgliedern des Parlaments seit Ausbruch des Bürgerkrieges darum, das Wohl und die Sicherheit des englischen Volkes zu verteidigen. Deren Vorstellungen seien wesentlich hergeleitet aus einem römischen Verständnis von Freiheit. So heißt es in den Digesten über den Rechtsstatus des Menschen allgemein (Dig. I, V, 3, 35): „Summa itaque de iure personarum divisio haec est, quod omnes homines aut liberi sunt aut servi“ (die grundsätzlichste Unterteilung der Menschen bezüglich ihrer Rechte besteht darin, dass alle Menschen entweder Freie oder Sklaven sind).12 Die Sklaverei wird in den Digesten (I, V, 4, 35) gemäß dem Völ 10

Quentin Skinner, Classical Liberty and the Coming of the English Civil War, in: ders./Martin van Gelderen (Hrsg.), Republicanism. A Shared European Heritage, 2 Bde., Cambridge 2002, Bd. 2, S. 9–28. 11 Zur Definition eines Free State vgl. Quentin Skinner, Liberty before Liberalism, Cambridge 1998, S. 1–57. 12 Skinner, Classical Liberty (wie Anm. 10), S. 9.

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kerrecht definiert als Zwang, wodurch jemand gegen die Natur der Herrschaft eines anderen unterworfen sei („Servitus est constitutio iuris gentium, qua quis dominio alieno contra naturam subicitur“).13 Ähnliche Positionen findet Skinner auch in den Schriften von Cicero, Sallust, Livius und Tacitus.14 Skinner weist zurecht darauf hin, dass das Parlament und dessen Fürsprecher bereits im Jahr 1642 das Wohl und die Freiheit des Volkes als Begründung ins Feld führten, um dem König wesentliche, althergebrachte Herrschaftsrechte abzusprechen, insbesondere dessen Vetorecht bei Gesetzesvorlagen des Parlaments, die sogenannte „Negative Voice“.15 Diese Herrschaftsrechte hätten letztlich zur Konsequenz, dass das Volk, an seinem freien Entscheidungsrecht gehindert, vom König zu einer Sklavenherde herabgewürdigt werde, da es der Herrschaft des Königs unterworfen sei. Zwar mochten die Mitglieder des Parlaments dem König in ruhigen Zeiten auch ein Vetorecht zugestehen. Im Jahr 1642 befinde sich das Land jedoch in einer existentiellen Krise, wo Notstandsmaßnahmen erforderlich seien, nämlich die Aufstellung einer Parlamentsarmee, um mit ihr die rebellierenden Iren bekämpfen zu können. Wenn der König sich diesem Ansinnen in den Weg stelle, gefährde er die Sicherheit des Volkes, so die Argumentation des Parlaments. Das Wohl des Volkes müsse aber stets die oberste Prämisse des politischen Handelns sein, so der Autor Henry Parker in einer vom Parlament beauftragten Antwort auf Vorwürfe des Königs, das Unterhaus drohe die englische Verfassung zu untergraben.16 Um diesen Vorwurf zu relativieren, dient ihm Ciceros Leitsatz als Norm: „Salus populi suprema lex esto“. Der König hingegen war nicht bereit, seine traditionellen Herrschaftsrechte vollständig aus der Hand zu geben.17 Ein langjähriger Bürgerkrieg war die notwendige Folge, ein Bürgerkrieg, den der König verlor. Wenn wir Skinner zunächst darin folgen, dass es den siegreichen Rebellen gegen den König um die Errichtung eines Free State ging, bleibt die Frage, ob 13 Ebd., S. 9.

14 Ebd., S. 10–13; Skinner, Liberty (wie Anm. 11), S. 42–47 und S. 61f. 15

Skinner, Classical Liberty (wie Anm. 10), S. 17. [Parker, Henry], Observations upon some of his Majesties late Answers and Expressions, [London 1642], S. 37f., 41, 46f., 56; vgl. hierzu Skinner, Classical Liberty (wie Anm. 10), S. 18–23; ferner Robert von Friedeburg, Widerstandsrecht und Konfessionskonflikt. Notwehr und Gemeiner Mann im deutsch-britischen Vergleich 1530 bis 1669, Berlin 1999, S. 124–126. 1 7 Vgl. hierzu die Kontroverse um die XIX. Propositions; XIX. Propositions Made by both Houses of Parliament, to the Kings Most Excellent Majestie, with his Majesties Answer thereunto, in: Joyce Lee Malcolm (Hrsg.), The Struggle for Sovereignity. SeventeenthCentury English Political Tracts, 2 Bde., Indianapolis 1999, Bd. 1, S. 145–178. Vgl. als beste bislang vorliegende Deutung Michael Mendle, Dangerous Positions. Mixed Government, The Estates of the Realm, and the Making of the Answer to the XIX. Propositions, Alabama 1985. 16

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dieses Ziel die Hinrichtung Karls I. notwendig und unausweichlich machte. Die politischen Maßnahmen des Rumpfparlaments nach der Hinrichtung Karls I. legen diese Deutung zunächst nahe. So erklärten die Abgeordneten knapp zwei Monate nach der Hinrichtung die Monarchie insgesamt per Gesetz für abgeschafft und begründeten dies auf prinzipielle Weise: „It hath been found by experience that the office of a king in this nation and Ireland, and to have power thereof in any single person, is unnecessary, burdensome and dangerous to the liberty, safety and public interest of the people and that for the most part use hath been made of the regal power and prerogative to oppress and impoverish and enslave the subject“.18 Folgt man dieser Begründung, so scheint die Monarchie prinzipiell dem Ideal eines freien, selbstbestimmten Volkes im Weg zu stehen. Skinner führt ferner anhand der Schriften von John Milton, James Harrington, Marchamont Nedham und Algernon Sidney vor, dass all diese Fürsprecher eines Free Commonwealth dieselbe neorömische Auffassung von politischer Freiheit teilten.19 Die Freiheit des englischen Volkes gründe sich auf das Recht, sich selbst Gesetze zu geben und politische Entscheidungen zu treffen. Der König musste weichen, um dem Volk – dem Unterhaus – Platz zu machen und die Republik zu ermöglichen, so ließe sich Skinner zusammenfassen. Skinners Ausführungen zum politischen Ideal eines Free State, zum Kampf für die Freiheit und gegen die Versklavung des Volkes setzen in der politischen Ideengeschichte Maßstäbe. Gleichwohl bin ich nicht davon überzeugt, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der republikanischen Rhetorik einerseits und der Hinrichtung Karls I. andererseits besteht.20 Erstens stammen beinahe alle Bekenntnisse zur Republik und zur notwendigen Abschaffung der Monarchie aus der Zeit nach der Hinrichtung Karls I.21 Es muss daher geklärt werden, ob diese Äußerungen nach dem Tod Karls I. zugleich auch das Motiv für diese 18

John P. Kenyon, The Stuart Constitution 1603–1688. Documents and Commentary, 2. Aufl. Cambridge 1986, S. 306f. 19 Skinner, Liberty (wie Anm. 11), Kap. 1. 2 0 Die Bedeutung des Republikanismus für den Ausbruch des Bürgerkrieges scheint mir ebenfalls überbetont zu sein; vgl. hierzu Andreas Pečar, Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und England zwischen Reformation und Bürgerkrieg (1534–1642) (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 69), München 2011, S. 105–120. 2 1 Über eine republikanische Tradition unter den Tudors und den Stuarts vgl. Skinner, Liberty (wie Anm. 11), S. 11f.; Patrick Collinson, The Monarchical Republic of Queen Elizabeth I., in: John Guy (Hrsg.), The Tudor Monarchy, London 1997, S. 110–134; Markku Peltonen, Classical Humanism and Republicanism in English Political Thought 1570–1640, C ­ ambridge 1994. Allerdings gilt für alle in diesen Schriften genannten Autoren, dass es sich keinesfalls um prinzipielle Gegner der Monarchie handelte. Vielmehr war für Autoren wie Francis Bacon eine an römischen Wertvorstellungen orientierte politische Grundhaltung selbstverständlich mit der monarchischen Herrschaftsform vereinbar.

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Hinrichtung gewesen waren. Zweitens ist zu untersuchen, inwiefern die von ihm angeführten Fürsprecher eines Free State Nedham, Sidney und Harrington die Position der handelnden Akteure, also von Cromwell und seinen Mitstreitern, wiedergeben oder eigene politische Positionen vertraten. Von den genannten Autoren Milton, Harrington, Nedham und Sidney war allein Milton ein Fürsprecher der Hinrichtung Karls I. und wurde von den neuen Machthabern auch mehrfach als Propagandist dieses Ereignisses eingespannt.22 Nedham stand im Bürgerkrieg keineswegs auf Seiten der Aufständischen, sondern hielt zum Lager der Royalisten. Er kritisierte den Pride’s Purge in seiner Zeitung Mercurius Pragmaticus und sah in der Hinrichtung des Königs den Anlass, aus London zu fliehen. Erst seine Inhaftierung durch die Armee machte aus ihm einen Fürsprecher Cromwells und des neuen politischen Kurses.23 Sidney war zwar ein prominenter Feldherr der Parlamentsarmee, keineswegs aber ein prinzipieller Gegner der Monarchie. Er weigerte sich entschieden, den Hinrichtungsbeschluss gegen Karl I. zu unterzeichnen.24 James Harrington wiederum war in den letzten Jahren Karls I. einer von vier vom Parlament ernannten Kammerherrn des Königs und empfand die Hinrichtung des Königs als geradezu traumatisches Schockereignis.25 Keiner der drei letztgenannten Autoren steht mit der Hinrichtung Karls I. in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang. Skinner betont zu Recht, dass der Kulminationspunkt republikanischer Ideen das Jahr 1656 war, der Zeitpunkt der Veröffentlichung von Harringtons Schrift Oceana.26 Dieser Traktat ist zwar römisch-republikanisch durch und durch. Sein politisches Ideal eines Freistaates richtete sich aber nicht gegen den hingerichteten König Karl I., sondern gegen den ungekrönten König Oliver Cromwell, dessen Herrschaftsposition als sogenannter Lord Protector H ­ arrington wie auch zahlreichen Zeitgenossen als Tyrannei erschien.27 Ferner waren die Autoren, die Skinner zufolge das selbe neorömische Weltbild teilten, sich untereinander nicht 2 2

2 3 24 2 5 2 6 27

Vgl. nur John Milton, Tenure of Kings and Magistrates, in: John Milton, Complete Prose Works, hrsg. v. Don M. Wolfe, 8 Bde., New Haven 1953–1982, hier Bd. 3 (1962), S. 184–258; ders., Eikonoklastes, in: ebd., Bd. 3 (1962), S. 335–601; vgl. hierzu auch Steven N. Zwicker, Lines of Authority. Politics and English Literary Culture 1649–1689, Ithaka/NY 1993, S. 37–59; zu Miltons Republikanismus generell David Armitage/Armand Himy/Quentin Skinner (Hrsg.), Milton and Republicanism, Cambridge 1995, S. 156–180. Joad Raymond, Art. Marchamont Nedham (1620–1678), in: Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 40, Oxford 2004, S. 318–323. Jonathan Scott, Art. Algernon Sidney (1623–1683), in: Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 50, Oxford 2004, S. 537–544, hier S. 538. Harry M. Höpfl, Art. James Harrington (1611–1677), in: Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 25, Oxford 2004, S. 386–391, hier S. 387f. Skinner, Liberty (wie Anm. 11), S. 15. So war auch die Wahrnehmung Cromwells selbst, der den Traktat als Affront gegen seine Protektoratsherrschaft ansah; vgl. hierzu John G. A. Pocock, James Harrington and the

Warum musste Karl I. sterben? 243

grün. Der Opportunist Nedham etwa stänkerte über Harringtons Oceana, dass es doch gänzlich unangebracht sei, ständig neue Staatsmodelle zu entwerfen, wo man doch unter der Gnadensonne Oliver Cromwells bereits in der besten aller Welten lebte.28 Der allen hier genannten Autoren gemeinsame Rückgriff auf die politische Sprache des Republikanismus ist daher nicht gleichbedeutend damit, dass alle Autoren demselben politischen Lager zuzurechnen seien.29 Das Ideal der Republik konnte vielmehr ebenso zur Legitimation wie zur Delegitimation von Cromwells Protektorat verwendet werden. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen republikanischer Rhetorik und der Hinrichtung Karls I. lässt sich hingegen nicht feststellen.

IV.  Das Weltbild der Täter

Wenn man klären möchte, aus welchen Gründen Karl I. gewaltsam ins Jenseits befördert wurde, muss man sich mit dem Weltbild der Täter auseinandersetzen. Da wäre zunächst und vor allem Oliver Cromwell zu nennen. Cromwell zählte zwar nicht zu den Initiatoren des Prozesses gegen Karl I. Er machte sich dieses Ziel aber bald zu Eigen und war in der Folge einer der entschiedensten Verfechter einer Abschaffung der Monarchie. Unter den 59 Unterzeichnern des Hinrichtungsbefehls waren allein acht Verwandte Cromwells, unter ihnen auch sein Schwiegersohn Henry Ireton.30 Sein Einfluss auf den Ausgang des Prozesses dürfte schwerlich zu überschätzen sein. Cromwell und seine Getreuen bedienten sich indes einer gänzlich anderen Rhetorik als der republikanischen. In ihren Augen hatte Karl I. nicht für das Volk den Thron zu räumen, sondern für Christus. Vorstellungen dieser Art klangen zunächst in manchen der Fastenpredigten an, die im Long Parliament die politische Lage Monat für Monat in der Sprache des Biblizismus erörterten und in denen den Abgeordneten von der Kanzel Mahnungen erteilt wurden, was Good Old Cause. A Study of the Ideological Context of his Writings, in: Journal of British Studies 10 (1970), S. 30–48. 28 Vgl. Blair Worden, „Wit in a Roundhead“. The Dilemma of Marchamont Nedham, in: Susan Dwyer Amussen/Mark A. Kishlansky (Hrsg.), Political Culture and Cultural Politics in Early Modern England, Manchester 1995, S. 301–337; Blair Worden, Literature and Politics in Cromwellian England. John Milton, Andrew Marvell, Marchamont Nedham, Oxford 2007, Kap. 2 und 3; Blair Worden, Marchamont Nedham and the Beginnings of English Republicanism, 1649–1656, in: David Wootton (Hrsg.), Republicanism, Liberty, and Commercial Society, 1649–1776, Stanford/CA 1994, S. 45–81. 2 9 Dies gilt für den Rückgriff auf politische Sprachen generell, die nicht als politisches Programm missverstanden werden sollten; vgl. hierzu John G. A. Pocock, The State of the Art, in: ders., Virtue, Commerce and History. Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge 1985, S. 1–34, hier S. 8–10. 3 0 Langomarsino/Wood, The Trial of Charles I (wie Anm. 3), S. 59.

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in den Augen Gottes ihres Amtes sei.31 Manche Prediger entfalteten hier erste Vorstellungen vom unmittelbar bevorstehenden Beginn der Königsherrschaft Christi auf Erden und wähnten die Zuhörer vor Anbruch des Tausendjährigen Reiches.32 Der anonyme Autor von „A Glimpse of Zion’s glory“ mahnte die Abgeordneten bereits im Jahr 1641: „Time has come to set up Christ in his highly office“.33 John Milton stieß im selben Jahr in das gleiche Horn und richtete das Stoßgebet gen Himmel: „thou the Eternall and shortly expected King shalt open the Clouds to judge the severall Kingdomes of the World, and distributing Nationall Honours and Rewards to Religious and just Common-wealths, shalt put an end to all Earthly Tyrannies, proclaiming thy universal and milde Monarchy through Heaven and Earth“.34 John Henry Archer pries bereits 1642 die Fünfte Monarchie auf Erden: „Christ […] will govern as earthly monarchs, that is, universally over the world…not by tyranny, oppression and sensually, but with honour, peace […], all nations and kingdoms doing omage to him in the fifth monarchy“.35 Der Oliver Cromwell besonders nahestehende Kaplan John Owen griff auf solche Prophezeiungen zurück, um die Hinrichtung Karls I. in diesem Sinne zu rechtfertigen. In einer Fastenpredigt vor dem Unterhaus, die er am Tag nach der Hinrichtung Karls I. hielt und die ohne Zweifel einen Kommentar von der Kanzel zu diesem Ereignis darstellte, betonte er in einer Vorrede an die Abgeordneten, dass große Taten Gottes große Erschütterungen unter den Menschen hervorriefen, um dann mit Verweis auf Heb 12, 26–27 und Dan 7,27 fortzufahren: 31

3 2

3 3

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Vgl. John F. Wilson, Pulpit in Parliament. Puritanism during the English Civil Wars 1640– 1648, Princeton 1969; Hugh R. Trevor-Roper, The Fast Sermons of the Long Parliament, in: ders. (Hrsg.), Essays in British History. Presented to Sir Keith Feiling, London 1964, S. 85–138. Zur Tradition kollektiv ausgerufener Fastentage in England vgl. Christopher Durston, Public Days of Fasting and Thanksgiving during the English Revolution, in: The Seventeenth Century 7 (1992), S. 129–149; Roland Bartel, The Story of Public Fast Days in England, in: Anglican Theological Review 37 (1955), S. 190–200; Paul S. Seaver, The Puritan Lectureships. The Politics of Religious Dissent 1560–1662, Stanford 1970, Kap. 1 und 2; Christopher Hill, The Bible and the Seventeenth-Century Revolution, London 1993, S. 79–108. Zur politischen Sprache des Biblizimus vgl. Pečar, Macht der Schrift (wie Anm. 20). Zahlreiche Beispiele finden sich in Hill, English Bible (wie Anm. 31), S. 92–99. [Jeremiah Burroughs], A Glimpse of Sions Glory, London 1641, S. 4–8: „First, that though the Kingdome of Christ may be darkned for a while, yet certainly Christ will reigne in his Church gloriously, at which the Saints will sing Halleluljah. Secondly, that the beginning of this glorious Reigne of Christ, the Multitude of the People shall bee the furtherers of it, and take speciall notice of it.“ (S. 8). John Milton, Of Reformation in England, (1641), in: Milton, Complete Prose Works (wie Anm. 22), Bd. 1 (1953), S. 514–617, hier S. 615f. John Henry Archer, Personal Reign of Christ upon the Earth, 1642, zitiert nach Noel Henning Mayfield, Puritans and Regicide. Presbyterian-Independent Differences over the Trial and Execution of Charles (I) Stuart, Boston/London 1988, S. 62.

Warum musste Karl I. sterben? 245 As the days approach for the delivery of the decree, to the shaking of Heaven and Earth, and all the powers of the world, to make way for the establishment of that kingdom which shall not be given to another people (the great expectation of the Saints of the most high before the consumation of all) so tumults, troubles, vexations and disquietnes, must certainly grow and increase among the sons of men.36

In einer Predigt mit dem bezeichnenden Titel „Human power defeated“ betonte er, dass alle Saints, also nach deren gebräuchlicher Selbstbezeichnung alle Mitstreiter Cromwells, dem Ziel verpflichtet seien: „seeing the founding of Zion, the kingdom of Christ“.37 Gerade der Prozess gegen Karl I. trug bei den Befürwortern einer Hinrichtung des Königs viel zur steigenden Endzeiterwartung bei.38 An die Stelle der Monarchie sollte eine chiliastische Theokratie treten, in der Christus zusammen mit seinen Saints auf Erden die Herrschaft übernahm.39 Als sich Cromwell dazu entschlossen hatte, den Prozess gegen Karl I. voranzutreiben, machte er sich solche Ideen ausdrücklich zu eigen. Er nutzte seinen Sieg in der Schlacht von Preston am 20. August 1648 dazu, dem Sprecher des Unterhauses seine Sicht der Dinge darzulegen und die Schlacht auf providenzielle Art und Weise zu deuten: „Surely, Sir, this is nothing but the hand of God, and wherever anything in this world is exalted, or exalts itself, God will pull it down, for this is the day wherein He alone will be exalted.“40 Cromwells Worte sind grundsätzlicher Natur. Gott habe in Preston nicht allein den Hochmut Karls I. abgestraft, sondern den in der Monarchie gleichsam institutionalisierten Hochmut des Menschen. Der Hochmut der Monarchen wird von Cromwell nicht als Vergehen gegen das eigene Volk gedeutet, als Verstoß gegen die Gleichheit aller Menschen, sondern als Anmaßung gegenüber Gott. Könige seien Gott grundsätzlich ein Dorn im Auge, so Cromwell, da deren Herrschaft einem Usurpationsversuch an der alleinigen Königsherrschaft Gottes gleichkomme, so die Botschaft des siegreichen Feldherrn an das Unterhaus. 3 6

John Owen, A Sermon Preached to the Honourable House of Commons, in Parliament Assembled: On January 31, A Day of Solemne Humiliation, London 1649, A3r. 37 John Owen, Human Power defeated, London 1649, in: The Works of John Owen, hrsg. v. ­William H. Goold, 16 Bde., Ndr. Edinburgh 1965, Bd. 9, S. 197–215, zitiert nach Mayfield, Puritans and Regicide (wie Anm. 35), S. 189. 3 8 Mayfield, Puritans and Regicide (wie Anm. 35), Kap. 3. 3 9 Vgl. hierzu Andreas Pečar, Monarchie und Theokratie in England. Symbiose und Konkurrenz zweier Herrschaftsmodelle von der Reformation bis zum Bürgerkrieg, in: ders./ Kai Trampedach (Hrsg.), Theokratie und theokratischer Diskurs. Die Rede von der Gottesherrschaft und ihre politisch-sozialen Auswirkungen im interkulturellen Vergleich, Tübingen 2013, S. 409–435, hier S. 412–415. 4 0 The Writings and Speeches of Oliver Cromwell, hrsg. v. Wilbur Cortez Abbott, 4 Bde., Ndr. Oxford 1988, hier Bd. 1, S. 638. Hierzu auch Hans-Christoph Schröder, Oliver Cromwell – das Werkzeug Gottes, in: Wilfried Nippel, Virtuosen der Macht. Herrschaft und Charisma von Perikles bis Mao, München 2000, S. 101–120.

246 Andreas Pecˇ ar

Auch in seiner Rede über den bevorstehenden Beginn des Verfahrens gegen Karl I. legt Cromwell höchsten Wert darauf, dass Gott Urheber der bevorstehenden Ereignisse sei. Hätte es in der Absicht von Menschen gelegen, den Monarchen vom Thron zu stürzen, so wäre dies nichts anderes als Verrat am König. Nur auf Grund der Tatsache, dass der Sturz der Monarchie der offenkundige Wille Gottes sei, sei das Verfahren gerechtfertigt. Als Beweis für den Willen Gottes führt Cromwell zum einen die politische Notwendigkeit an, die ein Verfahren unausweichlich mache, zum anderen die Vorsehung Gottes, die sich insbesondere im Ausgang der zahlreichen Schlachten gegen den König erkennen lasse.41 Eine Hinrichtung des Königs zur planmäßigen Herbeiführung einer republikanischen Ordnung wird von Cromwell daher nicht nur nicht gefordert, sondern als illegitim ausgeschlossen. Mit diesen Aussagen ging Cromwell zugleich in Opposition zu den Levellers, die das Ende der Monarchie ausdrücklich forderten, um das Volk zum politischen Souverän des Landes zu machen. Cromwell behielt diese Position auch nach der Hinrichtung Karls I. bei. Der König sei geköpft worden, da Gott es so wollte. Diese Position verkündete Cromwell auch den gegen ihn kämpfenden Schotten, die Karl II. zu ihrem König gekrönt hatten und für den sie in die Schlacht zogen. Cromwell nannte in der von ihm verfassten „Declaration of the Army of England …to all that are Saints, and Partakers of the Faith of God’s Elect, in Scotland“ die Gründe, die das Parlament zur Hinrichtung Karls I. bewogen hätten.42 Bereits die Anrede macht deutlich, dass hier nicht ein Republikaner nach Gesinnungsgenossen in Schottland sucht, sondern jemand, der sich als Saint, als Gottes Auserwählter, versteht. Die Mitglieder des Rumpfparlaments hätten die Hinrichtung des Königs verfügt, so Cromwell, „fearing that the high displeasure of God would fall upon them, if they had not done it“.43 Dies sei nicht allein das Werk des Parlaments gewesen. Ebenso handele es sich bei der Hinrichtung des Königs und der Errichtung eines Commonwealths um ein „wonderful work of god“, begleitet und gesegnet von zahlreichen Beispielen göttlicher Vorsehung.44 Der Erfolg des aufständischen Parlaments gegen Karl I. verdanke sich nicht den politischen Akteuren. Vielmehr seien es „eminent actings of the providence and power of God to bring forth his good will and pleasure, concerning the things which he hath determined in the world”.45 Nachdem Cromwell und seine Armee kurz darauf in der Schlacht von Dunbar über die Truppen Karls II. und der Schotten einen weiteren Sieg davongetragen hatten, den er der göttlichen Vorsehung zuschrieb, richtete er in 41

Writings and Speeches (wie Anm. 40), Bd. 1, S. 719.

42 Ebd., Bd. 2, S. 283–288.

4 3 Ebd., Bd. 2, S. 284.

4 4 Ebd., Bd. 2, S. 284. 4 5 Ebd., Bd. 2, S. 288.

Warum musste Karl I. sterben? 247

einem Schreiben an den Sprecher des Unterhauses die Aufforderung: „we pray you own His people more and more, for they are the chariots and horsemen of Israel“.46 Die Kavallerie Israels waren die Reitertruppen Cromwells, die er auch als Volk Gottes bezeichnet, als Heilige an der Seite des Herrn. Das so genannte Barebone-Parlament war der Kulminationspunkt dieser Vorsehungsrhetorik: An die Abgeordneten richtete er die Frage: why should we be afraid to say or think, that this may be the door to usher in the things that God has promised; which have been prophesied of; which He has set the hearts of His people to wait for and expect? We know who they are that shall war with the lamb, against his enemies; they shall be a people called, and chosen and faithful. And God hath, in a military way […] appeared with them and for them; and now in these civil powers and authorities does not He appear? […] I do think something is at the door: we are at the threshold.47

Cromwell schwört die Abgeordneten mit diesen Sätzen auf das Ziel ein, die Erfüllung der Heilsgeschichte zu befördern. Allerdings waren diese Hoffnungen nur von kurzer Dauer. Die bereits im Dezember 1653 erfolgte Auflösung dieses Parlaments bedeutete für Cromwell auch ein Scheitern dieser Hoffnungen. Christopher Hill brachte Cromwells Haltung Ende des Jahres 1653 mit den Worten auf den Punkt: „The revolution was over“.48 Seit 1654 regierte Cromwell als ungekrönter Monarch, ohne dass er mit seiner Herrschaft weitergehende Reformvorstellungen oder gar Endzeiterwartungen verknüpfte. Zur Zeit der Hinrichtung Karls I. waren solche Ideen Cromwell jedoch keinesfalls fremd. Und noch 1657 begründete er dem Parlament seine Weigerung, den Königstitel anzunehmen, damit, dass die Annahme dieses Titels in seinen Augen Sünde sei, also unvereinbar mit dem Willen und der Herrschaft Gottes.49 Hören wir als nächstes John Cook, den Chefankläger im Prozess gegen Karl I. Im Jahr 1651 schrieb er einen Traktat mit dem bezeichnenden Titel „Monarchy: No creature of Gods making“. Er zitiert auf dem Titelblatt die Prophetenschrift Hosea 8,4: „Sie setzen Könige ein, aber gegen meinen Willen;/sie wählen Fürsten, doch ich erkenne sie nicht an“. Und weiter (Hos 13,9): „O Israel (O England) Thou wouldst have destroyed thy selfe but in God is help, he will be thy King“.50 4 6 Ebd., Bd. 2, S. 321–325, hier S. 325. 47 Ebd., Bd. 3, S. 52–66, hier S. 64f.

4 8

Christopher Hill, God’s Englishman. Oliver Cromwell and the English Revolution, London 1970, S. 138f. 49 Writings and Speeches (wie Anm. 40), S. 512–514. 5 0 John Cook, Monarchy, No Creature of Gods Making, Wherein is Proved by Scripture and Reason, that Monarchicall Government is against the Mind of God, Waterford 1651. Zu Cook vgl. Wilfrid Prest, Art. John Cook, in: Oxford Dictionary of National Biography, Bd. 13, Oxford 2004, S. 110–112.

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In diesem auf England applizierten Bibelzitat findet sich die gesamte politische Botschaft der Akteure wieder. Die Monarchie ist eine Abkehr von Gott, da Gottes Herrschaft über sein Volk auf Erden Konkurrenz gemacht wird. Die Rettung verheißt allein die Rückkehr zu Gott: „he will be thy King“, dies war das politische Ziel der politischen Aktivisten im Umfeld Cromwells, die sich selbst als „Saints“ benannten. Nur wenn Gott auch als König auf Erden über England herrscht, ist sein Reich nahe. In seinem an die Abgeordneten des Unterhauses gerichteten Vorwort nennt Cook die wahren Gründe, weshalb die Errichtung eines „Free State“ für England notwendig gewesen sei. Wer hierfür nur die Unterdrückung und Versklavung des Volkes anführe, gegen die man sich habe zur Wehr setzen müssen, verkenne den wahren Grund. Das Königtum sei vielmehr abgeschafft worden, „because God commanded them so to doe“. Es sei nicht „for the ease of the People, but for a Divine precept“ geschehen. Und weiter: „to suffer Monarchy is to make themselves wiser then God“.51 Der Free State war in Cooks Augen kein Mittel zur Etablierung einer Herrschaft des Volkes, sondern notwendige Voraussetzung zur Rückkehr in die Arme Gottes. Der weltliche Thron musste geräumt werden, damit Christus selbst darauf Platz nehmen konnte. Um den Beweis zu erbringen, weshalb die Monarchie Gott ein Gräuel sei und die Abschaffung der Monarchie für die Wiederkehr von Gottes Heil auf Erden Voraussetzung sei, führt Cook zum einen das Gesetz Gottes an, wie es in den Schriften des Alten Testaments offenbart sei.52 Zum anderen bemüht Cook die Endzeit, die nahe sei und für die politische Vorbereitungen notwendig seien. Der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass der englische Bürgerkrieg und die Abschaffung der Monarchie als integraler Bestandteil des Endkampfs zwischen Christus und dem Antichristen gedeutet werden müssten. So endet seine Vorrede an die Abgeordneten des Unterhauses mit einem Gebet, dass die Parlamentarier ihrer von der Vorsehung bestimmten Aufgabe gerecht würden. Ihre göttliche Bestimmung liege darin, „a burdensome stone to all oppression“ zu sein. Der Auftrag laute: „to conquer not only the Ecclesiasticall beast, but the Political“. Und weiter: „to finish the building of that foundation which you have so happily laid and begun“. Sollten sie von diesem Pfad nicht weichen, stünde ihnen das Paradies bevor: „the blisseful inheritance of the Saints in light, where is all day and no night“.53 Der Kampf gegen das „beast“, das Untier, von dem in der Offenbarung des Johannes die Rede ist, steht im Zentrum der an das Parlament gerichteten Worte. Dabei hat das Untier in Cooks Augen zwei Seiten, es spaltet sich auf in ein 51

Cook, Monarchy (wie Anm. 50), fol. a2r-a3r.

5 2 Ebd., fol. b4r.

5 3 Ebd., fol. h1r-v.

Warum musste Karl I. sterben? 249

„­ Ecclesiastical“ und ein „Political Beast“. Es dürfte ziemlich sicher sein, dass Cook mit dem „Ecclesiastical Beast“ die Bischöfe und ihre Herrschaftsstellung in der englischen Kirche im Sinn hatte.54 Deren usurpierte Autorität war zu diesem Zeitpunkt aber bereits gebrochen, die Bischöfe waren aus dem Oberhaus vertrieben worden, ihre Rolle als Aufseher und Richter in der Kirche annulliert. Die Zerstörung des „Ecclesiastical Beast“ war in England daher vollzogen. Die Rolle der geschundenen Heiligen, von denen in der Johannesoffenbarung die Rede ist, sei damit vollzogen, die Hure Babylon sei vertilgt worden. Mit namentlicher Nennung der prominentesten Opfer der Bischofskirche und deren Gerichtsbarkeit unter Karl I. verweist Cook auf Offb 18, 20: „Freue Dich über ihren Untergang, du Himmel [gemeint ist der Untergang der Hure Babylon] – und auch ihr, ­Heilige, Apostel und Propheten, freut euch! Denn Gott hat euch an ihr gerächt.“55 Allein der Todesstoß gegen den selbst ernannten obersten aller Bischöfe, den Papst in Rom und für Cook unbezweifelbar die Inkarnation des Antichristen auf Erden, stehe noch aus, konnte aber in Cooks endzeitlicher Erwartung nicht mehr lange dauern. Diesem Heilsauftrag stellt der Autor noch einen zweiten, nicht minder wichtigen an die Seite, nämlich die Zerstörung des „Political Beast“, also der Monarchie. Auch dieses Werk Gottes sei mit der Hinrichtung Karls I. hoffnungsvoll begonnen worden, harre aber noch der Vollendung. Geschrieben wurde der Text wohl während der Auseinandersetzung der Jahre 1650/51, als Cromwell mit seinen Truppen gegen die Koalition aus Karl II. und den Schotten zu kämpfen hatte, ein Kampf, dessen Ausgang darüber entschied, ob die Monarchie in England sogleich wieder eingeführt werden sollte oder nicht. Hier wollte Cook mit der Feder Cromwells Truppen zur Seite stehen und den Parlamentsmitgliedern die prinzipielle Gotteswidrigkeit der Monarchie einschärfen. Als die Schrift jedoch fertiggestellt worden war und im Winter des Jahres 1651 erschien, waren alle Schlachten bereits geschlagen, die Truppen des Königs besiegt, die Monarchie in England vorerst Geschichte. Was vielleicht als ein Appell an die Prinzipienfestigkeit der Politiker gemeint war, wurde so zu einem nachträglichen Abgesang an die Monarchie, zugleich aber auch zu einem Appell an den heilsgeschichtlichen Auftrag Englands, der direkten Herrschaft Christi auf Erden die Wege zu ebnen.

V. Schlussbetrachtung

Wie wir im Nachhinein wissen, folgte auf die Vernichtung des „Beast“ kein Himmlisches Jerusalem, auch nicht in England. Auch die gewaltsame Räumung 5 4

Vgl. hierzu klassisch Christopher Hill, Antichrist in Seventeenth-Century England, 2. Aufl. London/New York 1990, Kap. 3. 5 5 Cook, Monarchy (wie Anm. 50), fol. b1r.

250 Andreas Pecˇ ar

des Königsthrons konnte Christus nicht dazu bewegen, auf diesem Thron Platz zu nehmen und zusammen mit den selbst ernannten englischen „Saints“ das Ende der Welt einzuläuten. Mit diesem Ausbleiben des Weltendes hatte zugleich das eschatologische Weltbild als politische Vorstellungswelt und als Modus der Sinnstiftung unheilbaren Schaden genommen. Eine weitere Aktualisierung dieses Weltbildes in England konnte keine vergleichbare politische Relevanz erlangen. Für die politischen Fürsprecher einer Hinrichtung Karls I. war der Bezug auf die bevorstehende Königsherrschaft Gottes allerdings das Schlüsselargument, die entscheidende Legitimationsquelle. Es waren weniger die Freiheitsrechte des Volkes, die zur Rechtfertigung der Hinrichtung bemüht wurden, sondern die Pflichten gegenüber Gott, denen die Abgeordneten des Rumpfparlaments und die Mitglieder des Tribunals nachgekommen sind. Die Sieghaftigkeit Cromwells und seiner Truppen galt als der vornehmste Indikator, um die Gottgefälligkeit seiner Politik zu beweisen. Die 1660 wieder errichtete Monarchie bediente sich sichtbarer Inszenierungen, um jedermann in England zu bedeuten, dass die Monarchie und der König im Namen Gottes regierten und Königsmord keineswegs eine gottgefällige Tat war. John Cook war als einer der engagiertesten Befürworter einer Hinrichtung Karls I. vorzüglich dazu geeignet, die politische Zeitenwende sichtbar werden zu lassen: Als Königsmörder und Hochverräter wurde er gemäß der damaligen Standards zuerst gehängt, dann bei lebendigem Leibe abgenommen vom Galgen, sein Körper anschließend aufgebrochen und ausgeweidet, schließlich gevierteilt und verbrannt. Oliver Cromwell und seinen Mitstreitern Henry Ireton, Thomas Pride und John Bradshaw blieb dieses Schicksal erspart, da sie bereits unter der Erde weilten. Deren Särge wurden jedoch von den ihnen errichteten Grabstellen in Westminster Abbey entfernt. Am Jahrestag der Hinrichtung Karls I. wurden ihre Leichname auf der Richtstätte in London in Tyburn aufgehängt, anschließend ihre Köpfe abgehackt, auf Piken aufgespießt und vor Westminster Hall aufgestellt.56 Diese Zeichen sollten jedermann beweisen, dass die Hinrichtung Karls I. kein Werk Gottes war, sondern ein Verbrechen, schlimmer noch, ein Frevel. Karl II. hat als Nachfolger des hingerichteten Königs wieder vom Thron Besitz ergriffen, und Gott hat dabei zugesehen.

5 6

Vgl. Tim Harris, Restauration. Charles II and his Kingdoms 1660–1685, London 2005, S. 47f.

Randolph C. Head

Prudent Radicals and Radical Moderates: Confessional violence and political murder in Graubünden in the seventeenth century I. Introduction “[S]o lang biß dise böse wurtzel auß gereuttet wird / kein sicherheit vorhanden[…]”1

The passage above, from a pamphlet about the murder of Pompeius von Planta in 1621, suggests that ‘Sicherheit’ and religious difference were clearly connected in the perceptions of those who experienced the violent struggles that shook the republic of Graubünden in the 1610s and 1620s, which are generally known as the Bündner Wirren. But how did various actors and thinkers articulate this connection, and how should we, looking backwards, view the role of religious radicalism in undermining security in the tumultuous seventeenth century? Two circumstances complicate our assessment of religious radicalism as a threat to political order in early modern Europe: (1) that such radicalism typically asserted itself in the name of a recognized higher order ordained by God, though often through unauthorized means and according to interpretations rejected by established doctrine; and (2) the complex dynamic of separation and entanglement that characterized church-state relations in the Latin West both before and after the Reformation. Confessional radicals who turned to violence after the 1550s – whether individual assassins or self-organized charismatic communities that perpetrated violence on those who differed from them – understood their actions as resting on fundamental and widely accepted foundations of the European social and spiritual order. In consequence, they either valorized their radical stances, or denied that they were radical at all. Simultaneously, the existence of established churches separate from states and existing as power-institutions in the world meant that spiritual legitimacy in pre-modern Europe could never be dissociated from secular interests and worldly prudence, however much many thinkers wished it could. Even those who denied any secular motivation for their turn to violence found that their actions were politically consequential in ways that undermined the possibility of purely religious action. One consequence of these paradoxes is that the definition of the order under threat from extremism, and the debate about who represented order and who represented chaos when violence took place, re 1

Blutige Sanfftmuet der Caluinischen Predicanten. Warhaffte Relation auß einer Glaubwürdigen Person Sendschreiben […] (s. l., 1621), p. 5.

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mained fundamentally positional. For historians, the paradoxes become visible when we seek to assess manifestly disruptive religious violence in its diverse forms – assassination, riot, confrontation – even though ‘radicalism’ and ‘violence’ remain frustratingly difficult to define, much less typologize. Both a hermeneutic and a structural dimension contribute to the difficulty historians face. Hermeneutically, our definitions of security, disruption and violence must be separated from contemporaries’, since the latter were inherently contested. Yet if we cannot trust contemporary definitions, how can we distinguish ‘radical violence’ from legitimate uses of force? We are left with the intuition that some violence was out of the ordinary, without being able to construct a forensic definition – one that distinguishes transformative from endemic or legitimate violence – that would be shared between the contemporary world and the sixteenth century. Structurally, the emergence of specific violence out of general tensions or conflicts remains a profoundly unpredictable event, at least at the micro-scale, and thus represents a rupture not only in the fabric of society and of experience for those involved, but equally in the fabric of explanation. Although a considerable body of research by historians and sociologists from George Rudé through Charles Tilly to James Scott attempts to find an analytic approach for managing this rupture, violence, spiraling radicalism, and the outbreak of violence on the part of individuals or communities all remain at least partly outside any system of rational explanation.2 This paper examines a series of violent outbreaks embedded in religious difference, ranging from political murders to community uprisings legitimated by defense of religious confession. These outbreaks took place in Graubünden, an Alpine confederation of communes allied with the Swiss Confederacy, between the 1570s and 1620s. Graubünden’s character as a formally bi-confessional polity – one in which a century of religious co-existence as well as a series of foundational documents established that spiritual identities were politically and socially subordinate to communal membership – allows us to examine the connection between the emergence and articulation of strong confessional identities and outbreaks of disruptive violence in a context distinct from the structures of monarchical authority that existed in most of Europe.3 The subor 2 George Rudé, Ideology and Popular Protest (Chapel Hill/NC, 1980); Charles Tilly, Coercion,

Capital and European States, AD 990–1990 (Studies in social discontinuity. Oxford, 1990); James Scott, Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance (New Haven/CT, 1987). 3 In this, Graubünden was in some respects conservative, in that the identity of religious practice and full communal membership was maintained; it was also proto-modern, in that it proposed the autonomy of a political sphere in which religious confession, at least from the two authorized churches, was supposed to be irrelevant. For an overview of the history of Graubünden in this period: Randolph Head, Early Modern Democracy in the Grisons.

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dination of religious confession to political unity faced intense challenges from all sides in Graubünden from the 1570s to 1620s, moreover, leaving behind a different spiritual-political landscape in which confessional identity did serve as an integral axis for collective interactions. Graubünden thus became a confessional state after, and in part through, the wave of religious violence in this period. This confessionalization of politics, meanwhile, only heightened the politicization of confession. The ideal of a spiritually pure politics remained just as unobtainable in Graubünden as the dream of prudent politics from which confessional religion could be excluded.4 Let us stipulate that public violence was ubiquitous in early modern Europe, and that it fell into distinct, if overlapping, genres. We might call one of these genres ‘charismatic violence,’ that is, acts motivated by universally available ­values but carried out by a single actor or community outside traditional forms of authority.5 Charismatic violence in pre-modern Europe ranged from mass rebellions founded on a ‘moral economy’ to pogroms founded on the expulsion of polluting elements. Individuals also seized upon charismatic authority to justify their violent actions, and seem to have done so increasingly in the later sixteenth and early seventeenth centuries, as seen in the rash of assassinations by private actors across Europe. Some of the violent actions discussed below were explicitly legitimated by unilateral defenses of ‘orthodoxy’; others involved religious polarization more generally, without specifically invoking charismatic legitimation. One way to approach the slippery definition of ‘religious radicalism’ and its relation to security in the post-Reformation period is therefore to focus on violence by addressing a specific diagnostic question: how did contemporaries (and how should historians) distinguish spiritually-motivated rebellion from political murder? This framing echoes Mark Juergensmeyer’s approach to modern terrorism, though substituting ‘radical religious violence’ for the specifically modern category of ‘terrorism’: “The question is Social order and political language in a Swiss mountain canton, 1470–1620 (Cambridge, 1995) [German: id., Demokratie im frühneuzeitlichen Graubünden. Gesellschaftsordnung und politische Sprache in einem alpinen Staatswesen, 1470–1620 (Zürich, 2001)]. 4 I say “confessional religion” because throughout the sixteenth century in Graubünden, both magisterial and popular actions confirm that a vast majority of Bündner shared the European fundamental assumption that dominion came from, and was answerable to God while simultaneously believing that confessional differences between Catholics and Protestants, and also to a considerable extent Anabaptists, could remain bracketed out of politics. Confessionalization in Graubünden discussed in Randolph Head, ‘Catholics and Protestants in Graubünden. Confessional Discipline and Confessional Identities without an Early Modern State?,’ in German History, 17 (1999), pp. 321–45. 5 This typology (with its obvious Weberian genealogy) is not meant to be exhaustive or systematic, but rather to emphasize that the genesis of violence, per se, is beyond the scope of this discussion.

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whether religious terrorism [or here, religious violence] is different from other kinds.” Juergensmeyer continues: [I]t will become clear that, at least in some cases, religion does make a difference. Some of these differences are readily apparent – the transcendent moralism with which such acts are justified, for instance, and the ritual intensity with which they are committed. Other differences are more profound and go to the very heart of religion. The familiar religious images of struggle and transformation – concepts of cosmic war – have been employed in this-worldly social struggles. When these cosmic battles are conceived as occurring on the human plane, they result in real acts of violence.6

While the situation in Graubünden requires a broader focus than Juergens­ meyer’s concentration on individual terrorists, an approach that analyzes religious violence as a historical phenomenon that made radical religion’s threat to security visible offers useful insights on early modern Europe, and on Graubünden in particular. The events in Graubünden not only reiterate the larger methodological paradoxes of religious violence, but also show a distinctive displacement between radical discourses and violent action. As we shall see, the actors most likely to deploy urgent, prophetic and even millennial discourses in Graubünden rarely turned to direct violence – they were, so to speak, “radical moderates.” In contrast, abundant use of violence, including religiously motivated violence, came from actors who also had clearly identifiable secular and situational motives, who acted in politically prudent ways, and who energetically denied that they were motivated by religious fervor – thus, “prudent radicals.”7 Not only is the definition of ‘radical’ (and thus implicitly non-legitimate) religious violence elusive, but those most likely to undertake religiously-motivated violence were Juergensmeyer, Terror in the Mind of God. The Global Rise of Religious Violence (Comparative studies in religion and society 13. 2nd edition Berkeley/CA, 1998), p. 10. 7 The separation of political citizenship from doctrinal orthodoxy that was one principle behind the Bündner polity – a state that took final shape as the Reformation schism was in its first decade – did offer a potential exit from confessional strife, one that was repeatedly invoked by magistrates and communal citizens. However, the existence of this exit did not forestall a turn to confessional identities in the first place, nor did it constrain their virulence in times of crisis. See Randolph Head, ‘Religious coexistence and confessional conflict in the Vier Dörfer. Practices of toleration in eastern Switzerland, 1525–1615,’ in John C. Laursen and Cary J. Nederman (eds.), Beyond the Persecuting Society. Religious Toleration before the Enlightenment (Philadelphia, 1997), pp. 145–165 [German: Id., ­‘Religiöses Zusammenleben und konfessioneller Streit in den Vier Dörfern.Toleranz in der Praxis in Graubünden, 1525–1615,’ in Bündner Monatsblatt (1999), pp. 323–344]. Equally, the continued attractiveness of the aggressive Christian orthodoxy that emerged in high and late medieval Europe – a form of orthodoxy that demanded not only acceptance and inner transformation of the faithful, but rejection, exclusion and indeed war against the unfaithful – ensured that the threat of charismatic attacks on state prudence continued. 6 Mark

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not those whose rhetoric was most vehement. Instead, ongoing entanglements of the prophetic with the prudent were the norm, in a society in which confessional violence remained a real possibility, and as such, a powerful threat to security. With these considerations in mind, I will very briefly introduce the ecclesio-political situation and political culture of Graubünden and probe several moments when confessional issues contributed to outbreaks of violence. These include the trial and execution of Johann von Planta in 1572, the Strafgericht of Thusis in 1618, the anti-Protestant Sacro Macello in the Valtellina in 1620, and the assassination of a strongly pro-Catholic political leader, Pompeius von Planta, at his castle in Rietberg in 1621. The analysis will close by looking at the tract „Vertrauwlicher Dicurs an den Herren Grisonen,“ written by the Reformed pastor Daniel Anhorn in 1621, which deployed a radical discourse on spiritual obligation in politics, only to argue for very particular and prudential strategies that included the protection of Catholic worship and alliance with Catholic monarchs.

II.  Confession and politics in Graubünden, 1572–1622

Two features characterized Graubünden by about 1560: the political predominance of communal entities (the so-called Gerichtsgemeinden and their three Leagues) led by families with strong communal ties, and a communally-based reorganization of church property and worship that had taken place after the 1520s.8 The Second Ilanz Articles of 1526 gave each community in Graubünden the authority to select and dismiss its own clergy, after which local elites and the communal citizenry had also appropriated almost all church property in both Catholic and Reformed areas.9 Subsequent decisions by the III Leagues restricted the choice of clergy to those licensed by the Bishop of Chur or the Reformed Synod, leading to formal biconfessionalism; about two-thirds of the Gerichtsgemeinden ultimately chose Reformed adherence, though a number of On territorial organization, I am applying the framework found in Bernhard Stettler, Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner (Zürich, 2004). On the church and clergy, the critical research was carried out by Oskar Vasella, and is collected in his Geistliche und Bauern. Ausgewählte Aufsätze zu Spätmittelalter und Reformation in Graubünden und seinen Nachbargebieten (Chur, 1996); supplemented by Immacolata Saulle Hippenmeyer, Nachbarschaft, Pfarrei und Gemeinde in Graubünden 1400–1600 (Quellen und Forschungen zur Bündener Geschichte 7/8. Chur, 1997). 9 Oskar Vasella, ‘Der bäuerliche Wirtschaftskampf und die Reformation in Graubünden, 1526 bis etwa 1540’, in id. (ed.), Geistliche (note 8); Randolph Head, “nit alß zwo Gmeinden, oder Partheyen, sonder ein Gmeind”: Kommunalismus zwischen den Konfessionen in Graubünden, 1530–1620, in Beat A. Kümin (ed.), Landgemeinde und Kirche im Zeitalter der Konfessionen (Zürich 2004), pp. 21–57. 8

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mixed-confessional Gemeinden existed as well.10 Political leaders of both confessions cooperated to preserve but restrict the bishopric in the 1540s and 1550s, while political conflict throughout most of the sixteenth century, though abundant, often did not follow confessional lines. In the seventeenth century, confessional identities became more visible, however, leading to the formation of durable confessionalized political blocs that have in some ways lasted until the present. An episode in the late sixteenth century shows how limited the role of confessional division was in driving events in Graubünden up to that point. In 1570, Johann von Planta, a Catholic from the powerful, many-branched Planta clan, obtained a papal bull entitling him to recover all lost church property in the Bishopric of Chur and in the Bündner subject territories in the Valtellina. He used it in 1571 to seize a former priory in Teglio whose revenues had been supporting the small Reformed church that Bündner Protestants were trying to build up among their Valtellinese subjects. A wave of outrage ensued among the Protestant Bündner after Chur’s Reformed pastors circulated a copy of the bull and called on Planta to give it up and restore the priory. The ingredients for a fierce confessional struggle seemed to be in place. Instead, the Protestant magistrates first tried to silence Chur’s pastors (one of whom was related to Planta), who had in any event kept the bull secret during private negotiations before making it public.11 Even though Planta eventually surrendered both the bull and the priory, troops from all the communes, Catholic and Protestant, streamed to Chur in 1572 and established a penal court to try Planta for treason. The practice of assembling the communes (Fähnlilupf) and punishing ‘miscreants’ through a large public court (Strafgericht) went back to the fifteenth century in Graubünden, and was a recognized if often unwelcome component of Bündner politics.12 Planta fled to Catholic Laax, but the locals seized him after the bull was read to them and delivered him to Chur, where he was executed for “wanting to make himself lord over Bünden.”13 Even though 10

On the most significant of these, see Head, ‘Religious coexistence’ (note 7). Well before the peak of tensions, the III Leagues ordered as follows: “so langt derhalben an unnsere gmeynden und sonder personen, geistlichs und weltlichs stands – die syen predicanden oder meßpriester – unsere thrüwe warnung und ernstlich vermanen, die wollen khein wytter unrhuw anstyfften, sonder gemeyne unsere land in frid, wolstand und eynigkeyt erhalten helffen.” Konstanz Jecklin/Fritz Jecklin (ed.), Materialien zur Standes und Landesgeschichte Gem. III Bünde (Graubünden) 1464–1803 (2 vols. Basel, 1907–1909), vol. 2, pp. 414–415 (No. 410, 3 January 1572). 12 Major Fähnlilupfe took place in 1565, 1572, 1603, 1607, and repeatedly from 1616 to 1620. Discussed at length in Head, Early Modern Democracy (note 3), which cites the older literature. 13 Fritz Jecklin, ‘Eine neue Quelle für die Geschichte des bündnerischen Stafgerichtes vom Jahre 1572,’ in Anzeiger für schweizerische Geschichte und Alterthumskunde, N.F. 33 (1902), pp. 72–78. 11

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confessional issues were directly involved in many parts of this series of events, the turn to violence was bi-confessional and justified exclusively by Planta’s political and secular misdeeds.14

III.  Prudent Radicals and Radical Moderates after 1600

Two decades of increasing polarization across Europe and the Empire, together with rising external political pressure on the Leagues themselves, brought about a change in atmosphere after about 1600. Beginning in 1612, for example, confessional riots broke out in the formerly peaceful bi-confessional commune of the IV Dörfer after a Protestant minority among the magistrates demanded priority in the use of the villages’ churches.15 It is no surprise that such violence first appeared in bi-confessional communes, because it was there that the implicit identity between ‘citizen’ and ‘Christian’ was most obviously problematic.16 Even though the agreement that temporarily ended the strife in Zizers insisted that the village should be “nit alß zwo Geminden, oder Partheÿen, sonder ein Gmeind,” more and more documents during the early seventeenth century spoke of a ‘Katholische Gemeinde’ and an ‘Evangelische Gemeinde’ within the political commune.17 The coexistence of incompatible discourses of spiritual obligation and secular politics became vividly apparent during the tumults associated with the Thusner 14 In 1585, another impromptu assembly of communal citizens took place, this time in Chia-

venna because of unrest in the Valtellina. In 1582, the III Leagues had approved using the revenue from the same priory in Teglio that had gotten Johann von Planta into trouble for a new higher school in the Valtellina, headed by the son of Chur’s Reformed pastor. Popular opposition in the solidly Catholic Valtellina was robust, with the encouragement of the local clergy, and the Leagues eventually sent a force to defend their territory against a possible coup being organized in Milan. Again, the ingredients for flights of confessional rhetoric as well as potentially confessionally-justified violence against the Valtellina’s Catholics appear to be present. Instead, the assembled military companies, acting as a de facto embodiment of the communes that constituted the III Leagues, passed a statute whose opening words declared that: “Erstlichen der Religion halben, sollend die zwo Religionen, namlich Ewangelisch und Catholisch, fry sin, wie von alter herkomen ist […].” Other ‘sects’ were forbidden, as were non-indigenous Catholic priests and monks in the Valtellina. Konstanz Jecklin (ed.), Urkunden zur Verfassungsgeschichte Graubündens (Chur, 1883–86), p. 116. 15 This conflict is analyzed in Head, ‘Religious coexistence’ (note 7). 16 A recent study of Wesel highlights the city’s similar strategy of maintaining civic Christian unity (symbolized by the requirement that all citizens, whether Lutheran, Calvinist or Catholic, take communion in one of the town’s two Lutheran churches), and this strategy’s eventual demise around 1600, on a very similar timetable as in Graubünden. Jesse Spohnholz, The Tactics of Toleration. A Refugee Community in the Age of Religious Wars (Newark/ DE, 2011). 17 E. g. Staatsarchiv Graubünden, B 1538, 15, pp. 94–97.

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Strafgericht of 1618. The politicized penal court established by the communes in Thusis that year is notorious for two reasons: first, for its torture to death of the Valtellinese Archpriest of Sondrio, Nicolò Rusca; and second, for the role played in the court by a special panel of nine clerics appointed by the assembled communes – a panel that was nominally balanced confessionally, but in reality consisted of nine activist pastors from the Reformed Synod, including the young Georg Jenatsch.18 The penal court itself was preceded by years of increasingly intense tumults across Graubünden set off by foreign powers seeking passage for their troops. Complex factional maneuvering lay behind the 1618 assembly at Thusis. We know, for example, that Hercules von Salis, a key pro-Venetian factional leader, met with activist pastors from the Reformed Synod in 1617, after which the entire Synod met in Bergün and produced a manifesto intended to encourage a Fähnlilupf.19 The manifesto emphasized to Graubünden’s citizens that pastors possessed special authority to intervene in politics: ihr, alß in Gottes wortt erfarnuß woll gegrundt leüth, wüßen was maßen unser tragendt Ambt, so ernstlich von uns erforderet, allerley gegenwürtige mißhandlung zu tadlen.20

The text also decried the recent Spanish alliance and the illegitimate machinations of Spanish agents. The Bündner should reflect, the letter demanded, “was maaßen der Allmechtigte Gott die verachtung seines worts und der waaren Religion nicht ungestrafft laße.”21 A Fähnlilupf duly followed, and the resulting assembly in Thusis was dominated by men from the pro-Venetian faction, who took the unprecedented step of appointing nine Reformed pastors to guide the Strafgericht they es 18

On Jenatsch, who subsequently rose high in military rank before converting to Catholicism and becoming near-dictator in Graubünden, see Randolph Head, Jenatsch’s Axe. Social Boundaries, Identity and Myth in the Era of the Thirty Years’ War (Changing perspectives on early modern Europe 9. Rochester/NY, 2008) [German: id., Jenatschs Axt. Soziale Grenzen, Identität und Mythos in der Epoche des Dreissigjährigen Krieges (Reihe cultura alpina 5. Chur, 2011)]. 19 The document is preserved in a copy of the material assembled by the pastors Bartholomäus Anhorn and his son Daniel (author of the tract discussed below). It is now in the Vadianische Sammlung, Kantonsbibliothek St. Gallen, Ms. 233, not paginated. The manifesto took the form of a letter to the citizens of the Bündner communes, and contains an explicit admonition that pastors should disseminate it: “Und hiemit iedem unseren mitbrudern solches bey seines kirch hörj zuverläsen ernstlich vermannet, mit fleißiger bitt, solches zu behertzigen, das ihr nicht mit unordenlichen auffruhren, sonder mit wollweißem zeitlichem rath fürohin sölchem übel fürkommen, und das geliebteVatterlandt, wider zu ruwen und wolgefreytem Standt anbringen.” 2 0 Ibid. 21 Ibid.

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tablished.22 In addition, a flying column of men from the Engadine seized the leader of Catholic resistance to the Leagues in the Valtellina, Nicolò ­Rusca, Archpriest of Sondrio, who was brought to Thusis and put on trial. As the contemporary chronicler Fortunat von Juvalta put it, “Das Verfahren wurde von den Geistlichen eingeleitet, sie verhörten die Zeugen und schrieben die Aussagen nieder; sie wirkten dann bei Fällung des Urtheils mit. Beinahe alles geschah nach ihrem Winke.”23 This court accused Rusca of various political crimes and put him to extended torture that ended with his death. The arc from the radical pastors’ claims to authority (the manifesto of Bergün) to active engagement in politics (the court in Thusis) to the violent death of the pastors’ most effective rival (­Rusca) seems clear. The arguments that appeared in the extensive public debate over the Thusis tribunal, many of them in pamphlets and songs, cloud the issue, however. To be sure, when the Reformed synod criticized the radicals’ actions, the nine pastors responded in private that their obligation to God and their offices had required them to act, and argued that God’s provision of political law to Israel authorized their own intervention in Thusis. In public responses to criticism, however – like almost the entire corpus of polemical literature from Graubünden – they denied any confessional motives whatsoever for their actions. Already in the Bergün manifesto, the pastors had insisted that they could speak about corruption as citizens, since the right to speak in public assemblies was something “das doch ein ieder geishirt gewalt hatt.” After Thusis, especially in the widely circulated pamphlet “Grawpündtnerische Handlungen des MDCXVIII Jahrs,” The nine are listed in Fortunat von Juvalta, Denkwürdigkeiten, ed. Conradin von Mohr (Chur, 1848), p. 47 n2: Stephan Gabriel (later translator of the New Testament into Surselvan Romansh), Jakob Anton Vulpius, Caspar Alexius (trained in Geneva, and sent by the Genevan church to spur clerical action in Graubünden), Blasius Alexander (later captured by the Austrians and executed for heresy), Georg Jenatsch (later a soldier, then convert to Catholicism), Bonaventura Toutsch, Conrad Buol, Johann von Porta (who had been involved in the riots in the IV Dörfer), and Johann Janett. All belonged to the more activist faction of the Synod. Juvalta, who was scarcely an objective observer, characterized these men: “Unter diesen Geistlichen waren Mehrere von unordentlichen Lebenswandel, verwegen, unverschämt und zu jedem Wagstücke bereit. Auf der andern Seite aber gab es auch viele Geistliche, welche innert den Schranken ihres Amtes bleibend, weder in den Aufstand selbst sich mischten, noch denselben billigten.” Note Juvalta’s evocation of the pastors’ “Amt” – which the activists also used to justify their call to action, ibid., p. 48. 2 3 Ibid., p. 48. Juvalta was also charged by the court, which means caution is needed in reading his reports, which were also recorded some years later. See also Randolph Head, ‘“cetera sunt politica et ad nos nihil”: Social power, legitimacy and struggles over the clerical voice in post-Reformation Graubünden,’ in Luise Schorn-Schütte/Sven Tode (ed.), Debatten über die Legitimation von Herrschaft. Politische Sprachen in der Frühen Neuzeit (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 19. Berlin, 2006), pp. 67–85. 2 2

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they insisted that many Catholics shared their position, and that they had simply acted against political corruption.24 In short, even when clearly confessionalized actors felt charismatically authorized to act politically – and violently – in early seventeenth-century Graubünden, they did not express such views in public. This dissonance, it seems to me, shows that even the strongest religious motivations – those we might call ‘radical’ or ‘extremist’ – were constrained by both situational and rhetorical prudence. The nine pastors at Thusis, despite their self-described appointment by God as successors of the Judges of Israel, were thus prudent radicals. The question of how prudence and confessional principle interacted to produce or to suppress violence remains pivotal for understanding events in Graubünden, and across Europe, in the succeeding decades. In moments of crisis, sacred violence remained a real option. The most powerful example was the so-called Sacro Macello of July 19–20, 1620, during which a political rebellion in the Valtellina, planned by local leaders in close cooperation with the ­Spanish regime in Milan, triggered popular riots that led to the killing of more than 400 Protestants. As Alessandro Pastore has noted, these events bear strong resemblance to the St. Bartholomew’s Day massacre of 1572 in France: bands of common people took on a task – ridding the Valtellina of heretics – through a “ritual of popular violence” incited by local elites against a confessional enemy.25 Like France in 1572, political strife combined with social tensions and economic pressure to unleash violence, with the targets and the discursive setting of the massacre framed in largely sacral terms. Similarly, the Austrian occupation of the Prättigau in Graubünden in 1622, accompanied by a prohibition on Reformed worship and the expulsion of the Reformed clergy, led to a violent uprising on Palm Sunday, 1622. Here, too, strong political motivations as well as significant hardships provided the context for a popular uprising in which the

24 Grawpündtnerische Handlungen des MDCXVIII Jahrs, Darinnen klärlich unnd wahrhafftig

angezeigt werden die rechtmeßigen unnd notzwingenden ursachen der zusammen kunfft deß gemeinen Landvolcks/und ordenlichen processuren/so ein eersam Strafgericht/zuo Tusis im oberen Grawenpundt versampt/uß gegebnem volkomnem gewalt/wider etliche ire untreüwe Landkinder füren müssen (s. l., 1618). They also insisted that “Die form unsers Regiments ist Democratisch”, a strikingly unusual way to legitimate political action in early modern Europe, which I have analyzed at length in Head, Early Modern Democracy (note 3); see also a contrary interpretation in Thomas Maissen, ‘“Die Gemeinden und das Volck als höchste Gewalt unsers freyen democratischen Stands.” Die Erneuerung der politischen Sprache in Graubünden um 1700,’ in Jahrbuch der Historischen Gesellschaft von Graubünden, 131 (2001), pp. 37–84. 2 5 Alessandro Pastore, ‘Riti di violenza poplar negli scontri di religione in Valtellina’, in Ottavio Besomi/Carlo Caruso (eds.), Cultura d’élite e cultura populare nell ’arco alpino fra Cinque e Seicento (Basel, 1995), pp. 57–80.

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actors entirely dissolved the distinction between the secular and the spiritual: “periclitatur Ecclesia, periclitatur patria, periclitatur boni.”26 In notable contrast, violence undertaken by charismatically authorized individuals played a relatively minor role in Graubünden. Assassination remained a common phenomenon, to be sure, most notoriously with the murder of Pompeius von Planta in 1621 by an armed band that included two former Reformed pastors, and the murder of Georg Jenatsch by a man dressed as a bear in 1639.27 However, the evidence makes it clear that Planta’s murder followed from factional rivalries between the pro-Venetian group headed by Hercules von Salis and the pro-Spanish group headed by Rudolf von Planta, Pompeius’ elder brother. That Pompeius was a convert to Catholicism or that Jenatsch was a former pastor does little to explain the details of the event, and accusations that it revealed the “blutige Sanftmut” of the Calvinist clergy appeared only afterwards, and only from Catholic and pro-Spanish polemicists.28 This was a political murder, embedded in confessional conflicts but not justified or motivated by primarily religious motives. In general, intertwined spiritual and political or material motivations for action were the norm in early modern Europe, in parallel with the polarized entanglement of spiritual and secular authority. In this context, events in Graubünden are notable for how well they fit into the pattern of events across Western Europe in the early seventeenth-century, despite the region’s unusual political structure and political culture. Moreover, as visible from the epigram that opens this paper, confessional extremism in Graubünden appeared in its purest form primarily (though not entirely) as accusations against the other party found in the rhetoric following outbursts of violence, which often ignored the complex constellations of political and religious circumstances involved. Pamphlets on one side of the Valtellina and Prättigau rebellions celebrated the upright citizens who had bravely defended their liberty while expelling dangerous religious extremists, while the other side decried bloodthirsty religious rebels who mowed down innocent women and children (in the Valtellina) or brave priests leading them to the truth (in the Prättigau). The radical moderates in Graubünden might express violent ideas in pamphlets and songs attacking their rivals, but the prudent radicals involved in politics rarely simply followed their prescriptions.

2 6

The passage here comes from a letter of Georg Jenatsch from 1619 that captures the tone of the moment as seen by spiritual activists. Georg Jenatsch/Jörg Jenatsch, Briefe, 1614–1639, ed. Alexander Pfister (Chur, 1983), p. 59. 27 On these murders, see Head, Jenatsch’s Axe (note 18), esp. chapter 5. 28 The phrase is from the title of Blutige Sanfftmuet (note 1).

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We can ask, finally, whether the republican context of Graubünden substantially inflected the pathway to violence, or shaped the responses of various thinkers to the confessional conflict they experienced. My last piece of evidence, a tract from the early 1620s by Daniel Anhorn, son and father of noted Reformed pastors in Graubünden and eastern Switzerland, speaks to this issue.29 Anhorn’s tract, entitled “Vertrauwlicher Discurs an die Herren Grisonen,” was written in 1621, at the peak of confessional tensions and in the shadow of his own recent exile from his homeland.30 The text is interesting for its distinctive way of handling the relationship between spiritual dominion, based on divine commandment, and secular politics. Anhorn first insisted on absolute divine sovereignty in politics, unmediated by traditional lordship. His rhetoric was characteristically Calvinist, and he cited various Old Testament proof texts from Daniel, Jeremiah, and Isaiah to show that only unquestioning adherence to God’s religion and commandments, no matter how bloody the consequences, rather than treaties with unreliable foreign potentates could preserve Graubünden from the Spanish ‘fifth monarchy’ he so feared.31 “Mitt Blut ist die Kirch gepflantzet worden, Im Blut ist sy gewachßen,” he insisted.32 But men also had to make prudent choices, Anhorn conceded, and after a lengthy recitation of the constitutional history and diplomatic maneuverings behind Graubünden’s loss of the Valtellina in 1621, he recommended a new alliance with the king of France that should include the promise “die Bapistische Religion weitter unbetrengt zu laßen.”33 Alliance with a Catholic monarch and protection of Catholic worship would re-establish a free republic in Graubünden and thus conform to God’s plan. Despite his invocation of Calvinist and monarchomachical discourses, in short, Anhorn proposed extremely prudent 2 9

His father, Bartholomäus Anhorn, was pastor in Fläsch and then Maienfeld, and was a prodigious collector of historical materials and amateur historian who generally belonged to the moderate faction of the Reformed Synod in Graubünden. Daniel followed his father as pastor in Fläsch, and father and son fled Graubünden after the Austrian invasion of 1620, settling in Appenzell and St. Gallen. On the Anhorns see the biographical information by Erich Wenneker, ‘Anhorn,’ in Friedrich W. Bautz/Traugott Bautz (ed.), Biographisches – Bibliographisches Kirchenlexikon (Herzberg, 1999), vol. 15, cols. 28–34. 3 0 It is preserved in a copy, together with extensive historical material collected by the Anhorns, in the cantonal library in St. Gallen, Vadianische Sammlung, Ms. 219. 31 On turning to God alone, ibid., pp. 152–3: “Zwyfflend nit, vertrauten Grisonen, dan dz Gott eben darum auch die widerynstellung eüwrer landen außgezogen bißhar, darmitt ihr nitt zuvyl auff menschen setzind, und sejnen, des höchsten gottes, an demme allain alles stehet, vergäßind.” On misguided clerics – a clear reference to the nine pastors at Thusis, on pp. 150–51: “Eüwer kirchendiener sigind nitt so getreüw gewäßt, wie jene Propheten, sonder rottierer, auffruerer, Verrätter gar.” 3 2 Ibid., pp. 40–1. 3 3 Ibid., pp. 184–5.

Confessional violence and political murder in Graubünden 263

political decisions. Like most Bündner Protestants and Catholics by the 1620s, Anhorn was another radical moderate whose demands for absolute obedience to divine commands ultimately yielded to his assessment of the political concerns of a religiously divided and republican government under great pressure. Lacking a charismatically legitimated leader to turn to – un Roi to enforce une foi, so to speak – Anhorn had to appeal to his fellow citizens and their interests, even if this forced him to contradict his own radical assessment of his obligation to a confessional God.

IV. Conclusion

I conclude that the republican political culture of the III Leagues did shape the way that confessional radicalism played out in Graubünden. The universal entitlement of communal citizens to engage in politics, strongly felt and frequently exercised, meant that Bündner did not look either to a divinely authorized king or to some prophetic leader for resolution of their conflicts. Additionally, the strong bonds of communal identity provided a lived counterpoint to demands for confessional purity, even at the peak of confessional conflict in the early to mid-seventeenth century: “nit alß zwo Gemeinden […] sondern alß ein Gmeind” remained politically operative long after it was confessionally impossible. Second, the Graubünden evidence confirms Ethan Shagan’s observation that throughout the sixteenth and seventeenth centuries, almost everyone claimed to be moderate, while describing their confessional rivals as ‘extreme’ and ‘radical’.34 Most of the political rhetoric from Graubünden followed this model, as seen in the strenuous efforts by the manifestly partisan, confessional and violent leadership of the Thusis Strafgericht to claim that they represented civic, secular and authorized agents of the Bündner state. But Shagan’s observation also raises the methodological problem for historians discussed above: just like contemporaries, we can discern that strong confessional convictions led to action, especially to violent action, which represented a threat to the security of the established order across Europe. From the St. Bartholomew’s day massacre to the Sacro Macello in the Valtellina, from the assassination of Henri III and Henri IV to the assassination of Pompeius von Planta, religious difference led to destabilizing violence in various ways. Yet we face the same conundrum as contemporaries in attaching the label ‘extremist’ or ‘radical’ to any particular actor, or in creating a coherent typology of ‘confessional violence’ that does not simply reproduce partisan and contested characterizations of particular events. 3 4 Ethan Shagan, ‘Can Historians End the Reformation?’, in Archive for Reformation History,

97 (2006), pp. 298–306.

264 Randolph C. Head

The same perspectival problem applies (though in different ways) to contemporary efforts to identify ‘dangerous radicalism’ that represents a threat to our security. Our own situation, it seems, is not so far removed from that of republican citizens confronting violence and insecurity in the seventeenth century. On the one hand, we respect the importance of religious convictions in guiding individuals in their actions on all sorts of matters. On the other hand, we fear the consequences of religiously-motivated action among a religiously heterogeneous population, and are particularly sensitive to the possibility that religious conviction may trump civic duty to the detriment of the common weal. Some religious motivations are legitimate, others are dangerous. To borrow a phrase from Justice Potter Stewart of the US Supreme Court, both as historians and as citizens we find it difficult to define dangerous religious violence, even though we “know it when we see it.”35

3 5

Justice Stewart originally used this striking phrase in an opinion on the definition of pornography. For an analysis revealing the context, see Paul Gewirtz, ‘On “I know it when I see it,”’ in Yale Law Journal, 105 (1996), pp. 1023–47.

SEKTION V · Sicherheit vor Gewalt – Sicherheit durch Gewalt

Horst Carl

Einleitung in die Sektion: Sicherheit vor Gewalt – Sicherheit durch Gewalt Wenn für den Titel unserer Sektion die rhetorische Figur des Chiasmus gewählt wurde, so unterstreicht dies zunächst einmal die paradoxe Verschränkung von Gewalt und Sicherheit. Schon das übergreifende Thema „Sicherheit“ oder spezifischer des „Herstellens von Sicherheit“ besitzt eine ausgesprochene Affinität zu paradoxen Konstellationen, weil allein schon die Dynamik eines Prozesses der Herstellung von Sicherheit Unsicherheit erzeugen kann – im sogenannten „Sicherheitsdilemma“ ist dies auf einen politikwissenschaftlichen Begriff gebracht worden.1 Gerade beim Begriffspaar „Gewalt“ und „Sicherheit“ wird eine solche Dialektik jedoch in besonderem Maße virulent, denn Sicherheit und Gewalt sind sowohl antithetische, als auch kausal miteinander verknüpfte Begriffe. Physische Gewalt2 kann einerseits grundlegende Herausforderung und damit entscheidende Motivation zur Herstellung von Sicherheit vor eben solcher Gewalt sein, andererseits kann Gewalt selbst dazu dienen, Sicherheit herzustellen. Physische Gewalt ist also „manifeste“ Bedrohung von Sicherheit und Sicherheitsressource in Einem. 1 Eingeführt

hat den Begriff der deutsch-amerikanische Politologe John Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, in: World Politics 2 (1950), S. 171–201; ders., Idealistischer Internationalismus und das Sicherheitsdilemma, in: ders., Staatenwelt und Weltpolitik, Hamburg 1974, S. 39–56. Herz beschrieb damit ein Phänomen der internationalen Politik, dass vor allem in der Zeit der Wettrüstens nach dem Zweiten Weltkrieg evident war: Das Sicherheitsstreben eines Staates hatte zur Konsequenz, dass die Unsicherheit anderer Staaten subjektiv oder objektiv zunahm – das entsprechende Wettrüsten führte nur zur Verallgemeinerung solcher Unsicherheit. 2 Entsprechend der aktuellen historischen Gewaltforschung wird der Gewaltbegriff im folgenden für Phänomene physischer bzw. kriegerischer Gewalt gebraucht – die Ausweitung des Gewaltbegriffs im Sinne von Konzepten „struktureller“ Gewalt wird wegen der damit einhergehenden mangelnden Trennschärfe als problematisch angesehen. Vgl. Gertrud Nunner-Winkler, Überlegungen zum Gewaltbegriff, in: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soefner (Hrsg.), Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt a. M. 2004, S. 21–61; Gerd Schwerhoff, Gewalt, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart/ Weimar 2006, Sp. 787–794, hier Sp. 788.

266 Horst Carl

Diese paradoxe Verschränkung von physischer oder kriegerischer Gewalt mit Sicherheit kommt auf zahlreichen Ebenen zum Ausdruck, sei es in der antiken Sentenz des „Si vis pacem para bellum“ (Wer Frieden will, bereite sich auf den Krieg vor)3 oder zugespitzt zum moralischen Dilemma, mit dem etwa Wehrdienstverweigerern in der Bundesrepublik in den umstrittenen Prüfverfahren bis 1983 die Unhaltbarkeit einer pazifistischen Haltung vorgeführt werden sollte.4 Dies gilt auch mit Blick auf die Akteure wie beispielsweise das Militär oder aber Sicherheitsakteure, die diese Rolle aufgrund ihrer spezifischen Gewaltexpertise einnehmen. Verfahren der Herstellung von militärischer Sicherheit wie beispielsweise eine zeitliche und räumliche Einhegung der Gewalt oder auch der Monopolisierung von Gewalt stellen stets die Präsenz oder Möglichkeit von Gewalt in Rechnung. Auch hier verweisen etwa aktuelle politische Diskussionen um die Frage, ob es sich beim „Export von Sicherheit“ nicht eher um einen „Gewaltexport“ handelt, auf grundlegende Ambivalenzen der Herstellung von Sicherheit. Wenn Gewalt und Sicherheit in solch ausgezeichneter, weil dialektischer Weise aufeinander bezogen sind, hat eine entsprechende Sektion gerade für eine Frühneuzeit-Tagung zum Thema „Sicherheit“ wohl systematische Bedeutung. Als Epoche der Staatsbildung und mithin der Durchsetzung eines staatlichen Gewaltmonopols wie auch der gewaltsamen europäischen Expansion besitzen gerade auf zentralen Ebenen die mehr oder minder paradoxen Verschränkungen von physischer Gewalt und Sicherheit exemplarischen Charakter. Die spezifisch frühneuzeitlichen Problemstellungen sind nun weder neu noch undiskutiert:5 Es gibt beispielsweise die Möglichkeit, den Chiasmus von Gewalt und Sicherheit in der Variante der Hobbes’schen Theorie der Staatsgenese zu lesen: Als Konsequenz der unbeschränkten Möglichkeit von Gewalt und folglich völligen Unsicherheit für Leib und Leben im Krieg Aller gegen Alle wird das exklusive Recht auf Gewaltausübung strikt auf Herrscher und Staat übertragen. Staatsbildung beruht also auf der Genese eines staatlichen Gewaltmonopols und mindestens ebenso 3

Die ursprüngliche Version „Qui desiderat pacem, preparat bellum“ findet sich zuerst beim spätantiken Militärtheoretiker Flavius Vegetius, dem in Mittelalter und Früher Neuzeit am intensivsten rezipierten antiken Autor zum Militärwesen. Gisela Naegle, „Qui desiderat pacem, preparat bellum.“ Guerre et paix chez Jean Juvénal des Ursins et Enea Silvio ­Piccolomini, in: dies. (Hrsg.), Frieden schaffen und sich verteidigen im Spätmittelalter. Faire la paix et se défendre à la fin du Moyen Age (Pariser Historische Studien 98), München 2012, S. 267–314, hier S. 268f. 4 Patrick Bernhard, Kriegsdienstverweigerung per Postkarte. Ein gescheitertes Reformprojekt der sozialliberalen Koalition 1969–1978, in: VfZ 53 (2005), S. 109–139. 5 Für zahlreiche Aspekte der Gewalt in der Frühen Neuzeit grundlegend: Claudia Ulbrich/ Claudia Jarzebowski/Michaela Hohkamp (Hrsg.), Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD (Historische Forschungen 81), Berlin 2005.

Sicherheit vor Gewalt – Sicherheit durch Gewalt 267

auf einer Einsicht in die Notwendigkeit eines solchen staatlichen Gewaltmonopols. Dass die Verstaatlichung von Gewalt gerade im „eisernen“ 17. Jahrhundert nicht eine Verminderung von Gewalt, sondern in Form innerer Repression und äußerer Kriegsverdichtung eher deren Zunahme zur Folge hatte, lässt sich als frühneuzeitliche Variante des Sicherheitsdilemmas interpretieren.6 Die frühneuzeitliche Staatsbildungsgeschichte kann man auch anders lesen: Charles Tilly hat in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Genese des Staates als eine Art Schutzgeld-Mechanismus beschrieben. Das Wachstum der „Staatsgewalt“ und deren Monopolstreben resultiert demnach aus einem Handlungszusammenhang, in dem die staatlichen Organisationen Schutz vor physischer Gewalt offerieren, deren Urheber sie freilich selbst sind. Dahinter steckt die Logik der Anbieter von Schutz und Sicherheit, die selbst für die entsprechende Nachfrage sorgen. Das organisierte Verbrechen agiert bei seinen Schutzgeldgeschäften bekanntlich nicht anders, weshalb Tilly geradezu von einer „organized crime theory“ der Staatsbildung gesprochen hat.7 Gadi Algazi hat der mittelalterlichen Fehde die gleiche Logik unterstellt: Der eigentliche Adressat von Fehdehandlungen seien gar nicht die jeweiligen in der Regel adligen Fehdegegner gewesen, sondern die beiderseitigen Untertanen. Als die eigentlichen Leidtragenden der Gewalthandlungen sei ihnen durch die Fehdegewalt immer wieder von Neuem ihre Schutzlosigkeit vor Augen geführt worden, und es seien gerade diejenigen, die Gewalt ausgeübt hätten, die dann jeweils als Anbieter von Schutz vor eben dieser Gewalt sich profilieren oder legitimieren konnten.8 Die Logik der „Schutzleistungserpressung“ adeliger Fehdeführer wäre dann um keinen Deut besser als die entsprechender Dienstleister etwa in den als „TürsteherSzenen“ bekannt-berüchtigten Kartellen, die den lukrativen Schutz, aber auch entsprechenden Einfluss in Rotlicht-Milieus organisieren. Mit einem vergleichbaren ökonomischen Erklärungsmodell wie Tilly – allerdings ohne die provokative Nähe zu Formen organisierter Kriminalität – argumentieren auch neuere Studien, die das klassische Thema des Zusammenhangs von Staatsbildung und organisierter Gewalt in der Frühen Neuzeit aufgrund von Angebot und Nachfrage nach dem Gut „Sicherheit“ bzw. „Schutz und Schirm“ 6

Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 352f. 7 Charles Tilly, War-Making and State-Making as Organized Crime, in: Peter B. Evan/­ Dietrich Rueschemeyer/Theda Skopcol (Hrsg.), Bringing the State Back In, Cambridge 1985, S. 169–191. 8 Gadi Algazi, „Sie würden hinten nach so gail.“ Vom sozialen Gebrauch der Fehde im späten Mittelalter, in: Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hrsg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 39–77; ders., Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt a. M./New York 1996.

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analysieren. So hat Jan Glete in seiner Studie zum Aufstieg des „fiscal-military state“ zwischen 1500 und 1660 das letztliche Scheitern Spaniens mit einer spezifischen Unsensibilität auf spanischer Seite erklärt: Dass die Dienstleistung der Sicherheitsgewährung durch Soldaten von der Akzeptanz der Beschützten abhängig war, habe man auf spanischer Seite nicht erkannt: Like all successful enterprises, protection sellers must listen to demands and new ideas from customers, otherwise they will stagnate and decline. An increasing lack of sensitivity to its customers’ demands […] may very well be the best brief explanation of the decline of that great protection selling enterprise, the Spanish Monarchy.9

Offensichtlich besitzt eine solche ambivalente Verschränkung von Gewalt und Sicherheit eine beträchtliche Verallgemeinerungsfähigkeit, sie findet sich beispielsweise nicht nur im Kontext von Staatsbildung, sondern ist in vergleichbarer Weise auch für den Zusammenhang von sozialer Kontrolle und Gewalt diskutiert worden. Die amerikanische Soziologin und Historikerin Roberta Senechal de la Roche hat beispielsweise 1996 ein dichtes Analyseraster für Phänomene von „collective violence as social control“ entworfen, mit denen die Kontexte und Logiken von kollektiven Gewaltphänomenen wie „Lynchen“ oder „Riots“ systematisiert werden können – Gewalt also nicht primär als Gefährdung, sondern als Mittel sozialer Kontrolle.10 Im Kontext der Debatte um frühneuzeitliche Sozialdisziplinierung ist eine vergleichbare Diskussion auch in der historischen Kriminalitäts- und Gewaltforschung intensiv geführt worden: Gerd Schwerhoff beispielsweise hat wiederholt darauf insistiert, dass Gewalt auch Mittel sozialer Kontrolle gewesen ist11, und die westeuropäische, insbesondere französische Forschung zum Duell hat ebenfalls eine solche paradoxe Verschränkung konstatiert, wenn Sie die Genese des frühneuzeitlichen Duells weniger aus der gewaltaffinen Fehde, als vielmehr aus den zivilisierten Codes und Normen einer höfischen Adelsgesellschaft hergeleitet hat, deren Stabilisierung das Duell gedient habe.12 Als soziale Praxis habe diese Form der Gewaltausübung damit aber genau das realisiert, was der Staat mit seinen wiederholt ausgesprochenen Fehdeverboten intendiert habe.

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Jan Glete, War and the State in Early Modern Europe: Spain, the Dutch Republic and Sweden as fiscal-military states, 1500–1600, London 2002, S.139. 10 Roberta Senechal de la Roche, Collective Violence as Social Control, in: Sociological Forum 11 (1996), S. 97–128. 11 Gerd Schwerhoff, Social Control of Violence – Violence as Social Control: The Case of Early Modern Germany, in: Hermann Roodenburg/Pieter Spierenburg (Hrsg.), Social Control in Europe, Bd. 1: 1500–1800, Columbus/Ohio 2004, S. 220–246. 12 Markku Peltonen, The Duel in Early Modern England. Civilty, Politeness and Honour, Cambridge 2003.

Sicherheit vor Gewalt – Sicherheit durch Gewalt 269

Eines allerdings eint diese unterschiedlichen Ansätze: Die Einsicht in die Ambivalenz von „organisierter“ Gewalt geht einher mit einer Distanz zu teleologischen Großen Erzählungen von der erfolgreichen staatlichen Gewaltmonopolisierung. Dahinter steckt zugleich ein „erhebliches Misstrauen gegen eine legitimierende Argumentation, wonach Gewalt organisiert werden müsse, um Frieden zu ermöglichen“.13 Gemeinsam ist diesen Ansätzen schließlich auch, dass sie versuchen, diesen Paradoxien durch einen genaueren Blick auf die entsprechenden Gewaltsituationen und vor allem die handelnden Akteure beizukommen. Vielleicht kommt man den Paradoxien in der Tat besser auf die Spur, wenn man sich von der abstrakten Makroperspektive „Staat“ stärker auf die Akteure bzw. die beteiligten Gruppen konzentriert – also durchaus auch einmal auf die „Türsteher“ schaut. So lässt sich beispielsweise besser herausarbeiten, dass sich in zunehmend komplexeren Gesellschaften besonders berechtigte oder befähigte Kollektive ausdifferenzieren, die Prozesse der Ver- und Entsicherheitlichung gestalten und dabei als „Sicherheitseliten“ auch eigene Interessen vertreten. In systematischer Hinsicht lassen sich dabei zwei idealtypische Modelle unterscheiden, in denen Kompetenz in sicherheitsrelevanten Handlungsfeldern gestaltet wird: Auf der einen Seite wird diese Kompetenz bzw. die entsprechende Funktionalität und Legitimität monopolisiert, wie dies exemplarisch in der Herausbildung eines staatlichen Gewaltmonopols zum Ausdruck kommt. Auf der anderen Seite werden das Recht und die Pflicht zur Selbstsicherung in hohem Maße den Einzelnen oder einer Pluralität von Kollektiven überlassen, die solcherart die Sicherung der Gesellschaft – etwa über Miliz- und Wehrpflichtsysteme – gewährleisten sollen. Auch historische Herrschaftsverbände basieren grundsätzlich auf dem Prinzip, eine differenzierte Verantwortung für die Sicherheit des Verbandes herauszubilden, indem einzelne Mitglieder oder gesellschaftliche Gruppen mit privilegierten Kompetenzen ausgestattet werden und im Gegenzug Sicherheiten (militärischen Schutz, ökonomische Versorgung etc.) gewährleisten. Als Sicherheitselite konstituierte sich auf diese Weise, wer eine entsprechende Legitimation und Kompetenzen für sich reklamieren konnte – unabhängig von dem historisch jeweils erreichten Grad an Staatsförmigkeit respektive Gewaltmonopolisierung. Die neuere historische Gewaltforschung hat zunehmend solche überschaubaren Kollektive in den Blick genommen, weil es gerade konkrete und eingrenzbare soziale Gruppen sind, deren Eigendynamik das jeweilige Gewalthandeln prägt.14 13

Horst Carl, Gewalt und Herrschaftsverdichtung. Die Rolle und Funktion organisierter Gewalt in der Frühen Neuzeit, in: Ulbrich/Jarzebowski/Hohkamp, Gewalt (wie Anm. 5), S. 141–143, hier S. 141. 14 Grundlegende Anregung hat die soziologische Gewaltforschung vermittelt: Trutz von Trotha, Forms of Martial Power. Total Wars, Wars of Pacification, and Raid. Some Observations on the Typology of Violence, in: Georg Elwert/Stephan Feuchtwang/Dieter

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Die aktuellen Diskussionen um die entscheidende Rolle von Jugendgangs bei den riots in englischen Städten Anfang August 2011 verweisen im übrigen auf die ­Aktualität des Themas der Vergemeinschaftung durch kollektive Gewaltausübung.15 Dieses verstärkte Interesse an Gruppen als Gewaltakteuren lässt sich auch in der neueren Militärgeschichte belegen, wenn etwa die Bedeutung von Kleingruppen und deren Interaktion und Identität für die Kohäsion von Armeen intensiv diskutiert werden.16 Die mythisierte „Kameradschaft“ der Wehrmacht17 findet dabei in Gestalt der frühneuzeitlichen „Zeltgemeinschaften“ durchaus ihre Entsprechungen. Unter dem Begriff „Gewaltgemeinschaften“ hat sich zudem unlängst eine Forschergruppe der DFG gebildet, die epochenübergreifend soziale Gruppen oder Netzwerke, für deren Genese, Konstitution und Identität Gewaltausübung konstitutiv ist, zum Thema gemacht hat. Das Untersuchungsspektrum reicht dabei von gotischen Kriegergruppen über frühneuzeitliche Söldner und Kosaken bis hin zu afrikanischen Kriegergruppen oder faschistischen Kampfbünden.18 In der vorliegenden Sektion sollen folglich solche Gruppen bzw. „Gewaltgemeinschaften“ im Mittelpunkt stehen, die als prominente Akteure im Spannungsfeld von Sicherheit und Gewalt auftreten. Dabei geht es stets auch darum, unter welchen Bedingungen denn aus solchen Gewaltgemeinschaften ausgesprochene Sicherheitsakteure werden konnten oder ihnen dies verwehrt wurde. Zugleich geht es auch um die Frage, welche Diskurse oder Praktiken dazu führten, dass Gewaltakteure zu Protagonisten einer Sicherheitspolitik, Gewaltgemeinschaften zu Sicherheitsakteuren mutieren konnten, wie also eine entsprechende Nachfrage generiert wurde und einschlägige Kompetenz geltend gemacht wurde.

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Neubert (Hrsg.), Dynamics of Violence. Processes of Escalation and De-Escalation in Violent Group Conflicts, in: Sociologus, Beiheft 1 (1999), S. 35–61. Sven Reichardt, Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, Köln 2002. Hendrik Vollmer, Kohäsion und Desintegration militärischer Einheiten. Von der Primärgruppenthese zur doppelten sozialen Einbettung militärischen Handelns, in: Maja Apelt (Hrsg.), Forschungsthema: Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten, Berlin 2010, S. 163–192. Thomas Kühne, Gruppenkohäsion und Kameradschaftsmythos in der Wehrmacht, in: Rolf-Dieter Müller/Hans E. Volkmann (Hrsg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 534–550; ders., Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006. Zum Forschungsprogramm siehe http://www.uni.giessen.de/cms/fbz/fb04/institute/ geschich­te/forschung/dfg_forscher/Projekte (20. 7. 2012); vgl. auch Horst Carl/Hans-Jürgen Bömelburg, Einleitung: Beutepraktiken – Historische und systematische Dimensionen des Themas „Beute“, in: Horst Carl/Hans-Jürgen Bömelburg (Hrsg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis in die Neuzeit, Paderborn 2011, S. 11–31, hier S. 23–30 (Gewaltgemeinschaften als „Beutegemeinschaften“).

Sicherheit vor Gewalt – Sicherheit durch Gewalt 271

In ihrer zeitlichen und räumlichen Ausrichtung – vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, von Zentraleuropa über Ostmitteleuropa bis hin nach Indien und Amerika – eröffnen die Beiträge dieser Sektion einen weiten Horizont. Horst Carl fragt danach, unter welchen Umständen aus Akteuren, die die öffentliche Sicherheit bedrohten, „Sicherheitskräfte“ werden konnten. Als Beispiel dienen der fehdeführende Adel sowie vagierende Söldner („Gartknechte“), die im 16. Jahrhundert als größte Bedrohung des Landfriedens im Reich galten. Der auf Gewaltverzicht beruhende Landfrieden ließ sich jedoch paradoxerweise nicht ohne Mitwirkung dieser ausgewiesenen Gewaltakteure durchsetzen. Beim Adel war dies dann möglich, wenn ständische Solidaritäten außer Kraft gesetzt wurden, so dass auch eine Landfriedensexekution gegen fehdeführende Standesgenossen vereinbar mit adeligem Selbstverständnis war. Beim Versuch, das Sicherheitsproblem der Gartknechte durch Alternativen zu den Söldnerheeren lösen, mussten die Obrigkeiten gleichwohl auf deren Gewaltexpertise zurückgreifen. Obrigkeitlichen Kontrollmaßnahmen in Gestalt von „Passporten“, mit deren Hilfe diese mobilen Akteure gebändigt werden sollte, war dann Erfolg beschieden, wenn die Zielgruppe dieses Mittel für eigene Zwecke – als Arbeitszeugnis – in Anspruch nehmen konnte. Hans-Jürgen Bömelburg widmet sich Gewaltgemeinschaften als Sicherheitsgemeinschaften in Polen-Litauen im besonders unruhigen 17. Jahrhundert. Die dauernden Kriege brachten gerade an der „frontier“ zum Großfürstentum Moskau und zum Krim-Khanat Kriegergruppen wie die nach ihrem ersten Anführer benannten polnischen Reitertruppen (lisowczycy) hervor, die in den zehn Jahren ihres Bestehens (1613–1623) bis nach Westeuropa Angst und Schrecken verbreiteten. Die ukrainischen Kosaken hingegen gehörten zum festen Inventar der vom permanenten Kleinkrieg geprägten Grenzregionen. Der Beitrag zeigt, dass im 17. Jahrhundert die polnisch-litauische Variante eines genossenschaftlich fundierten kollektiven Sicherheitssystems nicht mehr ausreichte, diese Gruppierungen zu neutralisieren oder zu integrieren. Gelang es in den zentralpolnischen Regionen noch, eine Gewaltgemeinschaft wie die „lisowczycy“ entweder in die bestehenden militärischen Formationen zu integrieren oder aber zu isolieren und dadurch letztlich auszuschalten, so scheiterte die Einbindung der Kosaken in kollektive Sicherheitsstrukturen, weil in der Zentralukraine die Voraussetzungen für ein genossenschaftliches Sicherheitssystem fehlten. Die dazu nötige politische Teilhabe und rechtliche Gleichstellung wurde den Kosaken nämlich verweigert. Für den Kontext kolonialer Expansion, den Marian Füssel in seinem Beitrag am Beispiel der englischen Kolonialpolitik in Amerika und Indien im Siebenjährigen Krieg diskutiert, war gleichfalls die Konkurrenz höchst unterschiedlicher Gewaltgemeinschaften charakteristisch, die nicht als Sachwalter höherer staatlicher Ordnung auftraten, sondern sehr konkrete Eigeninteressen verfochten. Die Handelskompanien und ihre Agenten, die zahlenmäßig begrenzten Einheiten der

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Linientruppen, die Siedler sowie namentlich die indigenen Hilfstruppen übten jeweils Gewalt aus, um damit aus ihrer Sicht Gewalt zu verhindern und Sicherheit zu gewährleisten. Ambivalent war vor allem der Rückgriff auf indigene Verbündete: Sowohl die Inanspruchnahme indischer Hilfstruppen (Sepoy) als auch die indianischer Krieger war angesichts der geringen Zahl der Europäer ein Akt der Notwendigkeit, doch barg die ökonomisch wie militärisch motivierte Ausstattung dieser Hilfstruppen mit modernen Waffen stets das Sicherheitsrisiko, dass diese Waffen dann auch gegen die Europäer selbst eingesetzt werden konnten, wie dies dann auch Realität werden sollte – am bedrohlichsten im Sepoy-Aufstand von 1857 in Indien. Zu dieser Ambivalenz gehörte jedoch auch, dass Stigmatisierungen indigener Gruppen den Europäern dazu dienten, potentielle Bedrohungen umso wirkungsvoller medial zu inszenieren. Ganz gleich, ob dazu die „Wilden“ Nordamerikas, katholische Franzosen oder orientalische Despoten in Anspruch genommen wurden – stets konnten bestimmte Akteure als permanente Gefahr inszeniert werden, um das eigene Gewalthandeln zu rechtfertigen. Bernd Klesmann widmet sich schließlich den Sicherheitsdiskursen und Akteuren der Französischen Revolution, die für die Zuspitzung entsprechender Versicherheitslichungsdiskurse wie auch die damit einhergehenden Dilemmata wohl epochale Bedeutung gewonnen hat. Schließlich bedeutete die Gründung des berüchtigten Sicherheitsausschusses 1792 (Comité de sûreté générale), der die öffentliche Sicherheit gegen allumfassende Bedrohungen garantieren sollte, den Weg in die Terreur als umfassendes Regime der Unsicherheit. Auch bei Bernhard Klesmann geht es um die Komplementarität und schließlich Konkurrenz zweier neuer Organisationen, die die öffentliche Sicherheit durchsetzen sollten. Sowohl die „Gardes nationales“ als auch die Pariser Commune repräsentierten in der Hauptstadt Paris die revolutionäre Gewalt, deren Legitimität zur Herstellung von Sicherheit sich aus immer exzessiveren Bedrohungsszenarios speiste. Beide scheiterten jedoch im Geflecht konkurrierender Ansprüche und Akteure: Die Angehörigen der Garde nationale konnten sich am 10. August 1792 nicht für eine einheitliche Parteinahme beim gewaltsamen Umsturz der Monarchie entscheiden, ihre Vertreter starben schließlich auf beiden Seiten; und die Pariser Commune wurde so sehr in die Radikalisierung der Revolution und die Phase der Terreur involviert, dass sie keine dauerhafte Legitimität für die Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit erringen konnte. Am Ende, so kann man den Bogen weiterschlagen, stand die Militärdiktatur Napoleon Bonapartes und setzte sich also jene gesellschaftliche Formation mit der größten Professionalität in Sachen Gewaltanwendung durch. Der Preis öffentlicher Sicherheit in Frankreich war freilich eine expansive Kriegspolitik in Europa von bislang ungekanntem Ausmaß.

Horst Carl

Landfriedensbrecher und „Sicherheitskräfte“: Adlige Fehdeführer und Söldner im 16. Jahrhundert I.  Gewaltakteure und Landfrieden

Die Durchsetzung des Landfriedens im Heiligen Römischen Reich im 16. Jahrhundert gilt als eine der grundlegenden Leistungen dieses politischen Verbandes und lässt sich geradezu als raison d´être seiner Fortexistenz in Anspruch nehmen.1 Die verfassungs- und rechtsgeschichtliche Forschung zum Alten Reich hat diesen Prozess ganz im Sinne der Etablierung rechtlicher Verfahren und Institutionen als Teil eines grundlegenden Verrechtlichungsprozesses interpretiert. Dass ein entsprechendes Rechtsgebot bzw. Rechtsangebot, wie es 1495 mit der Etablierung des Reichskammergerichts realisiert wurde, wesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen hat, sei nicht in Abrede gestellt. Aber eine mediävistische Perspektive, die mit dem „Ewigen Landfrieden“ das Thema Landfriedenspolitik erledigt erscheinen lässt2, greift ebenso zu kurz wie eine Erklärung, die die folgende Entwicklung auf eine geradezu automatisch pazifizierende Wirkung rechtlicher Regelungen zurückführt und die Durchsetzung des Landfriedens als großes Verrechtlichungsnarrativ präsentiert. Allein die Tatsache, dass eine flächendeckende Durchsetzung des Landfriedens im Reich im 16. Jahrhundert erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung realisiert wurde, verweist darauf, dass die Akzeptanz des Rechtswegs als Alternative zum gewaltsamen Konfliktaustrag nicht selbstverständlich war und keineswegs einem Automatismus folgte.3 Vielmehr konnte die Anwendung von Gewalt selbst eine zentrale Rolle spielen, wenn es darum ging,

1

Auch neuere Gesamtdarstellungen des „Alten Reiches“ setzen mit dem Epochenjahr 1495 und der Bedeutung des „Ewigen Landfriedens“ für die institutionelle Verdichtung des Reiches ein: Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999, S. 32–38; Axel Gotthard, Das Alte Reich 1495–1806, 1. Aufl. Darmstadt 2003, S. 33–48; Johannes Burkhard, Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit, München 2009, S. 10–15. 2 Arno Buschmann/Elmar Wadle (Hrsg.), Landfrieden. Anspruch und Wirklichkeit (Rechtsund staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N.F. 98), Paderborn 2002; Mattias G. Fischer, Reichsreform und „Ewiger Landfrieden“. Über die Entwicklung des Fehderechts im 15. Jahrhundert bis zum absoluten Fehdeverbot von 1495 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N.F. 34), Aalen 2007. 3 Christian Wieland, The Violence of the Nobility and the Peaceableness of the Law. The Rhetoric and Practice of German Aristocrats towards the „New“ Judiciary in the Sixteenth Century, in: Jörn Leonhard/Christian Wieland (Hrsg.), What makes the Nobility Noble? Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century (Schriftenreihe der FRIAS School of History 2), Göttingen 2011, S. 35–51.

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den Rechtsweg zu erzwingen – das Fehdewesen folgte einer ähnlichen Logik –4 oder Frieden zu schaffen und zu bewahren. Kommt der systematische Bezug des Landfriedens zur Gewalt darin zum Ausdruck, dass Sicherheit durch organisierten Gewaltverzicht hergestellt werden sollte, so definierte er sich mit dem Bezug auf „Land“ auch über seine spezifisch räumliche Komponente.5 Es ging um die Befriedung innerhalb eines festumrissenen Bezirks und damit um Konzeptionen einer „Zonierung“ von Sicherheit. Im Reich, wo das Königtum im Spätmittelalter Ansprüchen an eine zentrale Durchsetzung von Sicherheit nicht genügen konnte, bot gerade eine solche Heran­gehensweise die Möglichkeit, die Herstellung von Sicherheit dezentral zu organisieren und diese kleineren Einheiten zu überantworten. Der Territorialisierungsprozess im spätmittelalterlichen Reich hat hier eine seiner Wurzeln, denn es waren letztlich die Territorien, die sich beim Versuch, Sicherheit zu gewährleisten, zu profilieren vermochten. Die Aufgabe, als Koordinierungsinstanzen solch dezentralisierter Sicherheitspolitik zu wirken, wurde weniger vom Königtum6 als vielmehr von territorienübergreifenden regionalen Landfriedensorganisationen, in der Regel auf bündischer Grundlage, übernommen.7 Die dezentrale Form der 4

Die Literatur zum Fehdewesen ist mittlerweile kaum mehr überschaubar. Umstritten ist insbesondere die von Otto Brunner herausgestellte und in der Folgezeit immer wieder kritisierte Fundierung der Fehde in spezifischen Rechtsanschauungen. Zusammenfassend Christine Reinle, Fehde, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., hrsg. von Albrecht Cordes/Heiner Lück u. a., München 2007, Sp. 1514–1525; vgl. auch Alexander Patschowsky, Fehde im Recht. Eine Problemskizze, in: Christine Roll (Hrsg.), Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe, Frankfurt a. M. 1996, S. 145–178; zum aktuellen Forschungsstand für das 16. Jahrhundert vgl. Alexander Jendorff/ Steffen Krieb, Adel im Konflikt. Beobachtungen zu den Austragsformen der Fehde im Spätmittelalter, in: ZHF 30 (2003), S. 179–206; Hillay Zmora, Feuds for and against Princes. Politics, Violence and Aristocratic Identity in Early Modern Germany, in: Leonhard/ Wieland (Hrsg.), What makes the Nobility Noble (wie Anm. 3), S. 121–141. 5 Hans-Jürgen Becker, Landfrieden I, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, München 1991, Sp. 1657f.; ebenfalls mit Schwerpunkt auf dem Mittelalter Ekkehard Kaufmann, Landfrieden I (Landfriedensgesetzgebung), in: Alfred Erler/Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1979, Sp. 1451–1465; Heinz ­Holzhauer, Landfrieden II (Landfrieden und Landfriedensbruch), ebd., Sp. 1465–1485; zur frühneuzeitlichen Entwicklung vgl. Horst Carl, Landfrieden, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, Stuttgart/Weimar 2008, Sp. 493–500. 6 Zum Scheitern königlicher Landfriedenspolitik immer noch grundlegend Heinz Angermeier, Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter, München 1966. 7 Peter Moraw, Die Funktion von Einungen und Bünden im spätmittelalterlichen Reich, in: Volker Press/Dieter Stievermann (Hrsg.), Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 23), München 1995, S. 1–21; Guido Komatsu, Landfriedensbünde im 16. Jahrhundert. Ein typologischer Vergleich, Göttingen 2001; Horst Carl, Einungen und Bünde, in: Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Lesebuch Altes Reich, München 2006, S. 101–106; Matthias Fahrner, Der Landfrieden im

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Etablierung und Wahrung von Sicherheit im Reich führte somit von vornherein dazu, dass es sich bei der Landfriedenswahrung im Reich um eine Konzeption kollektiver Sicherheit handelte. Gewaltfreie Zonen sollten durch Koordinierung kleinerer Einheiten und durch gemeinsame Anstrengungen so weit als möglich ausgedehnt werden. Mit der Übertragung der Landfriedenswahrung im Reich an die Reichskreise in der sogenannten „Exekutionsordnung“ des Augsburger Reichstags 1555 fand diese Entwicklung ihren institutionellen Abschluss im Reich: Nicht das Königtum bzw. der Kaiser war künftig im Reich für die Wahrung des Landfriedens zuständig, sondern regionale Reichsinstitutionen, die an föderale Traditionen der Landfriedenswahrung anknüpften und sie fortführten.8 Wenn Landfriedenswahrung im Reich angesichts eines fehlenden Gewaltmonopols auf die Mitwirkung vieler Akteure angewiesen blieb, dann betraf die kollektive Anstrengung zur gemeinschaftlichen Herstellung von Sicherheit nicht nur die Leistungsebene von Landfriedensbünden oder Reichskreisen. Kollektive Sicherheitspolitik erfasste auch die Untertanen, die über das Institut der „Nacheile“ auf frischer Tat in die Landfriedenswahrung im lokalen Bereich einbezogen wurden.9 Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Landfriedenspolitik war jedoch auch insofern auf Kollektive hin orientiert, als das Täterprofil der Landfriedensbrecher weniger auf kriminelle Einzelakteure zielte, sondern stärker Gruppen im Blick hatte.10 In der geradezu idealtypischen Unterscheidung der Landfriedensbrecher im „Ewigen Landfrieden“ von 1495 wurden zwar an erster Stelle fehdeführende Adelige, die sehr wohl als Einzeltäter auftreten konnten, genannt, aber das Vorgehen gegen sie setzte vor allem darauf, mögliche Unterstützer gleichfalls mit strengen Sanktionen zu treffen und damit die adeligen Elsass. Recht und Realität einer interterritorialen Friedensordnung im späten Mittelalter, Marburg 2007. 8 Adolf Laufs, Der Schwäbische Kreis. Studien über Einungswesen und Reichsverfassung im deutschen Südwesten zu Beginn der Neuzeit (Untersuchungen zur deutschen Staatsund Rechtsgeschichte N.F. 16), Aalen 1968; Fahrner, Landfrieden im Elsass (wie Anm. 7), S. 615–619. 9 Herbert Obenaus, Recht und Verfassung der Gesellschaften mit St. Jörgenschild in Schwaben. Untersuchungen über Adel, Einung, Schiedsgericht und Fehde im fünfzehnten Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 7), Göttingen 1961, S. 147–150, 78f.; Laufs, Schwäbischer Kreis (wie Anm. 8), S. 95–97. 10 Dies kennzeichnet auch noch die heutige Landfriedensgesetzgebung zur Sicherung einer „öffentlichen Ordnung“, obwohl sie nur mehr eine Schwundstufe umfassender älterer Landfriedenskonzeptionen ist. Die aktuelle Definition des Landfriedensbruchs im StGB § 125 zielt ganz auf Beteiligung an einem kollektiven Tatbestand ab: „Wer sich an Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder wer auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft …“

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Fehdeführer von ihren expliziten und stillschweigenden Fehdehelfern zu isolieren.11 Als zweite Bedrohung des Reichslandfriedens wurden 1495 dann schon die beschäftigungslos umherziehenden Söldner zu Pferd und zu Fuß (Reisige und Fußknechte) aufgeführt und mit einem eigenen Paragraphen bedacht.12 Unter dem Begriff „Gartknechte“13 sollten sie spätestens in der Mitte des 16. Jahrhunderts den fehdeführenden Adel als größte Bedrohung des Landfriedens im Reich ablösen: In der Reichsexekutionsordnung des Augsburger Reichsabschiedes von 1555, der zugleich den Religionsfrieden verkündete, war das adelige Fehdewesen schon weitgehend verschwunden, während die Gartknechte an die Spitze der Sicherheitsbedrohungen rückten und ihnen ein Großteil der einschlägigen ­Delikt- und Sanktionsbestimmungen vorbehalten blieb.14 Sie repräsentierten jene Form der Bandenkriminalität, die in den älteren Landfriedensstatuten mit dem Begriff der „landschädlichen Leute“ bezeichnet worden war, und die Abgrenzung der Gartknechte zu allen möglichen Akteuren mobiler organisierter Delinquenz verschwamm im Verlauf der Frühen Neuzeit denn auch immer mehr.15 Wenn fehdeführender Adel und gartende Kriegsknechte in den Reichslandfrieden und entsprechenden Mandaten als größte Bedrohung des Landfriedens im 16. Jahrhundert namhaft gemacht wurden16, dann verweist dies auf eine für die Durchsetzung des Landfriedens charakteristische Akteurskonstellation. In 11

Vgl. dazu § 1 (Verbot der Fehdehilfe) und § 5 (Hausungsverbot) des Ewigen Landfriedens von 1495; Arno Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich. Klassische Texte und Dokumente zur Verfassungsgeschichte des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation, Nördlingen 1984, S. 160f. Beide Bestimmungen sind fester Bestandteil von Landfriedensregelungen, Fischer, Reichsreform (wie Anm. 2), S. 241–245. 12 Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich (wie Anm. 11), S. 162 (§ 7). 13 Reinhard Baumann, Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994, S. 131–141; Peter Burschel, Söldner im Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts. Sozialgeschichtliche Studien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 113), Göttingen 1994, S. 273–291. 14 Augsburger Reichsabschied 1555, § 31–53; Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich (wie Anm. 11), S. 231–240. 15 Gerd Schwerhoff, Historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen 9), Frankfurt a. M. 2011, S. 136–145; Burschel, Söldner (wie Anm. 13), S. 304–311. 16 Das Problem der aufrührerischen Untertanen sei hier ausgeklammert, obwohl die endemischen Untertanenrevolten und namentlich der Bauernkrieg zweifellos den Landfrieden im Reich in besonderem Maße bedroht haben. Aber vor 1500 spielen sie in Landfriedensregelungen keine prominente Rolle, weil sie sich nur schwer in das Schema von Fehde und landschädlichen Leuten einordnen ließen, vgl. Horst Carl, Der Schwäbische Bund 1488–1534. Landfrieden und Genossenschaft im Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 24), Leinfelden 2000, S. 482–497. 1555 schien die Gefahr großer Untertanenrevolten schon so weit gebannt, dass dieses Thema in der Reichsexekutionsordnung im Vergleich zu den Gartknechten nachrangig behandelt wurde.

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Zeiten fehlenden staatlichen Gewaltmonopols waren es gerade diese Gruppen, die über die nötige Gewaltexpertise verfügten, um den Landfrieden durchzusetzen – nachhaltig machen konnten ihn dann immer noch die Juristen. Die Durchsetzung des Landfriedens im Reich des 16. Jahrhunderts entschied sich also nicht zuletzt daran, wie sich gerade diese Gewaltakteure für die Durchsetzung von Sicherheit gewinnen ließen. Für die fließenden Grenzen zwischen beiden Optionen und damit die Thematik der Transformation von Gewaltgemeinschaften zu Sicherheitskräften dürfte hier folglich eine geradezu exemplarische Konstellation vorliegen.

II. Adelige als Sachwalter des Landfriedens

Wenn es darum geht, nachzuvollziehen, wie denn der Adel mit seinen fehdeführenden Standesgenossen umging und aus welchen Gründen sich Adelige im 16. Jahrhundert zu Sachwaltern des Landfriedens machen ließen, kann der Schwäbische Bund als ein erstes Exempel dienen.17 In dieser 1488 auf kaiserliche Initiative gegründeten Landfriedenseinung kulminierten nicht nur die Landfriedenstraditionen des spätmittelalterlichen Reiches, führende Mitglieder wie König Maximilian I., der Mainzer Kurfürst Berthold von Henneberg, der württembergische Herzog Eberhart im Barte oder Haug von Werdenberg als langjähriger Vertrauter Kaiser Friedrichs III. waren zugleich Protagonisten der institutionellen Verdichtung des Reiches. Es war gerade der Führungskreis des Schwäbischen Landfriedensbundes, der die Landfriedenspolitik zur Leitfrage des Wormser Reichstages machte und an der Formulierung von Ewigem Landfrieden und den damit zusammenhängenden weiteren Reformgesetzen entscheidend beteiligt war. Da das Reich 1495 und später keine eigene Landfriedensexekutive zustande brachte, war es vor allem der Schwäbische Bund, der bis zu seinem Ende 1534 als System kollektiver Sicherheit18 erfolgreiche Landfriedenspolitik in seinem süddeutschen Einzugsgebiet, das Kerngebiete des Reiches abdeckte, betrieb. Für unsere Fragestellung nach der Transformation von adeligen Fehdeführern zu Sachwaltern des Landfriedens bietet der Schwäbische Bund vor allem deshalb Anschauungsmaterial, weil seine Mitgliederstruktur ständeübergreifend war und ihm sowohl reichsunmittelbarer Adel und Reichsstädte wie auch Fürsten bis hin zum König angehörten. Seit 1500 war die Bundesversammlung in Gestalt dreier paritätisch besetzter Bänke für Fürsten, Adel und Städte organisiert. Die Reichsstädte, die unter den adeligen „Plackern“, die sie unter Berufung auf Fehderecht schädigten, besonders litten, hatten zweifellos das größte Interesse an 17 18

Für die Details sei summarisch auf Carl, Schwäbischer Bund (wie Anm. 16), verwiesen. Volker Press, Die Bundespläne Karls V. und die Reichsverfassung, in: ders., Das Alte Reich. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Johannes Kunisch, unter Mitarbeit von Horst Carl, Gabriele Haug-Moritz u. a., Berlin 1997, S. 67–127, hier S. 70, 111.

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einer konsequenten Durchsetzung des Landfriedens. Sie mussten jedoch immer wieder die Erfahrung machen, dass ihnen enge Grenzen gezogen waren, wenn sie ihre Sicht der landfriedensbrüchigen Niederadligen zur allgemeinen Politik des überständischen Bundes machen wollten. Weder bei den Fürsten noch erst recht bei den adeligen Bundesmitgliedern galt die Adelsfehde nämlich trotz Ewigem Landfrieden als grundsätzlich illegitim. Nur wenn besondere Konstellationen es erlaubten, Landfriedensexekutionen mit adeligem Selbstverständnis und Standesnormen kompatibel zu machen, war der Schwäbische Bund zu konsequentem und erfolgreichem Agieren in der Lage.19 Die ursprünglich von Kaiser Maximilian als Demonstration kaiserlicher Landfriedenspolitik inszenierte Landfriedensexekution des Bundes gegen die Burg Hohenkrähen im Hegau 1512 sorgte für Aufsehen im Reich, weil auch der bündische Adel sich an der Exekution gegen Standesgenossen beteiligte. Er tat dies freilich nur, weil in das Ursachengefüge der Landfriedensexekution auch Schädigungen der Familie von Frundsberg hineinspielten. Diese wiederum war auf der Adelsbank des Bundes familiär bestens vernetzt und konnte damit der Militäraktion das Gepräge einer familienpolitischen Solidaritätsaktion geben. Es war deshalb folgerichtig, wenn der bekannte Landsknechtsführer Georg von Frundsberg die Belagerung und Einnahme des Hohenkrähen leitete, doch ebenso konsequent war es, wenn die adeligen Bundesmitglieder den friedbrüchigen Kontrahenten vorab Absagebriefe zustellen ließen. Sie vollzogen die Landfriedensexekution also in den Formen des Fehderechts.20 Die adeligen Landfriedensexekutoren ließen zudem ihre Standesgenossen wissen, sie hätten die Konfrontation gerne vermieden, denn sie „wöllten von herzen den von Adel, dess gebluts sie auch wern, gunnen, das sie sich adelig und wie in wol geburte, hielten“.21 Es existierte auch weiterhin auf Seiten der Landfriedenswahrer ein standesspezifisches Selbstverständnis, zu dessen integralen Elementen gewaltsame Selbsthilfe und Fehderecht gehörten. Voraussetzung adeliger Landfriedenswahrung war deshalb, dass dies mit adeligem Standesdenken vereinbar war. Beobachten lässt sich dies vor allem bei der großen Strafexpedition des Bundes gegen den fränkischen Adel, bei dem er 1523 zahlreiche Burgen fränkischer Landfriedensbrecher zerstörte – ein fraglos entscheidender Schlag gegen den fehdeführenden Adel, der weit über Franken hinaus Wirkung zeigte. Der im Bund organisierte Adel engagierte sich dabei an vorderster Front, doch geschah dies auch jetzt weniger aufgrund einer Identifikation mit allgemeiner Landfriedenspolitik als vielmehr aufgrund familienpolitischer Motive. Die Auseinandersetzungen 19

Horst Carl, Landfriedenseinung und Standessolidarität – der Schwäbische Bund und die „Raubritter“, in: Roll (Hrsg.), Recht und Reich (wie Anm. 4), S. 471–492. 2 0 Ebd., S. 482f. 21 Zitat ebd., S. 482.

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entzündeten sich am Totschlag des niederadligen Hans Thomas von Absberg am Reichsgrafen Joachim von Oettingen, einem prominenten Bundesmitglied.22 Der als Fehdehandlung deklarierte Totschlag mobilisierte das ganze familiäre Netzwerk der Oettingen, dessen Mitglieder zum Teil dem Bund 1523 bei seiner letzten Verlängerung beitraten. Treibende Kraft dabei war der Schwiegersohn Oettingens, Georg Truchsess von Waldburg, dem auch 1523 der militärische Oberbefehl der Bundesexekution übertragen wurde. Diejenigen fränkischen Adeligen, die in den Verdacht gerieten, Absberg zu unterstützen und sich nicht mittels eines Reinigungseides von diesem Verdacht zu befreien vermochten, wurden ebenfalls als Landfriedensbrecher behandelt und ihre Burgen geschleift. Aus adeliger Sicht war es also eine Auseinandersetzung zwischen zwei Adelsfraktionen mit weitgespannten Netzwerken von Unterstützern, Verwandten und Freunden, das durch das Eingreifen des Bundes jedoch den Charakter einer flächendeckenden Landfriedensexekution erhielt – mit nachhaltigen Folgen, denn dem Adel im besonders fehdeintensiven Franken war die Neigung zu weiteren Landfriedensbrüchen weitgehend verleidet worden. Wenn die hochadeligen Bundesmitglieder wie die Grafen von Oettingen oder die Truchsessen von Waldburg sich in Zukunft ebenfalls für die Wahrung des Landfriedens und gegen Fehdepraktiken entschieden, so war dies auch rationalem Kalkül geschuldet. Im Unterschied zu den niederadeligen Rittern setzten sie darauf, ihre Herrschaften zu eigenen Territorien auszubauen, so dass sie im Zuge dieser Territorialisierung ein genuines Interesse an der Befriedung von Herrschaftsräumen hatten – nicht anders als die Fürsten. Wenn Georg Truchsess von Waldburg allerdings mit dem Zug gegen den fränkischen Fehdeadel seine militärischen Fähigkeiten so nachdrücklich unter Beweis stellte, dass er 1525 an die Spitze des Bundesheeres berufen wurde, das den süddeutschen Bauernaufstand niederschlug, so wird noch ein anderer Zusammenhang deutlich: Nicht anders als das Fehdewesen diente die gewaltsame Landfriedensexekution dazu, sich im Wettbewerb um lukrative militärische Aufgaben und Bestallungen zu profilieren. Dass in dieser Hinsicht die Grenzen zwischen Fehdewesen und Ordnungsmacht fließend waren, führt ein denkwürdiges Zusammentreffen von bekannten Gewaltexperten nur wenige Jahre später auf dem Speyrer Reichstag 1542 vor Augen. Wie üblich vertrieb sich der anwesende Adel die Zeit auf allabendlichen 2 2

Zur Absberg-Fehde und ihren Folgen detailliert Peter Ritzmann, „Plackerey in teutschen Landen“. Untersuchungen zur Fehdetätigkeit des fränkischen Adels im frühen 16. Jahrhundert und ihrer Bekämpfung durch den Schwäbischen Bund und die Reichsstadt Nürnberg, insbesondere am Beispiel des Hans Thomas von Absberg und seiner Auseinandersetzungen mit den Grafen von Oettingen (1520–1531), Diss. München 1995; Christine Reinle, Fehden und Fehdebekämpfung am Ende des Mittelalters. Überlegungen zum Auseinandertreten von „Frieden“ und „Recht“ in der politischen Praxis zu Beginn des 16. Jahrhunderts am Beispiel der Absberg-Fehde, in: ZHF 30 (2003), S. 355–388.

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Gastmählern, und eine dieser Gastereien wurde von Graf Wilhelm von Fürstenberg ausgerichtet. Seine Gäste waren unter anderem Graf Froben von Zimmern, Christoph von Landenberg zu Schramberg und der über 60jährige Götz von Berlichingen, der schon zu Lebzeiten nicht nur wegen seiner „eisernen Hand“ als populäre Verkörperung eines Fehderitters galt. „Das war eine seltzame compania zusammen“, kommentiert der Augenzeuge und Chronist jenes Treffens, Froben von Zimmern, der es in seiner Familienchronik überliefert hat.23 Den Abend gestaltete offenbar weitgehend der alte Götz von Berlichingen, und womit er die Runde unterhalten hat, ist nicht schwer zu rekonstruieren. Nicht lange nach diesem Reichstag hat er begonnen, seine Erlebnisse in seiner Autobiographie unter dem Titel „Mein Fehd und Handlung“ für die Nachwelt aufzuschreiben. Es ging um die guten alten Fehdezeiten, in denen sich Götz zwischen 1510 und 1520 den zweifelhaften Ruhm erworben hatte, der aktivste adelige Fehdeführer zu sein, der immerhin schon 1512 mit der kaiserlichen Reichsacht belegt wurde. In Speyer 1542 aber wechselte er nach Entlassung aus seinem ursprünglich lebenslang verhängten Arrest auf seiner Stammburg Hornberg die Seiten, um nunmehr in kaiserlichen Diensten gegen die Osmanen zu Felde zu ziehen. Die Reminiszenzen Berlichingens handelten sicher auch von seinem Widersacher, dem Schwäbischen Bund, der ihn 1519 und 1525 schließlich zur Strecke gebracht, das heißt in Form eines langjährigen Hausarrestes unschädlich gemacht hatte. Auch Götz repräsentierte jedoch nicht einen untergehenden Niederadel, der von modernen Institutionen – etwa dem gewaltmonopolisierenden Fürstenstaat – unschädlich gemacht worden war, waren es doch auch hier seine Standesgenossen im Schwäbischen Bund, die an seiner gewaltsamen Domestizierung beteiligt waren. Der Speyrer Reichstag von 1542, auf dem Götz von Berlichingen so unschuldig anwesend war, markiert jedoch insgesamt für den reichsunmittelbaren Niederadel eine Zäsur, denn er gilt als Gründungsdatum der Organisation der Reichsritterschaft.24 Die Beteiligung des reichsunmittelbaren Niederadels am „Gemeinen Pfennig“, mit dem der Türkenzug finanziert werden sollte, zwang zu einer regionalen Organisation des Adels in Schwaben, Franken und an Ober- und Mittelrhein. Auch hier fußte die korporative Erfassung der Mitglieder auf genossenschaftlichen Traditionen von Adelsbünden in den jeweiligen Regionen, ging jedoch darüber hinaus, weil diese Organisation nun nicht mehr auf freiwilligem Beitritt, sondern auf der matrikularen Erfassung aller Adeligen mit entsprechendem Rechts- und Verfassungsstatus beruhte. Hatten schon die Standeseinungen friedenstiftend 2 3

Zimmerische Chronik, hrsg. von Karl Barack, 4 Bde., 2. Aufl. Tübingen 1881/82, hier Bd. 3, S. 369–371; vgl. auch Helgard Ulmschneider, Götz von Berlichingen. Ein adeliges Leben der deutschen Renaissance, Sigmaringen 1974, S. 235 (allerdings unrichtig auf 1544 datiert). 2 4 Volker Press, Kaiser Karl V., König Ferdinand und die Entstehung der Reichsritterschaft, 2. Aufl. Wiesbaden 1980, S. 40–50.

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gewirkt, indem die Mitglieder einander nicht befehden durften, sondern zum rechtlichen Austrag verpflichtet waren, so weitete die korporative Organisation dieses standesgemäße Fehdeverbot in Zukunft auf alle reichsunmittelbaren Adeligen einer Region aus. Auch hier waren es also letztlich Entwicklungen, die adeligem Selbstverständnis und Handlungsmustern in hohem Maße entsprachen, die dafür sorgten, dass die von dieser Gruppe ausgehenden gesellschaftlichen und politischen Sicherheitsrisiken eingehegt wurden. Für diesen Zusammenhang stehen neben Götz von Berlichingen aber auch die anderen Gäste jenes Treffens auf dem Speyrer Reichstag 1542. War der Gast­ geber Wilhelm von Fürstenberg schon eine umstrittene Persönlichkeit, weil er als Söldner­führer die Fronten zwischen Frankreich und dem Kaiserhof nach eigenem Belieben wechselte25, so trat mit Christoph von Landenberg eine noch zwielichtigere Figur auf. Er war unlängst 1541 wegen Fehdetätigkeit in die Reichsacht erklärt worden, nachdem er 1538 die letzte große Fehde im deutschen Südwesten ausgelöst hatte, in deren Verlauf er 1539/40 sogar die Reichsstadt Rottweil zeitweilig von der Außenwelt abschnüren konnte.26 Wie Fürstenberg hatte er sich bereits als Söldnerführer in den Kriegen zwischen Karl V. und Franz I. einen Namen gemacht, so dass er mit den dort erworbenen Mitteln eine beträchtliche Streitmacht anwerben konnte. Neben 1 500 Mann Fußvolk und 1 000 Reitern konnte er auch noch einmal zahlreiche adelige Fehdehelfer rekrutieren. Die Stärke des mobilisierten Heeres unterstreicht, dass auch Landenberg keineswegs ein adeliger Modernisierungsverlierer war, sondern im Gegenteil einer, der als Kriegsunternehmer auf der Höhe des Kriegswesens seiner Zeit stand und sich diese Erfahrungen in seinen Fehdehandlungen zunutze machte. Umgekehrt zahlte sich dies für seinen Marktwert aus, denn noch während der Fehde erhielt er lukrative Angebote des englischen Königs Heinrichs VIII., des französischen Königs Franz I. und sogar Kaiser Karls V. Der Sinn dieser letzten großen Adelsfehden im Reich war für Fehdeführer und deren Helfer folglich nicht mehr Rechtsdurchsetzung in eigener Sache, vielmehr dienten die Fehden dazu, sich als Anbieter auf den europäischen Gewaltmärkten für Söldnerführer und -heere zu positionieren. Dass dies nur ab einer bestimmten Größenordnung noch lukrativ war, machte die Landenberg 2 5

Johannes V. Wagner, Graf Wilhelm von Fürstenberg 1491–1549 und die politisch-geistigen Mächte seiner Zeit, Stuttgart 1966. 2 6 Zur Landenberg-Fehde vgl. Bernd Rüth, Die freie Herrschaft Schramberg (1526–1583) – Territorialisierung und Konfessionalisierung, in: Schramberg. Herrschaft – Markflecken – Industriestadt, hrsg. vom Museums- und Geschichtsverein Schramberg u. d. Großen Kreisstadt Schramberg, Schramberg 2004, S. 115–136; Horst Carl, Genossenschaft und Herrschaftsverdichtung – zur politischen Kultur von Adelseinungen im Alten Reich, in: Ronald Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2005, S. 405–427, hier S. 415f.

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Fehde jedoch ebenfalls deutlich: Gewaltmonopolisierung vollzog sich hier nicht als von Territorien oder Gemeinwesen in Gang gesetzter Prozess, sondern in der Konkurrenz von Anbietern militärischer Dienstleistungen. Die Ausdifferenzierung des adeligen Fehdewesens in einerseits von den Standesgenossen immer weniger akzeptierte und auch immer seltenere adelsinterne Auseinandersetzung marginaler Dimension und andererseits großen Unternehmungen von adeligen Söldnerführern war eine der Voraussetzungen dafür, dass das Fehdewesen im Heiligen Römischen Reich schließlich weitgehend zum Erliegen kam. Als letzte Kulmination dürfen die „Grumbachschen Händel“ gelten, die noch einmal einen adeligen Fehdeführer und Militärunternehmer als Gefährdung des Reichslandfriedens auftreten ließen. Wilhelm von Grumbach lag seit den 1550er Jahren mit den Würzburger Bischöfen in Fehde, in deren Verlauf 1558 Fürstbischof Melchior Zobel von Giebelstadt sogar einem Anschlag zum Opfer fiel und Grumbach 1563 die Residenzstadt Würzburg kurzzeitig in seine Hand brachte.27 Grumbach, infolge des Überfalls auf Würzburg in der Reichsacht, überzog letztlich sein Spiel, als er auf der Suche nach Verbündeten eine Allianz mit Herzog Johann Friedrich von Sachsen einging, der versuchte, den Verlust der Kurwürde für die ernestinische Linie des Hauses Wettin infolge der Niederlage im Schmalkaldischen Krieg von 1547 zu revidieren. Letztlich rief Grumbach damit nur Kurfürst August von Sachsen, Reichstag und Kaiser auf den Plan, die dem Treiben 1567 mit einer Reichsexekution ein Ende setzten. Der Fehdeführer sowie einige seiner Helfer fielen dem Richtschwert zum Opfer. Was die Grumbachschen Fehdehändel in Mitteldeutschland zu einer Bedrohung des Reichslandfriedens hatte werden lassen, war nicht zuletzt seine Drohung mit einem Aufstand der Ritterschaft. Vor allem die Reichsfürsten hatte dies in Unruhe versetzt, doch waren es letztlich nicht die Fürsten, die Grumbachs Schicksal besiegelten, sondern die eigenen Standesgenossen. Nicht nur verweigerte sich der Großteil des Adels den anachronistischen Visionen einer Ritterschafts­revolte, sie beteiligten sich stattdessen auch auf Seiten der Fürsten an der Landfriedensexekution gegen Grumbach. „Nicht von den Fürsten waren Grumbach und seine Genossen geschlagen worden, sondern von einer Koalition ritterlicher Standesgenossen, die ihre in hohen Diensten erworbene Reputation nicht von einer Handvoll anarchischer Hasardeure diskreditiert wissen wollten.“28

27

Friedrich Ortloff, Geschichte der Grumbachischen Händel, 4 Bde., Jena 1868–1870; Volker Press, Wilhelm von Grumbach und die deutsche Adelskrise der 1560er Jahre, in: ders., Adel im Alten Reich. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Anton Schindling/Franz Brendle (Frühneuzeit-Forschungen 4), Tübingen 1998, S. 383–421. 28 Gerrit Walther, Abt Balthasars Mission. Politische Mentalitäten, Gegenreformation und eine Adelsverschwörung im Hochstift Fulda (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 67), Göttingen 2002, S. 130.

Adlige Fehdeführer und Söldner im 16. Jahrhundert 283

Grumbach war nicht der letzte Adelige, der erfahren musste, dass seine Standesgenossen sich nunmehr auf die Seite der den Landfrieden durchsetzenden Ordnungsmächte schlugen und dort ihre Standesinteressen am ehesten gewahrt sahen: Alexander Jendorff hat in einer mustergültigen Studie jüngst den Fall des Eichsfeldischen Ritters Barthold von Wintzingerode thematisiert, der zwischen 1568 und 1574 noch einmal als regionaler Landfriedensbrecher adeligen Eigensinn auszuleben suchte.29 Der Mainzer Kurfürst als Landesherr nahm ihn schließlich gefangen und ließ ihm den Prozess machen, der mit Wintzingerodes Hinrichtung 1575 endete. Auch hier ging es nicht um fürstliche Machtdemonstration gegen einen unbotmäßigen Adel, waren die Verantwortlichen der Kurmainzer Regierung doch selbst Adelige, und wurde somit Wintzingerode letztlich von Standesgenossen abgeurteilt. Sie identifizierten sich mit einer Politik der Gewährleistung von Sicherheit, für die das kurfürstliche Herrschaftssystem stand. Dieses aber war auf adelige Akzeptanz angewiesen, so dass es den Adeligen nicht schwerfiel, in der Gewährleistung von Sicherheit auch den Schutz der eigenen Interessen zu sehen.30

III.  Gartknechte als Sicherheitsproblem

Es ist bereits darauf verwiesen worden, dass mit dem Abklingen der Adelsfehden in der Mitte des 16. Jahrhunderts immer mehr die Gartknechte als größte permanente Bedrohung zum bevorzugten Objekt von Landfriedensregelungen, sei es auf Reichsebene, sei es in den Territorien, wurden. Das Sicherheitsproblem der Gartknechte gründete in einer strukturellen Eigentümlichkeit des frühneuzeitlichen Söldnerwesens: Kriegsdienst war Saisonarbeit, da in den Wintermonaten in der Regel das Kriegshandwerk ruhte, so dass die Soldknechte zum Ende der Kampagnen im Spätherbst arbeitslos wurden und die Kriegsschauplätze verließen. In der beschäftigungslosen Zeit fielen sie der Zivilbevölkerung in denjenigen Gebieten, durch die sie ihren Weg nahmen oder länger Station machten, durch Bettelei oder räuberische Erpressung und Straßenraub zur Last. Als Sicherheitsproblem fehlten diese arbeitslosen Söldner in keiner der zahlreichen territorialen Landesordnungen, die im 16. Jahrhundert den Territorialisierungsprozess begleiteten.31 Sie waren jedoch weder Adressaten solcher Landesordnungen – sie waren 2 9

Alexander Jendorff, Der Tod des Tyrannen. Geschichte und Rezeption der Causa Barthold von Wintzingerode (Bibliothek Altes Reich 9), München 2012. 3 0 Ebd., S. 170f. 31 Burschel, Söldner (wie Anm. 13), S. 304f.; Daniel Schönmann, Juden und gartende Knechte, in: Peter Blickle/Peter Kissling/Heinrich R. Schmidt (Hrsg.), Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland, Frankfurt a. M. 2003, S. 198–205; Thomas Simon, „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2004, S. 219–224,

284 Horst Carl

ja herrenlos und somit nicht Untertanen des jeweiligen Territoriums –, noch konnte dieses territorienüberschreitende Problem von einzelnen Herrschaften und Territorien gelöst werden. Die Landfriedenswahrung musste deshalb gerade in diesem Fall auf Reichsebene transponiert werden, und nicht zuletzt deshalb wurde das Sicherheitsproblem der Gartknechte zu einem zentralen Bestandteil der Landfriedensgesetzgebung des Reiches. Den Höhepunkt bildete dabei die Reichsexekutionsordnung von 1555, die endgültig die Reichskreise und damit die Stände mit der Landfriedenswahrung betraute. Nicht weniger als zwanzig Artikel dieser Exekutionsordnung widmeten sich dabei implizit oder explizit der Bedrohung der Sicherheit durch die gartenden Knechte, unter anderem mit dem überkommenen Mittel der „Nacheile“, das schon in der spätmittelalterlichen Landfriedenswahrung die Untertanen zum Schutz des Landfriedens aufbot: „Und dieweil jetzt angeregte Reisige und Fussknecht an vielen Orten Teutscher Nation leichtlich aus einem Gebiet in das andere kommen […] und also entrinnen und darvon kommen, so mögen die benachbarte Churfürsten, Fürsten und Stände des Nacheylens halben sich nach ihrer Gelegenheit und Gefallen vergleichen.“32 Sowohl in den Regelungen des Reiches zur Landfriedenswahrung als auch in den territorialen Landes- und Policeyordnungen firmierten die Gartknechte folglich auch als Chiffre für die weit größere, jedoch diffuse Gruppe der vagierenden Randgruppen, der Bettler, Zigeuner, Räuberbanden, die als Bedrohung der sozialen Ordnung und damit des Landfriedens wahrgenommen wurden. Gemeinsam war allen diesen Gruppen ihre Mobilität, die sie außerhalb der territorialen Herrschaftsordnung stellte, doch stachen die gartenden Landsknechte aufgrund ihrer professionellen Affinität zur Gewaltausübung besonders hervor. Es war die für Gewaltgemeinschaften typische Verbindung von Gewalt und Mobilität, die gerade sie zum Sicherheitsproblem machte – und hier setzten auch die Versuche an, dieses Problem zu lösen. Besonders deutlich lässt sich dies an Diskussionen der Zeitgenossen um Alternativen zu den Söldnerarmeen verfolgen, denn prominente Militärtheoretiker und -praktiker der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wie Lazarus von Schwendi, Graf Johann von Nassau, Landgraf Moritz von Hessen oder die niederländischen Militärreformer aus dem Hause Oranien propagierten eine Rückkehr zu Milizverbänden.33 Aufgebote der Untertanen wiesen als Verteidiger in eigener Sache nicht nur eine höhere Kampf303–319; Martin P. Schennach, Gesetz und Herrschaft. Die Entstehung des Gesetzgebungsstaates am Beispiel Tirols (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 28), Köln 2010, S. 76, 184, 229, 307–310. 3 2 Art. 41 der Reichsexekutionsordnung von 1555, zitiert nach Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich (wie Anm. 11), S. 234. 3 3 Winfried Schulze, Die deutschen Landesdefensionen im 16. und 17. Jahrhundert, in: ­Johannes Kunisch (Hrsg.), Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, Berlin 1986, S. 129–149, v. a. S. 136–147; Jan W. Huntebrinker,

Adlige Fehdeführer und Söldner im 16. Jahrhundert 285

motivation auf, sie seien vor allem kostengünstiger als Söldner. Solche „Landesdefensionen“ setzten darüber hinaus eine kontinuierliche Organisa­tionsform voraus, wodurch ein Grundübel der Söldnerarmeen – der saisonale Rhythmus von Anwerbung und Entlassung – vermieden werde. Neben den vom Land zu tragenden Belastungen für die teuren Söldnerheere entfielen auch die konkreten Belästigungen der Untertanen durch gewalttätige Gartknechte.34 Außerdem, so lautete eines der zentralen Argumente, stärke die permanente Einübung von militärischem Gehorsam die überkommene ständische Ordnung, die durch die häufigen Insubordinationen seitens der Söldner ständig in Frage gestellt werde.35 Trotzdem markierten die zahlreichen Landesdefensionen, mit denen Reichsfürsten um 1600 experimentierten, keine Gegenwelt zur militärischen Ordnung der Söldner. Exemplarisch kann man dies an der Zusammensetzung der hessischen Landesdefension des Landgrafen Moritz im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts zeigen. Gefragt war nämlich auch bei den Mitgliedern durchaus militärische Erfahrung. Die neuen Defensionäre hatten bei der Musterung ein ganzes Frageregister zu beantworten: „Wie heistu, Wo bistu her, Wes alters, Wes Handwercks, Bistu jemals ein Kriegsman gewesen, Wiltu en Soldat werden, Hast du lusten darzu, Item: Hast Du deine Passport?“36 Vor allem die Frage nach den Passporten zielte konkret darauf, ob jemand schon einmal Söldner gewesen war. Waren die Passporten gerade im Zuge der Landfriedenspolitik ursprünglich ein Mittel zur Überwachung und Kontrolle der mobilen Kriegsknechte gewesen37, so wandelte es sich unter der Hand in der militärischen Gesellschaft zu einer Form des Arbeitszeugnisses, mit dem vormalige Söldner auf dem militärischen Arbeitsmarkt reüssieren konnten.38 Auch für ein Defensionswerk der Landesuntertanen war dies keineswegs von Nachteil, wie der Blick auf Befehlshaber oder Unteroffiziere offenbart. Ein beträchtlicher Anteil hatte die erwünschte Kriegserfahrung natürlich in den negativ konnotierten Söldnerheeren erlangt, war also selbst als Söldner aktiv gewesen.

„Fromme Knechte“ und „Garteteufel“. Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert (Konflikte und Kultur 22), Konstanz 2010, S. 337–345. 3 4 Gunther Thies, Territorialstaat und Landesverteidigung. Das Landesdefensionswerk in Hessen-Kassel unter Landgraf Moritz (1592–1627) (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 23), Darmstadt 1973, S. 22. 3 5 Ebd., S. 45 f.; Schulze, Landesdefensionen (wie Anm. 33), S. 146; Huntebrinker, „fromme Knechte“ (wie Anm. 33), S. 201–264. 3 6 Thies, Territorialstaat (wie Anm. 34), S. 81, Anm. 21. 37 In der Reichsexekutionsordnung (§ 36) war festgelegt worden, dass umherziehende Söldner sich durch einen „Passport“ ihres Dienstherren auszuweisen hatten. Burschel, Söldner (wie Anm. 13), S. 311–313. 3 8 Huntebrinker, „fromme Knechte“ (wie Anm. 33), S. 184–198.

286 Horst Carl

Militärgeschichtlich gelten die Landesdefensionen in den deutschen Territorien als Episode, weil im Dreißigjährigen Krieg etwa bei der Invasion der Landgrafschaft Hessen durch Tilly 1623 oder brutaler noch in der Schlacht von Nördlingen 1634 vorexerziert wurde, dass die Landesaufgebote in offener Feldschlacht gegen die professionellen Söldner keine Chance hatten. Wenn man den Bewertungsmaßstab aber anders justiert, ist ihre in der Militärgeschichte notorische Geringschätzung nicht gerechtfertigt. Trotz aller Beschwörung antiker Vorbilder standen diese Aufgebote doch in erster Linie in der Kontinuität der Untertanenaufgebote, die fester Bestandteil territorialer Landfriedenssicherung waren.39 Auf diesem angestammten Gebiet der Landfriedenswahrung leisteten die Landesdefensionen durchaus ihren Beitrag, indem sie umherziehende Söldnergruppen und gartende Knechte vom eigenen Territorium fernhielten40 oder gartenden Söldnern selbst eine adäquate militärische Beschäftigung boten. Angesichts der Tatsache, dass die Obrigkeiten für ein repressives Vorgehen gegen Gartknechte damit letztlich auf eben diesen Personenkreis zurückgreifen mussten, wurden auch hier wieder potentielle Landfriedensbrecher zu Landfriedenswahrern umfunktioniert. Dass das Problem der gartenden Knechte mit ihrer Verbindung von Mobilität und unkontrollierbarem Gewaltpotential zu Ende des 16. Jahrhunderts an Brisanz verlor, lag freilich weder an konkreten Landfriedensaktionen dieser Landesdefensionen noch an erfolgreicher Disziplinierung der Söldner durch die jeweiligen Obrigkeiten – sie sind vielmehr ein Aspekt einer viel grundlegenderen strukturellen Wandlung des Krieges. Noch bevor im Verlauf des 17. Jahrhunderts die Heere „stehend“ wurden, wurde der Krieg selbst permanent. Mit den französischen Religionskriegen der 1560er Jahre, dem spanisch-niederländischen Krieg seit den 1570er Jahren und schließlich dem Großen Türkenkrieg der 1590er Jahre wurden die Kriegshandlungen immer häufiger auch im Winter fortgesetzt. Die mit Städten reich versehenen Niederlande nahmen für diese Entwicklung eine Schlüsselstellung ein, wenn nun nicht nur Belagerungen oder Blockaden über mehrere Jahre aufrechterhalten wurden, sondern der Städtereichtum auch die Möglichkeit zu extensiver Garnisonierung von Truppen über längere Zeiträume eröffnete. Die Kriegsknechte wurden folglich nicht mehr entlassen, stattdessen etablierte sich zunehmend die Praxis von Winterquartieren41, und mit diesen verschwand allmählich das periodische massenhafte Auftreten gartender Knechte. Eine Garnison war auch für Söldner ein sicherer Ort als die ungewisse Existenz als Gartknecht. Als massenhafte Bedrohung des Landfriedens, wenn 3 9

Schulze, Landesdefensionen (wie Anm 33), S. 136. Dies betont etwa Thies, Territorialstaat (wie Anm. 34), S. 164–170; vgl. auch Schulte, Landes­ defensionen (wie Anm. 33), S. 147. 41 Hans Schmidt, Der Einfluß der Winterquartiere auf Strategie und Kriegführung des Ancien Regime, in: HJb 92 (1972), S. 77–91.

4 0

Adlige Fehdeführer und Söldner im 16. Jahrhundert 287

umherziehende Banden wie in der Mitte des 16. Jahrhunderts zu regelrechten kleinen Armeen anwuchsen, tauchten sie wohl nur noch nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges im Reich auf. Gegen das „herrenlose Gesindel“, in dem die Gartknechte schließlich aufgingen, griffen die Landesherren nunmehr auf mobile Vagantenstreifen zurück, aus denen sich dann organisierte Polizeikräfte des Ancien Régime entwickeln sollten. Diese Streifen wurden entweder durch Söldnerkontingente verstärkt oder ganz aus solchen zusammengesetzt. Wenn somit aus Söldnern schließlich Polizeikräfte wurden, waren potentielle Landfriedensstörer endgültig auf die Seite der Sicherheitskräfte gewechselt.42

42

Burschel, Söldner (wie Anm. 13), S. 317.

Hans-Jürgen Bömelburg

Sicherheitskonzepte ohne Landfrieden: Gewalt- und Sicherheitsgemeinschaften in Polen-Litauen Eine Einbeziehung des frühneuzeitlichen Polen-Litauens in eine Diskussion europäischer Sicherheitskonzepte ist aus mehreren Gründen sinnvoll: Zunächst handelt es sich bei Polen-Litauen um den zweiten großen Reichsverband in Mitteleuropa, dessen Konsolidierung im 15. und 16. Jahrhundert und dessen – in diesem Fall gewaltsamer Aufbruch von außen in den Teilungen des späten 18. Jahrhunderts – in einer engen zeitlichen Parallele zur Verfestigung und zum Untergang des Alten Reichs verlaufen. Man kann geradezu von parallelen frühneuzeitlichen Konsolidierungs- und Untergangsgeschichten sprechen, in denen jeweils Versicherheitlichungsversuche und Gewalt eine große Rolle spielen – ein Thema mitteleuropäischer Geschichte, das bisher in der deutschen Forschung nicht ausreichend vergleichend in den Blick genommen wurde.1 Zweitens stellten sich in dem flächenmäßig mit dem Alten Reich vergleich­baren Polen-Litauen strukturell ähnliche Probleme einer Friedens- und Sicherheitswahrung in einem großen, mit den zeitgenössischen Kommunikationsmitteln kaum beherrschbaren Territorium, in dem jeweils konsensorientierte und aushandlungsbasierte Regelungen gesucht werden mussten. Die Lösungsansätze, die hier verfolgt wurden, weichen von den Modellen im Alten Reich deutlich ab, so dass geradezu von unterschiedlichen Entwicklungspfaden einer Versicherheitlichung gesprochen werden kann. Drittens ist Polen-Litauen im europäischen Kontext – stärker als das aristokratisch geprägte Reich – ein Beispiel für eine kollektive Sicherheitswahrung auf genossenschaftlicher Ebene. Die Eigenbezeichnung und die mit Abstand am meisten verwandte Selbstbezeichnung lautete nicht „Polen-Litauen“ oder „Polen“, sondern „Rzeczpospolita“, der polnische Begriff für „respublica“, der das staatliche, aber auch das genossenschaftlich-republikanische Verständnis der Eliten beschreibt.2 Die Integration in den polnisch-litauischen Reichsverband im 15. und 16. Jahrhundert erfolgte wiederholt mit dem Anspruch der Herstel 1

Zur Parallelisierung vom Ende her: Michael G. Müller, Das Ende zweier Republiken. Die Teilungen Polens und die Auflösung des Alten Reichs, in: Andreas Lawaty/Hubert Orłowski (Hrsg.), Deutsche und Polen. Geschichte – Kultur – Politik, München 2003, S. 47–53; eine Einführung in den Vergleich bei Hans-Jürgen Bömelburg, Die Tradition einer multinationalen Reichsgeschichte in Mitteleuropa – Historiographische Konzepte gegenüber Altem Reich und Polen-Litauen sowie komparatistische Perspektiven, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 53, 3 (2004), S. 318–350. 2 Dazu zuletzt Dorota Pietrzyk-Reeves, O pojęciu „Rzeczpospolita“ (res publika) w polskiej myśli politycznej XVI wieku [Über den Begriff der „respublica“ im polnischen politischen Denken des 16. Jahrhunderts], in: Czasopismo Prawno-Historyczne 62, 1 (2010), S. 37–64.

Gewalt- und Sicherheitsgemeinschaften in Polen-Litauen 289

lung von Sicherheit: Die preußischen Stände wurden 1456 in den polnischen Verband aufgenommen und ihnen Selbstverwaltung sowie Sicherheit vor den Ansprüchen des Deutschen Ordens garantiert. Die livländischen Stände erhielten im Privilegium Sigismundi Augusti von 1561 die Zusicherung, zukünftig gegen Gewalt von außen (der Einmarsch Moskauer Truppen unter Ivan IV.) in Schutz genommen zu werden.3 In beiden Fällen erfolgte die Herstellung von Sicherheit in einem ständisch-genossenschaftlich strukturierten Reichsverband; die Entstehung dieses Verbandes kann geradezu als eine Suche nach gemeinsamer Sicherheit beschrieben werden.

I.  Das polnisch-litauische Sicherheitskonzept

Die Herstellung von Sicherheit nach außen geschah durch ein schwach ausgestattetes und zahlenmäßig kleines Berufsheer, das im Bedarfsfall durch ein adliges Miliz- und Aufgebotssystem, das „allgemeine Aufgebot“ (pospolite ruszenie), ergänzt wurde.4 Sonderarmeen von „Magnaten“ (die wirtschaftlich-politischen Eliten des Adels, die funktional mit der Aristokratie im Alten Reich parallelisiert werden können), beruhten auf lebenslanger Bindung von adligen oder bäuerlichen Klienten. Probleme durch saisonal arbeitslose oder über längere Zeit beschäftigungslose Söldner blieben deshalb zunächst im 16. Jahrhundert gegenüber dem Alten Reich von deutlich geringerer Relevanz, es gab de facto vor den 1590er Jahren kein Söldnerproblem. Im Unterschied zum Alten Reich hat es in Polen-Litauen keine Landfriedenskonzepte und keine Durchsetzung eines „Ewigen Landfriedens“ gegeben. Von Seiten der deutschsprachigen Forschung ist der fehlende Landfrieden wiederholt als Defizit bezeichnet worden, ja von einer frühneuzeitlichen „Fehdegesellschaft“ gesprochen worden.5 Zu wenig beachtet wird dabei zumeist, dass die fehlende 3

Abdruck der „Pacta Subiectionis“ und des „Privilegium Sigismundi Augusti“ in Erwin Oberländer/Volker Keller (Hrsg.), Kurland. Vom polnisch-litauischen Lehnsherzogtum zur russischen Provinz. Dokumente zur Verfassungsgeschichte 1561–1795, Paderborn 2008, S. 54–93. 4 Neuere Darstellung Mirosław Nagielski, The decline of the traditional polish warfare in the period of the Great Northern War, Warschau 2010; westsprachliche Darstellung mit Schwerpunkt 17. Jahrhundert bei Robert Frost, After the Deluge: Poland-Lithuania and the Second Northern War 1655–1660, Cambridge 2003; ders., The northern wars: war, state and society in Northeastern Europe, 1558–1721, Harlow 2000; ders., The Polish-Lithuanian Commonwealth and the „Military Revolution“, in: James S. Pula/Marian B. Biskupski (Hrsg.), Poland and Europe: Historical Dimensions. Selected Essays from the Fiftieth Anniversary International Congress of the Polish Institute of Arts and Sciences of America Vol. 1 (East European Monographs 390), New York 1994, S. 19–47. 5 Inge Auerbach, Stände in Ostmitteleuropa. Alternativen zum monarchischen Prinzip in der frühen Neuzeit. Litauen und Böhmen, München 1997, hier S. 44–47.

290 Hans-Jürgen Bömelburg

Territorialisierung und die genossenschaftliche und rhetorisch-formal egalitäre Struktur des Adels Übergriffe und Gewalt gegen Mindermächtige zwar keineswegs ausschlossen, dennoch aber wiederholte und exzessive Gewalt durchaus effektiv verhinderten. Gegen Sicherheitsbedrohungen von Innen entwickelte sich ein genossenschaftlicher Widerstand, der sich jeweils umso stärker formierte, umso heftiger manifeste Gewalt und Sicherheitsverletzungen vorkamen, der also einen Eskalationsmechanismus kannte. Unter diesen Bedingungen war ein formales Landfriedenssystem, das ja auch im Reich wiederholt gebrochen wurde, eher dysfunktional und entbehrlich. Der Kleinadlige konnte einem Mächtigen durch gezielte Überfälle ebenfalls erheblich schaden; im Notfall konnten bündische Zusammenschlüsse gegen übermächtige Einzelne organisiert werden – von beinahe staatlicher Reichweite zeigte sich solch eine Konföderation noch im Bürgerkrieg in Litauen 1697–1700.6 Bündische Friedenssicherung ist deshalb für Polen-Litauen durch die gesamte Frühe Neuzeit ein zentraler Gegenstand, nicht nur wie im Reich ein Thema des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. In allen Interregna erließen die bündischen Konföderationen ein Friedensgebot.7 Auch gegen Mächtige und Hochadlige konnte so eine kollektive Gegenmacht aufgebaut werden, die institutionell durch die Einrichtung des rein adlig-genossenschaftlich organisierten Polnischen Krontribunals bzw. des Litauischen Tribunals 1578 bzw. 1582 und die innerständische Durchsetzung eines Rechtszuges abgeschlossen wurde.8 Flankiert wurde dieses kollektive Sicherheitssystem nach innen und nach außen durch kollektive Freiheitsparolen („polnische“ bzw. „goldene Freiheit“) und ein Gleichheitspathos, die jeweils im Ernstfall mobilisierend wirken konnten.9

6 Gintautas

Sliesoriūnas, Lietuvos Didžioji Kunikaikštystė vidaus karo išvakarėse: didikų grupuočių kova 1690–1697 m. [Das Großfürstentum Litauen am Vorabend des Bürgerkriegs: der Kampf der adligen Fraktionen zwischen 1690 und 1697], Vilnius 2000. 7 Maria Rhode, Ein Königreich ohne König. Der kleinpolnische Adel in sieben Interregna (Quellen und Studien DHI Warschau 5), Wiesbaden 1997. 8 Klassische rechtshistorische Studie: Oswalt Balzer, Geneza Trybunału Koronnego. Studium z dziejów sądownictwa polskiego w XVI wieku [Die Entstehung des Krontribunals. Eine Studie aus der Geschichte der polnischen Rechtsprechung im 16. Jahrhundert], 2. Aufl. Warschau 2009 [zuerst 1886]; letzte Darstellung: Waldemar Bednaruk, Trybunał Koronny. Szlachecki sąd najwyższy w latach 1578–1794 [Das Krontribunal. Die adlige Höchstgerichtsbarkeit 1578–1794], Lublin 2008. 9 Hans-Jürgen Bömelburg, „Polnische Freiheit“ – Zur Konstruktion und Reichweite eines frühneuzeitlichen Mobilisierungsbegriffs, in: Georg Schmidt (Hrsg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850) (Jenaer Beiträge zur Geschichte 8), Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 191–222; für das 18. Jahrhundert: Anna Grześkowiak-Krwawicz, Regina libertas. Wolność w polskiej myśli politycznej XVIII wieku [Regina libertas. Freiheit im polnischen politischen Denken des 18. Jahrhunderts], Danzig 2006.

Gewalt- und Sicherheitsgemeinschaften in Polen-Litauen 291

Unter Druck geriet dieses gemischte militärisch-genossenschaftliche Sicherheitssystem von Rechtszügen bei einer Beibehaltung einer kollektiven fehdeähnlichen Praxis auf niedrigem Niveau erst durch die Kriege des späten 16. und insbesondere des bellizistischen 17. Jahrhunderts, als sich sowohl die innere wie die äußere Sicherheitsfrage auch für Polen-Litauen völlig neu stellten. Aus langjährigen Kriegen entstandene Gewaltgruppen oder zahlenmäßig immer größer werdende frontier-Grenztruppen mussten nun von einem schwachen, dezentral organisierten kollektiven Sicherheitssystem ausgeschaltet oder genossenschaftlich integriert werden. Dies soll im Folgenden an zwei Fallbeispielen demonstriert werden. Im ersten Fall geht es um die Auflösung einer europaweit berüchtigten Gewaltgruppe, den so genannten „polnischen Reitern“ (lisowczycy) in den 1620er Jahren, im zweiten Fall um die nur teilweise gelungene Integration und Transformation der kosakischen Grenzgruppen in den „ukrainischen“ Territorien (der Ukrainebegriff verfestigt sich erst im 17. Jahrhundert) zu einer neuen Sicherheitselite durch ein namentliches Register und staatliche Soldzahlungen.

II.  Bedrohungsszenario I: Die „polnischen Reiter“ (lisowczycy) 1613–1623

Die nach ihrem ersten Anführer Aleksander Józef Lisowski (1575–1616) „Lisowczycy“ oder auch „polnische Reiter“ genannten Verbände waren hochmobile Freireiterverbände, die weitgehend ohne Sold, nur für Beute seit 1607/08 in Polen-Litauen angeworben wurden, um in der informellen polnisch-litauischen Intervention im Großfürstentum Moskau eingesetzt zu werden.10 Leichte Beutezüge im russischen Bürgerkrieg und die Aussicht auf weitere Erfolge ließen die Gewaltgruppe anwachsen, die 1616 bis zu 1 500, 1620 mehrere tausend Freireiter umfasst haben soll. Als 1618/19 der 15-jährige Waffenstillstand von Deulino zwischen Polen-Litauen und dem Moskauer Reich geschlossen wurde, endete die Möglichkeit für die 10

Der einzige deutschsprachige Aufsatz stammt aus dem 19. Jahrhundert: Anton Dolleczek, Die Lisowczyken. Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Heerwesens im dreissigjährigen Kriege, in: Streffleur’s österreichische militärische Zeitschrift 3 (1893), S. 175–182. Die ältere polnische Literatur stützt sich vor allem auf die zweibändige unkritische Zusammenstellung von Maurycy Dzieduszycki, Krótki rys dziejów i spraw lisowczyków [Kurzer Abriss der Geschichte und der Angelegenheiten der Lisowczycy], 2 Bde., Lwów 1843–1844. Neben zahlreichen Aufsätzen zu Einzelproblemen ist insbesondere die Darstellung von Władysław Magnuszewski, Z dziejów elearów polskich. Stanisław Stroynowski, lisowski zagończyk, przywódca i legislator. [Aus der Geschichte der polnischen Elearen. St.S., ein Freischärler, Führer und Gesetzgeber der Lisowczycy], Warschau/Posen 1978 hervorzuheben. Henryk Wisner, Lisowczycy, 2. Aufl. Warschau 2004, verarbeitet insbesondere weitere Informationen litauischen Ursprungs zu den Verbänden, verzichtet aber vielfach auf Belege; wichtigster russischer Beitrag: Aleksandr Zorin, Aspidy Lisowskogo (1616–1618) [Die Einheiten Lisowskis], in: Siverśćyna v istoriji Ukraïny 3 (2010), S. 124–133.

292 Hans-Jürgen Bömelburg

Gewaltgruppe, sich im Großfürstentum Moskau „aus dem Land“ zu ernähren, die Verbände wichen nach Polen-Litauen zurück, plünderten jedoch weiter. So kam es 1619 auf den polnischen und litauischen Landtagen zu einer ersten großen Welle von Klagen über Raub und Gewalttaten, was den politischen Druck auf die Gruppe erhöhte.11 Auch deshalb wurden die „polnischen Freireiter“ 1619 am Beginn des Dreißigjährigen Krieges als polnische Hilfstruppen der Habsburger in Oberungarn, dann in Mähren und Österreich sowie schließlich 1622 in H ­ essen, Baden und in der Pfalz eingesetzt, die Sicherheitsbedrohung also zeitlich begrenzt zu den Nachbarn exportiert. Die Obersten des Verbandes hatten in zahlreichen Fällen eine durch Plünderungen und Ausschreitungen stark „verhaltensauffällige“ militärische Karriere hinter sich. Lisowski selbst wurde 1605 wegen Meuterei, Plünderungen und Ausschreitungen in Kurland für vogelfrei erklärt. Die „polnischen Reiter“ riefen durch ihre Ernährung aus dem Lande, ihre Plünderungen und ihre Gewalt bei ihrem Auftauchen überall publizistische Reaktionen hervor. Im Sommer 1620 legten die niederösterreichischen Landstände eine Allerunterthänigste Supplikation an den Kaiser vor. Darin wird „das Grausamb/Unmenschlich/und Barbarisch Tyrannisiren des Kayserlichen Kriegsvolcks/sonderlich der Cosaggen und Walonen“, gemeint sind damit die „polnischen Reiter“, beschrieben.12 Ein Geheimnis für den Erfolg der Verbände war, dass sie sich mit einer zeitgenössisch extrem hohen Marschgeschwindigkeit bewegten – 70–100 km tägliche Marschleistung –, deshalb kaum zu verfolgen waren und scheinbar „aus dem Nichts“ auftauchen konnten. Für die Habsburger waren die polnischen Verbände billige Hilfstruppen, denn sie erhielten nur niedrigen Sold, ernährten sich durchweg „aus dem Lande“ und wurden im Herbst aus den kaiserlichen Diensten entlassen (also keine Kosten für die Winterlager). Sie kehrten dann durchweg ins südliche Polen zurück, überwinterten dort – zu einem erheblichen Teil auf Kosten der ortsansässigen Bevölkerung – und standen im Frühjahr zu neuen Diensten zur Verfügung. Dieses Procedere löste bereits seit 1619 massive Proteste der adligen, geistlichen und städtischen Betroffenen im südlichen Polen aus. Öffentlich angeklagt wurden die Raubzüge und Überfälle insbesondere in den Winterlagern, dabei kam es – insbesondere im Falle von Widerstand und bei alkoholischen Exzessen – wiederholt zu Gewalttätigkeiten und Toten. Die Söldner wurden öffentlich als

11 Magnuszewski, Z dziejów Elearów (wie Anm. 10), S. 31–32. 12

AllerUnderthänigste Supplication/Etlicher NiederOesterreichischen Land-Ständ an die Kayserliche Mayestät. Daraus das Grawsamb/Unmenschlich/vnd Barbarisch Tyrannisiren des Kayserlichen Kriegsvolcks/sonderlich des Cosaggen vnd Walonen wieder dieselbe Land/zu sehen ist, s. l. 1620, Universitätsbibliothek Augsburg, Sign. 02/IV.13. 4. 158 angeb. 1.

Gewalt- und Sicherheitsgemeinschaften in Polen-Litauen 293

„schlimmer als Tataren“ bezeichnet, sie zögen „plündernd, brennend, verwüstend und mordend“ durch das Land und destabilisierten die öffentliche Ordnung.13 Insbesondere die kleinpolnischen Landtage und der Hochadel forderten seit 1619 eine Auflösung und Beseitigung der Söldner. Wir haben hier einen Mechanismus von adliger Öffentlichkeit, in dem die Proteste der Betroffenen ein breites ständisches Forum erhielten, das auch vom königlichen Hof nicht ignoriert werden konnte, denn dies hätte eine Verschärfung der politischen Spannungen zwischen Hof und Adel ausgelöst. Das ist der Mechanismus, den manche Vertreter der These einer frühneuzeitlichen polnisch-litauischen „Staatsbürgergesellschaft“ (Andrzej S. Kamiński) im Auge haben, die angeblich selbstregulierend Gewaltphänomene ausschließe.14 Vor dem Hintergrund der Proteste und Schadensersatzforderungen wurde vom Wasahof zunächst der Weg eines Exports der Gewalt gewählt. Diese Rechnung ging jedoch nicht auf: Die Söldnerverbände ließen sich nicht dauerhaft exportieren, sondern kehrten regelmäßig in den Wintermonaten in ihre polnischen Ausgangsbasen zurück. Raub und gewalttätige Konflikte griffen dort um sich, die öffentliche Meinung brachten besonders Überfälle auf Kirchen, Klöster und Kleinstädte sowie Entführungen mit Lösegelderpressungen gegen sie auf. Solche notorischen Fälle führten im Februar 1623 zu der Konstitution des polnischlitauischen Reichstags gegen „eigenmächtige Banden“ (kupy swawolne), die für vogelfrei erklärt wurden.15 Das reguläre polnische Heer ging im Frühjahr 1623 gegen die Gewaltgruppen vor, die Landtage stellten weiterhin eigene Landes- und Kreiskompanien auf, die die Söldnertrupps bekämpften. Am 3. Juni 1625 wurden in Krakau über 20 Söldner hingerichtet.16 Andere wurden einzeln aufgespürt, verfolgt, festgesetzt und umgebracht. Stanisław Stroynowski († 1626), der Anführer während der Expedition 1622 in die Pfalz, wurde im Frühjahr 1626 in Pakosz in Großpolen als „vogelfrei“ gestellt und erschossen. Letzte Einheiten wurden am

13

Wisner, Lisowczcy (wie Anm. 10), S. 51. Andrzej Sulima Kamieński, Historia Rzeczpospolitej wielu narodów 1505–1795. Obywatele, ich państwa, społeczeństwo, kultura [Die Geschichte der Respublica vieler Nationen 1505–1795. Die Staatsbürger, ihr Staat, die Gesellschaft und die Kultur], Lublin 2000; ders., Imponderabilia społeczeństwa obywatelskiego Rzeczypospolitej wielu narodów [Unwägbarkeiten der Bürgergesellschaft der Respublica vieler Nationen], in: Andrzej K. Link-Leczowski/Mariusz Markiewicz (Hrsg.), Rzeczpospolita wielu narodów i jej tradycje. Materiały konferencji […], Krakau 1999, S. 33–58; englischsprachige Einführung: Karin Friedrich/Barbara M. Pendzich (Hrsg.), Citizenship and Identity in a Multinational Commonwealth. Poland-Lithuania in context, 1550–1772 (Studies in Central European histories 46), Leiden/Boston 2009. 15 J. Ohryzko (Hrsg.), Volumina legum, 9 Bde. + 2 Registerbände [1859–1889], Ndr. Warschau 1980, Bd. 3, S. 448–450. 16 Wisner, Lisowczycy (wie Anm. 10), S. 131. 14

294 Hans-Jürgen Bömelburg

Rande des polnisch-schwedischen Kriegs 1626–1629 ausgegrenzt und physisch durch Hunger oder militärisch aufgerieben. Grundsätzlich gelang es dem polnisch-litauischen Staatsverband in den 1620er Jahren, die beschriebene Gewaltgruppe zu zerschlagen und so die innere Sicherheit wiederherzustellen. Dieses Vorgehen konnte aus mehreren Gründen erfolgreich sein: Zunächst stand reguläres Militär zumindest in den Friedensjahren 1622–1625 ausreichend zu einer Pazifizierung zur Verfügung. Zweitens konnte sich die mehrheitlich aus Litauen und den östlichen Woiwodschaften stammende Gewaltgruppe in Zentral- und Südpolen auf keine Fürsprecher und Unterstützer verlassen. Drittens erwies sich insbesondere in den zentralpolnischen Territorien der genossenschaftliche Zusammenhalt als so stark, die Gewaltaffinität so gering und das Sicherheitsbedürfnis so hoch, dass eine Gewaltgruppe isoliert und zur Rechenschaft gezogen werden konnte.

III.  Bedrohungsszenario II: Die Kosaken zwischen Beuteverbänden und Sicherheitseliten

In anderen großregionalen Zusammenhängen Polen-Litauens funktionierten diese innerstaatlichen kollektiven Sicherheitskonzepte und -mechanismen jedoch nur rudimentär oder versagten sogar völlig. Seit den Regierungszeiten Stefan Bathorys, der 1578 das erste Dienstregister für Kosaken einrichtete, versuchte der polnische-litauische Staatsverband die als besonders brutal und gewalttätig, aber auch als kriegerisch und tapfer beschriebenen Kosaken in den südöstlichen Woiwodschaften Polen-Litauens, der heutigen Zentralukraine, in das eigene Sicherheitssystem zu integrieren, stieß dabei jedoch auf kaum überwindbare Probleme. Die heutige Zentralukraine bildete frühneuzeitlich den größten Gewaltmarkt im östlichen Europa – Polen-Litauen, das Großfürstentum Moskau und die Großfürsten der Moldau warben dort Söldner und militärisches Knowhow an. Die unruhige Frontierzone zum islamischen Chanat der Krimtataren und die hohe Gewaltbereitschaft in Konflikten zwischen steppennomadischen Verbänden und der sesshaften Bevölkerung begünstigten eine hohe Gewaltaffinität, die durch verbreitete Praktiken von Menschenraub und Lösegelderpressung noch angeheizt wurde.17 Vor dem Hintergrund dieser Bedrohungslage entstanden die kosakischen Gewaltgemeinschaften, die an der verbreiteten Beutepraxis, aber auch am Men 17

Allgemein Brian L. Davis, Warfare, State and Society on the Black Sea Steppe, 1500–1700 (Warfare and History), London/New York 2007; zum Sklavenhandel: Dariusz Kołodziejczyk, Slave hunting and slave redemption as a business enterprise: the northern Black Sea Region in the sixteenth to seventeenth centuries, in: Oriente Moderno 25, 1 (2006), S. 149–159.

Gewalt- und Sicherheitsgemeinschaften in Polen-Litauen 295

schenhandel partizipierten.18 Dabei können im späten 16. Jahrhundert drei Typen der kosakischen Verbandsorganisation unterschieden werden: Neben den „freien“, sich aus der Steppe ernährenden Kosaken existierten Formationen temporär angeworbener Söldnerkosaken und schließlich die im Rahmen eines Dienstregisters konstant von Polen-Litauen unterhaltenen Kontingente von Registerkosaken.19 Temporärer und dauerhafter Sold transformierten die Gewaltgemeinschaften in obrigkeitliche Sicherheitseliten, ohne allerdings die Sicherheitslage grundsätzlich zu verbessern: Insbesondere die Raids aus dem Chanat der Krimtataren, das eine regionale Schaukelpolitik zwischen Osmanischem Reich, Polen-Litauen und Moskau betrieb, wandten sich im frühen 17. Jahrhundert gegen die damalige regionale Vormacht Polen-Litauen. Die Einrichtung von Sicherheitszonen scheiterte deshalb im Südosten Polen-­Litauens dauerhaft, tatarische Raids erreichten noch in den 1620er und 1630er Jahren die Region um Lemberg, ca. 500 km hinter der frontier, und wurden als allgegenwärtige Bedrohung wahrgenommen.20 Im Gegenzug wurden von Polen-Litauen die kosakischen Dienstregister in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer wieder erneuert, allerdings nach dem großen Kosakenaufstand 1636/37 zahlenmäßig drastisch vermindert. Ziel war es, die in den Quellen immer wieder als „unruhig“ und „unsicher“, ja als massive Sicherheitsbedrohung eingeschätzten Kosaken durch Soldzahlungen temporär zu befrieden. Diese Rechnung ging zwischen 1578 und 1648 durchaus partiell auf, die in Dienst genommenen Kosaken tauschten Freiheit gegen ein Dienstverhältnis in lockerer Abhängigkeit, bei zwar nicht immer pünktlicher, aber dauerhafter Bezahlung und wurden zu polnisch-litauischen Sicherheitseliten im Südosten. Parallel entstand durch moderne Befestigungsanlagen mit festen Besatzungen gerade an der Dnjepr-Linie in Krzemieńczuk (ukr. Kremenčuk) und

18

Daria Starcenko, Verheerende Geschwindigkeit – Zweckrationalität von Gewalt. See-Expeditionen und (Beute-)Kriege bei polnisch-litauischen Kosaken am Bespiel der KhotinKampagne 1621, in: Horst Carl/Hans-Jürgen Bömelburg (Hrsg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit (Krieg in der Geschichte 72), Paderborn 2011, S. 167–199; Petro Sas, Voennyj promysel zaporozskich kozakiv (perša polovyna XVII st.) [Die Kriegsunternehmungen der Zaporoger Kosaken (erste Hälfte des 17. Jahrhunderts)], in: Ukraïna v centralno-schidnij Evrope 7 (2007), S. 167–196. 19 Zur Differenzierung der Kosaken jeweils nach Organisationsformen siehe Carsten Kumke, Führer und Geführte bei den Zaporoger Kosaken. Struktur und Geschichte kosakischer Verbände im polnisch-litauischen Grenzland (1550–1648) (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 49), Wiesbaden 1993. Angelehnt an Kumke der Ansatz zu sibirischen Kosakenverbänden von Christoph Witzenrath, Cossacks and the Russian Empire, 1598–1725. Manipulation, Rebellion and Expansion into Siberia, London/New York 2007. 2 0 Maurycy Horn, Skutki ekonomiczne najazdów tatarskich z lat 1605–1633 na Ruś Czerwona. [Wirtschaftliche Folgen der tatarischen Einfälle von 1605–1633 für Rotreußen], Breslau 1964.

296 Hans-Jürgen Bömelburg

Kudak eine neue Sicherheitsarchitektur, die auch räumlich Sicherheit erzeugen, diese repräsentativ absichern oder zumindest vorgaukeln sollte.21 Als Legitimationskonzept übernahmen die Kosaken dabei das ältere, seit dem 16. Jahrhundert in ganz Ostmitteleuropa verbreitete Antemurale-Konzept vom polnischen Hof und den polnischen Eliten, wandelten aber das ursprünglich aus dem frühneuzeitlichen Festungsbau entlehnte Bild einer „Vormauer“ nach ihren eigenen Lebensbedingungen ab: In kosakischen Selbststilisierungen verteidigten die Kosaken mit ihren bloßen Körpern die Region gegen osmanische und tatarische Bedrohungen, sie bildeten nach eigener Aussage einen lebendigen Wall aus „Krieger-Rittern“ und sicherten so Polen und die Christenheit. Hier wurde ein zeitgenössischer transnationaler Sicherheitsdiskurs aufgegriffen und auf die eigenen Gruppeninteressen zugeschnitten.22 Allerdings war die Umwandlung von autonomen militant-gewalttätigen Beute­ gemeinschaften in obrigkeitsstaatliche Sicherheitsspezialisten vor Ort nur bedingt erfolgreich, und dies aus drei Gründen: Da die polnischen Eliten den Kosa­ken eine politisch-repräsentative Gleichberechtigung verweigerten, bot dieser Weg für letztere nur begrenzte Aufstiegsmöglichkeiten und mündete wiederholt in eine öffentliche Desavouierung kosakischer Anliegen. Öffentliche Aussagen polnischer Eliten griffen die Ehre auch kosakischer Eliten wiederholt an.23 Zweitens verzögerten sich die Soldzahlungen wiederholt; die Zahlungsverzögerungen und –ausfälle wirkten sich negativ auf die Motivation einzelner Söldner und anschließend ganzer Gruppen aus. Mit dem Dienstregister war zwar ein legaler Rahmen für den Dienst eines Teils der Kosaken in Friedenszeiten geschaffen, die Existenzsicherung der militanten Gruppen, deren Anzahl mit jedem Kriegseinsatz stark anstieg, war allerdings weder durch Söldnerdienstverträge noch durch das Dienstregister konstant und in dieser Truppenstärke gewährleistet, da dies die fiskalischen Möglichkeiten Polen-Litauens überstieg.24 Insgesamt blieben, wenn wir die Begrifflichkeit von Charles Tilly aufnehmen, die Schutzgeld-Zahlungen zu gering, eine Inklusion konnte nicht sichergestellt

2 1

Bogusław Dybaś, Fortece Rzeczypospolitej. Studium z dziejów budowy fortyfikacji stałych w państwie polsko-litewskim w XVII wieku [Die Befestigungsanlagen Polen-Litauens. Eine Studie zum Bau von Befestigungen in Polen-Litauen im 17. Jahrhundert], Thorn 1998. 2 2 Liliya Bereznaya, Ruthenian Lands and the Early Modern Multiple Borderlands in Europe. Ethno-Confessional Aspects, in: Thomas S. Bremer (Hrsg.), Religion and the conceptual boundary in Central and Eastern Europe. Encounters of faiths, Basingstoke u. a. 2008, S. 40–65. 2 3 Starcenko, Verheerende Geschwindigkeit (wie Anm. 18), S. 167–199. 24 Grundlegend zum kosakischen Dienstregister Carsten Kumke, Die Reform der Registerkosaken im Jahre 1638, in: FOEG 48 (1993), S. 105–124.

Gewalt- und Sicherheitsgemeinschaften in Polen-Litauen 297

werden und die im „kleinen Krieg“ erbeuteten Güter dominierten bei den kosakischen Einnahmequellen gegenüber staatlichen Subsidien.25 Schließlich existierte drittens in der Region kein genossenschaftliches System einer Friedenssicherung. Gerade in den ukrainischen Woiwodschaften verschärfte sich die soziale Distanz zwischen dem sich mit Fürstentiteln und einer rjurikidischen Abstammung schmückenden reichen Hochadel und dem unter prekären Existenzbedingungen lebenden Kleinadel, der kosakische Lebensformen übernahm. Eine ständische Solidarität zwischen diesen Gruppen existierte nicht, beim Rechtszug an das weit entfernte Lubliner Krontribunal verfügte der Hochadel über die entsprechenden finanziellen Mittel, Prozesse zu verschleppen oder für sich zu entscheiden. Auch die konfessionelle Distanz – katholischer Hochadel gegen orthodoxen oder unierten Kleinadel – spielte hier eine trennende Rolle. Versuche einer Vermittlung zwischen beiden Gruppen scheiterten zeitgenössisch wiederholt, die Persönlichkeit des Woiwoden von Kiev, Adam Kysils (poln. Kisiel, 1600–1653), steht hierfür exemplarisch.26 Das Ende ist bekannt: Der große Kosakenaufstand ab 1648 brachte den polnisch-litauischen Staatsverband in eine existentielle Krise, eine Versicherheitlichung der ukrainischen Territorien innerhalb Polen-Litauens scheiterte bis zum Ende der Frühen Neuzeit, die Territorien wurden zwischen Polen-Litauen, Moskau und dem Osmanischen Reich aufgeteilt, kosakische Gewalt- und Sicherheitseliten finden sich im 17. Jahrhundert in den Armeen aller drei Mächte und seit dem 18. Jahrhundert vor allem in russländischen Diensten.

IV.  Zusammenfassende und vergleichende Überlegungen

Das auf kollektive Sicherheitskonzepte aufbauende frühneuzeitliche Polen-Litauen besaß zur Wahrung der inneren Sicherheit ein komplexes System von genossenschaftlichen Sicherheitsmechanismen wie auch gewalttätigen und fehdeähnlichen Vergeltungsszenarien, die neben einer Verrechtlichung standen. Auf Gewaltausübung mit einem ökonomischen Kalkül gründende Gewaltgemeinschaften entstanden in Polen-Litauen in erster Linie im bellizistischen 17. Jahrhundert insbesondere im frontier-Bereich zum Großfürstentum Moskau und zum Chanat der Krimtataren („polnische Reiter“, Kosaken). Ihre Einbindung in kollektive Sicherheitskonzepte und ihre Umwandlung in Sicherheitseliten gelang nur teilweise in Zentralpolen und im Großfürstentum Litauen. Sie scheiterte in der Zentralukraine, da dort Sicherheitszonen sowie die Voraussetzungen für ein 2 5

Charles Tilly, War-Making and State-Making as Organized Crime, in: Peter Evans/Dietrich Rueschmeyer/Theda Skopcol (Hrsg.), Bringing the State Back in, Cambridge 1985, S. 169–191. 2 6 Frank E. Sysyn, Between Poland and the Ukraine. The Dilemma of Adam Kysil, 1600–1653, Cambridge 1985.

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genossenschaftliches Sicherheitssystem fehlten und insbesondere den Kosaken politische Partizipation und rechtliche Gleichstellung verweigert wurden. In Polen-Litauen haben wir es strukturell in der Frühen Neuzeit mit einer Verschränkung von Gewalt und Sicherheit zu tun, die sich in unterschiedlichen Konstellationen entwickelt. Prägend ist hierbei weniger der frühmoderne Machtstaat, sondern stärker auch ständische und bündisch-genossenschaftliche Akteure, deren Rolle zwischen Täterschaft und Sicherheitsakteuren changieren kann. Gewaltgemeinschaften sind offensichtliche Bedrohungen, können aber auch manchmal durch „Sicherheit durch Gewalt“ zu Produzenten von Sicherheit werden. Die Aushandlung von Sicherheit findet in den ständischen Landtags- und Reichstagsverhandlungen sowie im polnischen Krontribunal und im litauischen Tribunal statt. Im Unterschied zur höchsten Reichsgerichtsbarkeit im Reichskammergericht und im Reichshofrat überwiegen hier allerdings mündliche Aushandlungsprozeduren, die Anwesenheitsgesellschaft spielt eine größere Rolle als im Alten Reich. Während eine Sicherheitsarchitektur etwa durch Befestigungen nur rudimentär entwickelt wird, findet sich ein breiter Sicherheitsdiskurs, der vor allem auf der seit ca. 1500 verbreiteten Vorstellung einer Rolle Polens (weniger Litauens) als Antemurale gleichermaßen gegen Moskau und das Osmanische Reich aufbaut.

Marian Füssel

Die Politik der Unsicherheit. Sicherheit, Gewalt und Expansion in den britischen Kolonien im Siebenjährigen Krieg Im Prozess der europäischen Expansion spielte Sicherheit eine tragende Rolle. Das Thema Sicherheit beherrschte die Legitimationsdiskurse imperialer Ausdehnung ebenso wie deren praktische Umsetzung. Kaum eine Einrichtung verkörpert diese kolonialen Sicherheitsdispositive besser als das europäische Fort, als eine Art Stein gewordenes Sicherheitsversprechen.1 Fast überall auf der Welt begannen ab dem 16. Jahrhundert zunächst Portugiesen, Spanier und Niederländer, später dann Franzosen und Engländer damit, ihre überseeischen Handelsniederlassungen zu fortifizieren. Die Identifikation von Sicherheit und Festung ist zweifellos keine Besonderheit des Expansionsprozesses, gewann aber in der kolonialen Situation eine besondere Bedeutung. Anders als in Europa wurden befestigte Plätze von den Kolonisten nicht im eigenen Territorium angelegt, sondern in fremden. Es bedurfte daher einer besonderen Begründung und Akzeptanz zu ihrer Errichtung, sowohl gegenüber den indigenen Parteien wie den europäischen Geldgebern. Obwohl die außereuropäische Kultur der asymmetrischen Kriegführung in der Regel eine andere als der standardisierte europäische Festungskrieg à la Vauban war, beeinflussten dessen Ansichten auch die überseeische Festungsbaupolitik.2 Eine spezielle Dynamik erhielt der koloniale Festungsbau schließlich durch die meist trianguläre Struktur der beteiligten Akteure. Häufig waren es Vertreter zweier oder mehrerer europäischer Mächte, die miteinander konkurrierten. Zugleich standen sie in Auseinandersetzung mit den lokalen Akteuren, sei es etwa den nordamerikanischen Stämmen oder den verschiedenen Herrschaftsträgern im indischen Mogulreich.3

1

Zu den Fortifikationen im Prozess der europäischen Expansion vgl. exemplarisch ­Christoph Rella, Im Anfang war das Fort. Europäische Fortifizierungspolitik als Instrument zur Welteroberung. Guinea und Westindien 1415–1678 (Geschichte in der Epoche Karls V. 12), Münster 2010. Zum Begriff des „Sicherheitsdispositivs“ vgl. Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, Frankfurt a. M. 2004. 2 Vgl. Werner Gembruch, Zwei Denkschriften Vaubans zur Kolonial- und Außenpolitik Frankreichs aus den Jahren 1699 und 1700, in: Historische Zeitschrift 195 (1962), S. 297–330; Jamel Ostwald, Vauban under siege. Engineering efficiency and martial vigor in the War of the Spanish Succession, Leiden u. a. 2007. 3 Vgl. Richard White, The Middle Ground. Indians, Empires and Republics in the Great Lakes Region 1650–1815 (Cambridge studies in North American Indian history), Cambridge u. a. 1991; John F. Richards, The Mughal Empire (The New Cambridge History of India I, 5), Cambridge 1993.

300 Marian Füssel

Vor diesem Hintergrund kann in Anlehnung an die Kopenhagener Schule mit dem Begriff der „securitization“ operiert werden.4 Es geht vereinfacht gesprochen darum, eine Situation als unsicher zu konstruieren und bestimmte Akteure als schutzbedürftig zu kennzeichnen, um damit extraordinäre Maßnahmen durchsetzen zu können.5 Im Fall der kolonialen Expansion bedeutet dies, danach zu fragen, wie Siedler und Händler als schutzbedürftig gekennzeichnet und gleichzeitig die indigenen Akteure und europäischen Konkurrenten als Bedrohung aufgebaut werden. Adressaten dieser Versicherheitlichung waren einerseits die indigenen Kräfte wie andererseits die heimischen Regierungen bzw. Geldgeber in Europa. Am Beispiel des Siebenjährigen Krieges werde ich im Folgenden dem Zusammenhang von Versicherheit­lichung und Gewalt auf dem indischen Subkontinent (I.) und in Nordamerika (II.) nachgehen. Der Siebenjährige Krieg bildete einen vorläufigen Kulminationspunkt einer ganzen Reihe frühmoderner kolonialer Konflikte eines zweiten „hundertjährigen Krieges“ zwischen Engländern und Franzosen, welcher in Übersee zunächst europäische Kriege wie den Spanischen und Österreichischen Erbfolgekrieg spiegelte, in zunehmenden Maße jedoch auch zu Interdependenzen führte, die die originären Konfliktherde auch außerhalb Europas entflammen ließen.6

I.  „Fear only keeps us in“ – Versicherheitlichung auf dem indischen Subkontinent

Träger der britischen Expansion in Indien war die im Jahr 1600 gegründete East India Company (EIC), die sich in dauerhafter Konkurrenz zur 1664 privilegierten französischen Compagnie des Indes befand.7 Mit den Handelskompanien tritt ein 4

Vgl. Barry Buzan/Ole Wæver/Jaap de Wilde, Security. A new framework for analysis, Boulder/CO u. a. 1998; dazu auch Alexander Siedschlag u. a., Grundelemente der internationalen Politik, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 54–56; im Hinblick auf die Legitimationsfunktion in „Imperien“ vgl. Ulrich Leitner, Imperium. Geschichte und Theorie eines politischen Systems, Frankfurt a. M. 2011, S. 227–237. 5 Auf diese Weise verweist Sicherheit immer auch auf die Wahrnehmung von Unsicherheit bzw. der Instrumentalisierung von Ängsten. Für den Bereich der Außenpolitik vgl. etwa Patrick Borman/Thomas Freiberger (Hrsg.), Angst in den internationalen Beziehungen, Göttingen 2010. 6 Vgl. Marian Füssel, Der Siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18. Jahrhundert, München 2010; Daniel Baugh, The Global Seven Years War 1754–1763 (Modern wars in perspective), Harlow 2011. Zur französischen Kolonialpolitik im Siebenjährigen Krieg vgl. Armin Reese, Europäische Hegemonie und France d’outre-mer. Koloniale Fragen in der französischen Außenpolitik 1700–1763 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 42), Stuttgart 1988, S. 274–336. 7 Als jüngeren deutschsprachigen Überblick vgl. Jürgen G. Nagel, Abenteuer Fernhandel. Die Ostindienkompanien, Darmstadt 2007; ansonsten vgl. als Auswahl aus der umfangreichen Forschung Lucy Stuart Sutherland, The East India Company in eighteenth-century

Die Politik der Unsicherheit in den britischen Kolonien im Siebenjährigen Krieg 301

bestimmter Typus ökonomisch motivierter Gewaltgemeinschaften in den Blick, deren Übergang zur Territorialmacht im Fall der EIC die paradoxale Relation von Sicherheit und Gewalt deutlich zu Tage treten lässt.8 Da mit nur wenigen hundert Männern langfristig keine sichere koloniale Herrschaft aufgebaut werden konnte, waren die Briten, wie auch ihre europäischen Konkurrenten, auf die Anwerbung einheimischer Hilfstruppen angewiesen.9 Angefangen hatten Niederländer und Franzosen damit bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts, doch erst zu Beginn der 1740er Jahre wurden in Pondicherry zwei Kompanien Sepoys in französischen Diensten ausgebildet. Ein Modell, welches von den Briten schon wenige Jahre später adaptiert wurde.10 In Gestalt der Sepoys entwickelten sich diese lokal rekrutierten Verbände tatsächlich zu einem Erfolgsmodell hybrider militärischer Expansion, belasteten die Briten jedoch stets mit der Sorge, ob sich ihre einheimischen Truppen nicht gegen sie wenden könnten, was in zahlreichen strukturellen Eigenheiten hinsichtlich ihrer Organisation, Ausrüstung und Führung resultierte.11 So ach-

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9 10

11

politics, Oxford 1952; Kirti N. Chaudhuri, The Trading World of Asia and The English East India Company, 1669–1760, Cambridge 1978; John Keay, The Honourable Company. A history of the English East India Company, London 1991; M. Philip Lawson, The East India Company. A History, London/New York 1993; Patrick J. N. Tuck, The East India Company, 1600–1858, 6 Bde., London u. a. 1998; Huw V. Bowen, The business of empire. The East India Company and imperial Britain 1756–1833, Cambridge u. a. 2006; ders. /Margarette Lincoln/Nigel Rigby (Hrsg.), The Worlds of the East India Company, Woodbridge 2002; Nick Robins, The Corporation that Changed the World. How the East India Company Shaped the Modern Multinational, London 2006; Philippe Haudrère, La Compagnie française des Indes au XVIIIe siècle 1719–1795, 4 Bde., Paris 1989; ders., Les Compagnies des Indes orientales. Trois siècles de rencontre entre Orientaux et Occidentaux (1600–1858), Paris 2006. Vgl. Michael Mann, Bengalen im Umbruch. Die Herausbildung des britischen Kolonialstaates 1754–1793 (Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte 78), Stuttgart 2000, S. 33–115; Peter J. Marshall, Bengal, The British bridgehead. Eastern India 1740–1828 (New Cambridge History of India, II, 2), Cambridge 1987; Robert Travers, Ideology and Empire in Eighteenth-Century India. The British in Bengal (Cambridge studies in Indian history and society 14), Cambridge u. a. 2007, S. 31–66. Vgl. allg. David Killingray (Hrsg.), Guardians of empire. The armed forces of the colonial powers, c. 1700–1964, Manchester u. a. 1999. Vgl. Channa Wickremesekera, Best black troops in the world: British perceptions and the making of the sepoy, 1746–1805, Neu-Delhi 2002, S. 117; Henry H. Dodwell, Sepoy Recruitment in the Old Madras Army (Studies in Indian Records), Kalkutta 1922. Vgl. Dirk H. A. Kolff, Naukar, Rajput and Sepoy. The Ethnohistory of the Military Labour Market in Hindustan 1450–1850 (University of Cambridge oriental publications/University 43), Cambridge 1990; Gerald J. Bryant, Indigenous Mercenaries in the Service of European Imperialists. The Case of the Sepoys in the Early British Indian Army, 1750–1800, in: War in History 7 (2000), S. 2–28; Marian Füssel, Händler, Söldner und Sepoys. Transkulturelle Kampfverbände auf den südasiatischen Schauplätzen des Siebenjährigen Krieges, in: ­Tanja

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tete man darauf, sowohl Artillerietechnologie als auch das Wissen um deren Bedienung nicht aus den Händen zu geben und beobachte zudem mit Sorge die Fortschritte in der Organisation der indischen Kavallerieverbände.12 Die eigene Herrschaft zu sichern schuf gleichzeitig neue Risiken, die sie bedrohten. Das ohnehin komplexe Wechselspiel von Sicherungs- und Bedrohungsfaktoren wurde durch die Sepoys somit noch um eine weitere Akteursgruppe erweitert. Auf dem indischen Subkontinent unterhielt die East India Company in drei Regionen bedeutende Niederlassungen: an der Westküste in Bombay, im Südosten entlang der Koromandel­küste und an der Nordostküste in Bengalen. Zur Zeit des Siebenjährigen Krieges befanden sich am oberen und unteren Ende der Ostküste in nächster Nachbarschaft zu den britischen Niederlassungen französische Forts.13 In Bengalen lag das französische Chandannagar unweit des britischen Fort St. William von Kalkutta.14 An der Südostküste errichteten die Franzosen 1674 Pondicherry in der Nähe des 1640 gegründeten Fort St. George in Madras.15 Rund hundert Meilen südlich bei Cuddalore erwarb die Company 1690 von den Marathen Fort St. David. Die Briten erwarben mit der Niederlassung alle Dörfer, die innerhalb der Reichweite einer großen, aus der Festung arbiträr in eine Himmelsrichtung abgefeuerten Kanone lagen. Orte, welche angeblich bis in die Gegenwart als Gunda Grámam (cannonball villages) firmieren.16 Damit wird der Zusammenhang von Territorialität und der Performativität von Sicherheit deutlich: Der Schuss schafft in actu den Bereich der eigenen militärischen Kontrolle. Die Bedeutung der kostspieligen Fortifikation für den Indienhandel war zu dessen Anfängen im 17. Jahrhundert unter den Engländern nicht unumstritten. Allmählich setzte sich jedoch die Auffassung durch, dass die einzig effektive

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16

­ ührer/Christian Stachelbeck/Dierk Walter (Hrsg.), Imperialkriege von 1500 bis heute. B Strukturen – Akteure – Lernprozesse, Paderborn 2011, S. 307–324; Kaushik Roy, The hybrid military establishment of the East India Company in South Asia: 1750–1849, in: Journal of Global History 6 (2011), S. 195–218. Vgl. Steward Gordon, The limited adoption of European-style military forces by eighteenth century rulers, in: Indian Economic Social History Review 35 (1998), S. 229–245, hier S. 240. Als Überblick über die indischen Fortifikationen vgl. Mukund S. Naravane, The maritime and coastal forts of India, New Delhi 1998. Charles R. Wilson (Hrsg.), Indian Record series. Old Fort William in Bengal; a selection of official documents dealing with its history, 2 Bde., London 1906. Vgl. zu Fort St. George Henry Davison Love, Vestiges of old Madras, 1640–1800. Traced from the East India Company’s records preserved at Fort St. George and the India Office, and from other sources, 4 Bde., London 1913 (Ndr. Delhi 1996); J. Talboys Wheeler, ­Madras in the olden time. Being a history of the Presidency from the first foundation of fort St. George to the occupation of Madras by the French 1639–1748, compiled from official records, Madras 1882 (Ndr. Delhi 1993). Vgl. die Wiedergabe des „Firmans“ von Rám Rájá in: John H. Garstin, Manual of the South Arcot District, Madras 1878, S. 25–27.

Die Politik der Unsicherheit in den britischen Kolonien im Siebenjährigen Krieg 303

Form der Machtausübung darin bestünde, mit der Demonstration militärischer Stärke, wie sie die Forts verkörperten, die Furcht der Inder zu schüren. Sir ­Tomas Roe brachte es bereits 1617 auf den Punkt: „Anything that would stir these people to know us and fear us will work better effects than all the fair ways of the world.”17 Die Politik der Furcht war auch Mitte des 18. Jahrhunderts während des Siebenjährigen Krieges das Maß aller Dinge. Das Select Committee der Company in Fort William vertrat 1758 die Auffassung, die alltägliche Erfahrung lehre „that Musulmen will remain firm to the engagements no longer than while they are actuated by principles of fear“.18 Zugleich unterstützte die Sorge um die Sicherheit für die in Indien tätigen Briten eine Art „frontier patriotism“, der umso stärker wurde, je mehr man das Bild der Bedrohung durch den „asiatischen Despotismus“ kultivierte.19 Ein wichtiger Punkt für die Akzeptanz befestigter britischer Forts war ihre Schutzfunktion aber nicht nur für europäische, sondern auch für indische Händler.20 Denn immer wieder sahen sich auch einheimische Kaufleute Angriffen seitens der Marathen ausgesetzt, gegenüber denen die britischen Niederlassungen beispielsweise in Madras und Bombay Schutz gewährten.21 Eine Sicherheit, die freilich nicht umsonst genossen werden konnte: Die EIC profitierte nicht unerheblich von den Abgaben, Steuern und Wegezöllen, welche die schutzsuchenden Kaufleute zu entrichten hatten. Schon am Ende des 17. Jahrhunderts war daher klar: „Protection being the true foundation on which all Pretences for raising Customs Subsidies and other Taxes are originally built.“22 Sicherheit wurde zu einer Art Ware, ihre Gewährleistung zu einem Medium der Legitimation territori 17 I. Bruce Watson, Fortifications and the ‚idea‘ of force in early English East India Company’s

relation with India, in: P & P 88 (1980), S. 70–87, hier S. 75. Hara Narayan Sinha (Hrsg.), Fort William-India House Correspondence and Other Contemporary Papers Relating Thereto, 1748–1800, 21 Bde., Delhi 1949–59, Bd. 2, S. 392, zit. nach: Watson, Fortifications (wie Anm. 17), S. 76. 19 Vgl. Robert Travers, Ideology and British Expansion in Bengal, 1757–72, in: JICH 33/1 (2005), S. 7–27. 2 0 Eine aufschlussreiche Quelle für die verschiedenen Fluchtbewegungen schutzsuchender Gruppen ist das Tagebuch des in französischen Diensten stehenden „Samuel Pepys of French India“ Ananda Ranga Pillai (1709–1761), vgl. Henry Dodwell (Hrsg.), The Diary of Ananda Ranga Pillai. Translated from the Tamil by order of the Government of Madras, Bd. XI: July 1757-Dec. 1759, Madras 1927 und Bd. XII: Jan. 1760–Jan. 1761, Madras 1928; zum Kontext vgl. David Shulman, Cowherd or King. The Sanskrit Biography of Ananda Ranga Pillai, in: David Arnold/Stuart Blackburn (Hrsg.), Telling Lives in India. Biography, autobiography, and life history, Bloomington u. a. 2004, S.175–202. 2 1 Watson, Fortifications (wie Anm. 17), S. 82. Zu den Marathen vgl. Stewart Gordon, ­Marathas, marauders, and state formation in eighteenth-century India, Delhi u. a. 1994; ders., The Marathas 1600–1818 (The New Cambridge History of India II, 4), Cambridge 1993. 2 2 Extract from Instructions from the Court to Sir Charles Eyre, London December 20, 1699, in: Wilson, Fort William (wie Anm. 14), S. 47. 18

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aler Souveränität.23 Für die Company stellten der stille Ausbau der Befestigungen und die ebenso stille Abgabepraxis gewissermaßen eine Win-win-Situation dar. Die Mogulfürsten waren nicht in der Lage, effektiv Sicherheit zu gewährleisten, weshalb die Position der Engländer in doppelter Hinsicht prosperierte. Ein weiterer Nebeneffekt dieser Politik mit der Unsicherheit war die Schwächung der Autorität der lokalen Machthaber, die ihre Schutzfunktion weniger gut erfüllten als die Fremden. So sah sich der Nawab von Bengalen bereits 1696 dazu genötigt, der Company in der Folge lokaler Unruhen die Erlaubnis zur Errichtung von Fortifikationen in Kalkutta zu gewähren.24 Eine zusätzliche Dynamisierung erfuhr diese Relation von Schutz und Bedrohung durch die Intensivierung der britisch-französischen Rivalitäten. Die Konflikte mit den Franzosen gaben der Company eine weitere Legitimation zum Ausbau ihrer Befestigungsanlagen, die unverdächtiger schien als das Argument, sich gegen Angriffe aus dem Landesinneren schützen zu müssen. Gegen Ende des österreichischen Erbfolgekrieges entwickelte sich der kalte Krieg zwischen britischer und französischer Indienkompanie schlagartig in einen heißen, als die Franzosen 1746 Madras einnahmen.25 Zwar fiel die Niederlassung mit dem Aachener Frieden bereits 1748 wieder an die Briten zurück, doch der Konflikt war damit nicht beendet.26 In insgesamt drei aufeinander folgenden sogenannten Carnatic Wars (1. 1746–1748, 2. 1749–1754, 3. 1757–1763) kämpften Engländer und Franzosen entlang der Ostküste Indiens um die Vorherrschaft. Eine dramatische Wendung nahmen die Beziehungen zwischen der C ­ ompany und der Mogulherrschaft 1756, als Alivardi Khan, der Nawab von Bengalen, verstarb und der junge Sirajuddaullah aus dem Rennen um die Nachfolge als Sieger hervorging.27 Bis dahin hatten sich die ökonomischen Rivalitäten zwischen der Company und dem Nawab immer weiter aufgeschaukelt, so dass eine Krise kurz bevorstand. Anlass für die Eskalation der latenten Konflikte war neben dem seit langem anhaltenden Missbrauch der sogenannten „dustucks“, einer Art Zollfreiheitsprivileg, die Schutzfunktion des britischen Forts William. Das Fort beherbergte nämlich Krishna Dass, Sohn des Steuereinziehers von Dacca 2 3

„The company began to regard security of the modest kind which its major settlements could offer as not just an essential, but also as a marketable commodity.“ Bruce P. ­Lenman, Britain’s Colonial Wars 1688–1783, Harlow 2001, S. 90. 24 Zum schrittweisen Ausbau der Fortifikation in den Jahren nach 1696 vgl. Wilson, Fort William (wie Anm. 14), S. 19–53; Jeremiah P. Losty, Calcutta: City of palaces; a survey of the city in the days of the East India Company, 1690–1858, London 1990, S. 17; Soumitra Sreemani, Anatomy of a colonial town. Calcutta, 1756–1794, Kalkutta 1994, S. 44–49. 2 5 Love, Vestiges (wie Anm. 15), Bd. 2, S. 353–364. 2 6 Ebd., S. 390f. 27 Vgl. Brijen K. Gupta, Sirajuddaullah and the East India Company, 1756–1757. Background to the foundation of British power in India, Leiden 1962.

Die Politik der Unsicherheit in den britischen Kolonien im Siebenjährigen Krieg 305

und reicher Kaufmann, der sich bereits mit erheblichen finanziellen Mitteln für Sirajuddaullahs politische Rivalen eingesetzt hatte. Zudem hatten die Briten bereits 1755 begonnen, ihre Fortifikationsanlagen zu modernisieren, was sie in der Folge mit einem sich abzeichnenden erneuten Konflikt mit den Franzosen begründeten.28 Am 15. Mai 1756, knapp einen Monat nach seiner Machtergreifung, wies der neue Nawab den Gouverneur von Fort William an, Krishna Dass auszuliefern und den Ausbau der Anlagen zu stoppen. Die Forderung wurde ignoriert und der Überbringer des Briefes unehrenhaft vor die Tür gesetzt. Am 28. Mai folgte ein weiteres Schreiben des Nawab an dessen Botschafter in Kalkutta: It has been my design to level the English fortifications raised within my jurisdiction on account of their great strength. […] If the English are contented to remain in my country they must submit to have their fort razed, their ditch filled up, and trade upon the same terms they did in the time of the Nabob Jaffeir Cawn.29

Weitere Briefe wurden ohne Erfolg hin und her gewechselt, und die britische Faktorei Kassimabazar musste sich Anfang Juni einer gewaltigen Armee Sirajuddaulahs von rund 30 000 Männern ergeben. Nach vier Tagen Belagerung und schweren Kämpfen fiel auch Kalkutta am 20. Juni an den Nawab, der unter anderem europäische Artilleristen unter Anführung eines französischen Renegaten einsetzte. In der Folge kam es zur Inhaftierung einer größeren Gruppe von verbliebenen Europäern im berüchtigten Black Hole of Calcutta, in deren Folge einige von ihnen verstarben. Der Vorfall wurde zu einem der zentralen kolonialen Gedächtnisorte des britischen Empires und diente angesichts einer nun offenen 2 8

„On receipt of the Court of Directors’ letter per ship Delawar we were acquainted there was great probability of a war breaking out with France and warning the settlement of Calcutta to be on their guard, workmen were immediately employed to repair and put in order the rampart and line of guns by the waterside; the military storekeeper had orders to prepare and make fit for use gun carriages; a sufficient number of oxen were also procured to work night and day in making of gunpowder, which seeming preparations for war came to the Nabob`s ears, who immediately wrote a letter to the Governor requiring that we should not only desist from carrying on any new works but demolish our redoubt and drawbridge at Perrin’s and fill up the ditch dug round the town when the Morratoes first invaded the country in the year 1743, and for which work we had thanks from the late Nabob as our town was the an asylum to many of his subjects who brought and sent great riches to be there deposited.“, „Narrative“ von Gouverneur Drake, in: Samuel Charles Hill (Hrsg.), Indian Records Series Bengal in 1756–1757. A selection of public and private papers dealing with the affairs of the British in Bengal during the reign of Siraj-Uddaula, Bd. I, London 1905, S. 118–162, hier S. 124; vgl. auch den Brief des Councils an den Court of Directors in London vom 17. September 1756, in: Hill, Bengal (ebd.), Bd. I, Nr. 89, S. 214–219, hier S. 214f. 2 9 Hill, Bengal (wie Anm. 28), Bd. I, Nr. 5, S. 3.

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Bedrohung durch die Armee des Nawabs einer gewaltsamen Herrschaftsübernahme in Bengalen als zusätzliche Legitimation.30 Nachdem die Briten Kalkutta im Januar 1757 wieder eingenommen hatten, begannen sie augenblicklich mit dem Ausbau der Fortifikationsanlagen.31 Die neue militärische Lage erlaubte es ihnen schon bald, selbstbewusst entsprechende Forderungen an den Nawab zu stellen. So heißt es in einem Vertragsentwurf vom 6. Februar: That we have Liberty to fortifye Calcutta in such manner as we may think proper and that our Bounds do extend the Whole Circle of the ditch dug upon the Invasion of the Morrattoes. That we put in possession of the Thirty eight Villages Granted by the Phirmaund and be allowed to govern the same upon the Terms there expressed. Lastly That the Nabob do not erect any Forts or Fortifications below Calcutta within a Mile of the River Side, and that such as are now remaining be destroyed.32

In der Folge lässt die Company unter Robert Clive 1758 ein neues Fort in C ­ alcutta errichten, das allerdings erst im Jahr 1781 fertiggestellt wurde und von dem während seiner Existenz nicht ein einziger Schuss abgefeuert werden sollte. ­Clive hatte 1757 bei Plassey den entscheidenden Sieg gegen Sirajuddaulah errungen, 1760 erfolgte bei Wandiwash ein endgültiger Sieg über die Franzosen. Als F ­ olge davon wurde 1761 das französische Fort Pondicherry dem Erdboden gleich gemacht.33 Hier zeigte sich sowohl materiell wie symbolisch, welche Bedeutung der Zerstörung eines Forts für das Ausschalten eines kolonialen Konkurrenten hatte.34 Mit der Übernahme der Diwani, eines lokalen Steuerprivilegs in ­Bengalen, ebnete sich 1765 nun der Weg der Company von einer Handelsgesellschaft zum territorialen Herrschaftsträger.

3 0 Iris Macfarlane, The Black Hole or the makings of a legend, London 1975; Kate Teltscher,

‚The fearful name of the Black Hole‘. Fashioning an imperial myth, in: Bart Moore-Gilbert (Hrsg.), Writing India. 1757–1990. The literature of British India, Manchester 1996, S. 30–51; Ian Barrow, The many meanings of the Black Hole of Calcutta, in: Kate Brittlebank (Hrsg.), Tall Tales and True. India, historiography and British imperial imaginings, Victoria 2008, S. 7–18; Jan Dalley, The Black Hole. Money, Myth and Empire, London 2006. 31 Vgl. Wilson, Fort William (wie Anm.14), S. 100–104. 3 2 Ebd., S. 104. 3 3 Robert Orme, A history of the military transactions of the British nation in Indostan, from the year 1745 to which is prefixed a dissertation on the establishments made by Mahomedan conquerors in Indostan, Bd. 2, 2. Sektion, London 1778, S. 726. 3 4 Die Zerstörung wurde auch in einem Kupferstich dokumentiert, vgl. Christopher A. B ­ ayly (Hrsg.), The Raj. India and the British 1600–1947, London 1990, S. 91f.

Die Politik der Unsicherheit in den britischen Kolonien im Siebenjährigen Krieg 307

II.  „without any manner of security or defense“ – ­Ambivalenzen der Sicherheit in Nordamerika

Auch in Nordamerika kam den Forts eine zentrale sicherheitspolitische Funktion zu, doch zeigen sich im Vergleich zu Indien auch einige signifikante Unter­schiede. Am stärksten fällt wohl ins Gewicht, dass es sich hier im Falle der britischen Besitzungen nicht um eine Handelskolonie mit einigen hundert Europäern handelte, sondern um Siedlungskolonien mit hunderttausenden landbesetzenden Siedlern.35 Die Versicherheitlichungsdiskurse der nordamerikanischen Kolonien hatten daher drei unterschiedliche Adressatengruppen, neben die indigenen Gruppen und die britische Regierung in London trat nach und nach eine koloniale Öffentlichkeit vor Ort. Neben der Flugpublizistik existierten in größeren Städten bereits eigene Zeitungen, in denen sich Fragen der Sicherheitspolitik artikulierten.36 Die Kolonisten bildeten Gewaltgemeinschaften mit zum Teil hybriden Formationen wie den Rangern aus, wurden aber durch größere Kontingente von Linientruppen ergänzt.37 Gleichzeitig war die Situation der indigenen Bevölkerung kaum mit der in der südasiatischen Kultur vergleichbar. Eine Schutzfunktion für indianische Stämme kam den europäischen Forts hier nur sehr begrenzt zu.38 Dennoch waren die Europäer auch in Nordamerika grundsätzlich auf die Zustimmung der lokalen Akteure angewiesen, um Forts zu errichten oder auszubauen. Die Ambivalenz von Schutz und Bedrohung äußerte sich wie im Beispiel der Sepoys auch in den Waffenverkäufen an die indianischen Stämme. Einerseits sah man in der Ausrüstung mit Musketen ein Sicherheitsrisiko, andererseits benötigte man schlagkräftige Verbündete und konnte ökonomisch vom Waf-

3 5

Vgl. als Überblick Hermann Wellenreuther, Ausbildung und Neubildung. Die Geschichte Nordamerikas vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis zum Ausbruch der Amerikanischen Revolution 1775 (Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2), Hamburg 2001. 3 6 Vgl. David A. Copeland, Colonial American newspapers. Character and content, Newark u. a. 1997; ders., Debating the issues in colonial newspapers. Primary documents on events of the period, Westport/CT u. a. 2000. 37 Vgl. Stephan Maninger, „Rangers“: Ein Konzept der Aufstandsbekämpfung in Nordamerika von 1676 bis 1850, in: Bührer/Stachelbeck/Walter, Imperialkriege (wie Anm. 11), S. 325–344; zu den französischen Einheiten vgl. Martin L. Nicolai, A Different Kind of Courage. The French Military and the Canadian Irregular Soldier during the Seven Years’ War, in: CanHRev 70/1 (1989), S. 53–75. 3 8 Schon während des 17. Jahrhunderts empfanden die Irokesen französische Forts als Bedrohung ihrer Sicherheit, vgl. José A. Brandão, „Your fyre shall burn no more“: Iroquois policy toward New France and its native allies to 1701 (The Iroquoians and their world), Lincoln/NE u. a. 1997, S. 119f.

308 Marian Füssel

fenhandel profitieren.39 Ähnlich wie in Indien erwies sich dafür die koloniale Konkurrenzsituation zwischen Briten und Franzosen als nützlich. Die Initiative zum Bau von Forts hatten zunächst die Franzosen ergriffen.40 ­Pierre Le Moyne d’Iberville, der Gründer Louisianas, hatte bereits 1701 bis 1703 in einem Memorandum die Politik formuliert, mit Forts eine französisch-britische Grenzlinie vom Mississippital bis zu den großen Seen zu errichten.41 Ein Plan, der in den folgenden Jahrzehnten langsam umgesetzt wurde. Mit Hilfe der Forts konnten sowohl auf lokaler Ebene der Handel mit den Stämmen kontrolliert wie territoriale Ansprüche gegenüber den britischen Siedlern geltend gemacht werden. Zu Beginn des Siebenjährigen Krieges verfügten die Franzosen über eine breite Linie an Forts, die ab 1752 von dem neuen französischen Gouverneur, dem Marquis Duquesne, mit hohen Kosten ausgebaut worden war.42 Auf britischer Seite reagierte man 1755/56 mit dem Bau einer eigenen „Kette“ von Forts an den Grenzen von Pennsylvania, Maryland und Virginia.43 Der Begriff „Fort“ war allerdings in der interkulturellen Kommunikation alles andere als klar definiert. Eine begriffliche Unschärfe, die von den Europäern taktisch genutzt wurde, wie etwa der Vertrag von Logg’s Town 1752 zwischen verschiedenen Irokesenstämmen und der Ohio Company sowie Händlern aus Virginia zeigt.44 Angesichts französischer Angriffe während der Verhandlungen forderten die Indianer den Bau eines „strong houses“, verstanden als geschützter Ort zur Aufbewahrung von Pulver und Nahrung.45 Die Vertreter Virginias hatten jedoch ein Fort mit Garnison und Siedlung im Sinn. Die Indianer unterzeichneten schließlich den Vertrag, der die Sicherheit britischer Siedlungen im Süden und 3 9 4 0

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Vgl. Armstrong Starkey, European and native American warfare, 1675–1815, London 1998, S. 20–25, hier besonders S. 23. Vgl. z. B. zum heutigen Iowa Cynthia L. Peterson, Historical Tribes and Early Forts, in: William E. Whittaker (Hrsg.), Frontier forts of Iowa. Indians, traders, and soldiers, 1682–1862, Iowa City 2009, S. 12–29. Vgl. Wellenreuther, Ausbildung (wie Anm. 35), S. 43f. mit Anm. S. 143. Francis Jennings, Empire of Fortune. Crowns, Colonies and Tribes in the Seven Years War in America, London/New York 1990, S. 50–52. Vgl. Fred Anderson, Crucible of war. The Seven Years’ War and the fate of empire in British North America, 1754–1766, New York 2001, S. 158; William A. Hunter, Forts on the Pennsylvania Frontier 1753–1758 (Pennsylvania Historical and Museum Comm.), Harrisburg/ PA 1960; auch in Massachusetts existierte eine entsprechende „Linie“ vgl. Michael D. Coe, The line of forts. Historical archaeology on the colonial frontier of Massachusetts, Hanover/NH u. a. 2006. The Treaty of Logg’s Town, 1752; Commission, Instructions &c, Journal of Virginia Commissioners, and Text of Treaty, in: Virginia Magazine of History and Biography 13 (1905–06), S. 148–178; Jennings, Empire of Fortune (wie Anm. 42), S. 42. „We therefore desire our Bretheren of Virginia may build a strong house, at the Fork of the Mohongalio, to keep such Goods, Powder, Lead and necessaries as shall be wanting, and soon as you please.“ Treaty of Logg’s Town (wie Anm. 44), S. 168.

Die Politik der Unsicherheit in den britischen Kolonien im Siebenjährigen Krieg 309

Osten des Ohio vor indianischen Angriffen garantierte, und besiegelten damit ihre eigene Vertreibung. Die Interessen der Europäer waren dabei keineswegs eindeutig. Die Ohio Company hatte London bereits den Bau eines Forts versprochen, scheute aber noch die Kosten. Franzosen und Briten bewegten sich nun immer weiter in Richtung eines Krieges. Beide versuchten, entlang des Ohio-Tales Forts aufzubauen und zu kontrollieren. Und beide waren darin auf die Unterstützung der Irokesenstämme angewiesen. Als die Franzosen 1752 unter dem Marquis Duquesne erneut fortifikatorisch aktiv wurden, wandten sich die Stämme hilfesuchend an die englischen Kolonisten. Diese nutzten die Unsicherheit der Indianer gegenüber den Franzosen und auch der Stämme untereinander ihrerseits, um den Bau weiterer Forts durchzusetzen.46 In den folgenden drei Jahren eskalierte die Situation im Ohio Tal bis zum endgültigen Ausbruch des French and Indian War im Juli 1755. Wie die diskursive Versicherheitlichung der Kolonisten funktio­nierte, macht ein Brief William Shirleys, des Gouverneurs von Massachusetts, von 1755 deutlich: Our colonies are all open and exposed, without any manner of security or defense. [The French] are protected and secured by numbers of forts and fortresses. Our men in America are scattered up and down the woods, upon their plantations, in remote and distance provinces. Theirs are collected together in forts and garrisons. Our people are nothing but a set of farmers and planters, used only to the axe or hoe. Theirs are not only well trained and disciplined but they are used to arms from their infancy among the Indians.47

So begrenzt die einzelnen „raids“ und Aktionen sowohl räumlich als auch von der Anzahl der beteiligten Akteure auch sein mochten, als Medienereignisse entfalteten sie breite Wirkung in einem transatlantischen Resonanzraum.48 Als beispielsweise 1757 das britische Fort William Henry von einer kombinierten Gruppe von französischen Soldaten und Indianern eingenommen wurde und es in der Folge zu Übergriffen gegenüber den Gefangenen kam, wurde das Ereignis als „Massaker“ medialisiert.49 Generell berichteten die amerikanischen Gazetten wesentlich dramatischer über „captivity“, „cruelty“ und „barbarity“ als die Londoner Presse, für welche die Bedrohung weniger präsent war und die eher auf strukturelle Faktoren abhob. Die Gefährdung der Sicherheit der Kolonien wurde immer wieder mit einer überzogenen Darstellung der Übermacht französisch 4 6

Jennings, Empire of Fortune (wie Anm. 42), S. 52–70. Charles Morse Stotz, Outposts of the war for empire. The French and English in Western Pennsylvania. Their armies, their forts, their people, 1749–1764 (Historical Society of Western Pennsylvania), Pittsburgh/PA 2005, S. 8. 4 8 Vgl. Christ Kostov, Terror and fear. British and American perceptions of the French-Indian alliances during the Seven Years’ War, Baltimore/MD 2005. 49 Vgl. Ian K. Steele, Betrayals, Fort William Henry and the „Massacre“, New York/Oxford 1990. 47

310 Marian Füssel

indianischer Allianzen und ihrer Forts zu kommunizieren versucht. In einer 1757 in London erschienenen Denkschrift des Kartographen und Botanikers John ­Mitchell (1711–1768) werden die französischen Forts Duquesne und Niagara zu Herrschaftsfaktoren über gigantische Landmassen stilisiert: „an extent of country larger perhaps than all Europe, which they could secure only by means of two little forts!“50 Für Mitchell lag die Lösung des Sicherheitsproblems in einer natürlichen Barriere, die seiner Ansicht nach den St. Lawrence Strom von der Quelle bis zur Mündung und die Großen Seen umfassen sollte.51 Ab 1758 verzeichneten die Briten immer mehr Siege, die schließlich in der entscheidenden Einnahme von Quebec 1759 kulminierten.52 Der French and Indian War endete im September 1760 mit der Kapitulation Montreals zu Gunsten der Briten. Dass Sicherheit zu dieser Zeit eines der beherrschenden Themen der britischen Kolonien Nordamerikas war, kann auch an einem Pamphlet Benjamin Franklins aus dem Jahr 1760 verdeutlicht werden. Die Schrift war Teil einer öffentlichen Debatte, in der rund sechzig Schriften publiziert wurden, welche die britische Politik auf dem Weg zum Friedensschluss mit Frankreich diskutierten.53 Schon die Ausgangsbedingungen von Sicherheit differierten laut Franklin weitgehend zwischen Europa und den Kolonien.54 Die in Amerika wün­schenswerte Sicherheit bestehe aus drei Punkten: 1. A security of possession that the French shall not drive us out of the country 2. A security of our planters from the inroads of savages, and the murders committed by them 3. A security that the British nation shall not be obliged, on every new war, to repeat the immense expense occasioned by this, to defend its possessions in America.55

5 0

[John Mitchell], The Contest in America Between Great Britain and France, With Its Consequences and Importance; Giving an Account of the Views and Designs of the French, with the Interests of Great Britain, and the Situation of the British and French Colonies, in all parts of America: In which A proper Barrier between the two Nations in North America is pointed out, with a Method to Prosecute the War, so as to obtain that necessary security for our Colonies, London 1757, S. 113. 51 Ebd., S. 210–214. 5 2 Vgl. Matthew C. Ward, The Battle for Quebec 1759, Stroud 2005. 5 3 Benjamin Franklin, The Interest of Great Britain considered, with regard to her Colonies, and the Acquisitions of Canada and Guadeloupe, London 1760, wieder abgedruckt in: Memoirs of Benjamin Franklin, Philadelphia 1837, Bd. 2., S. 190–205; vgl. dazu Gerald Stourzh, Benjamin Franklin and American Foreign Policy, Chicago 1954, S. 33–82; William L. Grant, Canada versus Guadeloupe, an episode of the Seven Years War, in: AHR 17, 4 (1912), S. 735–743. 5 4 „Surely circumstances so widely different may reasonably authorize different demands of security in America, from such as are usual or necessary“, Franklin, Interest (wie Anm. 53), S. 191. 5 5 Ebd., S. 192.

Die Politik der Unsicherheit in den britischen Kolonien im Siebenjährigen Krieg 311

Das Ziel von Franklins Argumentation ist eine vollständige Eroberung Kanadas und eine endgültige Vertreibung der Franzosen. Anders könne keine dauerhafte Sicherheit gewährleistet werden. Trotz dieser eindeutigen politischen Agenda sind seine Ausführungen aufschlussreich für die Einschätzung der Sicherungseffektivität von Forts. Die Sicherheit der Siedler könne nicht durch Forts gewährleistet werden, unless they were connected by a wall like that of China, from one end of our settlements to the other. If the Indians, when at war, marched like the Europeans, with great armies, heavy cannon, baggage, and carriages; the passes through which alone such armies could penetrate our country, or receive their supplies, being secured, all might be sufficiently secure; but the case is widely different.56

Angesichts des kleinen Krieges der Indianer sei eine Linie von Forts weitgehend wirkungslos. Denn genauso wenig könnten sich ja die Einwohner des Londoner Stadtteils Hackney auf den Tower verlassen, um sich gegen Einbrecher zu schützen. Auch Franklin bewegte sich somit innerhalb der Semantik einer Politik der Unsicherheit. Dauerhafte Sicherheit ist ohne eine Ausschaltung der europäischen Rivalen nicht zu erlangen. Sicherheit vor der Gewalt der Indianer ist nur durch Gewalt gegen die Franzosen zu erreichen. Mit dem Frieden von Paris 1763 verlor Frankreich endgültig seine territorialen Ansprüche in Nordamerika, gewann dafür jedoch u. a. verschiedene Karibikinseln und seine indischen Faktoreien zurück, die sich fortan jedoch der britischen Vorherrschaft fügen mussten.57 Weit drastischer waren jedoch die Konsequenzen für die unterschiedlichen Indianerstämme.58 Die Zeit eines „middle ground“ fand mit dem sich unmittelbar anschließenden Pontiac‘s War endgültig ihr Ende, und der Expansion der Siedler nach Westen konnte nun immer weniger entgegen gesetzt werden.59

III.  Fazit: Forts, koloniale Gewaltgemeinschaften und die Politik der Unsicherheit

Der Prozess der europäischen Expansion wurde, wie am Beispiel des britischen Empire gezeigt, von einer Vielzahl von Gewaltgemeinschafen getragen: den Handelskompanien, den Siedlern, den Linientruppen der jeweiligen Nationen 5 6 Ebd., S. 193. 57

Colin G. Calloway, The scratch of a pen. 1763 and the transformation of North America, Oxford u. a. 2006; Barry M. Gough, British mercantile interests in the making of the Peace of Paris, 1763. Trade, war and empire (Studies in British history 30), Lewiston u. a. 1992. 5 8 Vgl. Hermann Wellenreuther, Der Vertrag zu Paris (1763) in der atlantischen Geschichte, in: NdsJbfür Landesgeschichte 17 (1999), S. 81–110. 59 Zum „middle ground“ vgl. White, The Middle Ground (wie Anm. 3); zum Pontiac-Krieg vgl. Richard Middleton, Pontiac’s War. Its causes, course and consequences, New York u. a. 2007.

312 Marian Füssel

und den indigenen Hilfstruppen. Sie alle übten Gewalt aus, um damit aus ihrer Sicht Gewalt zu verhindern und Sicherheit zu gewährleisten. Ein Rückgriff auf indigene Verbündete bzw. die Rekrutierung von Sepoys war angesichts großer Distanzen und der materiellen Schwierigkeit, größere Truppenkontingente auf die außereuropäischen Schauplätze zu befördern, schon logistisch ein Akt der Notwendigkeit. Die Bewaffnung indigener Akteure versursachte unter den Europäern jedoch ein nachhaltiges Misstrauen, befürchtete man doch stets, die Waffen könnten sich auch gegen einen selbst richten. Der Einsatz jener „­ Guardians of Empire“ war also von vornherein eine ambivalente Sicherheitsmaßnahme. Für die Dynamiken kolonialer Versicherheitlichung wurden vor allem die religiösen und ethnischen Abgrenzungen und Stigmatisierungen indigener Gruppen wirkmächtig, mit Hilfe derer die Europäer Bedrohungen nachhaltig medial inszenieren konnten. Seien es die „Wilden“ Nordamerikas, katholische Franzosen oder orientalische Despoten, Muslime und Hindus, stets konnten bestimmte Akteure als permanente Gefahr inszeniert werden, die das eigene Gewalthandeln rechtfertigte. Imperiale Sicherheitsdispositive stellen sich mithin als komplexe Verbünde aus Diskursen, Praktiken und Architekturen dar. Die ideologische Praxis expansiver Versicherheitlichung fand ihren materiellen Ausdruck in Gestalt befestigter Forts, die zu ambivalenten symbolischen wie instrumentellen Aktanten der Sicherheit wurden.60 So schützten sie europäische Kaufleute und Siedler nicht nur vor deren europäischen Rivalen, sondern auch vor der indigenen Bevölkerung. Deren Zustimmung wurde zum Teil erkauft, zum Teil erschlichen und zum Teil schlicht erzwungen. Legitimatorischer Motor dieser Entwicklung war eine Politik mit einem Klima der Unsicherheit; der permanenten Aufrechterhaltung einer Bedrohungssituation, die eine Aufrüstung nicht nur legitim, sondern dringend geboten erscheinen ließ. Aus den kolonialen „Türstehern“ und ihren Herren wurden damit allmählich souveräne Machthaber. Der Mechanismus, der die europäische Staatsbildung im Innern beschreibt, galt im besonderen Maß auch für die Expansion nach Außen: Un-Sicherheit wurde zu einer wichtigen Ressource politischer Legitimation und Machtausübung.61

6 0

Vgl. Bruno Latour, Technology is Society Made Durable, in: John Law (Hrsg.), A Sociology of Monsters. Essays on Power, Technology and Domination, New York 1991, S. 103–131. 61 Vgl. die klassische „Mafia-These“ von Charles Tilly, War-Making and State-Making as Organized Crime, in: Peter Evans/Dietrich Rueschmeyer/Theda Skopcol (Hrsg.), Bringing the State Back In, Cambridge 1985, S. 169–191; vgl. ferner auch Wolfgang Knöbl, Polizei und Herrschaft im Modernisierungsprozeß. Staatsbildung und innere Sicherheit in Preußen, England und Amerika 1700–1914, Frankfurt a. M. u. a. 1998; Alf Lüdtke/Michael Wildt (Hrsg.), Staats-Gewalt. Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 27), Göttingen 2008.

Bernd Klesmann

Sicherheit im Namen der Nation. Garde nationale und Commune, 1789–1794 I. Aspekte von ‚Sicherheit’ in der französischen Aufklärung

Die Ambivalenz im Verhältnis von Sicherheit und Gewalt hat in den Diskussionen der Aufklärungszeit und der folgenden Revolutionsdekade eine durchaus charakteristische Prägung angenommen.1 Ausgangpunkt war auch in Frankreich die Grundkonstellation eines Sicherheitsdilemmas, das sich auf verschiedene drängende Fragen der Zeit bezog. Der Begriff der Sicherheit erschien dabei in den französischen Debatten bald in gelehrter Relatinisierung als sécurité, bald – und häufiger – in der ursprünglicheren Form sûreté.2 Kritik an der bestehenden Herrschaftsordnung war im Pariser 18. Jahrhundert bekanntlich im Wortsinn salonfähig, und so verwundert es nicht, dass auch der Sicherheitsbegriff zu e­ inem schillernden Vehikel dieser Kritik werden konnte: Montesquieus „Geist der Gesetze“ sah in der Sicherheit gar die Hauptbedingung für die Existenz politischer Freiheit. Diese, so Montesquieu, bestehe geradezu in der Sicherheit, oder wenigstens in der Meinung, die man von seiner Sicherheit habe. Die Sicher­heit aber werde nirgends empfindlicher angegriffen als in öffentlichen oder privaten Anklagen, weshalb die Freiheit des Bürgers vor allem auf der Qualität der Strafgesetze beruhe.3 Folgerichtig stelle jeder Angriff auf die Sicherheit, also auf die politische Freiheit, ein mitunter todeswürdiges Verbrechen dar.4 Das kostbare Gut sollte entschlossen verteidigt werden können. Ein Hintergrund dieser Sichtweise ergab sich aus der traditionellen Konfliktposition der französischen Parlamente – Mon 1

Zur politischen Dimension des Begriffs in der Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862, hier S. 845–848. 2 Zu Wortgeschichte und Semantik des altfranzösischen „sëurté“, auch im politischen Verständnis, vgl. Adolf Tobler/Erhard Lommatzsch, Altfranzösisches Wörterbuch, Bd. 9, Wiesbaden 1973, S. 598–600. 3 De l’Esprit des Lois XII/2: „La liberté politique [im Gegensatz zur „liberté philosophique“] consiste dans la sûreté, ou du moins dans l’opinion que l’on a de sa sûreté. Cette sûreté n’est jamais plus attaquée que dans les accusations publiques ou privées. C’est donc de la bonté des lois criminelles que dépend principalement la liberté du citoyen.“ Charles Louis de Secondat de Montesquieu, De l’Esprit des Lois, hrsg. v. Laurent Versini, 2 Bde., Paris 1995, hier Bd. 1, S. 376. 4 De l’Esprit des Lois XII/4: „Les peines de ces derniers crimes [der vierten und schwersten Kategorie von Verbrechen] sont ce qu’on appelle des supplices. C’est une espèce de talion, qui fait que la société refuse la sûreté à un citoyen qui en a privé, ou qui a voulu en priver un autre.“ Montesquieu, De l’Esprit des Lois (wie Anm. 3), S. 381.

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tesquieu selbst war bekanntlich zeitweise Parlamentsrat in Bordeaux – gegenüber den Herrschafts- und Gestaltungsansprüchen der Krone, die nun zunehmend als Auswüchse eines monarchischen Despotismus in Misskredit gerieten.5 Eine Verlagerung und Verschärfung des Sicherheitsdiskurses ergab sich durch die Reformimpulse der Physiokraten und den Streit um einen gangbaren Weg zu nationaler Wohlfahrt. Während die Hauptströmung der Reformer eine Liberalisierung des Handels besonders im Agrarbereich für ratsam hielt und auch zeitweise durchsetzen konnte, regte sich bereits ab den 1760er Jahren Kritik im Namen eines sozialen Gerechtigkeitspostulats, vertreten unter anderem durch den neapolitanischen Ökonom Galiani. Diderot, der wiederholt zu dessen Unterstützung die Feder ergriff, argumentierte in Begriffen einer Sicherheit individuellen Eigentums im Hinblick auf Preisschwankungen im Agrarsektor: Die wichtigste Existenzgrundlage einer Gesellschaft, so Diderot, sei nicht der Reichtum, sondern die Sicherheit, hier durchaus schon zu verstehen als kollektive Versorgungssicherheit und Schutz vor den Folgen von Hortung und Teuerung.6 Umgekehrt machten sich besonders die Parlamente, institutionelle Hauptwidersacher der Krone, zu öffentlichen Beschützern der Sicherheit des Eigentums auch der wohlhabenderen Kreise. Exilierung oder Gefangensetzung einzelner Mitglieder der Parlamente befeuerten schließlich eine weitere Debatte, nämlich diejenige um die Sicherheit der Person und ihren Schutz vor willkürlicher Verhaftung. So war die Forderung der Abgeordneten der Generalstände, etwa Mirabeaus, nach einer Abschaffung der berüchtigten Lettres de cachet keine revolutionäre Neuigkeit, sondern besaß ihre Grundlage im Eintreten der Justizbehörden für die Sicherheit der Person, insbesondere auch der Person des Parlamentsangehörigen.7 Die inhaltliche Weite des Begriffs der „Sicherheit“, seine Nähe zu Konzepten des politischen und gesellschaftlichen Friedens, an dessen Stelle er in neuester 5

Zu neueren Ansätzen in der Erforschung der Parlamente des Ancien Régime vgl. Alain J. Lemaître (Hrsg.), Le monde parlementaire au XVIIIe siècle. L’invention d’un discours politique, Rennes 2010. 6 „La première condition d’une société n’est pas d’être riche, mais c’est d’être en sûreté.[…] Il faut que la société se maintienne d’abord, avant que de s’ordonner pour le mieux.“ Aus der „Apologie de l’Abbé Galiani“ [unpubliziert, verfasst 1770], Diderots heftiger Entgegnung auf Morellets Kritik an Galianis: Ferdinando Galiani, Dialogues sur le commerce des blés, in: Denis Diderot, Œuvres, Bd. 3, Politique, hrsg. v. Laurent Versini, Paris 1995, S. 123–160, hier S. 134. Hintergrund waren Meinungsverschiedenheiten über die „Peuplierung“ der Kolonien; zu den vorrevolutionären Debatten um Protektionismus und Freihandel vgl. auch Jean-Paul Desprat, Mirabeau. L’excès et le retrait, Paris 2008, S. 44. 7 Aus einer Remonstranz des Pariser Parlaments von 1759: „Vous avez imprimé au magistrat un caractère qui le distingue de tous vos sujets; vous lui avez confié la manutention de votre autorité, la sûreté de la personne et de la vie de vos sujets soumis à sa juridiction […]“, zit. nach Henri E. Sée, L’évolution de la pensée politique en France au XVIIIe siècle, Paris 1925, S. 323.

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Zeit geradezu getreten ist, sprechen für seine historische Bedeutung in Europa und der Welt.8 Ohne eine lineare Kontinuität von den verschiedenen Postulaten der Aufklärungsliteratur zu den ersten Konflikten der Revolutionszeit zu konstruieren, mag es doch hilfreich sein, sich die verschiedenen Aspekte des Sicherheitsbegriffs im französischen 18. Jahrhundert vor Augen zu führen, um die unterschiedlichen Legitimitätsansprüche der Akteure ab 1789 genauer zu verstehen. So kam es parallel zur bekannten Verfassungskrise um Vereinigung der Ständekammern und Ballhausschwur im Frühsommer 1789 zu einer Art Definitionskonkurrenz um die Sicherheit der Nation. Während man sich im Umfeld des Königs – nach allem was die Quellen vermuten lassen – darauf vorbereitete, weiteren Eigenmächtigkeiten der Abgeordneten mit Gewalt entgegenzutreten und die öffentliche Sicherheit gegen möglichen Aufruhr zu verteidigen, sah man sich in Paris zunehmend veranlasst, die persönliche Sicherheit der Abgeordneten notfalls gewaltsam zu garantieren. Eine Art staatstheoretisches Echo dieser gegenläufigen Ansprüche hören wir in den Debatten der Assemblée nationale, auf die im Folgenden hauptsächlich Bezug genommen werden soll: In der Nachmittagssitzung des 14. Juli, noch bevor die Erstürmung der Bastille in Versailles gemeldet wurde, benannte Abbé Grégoire, der bekannte Philanthrop und spätere konstitutionelle Bischof von Blois, dessen Gebeine zum Bicentenaire 1989 ins Pariser Pantheon überführt werden sollten, als Ursprung der aktuellen Unruhen die Sorge um die Immunität der Abgeordneten. Dem Hof nahestehende Kreise hätten die Nationalversammlung bedroht, aber, so Grégoire, das schaudernde Paris habe für die persönliche Sicherheit seiner Entsandten gesorgt.9 Zwei Tage später, als die Frage nach der Verantwortung für das Blutvergießen des 14. Juli erörtert wurde, hieß es im Bericht einer Deputation der Assemblée, Schuld treffe zunächst die Ratgeber des Königs, die durch die Zusammenziehung der Truppen das Volk in Sorge versetzt hätten über die persönliche Sicherheit der Abgeordneten.10 So wird ein allgemeines Problem sichtbar, das aus der fraglichen und umstrittenen Priorisierung verschiedener Aspekte von Sicherheit ganz im 8

Zur Nähe zum Friedensbegriff vgl. Christoph Kampmann, Sicherheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11, Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 1143–1150, hier Sp. 1143. 9 „[…] Paris frémissant pensait à garantir la sûreté personnelle de ses mandataires.“ Archives Parlementaires: de 1787 à 1860. Recueil complet des débats législatifs et politiques des Chambres Françaises, Reihe I, Bd. 8, S. 232. Zum Werk des Abbé Grégoire vgl. jetzt auch Christine Tauber, Bilderstürme der Französischen Revolution. Die Vandalismus-Berichte des Abbé Grégoire, in: Quellen zur Kunst 30 (2009), S. x. Grégoire war als Mitglied des Comité de ­sûreté générale nominiert, lehnte die Tätigkeit jedoch ab, vgl. James Guillaume, Le personnel du comité de sûreté générale, in: ders., Études révolutionnaires, Bd. 2, Paris 1909, S. 231–347, hier S. 267–268 u. S. 334. 10 „[…] perfides conseillers […] d’alarmer ainsi le peuple sur la sûreté personnelle de ses représentants.“ Archives Parlementaires (wie Anm. 9), S. 239. Mounier verlas den Bericht.

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Sinne einer Normenkonkurrenz erwuchs, wobei mindestens drei Dimensionen zu unterscheiden sind: Sicherheit der Person, Sicherheit der Grundversorgung, Sicherheit des Eigentums.11 Wie oben bereits angedeutet, knüpften Diskussionen um die Sicherheit der Person an eine längere Vorgeschichte an, die aus der Parlamentsopposition des 18. Jahrhunderts relativ bruchlos in die Anfangsphase der Revolution überführt werden konnte. Das gegen Ende des Jahrhunderts beinahe traditionelle Postulat der Sicherheit der Privatperson im Sinne des englischen Habeas Corpus-Konzepts wurde dabei im Hinblick auf die Person des Abgeordneten in gewisser Weise überhöht: Nicht allein der Schutz jedes einzelnen Bürgers vor willkürlicher Verhaftung stand im Zentrum des Interesses, sondern ganz besonders der Schutz des Deputierten, in dessen Händen Recht und Gesetz als Inbegriff der Sicherheit aller Bürger lagen. Der auch in neueren Forschungen zunehmend erschlossene Reichtum der parlamentarischen Publizistik12, die immer wieder gegen Verhaftungen und Exilierungen ihrer Protagonisten ankämpfte, konnte so zu einer Hauptquelle der revolutionären Emphase werden. Besonders seit der erneuten Liberalisierung des Getreidehandels durch Turgot und den darauffolgenden Unruhen in der sogenannten guerre des farines kam eine weitere Komponente der Sicherheitsproblematik zum Vorschein, die im späteren Kontext der Revolutionskriege wiederum große Bedeutung entfalten sollte, als es zu Versuchen der direkten Kontrolle über Lohn- und Preisentwicklung in Paris kam. Die Sicherheit der Versorgung mit Nahrungsmitteln, ein Hauptposten des familiären Budgets breiter Bevölkerungsschichten, avancierte zu einem zentralen Faktor der öffentlichen Diskussion. Die Befürworter der Liberalisierung des Agrarsektors sahen im Freihandel geradezu eine Garantie für die sûreté des subsistances, in der Furcht vor Versorgungsengpässen hingegen häufig reine Phantombedenken – mit allerdings realen Auswirkungen.13 In enger 11

Zum Problem der Normenkonkurrenz aus aktueller, rechtsphilosophischer Perspektive: Christoph Spielmann, Konkurrenz von Grundrechtsnormen, in: Studien und Materialien zur Verfassungsgerichtsbarkeit 104 (2008), S. 23–25, mit der allgemeinen Unterscheidung von Konkurrenz, Kollision oder Parallelität von Grundrechten; das Konzept wird in anderen Kontexten auch für die Erforschung der Frühen Neuzeit fruchtbar gemacht, vgl. Hillard von Thiessen, Korrupte Gesandte? Konkurrierende Normen in der Diplomatie der Frühen Neuzeit, in: Niels Grüne/Simona Slanička (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation, Göttingen 2010, S. 205–220. 12 Vgl. die neuere Einordnung verschiedener Begrifflichkeiten der Parlamentsrhetorik durch Peter R. Campbell, La rhétorique patriotique et le monde parlementaire, in: Alain J. ­Lemaître, Le monde parlementaire au XVIIIe siècle (wie Anm. 5), S. 193–220. 13 Vgl. etwa Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcets, Vie de M. Turgot, London 1786, S. 74: „M. Turgot sentoit combien la liberté absolue de l’exportation ajouteroit à la sûreté de la subsistance, en donnant plus d’activité au Commerce, plus d’étendue aux approvisionnements; en appellant les secours de l’étranger dans les années malheureuses: mais il

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Verbindung mit dem Problem der Versorgungssicherheit, zugleich jedoch in unterschiedlicher politischer Ausrichtung, stand die Forderung nach der Sicherheit des Eigentums, die von den Unruhen im Sommer 1789 und der folgenden Abschaffung der Feudalrechte über die Nationalisierung des Kirchenbesitzes bis hin zum Problem der Entschädigung der zurückgekehrten Emigranten in den 1820er Jahren reichen sollte.14 Jacques Necker, ein Hauptgegner Turgots in der erwähnten Auseinandersetzung von 1775, wurde durch seine überragende Popularität in der Anfangsphase der Revolution beinahe zu einem Garanten der kollektiven Sicherheit.15 Doch blieb diese Sicherheit prekär, selbst in Phasen jenseits und zwischen den großen journées révolutionnaires, was hier nur sehr kursorisch an zwei Beispielen illustriert werden soll. Bereits im April 1789 war es in den bekannten Réveillon-Unruhen nach umstrittenen Lohnkürzungen zu Ausschreitungen gegen die Manufaktur des gleichnamigen Papierfabrikanten im populären Faubourg Saint-Antoine gekommen. Das Eingreifen der Gardes françaises, direkte Vorläufer der Gardes nationales, führte zur bewaffneten Niederschlagung der Unruhen mit mehreren Hundert Toten.16 Auch nach den Unruhen des Sommers 1789 rissen die Debatten um die Sicherheit keineswegs ab. Als im November 1790 nach dem spektakulären Duell der Abgeordneten Charles de Castries und Charles de Lameth, in dessen Verlauf der letztere, Bruder des bekannten Wortführers der Jakobiner, verletzt worden war, das Stadtpalais der Castries von aufgebrachten Massen geplündert wurde, kehrte das Problem der Sicherheit des Eigentums auf die Tagesordnung der Assemblée zurück: ­Abbé ­Maury, der spätere Erzbischof von Paris, befürwortete eine rasche Verabschiedung von Strafandrohungen zur Unterstützung der Garde nationale, die angesichts der Ausschreitungen zum Zuschauen verdammt sei ohne die sûreté der Bürger gewährleisten zu können.17 Diese und viele andere Begebenheiten zeugten vom Konfliktpotenzial konkurrierender Sicherheitsbegriffe und den strukturellen Schwierigkeiten einer konkreten Umsetzung.

savoit en même temps que cette liberté causeroit des inquiétudes qui, toutes chimériques qu’elles seroient, produiroient un mal réel […].“ 14 Zur politischen Explosivität dieses von Januar bis April 1825 debattierten und verabschiedeten Entschädigungsgesetzes, dessen Hauptproblem im Widerstand der Ultras gegen eine implizite Anerkennung der revolu­tionären Enteignungen bestand, vgl. Emmanuel de Waresquiel/Benoît Yvert, Histoire de la Restauration. 1814–1830, 2. Aufl. Paris 2002, S. 375–377. e 15 Léonard Burnand, Les pamphlets contre Necker. Médias et imaginaire politique au XVIII siècle (L’Europe des Lumières 2), Paris 2009, S. 223–235. 16 Michel Biard/Pascal Dupuy, La Révolution française. Dynamiques, influences, débats, 1787–1804, Paris 2004, S. 53f.; Jean Favier, Paris: deux mille ans d’histoire, Paris 1997, S. 838f. 17 Archives Parlementaires (wie Anm. 9), Reihe I, Bd. 20, S. 414 [13. November 1790].

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II.  Garde nationale und Commune als komplementäre Garanten öffentlicher Sicherheit

Die vielfach umstrittenen Aspekte eines Sicherheitsbegriffs, dessen Bedeutungsvielfalt hier nur skizziert werden kann, bildeten Hintergrund und Voraussetzung für die völlige Umorganisation der öffentlichen Polizeigewalt im Sommer 1789.18 In ganz Frankreich war es zu einer kurzfristigen und mehr oder weniger spontanen Verschränkung von kommunaler Selbstverwaltung und -verteidigung gekommen, die besonders vor dem Hintergrund der Unruhen im Juli und August auf höchst prekärer Grundlage geschah. Die Gewalttätigkeiten des Hochsommers 1789, die allgemein unter dem geläufigen Begriff der Grande Peur zusammengefasst werden, verlangten nach raschen und umfassenden Maßnahmen. Es galt gewissermaßen, Sicherheit gegen Bedrohungen von oben und unten gleichermaßen herzustellen.19 Als grundlegendes Problem ergab sich der Strukturkonflikt zwischen dem Gewaltmonopol des Staates und der lokalen Autonomie unterschiedlicher Gruppen. Zuerst, im Juli 1789, war in Paris überwiegend die Rede von der Schaffung einer Garde bourgeoise (oder auch milice bourgeoise, milice parisienne). Die frühneuzeitliche Tradition der Bürgermilizen mag hier ebenso unmittelbar in entsprechende Überlegungen eingeflossen sein wie das neuartige amerikanische Vorbild, wo die Militia einen wesentlichen Anteil an der Erringung der Unabhängigkeit gehabt hatte. Ein komplexes und spannungsreiches Verhältnis ergab sich von Anfang an zur regulären Armee und ihren Kommandostrukturen, wobei der bald als unumstrittener Chef der Nationalgarde agierende La Fayette sich um Ausgleich bemühen konnte. Der Nationsbegriff trat erst in einer zweiten Phase hinzu, womöglich erneuert durch Initiativen aus den Provinzen. Kontrovers wurde die Maßnahme aufgenommen, zunächst nur sogenannte Aktivbürger mit einem Mindestmaß an Steuerleistung in die Garde nationale aufzunehmen, eine Einschränkung, die später unter dem politischen Druck der demokratisch orientierten Jakobiner aufgehoben werden musste, so dass eine soziale Ausweitung des Dienstes stattfand, der für das weitere Schicksal der Nationalgarde wie auch ihren Ort in der gesellschaftlichen Erinnerungskultur entscheidend wurde.20 18

Zum vorrevolutionären Modernisierungsprozess der Polizei von Paris und ihrem Organisator Lenoir vgl. jetzt Vincent Milliot, Un policier des Lumières, suivi de Mémoires de J.-C.-P. ­Lenoir (1732–1807), écrits dans les pays étrangers dans les années 1790 et suivantes, Seyssel 2011. 19 Den lange vor Georges Lefebvres berühmter Studie etablierten Begriff und seinen Zusammenhang mit den parlamentarischen Parteibildungen in Versailles untersucht Timothy Tackett, La Grande Peur et le complot aristocratique sous la Révolution française, in: AHRF 335 (2004), S. 1–17. 2 0 Grundlegend: Roger Dupuy, La Garde nationale, 1789–1872 (Collection Folio/ Histoire 181), Paris 2010, hier S. 97–198.

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Parallel zur Nationalgarde entwickelte sich in enger Wechselwirkung die Auto­ rität der Commune der Stadt Paris, deren Sektionsversammlungen bald die einflussreichsten Träger der Polizeigewalt werden sollten. Die Commune entzieht sich vor allem in ihrer Gründungsphase durch einen gewissen Mangel an gesicherten Quellen der historischen Analyse. Roger Dupuy, kundiger „Biograph“ der 83-jährigen Geschichte der französischen Nationalgarde, sieht in den spontanen Zusammenkünften und Organisationsversuchen der Pariser Stadtbevölkerung gar eine neuartige Form der ecclesia am Werk.21 Charakteristisch scheint insgesamt der Versuch einer Konsolidierung von Sicherheit durch die Intensivierung sozialer Kontrolle. Zu berücksichtigen ist die politisch-administrative Organisation der Stadt Paris, die einem raschen Wandel unterlag: Für die Wahl der Abgeordneten 1789 wurden 60 Distrikte geschaffen, die in bis dahin maximaler Annäherung an demokratische Prinzipien Vertreter für die Versammlung designierten.22 Am 21. Mai 1790 beschloss die Constituante im Zuge der territorialen Neuordnung Frankreichs dann eine Aufteilung des Stadtgebiets in 48 Sektionen.23 Als erster gewählter Bürgermeister amtierte der berühmte Gelehrte Jean-Sylvain B ­ ailly, der sich zwei Tage nach dem Bastillesturm in der Assemblée zeigte und bejubelt wurde.24 Das Parlament von Paris hingegen, bisheriger Garant der Rechtssicherheit nach traditionellem Verständnis, gab am gleichen Tag durch ein Schreiben seines Premier Président, Bochart de Saron, der Nationalversammlung bekannt, dass es sich an die Seite des Königs zurückzuziehen gedenke, Vorzeichen der baldigen Entmachtung durch die Nationalversammlung.25 Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen um eine verbindliche Orga­ nisationsstruktur der Nationalgarde. Eine Deputation der Munizipalität von Bordeaux regte im Januar 1790 an, einen Eid auf die Beschlüsse der Nationalversammlung von allen Mitarbeitern der Behörden und der Armee zu fordern, die ihr Amt weiterhin ausüben oder mit einem neuen betraut werden wollten. In einem Reigen von Ermutigungsadressen aus ganz Frankreich, die in der Sitzung vom 5. Januar verlesen wurden, begründeten die Repräsentanten der 200 Wahlmänner aus Bordeaux, die für die Petition verantwortlich zeichneten, ihre Forderung mit einer geradezu universalen Sicherheitsargumentation: Die Amtsinhaber, gerade auch die privilegierten unter ihnen, seien diesen Eid entweder der öffentlichen

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Dupuy, La Garde nationale (wie Anm. 20), S. 45. Vom allgemeinen Wahlrecht blieb man gleichwohl weit entfernt, vgl. Biard/Dupuy, La Révolution française (wie Anm. 16), S. 53f. 2 3 Archives Parlementaires (wie Anm. 9), Reihe I, Bd. 15, S. 650 [21. Mai 1790]. 24 Archives Parlementaires (wie Anm. 9), S. 238 [16. Juli 1789]. 2 5 Ebd., S. 244, mit der Reaktion des Duc de Clermont-Tonnerre, Sohn des Gouverneurs des Dauphiné.

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Sicherheit oder aber ihrer eigenen ‚sûreté personnelle‘ schuldig.26 Erst nach verbindlichem Beschluss derartiger Loyalitätsbekundungen, so die Initiatoren des Vorstoßes, werde es möglich sein, Vertrauen in die Gesetzgebung, die Arbeit der Amtsträger und Inhaber der öffentlichen Gewalt zu fassen und Opfer für die Umgestaltung des Staates in einem Geist der ‚confiance‘, ‚satisfaction‘ und ‚sécurité‘ zu bringen.27 Am 7. Januar, als die Neuformierung der Munizipalitäten gemäß einer Verlautbarung Ludwigs XVI. in der Nationalversammlung zur Debatte stand, brachte das comité de constitution erneut die Forderung nach einem neuen Eid der Nationalgarde ins Gespräch. In der sich entwickelnden Diskussion ging es jenseits einzelner Worte um die konkrete Ausbuchstabierung des revolutionären Staatsverständnisses und seine kollektiv-rituelle Verankerung. Antoine Barnave, ehemaliger Parlamentsjurist und einflussreicher Wortführer der entstehenden Linken innerhalb der Assemblée, forderte die Übergehung des Königs in der Eidformel und wies auf die hinreichende Erwähnung der constitution hin. Die kurze Debatte, in deren Verlauf unter anderem Mirabeau und Robespierre das Wort ergriffen, spielte mögliche Varianten zwischen Verfassungstreue, Verfassungsverteidigung und dem Bezug auf Verfassung, Gesetz und König durch. Mit dem Hinweis auf die Risiken einer frei nach ihrem Verfassungsverständnis operierenden Nationalgarde, für die sich der damals noch wenig bekannte Robespierre aussprach, entschied man sich für die letztgenannte Option. Der Eid der Nationalgardisten war in die Hände des Bürgermeisters oder Bezirksvorstehers zu leisten.28 Unter der Ägide des Bürgermeisters Bailly stand indes der Versuch im Vordergrund, im Einvernehmen mit dem König, der aus Baillys Händen am 17. Juli 1789 symbolisch die dreifarbige Cocarde entgegennahm, künftigen Aufruhr zu verhindern. Zugleich wurde rasch klar, dass die besondere Dynamik der Stadtbevölkerung, die sich auch nach dem Bastillesturm unter anderem in Aufmärschen und Massenpetitionen (Oktobertage, Forderung nach Kabinettsumbildung im Herbst 1790) schon lange vor dem Sturz der Monarchie deutlich zeigte, als wichtiger Faktor im politischen Machtkampf etablieren würde. An die Seite des bereits 1789 2 6

Text der Petition: Archives Parlementaires (wie Anm. 9), Reihe I, Bd. 11, S. 105–107, hier S. 106 [5. Januar 1790]: „Qu’un serment de soumission à tous les décrets de l’Assemblée nationale soit exigé de tous les citoyens jusqu’ici privilégiés, qui voudront être ou rester chargés de fonctions dans les emplois publics, ou même dans les troupes patriotiques. Qu’on invite tous ces anciens privilégiés que l’on n’aura pas appelés au serment, à le prêter d’eux-mêmes. Les uns le doivent à la sûreté publique, les autres à leur sûreté personnelle.“ 27 Ebd., S. 106: „Alors seulement, on pourra se fier à la législation, à ses sanctions, à tous les dépositaires du pouvoir, quel qu’il soit. Alors tous les sacrifices que l’État demande pour se libérer lui-même, seront offerts et consommés avec une plénitude de confiance, de satisfaction et de sécurité.“ 28 Archives Parlementaires (wie Anm. 9), S. 113f. [7. Januar 1790].

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in Versailles begründeten, mittlerweile in Paris tagenden Jakobinerclubs trat im April 1790 in Gestalt der Cordeliers dessen „basisdemokratische[s] Gegenmodell“.29 Zusätzliche Spannungen ergaben sich zeitweise aus dem Ineinandergreifen der 48 Sektionen und der für die gesamte Stadt zuständigen Zentralbehörden (municipalité, maire und procureur de la commune).30 Jérôme Pétion, Jurist aus Chartres und Deputierter des dortigen Tiers für die Generalstände, wurde am 18. November 1791 zum Bürgermeister von Paris gewählt und amtierte nach kurzer Suspendierung infolge des 20. Juni bis zum Jahresende 1792.31 Als prominenter Kritiker des Zensuswahlrechts (Debatte um das sogenannte Marc d’or) und zeitweiliger Präsident des Jakobinerclubs verkörpert er in gewisser Weise den Übergang von der Stadtverwaltung des Ancien Régime zur Commune insurrectionnelle (im Gegensatz zur bisherigen Commune constitutionnelle) des Sommers 1792. Als phasenweise scharfer Kritiker der Montagnards, später selbst Opfer der Terreur, gelang es ihm allerdings nicht mehr, die Voraussetzungen für eine dauerhafte Institutionalisierung urbaner Sicherheit zu schaffen.

III. Sicherheit durch Schrecken: Der Weg in die Terreur

Der Begriff der Sicherheit, dessen vielfältige Facetten gerade im Bereich der Revolutionsgeschichte eingehenderer Forschungen bedürften, bot im weiteren Verlauf der Revolution die argumentative Grundlage für die Verschärfung sozialer Kontrollmaßnahmen und die Ausübung politischer Gewalt. Ein zwangsläufig lückenhafter Überblick mag einige wichtige Etappen dieses Weges vor Augen führen: Die scheinbare Harmonie der Kooperation von Königtum und Nationalversammlung blieb stets überschattet von Anzeichen politischer Spaltung: Die Emigration des Adels kam vor dem Hintergrund anhaltender Unruhen nicht zum Erliegen, die Auslandskorrespondenz des Hofes bewegte sich in schwer zu kontrollierenden Bahnen und wurde bald zum Gegenstand permanenter Verdächtigung. Angesichts dieser Herausforderungen beschloss man im Frühjahr 1790 die Durchführung des berühmten Föderationsfestes am Jahrestag des Bastillesturms, um die öffentliche Sicherheit durch eine weithin wirksame Demons­tration der 2 9 Rolf Reichardt, Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur,

Frankfurt a. M. 1998, S. 131f. Zur Geschichte der revolutionären Commune allgemein vgl. Emile Ducoudray, Commune de Paris/Département de Paris, in: Albert Soboul, Dictionnaire historique de la Révolution française, Paris 1989, S. 265–271. Die Rolle der Commune als einer zunehmend „eigenständigen Hauptkraft der Revolution“ betont Reichardt, Das Blut der Freiheit (wie Anm. 29), S. 138. 3 1 Edna H. Lemay, Dictionnaire des Constituants, Bd. 2, Paris 1991, S. 746–749; Marcel D ­ origny, Pétion, in: Albert Soboul, Dictionnaire historique (wie Anm. 30), S. 838–840.

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politischen Einheit zu konsolidieren. Der vielbeschriebene und minutiös geregelte, allenfalls von hartnäckigen Regengüssen getrübte Verlauf des Festes geriet insbesondere zu einem beachtlichen Machtbe­weis der Nationalgarde.32 Ihre Uniform wurde geradezu zu einem Ausweis des neuen Patriotismus und erfreute sich bis in die Reihen des Hofadels hinein spektakulärer Beliebtheit. Graf d’Estaing, einer der Protagonisten des amerikanischen Krieges, defilierte zum Föderationsfest nicht in der traditionellen Uniform eines Vice-Amiral de France, sondern in der eines Soldaten der Nationalgarde. Gegenüber dem König soll er diese Haltung mit seinem Wunsch nach ostentativer Einheit des Volkes begründet haben.33 Die revolutionäre Einheit jedoch zeigte bekanntlich bald Risse. Nach dem fehlgeschlagenen Fluchtversuch der Königsfamilie geriet auch die Nationalgarde endgültig zwischen die Fronten der politischen Lagerbildung und musste sich auf dem Marsfeld unter dem Kommando La Fayettes am 17. Juli 1791 an der gewaltsamen Niederschlagung einer teilweise unkontrolliert agierenden Petition gegen die Prärogativen des Königtums beteiligen. Erstmals ergab sich in eklatanter Form das politische Paradox, dass die Nationalgarde, Inbegriff des populären Patriotismus, gegen größere Gruppen der Pariser Bevölkerung tätig werden musste: Die Härte des Gesetzes kehrte sich in gewisser Hinsicht „gegen das eigene Volk“ als verfassungsmäßigen Gesetzgeber, wie später im Prozess gegen den seinerzeit amtierenden Bailly, der im November 1793 guillotiniert werden sollte, befunden wurde.34 Emigration und Entwicklung der europäischen Bündnispolitik warfen zugleich das Problem der äußeren Sicherheit auf, das sich in tragischer Weise mit dem Bemühen um Ordnung im Innern verknüpfte, so dass beide Aspekte, traditionelle Schwerpunkte aller politischen Diskussion, in der parlamentarischen Debatte und der publizistischen Agitation schwer unterscheidbar wurden.35 Einer der schwerwiegendsten Beschlüsse der Législative war vor diesem Hintergrund die nach monatelanger Debatte erfolgte Kriegserklärung an das Oberhaupt des Reiches in Wien, den nach dem Tod seines Vaters noch nicht zum 3 2

Kontext und Reichweite der französischen Föderationsbewegung erläutert Mona Ozouf, Fédération, in: dies./François Furet (Hrsg.), Dictionnaire critique de la Révolution française. Événements, 2. Aufl. Paris 2007, S. 177–191. Zu erwarten ist aktuell der Tagungsband eines 2010 unter der Leitung von Emmanuel Le Roy Ladurie und Georges-Henri Soutou veranstalteten Kolloquiums. 3 3 Jean-Marc Van Hille, Charles-Henri d’Estaing: Amiral de France et franc-maçon, 1729–1794, Paris 1994, hier S. 133f. Aus der reichen Literatur zur Ikonographie des Föderationsfestes sei hier nur genannt: Philippe de Carbonnières/Daniel Jouteux (Hrsg.), Les Gravures historiques de Janinet. Collections du musée Carnavalet, Paris 2011, hier S. 174–187. 3 4 Gérard Walter (Hrsg.), Actes du tribunal révolutionnaire, 2. Aufl. Paris 1986, hier S. 379–402. 3 5 Zur Presse der Revolutionszeit vgl. die neue Synthese von Jeremy Popkin, La presse de la Révolution. Journaux et journalistes 1789–1799, Paris 2011.

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Kaiser gekrönten Franz (II.) als König von Böhmen und Ungarn. Die komplexe Gemengelage der unterschiedlichen Motivationen zum Kriegseintritt innerhalb der politischen Eliten Frankreichs fand in Gestalt der Sicherheitsthematik einen gemeinsamen Nenner: Die Beantragung der förmlichen Kriegserklärung durch Ludwig XVI. im Parlament, vorgetragen von Dumouriez in seiner Funktion als Außenminister, nannte die Verteidigung der staatlichen Sicherheit an entscheidender Stelle der Argumentation. Der König als Garant der Verfassung sei verpflichtet, Würde und Sicherheit der französischen Nation gegenüber den illegitimen Einmischungsversuchen der europäischen Monarchen zu verteidigen.36 Auch die Gegenseite hatte freilich seit der Deklaration von Pillnitz in ähnlichen Begriffen argumentiert, wie eine neuere Studie von Thomas E. ­­Kaiser erneut belegt, die unter anderem ein diplomatisches Schreiben des alten Kaunitz dokumentiert, der zum Jahresende 1791 mit Nachdruck eine mögliche Koalition der Monarchien ankündigte, „pour le maintien de la tranquillitépublique et pour la sûreté et l’honneur des couronnes.“37 Im allgemeinen Enthusiasmus der ersten Kriegsmonate wurde daraufhin das Projekt einer Versammlung von Fédérés, Nationalgardisten aus allen Départements Frankreichs, vor den Toren von Paris betrieben. Als Termin wählte man erneut den Jahrestag des Bastillesturms und des Föderationsfestes. Im Vorfeld des Ereignisses kam es in der Législative zu heftigen Diskussionen, die auf einen Machtkampf zwischen Gruppierungen der Jakobiner und Parteigängern des inzwischen als Kommandanten der Nationalgarde zurückgetretenen La Fayette verweisen. Letztere versuchten, über eine direkte Beteiligung Pariser Kontingente am Camp des fédérés eine mögliche Bedrohung durch vermeintlich radikalisierte Soldaten aus den Provinzen abzuwenden und ein Gegengewicht zur Macht der Assemblée zu schaffen, wo eine entsprechende Petition vorgelegt wurde. Diese stieß jedoch vor allem auf den Widerstand der jakobinischen Abgeordneten. ­Thuriot, der künftige Conventionnel, sprach von einem Attentat auf die „­ liberté“ und „sûreté“ der Assemblée.38 Der kommende Wortführer der Gironde, Vergniaud, 3 6

Archives Parlementaires (wie Anm. 9), Reihe I, Bd. 42, S. 199 [20. April 1792]: „Considérant, enfin, que le vœu prononcé de la nation française est de ne souffrir aucun outrage ni aucune altération dans la Constitution qu’elle s’est donnée; que le roi, par le serment qu’il a fait de maintenir cette Constitution, est devenu dépositaire de la dignité et de la sûreté de la nation française; Je conclus à ce que […] Sa Majesté, accompagnée de ses ministres, se rende à l’Assemblée nationale pour lui proposer la guerre contre l’Autriche.“ 37 Thomas E. Kaiser, La fin du renversement des alliances: La France, l’Autriche et la déclaration de guerre du 20 avril 1792, in: AHRF 351 (2008), S. 77–98, hier S. 88. 3 8 Die Äußerungen Thuriots in: Archives Parlementaires (wie Anm. 9), Reihe I, Bd. 45, S. 24 [9. Juni 1792]: „Je suis le premier à louer la garde nationale de Paris, et je ne crains pas que l’on vienne à bout d’altérer son patriotisme: mais je dis que le plan qui a été formé [Beteiligung der Nationalgarde am Camp des fédérés] est un crime contre la sûreté et la liberté de l’Assemblée.“

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verlieh ähnlichen Bedenken Ausdruck und sprach sich im Interesse der „sûreté publique“ sogar für eine Verfolgung der Urheber der umstrittenen Petition aus.39 Es zeigte sich, wie das aus den Tagen des Bastillesturms bekannte Wort von der Sicherheit der Abgeordneten erneut zum Faktor der Konflikteskalation wurde. Die bekannten Vorgänge vom 20. Juni und 10. August 1792 müssen also auch vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung zwischen Commune, National­ garde und Assemblée um ein legitimes Konzept von Sicherheit betrachtet werden. Der Sturm auf die Tuilerien schließlich führte zu einer faktischen Spaltung der „Gewaltgemeinschaft“ Nationalgarde, deren Mitglieder sich den Schätzungen ­Roger Dupuys zufolge nur zu etwa einem Drittel beteiligten, während unter den Verteidigern des Schlosses, ein weitgehend vernachlässigter Zusammenhang, nicht nur die bekannten Soldaten der Schweizergarde, sondern mehrheitlich ebenfalls Nationalgardisten agierten.40 Sogar der knappe Bericht des Moniteur über den entscheidenden Tag musste einräumen, dass sich in großer Zahl „grenadiers nationaux“ innerhalb des Schlosses postiert hatten.41 Auch hier mag es von Interesse sein, die unmittelbar vorhergehende Phase politischer Agitation in Rechnung zu stellen und sich etwa den Wortlaut des berüchtigten Manifests des Herzogs von Braunschweig zu vergegenwärtigen, den man in seiner Eigenschaft als Kommandant der vorrückenden Koalitionstruppen Ende Juli ultimativ zur Respektierung der ‚sûreté‘ der Königsfamilie aufrufen ließ. Der bekannte, vergleichsweise kurze Text erwähnte den Begriff an immerhin sieben verschiedenen Stellen und forderte insbesondere die Nationalgarde dazu auf, in den Provinzen provisorisch die Sicherheit der Personen und Güter aller Franzosen zu garantieren.42 Gerade diese Forderung nach provisorischer Sicherung des Gemeinwesens 3 9 Ebd., S. 64 [10. Juni 1792].

4 0

Dupuy, La Garde nationale (wie Anm. 20), S. 177–198. de l’ancien Moniteur […], Bd. 13, Assemblée Législative, Paris 1862, S. 384 [12. August 1792]. 42 „[…] rendre au roi la sûreté et la liberté dont il est privé […]“; „procurer à Sa Majesté trèschrétienne la sûreté nécessaire pour qu’elle puisse faire […] les convocations qu’elle jugera à propos […]“; „[…] que les gardes nationales sont sommées de veiller provisoirement à la tranquillité des villes et des campagnes, à la sûreté des personnes et des biens de tous les Français, jusqu’à l’arrivée de Leurs Majestés impériale et royale […]“; „Tous les habitants au contraire desdites villes, bourgs et villages qui s’empresseront de se soumettre à leur roi, […] seront à l’instant sous leur sauvegarde immédiate; leurs personnes, leurs biens, leurs effets seront sous la protection des lois, et il sera pourvu à la sûreté générale de tous et chacun d’eux“; „[…] s’il est fait la moindre violence […] à leurs Majestés […], s’il n’est pas pourvu immédiatement à leur sûreté, à leur conservation et leur liberté […]“; „[…] au nom de Sa Majesté Très Chrétienne, tant que sa personne sacrée, celle de la reine et de toute la famille royale ne seront pas réellement en sûreté […]“; „[…] afin que Sa Majesté puisse en toute sûreté appeler auprès d’elle les ministres et les conseillers qu’il lui plaira de désigner […]“, vgl. Déclaration du duc de Brunswick aux habitants de la France, zitiert nach dem Abdruck des Moniteur vom 3. August 1792, Réimpression (wie Anm. 41), S. 305f. 41 Réimpression

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bis zur Rückkehr der – eigentlich legitimen – Königsherrschaft, ja geradezu in Stellvertretung für die ausländischen Truppen, wurde im Leitartikel des Moniteur als historische Beleidigung der französischen Nation bezeichnet.43 Statt allgemeiner Sicherheit herrschte also bald überwiegend Gewalt, die in den sogenannten Septembermassakern eine neue Stufe der Eskalation erreichte. Die unterstellte Mitverantwortung der Pariser Stadtverwaltung und des Bürger­ meisters Pétion wurde in der Nationalversammlung nur vorübergehend ins Gespräch gebracht, und auch im Hinblick auf die Nationalgarde dürfte der Grad der Beteiligung nicht eindeutig zu ermitteln sein.44 Dass Verschwörungen als Bedrohung der öffentlichen Sicherheit betrachtet und entsprechend verfolgt wurden, barg allerdings die Gefahr einer unkontrollierten Streuung entsprechender Anschuldigungen. Ein bedeutsamer Schritt geschah in diesem Zusammenhang am 2. Oktober 1792 mit der Schaffung eines reorganisierten Comité de sûreté générale, das unter verschiedenen Bezeichnungen bereits seit dem Herbst 1789 existiert hatte, und dessen zentrale Aufgabe darin bestand, die Sicherheit des sich umgestaltenden Staates frühzeitig gegen Angriffe innerer Feinde zu verteidigen. Die neue Institution erlebte in den ersten Wochen und Monaten ihres Bestehens verschiedene Versuche einer Reformierung und Neuordnung, bis auf Initiative des Montagnard Pierre Bentabole eine gewisse Stabilität erreicht werden konnte. In der Vormittagssitzung des 21. Januar 1793, während zeitgleich auf der anderen Seite des Tuileriengartens, nur wenige hundert Meter entfernt, die Hinrichtung Ludwigs XVI. stattfand, kam es in Reaktion auf das am Vortag geschehene ­Attentat auf den Deputierten Le Peletier de Saint-Fargeau zu einer Neuordnung des Sicherheitsausschusses, die zur Entstehung einer neuen Sicherheitselite führen sollte. Erneut ging es argumentativ, ganz wie im Juli 1789, um die „sûreté des représentants du peuple“.45 Hinzu kam vor dem Hintergrund des nunmehr durch die Hinrichtung des Königs irreversibel scheinenden Kampfes um die Erhaltung der Republik eine erhöhte Alarmbereitschaft gegenüber inneren wie äußeren Feinden, zu deren Bekämpfung der neue Ausschuss beitragen sollte.46 Die komplexe Frage nach Autorschaft und Redaktion des Manifests zwischen Paris, Mainz und Wien erörtert ausführlich Kurt Heidrich, Preußen im Kampfe gegen die französische Revolution bis zur zweiten Teilung Polens, Stuttgart/Berlin 1908, S. 136–156. 4 3 Réimpression (wie Anm. 41), S. 305 [3. August 1792]. 4 4 Archives Parlementaires (wie Anm. 9), Reihe I, Bd. 57, S. 524 [21. Januar 1793]. 4 5 Vgl. das Protokoll der Vormittagssitzung in: Ebd., S. 514–534 [21. Januar 1793]. 4 6 Appell des Barère an das neue Comité: Archives Parlementaires (wie Anm. 9), Reihe I, Bd. 57, S. 521 [21. Januar 1793]: „Vous êtes plus que jamais chargés du salut des citoyens, et responsables de la tranquillité publique dans les circonstances où nous sommes. La République a été décrétée le 21 septembre; elle s’est affermie ce matin à onze heures [Hinrichtung des Königs], bientôt elle sera constituée. Mais elle a de grands ennemis, il faut vous occuper des mesures de sûreté générale pour les surveiller au dedans, et faire tous les préparatifs nécessaires pour les vaincre au dehors.“

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Die Anschlussfähigkeit des Sicherheitsbegriffs in verschiedensten Bereichen des öffentlichen Lebens brachte eine erhebliche Machtfülle des entsprechenden Gremiums mit sich, das nach dem Comité de salut public als einflussreichster Akteur der folgenden Jahre gilt und weitgehend einhellig negativ beurteilt wird. Schon die royalistische „Petite Biographie Convention­nelle“ der beginnenden Restaurationszeit hielt den Präsidenten des Comités, Marc-Guillaume Vadier, für fanatisch bis zur Unzurechnungsfähigkeit47, und während ein Wegbereiter der sozialistischen Revolutionsgeschichte wie Louis Blanc im Comité de sûreté générale die eigentlich Verantwortlichen für die revolutionären Massenhinrichtungen erkannte, die man auf intrigante und geradezu diabolische Weise Robespierre und seinem Umfeld zugewiesen habe48, sah François Furet den Sicherheitsausschuss schlicht „au sommet de l’appareil de la Terreur“.49 Ein besonders interessantes Phänomen der hier zu konstatierenden Staatsverdichtung im Zeichen eines sich modernisierenden Sicherheitsdiskurses liegt in den sog. Cartes de sûreté vor, die gemäß einer gesetzlichen Regelung vom 19. September 1792 in allen 48 Sektionen der Commune ausgestellt wurden. Das französische Nationalarchiv bewahrt einen bedeutenden Bestand dieser Karten auf, der laut Zählungen der 1983 gegründeten Bibliothèque généalogique Auskunft über 134 000 Individuen gibt (der ursprüngliche, teilweise verlorene Gesamtfundus wird auf 200 000 veranschlagt, bei einer geschätzten Pariser Gesamtbevölkerung von 600 000 Einwohnern).50 In Form eines doppelseitigen Ausweises dokumentierten diese Karten Angaben über Wohn- und Geburtsort des Inhabers, über sein Lebensalter und Beruf, über Haar- und Augenfarbe, Bildung von Stirn, Nase, Mund und Kinn sowie die Körpergröße. Eine doppelte Signierung kommunaler Amtsträger sollte für Authentizität bürgen.51 Der Sicherheitsdiskurs wurde gleichsam kapillar und erfasste in großem Maßstab die Individuen, Familien und Nachbarschaften aller Pariser Sektionen. Ob allein das Vorantreiben 47

Petite Biographie Conventionnelle, ou Tableau moral et raisonné des sept cent quaranteneuf Députés qui composaient l’assemblée dite de la Convention, Paris 1815, S. 257. 4 8 Louis Blanc, Histoire de la Révolution, Bd. 11, 2. Aufl. Paris 1869, S. 50–83. 49 François Furet, La Révolution. De Turgot à Jules Ferry, 1770–1880 [erstmals publiziert Paris 1988], in: Mona Ozouf/ders. (Hrsg.), La Révolution française, Paris 2007, S. 221–794, hier S. 363; vorsichtiger ebd., S. 359, wo das Comité de sûreté générale zwar mit den „redoutables attributions de la police“ in Verbindung gebracht, insgesamt jedoch als schlecht erforscht übergangen wird. 7 5 0 Archives Nationales: F 4787–4820; vgl. Olivier Faron/Cyril Grange, Un recensement parisien sous la Révolution: l’exemple des cartes de sûreté de 1793, in: MEFRM. Italie et Méditerranée 111 (1999), S. 795–826. 51 Die konkreten Ausführungen der einzelnen Karten dürfte je nach Phase der Herstellung erheblich variiert haben. Ihr Quellenwert für Fragen der historische Demographie auch über Paris hinaus steht jedoch außer Frage, vgl. Faron/Grange, Un recensement parisien sous la Révolution (wie Anm. 50), S. 800–816.

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dieser langfristig zu beobachtenden Tendenz der städtischen Obrigkeiten zur Archivierung von Information über die Bevölkerung hinreicht, um das Verfahren des Sicherheitsausschusses mit den Worten der liberalen Historiographie des 19. Jahrhunderts als inquisition zu bezeichnen, muss hier offen bleiben.52 Als unbestritten kann hingegen gelten, dass es nach dem Prozess gegen die Girondins im Herbst 1793 und vollends mit den Prairial-Gesetzen vom 10. Juni 1794 auch in Paris zur faktischen Außerkraftsetzung jeder Strafprozessordnung kam, v. a. durch die Möglichkeiten einer den Umständen anzupassenden Verkürzung der Gerichtsverfahren und der weitgehenden Ausschließung von Verteidigung und Entlastungszeugen.53 In den anfangs referierten Begriffen Montesquieus war damit in gewisser Hinsicht die Negation von Sicherheit, und damit von politischer Freiheit, erreicht. Die revolutionären Stadtbehörden existierten indes weiter. Ihr Einfluss auf das politische Geschehen schien jedoch starken Schwankungen unterworfen. Während die Entmachtung der Girondins sehr unmittelbar durch den drohenden Aufmarsch der Pariser Sektionen vor dem Tagungsort der Nationalversammlung orchestriert worden war und das Ende eines wochenlangen Machtkampfes zwischen der Commune und dem gegen sie wegen angeblichen Machtmissbrauchs ermittelnden Comité des douze zugunsten der erstgenannten besiegelte, ging ihr Einfluss bald deutlich zurück, eine Entwicklung, die hier nicht mehr ausführlich geschildert werden soll.54 Jean-Nicolas Pache, der am 11. Februar 1793 zum Maire de Paris gewählt worden war, gilt der Geschichtsschreibung bereits überwiegend als enigmatische Figur einer zunehmend in den Hintergrund tretenden Stadtverwaltung. Vor der Revolution mit dem höfischen Adel in Verbindung stehend, wirkte der Sohn eines Genfer Bürgers bald als Mitarbeiter Neckers, später als Sekretär des Ministers Roland und für einige Monate selbst als Kriegsminister, bevor er sich 1793 gar den Hébertisten zuwandte. Trotz seiner Absetzung im Mai 1794 kam es nicht zu einer Verurteilung. Neuere biographische Forschungen stehen weitgehend aus.55 Seine Statue – eine von vielen – von Joseph-Michel Caillé 5 2

Vgl. Adolphe Thiers, Histoire de la Révolution française, Bd. 3, 2. Aufl. Brüssel 1838, S. 15, über die Tätigkeit des Comité de sûreté générale und seinen Machtkampf mit dem Wohlfahrtsausschuss. 5 3 Biard/Dupuy, La Révolution française (wie Anm. 16), S. 98–101. 5 4 Vgl. Ducoudray, Commune de Paris/Département de Paris (wie Anm. 30), S. 270f. 5 5 Patrice Gueniffey, Commune de Paris, in: François Furet/Mona Ozouf (Hrsg.), Dictionnaire critique de la Révolution française. Institutions et créations, Paris 2007, S. 161–177, hier S. 167f. Raymonde Monnier, Pache, in: Soboul, Dictionnaire historique (wie Anm. 30), S. 805f., bemängelte lakonisch die bisher ausgebliebene Forschung zu seiner Rolle als Bürgermeister. Hinzuweisen ist jedoch auf die ältere, Alphonse Aulard gewidmete Quellenedition des Juristen Adrien Sée (Hrsg.), Le procès Pache: Extraits du dossier, Paris 1911, sowie den biographischen Aufsatz von Francis Normand, Jean-Nicolas Pache (1746–1823), ministre de la Guerre, maire de Paris sous la Terreur, Paris 1913.

328 Bernd Klesmann

(1836–1881) an der Hauptfassade des Neorenaissance-Rathauses von Paris, das nach der Niederschlagung der neuen, großen Commune und den Zerstörungen von 1871 errichtet wurde, ersetzte die Realität von Bürgermeisteramt und Nationalgarde durch die steinerne Memoria.56 Die sich etablierende Dritte Republik, die das Erbe von 1789 vielfach in Anspruch nahm, kannte weder Maire de Paris noch Garde nationale und versuchte in den folgenden Jahrzehnten, auf anderen Wegen zu stabilen Formen einer kollektiven Sicherheit zu finden.

5 6 Georges Veyrat, Les statues de l’Hôtel de Ville, Paris 1892, S. 96f.

SEKTION VI · Zum Umgang mit Sicherheiten und Risiken in Hinblick auf Wetter und Klima in der Frühen Neuzeit

Manfred Jakubowski-Tiessen

Zum Umgang mit Sicherheiten und Risiken in Hinblick auf klimatisch bedingte Naturgefahren – Einleitung Bereits vor zwei Generationen hat der französische Historiker Lucien Febvre angeregt, das Sicherheitsbedürfnis und seine jeweiligen Erscheinungsformen in der abendländischen Kultur zu untersuchen.1 Bis heute ist dieses komplexe Thema, das sowohl individuelle als auch kollektive Wahrnehmungs-, Deutungsund Handlungszusammenhänge impliziert, nur sporadisch aufgegriffen worden. Einen elementaren Aspekt dieser umfassenden Thematik bildet das Bedürfnis nach Sicherheit vor Naturgefahren.2 Im Mittelpunkt der drei folgenden Studien, die sich Unsicherheitserfahrungen und darauf reagierenden Sicherheitsstrategien in der Vormoderne widmen, steht die Frage, wie spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaften auf Herausforderungen vorwiegend klimatisch bedingter Naturgefahren reagierten und wie angesichts derartiger Gefahren versucht wurde, Unsicherheit sowohl in materieller als auch mentaler Hinsicht in Sicherheit umzuwandeln. Sicherheitsfragen und Sicherheitskonzepte frühneuzeitlicher Gesellschaften sind, wie es für heutige Gesellschaften im Prinzip auch gilt, stets unter zweifacher Perspektive zu betrachten: Zum einen geht es um die Frage, wie Gesellschaften entstandene Unsicherheit durch aktives Handeln bewältigen. Hierbei richtet sich der Blick vor allem auf technische, politische und ökonomische Maßnahmen oder auch auf die Bildung von Institutionen, welche die Umsetzung von Präventionsmaßnahmen und Anpassungsstrategien beförderten. Zum anderen ist zu klären, auf welche Weise durch symbolisches Handeln versucht wurde, Sicherheit zu ima 1 Lucien Febvre, Pour une histoire d’un sentiment. Le boison de sécurité, in: Annales ESC

11, 2 (1956), S. 244–247.

2 Einen wichtigen neueren Beitrag zu dieser Thematik stellt das Buch von François Walter,

Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2010, dar. Die Untersuchung von Naturkatastrophen ist in den letzten fünfzehn Jahren neben der Historischen Klimatologie zu einem Hauptthema der Umweltgeschichte geworden. Inzwischen liegen eine ganze Reihe grundlegender Studien zu diesem Thema vor. Siehe die bibliographischen Angaben in den folgenden Aufsätzen.

Klimatisch bedingte Naturgefahren 331

ginieren. Speziell in Krisen- und Katastrophenzeiten hat symbolisches Handeln zum Abbau von individuellen und kollektiven Ängsten beitragen können. Im religiösen Bereich waren es Bittprozessionen, Wallfahrten, Betstunden oder Bußund Bettage, welche zur Konstruktion von Sicherheit beitragen sollten.3 Aber auch politische Maßnahmen, welche vor allem aktives obrigkeitliches Handeln angesichts der Krise demonstrieren sollten wie etwa die Anordnung von Ausfuhrsperren bei Hungersnöten, konnten vorwiegend symbolischer Natur sein. Ziel aller gesellschaftlichen und politischen Strategien der Unsicherheitsbewältigung ist es in der Regel, einen möglichst dauerhaften oder doch längerfristigen Sicherheitsstatus einer Gesellschaft anzustreben. An der Fähigkeit zur Wiederherstellung von Sicherheit musste sich schließlich ein gutes politisches Regiment erweisen. Zugleich führte die erfolgreiche Bewältigung einer Naturkatastrophe mit ihren sozialen Folgen zu einer Festigung herrschaftlich-hierarchischer Strukturen, während das Scheitern von Abwehr- und Sicherheitsstrategien gegenüber Naturgefahren politische und gesellschaftliche Umbrüche zeitigen konnte.4 Neben dem positiv konnotierten Begriff Sicherheit existiert in der Frühen Neuzeit auch eine semantische Variante dieses Begriffs, die negativ besetzt ist, wie beispielsweise folgende chronikalische Notiz des 1685 gestorbenen nordfriesischen Chronisten Anton Heimreich zeigt: Der Deichgraf von Risummoor soll zu Beginn des 17. Jahrhunderts nach der Instandsetzung eines Deiches einen Spaten in den Deich gesteckt und gesagt haben: „Trutz nun blanke Hans!“5 Mit diesem symbolischen Akt wollte der Deichgraf zum Ausdruck bringen, dass der verbesserte, dem neuesten technischen Standard entsprechende Deich den Sturmfluten der Nordsee künftig standhalten und den Einwohnern dadurch Sicher­heit vor Überschwemmungen geben werde. Heimreich erwähnt diese Episode in seiner Chronik nicht, um zu zeigen, zu welchen technischen Leistungen die Nordfriesen damals unter Leitung des Deichgrafen fähig waren, vielmehr kritisiert er – allerdings rückblickend – die Hybris des Nordfriesen, welcher eine falsche Sicherheit angesichts der kurz darauf über die Nordseeküste hereinbrechenden Flutkatastrophe vom 11. Oktober 1634 vermittelt habe.6 3

Siehe die in den Beiträgen von Dominik Collet und Stefanie Rüther angeführten Beispiele. Vgl. Wolfgang Behringer, Die Krise von 1570. Ein Beitrag zur Krisengeschichte der Neuzeit, in: Manfred Jakubowski-Tiessen/Hartmut Lehmann (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, S. 51–156, bes. S. 101–152; Andreas Ranft/­Stephan Selzer (Hrsg.), Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne, Göttingen 2004. 5 Anton Heimreich, Nordfresische Chronik, Bd. 2, hrsg. von Nikolaus Falck, Tondern 1819, S. 134. 6 Über die Sturmflut von 1634 siehe Boy Hinrichs/Albert Panten/Guntram Riecken, Die Flutkatastrophe von 1634. Natur – Geschichte – Dichtung, Neumünster 1985; Manfred Jakubowski-Tiessen, „Erschreckliche und unerhörte Wasserflut“. Wahrnehmung und Deu 4

332 Manfred Jakubowski-Tiessen

Der Begriff Sicherheit konnte in der Frühen Neuzeit folglich nicht nur positiv, sondern auch negativ konnotiert sein7 – und zwar zumeist im Kontext einer frühneuzeitlichen religiösen Weltsicht. „Von der Welt Vermessenheit und Sicherheit“, so heißt es etwa bei Martin Luther8, oder auch in ähnlich pejorativer Bedeutung in der Zusammenstellung der Begriffe „Sicherheit und Gottlosigkeit“.9 Gerade im Zusammenhang mit erlittenen Naturkatastrophen wird in frühneuzeitlichen Quellen häufig davon gesprochen, dass die Menschen sich in Sicherheit wähnten, jedoch – wie oftmals explizit formuliert wird – in „falscher Sicherheit“10 oder „fleischlicher Sicherheit“.11 Darunter wird vor allem die Tatsache verstanden, in einer unbegründeten Gewissheit einer künftig nicht zu erwartenden Naturgefahr zu leben. Dieser negativ konnotierte semantische Gehalt des Begriffs Sicherheit ist in diesem Zusammenhang nur im Deutungshorizont des religiös geprägten frühneuzeitlichen Weltbildes zu verstehen, nach welchem die Annahme einer vollkommenen Sicherheit vor Naturgefahren als Gottlosigkeit oder Sündhaftigkeit kritisiert wurde. Denn die Vorstellung einer absoluten Sicherheit, so wurde argumentiert, würde der Allmacht Gottes, die jederzeit in das irdische Geschehen eingreifen könne, widersprechen.12 Diese vermessene Vorstellung von unbegründeter Sicherheit ließ sich problemlos in das Konzept der frühneuzeitlichen Sündenökonomie integrieren, nach der das Maß der Sünden jeweils die Schwere der Gottesstrafe über die Menschen bestimmte. Die „falsche Sicherheit“ der Menschen konnte somit tung der Flutkatastrophe von 1634, in: ders./Hartmut Lehmann (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, S. 179–200. 7 „Sicherheit, Securität, securitas ist im moralischen Verstand ein Mangel der vernünfftigen Furcht, wenn einem wahrscheinlich ein Unglück bevorstehet, und man ist dabey unbesorgt, welches als ein großer Fehler anzusehen.“ Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon der Wissenschaft und Künste, Bd. 37, Halle und Leipzig 1743, S. 909. 8 Ernst Kroker/Karl Drescher/Oskar Brenner (Hrsg.), Martin Luthers Werke. Tischreden, Bd. 3, Weimar 1914, S. 528. 9 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm (Hrsg.), Deutsches Wörterbuch, Bd. 16, München 1984, Sp. 727. 10 Beispielsweise wurde „die falsche Sicherheit der Menschen“ zu jenen Sünden gezählt, welche Gott dazu veranlasst habe, die Bewohner der Nordseeländer mit der Sturmflut von 1717 zu strafen. Siehe Manfred Jakubowski-Tiessen, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatstrophe in der Frühen Neuzeit (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 24), München 1992, S. 90. 11 „Die fleischliche Sicherheit, in der Theologie, die Fertigkeit, sich eine ungegründete Abwesenheit der Gefahr, besonders in Ansehung seines Verhältnisses gegen Gott einzubilden.“ Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Wien 1811, S.77f. 12 Jakubowski-Tiessen, Sturmflut (wie Anm. 10), S. 93. So argumentierte selbst der Deichbauer ­Albert Brahms, der ansonsten die Deutung einer Sturmflut als Strafgericht Gottes ablehnte. Albert Brahms, Anfangs-Gründe der Deich- und Wasser-Baukunst (1754/57), 2 Bde., Leer 1989 (Nachdruck der Ausgaben Aurich 1767 und 1773), S. 36.

Klimatisch bedingte Naturgefahren 333

nach gängiger zeitgenössischer Vorstellung zur ­Ursache eines Strafgerichts Gottes werden, wie es die Nordfriesen nach Ansicht ihres Chronisten Anton Heimreich im Jahr 1634 hatten erfahren müssen. Die Kritik an einem solchen unbegründeten Sicherheitsgefühl, die sich zumeist im Zusammenhang mit den Erklärungs- und Deutungsversuchen von Naturkatastrophen findet, wird nicht allein in religiösen Texten geäußert, sondern durchaus auch – siehe Heimreich – in Geschichtsdarstellungen und Chroniken, zuweilen selbst in Texten, die sich mit technischen Fragen zur physischen Sicherheit der Menschen befassten. Wenn in der Frühen Neuzeit an Rathäusern, Kirchen und Brücken die Höhe des Wasserstandes bei Überschwemmungen durch Hochwassermarken markiert wurde, so geschah dieses nicht in erster Linie aus einem hydrologischen Interesse heraus, vielmehr sollten diese Zeichen an die jederzeit mögliche erneute Gefährdung durch Hochwasser und Sturmfluten erinnern und die Menschen vor einer falschen Sicherheit warnen.13 Die Geschichte der Naturkatastrophen bildet ein historisches Untersuchungsfeld an der Schnittstelle von Natur und Kultur, weil die jeweiligen Bewältigungsbemühungen, die Handlungspraktiken wie auch die Sicherheitsstrategien nicht nur durch naturale und materielle, sondern zugleich durch soziokulturelle Rahmenbedingungen bestimmt wurden. Wollen wir die Bewältigungs- und ­Sicherheitsstrategien frühneuzeitlicher Gesellschaften verstehen, ist es notwendig, die epistemischen und handlungspraktischen Grenzen zu wissen, die von ihren jeweiligen Deutungsmustern für Naturkatastrophen gesetzt werden. Es gilt jedoch nicht nur zu analysieren, wie frühere Gesellschaften die Bedrohung durch Naturgefahren wahrgenommen und wie sie sich gegenüber diesen Bedrohungen verhalten haben, sondern darüber hinaus ist zu untersuchen, wann und wo in der Zeitspanne vom Spätmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Brüche und Modifikationen in der Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung von klimatisch bedingten Naturkatastrophen zu verzeichnen sind und wie sich infolgedessen auch die Sicherheitskonzepte und -strategien in dieser Zeit veränderten. Auf welche Weise lassen sich Zäsuren im Umgang mit Naturgefahren ermitteln? Wo sind Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu verzeichnen? In welcher Phase haben die religiösen Deutungsmuster für natürliche Extremereignisse ihre Dominanz gegenüber alternativen Erklärungsmustern verloren? Da Bewältigungs- und Sicherheitsstrategien letztlich nur in kulturellen und sozialen Zusammenhängen greifbar werden, kann die Untersuchung ihres Wandels zugleich Aufschlüsse über langfristige geistig-kulturelle Prozesse vermitteln, etwa über den Prozess der Rationalisierung und der Säkularisierung.14 13 In Tönning in Eiderstedt wird unter den Sturmflutmarken ganz explizit auf die stete Ge-

fährdung hingewiesen. Dort heißt es: „Denkt an die nächste Flut!“ Jakubowski-Tiessen, Kommentar, in: Paul Münch (Hrsg.), „Erfahrung“ als ­Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (HZ Beihefte; N.F. 31), München 2001, S. 267.

14 Manfred

334 Manfred Jakubowski-Tiessen

Trotz der Konstanz religiöser Deutungsmuster bis in das 19. Jahrhundert hinein und sogar noch darüber hinaus ist dennoch festzustellen, dass in der Frühen Neuzeit ein entscheidender Wandel, ein Paradigmenwechsel in der Deutung von Natur und Naturereignissen stattgefunden hat, der noch unsere heutige Form des Umgangs mit Natur und Naturgefahren weitgehend prägt.15 Dieser seit dem späten 17. und vor allem im 18. Jahrhundert sich vollziehende Prozess des Übergangs im Denken über Natur ist besonders aufschlussreich, weil die Neudefintion von Natur nicht allein auf einen tiefgreifenden Bewusstseins- und Wertewandel und ein verändertes Verhältnis des Menschen zur Natur verweist, sondern sich aus diesem Wandel des Mensch-Natur-Verhältnisses schließlich auch veränderte Sicherheits- und Handlungsstrategien gegenüber den Naturgefahren ergeben mussten. Erst die Aufklärung mit ihrem technisch-naturwissenschaftlichen Blick auf die Natur, welche man seit der Aufklärungszeit verstärkt erobert und sich zugleich kontemplativ-ästhetisch aneignet16, hat einen Technikoptimismus geschaffen und ein Naturgefahrenmanagement bewirkt, das stark auf technische Regulation und Schutzmaßnahmen ausgerichtet ist. Seit diesem Wahrnehmungswandel werden Naturkatastrophen als ein Problem betrachtet, das sich prinzipiell durch technische Maßnahmen lösen oder zumindest erheblich begrenzen lässt.17 Parallel zur fortschreitenden Technisierung der Welt hat sich diese Einstellung immer stärker verfestigt. Alle technischen Maßnahmen zielten darauf, die „feindliche Natur“ aus dem „geordneten“ Lebensraum des Menschen herauszuhalten.18 „Man hat mit einem Feinde zu thun…“, äußerte der von der Aufklärung geprägte Regierungsrat und Populärphilosoph Johann Nikolaus Tetens angesichts der Gefährdung durch die Nordsee.19 Die auf die Natur angewandte Feind-Metapher setzt jedoch eine Unterscheidung von Gesellschaft und Natur voraus, die zu einem grundlegenden Merkmal neuzeitlicher Wissenschaftsgeschichte geworden ist. Mit der Ausbildung der Naturwissenschaften als eigene Wissenschaftsdisziplinen ent­spricht die Wissenschaftsgeschichte dieser Dichotomie von Gesellschaft und Natur.

15

Walter, Katastrophen (wie Anm. 2), S. 12.

16 Günter Bayerl, Die Natur als Warenhaus. Der technisch-ökonomische Blick auf die N ­ atur in

der Frühen Neuzeit, in: Sylvia Hahn/Reinhold Reith (Hrsg.), Umwelt-Geschichte. Arbeitsfelder, Forschungsansätze, Perspektiven (Querschnitte 8), Wien u. München 2001, S. 33–52. 17 Vgl. Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, ­Hamburg 1995, S. 42. 18 Christian Pfister, Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500–2000, Bern 2002. 19 Siehe den Beitrag von Marie-Luisa Allemeyer.

Stefanie Rüther

Zwischen göttlicher Fügung und herrschaftlicher Verfügung. Katastrophen als Gegenstand spätmittelalterlicher Sicherheitspolitik Im Jahr 1379 trat die Pegnitz über die Ufer und die Wassermassen verursachten in der Stadt Nürnberg großen Schaden. Denn, so wusste der Chronist Sigmund Meisterlin über einhundert Jahre später zu berichten, „wann der fluß was nit eingefast, noch mit mauren versorgt, noch mit brucken von felsen gemacht, als nun bei unsern tagen“.1 Der humanistisch gebildete Mönch, der 1488 im Auftrag des Rates eine mehrbändige Geschichte Nürnbergs verfasste2, bescheinigte der Stadt damit, im Laufe des 15. Jahrhunderts erhebliche Fortschritte im Bereich des Hochwasserschutzes gemacht zu haben. Die getroffenen Maßnahmen, die der Geistliche im Einzelnen benennen konnte, waren seiner Ansicht nach dazu geeignet, den durch das regelmäßig wiederkehrende Hochwasser verursachten Schaden spürbar zu begrenzen.3 Tatsächlich lässt sich für das ausgehende Mittel­ alter eine intensivierte Auseinandersetzung mit Naturgefahren konstatieren, die von der reinen Dokumentation über konkrete Verhaltensnormierungen bis hin zu gezielten Schutzmaßnahmen reichten.4 Eine besondere Rolle in diesem Prozess kam dabei den Städten zu, in denen die Konstruktion von Sicherheit im 15. Jahrhundert zu einer Verdichtung der Herrschafts- und Verwaltungspraktiken

1

Vgl. Sigmund Meisterlin’s Chronik der Reichsstadt Nürnberg. 1488, in: Karl Hegel (Hrsg.), Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg. 3. Bd. (Die Chroniken der Deutschen Städte 3), Leipzig 1864, S. 1–178, hier S. 169. 2 Vgl. zu seiner Person Harald Müller, Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog (Spätmittelalter und Reformation 32), Tübingen 2006, S. 137–174; Joachim Schneider, Humanistischer Anspruch und städtische Realität: Die zweisprachige Nürnberger Chronik des Sigismund Meisterlin, in: Rolf Sprandel (Hrsg.), Zweisprachige Geschichtsschreibung im spätmittelalterlichen Deutschland (Wissensliteratur im Mittelalter 14), Wiesbaden 1993, S. 271–316. 3 Vgl. Christian J. Zink, Die Pegnitz. Mühlen, Hochwasser und Renaturierung, in: Bernd Windsheimer/Martin Schieber/Alexander Schmidt (Hrsg.), St. Johannis. Geschichte eines Stadtteils (Nürnberger Stadtteilbücher 7), Nürnberg 2000, S. 185–189; Martin Schmidt, Hochwasser und Hochwasserschutz in Deutschland vor 1850. Eine Auswertung alter Quellen und Karten, München 2000; Markus Trier, Mittelalterlicher Hochwasserschutz in Köln, in: Skyllis 7 (2006), S. 172–185. 4 Vgl. Christian Rohr, Extreme Naturereignisse im Ostalpenraum. Naturerfahrung im Spätmittelalter und am Beginn der Neuzeit, Köln u. a. 2007; Christian Pfister (Hrsg.), Am Tag danach. Zur Bewältigung von Naturkatastrophen in der Schweiz 1500 – 2000, Bern 2002; ders., Von der Hexenjagd zur Risikoprävention. Reaktionen auf Klimaveränderungen seit 1500, in: Petra Lutz/Thomas Macho (Hrsg.), Das Wetter, der Mensch und sein Klima, Göttingen 2008, S. 56–62;

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führte.5 Diese umfassten nahezu alle Bereiche heutiger Sicherheitspolitik, von der Abwehr äußerer Feinde und der Kriminalitätsbekämpfung über den Schutz gegen Naturgefahren bis hin zur Nahrungsmittelsicherheit und der Seuchenbekämpfung.6 Am Beispiel von Überschwemmungen und Stadtbränden wird im Folgenden gezeigt, wie sich in den städtischen Gemeinwesen ein spezifischer Umgang mit Risiko und Gefahren entwickelte.7 Er war im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass den Einwohnern der Stadt für den Fall einer drohenden oder sich tatsächlichen ereignenden Katastrophe eine Rolle zugewiesen wurde, die sich mit ihrer Position im sozialen Raum der Stadt weitgehend deckte. Die Strategie der Katastrophenbewältigung, im Moment der existentiellen Bedrohung auf die hierarchisch-gegliederte Ordnung der Gemeinde zu rekurrieren, findet sich vor 5

Vgl. Gerrit J. Schenk, Human Security in the Renaissance? Securitas, Infrastructure, Collective Goods and Natural Hazards in Tuscany and the Upper Rhine Valley, in: Cornel Zwierlein/Rüdiger Graf/Magnus Ressel (Hrsg.), The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History (HSR 35, 4), Köln 2010, S. 209–233; Christian Jörg, Teure, Hunger, Großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts, Stuttgart 2008. 6 Vgl. zur Konzeptualisierung von Sicherheit in Vormoderne und Moderne Franz X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, 2. umgearb. Aufl. Stuttgart 1973; Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am College de France 1977–1978, Frankfurt a. M. 2004; Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862; Ekkehard Lippert/Andreas Prüfert/Günther Wachtler (Hrsg.), Sicherheit in der unsicheren Gesellschaft, Opladen 1997. 7 Vgl. zur Wahrnehmung und Deutung von Katastrophen im Mittelalter Arno Borst, Das Erdbeben von 1348. Ein historischer Beitrag zur Katastrophenforschung, in: HZ 233 (1981), S. 529–569; Christian Rohr, Mensch und Naturkatastrophe im Mittelalter. Tendenzen und Probleme einer mentalitätsbezogenen Umweltgeschichte des Mittelalters, in: Sylvia Hahn/ Reinhold Reith (Hrsg.), Umweltgeschichte. Arbeitsfelder – Forschungsansätze – Perspektiven (Querschnitte. Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 8), Wien 2001, S. 13–31; Dieter Groh/Michael Kempe/Franz Maulshagen, Einleitung. Naturkatastrophen – wahrgenommen, gedeutet, dargestellt, in: dies. (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Literatur und Anthropologie 12), Tübingen 2003, S. 11–33; Gerhardt Fouquet, Für eine Kulturgeschichte der Naturkatastrophen. Erdbeben in Basel (1356) und Großfeuer in Frankenberg (1476), in: Andreas Ranft/Stephan Selzer (Hrsg.), Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne, Göttingen 2004, S. 103–131; Gerrit J. Schenk, Der Mensch zwischen Natur und Kultur. Auf der Suche nach einer Umweltgeschichtsschreibung in der deutschsprachigen Mediävistik – eine Skizze, in: François Duceppe-Lamarre/Jens I. Engels (Hrsg.), Umwelt und Herrschaft in der Geschichte. Environnement et pouvoir: une approche historique (Ateliers des Deutschen Historischen Instituts Paris 2), München 2008, S. 27–51.

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allem in den prospektiv formulierten Normierungen, die im Mittelpunkt des ersten Teils stehen. Sie spiegelt sich aber auch in den retrospektiven Katastrophenerzählungen, die in einem zweiten Schritt vorgestellt werden.

I.  Für den Ernstfall gerüstet – das Nürnberger Baumeisterbuch

Wenn Sigmund Meisterlin berichtet, dass im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts die Ufer der Pegnitz befestigt und der Brückenbau vorangetrieben wurden, so geschah dies auf Verantwortung des städtischen Baumeisters.8 Ihm oblagen neben der Aufsicht über alle städtischen Bauten die Kontrolle über die Wasser- und Abwasserversorgung sowie der Feuerschutz. Eine fachliche Vorbildung für das Amt, das von einem Mitglied des erweiterten Inneren Rates auf unbestimmte Zeit versehen wurde9, war nicht vorgesehen, da dem Baumeister mit dem sogenannten „Anschicker“ oder „Schaffer in der Peunt“ ein ausgebildeter Steinmetz zur Seite gestellt war.10 Nach fast vierjähriger Amtszeit begann 1464 der Baumeister Endres Tucher damit11, Wissen und Erfahrungen, die er bis dahin gesammelt hatte, in einem Buch festzuhalten, „darauß und darnach sich kunftiglichen ein stat paumeister 8

Zum Amt des städtischen Baumeisters vgl. Walter Bauernfeind, Baumeister, in: Michael Diefenbacher/Rudolf Endres (Hrsg.), Stadtlexikon Nürnberg, 2. Aufl. Nürnberg 2000, S. 107; Paul Sander, Die reichsstädtische Haushaltung Nürnbergs. Dargestellt auf Grund ihres Zustandes von 1431–1440, Leipzig 1902, S. 276; Carl L. Sachs, Das Nürnberger Bauamt am Ausgang des Mittelalters, München/Leipzig 1915; Christine Kratzke, Baumeister, in: Werner Paravicini (Hrsg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe (Residenzenforschung 15 II), Bd. 1, Ostfildern 2005, S. 476–479; Gerhard Fouquet, Bauen für die Stadt. Finanzen, Organisation und Arbeit in kommunalen Baubetrieben des Spätmittelalters. Eine vergleichende Studie vornehmlich zwischen den Städten Basel und Marburg (Städteforschung A/48), Köln u. a. 1999. 9 Zur Wahl eines Baumeisters vgl. Tucher’sche Fortsetzung der Jahrbücher bis 1469–1499, in: Karl Hegel (Hrsg.), Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg, Bd. 5 (Die Chroniken der Deutschen Städte 11), Leipzig 1874, S. 469f. mit Anm. 7. 10 Zu Amt und Entlohnung des „schaffers und anschickers“ vgl. Matthias Lexer (Hrsg.), Endres Tuchers Baumeisterbuch der Stadt Nürnberg (1464–1475) mit einer Einleitung und sachlichen Anmerkungen von Dr. Friedrich von Weech (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 64), Stuttgart 1862, S. 32–34. Siehe auch Walter Bauernfeind, Anschicker auf der Peunt, in: Diefenbacher/Endres (Hrsg.), Stadtlexikon Nürnberg (wie Anm. 8), S. 70f.; Sander, reichsstädtische Haushaltung (wie Anm. 8), S. 278. 11 Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 17: „[…] also ward ich Endres Tucher von einem erbern ratt hie bestellet zu der stat paumeister ampt, und darnach in dem selben jare zu dem newen rat thet ich gehorsam und pin nun in das viert jare der stat paumeister gewest.“ Vgl. zu seiner Person Friedrich von Weech, Einleitung, in: ebd., S. 1–16; ­Christian Kuhn, Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur. Die Nürnberger Tucher im langen 16. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 43; Ernst Mummenhoff, Tucher, Endres, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 38, Leipzig 1894, S. 764f.

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gerichten mag“.12 Dabei half ihm nach Tuchers eigener Auskunft der Schaffer und Anschicker Conrat Gürtler, der diese Stellung schon seit 27 Jahren innehatte.13 Tuchers Baumeisterbuch vermittelt ein eindrückliches Bild davon, welche Bedeutung das Wasser für die Bewohner Nürnbergs im ausgehenden Mittelalter hatte, und zwar ebenso als Ressource wie als Bedrohung.14 So verfügte die Stadt zur Zeit des Baumeisters bereits über ein ausgebautes Wasserversorgungssystem mit zahlreichen Brunnen und Rohrleitungen, deren Lage im Baumeisterbuch genau dokumentiert wurde.15 Zentrale Wasser- und Lebensader war aber die Pegnitz, deren Verlauf mit „prucken, stegen und weren oder güßpeten“16 von Tucher in Form einer Wegstreckenerzählung abgeschritten wird, wobei er insbesondere auf die jeweiligen Zuständigkeiten eingeht.17 Der Fluss wird durch die Erzählung in einzelne Abschnitte gegliedert, für die die Verantwortung den unterschiedlichen am Fluss angesiedelten Institutionen und Personen übertragen wird, ein Verfahren, wie es in ganz ähnlicher Weise für die Bewachung und Instandhaltung der Stadtmauer angewandt wurde. So war etwa der Müller der Sandmühle für die Instandhaltung der Brücke verantwortlich, die oberhalb seiner Mühle über die Pegnitz führte.18 Auch das daneben liegende Wehr zwischen den neuen Spitalshäusern sowie ein weiteres kleineres Wehr „soll derselb müllner machen und in wesen behalten, damit hat ein paumeister nit zu thun, anders dann das klein werlein hinten an der Pleich soll ein paumeister machen […]“.19 Gleich am Eintritt des Flusses in die Stadt wurden vom Baumeister zwei große Dielen gelagert, mit denen die Pegnitz im Notfall gestaut oder versetzt werden konnte. Ebenfalls der Regulierung des Wasserstandes dienten die verschiedenen 12 Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 17. 13

Conrat Gürtler war bereits bei vier vorangegangenen Baumeistern Schaffer gewesen, „nemlich bei Hansen Graser, Steffan Schuller, Lutzen Steinlinger seligen und herrn Hansen Coler, alle paumeister“, (ebd.). Lutz Steinlinger hat ebenfalls ein Baumeisterbuch verfasst, das jedoch einen wesentlich geringeren Umfang hat, vgl. hierzu Ernst Mummenhoff (Hrsg.), Lutz Steinlingers Baumeisterbuch vom Jahre 1452, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 2 (1880), S. 15–77. 14 Vgl. Erich Maschke/Jürgen Sydow (Hrsg.), Die Stadt am Fluß. 14. Arbeitstagung in Kehl 14.–16. 11. 1975 (Stadt in der Geschichte 4), Sigmaringen 1978; Jürgen Sydow (Hrsg.), Städtische Versorgung und Entsorgung im Wandel der Geschichte. 18. Arbeitstagung in Villingen 3.–5. November 1979 (Stadt in der Geschichte 8), Sigmaringen 1981; Klaus Grewe (Hrsg.), Die Wasserversorgung im Mittelalter (Geschichte der Wasserversorgung 4), Mainz 1991. 15 Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 163–188. 16 Vgl. ebd., S. 198. 17 Zum Begriff der „Wegstreckenerzählung“, die durch Handlungsanweisungen einen Raum konzipiert, vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voullié, Berlin 1988, S. 220–226. 18 Vgl. Michael Diefenbacher, Mühlen, in: Diefenbacher/Endres (Hrsg.), Stadtlexikon Nürnberg (wie Anm. 8), S. 703. 19 Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 198.

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Wehre, „darüber das wasser fellet, wenn do güß sein“20, sowie Güßbetten, worunter befestigte Abläufe zu verstehen sind.21 Entlang des Flusses gab es mehrere solcher Einrichtungen, die dazu dienten, bei steigendem Pegel das überschüssige Wasser zu sammeln. Sie mussten regelmäßig gewartet und erneuert werden, wie etwa das Güßbett zwischen dem neuen Fleischhaus und der Mühle, das der Baumeister bereits im Jahr 1463 mit einer Spuntwand und Tannenzweigen hatte verstärken lassen, damit es nicht, „wenn güß sein und das wasser uberfelt, […] als sere spüll, als es sunst theet“.22 Die Unterhaltung des danebenliegenden Wehrs lag jedoch nach Kenntnis des Baumeisters in der Zuständigkeit der beiden anwohnenden Müller, auch wenn es in der Amtszeit seines Vorgängers Hans Colers durch städtische Arbeiter errichtet worden war. Doch geschah dies auf ausdrücklichen Wunsch der beiden Müller, die dafür auch anteilig bezahlt hatten, womit die Zuständigkeit nach Tuchers Ansicht eindeutig belegt war.23 Die Müller waren eine der Gruppen in der Stadt, die am stärksten von der Ressource Wasser abhängig waren, zugleich aber auch großen finanziellen Nutzen aus der exponierten Lage am Wasser zogen.24 In der Hauptsache waren die mittelalterlichen Mühlen Nürnbergs Getreidemühlen, doch wurde die Wasserkraft zunehmend auch von anderen Handwerken genutzt. So hatte die oben erwähnte Sandmühle bereits im 14. Jahrhundert 18 Mühlräder, mit denen nicht allein Korn gemahlen wurde, sondern die auch zur Tuch- und Lederherstellung eingesetzt wurden.25 Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde dann in der Sandmühle unter Beteiligung mehrerer Unternehmen ein mechanisches Verfahren zum Drahtziehen mittels Wasserkraft entwickelt.26 Mit ihrer intensiven Nutzung des Wassers als Ressource, die zudem bedeutende Eingriffe in den Flusslauf erforderlich machte, traten die Mühlenpächter und -besitzer jedoch in Konkurrenz zu den Interessen der übrigen Stadtbewohner, weshalb die Mühlen zu einem der zentralen Krisen- und Konfliktpunkte wurden.27 Ihnen galt im Fall einer drohenden Katastrophe die besondere Sorge des 2 0 2 1

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2 5 2 6 27

Vgl. ebd., S. 199. Vgl. Regina Keyler, Glossar, in: Christian Keiler/dies. (Hrsg.), Serielle Quellen in südwestdeutschen Archiven (Publikationen des Württembergischen Geschichts- und Altertumsvereins), Stuttgart 2005, S. 141–153. Vgl. Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 201. Vgl. ebd., S. 202. Vgl. Hartmut Frommer, Mühlenrecht, in: Diefenbacher/Endres (Hrsg.), Stadtlexikon Nürnberg (wie Anm. 8), S. 703f.; sowie ders., Wassergerechtigkeiten, in: ebd., S. 1159. Vgl. hierzu Jürgen Franzke (Hrsg.), Räder im Fluss. Die Geschichte der Nürnberger Mühlen, Nürnberg 1986. Vgl. Horst-Dieter Beyerstedt, Gwichtmacher, Familie, in: Diefenbacher/Endres (Hrsg.), Stadtlexikon Nürnberg (wie Anm. 8), S. 392. Vgl. etwa die von Tucher beschriebene Auseinandersetzung des Rates mit einer Müllerin über eine Waschbank in der Nähe ihrer Mühle, „die solt do pleiben. wiewol sie die mül-

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städtischen Magistrats, da eine ungehinderte Versorgung mit Mehl die Lebensgrundlage aller Stadtbewohner sicherte. Zugleich aber versuchte der Rat der Stadt, wie das Baumeisterbuch zeigt, die Müller an den Lasten der präventiven wie akuten Gefahrenabwehr zu beteiligen. Zur Gefahr wurden Pegnitz, Fischbach und die übrigen kleineren Wasserläufe in Nürnberg vor allem in den Wintermonaten: zum einen durch das Eis, das nicht nur Brücken und Stege, sondern auch die an den Ufern liegenden Handwerke beschädigen konnte, zum anderen durch die durch hohe Niederschläge und die Schneeschmelze bedingten regelmäßig wiederkehrenden Hochwasser.28 Deshalb begann der Baumeister bereits zu Michaelis, also am 29. September, mit den notwendigen Vorkehrungen. Dazu gehörte die Reinigung des Fischbachs, der zu diesem Zweck für mindestens eine Woche umgeleitet und trocken gelegt wurde.29 Angekündigt wurde diese Maßnahme acht Tage vorher von der Kanzel zu St. Lorenz „auf das, das sich die verber, lederer und ander am pach darnach wissen zu richten“.30 Die Anordnung macht deutlich, wie sehr neben der P ­ egnitz auch der Fischbach eine wirtschaftliche Ressource darstellte, von der eine ganze Reihe Handwerke abhängig war.31 Für die „abslahung und pesserung des Vischpachs“ hatte der Rat der Stadt eigens drei Fischbachmeister bestellt, die mit ihren Gesellen den Bach, dessen Bett und Ufer im ganzen Stadtgebiet mit Steinen und Brettern befestigt waren, von Kot und Unrat zu reinigen hatten.32 Auch mussten sie Äste, „so in und über den Vischpach hangen und gewachsen, abhawen, dann im winter, so legt sich der schnee darauf und druckt sie in pach und gefreust dann also; doran schwellt sich dann der pach und lauft auß, das sust nit geschicht“.33 Nach Abschluss der Arbeiten gingen die Fischbachmeister in Begleitung zweier Büttel von Haus zu Haus und forderten von jedem Bewohner eine seinem Einkommen entsprechende Abgabe. Die „ferbheuser, pirprewer, lederer, weschin und pader“34, die von der Wasserkraft des Fischbachs abhängig waren und mit dieser ihren Unterhalt verdienten, hatten jeweils zwei Groschen zu zahlen. nerin do nit geren hat, so will sie ein erberger ratt haben, das die leut do waschen […].“ Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 201. 28 Vgl. zu historischen Hochwasserereignissen an Flüssen Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001, S. 218–233; Kay P. Jankrift, Brände, Stürme, Hungersnöte. Katastrophen in der mittelalterlichen Lebenswelt, Ostfildern 2003, S. 49–62. 2 9 Vgl. Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 230. 3 0 Ebd., S. 230. 31 Vgl. Josef Fuchs, Stadtbäche und Wasserversorgung in mittelalterlichen Städten Südwestdeutschlands, in: Sydow (Hrsg.), Städtische Versorgung (wie Anm. 14), S. 29–42. 3 2 Vgl. Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 229. 3 3 Ebd., S. 230. 3 4 Ebd.

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Ebenfalls zu Michaelis, „oder wenn in das not bedunck“, hatte der Baumeister sich um die Einteilung einer Brückenwacht zu kümmern, die von den Zimmerleuten gestellt wurde. Bei Hochwasser hatten sich die Meister mit ihren Gesellen nach einem festen Plan auf den Brücken zu verteilen, um unter der Aufsicht des Stadtbaumeisters auf sie zukommendes Holz und Eischollen unter der Brücke durchzuleiten, damit es sich nicht quer legte und den Pegel noch höher steigen ließ.35 Für diese Arbeit wurden die Zimmerleute vom Baumeister eigens entlohnt, die dazu benötigten Gerätschaften, wie Hacken, Eisschaufeln und Seile, wurden auf Kosten des Rates entlang des Flusses an verschiedenen Stellen bereitgehalten, die im Baumeisterbuch genau vermerkt sind.36 Neben solchen vorbeugenden Maßnahmen setzte der Nürnberger Magistrat auf ein Frühwarnsystem, das auf einem Abkommen mit den am oberen Lauf der Pegnitz gelegenen Städten Hersbruck und Lauf beruhte.37 Jedes Jahr um Weihnachten sollte der Baumeister im Auftrag des Rates diese Städte bitten, sofort eine Botschaft nach Nürnberg zu schicken, wenn ein starker Regen auf den Schnee falle oder er jählings in Bewegung gerate, so dass ein Hochwasser zu befürchten sei.38 Die regelmäßige Investition in ein solches Warnsystem, bei dem der Nürnberger Rat für den Botenlohn aufkam, deutet auf seine Effektivität hin. Voraussetzung dafür waren eine kontinuierliche Wetterbeobachtung und Erfahrung in der Deutung der entsprechenden Phänomene.39 Wenn nun von 3 5 Ebd., S. 250: „und do allen vleiß thu, darmit das holtz, ob im des zufluß, auß dem wasser

gezogen werd, oder aber das durch die prucken leitten und desgleichen die eisschellen auch durch die prucken leitten und darob sein, das sich nichtz an die prucken lege, so sie pest mugen etc.“ 3 6 Ebd., S. 250f. 37 Vgl. Ewald Glückert, Stadt und Fluss – Lauf und die Pegnitz, Oschersleben 2003. 3 8 Vgl. Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 252: „ob sach wer, das ein gereigen in den snee oder der snee sust jehling abgieng, dadurch die Wasser an luffen oder güß wurde, dass sie dann das so sie erst mochten her einem erbergen rat schreiben oder zu wissen thun wollten, darumb ein rat hie pottenlohn ausrichten woll, es seien reittend oder geende potten.“ Ein vergleichbares Warnsystem wurde auch in Kriegszeiten genutzt, um über die Bewegungen der gegnerischen Truppen rechtzeitig informiert zu sein, vgl. Gabriel Zeilinger, Lebensformen im Krieg. Eine Alltags- und Erfahrungsgeschichte des Süddeutschen Städtekriegs 1449/50 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 196), Stuttgart 2007, S. 125–131. 3 9 Vgl. hierzu Christian Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 4), S. 549: „Die Menschen, die an den Flüssen des Ostalpenraumes wohnten, lebten mit der ständigen Wiederkehr des Hochwassers und stellten ihre Vorkehrungen darauf ein. Sie wussten auch um die ­Ursachen von Überschwemmungen, sodass übernatürliche Erklärungen auch im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht nötig waren.“ Siehe auch ders., Überschwemmungen an der Traun zwischen Alltag und Katastrophe. Die Welser Traunbrücke im Spiegel der Bruckamtrechnungen des 15. und. 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Musealverein Wels 33 (2001/02/03), S. 281–327.

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Lauf oder Hersbruck eine entsprechende Warnung erfolgte, hatte der Baumeister als erstes die Müller zu benachrichtigen, damit sie in ihren Mühlen „aufraumen“, so dass das Wasser nicht an seinem Durchfluss gehindert und sich noch höher aufstauen würde. Auch hatte der Baumeister dafür Sorge zu tragen, dass Holz und Bretter, die auf der Insel Schütt oder sonst in der Nähe des Wassers lagerten, beiseite geräumt würden, „darmit nit schad geschee“.40 Den Müllern und ihren Mühlen kam aufgrund ihrer Nähe zum Wasser auch bei Feuer eine besondere Rolle zu.41 Nach Ausweis des Baumeisterbuches hatte „ein erberger ratte hie von gemeines nutz wegen bevolhen, den hernachgeschriben mullnern schleifen und wasserkuffen zu geben ir iedem zwu sprutzen, also wenn feur auß kem, das sie dann furderlich ir pfert an dieselben schleifen setzen und wasser darauf zu füren zu dem fewer“.42 Es handelte sich bei diesen Schleifen um ein schlittenartiges Gestell, mit dem Wasserkuffen, also Fässer zum Feuer geschleppt werden konnten. Für ihre Herstellung war ein eigens von der Stadt angestellter Böttcher zuständig.43 Alle Vierteljahr sollte kontrolliert werden, ob die Spritzen sich noch in den Mühlen befänden, wenn nicht, hatte der ­Müller eine Geldbuße zu zahlen. Alle Spritzen und Kuffen waren mit dem Nürnberger Stadtwappen gekennzeichnet.44 Auch Karren mit Wasserkübeln, Leitern und Feuerhaken sowie lederne Eimer waren in großer Zahl über die gesamte Stadt verteilt, wobei Tucher alle Orte in seinem Baumeisterbuch vermerkte.45 An „acht enden in der stat“ befanden sich Hütten, in denen „ettliche karen, darauf schaff steen, die alle geprennt sein mit einem n“ gelagert wurden.46 Den Schlüssel zu diesen Hütten hatten die in der Nähe diensthabenden Nachtwächter, die diesen Vorrat an mit Wasser gefüllten Scheffeln umgehend zur Feuerstelle bringen sollten.47 Der Rat hatte zudem sechs Feuermeister bestellt, die ebenfalls eigene Spritzen und Eimer hatten, im Falle eines Feuerausbruchs den Zugang zu Haken und Feuerleitern weisen sollten und „retten helfen so sie immer pest mugen, als ir eder des ein püchlein und schrift 4 0

Vgl. Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 252f. Zur Feuerbekämpfung im Mittelalter vgl. Heinz-Karl Junk, Feuerwehr. 1. Allgemein, Mittelund Westeuropa, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 1989, Sp. 422–423; siehe auch Marie L. Allemeyer, Fewersnoth und Flammenschwert. Stadtbrände in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007. 42 Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 141. 4 3 Ebd., S. 106. 4 4 Ebd., S. 141. 4 5 Vgl. etwa die nach den Kirchspielen St. Sebalds und St. Lorenz getrennt geführte Liste der Feuerleitern, ebd., S. 143–145. 4 6 Ebd., S. 142f. 47 Dass die Scheffel bereits mit Wasser gefüllt waren, geht aus den umfangreichen Anordnungen des Baumeisters für den Tag nach einem Feuer hervor, ebd., S. 148. 41

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hat, wie ers halten soll“.48 Das zur Feuerbekämpfung notwendige Wissen wurde demnach nicht nur im Baumeisterbuch, sondern auch in kleinen Handbüchern für die Feuermeister schriftlich festgehalten und weitergegeben. Als oberster Brandschutzmeister fungierte der Schaffer Conrat Gürtler, der bei Feueralarm die zur Hilfe geeilten Menschen anzuweisen hatte, wo sie am schnellsten die entsprechenden Gerätschaften finden könnten.49 Da bei Alarm Dunkelheit die Unübersichtlichkeit der Situation noch verstärken konnte, hatte der Nürnberger Rat verfügt, künftig an den Eckhäusern große Laternen anzubringen, „die man auß hencken solt und liecht dorein stecken, wenn fewer auß kem oder sust bei der nacht ein geleuft wurd“.50 Wie bei Hochwasser kam auch bei Stadtbränden den Zimmerleuten eine besondere Aufgabe zu: „wenn man fewer plest oder anslecht sullen alle gesworen zimmermeister, auch steinmetzen meister mit iren gesellen zu solichem feur komen ir ieder mit einem peihel und ext […] und do helfen redten“.51 Auch die Bader waren verpflichtet, unverzüglich zum Feuer zu kommen, da sie von Berufs wegen über große Wasserbehälter verfügten.52 Wie in anderen Städten wurde die Brandbekämpfung nicht den Anwohnern und anderen herbeieilenden Helfern aus der Nachbarschaft allein überlassen, sondern einzelne Gruppen wurden aufgrund ihrer Fähigkeiten und Erfahrungen zur Unterstützung abgeordnet.53 Während jedoch in Nürnberg auch die „gemeinen Frauen“, also die Prostituierten, zur Hilfe beim Feuerlöschen verpflichtet waren54, war es in Regensburg laut einer Feuerordnung von 1388 allen Frauen verboten, auch nur zum Brandort zu kommen. Den Frauen, die dieses Gebot missachteten, sollten Mantel und Schleier genommen werden und der Erlös daraus vertrunken werden.55 Der Einsatz der Stadtbewohner bei der Feuerbekämpfung war zwar vom Rat verordnet, doch nicht rein gemeinnützig, im Sinne von unentgeltlich. Am Tag 4 8 Ebd., S. 140. 49 Ebd., S. 147.

5 0

Auch über die Standorte dieser Laternen gibt Tucher eine ausführliche Liste, vgl. ebd., S. 145–147. 51 Ebd., S. 147. 5 2 Ebd., S. 147.: „ […] auch die Bader mit iren behalten und schaffen und do helfen redten“. 5 3 Vgl. etwa Gunter Ehrhard/Horst Renner, „Wenn Feuers Brunsten ohnvermuthet entstehen“: Brandschutz und Feuerwehr in Göttingen vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Göttingen 1997; Gerhard Fouquet/Gabriel Zeilinger, Katastrophen im Spätmittelalter, Darmstadt 2011, S. 84–102. 5 4 Vgl. das dem Baumeisterbuch angefügte „Fewerpüchel“ von 1449, Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 328: „Und wenn fewer aufgeet, so sullen von stundan dartzu komen, de gemeynen frawaen, alle ableger, schröter, die knecht in der wag“. 5 5 Vgl. Thomas Engelke, Eyn grosz alts Statpuech. Das „Gelbe Stadtbuch“ der Stadt Regensburg. Forschungen und Edition (Regensburger Studien und Quellen zur Kulturgeschichte 2), Regensburg 1995, S. 443.

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nach dem Brand wurden die Helfer von den Feuermeistern auf dem Rathaus entlohnt. Zudem versuchte der Rat die Effektivität der Brandbekämpfung dadurch zu steigern, dass er gestaffelte Belohnungen für diejenigen aussetzte, die als erste mit vollen Wasserfässern, Kübeln und Eimern oder Leitern an der Unglücksstelle eintrafen.56 Dass diese im Baumeisterbuch festgeschriebenen Anordnungen im Falle eines Brandes auch umgesetzt wurden, zeigt ein Eintrag in der Stadtrechnung vom August 1482, der die Ausgaben des Rates für einen Brand in der Laufergasse auflistet, darunter auch Ersatz für die Wannen der Bader.57 Die Aufzeichnungen des Baumeisters zur Flut- und Feuerbekämpfung dokumentieren die in Nürnberg geübte Praxis, die Tucher von seinen Vorgängern übernommen hatte und an einzelnen Stellen durch eigene Initiative zu verbessern suchte. Dabei konnte er sowohl auf Notizen der vorherigen Baumeister zurückgreifen wie auch auf die Kenntnisse seines Schaffers Conrad Gürtler.58 Durch die systematische Aufzeichnung, die der Baumeister nach Beendigung seiner Tätigkeit 1476 dem Rat schenkte59, gewann die geübte Praxis jedoch normativen Charakter, auch wenn Endres Tucher in seiner Vorrede einräumte, dass es nicht „pei den hernach geschriben stucken und artikeln allweg also besteen oder beleiben solle“. Vielmehr rechnete er damit, dass künftige Baumeister mehr als er wissen würden, „dann sich die ding alle sams teglichs verkeren und endern in ein und ander.“60 Wie schon Sigmund Meisterlin ging also auch Endres Tucher von der Möglichkeit des Lernens und des Fortschritts bei der Ausübung seines Amtes aus. Mehrfach durchschreitet der Baumeister bei der Niederschrift seiner Aufgaben und Kenntnisse gedanklich die Stadt mit ihren einzelnen Stadtteilen. Das Wissen über Hochwasser- und Feuerschutz wird zum Gegenstand eines „cognitive mapping“.61 Zugleich präsentiert er auf diese Weise eine Sicherheitspolitik des

5 6 Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 148f. 57

Vgl. Jahrbücher des 15. Jahrhunderts, in: Karl Hegel (Hrsg.), Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg. 4. Bd. (Die Chroniken der Deutschen Städte 10), Leipzig 1872, S. 368 mit Anm. 1: „Item 32 guldin Lanndswerung 1 lb n. 12 ß 4 hlr. sind mit allen dingen auf leschung des fewrs am pfintztag zu nacht vor Laurencii (8. Aug.) zwischen zwei und drei orn an der innern Lauffergassen aufgegangen […] 2 lb n. 14 ß 6 haller für ettlich wannen von den badern genommen und auf ettlich sleiffen gebunden.“ 31. August: „Item 1 ½ guldin lanndswerung den bader am Irherbade und dem Morlein, barbirer, artzgeltz von dem der im fewr an Lauffergassen zu tode verprunnen ist.“ 5 8 Vgl. zu seinen Vorlagen Mummenhoff (Hrsg.), Lutz Steinlingers Baumeisterbuch (wie Anm. 13), S. 16f. 59 Vgl. von Weech, Einleitung (wie Anm. 11), S. 14. 6 0 Lexer (Hrsg.), Baumeisterbuch (wie Anm. 10), S. 17f. 61 Vgl. zum Konzept des „cognitve mapping“ Kevin Lynch, Das Bild der Stadt, Berlin 1965; Frederic Jameson, Zur Logik der Kultur des Spätkapitalismus, in: Andreas Huyssen/Klaus

Katastrophen als Gegenstand spätmittelalterlicher Sicherheitspolitik 345

Rates, die ganz Nürnberg erfasste.62 Nach Stadtvierteln geordnet vermitteln die über mehrere Seiten gehenden Auflistungen der Aufbewahrungsorte von Karren, Kübeln und Leitern die Vorstellung, der Magistrat könne mit seinen Sicherheitsmaßnahmen jeden Winkel der Stadt erreichen. Eine ähnlich umfassende Strategie der Sicherheitserzeugung lässt sich bei Einrichtung und Verteilung der verschiedenen Ämter und Aufgaben zur Gefahrenabwehr beobachten. Brücken- und Feuermeistern, Müllern, Zimmerleuten und Badern wurde die Verantwortung für einzelne Bezirke der Stadt übertragen, in denen sie für Sicherheit zu sorgen hatten. Auf diese Weise blieb die Sicherheit der Stadt kein Abstraktum, sondern wurde in den jeweiligen Stadtvierteln verortet und rückte in die unmittelbare Nachbarschaft der einzelnen Bewohner. Das Baumeisterbuch repräsentiert damit ein für das Mittelalter typisches Konzept von Sicherheit. Diese wird von Endres Tucher nicht als abstrakter Zustand einer umfassenden Integrität der Stadt vorgestellt, sondern mit Bezug auf konkrete Räume, Institutionen und Personen gedacht.63 So wie er künftigen Baumeistern regelmäßige Kontrollgänge durch die Stadt empfiehlt, so schreitet er in seinem Buch von Ort zu Ort, um Risiken aufzudecken und mögliche Gefahrenpunkte zu beseitigen. Erst die Sicherung dieser einzelnen Elemente konnte die Integrität des Gemeinwesens gewährleisten. Tucher tritt dabei stets als umsichtiger Experte der städtischen Obrigkeit auf, die ihrem Anspruch nach Sachwalter der Sicherheit in der ganzen Stadt sowie deren Umland war.64

R. ­Scherpe (Hrsg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45–101, hier S. 96–98. 6 2 Vgl. zur Sicherheitspolitik des Nürnberger Rates auch die Vielzahl der Verordnungen in den Quellen zur Geschichte und Kultur des Stadt Nürnberg, Bd. 3: Satzungsbücher und Satzungen der Reichsstadt Nürnberg aus dem 14. Jahrhundert, hrsg. im Auftrag des Stadtrats zu Nürnberg vom Stadtarchiv, Nürnberg 1965; sowie für die Frühe Neuzeit Wolfgang Wüst, Die „gute Policey im Reichskreis, Bd. II: Der Fränkische Reichskreis, Berlin 2003. Siehe auch Ulf Dirlmeier, Die kommunalpolitischen Zuständigkeiten und Leistungen süddeutscher Städte im Spätmittelalter, in: Sydow (Hrsg.), Städtische Versorgung (wie Anm. 13), S. 113–150. 6 3 Vgl. Michel Foucault, Von anderen Räumen, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. IV, 1980–1988, hrsg. von Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt a. M. 2005, S. 931–942, hier S. 932: „Im Mittelalter war der Raum eine hierarchisierte Menge von Orten, von heiligen und profanen Orten, von geschützten und freien oder schutzlosen Orten, von städtischen und ländlichen Orten (so viel zum realen Leben der Menschen).“ 6 4 Zum Begriff des Experten vgl. Björn Reich/Frank Rexroth/Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne (Historische Zeitschrift. Beihefte 57), München 2012.

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II.  Der Weg des Wassers und die Ordnung der Katastrophe

Die Auswirkungen einer Flutkatastrophe kannte Endres Tucher aus eigener Erfahrung. In dem wahrscheinlich von ihm gemeinsam mit seinem Onkel Berthold verfassten Tucher’schen Memorialbuch beschreibt er eines der Nürnberger Hochwasser mit knappen Worten:65 „Item 1445 jar am pfintztag vor sant Gregoren tag. in der vasten vor tags kom die groß guß, do stieß es die pogen ein pey dem grossen thurn am wasser.“66 Ein großer Teil der spätmittelalterlichen Schilderungen von Naturextremen gleicht in Umfang und Stil dieser kurzen und nüchtern wirkenden Beschreibung des Geschehens. Sie beschränken sich zumeist auf die Angabe von Datum und Tageszeit, eine Klassifizierung des Ereignisses als groß oder besonders groß sowie auf die Dokumentation der Schäden und ähneln darin den chronikalischen Erwähnungen von Kriegsereignissen.67 Vom Hochwasser des Jahres 1445 bietet eine zeitgenössische anonyme Chronik aus Nürnberg dagegen einen sehr ausführlichen Bericht, der eine ähnliche narrative Struktur aufweist wie das Baumeisterbuch.68 Wie Tucher folgt der Chronist dem Weg des Wassers und berührt dabei die neuralgischen Punkte der Stadt, die durch die Flut gefährdet oder zerstört wurden. Auf diese Weise bildet sein Katastrophenbericht eine Art Komplementär zu der Sicherheitserzählung des 6 5 Endres Tucher wurde 1423 in Nürnberg geboren. Nach einem Aufenthalt in Venedig 1437

hielt sich der zum Zeitpunkt der Flut 18jährige wahrscheinlich wieder in Nürnberg auf. Die Abfassung des Memorialbuchs wird er ungefähr zeitgleich begonnen haben, vgl. ­Helgard Ulmschneider, Tucher, Berthold III. und Endres II. in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 9, 2. Aufl. Berlin 1995, Sp. 1121–1125, hier 1122; Theodor von Kern, Einleitung, in: Karl Hegel (Hrsg.), Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg, Bd. 4 (Die Chroniken der deutschen Städte 10), Leipzig 1872, S. 3–13, hier S. 9. 6 6 Tucher’sches Memorialbuch, in: Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg. 4. Bd. (wie Anm. 65), S. 3–28, hier S. 23f. Vgl. auch Matthias Kirchhoff, Gedächtnis in ­Nürnberger ­Texten des 15. Jahrhunderts. Gedenkbücher, Brüderbücher, Städtelob, Chroniken (­Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 68), Nürnberg 2009, S. 55–76. 67 Vgl. etwa die Quellenbelege bei Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 4), S. 216–231; sowie die Zusammenstellung bei Curt Weikinn, Quellentexte zur Witterungsgeschichte Europas von der Zeitwende bis zum Jahre 1850: Hydrographie, Teil 1 (Zeitwende – 1500) (Quellensammlung zur Hydrographie und Meteorologie 1,1), Berlin 1958. Zur chronikalischen Darstellung von Kriegsereignissen vgl. Stefanie Rüther, Alltäglichkeit und Entgrenzung. Zum Bild des Krieges in der spätmittelalterlichen Chronistik, in: Birgit Emich/­Gabriela ­Signori (Hrsg.), Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit (Beiheft der Zeitschrift für Historische Forschung 42), Berlin 2009, S. 33–60. 6 8 Vgl. Chronik aus Kaiser Sigmunds Zeit bis 1434, mit Fortsetzung bis 1441, in: Karl Hegel (Hrsg.), Die Chroniken der Fränkischen Städte. Nürnberg, Bd. 1 (Chroniken der deutschen Städte 1), Leipzig 1862, S. 344–414, hier S. 411–413; siehe hierzu auch Helgard Ulmschneider, Chronik aus Kaiser Sigmunds Zeit (1126–1438/41), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1, 2. Aufl. Berlin 1978, Sp. 1249f.

Katastrophen als Gegenstand spätmittelalterlicher Sicherheitspolitik 347

Baumeisters. Nach der obligatorischen Zeitangabe wird das Ausmaß der Katastrophe durch die topische Versicherung gekennzeichnet, dass kein Mensch ein solches Hochwasser jemals erlebt habe.69 Als bedeutendster Schaden wird auch hier gleich zu Beginn der Einsturz des besagten Schwipbogens genannt, der den inmitten der Pegnitz stehenden Schleierturm mit dem Ufer verband. Es folgen die Brücken und Stege in und vor der Stadt, die durch die Flut schwer beschädigt wurden. So wird berichtet, dass „man mußt ettlich brucken beschweren und raiteln und binden“70, ein Hinweis auf den Einsatz der im Baumeisterbuch angeordneten Brückenwacht. Die exponierte Stellung der Mühlen durch ihre Lage am Wasser und ihre Bedeutung für die Versorgung des Gemeinwesen spiegelt sich auch hier wider: „und thett auch großen schaden an den mülen, das man ettlich tag on weiß brot mußt sein, daran man mangel hett.“71 Ein weiterer für das städtische Selbstverständnis bedeutsamer Ort war das Hospital, das durch den Rat verwaltet und aus Stiftungen finanziert als Manifestation einer gemeinschaftlich geübten bürgerlichen Caritas verstanden ­wurde.72 Das Wasser drang durch die Fenster in das unmittelbar am Ufer gelegene Gebäude ein und „ertrencket in dem spital vil biers und bettgewants und ander ding auch“.73 Bei diesem Schaden handelte es sich um den Verlust städtischen Gutes, weshalb der Chronist ihn möglichweise für besonders erwähnenswert hält. Weiterhin berichtet er, wie die Insassen des Hospitals in die oberen Stockwerke getragen und dort in Sicherheit gebracht wurden. Die gemeinsame Fürsorge für die Insassen wurde also auch während des Hochwassers nicht aufgegeben. Mit Brücken, Mühlen und Hospital waren die Schäden benannt, die das gesamte Gemeinwesen betrafen. Daran anschließend verfolgt die Erzählung entlang einzelner Wegmarken wie Brücken oder markanten Gebäuden den Weg des Wassers, um schließlich eine allgemeine Bilanz der Schäden zu ziehen: „und ertrencket den Leuten gar viel und thett auch gar groß scheden in kellern, in den underen gemechen und die kachelofen schwummen in den stuben, die uf der erden waren.“74 An dieser Stelle wird deutlich, dass der Chronist das Hoch 6 9

Chronik aus Kaiser Sigmunds Zeit (wie Anm. 68), S. 411: „und was so groß, daß kein mensch so alt was, daß es ie mer so groß wer gewest als zu dem mal und thett großen schaden“. Zu den topischen Elementen mittelalterlicher Hochwassererzählungen vgl. Rohr, Extreme Naturereignisse (wie Anm. 4), S. 93–95. 70 Chronik aus Kaiser Sigmunds Zeit (wie Anm. 68), S. 411. 71 Ebd. 7 2 Vgl. Michael Diefenbacher, 650 Jahre Hospital zum Heiligen Geist in Nürnberg 1339–1989: Eine Ausstellung des Stadtarchivs Nürnberg 9. November – 1. Dezember 1989; sowie all­ gemein Martin Scheutz (u. a.) (Hrsg.), Europäisches Spitalwesen – institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wien (u. a.) 2008. 7 3 Chronik aus Kaiser Sigmunds Zeit (wie Anm. 68), S. 412. 74 Ebd.

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wasser aus der Perspektive der städtischen Oberschicht beschreibt, denn nur die Bürgerhäuser waren mit Vorratskellern und Kachelöfen ausgestattet.75 Deren Reichtum gründete sich vornehmlich auf den Handel, dessen Beeinträchtigung ebenfalls thematisiert wird. Das Wasser habe in den Gassen so hoch gestanden, dass es über den Pferden zusammengeschlagen sei und die Wagen ins Schwimmen gerieten.76 Um vom Stadtteil St. Sebald auf die andere Seite nach St. Lorenz zu kommen, habe man „auf Schiffen und auf wägen und auf kärren“ fahren müssen. Gerade Menschen, die mit Booten durch überflutete Straßen fahren, bilden einen festen Bestandteil von Hochwassererzählungen, der sich von der spätmittelalterlichen Chronistik über die frühneuzeitlichen Flugschriftenliteratur bis hin zur modernen Medienberichterstattung nachweisen lässt. Abschließend werden die Personen genannt, „die bey dem Wasser saßen“ und denen „großer schad widerfuhr“.77 Betroffen waren vor allem die Handwerker und Dienstleister, die in der Nähe des Ufers siedelten, weil sie zum Erwerb ihres Lebensunterhalts auf den Zugang zum Wasser angewiesen waren, so wie der Schleifmeister und seine Frau, in dessen „schleifheuslein […] das waser genaw eins mans tief “ eingedrungen war, so dass sie nicht herauskommen konnten, ebenso wie „ettliche leut in einem heuslein bey der drottzieher mül“.78 Der Schleifmeister und seine Familie, die sich auf das Dach der Mühle gerettet hatten, konnten jedoch schließlich vom Stadtkoch per Schiff gerettet werden.79 Die Katastrophenerzählung des anonymen Chronisten gliedert sich so entlang der räumlichen wie sozialen Struktur der Stadt, die dadurch im Moment ihrer Bedrohung erneut festgeschrieben wird.80 Für den Straßburger Kleriker Jacob Twinger von Königshofen bildeten Naturextreme und Katastrophen wichtige Gliederungspunkte für seine zu Beginn des 15. Jahrhunderts verfasste Geschichte Straßburgs.81 Unter entsprechenden 75

Vgl. Wilhelm Schwemmer, Das Bürgerhaus in Nürnberg, Tübingen 1972, S. 52f., 113–118; Hans-Günther Griep, Kleine Kunstgeschichte des deutschen Bürgerhauses, 2. Aufl. ­Darmstadt 1992, S. 250 und 265. 76 Chronik aus Kaiser Sigmunds Zeit (wie Anm. 68), S. 412: „und was auch so tief mit waßer in etllichen gaßen, daß (es) etllichen enden uber die pferden schlug oder daß die wägen ein wenig schwummen und wollten umb sein gefallen.“ 7 7 Ebd. 78 Ebd., S. 413. Es handelt sich dabei um oben bereits erwähnte Sandmühle. 79 Ebd., S. 413: „aber zu dem schleifhaus da wagt sich zu der zeit der stattkoch für ander leut auf eim schiff und füret den schleiffer und sein frawen und seine kint auf dem schif heraus.“ 8 0 Vgl. Ernst Riegg, Brandkatastrophen und stadtbürgerliche Identität. Die Wahrnehmung von Stadtbränden in der städtischen Chronistik, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte = Revue d’histoire 10 (2003), S. 130–143. 81 Vgl. zu Jacob Twinger von Königshofen Klaus Kirchert, Städtische Geschichtsschreibung und Schulliteratur. Rezeptionsgeschichtliche Studien zum Werk von Fritsche Closener

Katastrophen als Gegenstand spätmittelalterlicher Sicherheitspolitik 349

Überschriften wie etwa „von brenden zu Stroßburg“ oder „von Sterbotten und anderungen zu Stroßburg“82 berichtet er von Stadtbränden, Erdbeben, Seuchen­ zügen und extremen Wetterverhältnissen sowie deren Konsequenzen wie Missernten und Teuerungen, aber auch von Judenverfolgungen und Änderungen der Stadtverfassungen. In diesem Kontext finden sich bei Twinger von Königshofen – anders als in der Nürnberger Chronistik – mehrfach Schilderungen von Bittprozessionen, die man zur Abwehr solcher Gefahren in Straßburg veranstaltete.83 Im Februar 1401 etwa wurde angesichts anhaltender Regenfälle und drohender Missernten ein Kreuzgang angeordnet, mit dem man Gott um gutes Wetter bitten wollte.84 Twinger referiert die genaue Ordnung der Prozession, in der alle Kirchspiele, Stifte und Klöster mit dem Heiligen Sakrament durch die Stadt zum Münster ziehen sollten. Angeführt von Schülern mit Fahnen wurde sie von den Predigern und Domherren eröffnet; hinter ihnen gingen das Kreuz tragend die Franziskaner. Das Zentrum bildet das von Kerzen und Schellen be­gleitete Sakrament, gefolgt von den Männern der Stadt. Die Frauen gingen hinter einer von den Predigerbrüdern getragenen Marienstatue. Die Prozession stellte eine Möglichkeit dar, die soziale Ordnung der Stadt angesichts einer drohenden Katastrophe in Szene zu setzen.85 In ihrem Zentrum standen sichtbar für alle Gott und Maria, denen mit der Prozession, ebenso wie den Klerikern und ­Ordensbrüdern, eine zentrale Rolle für die Produktion von Sicherheit zugewiesen wurde. Als soziale Praxis fügte sich die Bittprozession demnach nahtlos in das beschriebene Muster mittelalterlicher Sicherheitserzeugung ein.86

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und Jakob Twinger von Königshofen (Wissensliteratur im Mittelalter 12), Wiesbaden 1993, S. 20–46. Vgl. Chronik des Jacob Twinger von Königshofen. 1400 (1450) [Zweiter Teil], in: Karl ­Hegel (Hrsg.), Die Chroniken der oberrheinischen Städte, Bd. 2: Straßburg (Chroniken der deutschen Städte 9), Leipzig 1871, S. 499–917, hier S. 751 und S. 769. Vgl. etwa ebd., S. 770 und S. 773. Siehe auch Gabriela Signori, Ritual und Ereignis. Die Straßburger Bittgänge zur Zeit der Burgunderkriege (1474–1477), in: HZ 264 (1997), S. 281–327. Chronik des Jacob Twinger von Königshofen (wie Anm. 82), S. 773: „Do men zalete 1401 jor, 8 tage noch der liehtmesse, do wart ein crüzegang zuo Strosburg gemaht umb guot wetter: wan es regente vil tage annander, daz men zuo ernen kume gesnyden möhte, und was gros breste an korne und an andern frühten in dem lande. herumb wart dirre crüzeganc ufgesetzet, got zuo bittende umb guot wetter.“ Vgl. Andrea Löther, Prozessionen in spätmittelalterlichen Städten. Politische Partizipation, obrigkeitliche Inszenierung, städtische Eintracht, Köln/Weimar 1999; Marian Füssel, Hierarchie in Bewegung. Die Freiburger Fronleichnamsprozession als Medium sozialer Distinktion in der frühen Neuzeit, in: Horst Carl/Patrick Schmidt (Hrsg.), Stadtgemeinde und Ständegesellschaft. Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt, Berlin u. a. 2007, S. 31–55. Vgl. Jean Delumeau, Rassurer et protéger. Le sentiment de sécurité dans l’occident d’autrefois, Paris 1989; Heinrich Dormeier, Pestepidemien und Frömmigkeitsformen in Italien und

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III. Fazit

Im Hinblick auf vormoderne Sicherheitskonzeptionen stellt das ausgehende Mittelalter eine Umbruchs- und Formationsphase dar. So lässt sich für das 15. Jahrhundert die zunehmende Bedeutung einer regional begrenzten Sicherheitsproduktion beobachten, die auf die Abwehr konkreter Gefahren durch Normierungen und Verordnungen zielte. Die Anordnungen, die der Nürnberger Baumeister Endres Tucher zur Bekämpfung von Stadtbränden und zur Eindämmung des Hochwassers festhielt, lassen sich zu großen Teilen mit den „juridisch-rechtlichen Mechanismen“ identifizieren, die Foucault als die dominierenden Regierungstechniken im Umgang mit Gefahren am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit ausgemacht hat.87 Die möglichst vollständige Sicherung der gesamten Stadt gegen Feuer und Wasser wurde zur handlungsleitenden Fiktion, die der additiven Logik eines je mehr desto sicherer folgte. Die Eindämmung und Abwehr der Naturgefahren konnte dabei ebenso auf der physischen Ebene, etwa durch Brandmauern oder Brückenwachten, wie auf der metaphysischen Ebene durch Prozessionen und Gebete erfolgen. Beide Modi der Sicherung des Gemeinwesens unterlagen der Verantwortung und Aufsicht des Rates, der zu ihrer Umsetzung im ausgehenden Mittelalter auf eine wachsende Zahl von Sicherheitsexperten wie den Baumeister zurückgreifen konnte. An den Praktiken dieser Form der Sicherheitserzeugung waren aber nicht alle Bewohner der Stadt in gleichem Maße beteiligt, wie auch nicht jeder von ihnen im gleichen Maße profitierte. Vielmehr spiegelte sich der segmentierte Charakter der Stadtgemeinde auch in der Art des Umgangs mit Risiko und Gefahr wider. Besonders deutlich wird das in den Aufschreibesystemen, mit denen die Schutz- und Sicherungsmaßnahmen systematisiert und das Ausmaß bisheriger Katastrophen schriftlich festgehalten wurden.88 In ihnen konnten die Bewohner Nürnbergs die soziale Welt, in der sie lebten, bestätigt sehen und sich sicher fühlen. Die narrativen Strukturen der prospektiven wie retrospektiven Katastrophenerzählungen hatten damit Teil an der Konstruktion einer spezifischen Sicherheit. Diese beruhte nicht auf dem Versprechen einer völligen Unversehrtheit von Leib und Gut jedes einzelnen Bürgers, sondern gründete sich in dem Vertrauen auf eine soziale Ordnung, der sich selbst der Lauf des Hochwassers unterzuordnen schien und die auch dann noch Bestand hatte, wenn die Welt aus den Fugen geriet.

Deutschland (14.–16. Jahrhundert), in: Manfred Jakubowski-Tiessen/Hartmut Lehmann (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, S. 14–50. 87 Vgl. Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (wie Anm. 6), S. 22f. 8 8 Vgl. zum Begriff der Aufschreibesysteme Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme. 1800 – 1900, 4. Aufl. München 2003, S. 501.

Marie Luisa Allemeyer

„Es lässt sich eine völlige Sicherheit gegen das Wasser verschaffen.“ Zum Diskurs über die Beherrschbarkeit des Meeres in einer frühneuzeitlichen Küstengesellschaft.1 Lässt man den Blick über die Marschregion an der deutschen Nordseeküste schweifen, so gewinnt man von dieser Landschaft einen ersten Eindruck, der sich auch nach eingehenderer Beschäftigung mit ihr bestätigt: Das herausragende Element der Marsch ist der Deich. So genannte Haupt- oder Seedeiche, die heute eine Höhe von bis zu 9 Meter und eine Basis von bis zu 70 Meter haben, trennen das amphibische Vorland und das sich anschließende Wattenmeer auf der einen von den agrarisch genutzten Ländereien auf der anderen Seite. Weiter im Binnenland bilden zahlreiche niedrigere, so genannte Mittel- oder Schlafdeiche ein wabenartiges Muster. Sie waren einstmals ebenfalls Außendeiche, die direkt ans Meer grenzten. Mit der Eindeichung von Landflächen, die durch Sedimentation jenseits der Seedeiche entstanden, konnten aber wiederum neue „Köge“ oder „Polder“ gewonnen werden, so dass die jeweils älteren Deiche im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte weit ins Landesinnere rückten. Neben seinem augenfälligen Einfluss auf die Morphologie des Landes bildete der Deich aber vor allem die Voraussetzung für eine dauerhafte Besiedlung der Marsch. Etwa seit dem 11. Jahrhundert bemühten sich die Bewohner der norddeutschen Küstenregion darum, das von ihnen genutzte Land mithilfe von Deichen vor Überflutungen zu schützen und nach Möglichkeit zu vergrößern. Verliefen ihre Anstrengungen erfolgreich, führten sie im Allgemeinen zu einer Ausweitung des Landes in nord-westliche Richtung, wohingegen Sturmfluten und Überschwemmungen den Meeresraum wiederum in südliche und östliche Richtung vergrößern konnten. Ihren sichtbaren Niederschlag fanden diese beiden gegeneinander gerichteten Bewegungen im Verlauf der Küstenlinie. Während der Küstensaum durch Eindeichungen und Trockenlegungen in ehemals vom Meer überschwemmte Bereiche vorgeschoben wurde, konnte sich dieser infolge von Sturmflut und langsamen Abspülungen ebenso wieder in einstmals bewohnte und agrarisch genutzte Bereiche hinein verlagern.2 Langfristig betrachtet gelang es den Menschen allerdings, das von ihnen besiedelte Land zu vergrößern und die agrarische 1

Zum selben Thema – jedoch ausführlicher – siehe Marie L. Allemeyer, Bauen und Beten gegen den Blanken Hans. Der Deich als Ort physischer und metaphysischer Begegnung zwischen Mensch und Meer, in: Cardanus – Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte (i. E.). 2 Vgl. Dirk Meier, Frühe Besiedlungsmuster und der Wandel des Naturraumes zur Kulturlandschaft in Eiderstedt und Dithmarschen, in: Ludwig Fischer (Hrsg.), Kulturlandschaft

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Nutzfläche relativ erfolgreich dem Einfluss des Meeres zu entziehen. Der von den Marschenbewohnern errichtete Deich schützte dabei das Land, den Besitz sowie das Leben der dort ansässigen Bevölkerung. In ihm fand das Verhältnis zwischen Mensch und Meer gewissermaßen seinen sinnbildlichen Niederschlag. Er markiert die Trennungslinie zwischen dem für den Marschenbewohner bedrohlichen „wilden Meer“ und dem von ihm neugewonnenen, kultivierten Land – zwischen der lebensfreundlichen „Binnen-“ und der lebensfeindlichen „Butenwelt“.3 Bis die unter dem Begriff der „Aufklärung“ zusammengefassten Entwicklungen das religiös geprägte Weltbild ins Wanken brachten und sich neben der metaphysischen Weltsicht alternative Deutungs- und Wahrnehmungsweisen etablierten, galten Mensch und Natur unbestritten als Teil der göttlichen Schöpfung, deren gegenseitiges Verhältnis von Gott bestimmt war. Eindeichungen stellten im Rahmen dieser Weltsicht einen Eingriff in die von Gott geschaffene Welt dar, der nur mit dessen Zustimmung und Unterstützung zu realisieren war. Während eine erfolgreich abgeschlossene Bedeichung als ein Zeichen dafür gewertet wurde, dass das von Menschenhand ausgeführte Unterfangen den Segen Gottes erhalten hatte, deuteten die Menschen Deichbrüche und Schäden, die ihnen durch eine schwere Sturmflut widerfahren waren, als Strafen Gottes, die sie durch ihren unchristlichen Lebenswandel heraufbeschworen und verdient hatten. Infolge verheerender Sturmfluten, von denen fast jede Generation der Küstenbevölkerung mindestens einmal betroffen war, entstanden eindringliche und mittlerweile facettenreich untersuchte Zeugnisse zeitgenössischer Deutungs- und Wahrnehmungsweisen.4 Von der Weltsicht der Küstenbewohner zeugen aber nicht nur ihre Reaktionen auf Sturmfluten, sondern in besonderer Weise auch Nordseemarschen (Nordfriisk Instituut 129), Bräist/Bredstedt/Westerhever 1997, S. 45–66, hier S. 45f., 57. 3 Zur Bedeutung des Deiches in der küstennahen Lebenswelt vgl.: Marie L. Allemeyer, „Kein Land ohne Deich…!“ Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 222), Göttingen 2006. 4 Vgl. Manfred Jakubowski-Tiessen, „Erschreckliche und unerhörte Wasserflut“. Wahrnehmung und Deutung der Flutkatastrophe von 1634, in: ders./Hartmut Lehmann (Hrsg.), Um Himmels Willen. Religion in Katastrophenzeiten, Göttingen 2003, S. 179–200; ders., Gotteszorn und Meereswüten. Deutungen von Sturmfluten vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: Dieter Groh/Michael Kempe/Franz Mauelshagen (Hrsg.), Naturkatastrophen. Zu ihrer Wahrnehmung, Deutung und Darstellung von der Antike bis zum 20. Jahrhundert (Literatur und Anthropologie 13), Tübingen 2002, S. 101–118; ders., Die großen „Mandränken“. Sturmfluten in Nordfriesland, in: Thomas Steensen (Hrsg.), Das große Nordfriesland-Buch, Hamburg 2000, S. 122–133; ders., Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatastrophe in der Frühen Neuzeit, München 1992; Kay P. Jankrift, Brände, Stürme, Hungersnöte. Katastrophen in der mittelalterlichen Lebenswelt, Ostfildern 2003; Mara Wade, The Fifth Horseman. Discourses of Disaster and the „Burchardi Flut“ 1634, in: Daphnis 24 (1995), Heft 2/3, S. 301–328; Zur Historiografie über die Wahrnehmung und Verarbeitung von Naturkatastrophen vgl.: Uwe Lübken, Zwischen Alltag und Ausnahmezustand. Ein

Die Beherrscharbeit des Meeres 353

die Maßnahmen, die sie ergriffen, um solche Katastrophen nach Möglichkeit zu verhindern. Der Fokus dieses Beitrages ist daher nicht auf die Bewältigung erlittenen Schadens gerichtet, sondern auf den „Tag vor der Katastrophe“, mithin also auf die Strategien, die die Menschen entwickelten, um der vom Meer ausgehenden Gefahr, die ihre Lebenswelt prägte, zu begegnen. In der nordeuropäischen Küstenregion lässt sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts eine Fortentwicklung der Deichbautechnik auf mathematisch-naturwissenschaftlicher Grundlage sowie die Ausbildung neuer sozialer Sicherungssysteme beobachten. Beide Entwicklungen lassen sich in den allgemein am Vorabend der Aufklärung feststellbaren Einstellungswandel der Menschen gegenüber ihrem Schicksal einordnen.5 Dieser Einstellungswandel war aber nach wie vor in ein Weltbild eingebettet, in dessen Rahmen die Rechtmäßigkeit menschlicher Eingriffe in die von Gott geschaffene Ordnung zumindest in Zweifel gezogen werden konnte. Im Zusammenhang mit der Entscheidung, ob neue Gebiete eingedeicht oder zerstörte Deiche wiederhergestellt werden sollten, wurde daher immer auch die Frage nach der Berechtigung und der Machbarkeit eines solchen Unternehmens gestellt. Die Antwort hing nicht zuletzt von den religiösen Vorstellungen der Marschenbewohner ab. In ihnen konnten sich unterschiedliche Einstellungen der Menschen gegenüber der Natur und insbesondere gegenüber der vom Meer ausgehenden Gefahr ausdrücken. Sie konnte unterschiedliche Konzepte über die Mittel und Möglichkeiten enthalten, mit denen der Mensch glaubte, sich gegen Schäden schützen zu können, die ihm seitens der Natur drohten.6 Etwa seit Beginn des 18. Jahrhunderts lässt sich eine Entwicklung feststellen, in deren Verlauf das Vertrauen der Marschenbewohner in den Deich bzw. in den Schutz, den ihnen der Deich vor dem Meer bot, stetig zunahm. Einige Schriften ermöglichen es, die Übergänge zwischen metaphysischer und säkularer Deutung zu beobachten. Eine – wenn auch nur mittelbar ausgetragene – Kontroverse zwischen einem weltlichen und einem geistlichen Amtsträger illustriert beispielhaft die Überblick über die historiographische Auseinandersetzung mit Naturkatastrophen, in: WerkstattGeschichte 38 (2004), S. 91–100. 5 Vgl. Lorraine Daston, Classical Probability in the Enlightenment, Princeton/NJ u. a. 1988; dies., The Domestication of Risk. Mathematical Probability and Insurance 1650–1830, in: dies./Michael Heidelberger/Lorenz Krüger (Hrsg.), The Probabilistic Revolution, Bd. 1: Ideas and History, Cambridge/MA u. a. 1987, S. 237–260. 6 Als einschlägiges Werk über den Wandel der Beziehung zwischen Mensch und Natur kann nach wie vor gelten: Ruth Groh/Dieter Groh, Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1996. Speziell mit dem Prozess der Säkularisierung der Natur in der Wahrnehmung des Menschen befasste sich Udo ­Krolzik, Säkularisierung der Natur. Providentia-Dei-Lehre und Naturverständnis in der Frühaufklärung, Neukirchen-Vluyn 1988.

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Reibungsflächen zwischen diesen beiden Weltbildern, die sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts allmählich ausdifferenzierten. Der nordfriesische Geistliche Petrus Petrejus verfasste Mitte des 18. Jahrhunderts eine Schrift, in der er sich mit der Frage auseinandersetzte, ob die Menschen eigentlich rechtmäßig handelten, wenn sie durch derartige Maßnahmen das gottgegebene Verhältnis zwischen Meer und Land veränderten oder ob nicht „das Unternehmen, durch Haff-Teiche einen Strich Landes der See zu entreißen, überhaupt bedencklich sey?“7 Petrejus war Propst des Kirchspiels Garding, das sich auf der Halbinsel Eiderstedt, südwestlich von Husum befindet. Er war Seelsorger in einer Gesellschaft, deren Lebenswelt stark durch den Einfluss des Meeres geprägt war, die aber ihrerseits durch Bedeichungs- und Entwässerungsmaßnahmen erheblichen Einfluss auf die naturräumlichen Bedingungen der Küstenregion ausgeübt und die naturgegebenen Lebensbedingungen maßgeblich zu ihren Gunsten verändert hatte. Petrejus beantwortete die Frage in zwei Schritten, indem er sie zunächst auf die aktuelle Situation bezog und sie anschließend in einen weiteren Rahmen stellte. Bei „jetziger Verfaßung“ des Landes sei es nicht nur unbedenklich, sondern sogar notwendig, Deiche zu errichten. Durch die Anschwemmung immer neuer Vorlandflächen entstehe nämlich für die dahinterliegenden eingedeichten Flächen ein massives Entwässerungsproblem, das nur durch Bedeichung und Entwässerung zu lösen sei.8 Anders verhalte es sich allerdings, wenn man die Frage allgemeiner stelle. Dann müsse man wohl zugeben, „dass unßere fresische Uhr-Vorfahren beßer gethan, wenn sie bey der ersten Beschaffenheit und Einrichtung des Landes geblieben wären, und sich nicht durch muhsahmste Verfertigung See- und Haff-Teiche in das tieffste Labyrinth unzehlicher Sorgen ohne noht dringliche Uhrsachen verwickelt hätten.“9 In Petrejus’ Schilderung erscheint diese „erst[e] Beschaffenheit und Einrichtung des Landes“ als Äquivalent zum biblischen Paradies und die vom Menschen hervorgerufene Veränderung des ursprünglichen Zustands als der Sündenfall. Mit der Aufgabe der ursprünglichen Siedlungsform und dem Beginn des Deichbaus seien sie jedoch der „Glückseeligkeit […] guten theils beraubet worden“10; denn dies sei „gleich sahm der erste Krieg gewesen, den sie dem Meer angekündiget, so ihnen aber nachhero gnug zu schaffen gemacht.“11

7

Petrejus’ Handschrift liegt ediert vor: Petrus Petrejus, Von der Stadt und dem Amt Tondern und vom Deichwesen, hrsg. v. Albert Panten/Heinz Sandelmann (Nordfriisk Instituut 120), Bräist/Bredstedt 1993. 8 Petrejus, Von der Stadt und dem Amt Tondern (wie Anm. 7), S. 209. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 223.

Die Beherrscharbeit des Meeres 355

Nach der Einschätzung des Gardinger Propstes stand die Errichtung der ersten Deiche am Beginn eines Vorhabens, das das Vermögen der Marschenbewohner bei weitem überstieg und sie ins Unglück führte: „Sind sie nicht eben dadurch in Mühe und – Arbeit, Jammer und Elend, Noht und Sorgen, durch eigene Schuld gestürtzet worden?“12 Geradezu lakonisch beendete Petrus Petrejus seine Darlegungen mit den Worten: Ob aber unsere Vorfahren nicht wieder die Regeln der Vernunfft gehandelt, dass sie es mit einem Gegenstand der ihnen viel zu mächtig gewesen, von freyen stücken aufgenommen, und sich mit ihren Nachkommen in das Meer unergründlicher Sorgen bey den ungewißeten Ausgang gestürtzet haben, solches laßen wir andere beurteilen. Es hat ihnen indeßen so beliebet.13

Obschon Petrejus vorgab, sich kein Urteil darüber anzumaßen, ob die ersten Bewohner der Marschregion recht gehandelt hatten, als sie das Küstengebiet besiedelten und den Kampf mit den widrigen Gegebenheiten der Natur aufnahmen, kommt seine Position doch klar zum Aus­druck. Zwar hegte er keinen grundsätzlichen Zweifel an der Berechtigung der Menschen, vor­mals unfruchtbares Land zu ihren Gunsten zu verwandeln. Der Besiedlung der Marschregion lag jedoch nach Ansicht des Gardinger Propstes ein Akt der Selbstüberschätzung zugrunde, dessen schwerwiegende Folgen die heutigen Bewohner der Region zu tragen hätten. Rund dreißig Jahre nachdem Petrejus seine Gedanken zu Papier gebracht hatte, dienten sie dem von der Aufklärung geprägten dänischen Regierungsrat und Populärphilosophen Johann Nikolaus Tetens14 als Aufhänger für einen Vortrag, den dieser 1787 vor den Mitgliedern der „Schleswig-Holsteinischen Patriotischen Gesellschaft“ hielt.15 Den Einstieg in das Thema nahm Tetens über einen anonym verfassten Artikel, der 1757 unter dem Titel „Eines Ungenannten Nachricht vom Ursprunge der Deiche in hiesigen und besonders den nordfriesischen Gegenden“ 12 Ebd., S. 210.

13 Ebd., S. 229. 14

Johann Nikolaus Tetens wurde 1736 in Tetenbüll geboren, studierte in Rostock und Kopen­ hagen, wurde 1763 ordentlicher Professor für Physik an der Universität Bützow und l­ ehrte ab 1776 Physik, Philosophie und Mathematik an der Universität Kiel. 1789 nahm er eine Stellung als Assessor des Finanzkollegiums und später als Finanzkassendirektor in Kopenhagen an, wo er 1791 zum Etatsrat und Deputierten im Finanzkollegium ernannt wurde; vgl. Karl-Heinz Voigt, Art. Tetens, Johann Nicolaus, in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, Bd. 4, Neumünster 1976, S. 213–215. 1 5 Johann Nikolaus Tetens, Über den eingedeichten Zustand der Marschländer, und die demselben anklebende Gefahr vor Überschwemmungen, eine Vorlesung, gehalten in der Versammlung der schleswig-holsteinischen patriotischen Gesellschaft den 31ten O ­ ctober 1787 von Joh. Nikol. Tetens, in: Schleswig-Holsteinische Provinzial-Berichte (1787), S. 641– 665.

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im Schleswig-Holsteinischen Magazin erschienen war.16 Tetens zufolge befasste sich der ungenannte Autor mit der Frage, „ob nicht das Eindeichen des Landes an der See bedenklich und verwerflich sei?“17 Diese Infragestellung des Rechts der Menschen, Einfluss auf die ihnen von der Natur vorgegebenen Rahmenbedingungen auszuüben, erregte den Zorn des von der Aufklärung geprägten Philosophen. Tetens überzog den anonymen Autor mit diffamierender Kritik, bezeichnete die Schrift als „eine winselnde Deklamation“ und konstatierte, dass sie „nicht mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie wirklich erhalten hat“.18 Da sich die von Tetens zitierten Sätze fast wörtlich in der oben genannten Handschrift des Gardinger Propstes Petrus Petrejus wieder finden, kann davon ausgegangen werden, dass dessen Manuskript der „Nachricht eines Ungenannten“ zugrunde lag, die allerdings erst 12 Jahre nach Pertrejus’ Tod im Druck erschien. Die von Petrejus aufgeworfene Frage, ob die Vorfahren mit der Bedeichung der Marschen nicht versucht hätten, „dem von Gott einmal gesetzten Grund der Natur durch ihre Deiche Gewalt anzuthun?“,19 kommentierte Tetens mit den vernichtenden Worten: „Man sieht, der Mann lehrt eine Weisheit, die jenes Ministerium in Spanien äusserte, als ein Plan zur Vereinigung zweier Flüsse mittels eines zu grabenden Kanals eingegeben war. Es urtheilte, wenn Gott die beiden Flüsse hätte vereinigt wissen wollen, er selbst es auch würde bewerkstelligt haben.“20 Deutlich tritt Tetens’ Kritik an einer in seinen Augen religiösfatalistischen Haltung in diesem Seitenhieb auf die spanische Regierung zutage, die einen technischen Fortschritt vereitelt habe, weil sie ihn als einen unzulässigen menschlichen Eingriff in die von Gott geschaffene Ordnung auf Erden interpretierte. Bezeichnenderweise betrachtete Tetens diese von ihm angeführte Andeutung bereits als aussagekräftig genug, wes­halb er es nicht für notwendig erachtete, seinen Zuhörern näher zu erläutern, um welches Bau­projekt es sich handelte und aus welchem Grund er Anstoß am Verhalten derjenigen nahm, die sich der Realisation des Projekts entgegenstellten. Indem er Petrejus’ Überlegungen zur Rechtmäßigkeit von Deichbauten mit diesem nur implizit verurteilten Vorgehen der Spanier gleichsetzte, diskreditierte er die Grundeinstellung des Pastors, ohne ihn eines weiteren Wortes zu würdigen. Tetens richtete seine Kritik aber nicht nur gegen die apathische und fatalistische Grundhaltung, die er dem Verfasser der Schrift unterstellte. Er lehnte die 16 Eines

Ungenannten Nachricht vom Ursprunge der Deiche in hiesigen und besonders den nordfriesischen Gegenden; aus einer mitgetheilten Sammlung von Handschriften, in: Schleswig-Holsteinisches Magazin, oder Sammlung vermischter Schriften zur Aufnahme der Wissenschaft und Künste, Glückstadt 1757, S. 267–285. 17 Tetens, Über den eingedeichten Zustand der Marschländer (wie Anm. 15), S. 647. 18 Ebd., S. 646. 19 Eines Ungenannten Nachricht (wie Anm. 16), S. 267. 2 0 Tetens, Über den eingedeichten Zustand der Marschländer (wie Anm. 15), S. 647.

Die Beherrscharbeit des Meeres 357

metaphysische Deutung von Sturmfluten und Flutschäden auch generell ab. In aufschlussreicher Weise stellte er über die Vergangenheit fest: „In den noch ältern Zeiten [d. h. vor 1570] sahe man die Fluthen als Strafen Gottes an, welche durch Deiche abhalten wollen, so viel sei, als dem Arm der Allmacht wehren wollen.“21 Die Interpretation einer Sturmflut als Gottesstrafe geißelte Tetens als „elende[s] Vorurtheil“, das den „Menschenverstand“ lange Zeit daran gehindert habe, „sich von dem Zwek, den man bei Aufführung der Deiche haben konte, und haben sollte, richtige Begriffe zu machen.“22 Diese Worte des Philosophen zeugen von dessen geradezu grenzenlosen Vertrauen in die Schutzfunktion der von Menschenhand errichteten Wehranlagen. Zwei Pfeiler bildeten die Basis für seine Zuversicht. Zum einen war Tetens ganz und gar davon überzeugt, dass Sturmfluten rein rational, naturwissenschaftlich erklärt werden könnten. Mit aller Deutlichkeit sprach sich Tetens dagegen aus, eine Verbindung zwischen dem Verhalten der Menschen und dem Auftreten einer Sturmflut zu suchen, die seiner Auffassung nach einzig und allein Folge eines klimatischen, naturwissenschaftlich zu erklärenden Phänomens sei. Seiner Auffassung nach sei die Vermutung, „dass man selbst durch Aufführung der Deiche die Fluthen gereizet habe, höher zu steigen“, ebenso unbegründet, „als wenn man das Beschiffen des Meers für eine Veranlassung zu grössern Windstürmen ansehen wollte“. Bereits geringe Kenntnisse der Hydrologie würden den Irrglauben verbieten, „man könne durch den Deich die Fluth im Meer reizen, höher zu gehen, als sie ohne dies vom Wind gemacht wird“.23 Den zweiten Pfeiler, auf dem seine optimistische Haltung aufbaute, bildete seine Einschätzung der „Verhaltensweise“ des Meeres: Man hat mit einem Feinde zu thun, der keine Friedensschlüsse noch einen Waffenstillstand kent. […] mit einem Feind […], der offen handelt und sich immer gleich bleibet. Er sieht auf keine neuen Arten des Angrifs und auf keine Kriegslist, ist an allen Orten und zu allen Zeiten derselbige in seinem Verfahren.24

In Tetens’ Beschreibung erscheint das Meer zwar als Feind des Menschen; da es sich aber gewissermaßen „verlässlich“ verhalte, bleibe die von ihm ausgehende Gefahr auch immer gleich und sei dadurch handhabbar. Seitdem man berechnen könne, „wie die Befestigung des Landes, die Deiche und Schleusen, beschaffen sein müssen, um der höchsten Gewalt des Wassers bei den stärksten Fluthen genugsam zu widerstehen“, habe das Meer einen bedeutenden Teil seiner Bedrohlichkeit verloren. Dank der hydrologischen Erkenntnisse sei der Mensch 21 Ebd., S. 660.

2 2 Ebd.

2 3 Ebd., S. 650f. 24 Ebd., S. 653f.

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deshalb mittlerweile in der Lage, sich gegen jegliche vom Meer ausgehende Gefahr abzusichern.25 Voller Technikoptimismus fuhr Tetens fort: Es lässt sich eine völlige Sicherheit für die Marschländer gegen das Wasser verschaffen; eine Sicherheit, welche bei den höchsten Sturmfluthen jeden Grad der Wahrscheinlichkeit überschwemt zu werden, das ist, jede Gefahr ausschließt. […] Man bietet den heftigsten Stürmen und den wüthendsten Wellen Trotz, und schläft hinter den Deichen in Ruhe.26

Deutlicher konnte sich Tetens zum Glauben an die Fähigkeit des Menschen, die Natur durch die Vernunft beherrschen zu können, kaum bekennen.27 Die – wenn auch nicht explizit ausgetragene – Kontroverse zwischen ­Petrus Petrejus und Johann Nikolaus Tetens basierte zweifellos zu einem Teil auf der unterschiedlichen Perspektive, die der Gardinger Propst und der dänische Regierungsrat und Populärphilosoph allein aufgrund ihrer jeweiligen Biographie und gesellschaftlichen Position einnahmen. Es greift deshalb zu kurz, den Unterschied zwischen den beiden Stellungnahmen allein durch den zeitlichen Kontext, in dem sie entstanden sind, zu erklären. Dennoch bezeugt Tetens’ spöttische Abwertung von Petrejus’ Auffassung deutlich seine von der Aufklärung geprägte Geisteshaltung. Sie verweist auf eine Entwicklung, in der die Frage nach der Berechtigung des Menschen, Einfluss auf die von Gott gegebene Natur auszuüben, allmählich in den Hintergrund geriet und die Frage nach den besten Methoden zur Veränderung und Nutzung der Natur, aber auch zur Abwehr der von der Natur ausgehenden Gefahren an ihre Stelle trat. Während in der Kontroverse zwischen Tetens und Petrejus die Positionen gewissermaßen klassisch zwischen dem weltlichen und dem geistlichen Amtsträger verteilt sind, lassen sich zahlreiche weitere Fälle finden, in denen Vertreter unterschiedlicher Berufe – unter ihnen sogar Pastoren – explizit dazu mahnten, bessere – weltliche – Maßnahmen zur Abwehr von Sturmflutschäden zu ergreifen.

2 5 Ebd., S. 655. 2 6 Ebd., S. 657. 27 Ein

Jahr nachdem Johann Nikolaus Tetens den hier erwähnten Vortrag hielt, veröffentlichte er ein umfangreiches Werk über das Deichwesen an der schleswig-holsteinischen Westküste. Den Anlass dafür gab der ihm von der dänischen Regierung erteilte Auftrag, eine Erhebung über den Zustand des Deichwesens in den Herzogtümern durchzuführen (­Johann Nikolaus Tetens, Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaus in Briefen, Leipzig 1788.). In diesem über 450 Seiten umfassenden Werk befasst sich Tetens ausführlich mit dem seiner Ansicht nach äußerst maroden Deich­wesen und benennt als zwei Hauptursachen den „Unverstand“ der Marschenbewohner und ihren nach wie vor bestehenden Hang zur metaphysischen Deutung von Sturmfluten. Vgl. ausführlich zu diesem Werk: Allemeyer, „Kein Land ohne Deich…!“ (wie Anm. 3), S. 215–221, 325.

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Der Pellwormer Pastor Ernst Christian Kruse suchte in einem 1795 erschienenen Aufsatz über die Topographie der Insel Nordstrand28 nach den Ursachen für den Untergang der ehemaligen Landschaft in der Flut des Jahres 1634 auf einer weltlich-pragmatischen Ebene. Er vertrat die Auffassung, dass die Zerstörung der Insel in der so genannten Burchardi-Flut29 einzig und allein auf die nachlässige Deichpflege und den Zwiespalt unter den Inselbewohnern zurückzuführen sei. Jegliche religiöse Deutung der verheerenden Folgen der Sturmflut wies Kruse hingegen von sich: Und wodurch wurde der Untergang dieser Insel mit dem größten Theile ihrer Einwohner veranlasst? – Die gleichzeitigen Annalisten sagen durch ein göttliches Strafgericht über die enormen Sünden der Einwohner. Freilich, wenn man das ein göttliches Strafgericht nennen will, was natürliche Folge des Unsinns, der Sorglosigkeit und Partheilichkeit war, so haben die Annalisten Recht. Aber wenn man jetzt, da man es mit dem Sprachgebrauche genauer nimt, und über die Weltregierung des Schöpfers richtiger urtheilt, die zerstreueten beiläufigen Nachrichten der gleichzeitigen Schriftsteller von diesem Unglück mit einander vergleicht, so sieht man deutlich, dass der Untergang der Insel in nichts anders seinen Grund hatte, wie in dem elenden Zustande der Deiche und des Deichwesens überhaupt. […]. – Freilich wäre Nordstrand, wenn es auch ungleich bessere Deiche gehabt hätte, bei der ungeheuren Fluth […] wol nicht von einer Überschwemmung frei geblieben; aber bei besseren und stärkeren Deichen […] würde sicher das Bassin nicht so geschwinde und so hoch mit Wasser angefüllt worden sein, dass über 2/3 der Einwohner hätten ertrinken können. Es wären also mehrere Menschen beim Leben geblieben, und diese hätten ihre Deiche wiederherstellen und das Land retten können.30

Kruses Erläuterungen über die Ursachen des Untergangs von Alt-Nordstrand stehen im Widerspruch zum klassischen religiösen Deutungsmuster von Sturmfluten. Auffallend ist dabei seine Überzeugung, dass der Flutschaden durch bessere Deiche hätte reduziert oder verhindert werden können. Nach Kruses Auffassung korreliere die Qualität der Deiche unmittelbar mit dem Grad der Sicherheit bzw. mit dem Ausmaß der Gefährdung, dem die Marschenbewohner ausgesetzt seien. Neben seiner ganz und gar auf das weltliche Verhalten der Küstenbewohner gerichteten Ursachendeutung stellte Kruse außerdem fest, dass auch der Wiederaufbau der Insel durchaus zu bewerkstelligen gewesen wäre, wenn mehr Menschen die Sturmflut überlebt hätten. Nach Ansicht des Pellwormer Pastors hatte es folglich in der Hand der Einwohner Alt-Nordstrands gelegen, die 2 8 Ernst C. Kruse, Topographie der Insel Nordstrand vor der Flut von 1634, in: Schleswig-Hol­-

steinische Provinzialberichte 1, 2 (1795), S. 97–127. Die Burchardi-Flut hatte an der gesamten Nordseeküste großen Schaden angerichtet. Von den verheerendsten Zerstörungen war jedoch die ehemalige Landschaft Alt-Nordstrand betroffen; vgl. Boy Hinrichs/Albert Panten/Guntram Riecken, Flutkatastrophe 1634. N ­ atur, Geschichte, Dichtung, Neumünster 1985; Fritz Karff, Nordstrand. Geschichte einer nordfriesischen Insel, 3. Aufl. Hamburg 1978. 3 0 Vgl. Kruse, Topographie der Insel Nordstrand (wie Anm. 28), S. 125f. 2 9

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schweren Schäden der Sturmflut und ihre nachhaltigen Folgen zu verhindern. Der Einfluss Gottes auf das Schicksal der Menschen oder das Wirken des Meeres spielten in seiner Darstellung hingegen keine Rolle. Einen weiteren äußerst bemerkenswerten Aspekt enthalten Kruses Äußerungen im Hinblick auf die allgemeine Interpretation des Ereignisses. Die Deutung der Flut als Gottesstrafe sei mittlerweile nämlich obsolet geworden. Anstatt die Lesart der alten Chronisten einfach zu wiederholen, nehme man es jetzt „mit dem Sprachgebrauch genauer“ und greife auch auf „zerstreute“ und „beiläu­ fige“ Nachrichten über die Zeit der Katastrophe zurück. Sie ermöglichten es, ein umfassendes Bild von den Begleitumständen der Flut zu erhalten. Der sicherlich bemerkenswerteste der von Kruse konstatierten Erkenntnisfortschritte bestand darin, dass die Menschen heutzutage in der Lage seien, „richtig über die Weltregierung des Schöpfers“ zu urteilen. In seinen rund 150 Jahre nach der Burchardi-Flut niedergeschriebenen Ausführungen über die Verheerung auf Alt-Nordstrand proklamierte der Pellwormer Pastor eine Abwendung von der traditionellen Deutung der Katastrophe und forderte dazu auf, das Ereignis auf der Grundlage der überlieferten Dokumente nach zeitgemäßen Maßstäben neu und eigenständig zu interpretieren. Dabei bezeugte der Pastor zwar auf der einen Seite die Allmacht Gottes, suchte die Ursachen für die schwerwiegenden Sturmflutschäden aber auf einer rein weltlichpragmatischen Ebene, indem er die weitgehende Zerstörung der ehemaligen Landschaft Nordstrand ausschließlich auf den schlechten Zustand der Deiche und das marode Deichwesen zurückführte. Es liegt auf der Hand, dass sich nicht nur Seelsorger, Philosophen und Regierungsbeamte mit der Frage befassten, mit welchem Recht und auf welche Weise die Menschen Maßnahmen ergreifen konnten, um sich und ihren Besitz vor den von der Natur ausgehenden Gefahren zu schützen. Zum Abschluss soll deshalb der Blick noch auf jenen Berufsstand gerichtet werden, der sich gewissermaßen „professionell“ mit der Flutabwehr und dem durch die Deiche zu erzielenden Schutz vor dem Meer befasste. Gemeint sind die Deichbautechniker, die ihr hydrologisches Wissen und ihre Deichbaumethoden in Traktaten und Anleitungen einem breiten Publikum vorstellten. Aus nachvollziehbaren Gründen war in diesen Schriften kein Raum für Zweifel an der „Legitimität“ und „Wirksamkeit“ von Deichbauten. Sie zeugen vielmehr besonders deutlich von einer durch die Aufklärung bestimmten, technik-optimistischen Geisteshaltung. Bereits in den Einleitungen einiger Schriften zeigt sich allerdings ein Problem, das dieser Textgattung inhärent ist. Mit ihrer ausgesprochen pragmatischen, geradezu nicht-religiösen Sichtweise auf die Sturmflut und die durch sie hervorgerufenen Schäden begaben sich die Deichbaufachleute nicht selten in einen offenen Widerspruch zur religiös-metaphysischen Weltsicht, die sie aber gleichzeitig zumeist selbst teilten. Es ist kaum Aufschluss darüber zu gewinnen,

Die Beherrscharbeit des Meeres 361

wie es den Technikern gelang, diese zumindest aus heutiger Sicht offensichtliche Unvereinbarkeit zwischen einer religiösen Deutung von Sturmflutschäden und der Entwicklung, Empfehlung und Anwendung weltlich-pragmatischer Gegenmaßnahmen aufzulösen. Einige den Traktaten vorangestellte Legitimationsversuche deuten darauf hin, dass sich zumindest einzelne Verfasser durchaus dieses Problems bewusst waren.31 Zahlreiche Autoren klammerten die Frage nach der „Legitimität“ ihres Tuns allerdings auch einfach aus. Der jeversche Deichgraf Anton Günter von Münnich setzte sich in seiner 1720 verfassten Schrift „Unterredung Zweyer guten Freunde von Teich-Sachen“ an mehreren Stellen mit der Frage nach der „Legitimität“ seines Handelns innerhalb eines religiösen Kontextes auseinander.32 In der Einleitung stellt er zunächst sehr allgemeine Überlegungen über die „Berufung“ eines jeden Menschen an und legitimiert sein eigenes Handeln damit, dass er schon seit seiner Jugend eine „innige Begierde und Zuneigung zu der teich-Bau-Kunst“ verspürt habe, dass er es „vor einen Goettlichen Befehl angemercket/solcher fleissig nach zu gruebelen/ und jederzeit mein Werck davon mit zu machen“.33 Aus der Tatsache, dass dank göttlicher Unterstützung viele seiner Unternehmungen erfolgreich verlaufen seien, zog von Münnich den Schluss, dass er seine Berufswahl richtig getroffen habe und bei der Ausführung seiner Tätigkeit dem Willen Gottes entspreche. Nach dieser sehr prinzipiellen Legitimierung seines Tuns wandte sich von Münnich der konkreten Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen sowie der Berechtigung menschlicher Einflussnahme auf die Natur zu. Er machte diese Frage zum Thema einer fiktiven „Unterredung Zweyer guten Freunde“, die sich darüber unterhielten, ob und gegebenenfalls wie es möglich sei, einen Deich auf einem instabilen Untergrund zu errichten. Bereits in der Vorrede des Traktates wies der Autor darauf hin, dass man im Text keine Angaben darüber finden werde, „wie man einen falschen Grund gut machen und veraendern könne/welches Gott allein zu thun vermag; sondern vielmehr/wie man demselben begegnen/und wovor man sich dabey huete solle/dass er keine boese Gefolgen nach sich ziehe“.34 An einer späteren Stelle des Traktates legte von Münnich einem der beiden Protagonisten, denen er die Namen Treuholt und Wohlgemuht gegeben hatte, eine ostentative Äußerung über die Begrenztheit der menschlichen Möglichkeiten, 31

Der Versuch der Deichbautechniker, ihr Tun zu rechtfertigen, war keineswegs ungewöhnlich. Ruth und Dieter Groh stellen fest, dass sich auch die Verfasser so genannter Maschinenbücher des späten 16. und des 17. Jahrhunderts um eine „schöpfungstheologische Legitimation technischen Handelns, genauer: technischer Naturbeherrschung“, bemühten; vgl. Groh/Groh, Weltbild und Naturaneignung (wie Anm. 6), S. 64. 3 2 Anton Günter von Münnich, Unterredung Zweyer guten Freunde von Teich-Sachen/­ Insonderheit vom Teich-Bau auff einem betrieglichem Grunde, Oldenburg 1720. 3 3 Ebd., Vorrede. 3 4 Ebd.

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Einfluss auf die Natur auszuüben, in den Mund. Auf die Frage seines Gegenübers, ob er „einen Kunst-Griff wisse/einen falschen grund gut zu machen“35, reagiert Treuholt mit der Zurechtweisung, er kenne kein Mittel in der Welt / den Grund zu verändern; Gotte allein stehet es zu / so wie den Grund eines Menschlichen Hertzens / also auch in der Tieffe des Meeres und der Erden denselben zu ändern. Uns Menschen aber ist nicht mehr gegeben als ein vernünftiges Nachsinnen / wie einem falschen grunde zu begegnen / und er so zu tractiren sey / dass er kein Ubels verursachen könne.36

Von Münnich unterschied strikt zwischen Maßnahmen, die der Mensch ergreifen könne und dürfe, um der Natur „zu begegnen“, und Maßnahmen, die darauf ausgerichtet seien, die Natur „zu verändern“. Während er Erstere als zulässige Bestrebungen des Menschen betrachtete, sprach er Zweiteren jegliche „Legitimität“ ab und wies darauf hin, dass es allein in der Macht Gottes liege, die Natur zu manipulieren. Auf einer praktischen Ebene dürfte es nicht immer leicht gewesen sein, eine konkrete Maßnahme der einen oder anderen Kategorie zuzuordnen. Die Bedeutung einer solchen Unterscheidung scheint auch in erster Linie auf einer theoretischen Ebene gelegen zu haben. Sofern sich die Deichbautechniker nämlich nicht anmaßten, in die von Gott geschaffene Ordnung der Welt einzugreifen, hatten sie freie Hand, die vorgefundene Situation im Rahmen der ihnen ebenfalls von Gott gegebenen Möglichkeiten zu verändern. Im Hinblick auf die Durchführung großflächiger Eindeichungen und Trockenlegungen ist die hier vorgestellte, vermeintlich einfache Unterscheidung zwischen zulässigen und unzulässigen Maßnahmen indes kaum nachzuvollziehen. Es ist nicht anzunehmen, dass von Münnich Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Tätigkeiten hatte. Dennoch dürfte es ihm schwer gefallen sein, derartige sehr grundsätzliche Eingriffe in die Küstenregion als Handlungen zu beschreiben, mit denen der Mensch der Natur lediglich begegnete, sie aber nicht veränderte. Möglicherweise zeigt sich hier, dass es auch von Münnich zum Teil schwer fiel, das eigene, für rechtmäßig und notwendig befundene Verhalten in ein für ihn nach wie vor gültiges religiöses Weltbild zu integrieren. Rund fünfzig Jahre nach der „Unterredung Zweyer guten Freunde“ erschien eine Schrift, die der Oldenburger Deichgraf Johann Wilhelm Anton Hunrichs 1770–71 verfaßt hatte. Die Frage nach der „Legitimität“ technisch-praktischer Veränderungen des Küstenstreifens taucht in Hunrichs „Practische[r] Anleitung

3 5 Ebd., S. 51.

3 6 Ebd., S. 52.

Die Beherrscharbeit des Meeres 363

zum Deich- Siel- und Schlengen-Bau“37 überhaupt nicht auf. Die Abhandlung besteht ausschließlich aus kausalmechanischen Erklärungen unterschiedlicher, in der Küstenregion zu beobachtender Phänomene, die für Hunrichs „natürlich“ und „gewöhnlich“ waren: „Fluth und Ebbe ist eine natuerliche Wuerkung, vermöge deren das Wasser in der offenen See […] insgemein 6 Stunden, bis auf eine gewisse Höhe steiget, und in den folgenden 6 Stunden bis zur gewoehnlichen Tiefe faellt.“38 Auch außergewöhnliche Fluten sprengen nicht den Rahmen seines Erklärungsmodells, sondern lassen sich kausalmechanisch herleiten: Wenn ein heftiger anhaltender Sturm wehet, der nach gewissen Kuesten das Wasser auftreiben kan, und denn die gewoehnliche Aufschwellung der Fluth dazu kommt; so uebersteiget diese ihre ordentliche Hoehe um so viel, als das Wasser vom Winde hoeher aufgetrieben werden kann. Dergleiche hoehere Fluthen heissen denn Sturmfluthen. […] Und da zu einer ausserordentlichen hohen Sturmfluth also erfordert wird, dass es erstlich eine Zeitlang aus dem Süden und Westen gestürmet habe, zweytens der Sturm mit gleicher Staerke aus dem Norden continuire, und drittens zugleich mit eintretender Fluth in der Nordsee anhalte. […] Alle diese Umstaende aber nur selten zusammen eintreffen; so ereignen sich daher ausserordentlich hohe Sturmfluthen nur selten, und oefters in vielen Jahren nicht.39

Zweifellos lässt auch Hunrichs’ Erklärungsmodell die Möglichkeit offen, die Koinzidenz bestimmter meteorologischer Voraussetzungen als Werk Gottes zu interpretieren. Der Verfasser äußerte sich allerdings nicht dazu. Indem Hunrichs die Bedeutung der göttlichen Einflussnahme auf das Küstengeschehen vollkommen unbeachtet ließ, unterscheidet sich seine „Anleitung zum DeichSiel- und Schlengen-Bau“ deutlich von Anton von Münnichs Schrift. Hunrichs’ „Practische Anleitung“ erschien fast 50 Jahre nach von Münnichs „Unterredung“. Die Differenz zwischen den beiden Texten illustriert die im Zuge der Aufklärung entstandene Bandbreite unterschiedlicher Umgangsformen mit der Frage nach der „Legitimität“ des eigenen Tuns und der angenommenen Wirksamkeit technischer, von Menschenhand errichteter Bauten. Während sich Hunrichs’ rein säkulare Auseinandersetzung mit der von Sturmfluten ausgehenden Gefahr in ähnlicher Form auch in später erschienenen Texten zum Küstenschutz wiederfinden lässt, vertrat von Münnich eine Auffassung, die im ausgehenden 18. Jahrhundert immer mehr in den Hintergrund geriet und später kaum mehr anzutreffen war. Nahmen von Münnich und Hunrichs in dieser Frage gewissermaßen die beiden Extrempositionen ein, so ist dazwischen eine Schrift anzusiedeln, die 37

Johann Wilhelm Anton Hunrichs, Practische Anleitung zum Deich-, Siel- und SchleusenBau, 2 Bde., Bremen 1770–1771. 3 8 Ebd., S. 35, 53. 3 9 Ebd., S. 68, 70f.

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der jeversche Deichbaumeister Albert Brahms 1754 unter dem Titel „AnfangsGründe der Deich- und Wasser-Baukunst“ veröffentlichte.40 Der eigentliche Haupttext ähnelt in weiten Teilen Hunrichs Schrift, da auch Brahms die Eigenschaften des Meeres und sonstige Phänomene der Küstenregion ausschließlich kausalmechanisch und naturwissenschaftlich erklärte, wohingegen er metaphysischen Deutungsmustern keinen Platz einräumte. Besonders deutlich wird Brahms’ rationale Sicht auf die vom Meer ausgehende Gefahr wie auch auf die wasserbautechnischen Maßnahmen, mit denen diese Gefahr zu bannen sei, an den Stellen, an denen er eine größere Bereitschaft einforderte, in die Deiche zu investieren. Seiner Auffassung nach war prinzipiell jede auf die Deiche einwirkende Kraft messbar, weshalb auch jede Flut durch eine entsprechende Ausstattung der Deiche abgewehrt werden konnte: Es ist aus der Erfahrung mehr als zu bekannt, wie oftermalen bald hier, bald dort Einbrüche vom Wasser geschehen, wobey man jedoch keines weges gedenken muß, als ob selbige allemal ganz und gar unvermeidlich gewesen wären. Es ist im Gegentheil aus der Hydraulic zur Gnuege bekant […], dass das Wasser doch nur eine abgemessene und determinirte Kraft habe. Also kommt es nur auf folgende Stuecke an: 1) Dass man untersuche, zu welcher Hoehe und Kraft das Wasser an diesem und jenem Orte zu einiger Zeit gestiegen, oder in denen allergroessesten und schweresten Fluthen, davon Nachricht vorhanden, angewachsen sey, damit man daraus urtheilen koenne, durch welche Verstaerkung der Deiche einem solchen Gewaesser haette Widerstand geschehen koennen und moegen.41

In einer Schlüsselpassage der Schrift brachte Brahms seine Auffassung von der Beherrschbarkeit des Meeres besonders deutlich zum Ausdruck. Darin beklagte er sich darüber, dass die Bewohner der Marschregion keineswegs von der Wirksamkeit der Maßnahmen überzeugt seien, geschweige denn ihre Handlungsmöglichkeiten nutzten. Um diese Haltung zu rechtfertigen führten sie oft an, dass verheerende Sturmfluten göttliche Strafmaßnahmen seien, vor denen die Menschen sich in keiner Weise schützen könnten. „Wenn also Gott beschlossen haette, einem Lande auf diese Art seinen Zorn empfinden zu lassen, so waere es wol vergeblich, sich wider die goettliche Allmacht prospiciren und verschanzen zu wollen.“42 Die aus dem metaphysischen Deutungsmuster von Sturmfluten abgeleitete Begründung für die Weigerung, die Deiche besser in Stand zu halten, wies Brahms aber in einer äußerst nüchternen, rationalen Weise zurück. Zwar räumte er ein, 4 0

Albert Brahms, Anfangs-Gründe der Deich- und Wasser-Baukunst (1754/57), 2 Bde., Leer 1989 (Nachdruck der Ausgaben Aurich 1767 und 1773. Eine zweite Auflage erschien bereits 1767/73). 41 Ebd., S. 33f. Zu Brahms’ Sturmflutdeutung vgl. auch Jakubowski-Tiessen, Gotteszorn und Meereswüten (wie Anm. 4), S. 113f. 42 Brahms, Anfangs-Gründe der Deich- und Wasser-Baukunst (wie Anm. 40), S. 36.

Die Beherrscharbeit des Meeres 365

„dass es wol freylich eine thoerigte Einbildung seyn wuerde, wenn man meynete, sich der goettlichen Allmacht widersetzen zu koennen“ – ebenso unvernünftig sei es allerdings, wenn man sich einbilden wolle: es bringe der goettliche Rathschluß mit sich, die Allmacht dazu zu gebrauchen, dass alle menschliche Sorgfalt und Bemuehung, sich wider eine gewisse Wasserfluth in Sicherheit zustellen, umsonst und vergeblich seyn solle. Ist eine Wasserfluth nicht ein Wunderwerk, sondern hat ihre in der Natur gegruendete Ursachen, wie ja wol keiner leugnen wird, der erkennet, was es fuer eine Eigenschaft in GOTT sey, die wir die Weisheit nennen, so kann ihr, weil der HERR der Natur keine unendliche, sondern nur eine endliche Kraft beygeleget hat, auch durch eine endliche Kraft, dergleichen der Menschen ist, wol widerstanden werden; mithin die Bemuehung, sich dawider Sicherheit zu verschaffen, ihren gewuenschten Endzweck erreichen.43

Zwar bekannte sich Brahms zu seinem Glauben an die göttliche Allmacht auf Erden und betonte, dass die von ihm empfohlenen Maßnahmen zur Verbesserung des Deichbaus keineswegs darauf ausgerichtet seien, sich dieser Allmacht zu widersetzen. Gleichzeitig wies er aber darauf hin, dass Gott seine Macht nicht dazu nutzen würde, die Bemühungen der Menschen um die Sicherung ihres Lebens zu vereiteln. Im Gegenteil habe Gott die Natur – und damit auch die natürlichen (und nicht wundersamen) Sturmfluten – lediglich mit einer begrenzten Kraft ausgestattet, damit der Mensch sich gegen sie zur Wehr setzten könne. Brahms’ Auffassung nach war der Mensch also im Sinne der göttlichen Weltordnung dazu aufgerufen, die ihm von Gott gegebenen Fähigkeiten zu nutzen, um damit das ihm ebenfalls von Gott geschenkte Leben vor den Gefahren des Meeres zu schützen. Eine sehr interessante Unterscheidung zwischen menschlichem Eigenverschulden und einer von Gott verhängten Strafmaßnahme findet sich in einer Schrift, die der Geesthachter Pastor Hinrich Jobst Franck 1781 veröffentlichte.44 Im Appendix seines im Übrigen rein kausalmechanisch argumentierenden Werkes befasste sich Franck mit der Frage nach der Berechtigung des Menschen zum Deichbau. Dabei stützte er sich explizit auf das Buch des Deichbautechnikers Johann Esaias Silberschlag, das 1772/73 unter dem Titel „Ausführlichere Abhandlung der Hydro­technik oder des Wasserbaues“ in Leipzig erschienen war.45 Franck schrieb: Ich schließe mit den Worten des vorbelobten Herrn Silberschlags: ‚Hat die Gerechtigkeit Gottes beschlossen, ein Land mit Fluthen zu strafen; so werden alle menschlichen Anstalten wenig ausrichten, aber seine Guete hat uns nicht verboten, die von seiner Vorsehung 4 3 Ebd., S. 36f.

4 4 4 5

Heinrich Jobst Franck, Vom Wasser-Bau, nebst Anhang und Register, Hamburg 1781. Johann Esaia Silberschlag, Ausführlichere Abhandlung der Hydrotechnik oder des Wasser­ baues, 2 Bde., Leipzig 1772–1773.

366 Marie Luisa Allemeyer uns angewiesene Mittel zu gebrauchen, unser Elend zu mindern. Krank­heiten, die uns toedten sollen, sind entweder an sich unheilbar, oder wir sehen uns ausser Stande, zu den noethigen Heilungsmitteln zu gelangen. Sind diese aber bey der Hand, und die Krankheit wird aus Ungehorsam gegen den Arzt unheilbar, so sind wir, und nicht der Rathschluß Gottes daran Schuld, wenn wir sterben‘.46

Deutlich unterschieden Silberschlag und ihm folgend Franck zwischen dem von Gott verhängten und dem nicht von Gott verhängten Unglück. Während der Mensch keinerlei Möglichkeiten hatte, sich Ersterem zu entziehen, lag es im zweiten Fall in seiner Hand, sich zu retten. Nahm der Mensch diese Gelegenheit jedoch nicht wahr, ereilte ihn der Tod aus eigenem Verschulden, aber nicht, weil Gott es so bestimmt hatte. Übertragen auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit und der zu erhoffenden Wirksamkeit von Bauwerken, die der Mensch zu seinem Schutz vor der See errichtete, folgte aus dieser Unterscheidung, dass Deiche grundsätzlich „legitim“ und „wirksam“ waren, aber gegenüber einer von Gott über die Menschen verhängten „Strafflut“ schlichtweg keine Wirkung hatten. Die Küstenbewohner wurden im Rahmen dieses Denkmodells dazu aufgefordert, alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu nutzen, um sich vor den Gefahren des Meeres zu schützen. Sie waren gehalten, Deiche zu bauen, die so widerstandsfähig waren, wie eben möglich und sich dabei genau jener Fähigkeiten zu bedienen, die ihnen Gott an die Hand gegeben hatte. Derartige Deiche, die nach besten hydrologischen Kenntnissen und mit aller zur Verfügung stehenden Kraft errichtet seien, könnten nach Meinung Francks und Silberschlags jeglicher Flut Widerstand bieten – sofern es sich nicht um eine Flut handele, die Gott über die Menschen verhängt habe, um sie zu bestrafen. Die hier vertretene Auffassung, dass jeder Deich breche, wenn Gott dies wolle, der Mensch aber durchaus in der Lage sei, Deiche zu bauen, die jeder „normalen“ Sturmflut stand hielten, führt zu einer durchaus bemerkenswerten Feststellung, wenn man die Kausalkette umdreht. Dann nämlich zeugt jeder Deich, der einer schweren Sturmflut Stand hielt, davon, dass es sich dabei nicht um eine von Gott gesandte Strafmaßnahme gehandelt hatte. Je mehr Deiche also standhielten – oder technisch und säkular gedacht: je besser die Deiche gebaut wurden – desto seltener ereilte die Menschen offenbar eine von Gott über sie verhängte Straf-Flut. Verkürzt gesagt, konnte die Optimierung der Deichbautechnik auf diese Weise zu einem Rückgang der von Gott verhängten Straf-Fluten führen. Die Frage nach der „Legitimität“ von Deichen und die daraus resultierende Handlungsanweisung findet damit eine salomonische Antwort.

4 6

Franck, Vom Wasser-Bau (wie Anm. 44), S. 35 f.

Dominik Collet

Eine Kultur der Unsicherheit? Empowering Interactions während der Hungerkrise 1770 –1772 Die Sicherung der Nahrung gehört zu den wichtigsten Aufgaben jeder Regierung. Deshalb stellt kaum ein Ereignis die Legitimität von Herrschaft so sehr in Frage wie der Ausbruch einer Hungersnot. Nahezu jeder Text, der sich im 18. Jahrhundert mit den Aufgaben der ,Guten Policey‘ beschäftigt, misst der Nahrungssicherheit daher eine überragende Rolle zu. Der Hamburger Ökonom ­Johann Albrecht Heinrich Reimarus schrieb: „Die Sicherheit, daß kein plötzlicher und gänzlicher Mangel an Lebensmitteln im Staate entstehen könne, ist […] die höchstwichtigste Sache, dafür die Obrigkeit allemal Sorge zu tragen hat“, und ­Friedrich N ­ icolai sekundierte: „diesem Endzweck der Sicherheit sollen die übrigen als Nebenzwecke“ untergeordnet werden.1 In dieser interventionistischen Haltung spiegelt sich der Charakter von Hungersnöten als ‚langsame Katastrophen‘ wider. Anders als Sturmfluten oder Erdbeben entwickeln sich Hungerkrisen über Monate und Jahre. Die Möglichkeit, ihren Verlauf durch menschliches Handeln zu beeinflussen, wurde deshalb als besonders groß eingeschätzt. Die Zeitgenossen verstanden Hungersnöte ebenso sehr als Natur- wie als ‚Kulturkatastrophe‘. Hungerkrisen bildeten daher auch eine zentrale Schnittstelle unterschiedlicher und neuer Sicherheitskonzepte, die am Ende der Frühen Neuzeit neben die policeyliche Sicherheit traten. Ihre Koexistenz und Konkurrenz wird besonders im Kontaktraum der großen Hungerkrise von 1771 greifbar. Während Theologen weiterhin betonten, dass eine rein „fleischliche Sicherheit“ die Menschen zur Sünde verleite2, hieß es nun: „Mangel und Theurung kann man im Ganzen nur durch die Sicherheit des Eigentums […]“ verhüten.3 Andere wollten die Gefahr des Hungers nicht länger durch Marktregulation, sondern durch die bedingungslose 1

Johann Albert Heinrich Reimarus, Die Freiheit des Getraidehandels nach der Natur und Geschichte, Frankfurt a. M./Leipzig 1791, S. 122; Friedrich Nicolai (Hrsg.), Allgemeine Deutsche Bibliothek 12. 2 (1770), S. 246f. 2 Samuel Werenfels, Von der fleischlichen Sicherheit, Frankfurt a. M. 1772, S. 79. Zur Debatte um den verwerflichen „Stand der Sicherheit“, der die Menschen gegenüber göttlichen Strafdrohungen gleichgültig mache, vgl. auch Johann Hermann Benner, Abhandlung ­einer theologischen Moral zum Behuf Akademischer Vorlesungen, Giessen 1770, S. 45–47, 402f.; sowie Johann Lorenz von Mosheim, Sitten-Lehre der Heiligen Schrift. Bd. 1, 5. Aufl. ­Leipzig 1773, S. 91–93, 286–290. Die Diskussion wurde in der Hungerkrise 1770–72 wieder aufgenommen. Die Texte beziehen sich auf Adam Berg, Stand der Sicherheit, Stand der Knechtschafft und Stand der herrlichen Freyheit der Kinder Gottes, Leipzig 1730. 3 So resümierend der Artikel: Anonym, Gegenwart und Zukunft. Kampf der Gegenwart, in: Rheinische Blätter (2. 7. 1816), S. 303 aus dem „Jahr ohne Sommer“, der ersten großen Hungerkrise nach den Ereignissen von 1770–72.

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„Sicherheit des Handels“ bekämpft sehen.4 Wieder andere meinten, es sei die „Förderung des Feldbaus, […] die Sicherheit“ gebe, weswegen herrschaftliche Verfügungsprivilegien zu beschneiden seien.5 Entsprechend vielfältig waren die Praktiken der Zeitgenossen, die von Wallfahrten bis zum Hungertumult und von Suppliken bis zum Kartoffelanbau reichten. In der Hungerkrise trafen religiöse, rechtliche, technologische, ökonomische und soziale Konzepte von Sicherheit aufeinander. Im zentralen Feld der Ernährung entstanden aus dieser Konkurrenzsituation erstmals Denkfiguren, die nicht mehr partikular, sondern umfassend angelegt waren. Sie zielten als „Sicherheitsdispositive“ auf die gesamte Gesellschaft, das ganze Territorium und konzeptionalisierten Gruppen und Individuen zunehmend als eine „Bevölkerung“.6 Nachdem Hunger im 19. und 20. Jahrhundert zumeist allein auf den Rückgang des Angebots an Nahrung zurückgeführt wurde, erlebt die frühneuzeitliche Vielfalt an Erklärungsfaktoren in der aktuellen Hungerforschung eine Renaissance. Dort arbeitet man seit Ende der 1990er Jahre mit dem Konzept der „Food Security“.7 Es markiert einen Perspektivwechsel, der Hunger nicht länger als reine Klimafolge und Sicherheit nicht als alleiniges Resultat von Technologien versteht. Es konzeptioniert Nahrungssicherheit vielmehr als komplexes Ergebnis von historisch gewachsenen Formen sozialer und klimatischer „Vulnerabilität“ und „Resilienz“.8 An die Stelle einer Konfliktgeschichte von Mensch und ­Natur tritt dabei eine Verflechtungsgeschichte, welche die Wahrnehmung, Instrumentalisierung und „Sozialisierung“ klimatischer Impulse in den Blick nimmt. Verwundbarkeit gegenüber Hunger entsteht aus dieser Perspektive nicht allein durch naturale Faktoren, sondern ebenso durch soziale Ungleichheit oder fehlende „entitlements“ (Amartya Sen) auf Nahrung. Umgekehrt gründen Sicher­ heit und „Resilienz“ nicht allein auf technischen Maßnahmen, sondern auch auf gesellschaftlicher Teilhabe, der Möglichkeit zur Kommunikation oder der Partizipation an Fürsorgenetzwerken. Das Food Security-Konzept verschiebt

4 Reimarus, Freiheit (wie Anm. 1), S. 21.

5 Isaak Iselin, Versuch über die gesellige Ordnung, Basel 1772, S. 5. 6

Vgl. Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernmentalität I, Frankfurt a. M. 2004, S. 52–79. 7 Vgl. FAO, Declaration on world food security. World Food Summit, Rom 1998; sowie Per Pinstrup Andersen, Food Security. Definition and Measurement, in: Food Security 1 (2009), S. 5–7. 8 Zum Vulnerabilitätskonzept der Hungerforschung, vgl. Dominik Collet, Vulnerabilität als Brückenkonzept der Hungerforschung, in: ders./­Ansgar ­Schan­bacher/Thore Lassen (Hrsg.), Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf Hunger als Folge sozialer und klimatischer Vulnerabilität, Göttingen 2012, S. 13–26.

Die Hungerkrise 1770–1772 369

damit den Fokus von einer technisch verstandenen, absoluten Sicherheit auf spezifische ‚Sicherheiten‘.9 Das Konzept ‚gemachter‘ Sicherheiten, wie es sowohl die frühneuzeitlichen Akteure als auch die moderne Entwicklungsökonomie vertreten, ermöglicht einen neuen Blick auf Hungersnöte und Klimaextreme. Anstatt als dem menschlichen Handeln entzogenes ‚Naturphänomen‘ wird Hunger so als zentrales Feld gesellschaftlicher Auseinandersetzung greifbar. Während das modernisierungsgeschichtliche Narrativ des „Great Escape from Hunger“ (­Robert ­Fogel) vormoderne Praktiken immer als rückständig oder ineffektiv begreift, lässt sich dem Handeln der Akteure so seine Logik als Teil der „Suche nach Stabilität“ (­Theodore K. Rabb/Heinz D ­ ieter K ­ ittsteiner) zurückgeben. In Anlehnung an Beobachtungen Greg Bankoffs ist zudem zu fragen, ob man diesen frühneuzeitlichen Umgang mit Katastrophen nicht zutreffender als eine spezifische „Kultur der Unsicherheit“ verstehen kann.10 Dieser Zugang wird im Folgenden an zwei klassischen Risikostrategien frühneuzeitlicher Hungerregimes überprüft, die aus moderner Perspektive als kontraproduktiv, aus der der historischen Akteure aber als äußerst effizient erscheinen: Die Anlage öffentlicher Getreidespeicher sowie die Errichtung von Getreidesperren.

I.  Getreidespeicher als Sicherheitstheater

Öffentliche Kornmagazine finden sich in den meisten komplexen Gesellschaften. Sie begleiteten den Aufstieg der Städte, deren Bevölkerung sich nicht mehr selbst mit Getreide versorgen konnte. Ihre Anlage bildete die Voraussetzung für die Unterhaltung von Bergwerken oder von Garnisonen in unwirtlichen Regionen. In der Frühen Neuzeit entwickelten sich diese Speicher zu immer massiveren Bauten, in deren Solidität sich auch das unerschütterliche Engagement ihrer Träger spiegeln sollte. Bis ins 19. Jahrhundert lagen diese Bauwerke in unmittelbarer Nähe der Verbraucher und boten so eine willkommene Gelegenheit, öffentlichkeitswirksam Sicherheitsansprüche gegenüber anderen Fürsorgeträgern wie der Kirche zu markieren.11 9

Vgl. Polly Ericksen/Hans G. Bohle/Beth Stewart, Vulnerability and Resilience of Food Systems, in: John Ingram/Polly Ericksen/Diana Liverman (Hrsg.), Food Security and Global Environmental Change, London 2010, S. 67–77. 10 Zum Konzept der Katastrophenkultur, vgl. Greg Bankoff, Cultures of Disaster. Society and Natural Hazards in the Philippines, London 2002. 11 Zur Geschichte des Kornspeichers vgl. Geoffrey Rickman, Roman Granaries and Store Buildings, London 1971; Peter Garnsey, Famine and Food Supply in the Graeco-Roman World. Responses to Risk and Crisis, Cambridge 1988; Volker Reinhardt, Überleben in der frühneuzeitlichen Stadt. Annona und Getreideversorgung in Rom, 1563–1797 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 72), Tübingen 1991; Pierre-Étienne

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Bereits in der Entstehungsgeschichte der Speicher scheinen somit einige zen­trale Konfliktfelder auf. Magazine entstanden nicht als Fürsorgeinstrument. Zunächst dienten sie der Lagerung von Zinskorn oder der Ernährung von Soldaten und Städtern. Sie illustrieren zudem das folgenreiche Auseinandertreten von Produzenten und Konsumenten. Speicher markieren damit eine heftig umstrittene Schnittstelle militärischer, fiskalischer, ökonomischer und humanitärer Interessen.12 All diese Spannungsfelder finden sich auch in dem vermutlich bekanntesten europäischen Versuch eines umfassenden Speichersystems wieder: dem Preußischen Staatsmagazinwesen des 18. Jahrhunderts. Auch hier lag der ­Ursprung – anders als eine Vielzahl flankierender Schriften propagierten – nicht in der Wohlfahrt, sondern in der Notwendigkeit, eine große, disziplinierte und zunehmend mobile Armee zu versorgen. Aufgrund der militärischen Bedeutung der Magazine gehörte die Berichterstattung über die Speicherstände rivalisierender Mächte zu den regelmäßigen Aufgaben preußischer Spione.13 Ihre enormen Unterhaltskosten inspirierten in Friedenszeiten jedoch immer wieder Ideen hinsichtlich komplementärer Funktionen. Renommierte Kameralisten wie Justi, Bergius oder Sonnenfels schlugen vor, die Staatsmagazine zur Preisregulierung einzusetzen und über gezielten An- und Verkauf einen ‚gerechten‘ Preis zu stabilisieren.14 Andere Zeitgenossen forderten dagegen, den Preis mithilfe der Speicher hoch zu halten, um so den Landbau zu fördern und zu verhindern, dass man „in wohlfeilen Zeiten kein Gesinde, das was taugt, […] bekommen und behalten kann“, oder man sich mit „faulen und ungehorsamen Bedienten plagen“ muss.15 Weitaus mehr Stimmen verlangten, den Preis künstlich zu senken und so Gewerbe und Handwerk zu stimulieren.16 Kornmagazine Will/R. Bin Wong, Nourish the People. The State Civilian Granary System in China, 1650–1850, Ann Arbor 1991. 12 Vgl. Karl Polanyis Epochenkonzept der „staple economy“ in seinem Pionierwerk zur Kulturanthropologie des Ökonomischen. Karl Polanyi u. a., Trade and Market in the Early Empires: Economies in History and Theory, Glencoe/IL, 1957, bes. S. 243–270. 13 Gustav B. Volz (Hrsg.), Politsche Correspondenz Friedrich’s des Großen, Bd. 31, Berlin 1906, S. 584. Zur Bedeutung der Kornspeicher für die Kriegsführung, vgl. ebd., S. 584, 640 sowie ebd., Bd. 32, S. 242, 298, 400, 416. 14 Johann Heinrich Bergius, Abhandlung von Magazinanstalten, in: Anonym (Hrsg.), Von Getreydemagazinen, von Lebensmitteln und von dem Unterhalt des Volkes, Frankfurt a. M. 1771, S. 4–30; Johann Heinrich Gottlob von Justi, Herrn von Justis Abhandlung von dem Unterhalt des Volkes, in: ebd. S. 67–112; Joseph von Sonnenfels, Politische Abhandlungen, Wien 1777, S. 376–381. 15 [Anonym], Untersuchung: Ob es möglich und vortheilhaft ist, das ein Landesherr das Korn immer in erträglichem Preisse erhalte, und wie derselbe beschaffen seyn müsse?, in: Physikalische Belustigungen 12 (1752), S. 131–137, hier S. 136. 16 Justi, Abhandlung (wie Anm. 14), S. 75–78, 102.

Die Hungerkrise 1770–1772 371

Abb. 1  Johann David Schleuen d. Ä., Kupferstich um 1763: „Durch Eröffnung der Königl. Magazine wird dem überhandnehmenden Brodmangel abgeholfen im Juni 1740“ (http:// www.akg-images.de [04. 03. 2013]).

bildeten daher ein zentrales Debattenfeld der zeitgenössischen Anstrengungen, sich „so viel man kann, wegen der Zukunft in Sicherheit zu setzen“.17 Einen Aufschwung erlebten diese Pläne, als Friedrich II. seine Regierung 1740 auf dem Höhepunkt einer schweren Teuerung antrat. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand in der feierlichen Öffnung der Magazine (Abb. 1). Nur wenige Monate später spielten die Speicher zudem eine zentrale Rolle im Ersten Schlesischen Krieg, in dem sie die schwierige Ernährung der preußischen Besatzungstruppen gewährleisteten. Die 32 daraufhin erbauten Großmagazine leisteten Friedrich II. sowohl im Siebenjährigen Krieg als auch in der anschließenden schweren Teuerung hervorragende Dienste.18 Ihre größte Bewährungsprobe stellte jedoch die verheerende Klimaanomalie der frühen 1770er Jahre dar. In Europa manifestierte sich dieses globale Wetterextrem über mehrere Jahre hinweg durch schwere, langanhaltende Niederschläge in der Wachstums- und Erntephase. Die unbekannt heftigen Regenfälle reduzierten nicht allein den Ernte­ertrag in dramatischem Umfang. Aufgrund der parallelen Überschwemmungen wurde 17

[Adam Friedrich Ernst Jacobi], Plan zu einem Societätsmagazin, in: Churbaierische Intelligenzblätter (1773), S. 313–315, hier S. 314. 1 8 Vgl. Lars Atorf, Der König und das Korn. Die Getreidehandelspolitik als Fundament des brandenburgisch-preußischen Aufstiegs zur europäischen Großmacht (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 17), Berlin 1999, S. 182, 214.

372 Dominik Collet

auch der Transport von Hilfsgütern auf Flüssen über Monate hinweg unmöglich. Friedrich notierte im Rückblick in seiner „Geschichte meiner Zeit“: 1770 entstand in ganz Nordeuropa eine große Teuerung […]. Der König aber hatte große Vorratsmagazine in Schlesien und in seinen Erblanden angelegt  […]. Diese weisen Vorkehrungen beschützten das Volk vor der drohenden Hungersnot […]. Die Leiden, die die Untertanen anderer Mächte zu erdulden hatten, rührten daher, daß in keinem Lande, außer in Preußen, Magazine vorhanden waren. Hier allein war man gegen die Notlage gerüstet und konnte sie durch Maßregeln beheben, die die Klugheit diktiert hatte.19

Die borussophile Historiographie hat Friedrichs Darstellung weitgehend übernommen und Preußen während der Hungersnot als „Insel der Sicherheit“20 beschrieben. Ein Blick in die erhaltenen Magazinalakten zeigt jedoch, dass die preußischen Speicher am Beginn der Krise nahezu leer standen. Den verantwortlichen Militärs erschien die mühsame Pflege der Magazine in Friedenszeiten wenig prestigeträchtig. Bestärkt wurden sie in ihrer Haltung durch Getreidehändler, die mit verwegenen Argumenten auf den vermeintlich gesunkenen Bedarf verwiesen, da die Bevölkerung nach den Verheerungen des Siebenjährigen Krieges „noch größtentheils in Kindern und sehr jungen Leuthen bestehet, welche nicht so viel als erwachsene Personen consumiren“.21 Die steigende Flut von verzweifelten Supplikationen in der Notzeit richtete sich daher – wie auch in anderen Territorien – nicht an die lokalen, mit Getreidehandel und -produzenten eng verbundenen Verwalter, sondern direkt an den Landesherrn. Angesichts der prekären Versorgungslage fielen Friedrichs eigenhändige Antworten zunächst recht brüsk aus: „Ei[n] böse[r] Brief. Sie sind unruhige und mißvergnügte Leute, denen Ich dahero, sich in ihre Schranken zu halten, wohlmeinend rathen kann und muß“ oder „Sie können kaufen. Meine Magazine sind leer“.22 Auch als sich nach einer zweiten Missernte 1771 Berichte mehrten, dass seine Untertanen mittlerweile auf Gras und Rinde als Nahrung angewiesen seien, verschärfte der König lediglich seine bekannten Kampagnen gegen die „jüdischen Schelmereien“ der Spekulanten.23 19 Gustav Volz/Friedrich von Oppeln-Bronikowski (Hrsg.), Die Werke Friedrichs des Großen,

Bd. 5, Berlin 1913, S. 63f.

2 0 Ernst Hinrichs, Rezension von: August Skalweit, Die Getreidehandelspolitik und Kriegs-

magazinverwaltung Preußens 1765–1806. Darstellung mit Aktenbeilagen und Preisstatistik (Acta Borussica 2.1.4.), in: HZ 148 (1933), S. 359. 21 August Skalweit, Die Getreidehandelspolitik und Kriegsmagazinverwaltung Preußens 1765–1806. Darstellung mit Aktenbeilagen und Preisstatistik (Acta Borussica 2.1.4.), B ­ erlin 1931, S. 276. 2 2 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I. HA Rep. 96B Nr. 139, fol. 305r, 315r. 2 3 Skalweit, Getreidehandelspolitik (wie Anm. 21), S. 309. Zu Friedrichs antijüdischer Haltung gegenüber Getreidehändlern, vgl. auch ebd., S. 281, 285f., 291; sowie Richard ­Dietrich

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Eine ‚Lösung‘ ergab sich erst, als Friedrich auf dem Höhepunkt der Krise unter einem Vorwand Teile Polens besetzte und dort große Mengen Getreide gewaltsam requirieren ließ. Von Speichern wurden die Magazine so zu Durchgangslagern für polnisches Getreide.24 In der Verteilung dieser Beute an die Oderkolonisten, an gewerbestarke Städte und vor allem an die Soldaten, spiegelte sich die relative Nähe der Begünstigten zum König wider.25 Auf den Marktpreis nahmen sie dagegen kaum Einfluss. Er stieg in Preußen ähnlich wie im restlichen Reich auf das Dreifache an und führte zu großer Not sowie in der Folge zu einem spürbaren Bevölkerungsrückgang.26 Bereits dieses knappe Beispiel illustriert, dass sich zwischen den weitreichenden Sicherheitskonzepten und der Praxis der Zeitgenossen aufschlussreiche Lücken auftaten. Die Magazine wirkten weder als Preisdämpfer noch als Schutzmechanismus für „die Bevölkerung“, wie es aufgeklärte Ökonomen propagiert hatten. Im Gegenteil: Der hohe Wert des gespeicherten Korns und die oft widersprüchlichen Zielsetzungen, die man mit den Magazinen verfolgte, öffneten überall Spielräume für Korruption, Unterschleif und Betrug. Mit den Speichern verband sich zudem ein ganzes Bündel nicht intendierter Konsequenzen: Verteilte man das verbilligte Getreide zu freigiebig, wurde es durch Spekulanten aufgekauft und außer Landes geschafft. Gab man es nur gegen genaue Kontrolle aus, schädigte man den privaten Handel und riskierte, den Mangel sogar noch zu vergrößern.27 Hinzu kam das Paradox vieler Sicherheitsmaßnahmen: Das Gefühl von Sicherheit verleitet zu riskantem Verhalten. Der vermeintliche Schutz des Magazins ermunterte viele, ihre privaten Vorräte zu verringern. Friedrich vermutete daher zu Recht: „die Leute haben so schlechte Ernte nicht gehabt […]. Sie müssen das Korn nach Sachsen verkaufft haben und denken es aus dem Magazin […] wiederzuerhalten“.28 Die ‚Sicherheit‘, die Magazine ermöglichten, lag daher auch weniger in technischer Wirksamkeit als in ihrer kommunikativ-theatralischen Funktion. Wie (Hrsg.), Die politischen Testamente der Hohenzollern (Veröffentlichungen aus den Archiven Preussischer Kulturbesitz 20), Köln/Wien 1986, S. 507. 24 Vgl. Dominik Collet, „Hunger ist der beste Unterhändler des Friedens“. Die Hunger­krise 1770–71 und die Erste Teilung Polen-Litauens, in: Hans-Jürgen Bömelburg/­Andreas ­Gestrich/ Helga Schnabel-Schüle (Hrsg.), Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013, S. 155–170. 2 5 Skalweit, Getreidehandelspolitik (wie Anm. 21), S. 294–296, 302, 312. 2 6 Ulrich Kluge, Hunger, Armut und soziale Devianz im 18. Jahrhundert. Hungerkrisen, Randgruppen und absolutistischer Staat in Preußen, in: Freiburger Universitätsblätter 26 (1987), S. 61–91. 27 Dominik Collet, Storage and Starvation. Public Granaries as Agents of ‚Food Security‘ in Early Modern Europe, in: Cornel Zwierlein/Rüdiger Graf/Magnus Ressel (Hrsg.), The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History (HSR 35, 4), Köln 2010, S. 234–253. 28 GStA PK, I. HA Rep. 96B Nr. 140, fol. 244r.

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die Zeitgenossen beobachteten, entstanden Hungersnöte oft nicht durch den Mangel selbst, sondern durch die Furcht vor dem Mangel. Otto von Münchhausen beklagte 1772: „Die Furcht ist in solchen Fällen von üblern Folgen, als die befürchtete Gefahr selber“.29 Jede Wetteränderung führe umgehend zu Spekulation, wilden Gerüchten und Hamsterkäufen. Angesichts der extrem agonalen Marktbedingungen sowie der ungleichen Verteilung von Kaufkraft und „entitlements“ stellten solche Praktiken keineswegs naive Panikreaktionen dar. Zahlreiche Zeitgenossen bescheinigten den Magazinen daher eine den nervösen Markt beruhigende Funktion. Ihre Öffnung brachte zuvor zurückgehaltenes Getreide wieder in Umlauf. Sie erzeugten „Früchte genug, ohne sie zu erschaffen“.30 Zugleich markierten und materialisierten die öffentlichen Speicher Versorgungsansprüche und -verpflichtungen. Viele Gruppen nutzten die Magazine daher als Anlass und als Argument, um in Notzeiten Partizipationsrechte zu aktivieren. Nicht nur in Preußen umgingen sie dabei regelmäßig intermediäre Obrigkeiten und eröffneten sich einen direkten Kommunikationsweg zum Souverän – eine Strategie, die beiden Seiten nützte und die auch auf anderen Feldern vormoderner Herrschaft zu beobachten ist.31 Unabhängig von der tatsächlichen Wirksamkeit der Maßnahmen legitimierten beide Parteien einander als Sicherheitsgeber und Sicherheitsnehmer – oft auf Kosten der lokalen Verwaltungen, aber auch zu Ungunsten anderer Akteure wie Kirchen, Kaufleute oder exkludierter sozialer Gruppen. Wie erfolgreich eine solche Strategie sein konnte, zeigen die retrospektiven Lobgedichte auf den „Brodvater“ ­Friedrich, in denen die nur aus materieller Sicht dysfunktionalen Magazine immer wieder eine zentrale Rolle einnehmen: Der Ruhm unseres Friedrichs, der aus seinen Magazinen den Brodtmangel bannte […] Und dem Hunger gebot, vernichtet – O Volk, dein König ist gerichtet! Sing ihm deinen Lobgesang.32

2 9

Otto von Münchhausen, Der freye Kornhandel als das beste Mittel um Mangel und Theurung zu verhüten; zur Warnung auf künftige Zeiten aus der Erfahrung und aus neuen Gründen erwiesen, Hannover 1772, S. 21. 3 0 Anonym, Genuine Nachricht von der Beendigung der zweyjährigen allgemeinen Getraidetheurung in Deutschland und an vielen Orten erlittenen Hungersnoth, durch den Reichsschluß vom 7. Febr. 1772, in: Neue Litteratur und Völkerkunde 1, 2 (1787), S. 480–497, hier S. 485f. und 496 zur Wirkung solcher ‚vertrauensbildenden‘ Maßnahmen. 31 Vgl. Stefan Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche (Beiheft der Historischen Zeitschrift 49), München 2009, S. 395–406. 3 2 Ute Frevert, Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen?, Göttingen 2012, S. 101f. und 114; sowie Anonym, Von der Theuerung […], in: Der Wohltäter 57 (1773), S. 74–78.

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II.  Grenzsperren und Grenznutzung

Vergleichbare normative statt materieller Sicherheitslogiken lassen sich auch anhand einer zweiten Vorsorgepraxis beobachten: dem weitverbreiteten Sperren der Grenzen für die Getreideausfuhr. Nominell sollten diese Grenzsperrungen Vorräte für die lokale Konsumption sichern. Da die Nachbarn solche Maßnahmen aber umgehend mit Gegensperren beantworteten, brachten sie nicht nur die Ausfuhr, sondern den kompletten Getreidehandel zum Erliegen. Während jeder Teuerung überzog das Reichsgebiet ein engmaschiges Netz von Ausfuhrsperren. Die Vertreter der neuen ökonomischen Kreislauftheorien beklagten die Sperrpraxis daher als fahrlässige und kontraproduktive Zerschneidung eines bereits national gedachten Wirtschaftsraums. Die Popularität der Sperren verwundert zunächst auch deshalb, weil sie kaum zu kontrollieren waren. Überall entwickelten sich eigensinnige Formen der ‚Grenznutzung‘. Die ständigen, unumgänglichen Transporte des Getreides vom Bauer, Müller, Bäcker zum Konsumenten, die zudem in sich verändernden Formen stattfanden (Garben, Korn, Mehl, Brot), behinderten Kontrollen und boten ein Einfallstor für Schmuggel und Devianz. Selbst militärische Sperrposten und die wiederholte Androhung der Todesstrafe konnten die Grenzziehungen nicht durchsetzen. Im Rückblick urteilten die Kritiker: Wo wir zum äußersten Nothfalle herauf steigen, so hat die ganze Polizei […] ein gar kurzes Ende. Überhaupt scheint mir alle Sperrung von Ländern vergeblich, da man noch nicht das Mittel gefunden hat, den Betrug in dem kleinsten Landstädtchen zu verhindern […] mit welcher Wahrscheinlichkeit dürfen sie denn hoffen, daß man eine Linie von hundert Leinen bei Tag und Nacht sperren könne?33

Befürworter der neuen Freihandelskonzepte geißelten die Grenzsperren daher als reine Symbolpolitik. Sie spotteten: „Die Obrigkeiten legten sich auf dem Faulbette der Fruchtsperre nieder […]. Vorkehrungen sind freilich mühsamer als Verbote, […] so daß sie nichts weiter wollen, als den Schein etwas gethan zu haben.“34 Für besondere Kritik sorgten propagandistische Maßnahmen, die das Ausführen von Getreide in der Figur des grenzüberschreitenden „Kornjuden“ anthropomorphisierten. Wie der Berliner Polizeidirektor Johann Albrecht Philippi bemerkte, sollte mit diesen Sündenböcken vom eigentlichen Problem abgelenkt 3 3

Justus Möser, Gedanken über die Getraidesperre, in: ders., Sämtliche Werke, Berlin 1842, S. 49. Vgl. auch Clemens Zimmermann, Obrigkeitliche Krisenregulierung und kommunale Interessen. Das Beispiel Württemberg 1770/71, in: Manfred Gailus/Heinrich Volkmann (Hrsg.), Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770–1990 (Schriften des Zentralinstituts für Sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin 74), Opladen 1994, S. 107–131, hier S. 121. 3 4 Anonym, Fruchtsperre, in: Der Genius des neunzehnten Jahrhunderts 1 (1801), S. 268–278, hier S. 269–274.

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werden: „Man gab den Leuten, wie sonst den Kindern, das Unechte für das Echte in die Hand. Man ließ zwei Medaillen prägen […]. Beyde Medaillen hatten die Umschrift: ‚Du Korn-Jude‘. So ward das Volk besänftigt und die Korn=Juden mussten die Fehler, decken, so von den Vorstehern des Herzogthums waren begangen worden.“ (Abb. 2)35 Man hat diese obrigkeitlichen Maßnahmen wiederholt als „moralische Ökonomie von Oben“ bezeichnet. Sie habe bei der Bevölkerung zwar keine physische Sicherheit aber eine „untertänig verharrende Erwartung“ bewirkt.36 Die Grenzsperren lassen sich aber auch anders interpretieren: Da mit der Sperre der offizielle Handel zum Erliegen kam, ging die Verantwortung für die Nahrungsversorgung unmittelbar und vollständig auf die lokalen Obrigkeiten über. Damit fiel sie genau jener Gruppe zu, die über Zölle und Grundbesitz die größten Profite aus dem Getreide zog. Indem die Sperren ein Territorium nach außen abgrenzten, stellten sie zugleich eine Gemeinschaft im Inneren her – eine Gemeinschaft, die sich jenseits der üblichen sozialen Grenzen und Privilegien konstituierte. Sie erlaubten den ‚Eingesperrten‘, Teilhabe- und Schutzrechte zu aktivieren und „entitlements“ einzuklagen, die ihnen sonst kaum gewährt wurden.37 Die durch die Fruchtsperre erzwungene Vorsorge fand auch tatsächlich statt, oft mit erheblichem finanziellen Aufwand bis hin zum Ruin. Österreich und Sachsen verschuldeten sich so stark, dass sie die polnische Teilung widerspruchslos akzeptieren mussten. Bayern gab 1771 mehr als eine Million Reichstaler für Nahrungsmittelimporte aus, mit ähnlich hohen Beträgen verschuldeten sich die süddeutschen Reichsstädte. Die Summen waren so gewaltig, dass sie nur theoretisch von den Untertanen zurückgezahlt werden mussten. De facto konnten sie oft bis zum Ende des Alten Reiches nicht mehr abgelöst werden. Die Eingesperrten deuteten geographische Exklusion auf diese Weise erfolgreich in ihre soziale Inklusion um. Damit erschlossen sie sich innerhalb des ständischen Systems eine effektivere Möglichkeit, sich durch Teilhabe in Sicherheit zu setzen.38 3 5

Johann Albrecht Philippi: Der verteidigte Korn-Jude, Berlin 1765, S. 151. Pikanterweise musste Philippi unter Friedrich II. genau solche antijüdische Sündenbockpolitik umsetzen. Seine Ausführungen bezog er daher sicherheitshalber auf das vorfriederizianische Herzogthum Schlesien. 3 6 Hans Medick, Teuerung, Hunger und „moralische Ökonomie von oben“. Die Hungerkrise der Jahre 1816–17 in Württemberg, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 2 (1985), S. 39–44; Helmut Rankl, Die bayerische Politik in der europäischen Hungerkrise 1770–1773. In: ZBLG 68 (2005), S. 745–779, hier S. 770. 37 Reimarus konstatierte daher als Wortführer der Freihändler, dass die Bevölkerung Armenspeisungen in Sperrzeiten nicht mehr wie sonst als Wohltat ansähe, sondern sie erfolgreich als „Pflicht von der Obrigkeit“ gefordert habe. Reimarus, Freiheit (wie Anm. 1), S. 131. 3 8 Dominik Collet, ‚Moral economy‘ von oben? Getreidesperren als territoriale und soziale Grenzen während der Hungerkrise 1770–72, in: JbRegG 29 (2011), S. 45–61.

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Abb. 2  Johann Christian Reich: Kornjudenmedaille aus Zinn, 29 mm, Fürth 1772: „Korn Iud verzweifel u. geh zum [Teufel]. Theure Zeit 1772“ (www.historama.com [01. 03. 2012]).

Erstaunlicherweise folgen die Lösungsvorschläge der bürgerlichen Freihändler und Physiokraten, die eigentlich als fundamentale Gegenposition artikuliert wurden, einer ähnlichen Logik. Auch sie hatten vor allem ihre eigene Teilhabe im Blick. Mit der Verlegung der Grenzen auf die Ebene des „deutschen Vaterlands“39 wollten sie Bereiche wie Handel und Gewerbe fördern, die ihnen selbst beson 3 9

Anonym, Anmerkungen über die dermalige Fruchtsperre, S. 3. Der Autor gibt den programmatischen Publikationsort „Deutschland 1771“ an. Während die grenznahe Bevölkerung ihr Handeln an ökonomischen Räumen ausrichtete, zielten die ‚Ökonomen‘ damit auf einen politischen Raum. Vgl. Marcus Sandl, Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel im Mittelalter und Früher Neuzeit 11), Köln u. a. 1999.

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ders nahe lagen. Dabei bedienten sich die Freihändler der gleichen InklusionsRhetorik: „Wenn Handel und Wandel nur Sicherheit“ hätten, führe dies dazu, „daß, wenn gleich einzelne Einwohner [dadurch, D.C.] litten, doch daß ganze Land mehr gewonnen habe“.40 Ihr Verweis, „[e]s sei noch kein Land verhungert“41, illustriert diese Perspektive, die nicht länger auf das leidende Individuum zielte, sondern auf eine vermeintliche Territorialgemeinschaft.42 Die freihändlerische Diskreditierung obrigkeitlicher Schutzmaßnahmen als ‚falsche Sicherheit‘ lässt sich als Umsemantisierung religiöser Traditionen verstehen. So wie Theologen davor warnten, in den „Schlaf der Sicherheit“ zu fallen und das „Leben in einer tollen Sicherheit und in den schändlichen Lastern zuzubringen“, sahen die Freihändler auch im „Faulbette der Fruchtsperre“ einen Anlass für „Trägheit, Sicherheit und Unachtsamkeit“.43 Würde „von Obrigkeitswegen für ihre Erhaltung gesorgt“, führe dies nur dazu, dass die Menschen „eingeschläfert und beruhigt werden“.44 Sicherheit – hier bereits in Opposition zu Freiheit gedacht – bildete in ihren Augen nicht die Lösung, sondern das Problem. Die tatsächliche Ursache des Mangels liege in der Komplizenschaft von Grenzziehern und Grenznutzern. Die durch die Grenzsperren erzwungene „Austheilung von Brod […]“ veranlasse so „immer weitere Auschweifungen“.45 Auch die Getreidesperren lassen sich somit als Teil einer durch kommunikative Praktiken hergestellten, „akzeptanzorientierten Herrschaft“ verstehen. Die beteiligten Akteure traten dabei trotz durchaus unterschiedlicher Interessen miteinander in Beziehung und markierten einander gegenseitig als autoritative Ressource. Durch diese Form von „empowering interactions“ gelang es Teilen der Bevölkerung, ihre eigentlich sehr begrenzten Teilhaberechte und Instanzen­

4 0

Johann Albert Heinrich Reimarus, Preisschrift über die, von der K. Societät der Wissenschaften zu Göttingen aufgegebene Frage: In wie fern und unter welchen Umständen die Anlegung beträchtlicher öffentlicher Kornmagazine dem Kornhandel und dem Lande überhaupt nachtheilig oder nützlich oder gleichgültig sey? […], in: Hannoversches Magazin 10.67 (1772), S. 1057–1070, hier S. 1 066. 41 Anonym, Wahrheit ohne Schmincke über den freyen Getraidehandel. Von einem unpartheyischen, sachverständigen Manne zur Beherzigung für jede Classe von Lesern besonders für Minister, Cameralisten etc. herausgegeben, Leipzig 1804, S. 132. 4 2 Die Verschiebung im Diskurs um Handel und Nahrung vom „Volk“ hin zur „Bevölkerung“ deutet Foucault als Beginn eines modernen Sicherheitsdispositivs. Vgl. Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (wie Anm. 6), S. 52–79. 4 3 Mosheim, Sitten-lehre (wie Anm. 3), S. 33, 90, 340 und Anonym, Fruchtsperre (wie Anm. 34), S. 3. Vgl. auch Anm. 2. 4 4 Münchhausen, Kornhandel (wie Anm. 29), S. 49. 4 5 Reimarus, Freiheit (wie Anm. 1), S. 131.

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wege auf Kosten von Lokalobrigkeiten, Adels- und Kirchenprivilegien sowie von exkludierten Minderheiten pragmatisch auszuweiten.46

III.  ‚Sicherheit machen‘

Im Extremereignis der Hungerkrise wird Sicherheit als fundamentale Machttechnologie fassbar, die weniger über technische Verfahren als über deklamatorische Akte erzeugt wird. Durch ‚Speichern und Sperren‘, aber auch durch Sicherheitspraktiken wie Marktregulation oder Wallfahrten wurde Sicherheit weniger physisch-technologisch als vielmehr normativ-sozial hergestellt und kommunikativ materialisiert. In der frühneuzeitlichen Gesellschaft verknüpfte Getreide alle Bereiche des sozialen, ökonomischen und politischen Lebens. In Krisenzeiten konnten über diesen Mechanismus neue Konstellationen von Sicherheitsnehmern und Sicherheitsgebern entstehen. Sie reichten von eigenwilligen Formen der Kollusion von Herrscher und Bevölkerung bis zu den territorial gedachten Sicherheitsregimen von Freihändlern und Physiokraten. Auch die um 1770 neu entstehenden, universal angelegten Konzepte von Sicherheit dienten aber weiterhin partikularen Interessen. In Johann Albrecht Heinrich Reimarus’ Urteil, Magazine stifteten „mehr Schaden als Nutzen“ und seien „nie zur Sicherheit zureichen[d]“, artikuliert sich der Versuch, mit der Zuweisung von Unsicherheit Politik zu machen.47 Klima und Wetter stellen daher auch in historischen Gesellschaften ­keine unmittelbaren Determinanten von Unsicherheit dar – wie es zuletzt etwa ­Le­Roy ­Ladurie nahe gelegt hat.48 Klimaimpulse können je nach gesellschaftlicher Wahrnehmung, Deutung und Adaption ebenso zur Ausweitung von politischer und ökonomischer Partizipation wie zur Exklusion instrumentalisiert werden. Aus der Perspektive des „Food Security“-Konzeptes stellen viele vermeintlich kontraproduktive Praktiken der Frühen Neuzeit eine durchaus angemessene Antwort auf die bestehenden Herausforderungen dar. Sie reagierten auf ein Mensch-UmweltSystem, dessen Vulnerabilität ebenso sehr durch Klimaextreme wie durch eine extrem stratifizierte Gesellschaft mit radikal ungleich verteilten „entitlements“ geprägt war. 4 6

Vgl. Brakensiek, Herrschaft (wie Anm. 31); sowie Wim Blockmans/André Holenstein/Jon ­Mathieu (Hrsg.), Empower­ing Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900, Aldershot 2009. 47 Reimarus, Preisschrift (wie Anm. 40), S. 1 070. Gleiches gilt auch für das moderne „Food Security“-Konzept, das über die Kennzeichnung von „nahrungsunsicheren Staaten“ dazu benutzt wird, Regierungen der Dritten Welt zu delegitimieren und Eingriffe in deren Souveränität zu begründen. 4 8 Emmanuel Le Roy Ladurie, Histoire humaine et comparée du climat: disettes et révolutions 1740–1860, Paris 2006.

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Als „Kultur der Unsicherheit“ lässt sich das Handeln der Zeitgenossen in dem Sinne verstehen, dass es weniger auf technische als auf gesellschaftliche Lösungen abstellte – eine Zielrichtung, die auch in der heutigen Nothilfe wieder verstärkte Aufmerksamkeit erfährt.49 Allerdings rückt dieser Begriff frühneuzeitliche Praktiken abermals in den Bereich des Defizitären und Älte­ritären. Stattdessen wäre wohl zu fragen, ob den zeitgenössischen Akteuren nicht stärker als uns bewusst war, wie sehr Sicherheit nicht mit Steinen gebaut, sondern mit Worten gemacht wird.

49

Bankoff, Cultures of Disaster (wie Anm. 10).

SEKTION VII · Ein frühneuzeitliches Erfolgs­modell: Sicherheit durch Versicherung

Cornel Zwierlein

Sicherheit durch Versicherung: Ein frühneuzeitliches Erfolgsmodell1 Hätte Antonio, Shakespeare’s ‚Kaufmann von Venedig‘, seine Schiffe versichert, wäre der ganze dramatische plot um das Pfund Fleisch, das ihm Shylock wegen nicht rückgezahlten Kredits (bzw. ‚Bürgschaft‘, bond) aus dem Körper schneiden durfte, nicht möglich gewesen, denn er hätte mit der nach Untergang der Schiffe fälligen Versicherungssumme die Bürgschaftsschuld begleichen können. Obwohl man in London in der Lombard Street und bei der Royal Exchange seit Mitte des 16. Jahrhunderts die maritime Seeversicherung, importiert von italienischen Händlern, sehr wohl kannte2, war diese wirtschaftliche Kulturtechnik offenbar 1596/98 (Abfassungs- bzw. Ersterwähnungs-Zeitpunkt des Stücks) noch immer nicht so gängig, dass dies dem plot die Glaubwürdigkeit geraubt hätte. – An diesem Beispiel wird sofort deutlich, dass die breite gesellschaftliche Kenntnis und Verankerung von ‚Versicherung‘ in der Frühen Neuzeit keineswegs selbstverständlich, sondern regional und zeitlich höchst unterschiedlich war – lange bevor wir uns darüber verständigen, über welchen Typus von ‚Versicherung‘ wir handeln. Mit dieser ‚breiten Kenntnis und Verankerung von Versicherung‘ ist hier für das frühneuzeitliche England ein Problem angesprochen, das in der Gegenwart ländervergleichend statistisch beobachtet wird. Heute sind (Prämien-)Versicherungen und das Versicherungsprinzip in westlichen Ländern zentrale Elemente gesamtgesellschaftlicher Sicherheitsproduktion. Man trennt in privaten und staatlichen Versicherungsschutz. Für den privaten Versicherungsschutz kann man Kennzahlen wie den der Versicherungsdichte und der Versicherungspenetration angeben: Es gibt hier eklatante Unterschiede 1 In dieser Einleitung wird auf einen weit ausholenden bibliographischen Forschungs­bericht

zur frühneuzeitlichen Versicherungsgeschichte jenseits einiger genannter Arbeiten verzichtet und der Schwerpunkt auf allgemeine theoretische Fragen gelegt. Für einen solchen Forschungsüberblick vgl. Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne (Umwelt und Gesellschaft 3), Göttingen 2011, S. 24–39. 2 Harold E. Raynes, A History of British Insurance, London 1964; Hugh A.L. Cockerell/ Edwin Green (Hrsg.), The British Insurance Business. A Guide to its History & Records, 2. Aufl. Sheffield 1994.

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zwischen den wirtschaftlich schwächeren und den westlichen Ländern.3 Marktanalysten schließen aus solchen Vergleichen, dass Länder wie Indien ‚unterversichert‘ seien, weil das Pro-Kopf-Einkommen an sich höhere Versicherungswerte erlauben würde, und dass bei entsprechender Nachfragestimulierung hier erhebliches Absatzpotenzial besteht. Schon in der Frühen Neuzeit haben, freilich ohne über so genaue Messwerte zu verfügen, seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Londoner Versicherer die englische Provinz als ‚unterversicherten‘ neuen Markt ‚erobert‘, und preußische, Hannoveraner und württembergische kameralistische Administratoren und kameralistische Publizisten warben für die Verbreitung von Versicherungsanstalten auf dem ‚platten Land‘. Ob das Konzept ‚Sich-Versichern‘ auch als kultureller Habitus sozial verankert sein muss, wird heute von Analysten meist weniger gefragt. Die historische Perspektive zeigt aber, dass mit dem Versicherungsprinzip auch eine Fülle solcher kultureller Faktoren verbunden ist wie etwa die Gängigkeit bestimmter Vorstellungen von Zeit- und Zukunftshorizonten, von Eigenvorsorge, von individueller Persönlichkeit. Aus Sicht vieler anderer Länder lebt man jedenfalls heute in Europa in einer ‚Versicherungsgesellschaft‘ – dass damit ein historisch lang gewachsener Unterschied angesprochen ist, mag unbewusst präsent sein, steht aber nicht sehr im Vordergrund. Im staatlichen Bereich sind die westlichen Länder ebenfalls durch komplexe Formen von Sozialversicherungssystemen charakterisiert, deren Ausprägungen stark variieren – etwa im Vergleich der englischen, amerikanischen, deutschen und französischen Systeme.4 Staatliche Sozialversicherungsformen funktionieren meist nur teilweise nach dem Muster von Prämienversicherungen, wären ohne dasselbe aber nicht denkbar. Beide Versicherungsformen sind nicht nur in ihrer Primär-, sondern auch in verschiedenen Sekundärfunktionen von erheblicher Relevanz für die Gesamtgesellschaft: die Weltöffentlichkeit und auch konkret die 3 Unter

der Versicherungsdichte eines Landes versteht man das Prämienaufkommen dividiert durch die Gesamtbevölkerungszahl: Diese liegt derzeit (Zahlen von 2009) für Frankreich (4269,2 $), Deutschland (2878,4 $), Schweiz (6257,7 $), UK (4578,8 $) sehr hoch im Vergleich zu Entwicklungs- und Schwellenländern (Bangladesch 5,2 $, Indien 54,3 $). Unter Versicherungsdurchdringung (Penetration) eines Landes versteht man den Anteil des Beitragsaufkommens am Bruttoinlandsprodukt, sie liegt in Westeuropa bei 7–14 %, in Entwicklungsländern deutlich tiefer (Bangladesh 0,9 %, Pakistan 0,7 %). Zahlen nach diversen Veröffentlichungen der SwissRE leicht abgreifbar kompiliert durch die indische Insurance Regulatory and Development Authority in Kap. 49/50 des Handbook on Indian Insurance Statistics 2009–10, www.irda.gov.in/ADMINCMS/cms/frmGeneral_Layout. aspx?page=PageNo1092&flag=1 (15. 01. 2013). 4 Vgl. nur Franz-Xaver Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, Frankfurt a. M. 2003; und die reiche zeithistorische Forschungsliteratur zur Wohlfahrtsstaatgeschichte, Hans G. Hockerts, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 199), Göttingen 2011, aus deutscher Perspektive.

Sicherheit durch Versicherung 383

verschiedenen Organisationen der UNO hätten kaum statistisches Material zur Selbstbeobachtung hinsichtlich großer Technik- und Naturkatastrophenschäden und ihrer Verteilung auf die Kontinente, würden nicht die beiden weltweit größten Rückversicherer MunichRe und SwissRe entsprechende Zahlen veröffentlichen.5 Auch die Sozialversicherungssysteme produzieren eine Fülle von Zahlen, die der Selbstbeobachtung der nationalen Gesellschaften dienen, auch jenseits der Arbeitslosigkeitsstatistiken. Versicherungen sind so, aufgrund der großen Zahl der bei ihnen Versicherten, auch komplexe Systeme der Beobachtung sozialer Systeme, freilich immer unter Einsatz bestimmter Informationsreduktionsregeln: nur ganz bestimmte Informationen werden selektiert. Entscheidend für diese gesamtgesellschaftlichen Primär- und Sekundär-Funktionen von Versicherungen ist ihre Institutionalisierung. Würden die Versicherungslogiken nicht in privatwirtschaftlichen oder staatlichen Institutionen eine (relativ) große Zahl von Fällen erfassen und wären sie so nicht strukturell auf Dauer gestellt, könnten sie weder zur Selbststeuerung noch zur Außenbeobachtung Daten-Serien produzieren, analysieren und speichern.6 Diese Institutionalisierung des Versicherungsprinzips in der uns heute bekannten Form geht auf die europäische Frühe Neuzeit zurück. Wenn so der Sektionstitel – in Erinnerung an vergleichbare Diskussionen7 etwas augenzwinkernd – vom ‚Erfolgsmodell‘ der Versicherung kündet, ist damit jenseits einer entsprechenden Werberhetorik zunächst das schlichte Faktum angesprochen, dass in einem selbstverständlich nicht material teleologisch8 zu konstruierenden Verlauf die frühneuzeitlichen Entwicklungen entscheidend und prägend waren. 5

Vgl. unter http://www.munichre.com/ (15. 01. 2013) die Publikationssparte und die ‚sigma‘Reihe der swissRe. Die UN-Organisationen bedienen sich extensiv dieser veröffentlichten Quellen, um Überblicke über globale Naturkatastrophenaufkommen zu gewinnen, aber auch für etliche andere Schadenssparten vgl. UN-Habitat,Enhancing Urban safety and security. Global Report on Human settlements 2007, London 2007, und neuere Publi­ kationen aus dem Bereich ‚Disasters and Conflicts‘ der UNEP (http://www.unep.org/ disastersandconflicts (15. 01. 2013)). 6 Andres Rehberg, Die stabilisierende ‚Fiktionalität‘ von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung, in: Bernhard Jussen/Reinhard Blänkner (Hrsg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 138), Göttingen 1998, S. 381–407. 7 Martin Tabaczek, Wieviel tragen Superlative zum historischen Erkenntnisfortschritt bei? Anmerkungen zum Beitrag von Johannes Burkhardt ‚Das größte Friedenswerk der Neuzeit‘ – Der Westfälische Frieden in neuer Perspektive, in: GWU 50 (1999), S. 740–747; Johannes Burkhardt, Über das Recht der Frühen Neuzeit, politisch interessant zu sein. Eine Antwort an Martin Tabaczek und Paul Münch, in: GWU 50 (1999), S. 748–756. 8 Zu den verschiedenen Formen, insbesondere formaler und materialer Teleologie in wissenschaftlichen Explikationen vgl. Wolfgang Stegmüller, Wissenschaftliche Erklärung und Begründung, Berlin u. a. 1981, S. 518–623.

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Zwar entstammen zweifelsohne die Versicherungen in ihrer genossenschaftlichen Form und auch in der Form der Prämienversicherung des frühkapitalistischen italienischen Mittelmeerhandels dem Mittelalter. Und hinsichtlich der anderen Epochengrenze zur Moderne hin lässt sich betonen, dass erst das 19. Jahrhundert mit den nationalen und dann globalen Großkonzernen und auch mit den nationalstaatlichen Sozialversicherungssystemen seit Bismarck die flächendeckende Durchsetzung von ‚Versicherung‘ bringt, so wie wir sie heute kennen.9 Und doch stellt die Frühe Neuzeit hier den entscheidenden Zwischenschritt dar, der allerdings nicht in allen Regionen Europas gleichzeitig und gleichermaßen vollzogen wurde, wie das Shakespeare-Beispiel sinnfällig macht. Jenseits der maritimen Transportversicherung findet sich die Institutionalisierung von Versicherungen vor allem in England und den deutschsprachigen Territorien, dort zuerst im Norden, dann bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auch im Süden. Dies betrifft vor allem die Feuer- und Lebensversicherungen als den institutionellen Matrizen für alle späteren Versicherungsinstitutionen.10 Es gibt freilich eine Fülle von Hybridformen in den skandinavischen Ländern, den Niederlanden, in Südeuropa und andernorts, und mit der Sklaverei-Lösegeld-Versicherung ist auch in diesem Panel eine solche vertreten.11 Mit der groben regionalen Einschränkung wird aber auf jene Phänomene verwiesen, dass es zum Beispiel im mittelalterlichen (oder rinascimentalen) Geburtsland der Prämienversicherung, Italien, bis Mitte des 18. Jahrhunderts keine prämienversicherungsförmige Institution, und auch dann erst und nur Versicherungsgesellschaften im Bereich der maritimen Transportversicherung gab (zuerst Genua 1742)12, während die anderen Bereiche, die in England und Deutschland florierten und weitflächige Streuung erfahren hatten (Feuer, Leben), entweder gar nicht bekannt waren oder keinen institutionellen Unterbau hatten. Ähnliches lässt sich, mit unterschiedlichen Differenzierungen, für Frankreich13 und die iberische Halbinsel sagen. Die Frühe Neuzeit kannte für manche Sachprobleme im Norden und Süden Europas und auch innerhalb dieser Regionen noch ganz unterschiedliche Lösungen. An 9

So behandelt der aktuelle Überblick fast ausschließlich das 19. und 20. Jahrhundert: Peter Borscheid (Hrsg.), World Insurance. The evolution of a global risk network, Oxford 2012. 10 Vgl. Robin Pearson, Insuring the Industrial Revolution. Fire Insurance in Great Britain, 1700–1850, Aldershot 2004; Geoffrey W. Clark, Betting on lives. The culture of life insurance in England, 1695–1775, Manchester/New York 1999; Geoffrey W. Clark (Hrsg.), The Appeal of Insurance, Toronto 2010; Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1). 11 Magnus Ressel, Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen: Nordeuropa und die Barbaresken in der Frühen Neuzeit (Pluralisierung & Autorität 31), Berlin 2012. 12 Andrea Addobbati, Commercio, rischio, Guerra. Il mercato delle assicurazioni marittime di Livorno (1694–1795) (Storia ed economia 22), Rom 2007, S. 156–160. 13 Didier Pouilloux, Mémoires d’assurances. Recueil de sources françaises sur l’histoire des assurances du XVIème au XIXème siècle, Mayenne 2011.

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vielen Orten erfüllte das kirchliche, in katholischen Gebieten stark ordensgetragene und früh-staatliche karitative Kollektenwesen lange Zeit Funktionen, die später versicherungsförmige Institutionen übernahmen. – Dies ist nicht der Ort, eine imaginäre Karte und Chronologie entsprechender versicherungsförmiger oder nicht versicherungsförmiger Vor- und Schadensnachsorge-Institutionen in ­Europa zu zeichnen. Dies wäre allerdings ein wünschenswertes Fernziel zukünftiger Forschung: Die Oberfrage müsste dann bewusst nicht sofort auf ‚Versicherungen‘ zielen – zumindest nicht, wenn man die engere Bedeutung des Wortes im Sinn hat –, sondern allgemeiner auf institutionelle Muster individueller wie kollektiver Schadensvor- und -nachsorge und funktionelle Äquivalenzen hinsichtlich gleicher Gefahren und Problemlagen. Dass hier die alte, aber nach wie vor richtige Frage nach konfessionskulturellen Unterschieden und Ähnlichkeiten im europäischen Vergleich eine große Rolle spielt, kann nur angedeutet werden.14 Die Forschungslage zur spätmittelalterlichen Entstehung der Prämienversicherung, ihren verschiedenen Ausprägungen und ihrer Diffusion in den Hafenstädten zunächst Italiens, dann entlang der anderen Mittelmeer-Küsten Südeuropas, dann der französischen und niederländischen Küste bis ins 15./16. Jahrhundert ist relativ dicht.15 Für die Frühe Neuzeit hingegen lassen sich eher Cluster-Bildungen hinsichtlich einiger Regionen und einiger Themen und Fragestellungen beobachten, während schon die oben angedeutete Makroperspektive eines europäischen Vergleichs kaum vorzufinden ist. Dies liegt daran, dass die Forschungen, die existieren, fast immer auf eine Stadt, eine Region oder maximal eine Nation (bzw. einen Teil von ihr) wie England bezogen sind, die jeweiligen Autoren also gar keinen Anlass hatten, die Vergleichsfragen zu stellen.16 Eine Fragestellung, die speziell die frühneuzeitlichen Forschungen bündelte und auch in einen allgemeineren Horizont hinein vermittelte, war die nach der Stellung der Versicherungen im Rahmen der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung, insbesondere der sogenannten ‚Probabilistischen Revolution‘, wie sie in den 1970ern und 1980ern mit den Namen Ian Hacking und Lorraine Daston verbunden ist. Das Anwendungsfeld hierfür war notwendiger Weise die Lebensversicherung, da die Frühformen der Wahrscheinlichkeitsmathematik nur auf dieses Gebiet 14 Modellierungen hierzu bei Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 244–262; und Ressel,

Sklavenkassen (wie Anm. 11), S. 732–754. Von den Grundlagenwerken Enrico Bensas, Federigo Melis, Giuseppe Stefanis abgesehen, sei auf den Überblick bei Lucas A. Boiteux, La fortune de mer. Le besoin de sécurité et les débuts de l’assurance maritime, Paris 1968; und ideengeschichtlich auf Antonio La Torre, L’Assicurazione nella storia delle idee. La risposta giuridica al bisogno di sicurezza economica – ieri e oggi. 2. Aufl. Mailand 2000, verwiesen. 1 6 So tiefschürfend einerseits etwa Frank Spooner, Risk at Sea. Amsterdam Insurance and Maritime Europe, 1766–1786, Cambridge 1983, ist, so sehr ist die Perspektive auf bzw. aus der einen Metropole verengt. 15

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bezogen waren – zunächst auch gar nicht wirklich hinsichtlich des Problems ‚Versicherung‘, sondern allgemeiner hinsichtlich der Frage nach der Berechnung von Regelmäßigkeiten von Mortalitätsraten bestimmter Städte (der Fall Breslau erlangte eigentlich zufällig eine große Bedeutung nicht nur in den Kreisen der Londoner Royal Society).17 Selbst für die Lebensversicherungen hat Daston betont, dass der tatsächliche und auch werbewirksam in der Konkurrenz mit anderen Anbietern am Markt angepriesene Einsatz von Probabilistik als operativem Steuerungsinstrument durch eine Lebensversicherungsgesellschaft nicht vor 1762 erfolgte.18 Diese Beobachtung ist sehr wichtig, sie darf aber nicht dazu verleiten, vorherige Formen von Versicherung als schlicht vormodern zu charakterisieren. Vielmehr könnte diese Beobachtung eher dazu anregen, die im engeren Sinne wissenschaftsgeschichtliche Rahmung von Versicherungsgeschichts-Forschung eben nur als eine mögliche (und sehr wichtige) Herangehensweise zu begreifen, die aber sogar von einem großen Bereich der tatsächlich manifesten PraxisDimension ablenken kann. Der größte Teil der Unternehmen und auch staatliche Versicherungsanstalten in fast allen Versicherungssparten hat bis weit ins 19. Jahrhundert hinein und darüber hinaus weitgehend ohne Einsatz von einzelnen oder gar in Abteilungen konzentrierten Versicherungsmathematikern und nur mit sehr einfachen Dreisatz-förmigen Wahrscheinlichkeitsschätzungen gearbeitet. Das heißt aber nicht, dass hier vollkommen dysfunktional vorgegangen worden wäre. Die Praxis spielte sich, und dies auch immer wieder in neuen unbekannten Regionen und Märkten, im trial-and-error-Verfahren relativ stabil ein. Die vormodern/modernGrenze ließe sich nicht so einfach an diesem Kriterium festmachen. Die ungemein breite Verankerung von ‚Versicherung‘ in der englischen Lebenswelt des 18. Jahrhunderts hat Geoffrey Clark in seinem Buch Betting on Lives aufgezeigt: gerade weil Versichern ein schon so gängiger und funktionaler Bestandteil alltäglicher Eigenvorsorgepraktiken war, konnte es auch Teil einer Spiel- und Humor-Kultur sein, man konnte auf Kriegserfolge Wettversicherungen abschließen, so dass sich Lotterie-Formen und Versicherungen überschnitten – ein altes Erbe, denn Wettversicherungen auf den Zeitpunkt des Ablebens eines Papstes oder auf die Wahl des nächsten Papstes sind seit dem 15. Jahrhundert überliefert.19 Zentral 17 Ian

Hacking, The emergence of probability. A philosophical study of early ideas about probability, induction and statistical inference, Cambridge 1976; ders., The Taming of Chance (Ideas in context 17), Cambridge 1990; Lorenz Krüger u. a. (Hrsg.), The Probabilistic Revolution, Bd. 1: Ideas in History, Cambridge/MA 1987; Lorraine J. Daston, Classical Probability in the Enlightenment, Princeton 1988. 18 Die Society for Equitable Assurances on Lives and Survivorships von 1762, vgl. Daston, Classical Probability (wie Anm. 17), S. 137, 172–174. 19 Beispiele nach den Quelleneditionen von Federigo Melis bei Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 33.

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ist es aber, diese ‚spielerische Seite‘ als Spiegel der allgemeinen gesellschaftlichen Vertrautheit mit der Institution zu verstehen, nicht als Ausdruck eines peripheren oder noch unausgereiften Charakters. Die Kurven der Prämieneinnahmen steigen für die verschiedenen englischen Feuer- und Lebensversicherungen, für die das Archivmaterial zum 18. Jahrhundert noch so weit erhalten ist, deutlich und kontinuierlich an20, ähnliches gilt für die Versicherungssummen der einzelnen territorialen Kassen und Versicherungen im deutschsprachigen Raum: Versicherungsdichte und auch Versicherungspenetration (bei freilich schwer messbarem Bruttoinlandsprodukt) steigen deutlich wahrnehmbar über einen langen Zeitraum in den frühneuzeitlichen Gesellschaften – wenn wir heutige Begriffe auf diese vergangene Situationen anwenden. Eine solche erweiterte Geschichte von Sicherheitsproduktions-Institutionen, in denen Elemente der Eigenvorsorge, aber auch der kollektivierten Fremdfürsorge nach versicherungsförmigen oder zu ihnen funktional äquivalenten Mustern eingebunden sind, tut gut daran, die Untersuchung in einige größere Problemkomplexe einzuordnen. Mit der Frage der Institutionalisierung ist ein solcher Komplex schon angedeutet21: es gilt hier zu untersuchen, wie Elemente der Prämienversicherung, wie sie im mediterranen Handel als kaufmännische Praxis zwischen einem versicherten Kaufmann auf der einen und einem oder mehreren pro Police jeweils einzeln zeichnenden Versicherern zum Einsatz kam, in Kollektivstrukturen privatwirtschaftlicher oder staatlicher Natur eingebaut wurden. In England wurde das Modell von mutual societies oder joint stock companies, wie es bei den Fernhandels 2 0

Pearson, Insuring (wie Anm. 10), passim; Peter Borscheid/Anette Drees (Hrsg.), Versicherungsstatistik Deutschlands 1750–1985 (Quellen und Forschungen zur historischen Statistik von Deutschland 4), St. Katharinen 1988; Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 93–119. 21 Im deutschsprachigen Forschungszusammenhang kann man für Institutionentheorie auf die Forschungen des ehemaligen Dresdner SFB 437 verweisen, was den Vorteil hat, dass hier ein Gesamtzusammenhang von Deutungskonzepten vorliegt, die ‚Institutionalität‘ gerade auch für die Vormoderne rahmen. In der wirtschaftshistorischen Theoriebildung wird hier stärker das Verhältnis von ökonomischen ‚Ideen‘ und institutionellen Strukturen reflektiert (etwa Mark Blyth, Great Transformations. Economic Ideas and Institutional Change in the Twentieth Century, Cambridge 2002; Olivier Brette, Thorstein Veblen‘s Theory of Institutional Change. Beyond Technological Determinism, in: The European Journal of the History of Economic Thought 10 (2003), S. 455–477; Joachim Zweynert, How can the History of Economic thought Contribute to an Understanding of Institutional Change, in: Journal of the History of Economic Thought 29 (2007), S. 189–211. Im vorliegenden Zusammenhang geht es aber weniger um eine komplexe ökonomische Theorie von ‚Versicherung‘, sondern um eine wirtschaftskulturelle Praxis, einen Denkund Handlungsrahmen, der von einem wirtschaftlichen Kommunikationsbereich in den europäischen Hafenstädten in vorfindliche obrigkeitliche Strukturen (oder neue, analog nach vorfindlichen gebildete) eingebracht wurde.

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gesellschaften (etwa der East India Company) erprobt worden war, als strukturelle Matrix genommen. Nun versicherte die Gesellschaft als Institution und im Falle der joint stock companies war das Kapital der Prämieneinnahmen nicht (oder nur teilweise) mit dem Gesellschaftskapital und seiner hypothekenförmigen Sicherung identisch. Im nordeuropäischen Raum, einsetzend mit der Sklavereiversicherung (1622/24), dann der ersten Feuerkasse (1676) in Hamburg, ähnlich dann auch in Lübeck und Dänemark, wurde das Prämienversicherungsprinzip in obrigkeitlich organisierte Kassen eingelassen: die strukturelle Matrix waren hier ‚Kästen‘ und ‚Laden‘ und die fiskalische Verwaltungslogik der Kämmerei selbst. Es gab teilweise genossenschaftsähnliche Vorläufer, die aber nun aus dem bilateralen oder multilateralen Verhältnis in eine obrigkeitliche Institution überführt und auch mit den Mitteln des Mitgliedszwangs versehen wurden oder werden konnten. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts waren es diese Institutionen, die das Prämienversicherungsprinzip aus dem engen Spezialistenkreis der kaufmännischen Welt in weitere Kreise, auch schlicht räumlich, ins Binnenland hinein transferierten. Die englischen Versicherungs-Handelsgesellschaften operierten zunächst stark London-zentriert und entwickelten dann aber in England (erst mit deutlichem zeitlichen Abstand in anderen britischen Gebieten) ein Agentur-Netzwerk. Die nordeuropäischen, kameralistischen Institutionen (Brandkassen, aber auch Witwen- und Waisenkassen) wurden in einem interterritorialen Imitationsprozess von einem Territorium (meist Reichsstand) zum nächsten getragen oder die institutionellen Schemata wurden über die bald florierende kameralistische Publizistik rezipiert und dann in die innerstaatliche Verwaltung integriert. Auf diese Weise verbreitete sich überhaupt erst die Praxis des Prämienversicherns in Europa. Das Prämienversichern ist eine besonders spezifische Praxis von Eigenvorsorge, man dürfte wohl auch eine Fülle anderer Praktiken benennen können, in denen ähnlich, wenn auch nicht exakt im Prämienzahlungsmodus, Eigenvorsorge neu hochgewertet und gerade von Seiten der Staatswirtschaft stimuliert wurde, etwa im Bereich der Medizinalpolicey, physiokratischer und agrar-kameralistischer Verwaltungsreformen. Mit diesem Punkt ist eine weitere allgemeine Frage verbunden, über die die Versicherungsgeschichte als Teil größerer Fragenkomplexe zu einer Sicherheitsgeschichte als neuem Feld der Geschichtswissenschaft beitragen kann: Es geht um die mit dem Eigenvorsorge-Prinzip verbundene fundamentale Perspektivverschiebung, die das Verhältnis von Individuum und Staat/Gesellschaft in eine neue Ausrichtung bringt. Mit der Versicherungsgeschichte ist so auch eine Geschichte dieser Relationen und von Individualität angesprochen. Es gibt in der Frühneuzeitgeschichte und noch allgemeiner auch der historischen Soziologie eine lange Tradition, die Wirkung von Reformation und Protestantismus mit einem ‚Individualisierungsschub‘ zu verbinden, weil nun der einzelne mit seinem Glauben a priori jenseits kirchlicher Institutionen direkt Gott gegenüber zu

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stehen hatte.22 Auch Jacob Burckhardts Stilisierung des autonomen Individuums der Renaissance gehört zu den Grund-Fundamenten und zugleich -Mythen der Frühneuzeitforschung.23 Hieran schließt eine inzwischen breite, kritische Diskussion zu Konzept und Begriff von Individualität und Individualisierung an. Als ein verwandtes Wertproblem wurde etwa die Umstellung von Gemeinnutz auf Eigennutz als ein langer Prozess angesprochen.24 Diese eher religions- und geistesgeschichtliche Fragestellung ist in der Frühneuzeitgeschichte zwar über die Ego-Dokument-Forschung mit einem methodisch neuen und weniger auf Moderne ausgerichteten Impetus versehen worden; dadurch, dass man nahezu jeden Quellentyp weit jenseits des Autobiographischen als Ego-Dokument deklarieren konnte (etwa Zeugenaussagen vor Gericht u. ä.), kam auch das Individuum im institutionellen Zusammenhang in den Blick.25 Meist aber führte die Ego-Dokument-Forschung doch eher von der Betrachtung institutioneller Logi­ ken, die auf den Einzelnen jenseits von Kollektiven abstellen, ab: man wollte ja Aussagen über das Fühlen, Empfinden und die Alltagswelterfassung der einzelnen Subjekte treffen, weniger über das Institution/IndividualisierungsanspruchVerhältnis. Wie nun hier im Bereich von Schadensvor- und -nachsorge das Eigenvorsorgeprinzip jahrzehnte-, ja jahrhundertelang langsam ‚eintrainiert‘ wurde, und wie damit auch das Individuum mit Freiheit und auch Last der Verantwortung für sich selbst in einem klarer antizipatorischen Sinne konfrontiert wurde, ist wenig untersucht. Die Quellen der Versicherungsgeschichte sind zunächst einmal ‚dürre‘ Verwaltungsakten, sowohl in den Unternehmens- wie 2 2

Ausgangsformulierung für eine ganze Folge von Thesenbildungen war die These vom „Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums“ als ­Folge der Reformation bei Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders., Die protestantische Ethik I, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 8. Aufl. Gütersloh 1991, S. 122. Die soziologische Theoriebildung der ‚Klassiker‘ zu Individuum/Individualisierung (Weber, Simmel, Horkheimer/Adorno, Foucault, Durkheim, Parsons, Luhmann, Elias, Beck) systematisiert Markus Schroer, Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theorieperspektiven, Frankfurt a. M. 2000. 2 3 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien [Text der 2. Aufl. Leipzig 1869], Stuttgart 1988, II. Abschnitt: ‚Entwicklung des Individuums‘, S. 97–124. 24 Winfried Schulze, Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normenwandel in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs 13), München 1987. 2 5 Richard van Dülmen (Hrsg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2001; ders., Die Entdeckung des Individuums: 1500–1800, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2002. Ausgehend von der Ego-Dokument-Forschung hat man freilich den ‚Individuum‘-Begriff schon nahezu abgelegt, der bei Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1, Nr. 2 (2002) (www.zeitenblicke.de/2002/02/ rutz/english.html, 3. 1. 2013), gibt zwar nicht den letzten Forschungsstand, in der Problemgewichtung aber immer noch den gegenwärtigen Diskussionsstand wieder.

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den staatlichen Archiven, sie legen aber Zeugnis ab, wie in serieller Form jeder, der in die Versicherungsbücher und die Listen und Kataster der Kassen eingezeichnet war, und der im Gegenzug seine ‚Police‘ oder Versicherungsschein erhielt, ein Bewusstsein erlernte und dann hatte, eine Art unsichtbaren Sicherheitsschirm um sein Hab und Gut legen zu können und zu müssen; sie legen ein Zeugnis davon ab, dass der Einzelne so auch ein Anspruchsbewusstsein entwickeln konnte. Hier ist der staatliche Fall im mittel- und nordeuropäische Raum besonders interessant, weil über die versicherungsförmige Logik die Obrigkeit dem Einzelnen letztlich in Gewand bilateraler vertragsähnlicher Beziehungen gegenüberstand – auch wenn im ersten Reflex beispielsweise die Institutionen der Brandkassen gerne als neue Steuern missverstanden wurden. Aber aus diesen jeweils proportional zum Wert des versicherten Eigentums berechneten Prämienzahlungen erwuchs dem Einzelnen etwas, was es so vorher kaum gab, einen auf bestimmte Leistungsakte bezifferbaren und eingrenzbaren individuellen Anspruch auf Zahlungen im Schadensfall gegen seine Obrigkeit. Die Forschungen zur frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit haben gezeigt, dass natürlich jenseits dieser Fälle schon lange das Bewusstsein bis hin zum einzelnen Bauern des 16. Jahrhunderts bestand, Rechtsansprüche zu besitzen, etwa in dem Sinne, dass man vor unrechtmäßigen Übergriffen der Obrigkeit ab einem gewissen Punkt notfalls durch die Reichsgerichte geschützt werden konnte.26 Aber die Logik dieses Rechtsdenkens speiste sich meist aus einem Komplex, in dem vom all­gemeinen Schutz-Schirm/Untertänigkeits-Verhältnis, von bisherigen Gebräuchen und von angestammten oder verbrieften Privileg-Positionen abgeleitet wurde. Das Privileg als Rechtsinstitut kommt dabei der Anspruchsbegründung am nächsten, eigentlich ist es aber immer umgekehrt konstruiert: es ist ein vom Oberherrn gewährtes Ausnahme- oder Vorrecht eines Standes, nur bis zu den Grenzen des privilegmäßig Geschützten belastet zu werden, oder eine Zusage, dass der Oberherr seine Rechte (etwa Regalrechte) insoweit abtritt bzw. zugunsten des Privilegierten nicht in Anspruch nimmt, also eher eine Abwehr- als eine Anspruchskonstruktion, die der Idee nach immer freiwillig vom Herrn erteilt wird.27 Eigenvorsorgelogiken, wie sie besonders deutlich das Prämienversiche 2 6 Rita

Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht: Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 33), Köln 1999. 27 Heinz Mohnhaupt, Privileg, Gesetz, Vertrag, Konzession. Subjektives Recht und Formen der Rechtserteilung zwischen Gnade und Anspruch, in: Tiziana J. Chiusi u. a. (Hrsg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift Elmar Wadle zum 70. Geburtstag (Schriften zur Rechtsgeschichte 139), Berlin 2008, S. 627–642. Speziell zu den privilegia de non appellando als einem von vielen solcher Privilegien, im Bereich des Rechtswesens aber zentral, weil damit ganze Rechtssphären abgeschichtet und in Subsidiaritätsverhältnisse gesetzt wurden, schon vor langer Zeit Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen privilegia de non

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rungsprinzip in die staatlichen Institutionen einführt, statten jetzt den Einzelnen mit einem durch seine eigenen Zahlungsleistungen begründeten Anspruch im Schadensfall gegen die Obrigkeit aus. Es wäre verfehlt, aus diesen zum Teil zarten Anfängen eine säkulare Umstellung von obrigkeitlicher Herrschaft auf den Dienstleistungsstaat schon in der Frühen Neuzeit zu konstruieren. Aber es ist ein Vorgang, der doch in faszinierender Weise in langen Serien von Verwaltungsakten an ungewohnter Stelle, im Herzen der Verwaltungen und nicht in kleinen Gelehrtenzirkeln und Salons, eine Praxis-Manifestation jener altbekannten Logik gibt, dass der aufgeklärte Staat die das Ancien Régime transzendierende Bürgerlichkeit zu guten Teilen selbst schafft: denn es ist der kameralistische Staat, der das Primärziel verfolgt, sich selbst von stark belastenden und unplanbaren, weil plötzlich auftretenden, Hilfsgeldern in Katastrophensituationen zu entlasten und hier den Untertan/Bürger mit der Pflicht zur Generierung eines Eigenvorsorge-Fonds zu belasten. Dass er damit sekundär ein Anspruchsdenken Bürger vs. Staat einübte, war nicht intendiert. Im englischen Fall waren – nach einem winzigen einjährigen Intermezzo 1681/2 – Versicherungen nie staatlich organisiert, insofern ist hier diese Logik nicht zu beobachten. Dies entspricht aber auch dem Muster, wie das englische/britische Staat/Gesellschaft- und Staat/ Wirtschaft-Verhältnis insgesamt zu konzipieren ist, schon lange vor der Smith’schen theoretischen Konzeptualisierung: als stärker auf die Eigenlogik der Bereiche, weniger auf eine kommutative Verzahnung wie der kontinentale Eudä­ monismus setzend. Nichtsdestoweniger üben auch hier die Versicherungsgesellschaften die Möglichkeit und zunehmend auch den gelinden Druck ein, sich seine eigene Sicherheit zu kaufen. Eigenvorsorge, eigene Sicherheits-Sorge und Individualität werden hier nicht in einem emphatisch-romantischen Sinne, sondern als Praxis greifbar. Bei den Witwen- und Waisenkassen wird zunächst gerade für die eigenen Bediensteten des Staates ein ähnliches Anspruchsverhältnis dieser Bediensteten und ihrer Angehörigen als Privatleute und Bürger gegenüber dem Dienstherrn eingeübt. Hinsichtlich des Falls der Versicherung auf Lösegeld zum Freikauf aus Gefangenschaft von Seeleuten, die insbesondere von Barbaresken-Korsaren gefangengenommen wurden, kann man sogar die Frage stellen, ob hier der Sicherheitsanspruch gegenüber der Obrigkeit (dass Hamburg oder Dänemark das Geld der Kasse sowohl zur diplomatisch-politischen Bewerkstelligung wie zur Lösegeldsumme selbst verwendet) sich nicht mit einem besonderen und wachsenden Bewusstsein für Wert und Würde der einzelnen Person paart, so dass diese Institutionen auch etwas mit der inzwischen von verschiedenen Autoren und auf sehr unterschiedlicher Quellenbasis beruhend vorangetriebenen Geschichte der Menschenrechts-Entwicklung in der früh­ appellando (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 7), Köln 1980.

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neuzeitlichen longue durée zu tun haben.28 Dies wäre wieder ein anderer Weg als bisher in den verschiedenen Grund- und Menschenrechtsgeschichten eingeschlagen, nämlich Strukturmechanismen zu suchen, die institutionell jenseits jeder Ideengeschichte subjektive Rechtspositionen als Habitus einüben. Sich Sicherheit kaufen (müssen), Anspruch auf Sicherheit haben – das sind fundamentale Praktiken und Vorstellungen, deren Genese sich eine allgemeine Sicherheitsgeschichte annehmen muss. Beide genannten Aspekte, Institutionalisierung und das Eigenvorsorge/Individualitäts-Moment, sind mit einem dritten verbunden, das zu recht rasch mit ‚Versicherung‘ assoziiert wird und das mit der Erwähnung der Antizipation schon anklang: Versicherungen scheinen zu einem neuen Typus von Zukunftsplanung zu gehören.29 Sie transformieren Gefahren in kalkulierbare Risiken30, wie die gängige Formulierung lautet, die vor allem in der Risikosoziologie gepflegt wird.31 Dies ist auch richtig im Allgemeinen, allerdings hat die historische Forschung bislang noch relativ wenig selbst zur Historisierung dieser operativen Zeithorizonte und Mentalitäten beigetragen. ‚Zeitvorstellung‘ und ‚Mentalität‘ assoziiert man in diesem Kontext mit Le Goffs treffendem Essay von der Ablösung der ‚Zeit der Kirche‘ durch die ‚Zeit der Kaufleute‘32, aber es hat wenig nachfolgende Studien 28 Ressel, Sklavenkassen (wie Anm. 11), S. 732–754, deutet diese These an. Für die Historio-

graphie der Menschenrechtsgeschichte nun Samuel Moyn, Die neue Historiographie der Menschenrechte, in: GG 38 (2012), S. 545–572, wobei die Behauptung, vor 10 Jahren habe es das Feld der Menschenrechtsgeschichte noch nicht gegeben, verfehlt erscheint; vgl. schon Günter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution 1848 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte 1), Göttingen 1981, und die folgenden Bände der Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte. Auch dort war allerdings in der Tat der Fokus immer entweder auf der Ideengeschichte oder auf politisch-rechtlichen Auseinandersetzungen, in denen sich Anspruchsdenken schon kristallisierte. Auch Wolfgang ­Schmales Studie zur Archäologie der Grundrechte ist nicht erfasst. 2 9 Vgl. allgemein Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979; ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 131–201; Rudolf Wendorff, Zeit und Kultur: Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980; Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Stanford 1991, 109–143; Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999, S. 34–55. Jetzt auch das allerdings zeithistorisch akzentuierte American Historical Review Forum ‚Histories of the Future‘, in: AHR 117 (2012), S. 1402–1485. 3 0 Niklas Luhmann, Risiko und Gefahr, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5: Konstruktivistische Perspektiven, Wiesbaden 2005, S. 126–162. 31 Im deutschen Sprachraum weniger bei Ulrich Beck selbst als bei Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewissheit in der Moderne, Hamburg 1995, ausgeführt. 3 2 Jacques Le Goff, Au Moyen Âge. Temps de l‘Eglise et temps du marchand, in: ders., Pour un autre Moyen Âge. Temps, travail et culture en Occident, Paris 1978, S. 46–65; diese Anregungen aufnehmend etwa Gerard T. Moran, Conceptions of Time in Early Modern

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gegeben, die jenseits der Beobachtungen des Übergangs von liturgischen Zeiteinteilungen zu uhr- und kalendergestützter Zeitmessung versuchten, Zeithorizonte zu charakterisieren und zu historisieren, die mit bestimmten überlieferten oder neuen Kommunikationszusammenhängen und Institutionen verbunden waren und so – um den viel diskutierten Begriff hier kurz, ohne großen systematischen Anspruch zu verwenden – ‚Mentalitäten‘, Denk- und Handlungsrahmen formten bzw. ihnen eingelagert waren. Versichern, Versicherungen, versicherungsinstitutionelle Kommunikation sind ein solcher für die historische Untersuchung lohnender Kommunikationszusammenhang. Hierzu sogleich noch ein paar Ausführungen. Auf einer anderen Ebene werden ‚Versicherungen‘ und die ihr eigene Temporalität sowie die Gefahr/Risiko-Transformationsleistung in ganz großen Zusammenhängen als Epochenscheidungs-Indikatoren verwandt und damit auch zeit-‚historisch‘ von Bedeutung – so in der Risikosoziologie, wo ‚Versicherbarkeit‘ bestimmter Gefahren (oder nicht) als Lackmustest für die Unterscheidung von Erster/Zweiter Moderne und latent auch von Vormoderne/Erster Moderne verwandt wird, was allerdings selbst systematisch umstritten ist.33 Dies ist eine andere Ebene von Zeit/Zeitlichkeits-Historisierung als die erst erwähnte mentalitätsgeschichtliche, bzw. diese zweite Ebene nutzt (angenommene, eigentlich so gar nicht in verfügbarer Historiographie erarbeitete) aggregierte Ergebnisse der ersten für eine Thesenbildung. Die Risikosoziologie kümmert sich dabei aber kaum um dieses ihr eigenes historisches Narrativ. Entsprechend ist aber die Frage, ob wir uns als Historiker einfach mit der Übernahme der Rede von der ‚Transformation von Gefahren in Risiken‘ begnügen – die Vormoderne habe nur fatalistische, gottgegebene Gefahren gekannt, erst die Neuzeit/Moderne habe dann die Kalkulierbarkeit dieser Gefahren als Risiken eingeführt –, oder ob wir hier eigene Differenzierungen vornehmen. Eigentlich müssten wir erst die kleinteiligen mentalitäts- bzw. denkrahmen-historischen Studien zu den in institutionelle Kommunikationen eingelassenen Zeithorizonten nachliefern, bevor man aus deren Aggregation wieder Großthesen ableiten kann. Ähnliches ist hinsichtlich France: An Approach to the History of Collective Mentalities, in: The Sixteenth Century Journal 12, 4 (1981), S. 3–19; Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München/Wien 1992; Daniel H. Kaiser/Peyton Engel, Time- and Age-Awareness in Early Modern Russia, in: Comparative Studies in Society and History 35 (1993), S. 824–839. Die Emergenz von Praxis und Konzeption der ‚Pünktlichkeit‘ will Max Engammare, L’Ordre du Temps. L’invention de la ponctualité au XVIe siècle, Genf 2004 ,exakt in das Genf Calvins verorten. 3 3 Vgl. etwa zur Kritik an Ulrich Beck in diesem Sinne Richard V. Ericson/Aaron Doyle, Catastrophe Risk, Insurance and Terrorism, in: Economy and Society 33 (2004), S. 135–173. Im Detail hierzu nun Cornel Zwierlein, Grenzen der Versicherbarkeit als Epochenindikatoren? Von der europäischen Sattelzeit zur Globalisierung des 19. Jahrhunderts, in: GG 38 (2012), S. 423–452.

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des wichtigen Koselleck‘schen Konzepts der ‚offenen Zukunft‘, die sich in der Aufklärung durchsetze, zu vermerken. Dieses bezog sich auf Geschichtstheorien und Weltkonzepte, also auf die Entstehung von teleologischen Geschichtsbildern und Fortschrittstheorien in Ablösung von älteren Zyklenmodellen. Auch die hierhin gehörende Unterscheidung in Prophezeiung und Prognose ist systematisch hilfreich und im gedrängten Schnellschritt durch die Jahrhunderte richtig.34 Es ist aber fraglich, ob man diese Ansätze ohne weiteres auf kleinteiligere politische, wirtschaftliche und staatliche Verwaltungsprozeduren anwenden kann. Sicher: Staatlichkeit und Gesellschaftsvorstellung selbst sind in der Aufklärung mehr und mehr von der Vorstellung der Perfektibilität, nicht nur des Einzelnen, sondern der Gesamtstrukturen geprägt, was sich auch verwaltungspraktisch in Begriffen wie dem ‚improvement‘ oder der ‚mélioration‘ ausdrückt35, und Versicherungsinstitutionen sind in diese Modelle eingebaut. Dies lässt sich allerdings in der Analyse von Texten der praktischen Aufklärung besser für den deutschsprachigen Raum als für den englischen nachweisen.36 Wenn wir aber an die lange vormoderne Versicherungsgeschichte vor der Aufklärung – und im kontrollierenden Seitenblick auch an andere Bereiche – denken, ist zu fragen, ob hier mit diesem auf die Gesamtgesellschaft bezogenen Zukunftsöffnungs-Modell schon alles gesagt ist. Schon in der Geschichte politischer Planung und der Umstellung von ‚Regierung‘ auf projektförmige Selbststeuerung seit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert wird im Kreis von frühneuzeitlichen Politikern die funktionale Situationsanalyse und szenarienförmige Zukunftsplanung eingeübt. Diese neue Form von Gegenwartswahrnehmung und das Entwerfen von Bildern möglicher Zukünf 3 4 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt,

Frankfurt a. M. 1959; ders., Vergangene Zukunft in der frühen Neuzeit [1968]; ders., Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Zwei historische Kategorien [1976], in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1995, S. 17–37 und 349–375; Niklas Olson, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012. 3 5 Vgl. für den staatlich-kolonialen „improvement“-Sprachgebrauch im britischen Kontext etwa John H. Elliott, Empires of the Atlantic World. Britain and Spain in America 1492–1830, New Haven 2006, S. 88–97; Richard Drayton, Nature’s Government. Science, Imperial Britain, and the ‚Improvement‘ of the World, New Haven 2000. Die französischen ParallelBegriffe „(r)établissement“ und „mélioration“ sind noch weniger zum Gegenstand eigener Untersuchungen/Kapitel gemacht worden, sie prägen aber die Verwaltungssprache des Absolutismus in Frankreich und im 18. Jahrhundert auch etwa in Preußen. 3 6 Dies liegt daran, dass jenseits von einigen bekannten Bemerkungen (etwa in Defoe’s On Project) in der englischen wirtschaftstheoretischen Publizistik von den Merkantilisten bis Smith ‚Versicherungen‘ kaum berücksichtigt werden, es erfolgt keine Reflexion auf die gesamtgesellschaftliche oder -staatliche Funktion. Ganz anders im Kameralismus, wo in vielen Traktaten, die seit spätestens um 1750 breit zirkulieren, in der Tat Perfektibilitätsund Wachstumsdenken mit den Versicherungsanstalten verknüpft werden: Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), passim.

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te, die als andere, nur noch nicht realisierte Gegenwarten tableauartig narrativ in Gutachten, Reformplänen, Projekten verschriftlicht werden, produzieren kon­ text-, autor- und adressatenbezogen jeweils spezifische Projekt-Zukunftshorizonte, ohne dass notwendig immer schon ein gesamtgesellschaftlicher teleologischer Fortschrittshorizont im Hintergrund stehen muss.37 Dies ist eine Entwicklung im Bereich politischer Kommunikation, der chronologisch relativ parallel zu der im wirtschaftlichen Bereich abläuft, wo die Versicherungen ihren Platz haben. Was gilt es also eigentlich zu historisieren? Ich habe vorgeschlagen, hier zwischen verschiedenen Zeithorizonten zu differenzieren: Neben solchen gesamtgesellschaftlichen Zeithorizonten, die bei Koselleck oder in den Großepochen-Einteilungen der Soziologie angesprochen sind, können eben auch kleinräumigere, gruppen- und funktionsbezogene emergieren und koexistieren, so dass Zeitgenossen bei jeweils unterschiedlichen Tätigkeiten auch durchaus frei zwischen solchen operativen Horizonten wechseln können.38 Mancher operative Horizont mag dann die gesamtgesellschaftlichen Zeithorizonte vorbereiten, aber er muss nicht. Dies dürfte für den Bereich von Häfen und den maritimen Handelszentren in der Versicherungskommunikation und für die dann folgenden Versicherungsinstitutionen gelten. Zudem ist zu berücksichtigen, dass nicht die Zeithorizonte allein, sondern die Raum-Zeit-Relationen im Blick sein müssen, was bei einer Vielzahl von Versicherungstypen (Transport, Immobilien) wichtig ist. Der ursprüngliche ‚risigo/risico‘-Begriff, wie er in den ‚polizze‘ des 14. Jahrhunderts auftaucht, hat zwar sicher einen Zukunftskalkulations- und Gefahr-Konkretisierungs-Aspekt in sich, weil er eben zu einem separaten Vertragsgegenstand quasi ‚vergegenständlicht‘ wird. Er ist aber doch stark auf den Gefahren-Raum Meer bezogen.39 Außerdem bedarf es gerade für die stärkere kommunikative Verankerung des Zukunftsbezugs der Institutionalisierung: erst die institutionalisierten Lebens- und Feuerversicherungen tendieren dazu, nicht nur in der Vergegenständlichung von risico etwas Neues herzustellen, sondern 37

Vgl. hierzu Frédéric Graber, Pour une histoire des formes projet. Du faiseur de projet au projet régulier dans les Travaux Publics (18e–19e siècles), in: RHMC 58, 3 (2011), S. 7–33; und einige ältere Überlegungen mit neuer Fokussierung für die Renaissance-Zeit bündelnd Cornel Zwierlein, Security Politics and Conspiracy Theories in the Emerging European State System (15th/16th c.), in: ders./ Beatrice de Graaf (Hrsg.), Security and Conspiracy in Modern History (Historical Social Research 38, 1), Köln 2013, S. 65–95. 3 8 Eine solche Vorstellung des Nebeneinanders ist auch schon bei Le Goff präsent gewesen, dort aber nur für das Nebeneinander von chronometrischer und liturgisch-kirchlicher Zeitvorstellung im engeren Sinne. 3 9 Vgl. dazu etwas näher Cornel Zwierlein, Renaissance Anthropologies of Security: Shipwreck, Barbary fear and the Meaning of ‚Insurance‘, in: Andreas Höfele/Stephan Laqué (Hrsg.), Humankinds. The Renaissance and its Anthropologies (Pluralisierung & Autorität 25), Berlin/New York 2011, S. 157–182. 

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auch auf der Basis aggregierter und gespeicherter Beobachtungsinformation zumindest schätzungsweise prognostische Selbststeuerung zu betreiben; hier ist der Vorgang der Extrapolation aus Vergangenem in die Zukunft greifbar und damit der entscheidende Schritt getan, dass Zukunft als ein prinzipiell mit schon selektierter Vergangenheit und Gegenwärtigem ganz ähnlicher, ebenso eingrenzbarer Horizont, als ‚nur noch nicht anwesende ähnliche Gegenwart‘ in jeder alltäglichen Operation der Institution wiederholt wird. Bei der vorinstitutionellen mittelalterlichen Versicherung fehlt es an der Generierung eines solchen spezifischen, langsam wachsenden und gespeicherten Vergangenheitsbilds mit Bezug auf dieselben Akteure und Operationen, weshalb auch kein klar eingrenzbares Zukunftsbild entsteht.40 Lediglich wenn man den Gesamtprozess der Austarierung von Erfahrungswerten für die Risikoabschätzung und Prämienbestimmung, die an jedem Hafenort im trial-und-error-Verfahren sich einspielte, als nirgends konzentriertes, sondern nur multipolar in den Rechnungsbüchern jedes einzelnen Kaufmanns gespeichertes Gesamtwissen begreift, könnte man hier von einer frühen Entsprechung ausgehen. Das Objekt der Versicherung selbst aber bleibt eben der kurzzeitige Transport und hat per se nichts mit einem Phänomen der langen Dauer (wie der Dauer eines Menschenlebens oder der Haltbarkeit eines gebauten Hauses) zu tun, weshalb die Erfahrungswerte sich ohnehin höchstens lose aggregieren und auf gefährlichere oder nicht gefährlichere Orte beziehen konnten, nicht aber in irgendeiner Form auf einen Zeitstrahl zu projizieren waren. Der angedeutete Institutionalisierungsschub im 17. Jahrhundert ist also auch für die Frage der Ausbildung solcher neuartiger operativer Zeithorizonte entscheidend, die dann wiederum für die Ausbildung von gesamtgesellschaftlichen Zukunftshorizonten mit-prägend sein konnten. Hier besteht aber noch etlicher, methodisch sensibilisierter Forschungsbedarf, der auf die Differenzierung der Zeithorizont-Typen und das Verhältnis von Akteuren, institutionellem Gedächtnis und diesen Zeithorizonten achtet. Ein weiteres Phänomen, das sich in der Versicherungsgeschichte beobachten lässt, ist das der dialektischen Verschränkung von Universalisierung des Versicherungsprinzips und Pluralisierung der Anwendungsfelder41: Das Versicherungsprinzip wird einerseits immer universeller eingesetzt und auch von den Zeitgenossen, 4 0

Dieser Unterschied scheint mir bei Alberto Cevolini, Die Einrichtung der Versicherung als soziologisches Problem, in: Sociologia Internationalis 48, 1 (2010), S. 65–89, verloren zu gehen, der im Übrigen sehr scharfsinnig und unter starker Rezeption von historischer Literatur und Quellen arbeitet – die Passagen zur Versicherung als besonders starke und unwahrscheinliche „Futurisierungsform“; vgl. ebd., S. 84. 41 Vgl. für einige theoretische Überlegungen zum ähnlich gelagerten heuristischen Paarbegriff von Autorität und Pluralisierung Cornel Zwierlein, Pluralisierung und Autorität. Tentative Überlegungen zur Herkunft des Ansatzes und zum Vergleich mit gängigen Großerzählungen, in: Jan-Dirk Müller/Wulf Oesterreicher/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Pluralisierun-

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insbesondere seit dem 18. Jahrhundert, zunehmend theoretisch reflektiert bis hin zur Begründung von ‚Versicherung‘ aus dem Rousseau’schen Gesellschaftsvertrag heraus. Es wird andererseits in immer neue staatlich-wirtschaftliche Hybridformen eingebracht und auf immer neue thematische Felder und Bereiche übertragen (Transport, Leben, Sklaverei, Feuer, Hagel, Vieh, Witwen- und Waisenversorgung, Militärdienst-Ersatzstellung, Kapitalausfall bis zur weiteren Ausweitung im 19. Jahrhundert, v. a. in den unterschiedlichsten Sozialvorsorgebereichen). Im hier einzuleitenden Panel betreffen die Beiträge von Clark und Ressel vor allem den Punkt von Eigenvorsorge und den damit verbundenen Änderungen des Menschenbildes. Geoffrey Clark, der in der Versicherungsgeschichte zunächst mit seinem Buch zur Kultur der Lebensversicherungen im England des 18. Jahrhunderts bekannt wurde, gibt hier aus seinem neuen Forschungsfeld, der spätmittelalterlichen mediterranen Sklavenversicherung des 15. Jahrhunderts einige erste Resultate. Er stellt beide Forschungsgegenstände in eine ungewöhnliche Verbindung, nämlich den Kontext der ‚600jährigen Geschichte der Lebensversicherung‘. Man ist sonst, im deutschsprachigen Raum etwa seit dem klassischen Aufsatz von Wilhelm Ebel, gewohnt, die Sklavenversicherung von der Sklavereiversicherung zu trennen, und die erstere als Unterfall der Transportversicherung zu verstehen, die zweite tatsächlich als eine spezielle Form von ‚Lebens- oder Freiheits‘-Versicherung, da es hier um die Versicherung auf Auszahlung der Lösegeldsumme zum Rückkauf des Gefangenen/Versklavten aus der Gefangenschaft etwa bei Piraten oder Korsaren ging.42 Clark stellt seine genauen Beobachtungen zur mediterranen Sklaven-Versicherung nun aber gerade in den Kontext der Lebensversicherung: gleichsam im Annex zur Wert-Schätzung der Ware ‚Sklave‘ gerät doch auch wieder eine Art ‚Lebensversicherung‘ in den Blick, insbesondere beim breit vertretenen Spezialfall schwangerer Sklavinnen. In der allgemeinen Abolitionismus- und Sklaven-Diskussion des 18. Jahrhunderts mag dann eine Überblendung zwischen den verschiedenen Versicherungstypen im gleichen Maß erfolgt sein, in dem man Sklaven auch als Menschen ansah. An bestimmten Punkten würde dann die Sklavenversicherung tatsächlich Elementen der Lebensversicherung nahekommen und dann wäre die Frühe Neuzeit die ­Periode der Aushandlung des ‚Wertes von Leben‘ gerade jenseits der ökonomischen Dimensionen und jenseits von vormodernen Kategorien-Oppositionen Sklaven vs. Menschen; die klare Ebel’sche systematische Unterscheidung würde verwischen. Magnus Ressel setzt ebenfalls beim Problem der Lebensversicherung an. Ein starker Fokus der Forschung lag hier lange auf dem 18. Jahrhundert und England gen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit (Pluralisierung & Autorität 21), Berlin/ New York 2010, S. 3–30. 42 Wilhelm Ebel, Über Sklavenversicherung und Sklavereiversicherung, in: Zeitschrift für die Versicherungswissenschaften 52 (1963), S. 207–230.

398 Cornel Zwierlein

als dem Ort, an dem die Praxis der Prämien-Lebensversicherungen als Finanzdienstleistung von Versicherungsgesellschaften sich stark verankerte. Wichtig ist aber herauszuarbeiten, wie hier zwischen der im mediterranen Handel durchaus schon üblichen Lebensversicherung (etwa von Schiffskapitänen) und der verallgemeinerten Lebensversicherung im 18. Jahrhundert ein merkwürdiger historischer Bruch, eine Lücke, eintritt im nord- und westeuropäischen Raum seit den 1560ern mit dem Lebensversicherungsverbot durch Philipp II./Alba in den Niederlanden. Dieses wird lange Zeit befolgt und erst im 18. Jahrhundert erodiert es wieder. Beide Beiträge zusammengenommen zeigen, dass hier die Frühneuzeitforschung noch vor eine größere Aufgabe gestellt ist, denn so richtig ist die Entwicklungsgeschichte vom 14. bis ins 19. Jahrhundert in diesem wichtigen Bereich offenbar noch nicht geordnet. Die dahinterstehenden größeren Fragen, wie ‚Leben‘ und der Wert von Menschen eingeordnet wird, wie Eigenvorsorge an die Stelle von Fremdvorsorge und obrigkeitlicher Fürsorge tritt, bedürften einer systematischen Verknüpfung und Ordnung, die noch nicht geleistet ist, auch und gerade in der spezielleren Versicherungsgeschichte nicht. Die Beiträge von Eve Rosenhaft und Cornel Zwierlein berühren dann den genannten Punkt der Institutionalisierung von (Prämien-)Versicherungen. Im 17. Jahrhundert lassen sich sukzessive verschiedene Anläufe und Wege beobachten, wie das Prinzip des Versicherns universalisiert, auf plurale Handlungsfelder angewandt und institutionell gerahmt wird: das Grundkonzept ist immer: die Definition eines möglichen zukünftigen negativen Ereignisses in der Zukunft als ‚risico‘, seine wertmäßige Schätzung und die Vereinbarung einer Wert-­Ersatz-Zahlung im vereinbarten Fall. Wenn dieses Prinzip nun institutionalisiert wird, wenn also eine Handelsgesellschaft oder eine obrigkeitliche bzw. staatliche Einrichtung als Versicherer einer Vielzahl von Versicherungsnehmern fungiert, greifen erst eine Fülle von Grundbedingungen, wie das ‚Gesetz der Großen Zahl‘ (je mehr Versicherungsnehmer, desto besser die Absicherung), und erst jetzt wird ‚Versicherung‘ auch zu einem Phänomen, das sozialstrukturelle Auswirkungen hat oder haben kann. Risiko-Kollektive werden jetzt geformt, die mit der Zahl von Haus-Eigentümern einer Stadt oder der Mehrzahl der vermögenden Bürger eines Territoriums, die ihr Leben zugunsten von Witwen versichern, in etwa übereinstimmt. Diese Kassen haben oft den Charakter von Hybriden, weil ihnen durchaus genossenschaftliche Eigenschaften (‚Kassen‘) ebenso wie frühkapitalistische Eigenschaften (Prämienberechnung in Abhängigkeit vom Wert, Spezialisierung und Spezifikation des Objekts und Risikos, ggf. Vorauszahlung) eignen. Vorher betrafen die Einzelverträge nur eine ganz bestimmte Statusgruppe – Fern-Kaufleute in der Seefahrt bezüglich ihrer Waren, es war ein typischer Weise nur in Hafenstädten bekanntes Phänomen. Je mehr die Gesellschaft aber zur Sicherheitsproduktion durch Einzelvorsorge der zu Risikokollektiven anonymisiert vereinten Individuen übergeht, verändert sich

Sicherheit durch Versicherung 399

der Charakter von Sicherheit. Diesen, im Wesentlichen um 1670/80 beginnenden Übergang kann man als die Entstehung einer ‚sicheren Normalgesellschaft‘ insoweit annehmen, als jetzt immer mehr kontrafaktisch die Sicherheit der Dinge und Situationen als ‚Normalfall‘ angenommen wird, obwohl der Normalfall der vulnerablen vormodernen Gesellschaft lange Zeit noch die Alltäglichkeit der Krise und Katastrophen war – Agrarische Krisen, Naturunbill traf die noch nicht technisierte Welt nun einmal viel regelmäßiger und härter als moderne Gesellschaften. Geradezu im Vorgriff auf das, was erst später mit der Technifizierung aller Lebensbereiche einigermaßen möglich wurde, die grundsätzliche Allgegenwart von ‚Sicherheit‘, wurde sie seit der Aufklärung als kontrafaktische Erwartungshaltung in den Diskursen und Praktiken etabliert. Hierzu war ihre flächendeckende Institutionalisierung eine notwendige Voraussetzung. Zuvor konnte ‚Versicherung‘ keine wirklich systemische Funktion für die frühneuzeitliche Gesellschaft als ganze einnehmen. In seinem Schlusskommentar versteht es Wolfgang Behringer, den Rahmen und die gegebenen Beispielsbohrungen noch einmal durch eine verallgemeinernde Dimension zu bereichern, indem er nach der historischen Anthropologie von ‚Zufall‘ fragt – nicht nur im wissenschaftshistorischen Sinne nach seiner ‚Zähmung‘ im Sinne Hackings durch Mathematiker, sondern hinsichtlich der Frage, ob Gesellschaften überhaupt zunächst einen Begriff von ‚Zufall‘ als alter­natives Kausa­litätsprinzip haben, so dass man dann erst Mechanismen wie Versicherungen erfinden kann, die spezialisiert auf die Bändigung gerade dieses Kausalitätsprinzips sind. Auch unter diesem Aspekt sind dann Versicherungen genuiner Teil einer gerade europäischen Frühneuzeitgeschichte. Institutionalisierung, Eigenvorsorge/Individualitäts-‚Training‘, Raum- und Zukunftshorizont-Prägung, Universalisierung/Pluralisierung sind also entscheidende Charakteristiken, die an und mit dem historischen Gegenstand ‚Versicherung‘ zu beobachten sind. Damit ist allerdings auch ein Allgemeinheitsniveau von Fragestellungen und Aufmerksamkeitspunkten erreicht, das wiederum selbst in angepasster Form auf eine Fülle anderer historischer Sicherheitsproduktionsmechanismen der Frühen Neuzeit anwendbar ist. Die Geschichte des besonderen Instruments ‚Versicherung‘, das in der langen Frühen Neuzeit als novum hinzutritt, kann daher durch Fokussierung dieser allgemeinen Fragestellungen schärfer und präziser zur allgemeinen sicherheitshistorischen Fragestellung beitragen als manch anderer klassischer Bereich der Politik- und Religionsgeschichte, weil wir es in den letzteren Feldern meist mit schon vorhandenen Instituten und Kommunikationsformen zu tun haben (wie etwa ‚Friedenspolitik‘ in der Frühen Neuzeit), die unter sicherheitshistorischen Gesichtspunkten nun neu betrachtet werden: Bei der Versicherungsgeschichte ist der Gegenstand selbst das neue, die frühneuzeitlichen Strukturen durch Sicherheitskommunikation herausfordernde Element.

Magnus Ressel

Die Genese und der Fall des Verbotsdogmas von Lebensversicherungen in der Frühen Neuzeit I. Einleitung

Die Versicherungsgeschichte der Vormoderne wird im deutschsprachigen Raum zumeist im Rahmen der Rechts- oder der Wirtschaftsgeschichte erforscht.1 Erst jüngst sind hier Ausnahmen zu verzeichnen, die auch Anlass für dieses Panel boten.2 Betrachtet man Versicherungsgeschichte stärker als ein Thema auch der Allgemeinhistoriker3, wird sie häufig in Paarung mit ihrem Gegenstück, der Risikoperzeption, untersucht. So nähert sie sich einer Art von Mentalitätsgeschichte des Risikoempfindens an. Mary Douglas hat die diesbezüglich zugrundeliegende Position einmal folgendermaßen zusammengefasst: „The cultural standards of what constitute appropriate and improper risks emerge as part of the assignment of responsibility. They are fundamental to social life.“4 Die ­einem solchen Verständnis nahestehende Risikosoziologie darf teilweise als eine deutsche Gründung vor allem Ulrich Becks gelten; daher kann die Verwendung einer solchen Forschungslinie sich hierzulande in eine fruchtbare Diskussion einfügen.5 Wolfgang Bonß hat in diesem Sinne in seinem Werk „Vom Risiko“ 1

Bsp.: Eva-Christine Frentz, Das hamburgische Admiralitätsgericht (1623–1811). Prozeß und Rechtsprechung (Rechtshistorische Reihe 43), Frankfurt a. M. 1985; Karin Nehlsenvon Stryk, Die venezianische Seeversicherung im 15. Jahrhundert (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 64), Ebelsbach 1986; Thomas Dreyer, Die „Assecuranz- und Haverey-Ordnung“ der Freien und Hansestadt Hamburg von 1731, Frankfurt a. M. 1990. Ein großangelegter Versuch einer Umschreibung der Versicherungsgeschichte durch eine Neubewertung der Rolle norddeutscher/dänischer Gilden ist in einer falschen Argumentation stecken geblieben: Dieter Schewe, Geschichte der sozialen und privaten Versicherung im Mittelalter in den Gilden Europas (Sozialpolitische Schriften 80), Berlin 2000, kritisiert durch: Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit Zwischen Früher Neuzeit und Moderne (Umwelt und Gesellschaft 3), Göttingen 2011, S. 25f. 2 Vgl. Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), mit einem Abriss des Forschungsstandes. 3 Geoffrey Clark, Betting on lives. The culture of life insurance in England, 1695–1775, Manchester 1999, S. 1–12. 4 Mary Douglas, Risk acceptability according to the social sciences (Social research perspectives 11), New York 1985, S. 67–68. 5 Das Gründungsmanifest erfuhr durch die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr seines Erscheinens einen großen Auftrieb: Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986. Zur Fortentwicklung des Konzepts seither: Ute Volkmann, Das schwierige Leben in der „Zweiten Moderne“ – Ulrich Becks „Risikogesellschaft“, in: Uwe Schimank/Ute Volkmann (Hrsg.), Soziologische Gegenwartsdiagnosen, Bd. 1: Eine Bestandsaufnahme, Wiesbaden 2002, S. 23–40.

Lebensversicherungen in der Frühen Neuzeit 401

einige entsprechende längere Kapitel einer Verknüpfung von Risikoperzeption und der komplementären Entwicklung der Versicherung gewidmet.6 Hier hat Bonß erstaunlich genau das Verbot der Lebensversicherung und den diesbezüglichen Begleitdiskurs herausgearbeitet.7 Diese Schärfe ergibt sich aus seiner Fragestellung: Für ihn ist das Verbot der Lebensversicherungen ­eines der wesentlichen Unterscheidungskriterien für vormodernes und modernes ­Risikound Zukunftsempfinden. Während er ersteres noch in einen religiösen Denkhorizont einordnet, sieht er zweiteres in Zusammenhang mit einem „veränderten Bezug auf das menschliche Leben, das in seiner Diesseitigkeit zwar unsicher, aber zugleich planbar und verantwortbar erscheint.“8 Somit wird die Problematik des Lebensversicherungsverbotes zu einem zentralen Marker für einen Umbruch in der menschlichen Zukunftskognition. Auch wenn damit wohl, gerade im Vergleich zu der lange Zeit dominierenden Sparte ‚Feuer‘, die Wichtigkeit von Lebensversicherungen zu hoch angesetzt wird, so wirft dies einen Fragehorizont auf, der weit von einer rein juristischen Behandlung der Versicherungsgeschichte weg- und stattdessen in den Bereich der historischen Anthropologie hineinführt. Im Folgenden soll jener Scharnierpunkt in der Entwicklung von Risiko- und Sicherheitsdenken näher behandelt werden. Primär soll dabei die Bedeutung der Entstehung und des Charakters des Rechtsdogmas des Verbots der Prämien­ lebensversicherung im kontinentalen Nord- und Nordwesteuropa genauer untersucht werden. England wird aus der Betrachtung ausgeschlossen, obwohl zu Recht hier ab 1700 in der Literatur der Beginn der modernen Prämienlebensversicherung verortet wird.9 Ein indirekter Einfluss durch die englische Praxis auf das Ende des kontinentalen Verbotsdogmas im 18. Jahrhundert hat höchstwahrscheinlich existiert, in konkreter Normgebung und Praxis jedoch lässt sich dies (bislang) nicht nachweisen. Auch die Probabilistik des 17. und 18. Jahrhunderts, die sich unter anderem aus dem Aufkommen der ersten Sterblichkeitsregister in der Mitte des 17. Jahrhunderts speiste, spielte vor 1762 keine Rolle bezüglich der Entwicklung der Lebensversicherung.10 Weiterhin wird die Form der Institutionen kaum berührt. Nie verboten waren Sicherungssysteme ohne Versicherungspolice, die seit dem 15. Jahrhundert, meist also vor der ersten Berührung mit der Assecuranz, an verschiedensten Orten Europas aufgekommen waren. Hierzu 6

Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995, S. 19. 7 Ebd., S. 170f. 8 Ebd., S. 183. 9 Zur Geschichte der englischen Lebensversicherung siehe v. a.: Harold Raynes, A History of British Insurance, 2. Aufl. London 1964, S. 113–134; Clark, Betting (wie Anm. 3). 10 Lorraine Daston, Classical Probability in the Enlightenment, Princeton 1988, passim, insbes. S. 169. Dagegen, von ihr widerlegt: Heinrich Braun, Geschichte der Lebensversicherung und der Lebensversicherungstechnik, 2. Aufl. Berlin 1963, S. 63–69.

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zählen vielfältige Formen von Renten oder gildenförmigen Kassensystemen.11 Diese werden allzu oft mit der Prämienlebensversicherung gemischt, wodurch getrennte Systeme und Systemlogiken in einen falschen Zusammenhang gestellt werden. Es soll daher hier klargestellt werden: Gilden oder obrigkeitsgelenkte Versorgungsanstalten zur Versorgung von Hinterbliebenen12 erfüllten zwar funktional einen ähnlichen Zweck wie die Prämienlebensversicherung und sorgten dafür, dass deren Notwendigkeit vor allem in Deutschland lange gering blieb. Ein System von prämienfinanzierten Policen jedoch, die im Falle des Todes einer festgelegten Person eine Auszahlung von festgelegten Beträgen vorsahen, kam im 14. und 15. Jahrhundert ausschließlich auf der iberischen und italienischen Halbinsel auf. Nur dieser Typus ist für die Fragestellung interessant und als eigentlicher Vorläufer der heutigen Lebensversicherungen anzusehen.13

II.  Das Verbot der Prämienlebensversicherungen

Die frühesten Policen auf das Leben einer Person finden wir laut der gängigen Literatur im frühen 15. Jahrhundert in Italien. Der erste bekannte Vertrag dieser Art datiert von 1399 aus Genua, wo diese Form der Versicherung auch in folgenden Jahren ausschließlich praktiziert wurde, bevor sie ins weitere Italien diffundierte.14 Diese Verträge werden in der Literatur hauptsächlich in Zusammenhang mit Sklaventransporten15, als Versicherung der Besatzungen gegen Gefangenschaft16, oder schlicht als Wettspekulationen gesehen.17 Vor allem letztere Auffassung ist angesichts des Befundes der von Federigo Melis edierten Versicherungspolicen

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Bsp.: Ida Stamhuis, Levensverzekeringen 1500–1800, in: Jacques van Gerwen u. a. (Hrsg.), Studies over zekerheidsarrangementen. Risico’s, risicobestrijding en verzekeringen in Nederland vanaf de Middeleeuwen, Amsterdam 1998, S. 141–156; Peter Borscheid, Mit Sicherheit leben. Die Geschichte der deutschen Lebensversicherungswirtschaft und der Provinzial-Lebensversicherungsanstalt von Westfalen, Greven 1989, S. 4–12. 12 Hierzu v. a.: Eve Rosenhaft, How to Tame Chance. Evolving Languages of Risk, Trust, and Expertise in Eighteenth-Century German Proto-Insurances, in: Geoffrey W. Clark (Hrsg.), The appeal of insurance, Toronto 2010, S. 16–42. Auch: Bernd Wunder, Pfarrwitwenkassen und Beamtenwitwen-Anstalten vom 16.–19. Jahrhundert. Die Entstehung der staatlichen Hinterbliebenenversorgung in Deutschland, in: ZHF 12 (1985), S. 429–489. 13 Am ausführlichsten, wenn auch nicht hinreichend trennscharf zu den verschiedenen Typen: Braun, Geschichte (wie Anm. 10), S. 13–34. 14 Enrico Bensa, Il contratto di assicurazione nel medio evo, Genua 1884, S. 228–232; Federigo Melis, Origini e sviluppi delle assicurazioni in Italia (secoli XIV–XVI), Rom 1975, S. 210–217. 15 Clark, Betting (wie Anm. 3), S. 13–14. 16 Nolst Trenité, Het voorwerp der verzekering, in: Rechtsgeleerd Magazijn 18 (1890), S. 1–33. 17 Richard Elsholz, Die Versicherung auf fremden Tod nach deutschem und ausländischem Recht, Urach 1933, S. 7–8.

Lebensversicherungen in der Frühen Neuzeit 403

als zu eng zu betrachten.18 Es kamen auch Versicherungen von freien Menschen auf Land für einen als gefährlich angesehenen Zeitabschnitt (Schwangerschaft, Reise o. ä.) vor. Wir können also eine Varianz von Typen von Lebensversicherungen konstatieren, die von den unsrigen sehr ähnlichen Formen bis zu reinen Wetten auf das Leben dritter freier Personen reicht, wobei die Form der Sklavenversicherung wohl die am weitesten verbreitete war. Irgendeine Problematik mit den frühesten Lebensversicherungen aufgrund von religiösen Erwägungen ist nicht zu erkennen.19 Tatsächlich erfuhren sie international kaum eine Regelung und nur in Italien sieht man in den folgenden Jahrzehnten eine gewisse Einschränkung von Auswüchsen von Wettversicherungen. Die bekanntesten Normierungen waren die Verbote in Genua von 1467 und 1494, auf den Tod bekannterer Zeitgenossen wie Päpste oder Adelige Versicherungen abzuschließen. Prinzipiell blieb die Lebensversicherung jedoch legal.20 Sie fand sich also, nach unserem derzeitigen Wissen, seit 1399 hauptsächlich in Italien und etablierte sich für die nächsten Jahrzehnte nur noch auf der iberischen Halbinsel. Nach den bekannten Versicherungsordonnanzen von Barcelona wurde hier bis 1484 wohl zumeist, eventuell sogar ausschließlich, die Seeversicherung rezipiert.21 Auch in Italien scheint die Prämienlebensversicherung im 15. Jahrhundert großteils von Florentiner und Genueser Kaufleuten praktiziert worden zu sein, in V ­ enedig hingegen war man weitaus zögerlicher mit der Übernahme dieser Form.22 Spätestens in den Jahrzehnten um 1500 verbreiteten sich auch in Spanien die Prä 18

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Zu dogmatisch: „Da man aber für diese Verträge keine irgendwie zutreffende Schätzung der Lebenswahrscheinlichkeit hatte, so kamen alle diese Geschäfte über Wetten in Bezug auf das menschliche Leben nicht hinaus“; Braun, Geschichte (wie Anm. 10), S. 32–33. In diesem Falle wäre wohl fast die gesamte Versicherungsgeschichte bis etwa 1800 eine einzige Geschichte von Wetten. Dass die Ordonnanzen von Barcelona 1435, eine der frühesten bekannten Kompilation des Versicherungsrechtes, die Lebensversicherung verboten hätten, ist nicht richtig. Die einschlägigen Artikel sind tatsächlich gegen Auswüchse ausschließlich von Seeversicherungen gerichtet. Dies wird durch eine verpflichtende Bindung der Versicherungssummen an reale Werte gewährleistet: Bensa, contratto (wie Anm. 14), S. 125. Bensas Zeilen wurden falsch interpretiert und auf Lebensversicherungen übertragen durch: Johan Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, S. 57. Dadurch ist diese Idee in die allgemeine Literatur eingegangen: Clark, Betting (wie Anm. 3), S. 14, 28. Vollständig abgedruckt sind die Ordonnanzen bei: Jean-Marie Pardessus, Collection de lois maritimes antérieures au XVIIIe siècle, Bd. 5, Paris 1839, S. 487–543. Bensa, contratto (wie Anm. 14), S. 125–127; vollständig abgedruckt bei: Jean-Marie Pardessus, Collection de lois maritimes antérieures au XVIIIe siècle, Bd. 2, Paris 1831, S. 532–534. So weit geht: Carl F. Reatz, Geschichte des Europäischen Seeversicherungs-Rechts. Erster Theil, Leipzig 1870, S. 77–79. Dagegen, allerdings ohne Beleg: Giuseppe Stefani, Insurance in Venice. From the origins to the end of the Serenissima, Triest 1958, S. 88. Alberto Tenenti, L’assicurazione marittima, in: Alberto Tenenti/Ugo Tucci (Hrsg.), Storia di Venezia. Temi. Il mare, Rom 1991, S. 663–685.

404 Magnus Ressel

mienlebensversicherungen auf freie Individuen, nachdem bereits während des gesamten 15. Jahrhunderts häufig Versicherungen auf das Leben von Sklaven stattgefunden hatten.23 Die spanische Spätscholastik hat sich im Folgenden im gesamten 16. und auch noch im 17. Jahrhundert konsequent zu Gunsten der Prämienlebensversicherung ausgesprochen.24 Die ersten substantielleren Mengen an Prämienversicherungen in Nord­ europa tauchten wohl erst im 15. Jahrhundert in Brügge und im 16. Jahrhundert in Antwerpen auf. Hier, in den damaligen Wirtschaftszentren Europas, bestanden größere italienische und iberische Kaufmannsgemeinschaften, die mit sich das System der Prämienversicherungen brachten.25 Diese Kaufleute operierten in einem durch Gewohnheitsrecht und wahrscheinlich auch in geringem Maße durch die Ordonnanzen von Barcelona bestimmten Markt, ohne dass der Gesetzgeber in den Jahrzehnten nach Etablierung des Versicherungswesens eingriff. Eine der ersten wesentlichen Regelungen des niederländischen Versicherungswesens erließ Karl V. am 25. Mai 1537 mit einem Placaat zu Wechselbriefen und dem Versicherungswesen.26 Hier wurden wegen gewisser Missbräuche bezüglich des Termins der Prämienzahlung und der Versicherung von verderblicher Ware gesetzliche Bestimmungen festgelegt.27 Am 4. Dezember 1543 widmete sich die niederländische Gesetzgebung zum ersten Mal den Entartungen zu Wetten, als Versicherungen auf das künftige Geschlecht von ungeborenen Kindern verboten wurden.28 Offenbar hatte die Prämienversicherung inzwischen in den Niederlan 2 3 Es

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ist für die späteren Ausführungen nicht uninteressant, dass diese ersten spanischen Lebensversicherungen für freie Personen hauptsächlich auf das fällige Lösegeld gegen das Risiko der Gefangennahme auf See abgeschlossen wurden: Robert Smith, Life Insurance in Fifteenth-Century Barcelona, in: JEconH 1 (1941), S. 57–59. Christoph Bergfeld, Die Stellungnahme der spanischen Spätscholastiker zum Versicherungsvertrag, in: Paolo Grossi (Hrsg.), La seconda scolastica nella formazione del diritto privato moderno, Mailand 1973, S. 457–471. Zur Entwicklung der Prämienversicherung in den Niederlanden seit dem 14. Jahrhundert siehe: Henry de Groote, De Zeeassurantie te Antwerpen en te Brugge in de zestiende eeuw, Antwerpen 1975, S. 9–27. Laut den von de Groote gesammelten Quellen kam die Versicherung im Brügge des 15. Jahrhunderts hauptsächlich durch Italiener auf und im 16. Jahrhundert in Antwerpen eher durch Iberier. Zu den vorigen Regelungen unter der burgundischen Herrschaft siehe: Groote, Zeeassurantie (wie Anm. 25), S. 28; Petrus van Niekerk, An Introduction to and some Perspectives on the Sources and Development of Roman-Dutch Insurance Law, Pretoria 1988, S. 37–38. Antonio Anselmo, Placcaeten Ordonnantien, Land-Chartres, Blyde-Inkomsten, Privilegien ende Instructien […] van Brabandt, Vlaenderen ende andere Provincien, Antwerpen 1648, S. 511–512. Diese Verordnung wurde noch nicht gefunden, ihre Existenz wird durch ihre Erwähnung in der Antwerper Impressae von 1582 bewiesen: Guillaume Philémon de Longé, Coutumes de la Ville d’Anvers, Bd. 2, Brüssel 1871, S. 402; Petrus van Niekerk, The Development of the Principles of Insurance Law in the Netherlands from 1500–1800, Kenwyn 1998, S. 123.

Lebensversicherungen in der Frühen Neuzeit 405

den tiefere Wurzeln geschlagen und zeigte die üblichen Auswüchse der auch von Italien bekannten Anfänge; diesen wurde von obrigkeitlicher Seite, wiederum ähnlich wie in Italien, gesetzgeberisch entgegengesteuert. Am 29. Januar 1550 wurden ein weiteres Mal unter der Regierung Karls V. Bestimmungen bezüglich des Versicherungswesens erlassen. Angesichts der Aktivitäten von Kaperfahrern, hauptsächlich Schotten, gegen die niederländische Handelsmarine wurden nun Bewaffnungs- und Ausrüstungsvorschriften für die Handelsschiffe als Voraussetzung für die Versicherungswürdigkeit vorgegeben.29 Am 31. Oktober 1563 wurde die erste umfassendere Kodifikation von Versicherungsrecht in den spanischen Niederlanden erlassen.30 Diese basierte großteils auf dem Gewohnheitsrecht, auf welches ausdrücklich mit Verweis auf die „costuyme van der Borse van Antwerpen“ Bezug genommen wurde.31 Am 31. März 1569 schließlich verbot der Herzog von Alba in den Niederlanden generell alle Formen von Versicherung unter Verweis auf die Piraterie der Engländer; es war Teil eines generellen Handelsembargos gegen dieses Land und sollte unter anderem die Schiffsbesatzungen zu stärkerer Verteidigung zwingen.32 Bis zu diesem Erlass war der Lebensversicherung außerhalb Italiens meines Wissens noch in keinem Gesetz gedacht worden. Jedoch darf daher nicht auf eine geringe Verbreitung dieses Typus geschlossen werden, sie wird wohl zumindest auf der iberischen Halbinsel auch eine weite Verbreitung gekannt haben. Bereits vor der Bekanntmachung des allgemeinen Versicherungsverbotes in den Niederlanden, im Jahr 1568, verfassten die spanischen Kaufleute zu Antwerpen und Brügge ein eigenes Versicherungsrecht, die sogenannten „Hordenanzas“, welche am 1. Januar 1570 in Kraft traten.33 Hier wurde in Titel XX eindeutig festgelegt, dass Lebensversicherungen für die Dauer von einem Jahr legal waren.34 Umso überraschender ist daher, dass der aus Spanien stammende Herzog von Alba in 2 9

Abgedruckt und erläutert bei: Niekerk, Introduction (wie Anm. 26), S. 38–39, 100–102. Abgedruckt und erläutert bei: Ebd., S. 39–42, 103–110. Implizit kann man diese Kodifikation sogar als eine deutliche Erlaubnis zur Lebensversicherung betrachten: Fritz Kracht, Die Rotterdamer Seeversicherungs-Börse, Weimar 1922, S. 17–18. 31 Zu diesem Gewohnheitsrecht: Carl Ferdinand Reatz, Ordonnances du duc d’Albe sur les assurances maritimes de 1569, 1570, 1571, in: Bulletin de la Commission Royale d’Histoire de Belgique 41 (1878), S. 41–118; Groote, Zeeassurantie (wie Anm. 25), S. 59–65. 3 2 Reatz, Ordonnances (wie Anm. 31), S. 74–118; Groote, Zeeassurantie (wie Anm. 25), S. 37, 80–83. 3 3 Zu diesen: Charles Verlinden, Code d’assurances maritimes selon la coutume d’Anvers, promulgué par le consulat espagnol de Bruges en 1569, in: Bulletin de la Commission Royale pour la Publication des Anciennes Lois et Ordonnances de Belgique 16 (1949), S. 38–142; Groote, Zeeassurantie (wie Anm. 25), S. 45–58; Niekerk, Introduction (wie Anm. 26), S. 45. 3 4 Es ist bezüglich der „Hordenanzas“ bemerkenswert, dass weder in den Ordonnanzen von Burgos (1538) oder Bilbao (1560), welche als Vorläufer dienten, die Lebensversicherung erwähnt wird; wohl weil sie hier nicht kontrovers diskutiert wurde. Diese abgedruckt bei:

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seinen zwei Ordonnanzen vom 27. Oktober 1570 und dem 20. Januar 1571, mit denen das Verbot von 1569 wieder aufgehoben wurde, im Namen von Philipp II. zur Verhinderung von „abuysen, fraulden, bedroch ende crymen“ die Versicherung „op tleven vande luyden ende persoenen, oick op weddingen van reysen oft voyaigen“ eindeutig unter­sagte.35 Es ist leider unklar, was die genaue Ursache dieses Verbotes gewesen ist.36 Bedenkt man, dass in den „Hordenanzas“ und in den Werken der spanischen Spätscholastiker einhellig die Lebensversicherung gutgeheißen wurde, so ist es hochgradig ungewöhnlich, dass es just die Spanier waren, die den Niederländern das Verbot der Lebensversicherung brachten. Das Verbot sollte weitreichende Folgen haben. Die Feinde auf den niederländischen Schlachtfeldern teilten die Einstellung bezüglich des Verbots, wodurch es, aufgrund der wirtschaftsinstitutionellen Vorbildfunktion Antwerpens und der umliegenden Region, bald tief in das nordniederländische und von dort in das europäische Versicherungsrecht diffundierte.37 Als Antwerpen wenige Jahre von den Calvinisten dominiert wurde, erließ die Stadt 1582 die sogenannte „Impressae“, eine der bis dato ausgefeiltesten Versicherungskodifikationen.38 In diesen wurde in den Artikeln 2 und 3 die Verbote der Lebens- und Wettver­ sicherungen von Karl V. und Philipp II. ausdrücklich bestätigt.39 Die Vermutung liegt nahe, dass diese Verbote einen ausgesprochen niederländischen Ursprung hatten und von Alba in Rücksichtnahme auf diese Einstellung der lokalen Eliten erlassen worden waren. Die weitere Entwicklung erhärtet diese Annahme. Als im späten 16. Jahrhundert in den nördlichen Niederlanden die wesentlichen Handelsstädte Amsterdam (1598), Middelburg (1600) und Rotterdam (1604) ihre sogenannten „Keuren“

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Jean-Marie Pardessus, Collection de lois maritimes antérieures au XVIIIe siècle, Bd. 6, Paris 1845, S. 135–252. Dies galt wortgleich für Artikel 33 der Verordnung von 1570 sowie Artikel 32 der Verordnung von 1571, siehe Reatz, Ordonnances (wie Anm. 31), S. 101, 115. Fritz Kracht hat geschrieben, dass geschehene Morde zur Erschleichung der Versicherungssumme ursächlich gewesen sein: Kracht, Seeversicherungs-Börse (wie Anm. 30), S. 18. Ähnlich und historisch besser fundiert: Elsholz, Versicherung (wie Anm. 17), S. 11–13. Krachts wohl landläufige Meinung lässt sich quellenmäßig nicht belegen. Dementsprechend führt seine entsprechende Fußnote ins Nichts, bestenfalls hat er den soeben vorgestellten Gesetzestext übertrieben interpretiert. Hingegen detailliert: M. Goudsmit, Geschiedenis van het nederlandsche zeerecht, Gravenhage 1882, S. 256–269. Dave de Ruysscher, Antwerp commercial legislation in Amsterdam in the 17th century: legal transplant or jumping board?, in: The Legal History Review 77 (2009), S. 459–479. Zu den Impressae: Petrus van Niekerk, The Law and Customs of Marine Insurance in Antwerp and London at the End of the sixteenth century. Preliminary Thoughts on the Background to and some of the Sources for a comparative Investigation, in: Fundamina 17 (2011), S. 144–163. Abgedruckt bei: Longé, Coutumes II (wie Anm. 28), S. 400–402.

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erließen, wurde in all diesen das Verbot der Lebensversicherung, häufig in sehr ähnlichem Wortlaut zum Verbot von 1570, bestätigt und verschärft. In kaum einer Region Europas wurde in den nächsten Jahrhunderten dieses Verbot so rigoros gehandhabt und durch die höchsten Rechtsgelehrten, unter ihnen H ­ ugo Grotius, andauernd bekräftigt, wie in den nördlichen Niederlanden.40 Dies galt ebenfalls für die unter spanischer Herrschaft stehenden südlichen Niederlande. Am wirkmächtigsten wurde dies in den „Compilatae“ von Antwerpen aus dem Jahr 1609 formuliert; im vierten Teil derselben fand sich im Artikel 316 noch einmal das Verbot der Lebensversicherung ausdrücklich bestätigt.41 Katholiken und Calvinisten in den Niederlanden hatten die nun getrennten 17 Provinzen zu einem lebensversicherungsfreien Raum gemacht. Im „Guidon de la mer“, der ersten moderneren Zusammenfassung des französischen Seerechts, welches zwischen 1556 und 1584, wahrscheinlich eher in den späteren Jahren dieses Zeitraumes unter Rezeption der niederländischen Rechtssetzung, in Rouen abgefasst worden ist, wurde die Lebensversicherung ebenfalls verboten, da sie zu einer „infinité d’abus et tromperies“ führe.42 Damit war um 1600 in ganz Nordwesteuropa ein Verbot der Prämienlebensversicherungen durchgesetzt, was diesen Raum diesbezüglich klar von der iberischen Halbinsel und Italien trennte.43 Der Befund deutet darauf hin, dass in den Zonen eines erstarkten Calvinismus eine überkonfessionelle Bewegung gegen skandalumwitterte Praktiken bei der Lebensversicherung wirkte. Da das Verbot zuerst von katholischen Autoritäten erlassen worden war, spricht einiges dafür, in den Gebieten von calvinistisch-katholischen Konflikten konfessionsübergreifend eine schärfere moralische Reformbewegung als wahrscheinlichste Ursache desselben zu identifizieren. In der Literatur wird das Lebensversicherungsverbot zuweilen mit der Rezeption des „Corpus juris civilis“ in einen kausalen Zusammenhang gebracht.44 Das antike Recht kannte zwar keine Lebensversicherung45, wohl jedoch das Verbot der monetären Schätzung des Lebens freier Menschen. In den Digesten (9.3) bezüglich der Schäden an Menschen durch Gegenstände, die aus einem Haus 4 0 Eine Zusammenstellung bei: Josef Kohler, Niederländisches Handelsrecht in der Blütezeit

des Freistaates, in: Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht 59 (1907), S. 243–388, 505–623.

41 Guillaume Philémon de Longé, Coutumes de la Ville d’Anvers, Bd. 4, Brüssel 1874, S. 330–332.

42

Pardessus, Collection II (wie Anm. 20), S. 422. Zur weiteren Existenz der Lebensversicherung in Italien siehe beispielsweise: Giovanni Cassandro, Saggi di storia del diritto commerciale, Neapel 1982, S. 288–298. 4 4 Elsholz, Versicherung (wie Anm. 17), S. 9; Clark, Betting (wie Anm. 3), S. 19. 4 5 Dass die Antike die Prämienversicherung nicht kannte und dass das „foenus nauticum“ ein strukturell differentes Institut war, wurde detailliert herausgearbeitet durch: ­Panayotis ­Perdikas, Die Entstehung der Versicherung im Mittelalter, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 55 (1966) S. 425–509. 4 3

408 Magnus Ressel

fielen oder geworfen wurden, befinden sich mehrere Stellen, die entsprechend ausgelegt werden konnten, beispielsweise diese: „Sed cum homo liber periit, damni aestimatio non fit in duplum, quia in homine libero nulla corporis aestimatio fieri potest, sed quinquaginta aureorum condemnatio fit.“46 Die Maxime des Satzes wurde in den Kommentaren der Juristen des 16. Jahrhunderts rezipiert und, aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst, als Fundamentallehrsatz anerkannt.47 War ein Transfer dieser Maxime in den Kontext der Versicherung der Ursprung des Lebensversicherungsverbotes? Tatsächlich wurde die erste Verknüpfung dieser Maxime und dem Lebensversicherungsverbot erst 1652 hergestellt. In diesem Jahr veröffentlichte AntonGunther Fritzius posthum das Werk „De jure maritimo & nautico“ des Greifswalder Juristen Franz Stypmann (1612–1650), welcher selbst intensiv Grotius rezipiert hatte.48 Während Grotius jedoch nur das geläufige Verbot bestätigt hatte, fundierte Stypmann dieses im antiken Recht, wie aus seinem Werk hervorgeht: „Vnde sequitur, quod super corpore et persona liberi hominis, nauigationi a­ dhibiti, cuius nulla est aestimatio, non fiat assecuratio.“49 Vor allem französische Juristen nahmen diesen Lehrsatz des deutschen Juristen als Basis des Verbotes von Lebensversicherungen; jedoch wohl erst nach der Neuauflage von Stypmanns Werk im Jahr 1740.50 Sie verewigten im Folgenden das Verbot in ihren entsprechenden Werken.51 Es muss daher festgehalten werden: Historisch stand zuerst das Verbot der Lebensversicherungen (1570), erst über 80 Jahre später folgte die Rezeption des römischen Rechtes zur Legitimierung dieses Verbots (1652), welches wiederum erst seit 1740 internationale Aufmerksamkeit fand.

4 6

Dig. 9.3.1.5. Verwendet habe ich folgende Edition: Jean Ausoult, Corpus Iuris Civilis, Leiden 1560, S. 877. 47 Beispielsweise bei: Pierre Cousteau, ADVERSARIA SEV || ANNOTATIONES || AD QVINQVE & VIGINTI LIBROS || PANDECTARVM […], Köln 1562, S. 281: „non autem vt liberum corpus aestimetur“. 4 8 Zu Stypmann ausführlich mit der dort angegebenen Literatur: Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 65–69. 49 Johann Gottlieb Heineccius, Scriptorum de iure nautico et maritimo fasciculus, Magdeburg 1740, S. 455. 5 0 René-Josué Valin, Nouveau commentaire sur l’ordonnance de la marine, Bd. 2, La Rochelle 1760, S. 51. 51 Balthazard-Marie Émerigon, Traité des assurances et des contrats à la grosse, Marseille 1783, S. 198f.; Vincent Arthur Maria van der Burg, Begunstiging bij levensverzekeringen. Enige civielrechtelijke beschwouwingen. Le Bénéfice de l’assurance sur la vie, Deventer 1971, S. 9–11.

Lebensversicherungen in der Frühen Neuzeit 409

III.  Die Adaption in Hamburg

Die im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert in Nordeuropa aufstrebenden Handelsstädte waren Hamburg und London. Beide wurden erst seit dem späten 17. Jahrhundert auch bezüglich des Volumens Versicherungsmärkte ersten Ranges. Die Adaption des Verbotes der Lebensversicherung an diesen Orten musste daher entscheidend für die weitere Diffusion desselben wirken. Für London hat Geoffrey Clark argumentiert, dass es vor allem die Tradition des Common Law war, die eine Übernahme des Lebensversicherungsverbotes nach England verhinderte; dies erscheint aber, wie dargestellt wurde, die Wichtigkeit des römischen Rechtes für das Verbotsdogma auf dem Kontinent (zumindest bis 1740) zu übertreiben.52 Ohnehin anders sah die Lage in Hamburg aus. Hier dominierten bis in die 1630er Jahre hinein Niederländer das Versicherungsgeschäft; auch die Policen waren in dieser Sprache gehalten.53 Mit der Versicherung brachten die Niederländer, die vor allem nach 1585 einwanderten, das Verbot der Lebensversicherung. Obwohl es nicht legislativ ausgesprochen wurde, so richtete man sich in Hamburg zunächst vor allem nach den Antwerper „Impressae“ von 1582 und der „Compilatae“ von 1609. Auch als in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert die Niederländer ihre Konturen als eigenständige Gruppe durch Einbürgerung und Integration verloren und deutschsprachige Policen üblich wurden, blieb das Hamburger Versicherungsrecht an den Niederlanden orientiert. Als im Jahr 1664 in Middelburg ein Buch unter dem Titel „‘t Boeck der ZeeRechten“, eine Zusammenfassung und Bündelung der niederländischen Rechts­ praxis erschien, wurde dieses sogleich in Hamburg angeschafft und künftig als Basis des Versicherungsrechtes genommen.54 In dieser Zusammenstellung wurde zwar die Lebensversicherung nicht explizit verboten, jedem studierten Juristen jedoch war klar, dass mit dem Verbot von „weddinge“ auf „ander dinge“ in Artikel 4 des Kapitels „oft Asseurantien“ die Lebensversicherungen gemeint waren.55 Die in den folgenden Jahrzehnten geschehenen Vergleiche der Hamburger Versicherer zur Ordnung des Versicherungsgeschäftes betrafen Modalitäten der Seeversicherung und hatten keine Auswirkung auf das weiterhin gültige Verbot 5 2

Clark, Betting (wie Anm. 3), S. 16–22. A. Kiesselbach, Die wirtschafts- und rechtsgeschichtliche Entwickelung der Seeversicherung in Hamburg, Hamburg 1901, S. 15–23. 5 4 Bislang wurde noch von keinem mit Hamburger Handelsrecht beschäftigten Historiker erkannt, dass sich die Admiralität an dieser Kompilation orientierte, von der sie laut einem Aktenvermerk 35 Stück besaß: Hamburger Staatsarchiv (HStA), 111–1 Senat Cl. VII Lit. Ca Nr. 2 Vol. 1b, Nr. 72. Damit müssen Aussagen, die das Fehlen von Gesetzestexten zur Lebensversicherung in Deutschland im 17. Jahrhundert betonen, zurückgewiesen werden, so noch: Braun, Geschichte (wie Anm. 10), S. 61; Frentz, Admiralitätsgericht (wie Anm. 1), S. 126–132. 5 5 [Anon.], t’Boek der Zee-Rechten, Middelburg 1664, S. 83. 5 3 Georg

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der Lebensversicherung.56 Es kann daher hier betont werden: Bezüglich des Rechts zu Prämienlebensversicherungen verharrte man in Hamburg während des gesamten 17. Jahrhunderts im Orbit der Vereinigten Provinzen.57 Umso außergewöhnlicher ist es, dass 1731 in Hamburg zum ersten Mal in einer Gesetzeskodifikation in Nordeuropa die Lebensversicherung explizit e­ rlaubt wurde.58 Als wäre es die nebensächlichste Angelegenheit, heißt es in Titel X (Von Assecuranz für Türcken Gefahr und auf der Menschen Leben) Artikel 5 der Ordnung: Ist aber die Versicherung zugleich mit oder auch besonders auf das Leben einer Person geschehen, woferne nemlich dieselbe in der Sclaverey ungelöset, oder im Gefechte gegen die Türcken, oder überhaupt währender Reise zu Wasser oder Lande natürlichen oder sonst zufälligen Todes versterben würde; so müssen die Assecuradeurs, so bald die zuverlässige Nachricht davon einläufft und ihnen gebührend kund gethan worden, in gewöhnlicher Zeit ihre gezeichnete Summen an denjenigen der die Versicherung thun lassen, bezahlen.59

Im Kontext des Titels zu Freikaufsversicherungen von Hamburger aus der Sklaverei nordafrikanischer Korsaren („Türcken“ genannt, da diese nominell dem osmanischen Reich Untertan waren) fand sich also eine explizite Aufhebung des Lebensversicherungsverbotes an einem wichtigen und noch deutlich aufstrebenden Versicherungsplatz Europas. Auch wenn in den nächsten Jahrzehnten das Verbot der Lebensversicherung in den Niederlanden und Frankreich bestehen blieb, so diffundierte die Hamburger Versicherungsordnung bald nach Preußen, Dänemark und Schweden60, so dass eine Lebensversicherung für Seefahrer an immer mehr Orten erlaubt wurde.61 Damit war das Verbotsdogma an einer wesentlichen Stelle explizit normativ durchbrochen. Es stellt sich die Frage nach dem Ursprung dieses, folgt man Wolfgang Bonß, epochalen Wandels. War Hamburg so modern, dass man sich hier um 1731 von der Skandalisierung der Lebensversicherung lösen konnte? Angesichts der zeitgleich noch scharfen Verurteilung dieser Versicherung in einer toleranten Metropole wie Amsterdam ist dies kaum vorstellbar. War es vielleicht der intensive Einfluss Englands, mit dem Hamburg in engem Handelskontakt stand? Dies hat zwar prinzipiell eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich, allerdings spricht nicht der geringste Hinweis im Hamburger Gesetzestext hierfür. 5 6

Zu diesen siehe: Dreyer, Assecuranz- und Havareyordnung (wie Anm. 1), S. 52–66. Dafür spricht ebenfalls die Tatsache, dass sich bislang im Hamburger Staatsarchiv für das gesamte 17. Jahrhundert keine Lebensversicherungspolicen haben finden lassen. 5 8 Zur Vorgeschichte siehe: Dreyer, Assecuranz- und Havareyordnung (wie Anm. 1), S. 69–114. 59 Abgedruckt bei: Ebd., S. 300. 6 0 Ebd., S. 204–214. 61 Diese Form wurde im 18. Jahrhundert auch in Venedig häufiger: Tenenti, assicurazione (wie Anm. 22), S. 672. 57

Lebensversicherungen in der Frühen Neuzeit 411

IV.  Die Auflösung des Lebensversicherungsverbots

Um die Entwicklung in Hamburg zu erklären, muss zunächst der Kontext von Freikaufsversicherungen und ihre legislative Regelung dargelegt werden. Von etwa 1570 bis 1830 waren nordeuropäische Schiffe den Angriffen der sogenannten Barbaresken in substantieller Menge ausgesetzt, wobei der Höhepunkt der Kaperungen in den Jahren von 1610 bis 1660 lag. Zeitweilig hatten sich in diesen Jahren viele tausend Seeleute Nordeuropas in nordafrikanischer Sklaverei befunden. Die schiere Masse an solchen Fällen hatte es bedungen, dass Freikäufe in großen Mengen hatten stattfinden müssen. In Italien, wo die Lebensversicherungen nie verboten waren, war es auch spätestens ab 1600 selbstverständlich, dass sich Seeleute gegen das Risiko der Sklaverei bei den Barbaresken versicherten.62 In den Niederlanden reagierte man ab 1609, dem Jahr, in dem die Angriffe hier stark zunahmen. In der Antwerper „Compilatae“ von 1609 wurde direkt in den Anschlussparagraphen auf das Verbot von Lebensversicherung, Buch IV Artikel 316, in den Artikeln 317 bis 323 festgelegt, dass „schippers, pelgrims, cooplieden oft andere die verre reijsen aennemen“ sich gegen die Gefahr der Gefangennahme durch ungläubige und andere Feinde versichern konnten.63 Die Summe musste im Voraus genau festgelegt werden, ein Drittel des Lösegeldes musste von dem Versicherten getragen werden und die Gültigkeit war auf drei Jahre beschränkt. Diese Form von Versicherung war haargenau auf das Risiko der Barbaresken zugeschnitten und fand im 17. Jahrhundert eine weite Verbreitung in den gesamten Niederlanden.64 Die Problematik eines möglichen Zusammenhanges von Freikaufs- und Lebensversicherung erschließt sich angesichts der Legislation nicht auf den ersten Blick. Offensichtlich waren beide nach dem Antwerper, also dem faktisch in den gesamten Niederlanden gebräuchlichen Recht, getrennt. Auch wenn eine Person mit einer fixen Summe bewertet wurde, so war diese Summe doch nur für den Freikauf bestimmt, nicht für den Todesfall. Dennoch hat eine Reihe von Autoren betont, dass die Freikaufs- und Lebensversicherungen in einem historischen Zusammenhang stehen und die endgültige Zulassung ersterer auch zum Fall letzterer führte.65 Dagegen hat Petrus van Niekerk am deutlichsten Einspruch erhoben. Nach detaillierter Durchsicht der Literatur kam er zu dem Ergebnis, dass die Freikaufs 6 2 Maura

Fortunati, Captivi, Riscatti ed assicurazione alla vigilia dei codici, in: Vito Piergiovanni (Hrsg.), Corsari e riscatto dei captivi. Garanzia notarile tra le due sponde del Mediterraneo, Mailand 2010, S. 113–134. 6 3 Longé, Coutumes IV (wie Anm. 41), S. 330–332. 6 4 Niekerk, Development (wie Anm. 28), S. 438–440. 6 5 So, immer jedoch sehr unscharf: Jakob van Schevichaven, Vom Leben und Sterben. Das Gestern und Heute der Lebensversicherung, Leipzig u. a. 1898, S. 13; Burg, Begunstiging (wie Anm. 51), S. 8.

412 Magnus Ressel

versicherung nur in Zusammenhang mit der Seeversicherung gesehen werden sollte und die Lebensversicherung hiervon strikt getrennt war. Bündig hat er formuliert: „ransom insurance was an insurance against the insured’s loss of having to pay a sum of money by way of ransom to obtain his own release or that of a specified person.“66 Die Trennung wirkt klar und sauber. Nur das Lösegeld wurde versichert, nicht das Leben der Person. Diese Auffassung findet ihre Stütze in den vielen Statuten oder den Policen von Freikaufsversicherungen, in denen die Zahlung der Summe erst nach glücklicher Ankunft des Gefangenen auf christlichem Boden festgelegt wurde; so wurde sichergestellt, dass keine verdeckte Lebensversicherung entstehen konnte.67 Scheinbar hat Niekerk recht mit seiner scharfen Trennung von Freikaufsund Lebensversicherung. Auch wenn hier eine Summe auf einen Menschen festgelegt wurde, so war dies konzeptuell klar von der Versicherung gegen einen unerwarteten Todesfall getrennt. Dennoch hat sich Niekerk geirrt. Die Freikaufsversicherungen führten zur Aushöhlung des Lebensversicherungsverbots, wenn auch nur langsam und graduell in einem Prozess von über einem Jahrhundert, von 1609 bis 1731. Das grundsätzliche Problem kann anhand eines Eintrags aus den Hamburger Admiralitätsprotokollen vom 20. März 1727 gezeigt werden: Senator Joh. Herman Luis ref: Daß es wegen Jurian Akens, welcher nachdem er in Algier gelöst worden, vor seiner Ankunft auf der Christen Seite gestorben sey, will also Vernehmen, ob er an Hinrich und Philip Otte die von der Löbl. Admiralitaet zu seiner Lösung gezeichnete 500 Rtl. bezahlen solle. Concl. et Commis: Sr. Joh. Hermann Luis die auf den in Algierischer Schlaverey g­ ewesenen Jurian Akens von der Löbl. Admiralitaet gezeichnete 500 Rtl. Hinrich und P ­ hilip Otte auszubezahlen.68

Bei der großen Menge an Freikaufsfällen, den katastrophalen hygienischen Zuständen in Nordafrika und der langen Dauer der Briefkommunikation kam es nicht selten vor, dass ein bereits freigekaufter Nordeuropäer vor seiner Rückkehr nach Europa starb. Die Gelder waren in diesen Fällen bereits vor Ort von Freikäufern in Nordafrika bar bezahlt worden. Diese Personen mussten ihre Unkosten zurückerstattet bekommen, ansonsten brach das System zusammen; mit potentiell katastrophalen Resultaten für die künftig in die Gefangenschaft 6 6

Niekerk, Development (wie Anm. 28), S. 442. So heißt es auch in Artikel 3 der Hamburger Ordnung von 1731 wörtlich, die Versicherer sollen die Versicherungssumme nach Einkommen der Kaperungsnachricht an die Admiralität überführen, diese jedoch „das Geld denjenigen, so die Lösung der aufgebrachten Person übernommen, nicht eher ausliefern, als bis der Gefangene würcklich befreyet und an der Christen Seite angelanget ist.“ Damit folgte man einem über 100 Jahre alten Gewohnheitsrecht: Dreyer, Assecuranz- und Havareyordnung (wie Anm. 1), S. 152–153, 299. 6 8 HStA, 371–2 Extra Judicial Admiralitätskollegium A1, Bd. 2 (1719–1742), fol. 101v. 67

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geratenden. Daher war es in der Praxis zum Zwang gekommen, die Klausel einer Auszahlung erst bei Rückkehr des Sklaven auf christlichen Boden grundsätzlich zu ignorieren. Das Lösegeld wurde immer gezahlt.69 Diese Fälle kamen hinreichend selten vor, dass sie nicht zu deutlich ins allgemeine Bewusstsein drangen. So blieb in der Öffentlichkeit das Verbot der Lebensversicherungen gewahrt. Dennoch wirkten die Freikaufsversicherungen bereits ähnlich wie Lebensversicherungen, indem im Falle der Gefangennahme die Freikäufer die Garantie auf die Versicherungsgelder auch beim Tod des Versicherten hatten. In Frankreich wurde diesem Tatbestand explizit legislativ Rechnung getragen, indem die „Ordonnance de la Marine“ von 1681 eindeutig die Zahlung der Versicherungssumme auch im Falle des Todes des Sklaven vorsah.70 Im folgenden Jahrhundert wurde diese Gesetzeslücke von französischen Sklavenhändlern konsequent genutzt, um schwarzafrikanische Sklaven zu versichern. Die Fiktion, dass diese von den französischen Händlern „entführt“ worden waren und nun auf Freikauf versichert wurden, diente als Basis zur Versicherung dieses speziellen Guts.71 Damit war allerdings noch nicht im Generellen die Lebensversicherung möglich, diese blieb in Frankreich verboten. In Hamburg kam eine sehr spezifische Situation hinzu, die zum Ende des Verbots führte. Hier hatte der Typus der Freikaufsversicherung bis 1730 keine tieferen Wurzeln geschlagen, da die Admiralität nach dem Vorbild der „Stückvon-Achten-Kasse“, einer 1622 von Kapitänen und höheren Schiffsrängen gegründeten privaten Freikaufsgilde, im Jahr 1624 eine öffentliche „Sklavenkasse“ zum Freikauf gegründet hatte. Die „Sklavenkasse“ wirkte als eine Art von Sozialversicherung, in die die Matrosen sich einkaufen mussten, im Gegenzug erhielten sie die Garantie einer substantiellen finanziellen sowie logistischen Hilfe bei einem notwendigen Freikauf.72 Da somit zwei Freikaufssysteme griffen, 6 9

Dies galt nicht nur für Hamburg, sondern in ganz Westeuropa: Clark, Betting (wie Anm. 3), S. 16. 70 Die Passage findet sich in Buch 3, Kap. 6. Art. 11. Siehe auch den Kommentar von: Valin, Commentaire II (wie Anm. 50), S. 51. Er verwundert sich darüber, dass diese Ausnahme zugelassen wurde: „Il faut reconnaitre que cet article contient une exception qui déroge formellement, pour le cas prévu, aux défenses portées par l’article précédent, sans s’amuser à chercher des raisons de différence pour les concilier: car enfin, assurer le prix du rachat du captif, si, faisant son retour, il est tué ou noyé, c’est au fond assurer sa vie.“ Tatsächlich zwang schlicht die Praxis diese, allerdings noch begrenzte Abweichung vom Prinzip auf. 71 Ausführlich hierzu: Geoffrey Clark, The Slave’s Appeal: Insurance and the Rise of Commercial Property, in: Geoffrey W. Clark (Hrsg.), The appeal of insurance, Toronto 2010, S. 52–74. 7 2 Zur Sklavenkasse: Ernst Baasch, Die Hansestädte und die Barbaresken (Beiträge zur deutschen Territorial-u. Stadtgeschichte; Ser. 1,3), Kassel 1897, S. 202–238; Magnus Ressel, The North European Way of Ransoming. Explorations into an Unknown Dimension of the Early Modern Welfare State, in: Cornel Zwierlein/Rüdiger Graf/Magnus Ressel (Hrsg.),

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die „Stück-von-Achten-Kasse“ für die höheren und die „Sklavenkasse“ für die niedrigeren Ränge, bestand in Hamburg kaum die Notwendigkeit von privaten Freikaufsversicherungen; im Gegensatz zu den Niederlanden, die ohne Freikaufskassen blieben. Dennoch galten im Prinzip in Hamburg zunächst dieselben Regularien. In Artikel 12 der Ordnung der „Sklavenkasse“ wurde explizit ausgeschlossen, dass die für den Freikauf bestimmten Gelder den Verwandten nach vorzeitigem Tod des Sklaven zukommen sollten. Dies war mit Blick auf das Lebensversicherungsverbot verfügt worden.73 Dieses Prinzip wäre möglicherweise bei privaten Freikaufsversicherungen zu halten gewesen, bei öffentlichen oder gildenähnlichen Fonds war es vom ersten Tag an illusorisch. Wenn Seeleute im Kampf für ihr Schiff fielen, sollten ihre Frauen kein Geld erhalten, dahingegen verblieb für die Seeleute, die kapitulierten und somit am Leben blieben, ein Anspruch auf Freikaufsgelder. So ein Widersinn war in der Praxis einer öffentlichen Institution unmöglich durchzuhalten. Tatsächlich scheint das Verbot daher nie gegriffen zu haben und die Hinterbliebenen erhielten für eingeschriebene Mitglieder der „Sklavenkasse“ oder der „Stück-von-Achten-Kasse“ auch im Todesfall der Seemänner Hilfsleistungen. Am 22. Februar 1650 wurde schließlich explizit in den Statuten der „Stück-von-Achten-Kasse“ festgelegt, dass die Frau des eingeschriebenen und vor dem Freikauf gestorbenen Mitglieds 400 Stück von Achten jährlich erhalten sollte.74 Da beide Kassen zu diesem Zeitpunkt noch komplementär gedacht waren, wurde dies in der Praxis auch bezüglich der „Sklavenkasse“ so gehandhabt, hier ohne entsprechende Statutenänderung. In den folgenden Jahrzehnten wurde es üblicher, dass sich die Kapitäne Hamburger Schiffe privat absicherten. Insbesondere Konvoikapitäne begannen, Lebensversicherungen abzuschließen, da sie ihr Amt zunächst mit hohen Kosten erkaufen mussten und ihre Familie nicht auf Schulden im Falle eines frühen Todes sitzenlassen wollten. Vor diesem entscheidenden Schritt zur Lebensversicherung hatte eine jahrzehntelange Praxis von Geldauszahlungen der Hamburger Freikaufskassen an Seemannswitwen gestanden, deren Männer im Kampf gegen die Barbaresken gefallen waren. Dies war die Voraussetzung für legale Prämi-

The Production of Human Security in Predmodern and Modern History (HSR 35, 4), Köln 2010, S. 125–147. 7 3 Hier hieß es: „woferne aber ein solcher [ein in die Sklavenkasse eingeschriebener Gefangener], ehe und bevor die Ordnunge an ihm käme, mit Tode abgienge, sollen die Erben solch Geld nicht zu heben haben, sondern solches bey der Cassa verbleiben“; ­Hermann ­Langenbeck, Anmerkungen über das Hamburgische Schiff- und See-Recht, 2. Aufl. ­Hamburg 1740, S. 360. 74 HStA, A 949–0007 Kapsel 01 Ordnung der Schippern allhier zu Hamburg.

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enlebensversicherungspolicen gewesen. Seit 1686 spätestens wurden explizit als solche bezeichnete Lebensversicherungen von Konvoikapitänen abgeschlossen.75 So hatte sich in Hamburg eine eigenwillige Tradition gebildet, die das hier ja auch niemals explizit erlassene Verbot der Lebensversicherungen im Bereich der Seefahrt, die immerhin einen Großteil der Bevölkerung beschäftigte, aushöhlte. Als 1731 in Hamburgs Assecuranz- und Havareyordnung die Lebensversicherung beiläufig Erwähnung fand, wurde damit schlicht eine inzwischen geläufige Praxis in Normen gegossen. Die Obligation der Mitgliedschaft in der Sklavenkasse blieb bestehen, allerdings wurde auch festgelegt, dass im Todesfall nur 10 % der Freikaufssumme an die Hinterbliebenen gehen würde. Mit dieser Reduktion der bisherigen Praxis einer generösen Hilfe von obrigkeitlicher Seite war beabsichtigt, die Mannschaftsmitglieder stärker zur privaten Lebensversicherung zu animieren. Diese wurde dementsprechend bald für alle Besatzungsmitglieder üblich.76 Ein faszinierender Aktenfund beweist, dass in der Praxis damit auch generell die Lebensversicherung in Hamburg gefallen war. In den Hamburger Reichskammergerichtsakten findet sich ein Prozess zu einer 1755 abgeschlossenen Lebensversicherung, die ausdrücklich daher an das Reichskammergericht verwiesen wurde, da „die oben gedachte Summen gethane Assecuranz nicht über das Leben eines Seemans oder in mercantie-Sachen“, sondern auf einen gewöhnlichen städtischen Beschäftigten geschehen war.77 Als seit 1765 in Hamburg immer weitere Versicherungen auf Aktienbasis entstanden, hatten fast alle in ihrem Titel ausdrücklich die Verfügung, dass sie gegen Türcken-Gefahr versicherten; vermutlich boten sie auch normale Lebensversicherungen an.78 Es ist nur folgerichtig, dass im Jahr 1795 in Hamburg die erste sich selbst auch so bezeichnende Lebens-Versicherungs-Societät errichtet wurde.79 Damit war

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Dies erregte das Aufsehen der Hamburger Juristen, die das Verbot von Amsterdam und Frankreich hier ausdrücklich gebrochen sahen, dies aber akzeptierten: Langenbeck, Anmerkungen (wie Anm. 73), S. 409f. Hierzu ausführlicher: Magnus Ressel, Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen. Nordeuropa und die Barbaresken in der Frühen Neuzeit (Pluralisierung & Autorität 31), Berlin 2012, S. 354, 419, 590f., 643, 656f., 669, 706. Dieser Prozess würde eine eingehende Untersuchung verdienen. Ich danke Cornel Zwierlein für den Hinweis: HStA, RKG B 57 Teil 1. Friedrich Plass, Geschichte der Assecuranz und der hanseatischen SeeversicherungsBörsen, Hamburg 1902, S. 156–197. Spooner irrt, wenn er meint, dass mit den ähnlichen Aktiengesellschaften auch in den Niederlanden bereits die Lebensversicherungen kamen, auch diese galten nur für Freikäufe: Frank Spooner, Risks at sea. Amsterdam insurance and maritime Europe, 1766–1780, New York 1983, S. 40f. Johann Ernst Friedrich Westphalen, Der Zustand des Handels in Hamburg während den letzten fünfzig Jahren, Hamburg 1806, S. 31.

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der Damm endgültig gebrochen und man folgte 1807 in den Niederlanden mit einer ähnlichen Gründung, die fälschlicherweise als die erste dieser Art gilt.80

V. Schluss

Kann der Befund der tatsächlichen historischen Entwicklung von Lebensversicherungsverbot und der Aufhebung desselben mit Bonß’ Postulat eines grundsätzlichen Wandels der Risikoperzeption der Menschen der westlichen Gesellschaften in eine fruchtbare Verknüpfung gebracht werden? Ich meine, dass ein, allerdings nur für Kontinentaleuropa gültiges, Phasenmodell die beste Heuristik bietet, um Postulat und reales historisches Geschehen in einen aussagekräftigen Zusammenhang zu stellen. Die erste Phase von 1400 bis 1570 kann man als Zeit des Experimentierens und Spekulierens sehen, wobei auch häufig ernsthafte Lebensversicherungen abgeschlossen wurden. Dieser Versicherungstypus fand seine weiteste Verbreitung in Italien, Spanien und Portugal, gegen Ende dieses Abschnittes ist ein deutliches Übergreifen nach Nordwesteuropa zu erkennen. Die zweite Phase von 1570 bis 1730 kann man als Zeitalter des weitgehenden Verbotes der Lebensversicherung bezeichnen. Kerngebiet des Verbotes waren Frankreich und die gesamten Niederlande. Die weiterbestehende Gültigkeit der Lebensversicherung in Südeuropa bewirkte keinen Wandel mehr, da mit Verschiebung des Zentrums der Weltwirtschaft nach Nordwesteuropa81 dieser Raum die Funktion als wesentlicher Impulsgeber für wirtschaftsinstitutionelle Innovationen übernahm. In der dritten Phase von 1730 bis 1790 sieht man, von Hamburg ausgehend, die Aushöhlung und schließlich weitgehende Überwindung des Lebensversicherungsverbotes; trotz des scharf bekräftigten Verbotsdogmas durch niederländische und französische Juristen. Erst das Zeitalter der Französische Revolution beendete die letzten Widerstände gegen die Lebensversicherung. Ausschlaggebend für den Erlass des Verbotes waren Erfahrungen der Praxis zur Zeit einer konfessionellen Eskalation im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts gewesen. Das Verbot fand seine sukzessive Auflösung im Feld der andauernden Entführung und Bedrohung des Lebens von protestantischen Menschen durch die islamischen Korsaren Nordafrikas. Diese Erfahrung erweist sich somit als kardinal, um einen wesentlichen Wandel in der europäischen Risikoperzeption zu verstehen. Das Leben zu versichern war ein strenges Tabu, aber es musste permanent geschehen, um in der Realität der frühneuzeitlichen Seefahrt operieren zu können. Dieser Widerspruch erodierte über die Jahrhunderte in einem sehr 8 0

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Diesbezüglich irrt: Burg, Begunstiging (wie Anm. 51), S. 11. Jonathan Israel, Dutch primacy in world trade, 1585–1740, Oxford 1989, S. 3–8; David Ormrod, The rise of commercial empires. England and the Netherlands in the age of mercantilism, 1650–1770, New York 2003, S. 335.

Lebensversicherungen in der Frühen Neuzeit 417

schleichenden Prozess eine fundamentale, ethisch überhöhte Rechtsfigur Europas. Oftmals übersehen oder marginalisiert war die über Jahrhunderte andauernde Bedrohung von Freiheit und Leben der Nordeuropäer auf den Ozeanen durch die Barbaresken eine einschneidende Dauererfahrung für Tausende von Seefahrern und Hunderttausende von Angehörigen in der Heimat. Unter diesem andauernden Gefahrenhorizont und seiner permanent notwendigen Zwangslösung durch eine Aufwendung an finanziellen Mitteln zur Befreiung der Gefangenen fiel das Verbot der Prämienlebensversicherung. Die Entführungen von vielen tausend Nordeuropäern in den Gewässern Südeuropas durch die muslimischen Kor­ saren erweisen sich somit als ein tiefgreifend mentalitätsveränderndes Säkular­ phänomen, dessen wirkungsgeschichtliche Umrisse wir erst begonnen haben zu kartieren.82

8 2

Diesbezüglich sei auf meine These bezüglich eines Wandels hin zu einer stärkeren Empathie für die Freiheitsrechte von Menschen angesichts der andauernden Kaperungen von Protestanten durch die Barbaresken verwiesen: Magnus Ressel, Conflicts between Early Modern European States about Rescuing Their Own Subjects from Barbary Captivity, in: Scandinavian Journal of History 36 (2011), S. 1–22.

Geoffrey Clark

Slave Insurance in Late Medieval Catalonia For the last half of its 600-year history, life insurance has been urged on the public primarily as a means of strengthening the domestic unit by preserving the financial and social position of widows and orphans, thus preventing their slavish dependence on family, friends, and community. But during the first centuries of its development, European life insurance served less as a means to secure against financial bondage and more as a prop to the institution of slavery by providing a mechanism to secure investments in slaves in the event of their flight or death. By the eighteenth century, for example, the insurance of slave cargoes on the Middle Passage had become sufficiently routine that, at least in terms of the number of heads covered, it represented the largest share of the life insurance business. In the wake of the Zong affair (1781) and like abuses involving willful starvation and murder in order to realize insurance claims, the trans-Atlantic slave trade also became the most notorious chapter in the history of life insurance. But the practice of insuring slaves arose well before the formation of the Atlantic plantation system and the massive traffic of the Middle Passage. Its origins lie rather along the commercially precocious segments of the Mediterranean littoral in the early fifteenth century. Comparatively little is known about the insurance of slaves in this period: surviving policies are scant and contemporary commentary nearly nonexistent. During the past century a few historians have reported on the subject, but only briefly, and as a result this aspect of early life underwriting remains obscure and under explored.1 This paper is intended to shed some light on this practice by analyzing a collection of insurance policies taken out on the lives of slaves in Barcelona from the mid-fifteenth to the early sixteenth centuries.2 Although the number of policies (43) is smaller than one would like, the sample does provide some basis to characterize the structure and patterns of slave insurance before the American transformation of slavery in the early modern period. By the twelfth century throughout most of Western Europe previously existing slave populations had largely been assimilated into the large mass of semi 1 Enrico Bensa, Histoire du contrat d’assurance au moyen age (Paris, 1897), xiii, n. 2, pp. 90–93;

Frederigo Melis, Origini e sviluppi delle assicurazioni in Italia (secoli XIV–XVI), vol. I: Le fonti (Rome, 1975), pp. 210–212; Guiseppe Stefani, Insurance in Venice From the Origins to the End of the Serenissima (Trieste: Assicurazioni Generali di Trieste e Venezia, 1958), vol. 1, p. 118; Robert S. Smith, ‘Life Insurance in Fifteenth-Century Barcelona’ , in JEconH 1, no. 1 (May 1941), pp. 57–59. 2 These are collected, with a short commentary, in Jose Maria Madurell Marimon, Los Seguros de Vida de Esclavos en Barcelona (1453–1523) (Madrid, 1955).

Slave Insurance in Late Medieval Catalonia 419

free serfs whose tenure and status was one of the essential characteristics of the feudal regime. According to Pierre Bonnassie, a parallel trend was traced in northern Iberia, but the subsequent reconquista and the resulting availability of Muslim captives opened a conduit for a revival of slavery.3 In Italy, too, slavery revived owing to Italian traders’ access to Islamic slave markets in the Levant and to the establishment of Genoese colonies in the Crimea.4 As a result, slaves of various provenances were traded all along the Mediterranean littoral. In most cases they were used for domestic purposes, although large-scale agri­ cultural slavery existed on Majorca, whose insular position made control of bound labor easier, and where by the second quarter of the fifteenth century upwards of ten per cent. of the population were slaves. After the 1440s Portuguese ­voyages down the west coast of Africa began returning sub-Saharan captives in considerable numbers so that by 1 500 African slaves also comprised about 10% of the populations of Lisbon and Seville.5 The system of slavery in late medieval Europe was therefore confined regionally and of limited overall economic importance, but it was also increasingly prevalent in the most economically dynamic regions of southern Europe and of course represented a crucial link in the chain of continuity between medieval, European forms of slavery and the vastly larger trans-Atlantic slave system to come. The application of the new technique of life insurance to slave holding, first instanced in the transport of a Tartar named “Margarita” from Pisa to Barcelona in 1401, presages the more financially sophisticated treatment of slavery in the Atlantic era.6 With respect to origins at least, the 43 insurance policies culled from the archives of Barcelona and analyzed here are representative of the ethnic profile of Mediterranean slavery generally from mid-fifteenth to the early sixteenth centuries. Of the 39 slaves whose ethnic origins are recorded or can be confidently inferred, 12 (31%) were drawn from the Islamic lands of North Africa or the Near East (Turks, Arabs, Saracens, Moors, Berbers). The Caucasus region and the neighboring Tartars supplied 13 (33%) of the total. Russians accounted for 11 (28%), while those listed as coming from sub-Saharan Africa numbered just 3 (8%). This last group is undoubtedly undercounted owing to the records’ tendency to omit place of origin among slaves who are described as “negro.” ­Although this racial designation does not precisely divide sub-Saharan slaves from blacks captured from areas farther north (one of the four Moors is dePierre Bonnassie, From Slavery to Feudalism in South-Western Europe, trans. Jean Birrell (Cambridge, 1991), p. 55, pp. 93–94, pp. 266–270, pp. 334–338. 4 Joycelyn N. Hillgarth, Spain and the Mediterranean in the Later Middle Ages (Aldershot, 2003), pp. 547–548. 5 Robin Blackburn, The Making of New World Slavery from the Baroque to the Modern, 1492–1800 (London, 1997), p. 52. 6 Melis, Origini (note 1), p. 210 and plate p. 50. 3

420 Geoffrey Clark

scribed as negro, for example), a recalculation of ethnic breakdown based on the ten slaves described simply as negroes suggests that black Africans constitute about 22% of the sample and, therefore, that Russians, Muslims, and those from the Caucasus and the Eurasian steppes likewise constitute about a quarter each. Notably absent from the sample are Greeks, who in the previous century had been a mainstay of Mediterranean bound labor, but whose enslavement had come under growing papal and royal disapproval for religious reasons in the later fourteenth century so that, as Charles Verlinden has shown, they had largely disappeared in Catalonia and in other areas controlled by the Crown of Aragon by the following century.7 The continued enslavement of Eastern Christians from Russia or the Eurasian borderlands did not, evidently, raise similar objections. Although the ethnic breakdown of insured slaves conforms to the contemporary profile of enslaved peoples in the Mediterranean basin, in other respects the pattern of insuring slaves departs from typical features of European slaveholding. For example, the chronological distribution of the policies, which span 70 years (1453–1523), is highly skewed towards the decade of the 1450s. As Table 1 shows, no less than 65% of all policies were written in that first decade, with business sharply declining thereafter to negligible levels. In fact, the slavery policies are even more temporally concentrated than this table suggests: 17 policies (40%) were made over a single 18-month period, from June 1457 to December 1458. 1451–60

28

1461–70

 5

1471–80

 0

1481–90

 2

1491–00

 2

1501–10

 5

1511–20

 0

1521–30

 1

Total:

43

Tab 1 

7

Number of Slave Insurance Policies Issued in Barcelona (by Decade)

Charles Verlinden, ‘Une taxation d’esclaves à Majorque en 1428 et la traite italienne,’ in Bulletin de l’Institut historique belge de Rome,42 (1972), p. 154; Hillgarth, Spain (note 4), p. 549.

Slave Insurance in Late Medieval Catalonia 421

Is this picture of lively activity followed by precipitous decline a misleading artifact of uneven documentary survival, or does it accurately portray the timing and pace of the slave insurance business in Barcelona? Although the possibility cannot be excluded that the vagaries of preservation have seriously depleted the number of later policies, that is unlikely to be the case. First of all, chance losses can be expected to produce periodic gaps in archival holdings, or perhaps diminish the numbers of policies recorded each year more or less indiscriminately. It seems improbable that an impression of dramatic and sustained decline in business activity would be produced solely through chance documentary survival. This argument is strengthened by a second consideration having to do with the underwriters of slave policies. All but one of the first 33 slave policies were underwritten by Andres Crexells solely or (in 2 cases) in partnership with another insurer. The fewer policies issued after 1480 had a diverse set of insurers sharing the risks among two, three, or in one case seven underwriters. Thus the social characteristics of the business had changed fundamentally between the earlier and later periods. It may be that the flurry of business in the 1450s and 60s reflected an experimental enthusiasm of Crexells and a few others that could not be sustained, perhaps, in light of disappointing profits or a shortfall of demand for insurance cover. Whatever the reason for the decline, we can be reasonably sure that it was real, and not an historical illusion. In yet another respect the slavery policies of insurance do not reflect the larger slave economy of the late medieval Mediterranean. None of the policies appears to cover slaves engaged in the gang labor that was typical of agricul­ tural production. Not surprisingly, perhaps, policies made in Barcelona primarily covered slaves employed in domestic and urban settings. Of the 43 policies covering the lives of slaves in one way or another, 6 (14%) took the form of marine insurance policies that happened to include humans amongst the other cargo. Except for one case in which the number of “masculine or feminine head or heads” was left unspecified in the policy, the other five policies involved the shipment of a single slave (three males and two females in all). The three males were all in their early 20s, while the sole female for which an age is given was a girl, just six years old. Four of the six policies covered voyages from one Iberian port to another, while one insured a female en route from Rosas to Genoa and another insured “Virgilio,” a Russian, from Barcelona to Rhodes. The implication that insurance on slave cargoes was limited to Mediterranean routes is reinforced by an examination of 580 marine policies issued between 1400 and 1440 on voyages between Genoa and northern European ports, none of which makes any mention of slaves.8 8 Renée Doehaerd/Charles Kerremans, Les Relations Commerciales entre Gênes, la Belgique et

L’Outremont, d’après les Archives Notariales Génoises, 1400–1440 (Brussels, 1952), passim. A

422 Geoffrey Clark

Recovery on the loss of these embarked slaves was limited to the contingencies normally covered in marine policies, that is, shipwreck, sinking, or capture. The policies specifically excluded compensation in the event the insured slaves took flight or in case the slaves died natural deaths en route. The one exception involved a policy purchased by Luis De Muntplau, Resident Knight of Caller Castle, on the shipment of “Francisco” from Barcelona to Caller, whose terms excluded flight but seem to have allowed recovery if Francisco died aboard ship. In the cases where the insured values of the slaves can be disaggregated from the value of other insured goods, the value of the slaves ranged from £ 18 for the six year-old girl to £ 50 for the 20 year-old Virgilio bound for Rhodes. In general, the values assigned to adult slaves in the marine policies correspond to the appraisal of slaves in “terrestrial” life insurance policies, suggesting a basic similarity in social function and economic utility between the two groups. Policies on the life of a slave, or a group of slaves, for a specified term of coverage compose the largest fraction of the Barcelona sample: 24 of the 43, or 56%. The motivations behind slave holders taking out these kinds of policies cannot be known for sure, although some were almost certainly ancillary protective devices to the practice of renting slaves. José Marimon notes that by the fifteenth century this line of business had become sufficiently widespread, and perceived abuses arising from it sufficiently pronounced, that the number of slaves available for hire was limited by statute to four per household.9 Since renters of bound labor had a shorter-run interest in the well-being of slaves than their masters did, the latter had an incentive to indemnify themselves against neglect or abuse leading to the death of their hired-out slaves. As Table 2 shows, the vast majority of slaves were insured in ones and twos, but in a couple of cases policies insured batches of slaves on identical terms. In June 1457 Domengo Xurbi, a gilder, took out year-long policy on four men and one woman, each valued at £ 50, at a premium rate of 10%. The following month a jeweler named Bartolome Limona likewise insured three men and one woman at the higher rate of 13%.

similar compilation of insurance contracts belonging to the preceding period also contains no such references: Léone Liagre-De Sturler, Les Relations Commerciales entre Gênes, la Belgique et L’outremont d’apres les Archive Notariales Gênoises (1320–1400), 2 vols. (Brussels, 1969). 9 Marimon, Seguros de Vida (note 2), p. 22.

Slave Insurance in Late Medieval Catalonia 423

# of Slaves

# of Policies

1

18

2

 4

3

 0

4

 1

5

 1

Total

24

Tab 2: 

Number of Slaves Insured in Term Policies

These instances are perhaps the clearest indication of insurance operating as part of a slave rental market. But how exactly these slaves were being utilized remains a mystery. Certainly the ratios of men to women offer little basis upon which to speculate about employments that might have been associated with conventional forms of male or female labor. Among the 24 term policies, a total of 35 slaves were insured, with males predominating 1.5 to 1 (21 men to 14 women). Yet, like the policies held by Xurbi and Limona, slaves insured in groups showed little segregation by sex. Of the four policies that insured a pair of slaves, one covered two men, one covered two women, and two covered a man and a woman. And when men and women are compared by average age, term of coverage, assigned value, or premium rate, no meaningful differences are revealed that might offer some evidence about the distinctive uses to which they might have been put (see Table 3). Average Term (months)

Average Value (£ )

Average Premium Rate (%)

Average Age

Male

9.8

45.8

10.35

21.7

Female

9.6

47.5

10.10

20.4

Combined

9.7

46.5

10.23

21.1

Tab 3 Males and Females Compared in Term Policies

Most slaves were insured for the term of a year, were valued at or about £ 50 a head (young captives bring the average down somewhat), and ranged in age

424 Geoffrey Clark

from 12 to 30.10 Whether employed as domestic servants, in manufacturing, or a combination of the two, the perceived value of female and male labor would seem to have been approximately equal. Insight into the workings of these fifteenth-century Catalan policies may be had from some striking similarities they bear to life insurance in the antebellum American South. Insurance on slaves exhibited strong growth from the 1830s to the eve of the Civil War. Indeed, the spread of life insurance in the South was due primarily to slave masters in industrializing, urban centers like Richmond purchasing policies on their own slaves. Todd Savitt has pointed out that such policies were almost never taken out in rural areas on the most valuable male field hands or on fertile females, but, as Sharon Murphy has recently added, instead were applied to slaves working as trusted domestics, skilled artisans, and in hazardous industrial settings – precisely the sites where the hiring of slave labor was commonplace.11 Life insurance companies transacting business in the South would have preferred to sell their policies to middle-class men in favor of their wives and children, the stereotypical usage in the North, since the prospective health of the insured could be assessed with greater confidence and the moral hazards were minimal. But that segment of the insurance market remained weak in the South, and companies were forced to acquiesce to a strong demand for policies that would reduce the risk of the flourishing business of hiring out slaves in the industrializing cities of the Upper South. In both the antebellum American South and in fifteenth-century Catalonia, therefore, insurance on slaves was not to be found so much on plantations or at other rural sites but rather in economically vibrant urban settings, where the system of slavery was adapted to the needs of capitalist manufacture and industry. The slaves selected for insurance coverage did not necessarily have the highest market valuation, but they did possess specialized skills which made them difficult to replace, or they had become through their loyal domestic service trusted and valued members of the household. It may not be out of the question, then, to suggest that non-pecuniary factors might have underlain the motivations of masters to insure certain of their slaves. Affective factors may just be perceptible among the third and arguably most enigmatic class of slave insurance policies, which covered the contingency of 10

This range of ages corresponds roughly to range of ages (12 to 45) regarded as insurable by the first life insurance companies operating in England in the period 1695 to 1760. The assumption that risk of mortality was approximately equal in those middle years of life may have been as current in the fifteenth as in the eighteenth century. Geoffrey Clark, Betting on Lives. Life Insurance in English Society and Culture, 1695–1775 (Manchester, 1999), pp. 114–154. 1 1 Todd L. Savitt, Race and Medicine in Nineteenth- and Early-Twentieth-Century America (Kent/Ohio, 2010), pp. 193–205.

Slave Insurance in Late Medieval Catalonia 425

a woman’s death during her pregnancy and delivery. Of the Barcelona policies examined here, nearly a third (13, or 30%) were of this type. These insured pregnant women were slightly older than other female slaves (24.7 vs. 20.4 years, respectively), and ranged in age from 17 to 35. The policies covered the duration of pregnancy and anywhere from three to eight days after delivery. Six policies issued by Andres Crexells in the 1460s give an estimate of how far the pregnancy had already proceeded at the time of the policy’s issuance. Remarkably, the premium rate charged actually increased somewhat as the term of insurance decreased (see Table 4). Months Pregnant

Premium Rate (%)

2–3

4.6

about 4

4.5

about 4

4.5

about 5

8.0

5–6

5.5

7–8

5.5

Tab 4 

Term of Pregnancy and Premium Rate

This apparent illogic can be explained by considering that, then as now, labor and delivery posed the greatest mortal danger, together with the likelihood that masters of slaves suffering troublesome pregnancies would be especially inclined to insure their lives. Underwriters presumably were aware of this adverse selection among proposed lives and rated their policies accordingly. Indeed, a high-risk pregnancy must have been the crucial factor when Crexells arranged to insure the life of Maria, a slave of the physician Bernat dez Lor, for he not only charged the anomalously high rate of 8%, he further reduced his exposure by sharing the risk with another underwriter. What motivations might have underlain the peculiar habit of insuring slaves, a practice that was followed in Genoa and Rome as well as in Barcelona? Over a century ago the insurance historian Enrico Bensa identified a clear economic rationale arising from statutes in those cities that imposed substantial fines on slave owners if their slaves died during pregnancy or childbirth.12 Although such slave owners in Italy were subject to penalties in rather different circumstances than those in Catalonia, I have argued elsewhere that in each case the 12

Bensa, Histoire du contrat d’assurance (note 1), pp. 90–91.

426 Geoffrey Clark

state sought to maintain the moral and social integrity of the family by suppressing concubinage within the master’s household or by punishing the sexual activity of male interlopers.13 Another aspect of the state’s interest is revealed in the thirteenth-century Siete Partidas promulgated by Alfonso the Wise, which attempted, conversely, to protect slave families by prohibiting slave masters from sexual conduct with the wives or daughters of slaves.14 How rigorously these laws were enforced is difficult to say, but given the degree of sexual license commonly exercised by householders across Europe in the medieval and early modern periods, one may doubt that slave owners felt the threat of prosecution too keenly. On the other hand, there is some evidence that pregnant slaves were well cared for and carefully insured. A 1501 policy made by Nicholau Lorens, an apothecary, on his slave Lucia provided, for example, that the underwriters should not only insure her life but that they should provide medications in case of illness as well.15 As further evidence, a comparison of insured amounts of pregnant slaves with other male and female slaves clearly shows that pregnancy led slave owners to set higher valuations on their lives. Surprisingly, the insured values of women (pregnant or not) reveal that on average females were valued 13.9% higher than men (Table 5). Males

£ 44.6

n=22

All Females

£ 50.8

n=30

  Non-pregnant Females

£ 46.5

n=17

  Pregnant Females

£ 56.5

n=13

Tab 5 

Average Insured Values of Slaves

The reason for this disparity becomes clear when female valuations are broken down into those included in regular term policies and those insured in policies made for the duration of pregnancy. Table 5 shows that pregnant slaves were valued 21.5% higher than non-pregnant females and 26.7% higher than males.16 13 Geoffrey

Clark, ‘The Slave’s Appeal: Insurance and the Rise of Commercial Property’, in Geoffrey Clark et al. (eds.), The Appeal of Insurance (Toronto, 2010), pp. 58–59. 14 Blackburn, Making of New World Slavery (note 5), pp. 50–51. 15 Savitt notes that in the antebellum South the North Carolina Mutual Life Insurance Company recoiled from insuring the lives of on pregnant slaves on the grounds of their “unsound” health. Savitt, Race and Medicine (note 11), p. 93. 16 It should be borne in mind that the Barcelona Ordinances, which, among other things, regulated the insurance business in Catalonia and in many other areas of Europe, limited insurance coverage to three-quarters of its market value in order to prevent abuses that

Slave Insurance in Late Medieval Catalonia 427

Although one might conclude that the higher insurance taken out on pregnant slaves reflected the greater financial exposure slave owners faced in those cases arising from possible legal liability, the fact that other females were at least as valuable as males (about four per cent more valuable, as measured here) raises the possibility that slaves’ insured value could be an expression of factors beyond strict economic utility or legal jeopardy. A clue may be had in this regard by shifting the analysis from the insured subjects to the policyholders who, after all, initiated these contracts. By breaking down the sex of policyholders according to the type of policy they purchased, an obvious pattern of female activity emerges (see Table 6). Marine Policies Male

 6

100%

Female

 0

  0%

Male

21

 88%

Female

 3

 12%

Male

 8

 62%

Female

 5

 38%

Term Policies

Pregnancy Policies

Tab 6 

Policyholders by Sex

No women at all took out marine insurance, while only a small number purchased regular term policies. But women comprised almost 40% of the market for the insurance of pregnant slaves. It is worth considering whether as slaves became more closely identified with the household, and ultimately involved in its tasks not only of production but of reproduction as well, that they were also – paradoxically – subjected to pecuniary evaluation through the medium of life insurance. The paradox endures today, though of course without the twist of enslavement. Life insurance is purchased overwhelmingly by people intimately related might arise from moral hazard. Thus the assigned values in slave policies were systematically understated. Coincidentally, the same limit on insured values obtained on policies in the antebellum South, which capped coverage at two-thirds to three-quarters of a slave’s value. Savitt, Race and Medicine (note 11), p. 92; Sharon Ann Murphy, Investing in Life. Insurance in Antebellum America. (Baltimore, 2010), pp. 197f.

428 Geoffrey Clark

to those upon whose heads they set a price. The ineffable attachments that bind the family are precisely those that are most commonly dissolved into a monetary expression. In a similar fashion, the commercially precocious regions of the antebellum South most readily adopted the expedient of insuring slaves’ lives, but slave owners typically preferred to insure domestic servants and trusted hands, that is, those slaves who were, from an emotional point of view, least subject to commodification. Perhaps the wives and widows who insured their pregnant slaves did so mindful of their own authority in ordering domestic affairs, knowing first-hand the travails of childbirth, aware of the consequent risks of financial loss, but also employing insurance to cement a household bond. As I have demonstrated in connection with religious culture and the emergence of civil society in late seventeenth- and eighteenth-century England, and as Eve Rosenhaft has described with respect to marital relationships and family strategy in eighteenth-century Germany, life insurance contracts did not simply map existing financial interests or social ties; they became part of the very stuff of personal relations, the material out of which complex social and economic lives were built.17 And so it is that one can faintly discern the ties of family and vocation among the merchants, medical personnel, royal bureaucrats, booksellers, and artisans who appear scattered among these slave insurance policies. There is, for example, the father-son pair of Guillermo and Pedro Ballester, a weaver and a jeweler working in coral, respectively, who took out three policies on slaves in 1457 and 1458. Pedro undoubtedly knew Bartolome Limona, another “coraler,” who himself insured four slaves for one year in July 1457. Exactly how these policies, and the commercial transactions they were meant to secure, fit into the larger economic and social strategies of these men must remain for the moment unknown. But as Quentin van Doosselaere has discovered among the merchant elite of late medieval Genoa, insurance was an important medium of social solidarity, so important indeed that chronic underwriting losses were subordinated to the profit and prestige of mutual aid.18

17 Geoffrey Clark, ‘Life Insurance in the Society and Culture of London, 1700–1775’, in Urban

History, 24, pt. 1 (May 1997), pp. 17–36; Clark, Betting on Lives (note 10); Eve Rosenhaft, ‘Did Women Invent Life Insurance? Widows and the Demand for Financial Services in Eighteenth-Century Germany’, in David R. Green/Alastair Owens (eds.), Family Welfare. Gender, Property, and Inheritance since the Seventeenth Century (Westport/Conn., 2004), pp. 163–194; Eve Rosenhaft, ‘How to Tame Chance. Evolving Languages of Risk, Trust, and Expertise in Eighteenth-Century German Proto-Insurances’, in Clark et al. (eds.), The Appeal of Insurance, pp. 16–42. 1 8 Quentin van Doosselaere, Commercial Agreements and Social Dynamics in Medieval Genoa (Cambridge, 2009), pp. 170–207.

Slave Insurance in Late Medieval Catalonia 429

Human capital could certainly be registered through the medium of insurance in different ways. The process by which life insurance has worked over the centuries to translate associative or familial bonds into pecuniary measures is well known. While the slave insurance policies of Barcelona supply yet another example of this process, the insurance of pregnant and other domestic slaves also hints at a contrary operation in which objective bonds are valorized and transmuted into more subjective relationships. The peculiar late medieval practice of taking out slave policies may therefore mark a remarkable if disturbing intersection between the tasks of securing property and securing emotional welfare. The slave insurance policies of Barcelona offer some speculative paths upon which future research may shed more light. One hopes that the discovery of additional caches of documents from other underwriting centers of the late medieval Mediterranean can provide a much more complete understanding of this important facet of the early life insurance business, and afford a greater appreciation of its relationship to Atlantic slavery in the succeeding era.

Eve Rosenhaft

Geschlecht und Sicherheit: Paradoxien an den Anfängen der L­ ebensversicherung in Deutschland An den Anfängen der modernen Lebensversicherung als System für die Hinterbliebenenversorgung in Deutschland steht das Wort von Johann Nicolaus Tetens: Mehr Versorgung sich oder den seinigen auf Leben- und Todesfälle zu versichern, als durch eigene Aufsparung des dazu bestimmten Geldes möglich ist, das geht an, dadurch, daß man dieses Geld, als verloren für sich selbst, für andere hingiebt, in dem Fall, daß der Umstand nicht eintritt, bey dem man für sich oder für die seinigen die Versorgung von Nöthen hat. Dieß ist das wesentliche Wohlthätige, das in der Natur dieser Anstalten liegt. In so ferne, als jeder dabey eine Summe wagt, die am Ende für ihn unnütz ausgegeben seyn kann, wird etwas aufs Spiel gesetzt. Aber soll das ein Spiel heißen, so hat es das Eigene, daß nur der verliert, der des Gewinns nicht bedarf, und daß dagegen der gewinnet, dem der Gewinn unentbehrlich ist. Hier ist der Verlierende der Glücklichere.1

Hier haben wir in nuce die paradoxe Verheißung der Versicherungstechnik, Sicherheit dadurch zu verschaffen, dass man das Risiko in Kauf nimmt, ja ihm sogar entgegengeht, um es mit technischen Mitteln zu bannen. In diesem Sinne wird Tetens auch in der Literatur zur Geschichte des probabilistischen Denkens zitiert.2 Nicht erwähnt wird hingegen in der wissenschaftshistorischen Literatur die Tatsache, dass Tetens in seinen Ausführungen direkt auf Argumente reagiert, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem breiteren bürgerlichen Publikum kamen. Tetens’ Einsicht, wie die moderne Lebensversicherungspraxis überhaupt, ist als Resultat eines gesellschaftlichen Experiments zu verstehen, bei dem Männer und Frauen durch institutionelle Praktiken und im öffentlichen Gespräch Werte und Vorstellungen wie Sicherheit und Risiko neu aushandelten bzw. erst in der Sprache der Moderne formulierten.3 Da es hierbei um die Absicherung der Wohlfahrt bürgerlicher Familien ging, ist dieses Experiment nicht zuletzt als ein geschlechterpolitisches Projekt anzusehen, bei dem vor allem neue Männlichkeitsmuster eingeübt wurden. Auch in diesem Sinne wirft die Ausdehnung des Versicherungsprinzips auf die Familienversorgung Paradoxien auf, die für die Moderne konstitutiv sind. Dass familienpolitische Impulse hinter der Modernisierung in der Lebensversicherungspraxis standen, ist kein neuer Befund. Neben der Einsicht, dass die Versicherungsmathematik die Technik des Glücksspiels im Dienst der Sicherheit 1

Johann N. Tetens, Einleitung zur Berechnung der Leibrenten und Anwartschaften die vom Leben und Tode einer oder mehrerer Personen abhangen, Bd. 1, Leipzig 1785, S. v. 2 Lorraine Daston, Classical Probability in the Enlightenment, Princeton 1988, S. 166. 3 Vgl. eine ähnliche Perspektive für die Entwicklung in England bei Geoffrey Clark, Betting on Lives. The Culture of Life Insurance in England, 1695–1775, Manchester 1999.

Geschlecht und Sicherheit 431

verwendet, gilt als paradox auch die Tatsache, dass man erst in den 1760er Jahren begann, die versicherungsmathematischen Grundsätze anzuwenden, die bereits seit mehr als 20 Jahren vorhanden waren. Hierbei ging man in der klassischen wissenschaftlichen Literatur zur Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung eher von einem Widerspruch zwischen Glücksspiel und Sicherheit aus: Erst das Aufkommen eines bürgerlichen Familienmodells und ein Streben nach häuslicher Sicherheit im Mittelstand hätten den Ansporn zur Verwendung von mathematischer Kalkulation bei Lebensversicherungen gegeben, die bis dahin grundsätzlich im Geist des Glücksspiels getrieben worden seien. Für England, das heute wie damals das Muster für Modernität in Finanzpraktiken bot, wird das Verbot im Gambling Act 1774, mit Lebensversicherungen zu handeln, bei denen der Versicherer kein direktes Interesse am Überleben des Versicherten hatte, als Schlüsselereignis und Beleg für die Wahrnehmung eines Widerspruchs unter Zeitgenossen zitiert.4 Demgegenüber möchte ich hier vielmehr nahelegen, dass auf der Ebene der Mentalitäten dem Projekt eines praktischen „Taming of Chance“ nicht ein Widerspruch, sondern eine Dialektik zwischen Sicherheitsbedürfnis und Risikobereitschaft unterlag. Soweit dieses Projekt auf die materielle Absicherung der Familie zielte, ging die Anerkennung der Notwendigkeit einer technischen Neuerung mit einem Mentalitätswandel einher, bei dem aber nicht ein neues Bedürfnis nach Sicherheit ausschlaggebend war, sondern ein neues Bewusstsein ihrer Machbarkeit. Neu war allerdings auch die Familie, die es abzusichern galt; aber auch hier war es nicht der vordergründige Endzweck der Versorgung der Witwe und Waisen nach dem Tod des Ernährers, der Innovation vorantrieb, sondern die Möglichkeit, die in der Versicherungsform steckte, in und durch die Ehe neue Räume der Selbständigkeit und Selbstverwirklichung zu schaffen. Hier waren also Sicherheits- und Freiheitsvorstellungen eng miteinander verknüpft,5 – ein erstes Paradox. Dabei (zweites Paradox) ging man angesichts des innovativen Charakters der Einrichtungen, die neue Formen von Sicherheit versprachen, das Risiko ein, dass das Experiment fehlschlagen würde. Bei den Hauptakteuren – die ja Männer waren, die Rolle der Frauen kann hier höchstens angedeutet werden – haben wir es hier mit der Aus- bzw. Einübung neuer Formen bürgerlicher Männlichkeit zu tun. Im Laufe des Jahrhunderts kommt die Vision einer selbsttätigen Bewältigung der Zukunft immer emphatischer zum Ausdruck, und dies steht in direkter Verbindung mit einer sich entwickelnden Vision des Selbst, die weltliche Kompetenz und Tätigkeit und 4 Lorraine

Daston, The Domestication of Risk. Mathematical Probability and Insurance 1650–1830, in: Lorenz Krüger u. a. (Hrsg.), The Probabilistic Revolution. Teil 1: Ideas in History, Cambridge/MA 1987, S. 237–260. 5 Vgl. den Beitrag von Quentin Skinner in diesem Band.

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geistige und materielle Selbständigkeit betont. Aber (letztes Paradox) als letztlich kollektive Bewältigung eines geteilten Risikos verlangte die Versicherung neue Formen von Vertrauen, die im Dialog mit dem Selbständigkeitsanspruch ausgehandelt werden mussten. Zur Geschichte: Das erste deutsche Lebensversicherungsinstitut, das selbstbewusst mit modernen versicherungsmathematischen Methoden arbeitete, wurde 1778 in Hamburg gegründet. Dies war die Hamburgische Allgemeine Versorgungs-Anstalt (HAVA), die von Mitgliedern der Hamburgischen Patriotischen Gesellschaft gegründet und verwaltet wurde.6 Die HAVA entstand in der letzten Phase in einer längeren Entwicklung von Witwenkassen. Witwenkassen versprachen lebenslängliche Renten für die Witwen von Männern, die sich verpflichteten, zu Lebzeiten eine Kapitaleinlage zu bringen und regelmäßige Beiträge zur Kasse zu zahlen. Sie wurden zumeist in eigener Initiative von Männern des Bürgertums gegründet. Die Einrichtung ging auf Bestrebungen des protestantischen Klerus seit dem 17. Jahrhundert zurück, Pfarrwitwen zu versorgen – ein frühes Beispiel für den Wunsch akademisch gebildeter Männer, nicht mehr in ihrer Partnerwahl und somit in ihren Karrieremöglichkeiten dadurch eingeschränkt zu werden, dass sie wie Handwerksgesellen die Witwen ihrer Vorgänger heiraten mussten.7 Im 18. Jahrhundert zählten Männer aus dem breiteren freiberuflichen und Dienstleistungsbürgertum zu den Mitgliedern und Gründern neuer Witwenkassen. Dies geschah in zwei Wellen, zunächst um 1700, und dann in einem intensiveren Schub ab 1750, beides mit einem regionalen Schwerpunkt in Nordwestdeutschland. Ab den 1770er Jahren breitete sich die Nachfrage nach Witwenrenten auch in den niederen Mittelschichten aus; die Witwenrente erscheint im zeitgenössischen Diskurs als Modeartikel, die Gründung einer Witwenkasse als bevorzugte Form „patriotischen“ Engagements bzw. kollektiver Selbstrepräsentation.8 Im Laufe 6

Zu den Ursprüngen der HAVA, s. William Boehart, „…nicht brothlos und nothleidend zu hinterlassen“. Untersuchungen zur Entwicklung des Versicherungsgedankens in Hamburg, insbesondere zur Entstehung der Hamburgischen Allgemeinen Versicherungsanstalt von 1778 (Schriften der Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und Nützlichen Gewerbe – Patriotische Gesellschaft von 1765 1), Hamburg 1985; Eve ­Rosenhaft, Secrecy and publicity in the emergence of modern business culture. Pension funds in Hamburg 1760–1780, in: Anne Goldgar/Robert I. Frost (Hrsg.), Institutional Culture in Early Modern Society, Leiden 2004, S. 218–243. 7 Bernd Wunder, Pfarrwitwenkassen und Beamtenwitwen-Anstalten vom 16. – 19. Jahrhundert, in: JbHistF 12 (1985), S. 429–498. Zu Männlichkeit und Karriere im Klerus, s. Anthony J. La Vopa, Grace, Talent and Merit. Poor Students, Clerical Careers and Professional Ideology in Eighteenth-Century Germany, Cambridge 1988. 8 Zur Bezeichnung der Witwenrente als Modeartikel: Johann A. Kritter, Sammlung wichtiger Erfahrungen bei den zu Grunde gegangenen Witwencassen, Leipzig 1780, S. 5–7; Johann P. Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, dem Tode, und der Fortpflanzung desselben erwiesen von

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des Jahrhunderts wurden lebhafte Gespräche unter den Ehemännern (genannt Interessenten), die Mitglieder der Kassen waren, den Witwen, die Renten von den Kassen bezogen, und Kassenverwaltern über den Zweck und die Technik von Witwenrenten geführt. Dies geschah in Druckschriften sowie in privater und amtlicher Korrespondenz, und die Auseinandersetzungen wurden besonders intensiv, als bei den Kassen Finanzkrisen eintraten. Anhand der Dokumentation dieser Diskussionen lässt sich unter anderem ein Vergleich zwischen den Mentalitäten zweier Generationen, oft aus denselben Familien, anstellen. Das Versicherungsprinzip kam erst in der zweiten Generation von Witwenkassen – ab Mitte des Jahrhunderts – ausdrücklich zum Tragen: Die größte Witwenkasse in Deutschland, die Calenbergische Witwenverpflegungs-Gesellschaft, wurde 1767 nach dem Vorbild der Calenbergischen Feuer-Assecurations-Societät von 1752 eingerichtet.9 Dass eine Anstalt, die lebenslängliche Renten anbot, allerdings nicht mit den Methoden aufrechtzuhalten war, die wie in der Brandversicherung Einzelschaden ersetzen sollte, leuchtete den Kassenverwaltern erst ein, als die Kasse in eine Krise geriet. Eine solche Krise trat nach einigen Jahren bei jeder öffentlich rekrutierenden Witwenkasse ein, indem die Ausgaben für Witwenrenten das Prämieneinkommen übertrafen. Als die Calenbergische Witwenverpflegungs-Gesellschaft 1780 in eine Krise geriet, in der die Finanzverhältnisse von 3 700 Ehepaaren und mehr als 700 Witwen auf dem Spiel standen, wankten bereits die in den 1750er Jahren gegründeten Bremische Witwenpflegschaft und die Hamburger Witwen- und Waisenkasse der beeidigten Christen-Makler, mit jeweils bis zu 400 Ehepaaren und mehr als 100 Witwen.10 Die Krisen der 1770er und 1780er Jahre lassen sich zu einem großen Teil durch die Art und Weise erklären, mit der die Kassenverwalter mit den Herausforderungen neuer Marktverhältnisse umgingen. Bei einem relativ kleinen Kreis potenzieller Interessenten und einer Vielzahl regionaler Anbieter entstand eine starke Konkurrenz unter den Kassen. Die Kassenverwalter suchten, neue Interessenten anzulocken, indem sie großzügige Renten zu unrealistisch niedrigen Preisen anboten. Aber es spielten auch die Unzulänglichkeiten in den Johann P. Süßmilch—Dritter Teil, hrsg. von Christian J. Baumann, Berlin 1787, S. 465 (Vorwort des Herausgebers). Zu Motiven von Emulation, statusbedingter Konkurrenz und Selbstrepräsentation bei der Gründung von Witwenkassen, speziell für Hamburg, s. Rosenhaft, Secrecy and publicity (wie Anm. 6). 9 Unvorgreifliche Gedanken über den von Hochlöbl. Calenbergischer Landschaft publicirten Plan einer Allg. Witwen Pflegschaft (o. D. wahrscheinlich Dezember 1766), Niedersächsisches Haupstaatsarchiv Hannover (HStAHann), Dep 7B, Bd. 327, S. 179–203. 10 Nachricht von der Situation der Calenbergischen allgemeinen Witwen-VerpflegungsGesellschaft im 24ten und 25ten Termin (August, 1779), HStAHann, Hann 93, Bd. 3706, S. 358; Kritter, Sammlung wichtiger Erfahrungen (wie Anm. 8); Reinhard Oberschelp, Niedersachsen 1760–1820, Bd. 1, Hildesheim 1982, S. 230–245.

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jeweiligen Formeln eine Rolle, nach denen jede Kasse die Beiträge kalkulierte, die die Renten decken sollten, und man war sich dessen auch bewusst. Die Rezeption probabilistischer Rechnungsmethoden wurde durch beide Impulse vorangetrieben: die krisenbedingte Selbstreflexion und der Wunsch, die Kassen versicherungstechnisch zu befähigen, neue Marktsektoren zu erschließen. Bei letzteren handelte es sich nicht nur um Männer aus den niederen Ständen bzw. solche, die in ihrem Beruf besonderen Gefahren ausgesetzt waren. Auch Frauen konnten als unabhängige Investorinnen bzw. Kundinnen in den Blick genommen werden. Dass dies erst 1775, in der Berliner Witwenkasse, möglich wurde und nicht unkontrovers blieb, ist für die Vorstellungen über Familie und Geschlechterrollen aufschlussreich, die hinter dem ursprünglichen Projekt der Witwenkassen steckten.11 Dass die Witwenkassen mehr waren als ein finanztechnisches Unternehmen, geht aus der Bereitschaft von den Männern, die sie gründeten, hervor, trotz Misserfolgserfahrungen das Projekt immer neu aufzunehmen. Die Witwenkassen, die am Anfang des Jahrhunderts gegründet wurden, hatten nämlich einen ähnlichen Lebenszyklus und ein ähnliches Ende gehabt wie etwa die Calenbergische. Die 1700 in Lüneberg gegründete Christliche Gesellschaft zur Versorgung von Witwen und Waisen, zum Beispiel, geriet 1720 in die Krise und musste 1725 aufgelöst werden. Vierzig Jahre später zögerten die Enkel der Gründer dieser Gesellschaft nicht, in neue Witwenkassen einzutreten und sogar eigene zu gründen. Und während die erste Generation von Witwenkassen als Experiment gelten kann, gab es bereits bei der Gründung der Calenbergischen Männer, die sich als „Experten“ ansahen, die in der Öffentlichkeit vor einem Zusammenbruch der neuen Einrichtungen warnten, der mit mathematischer Sicherheit eintreten müsse.12 Unter diesen Umständen einer Witwenkasse beizutreten, kann man sehr gut Risikobereitschaft nennen. Hinzu kommt, dass mancher Ehemann eine Witwenrente kaufte, anstatt in herkömmlicher Weise für ihre Witwen vorzusorgen.13 Die Befürworter der Witwenkassen gaben als Grund für deren Einrichtung die 11

Ausführlicher hierzu: Eve Rosenhaft, Did women invent life insurance? Widows and the demand for financial services in eighteenth-century Germany, in: David R. Green/­Alastair Owens (Hrsg.), Family Welfare. Gender, Property and Inheritance since the Seventeenth Century (Contributions to Family Studies 18), London/Westport/Conn. 2004, S. 163–194. 12 Johann A. Kritter, Sammlung von dreyen Aufsätzen über die Calenbergischen, Preussichen und Dänischen Wittwenversorgungsanstalten, Hamburg 1777; Gedancken über die Calen­ bergische Witwen-Verpflegungs-Gesellschaft, in: Göttingische Gelehrte Beyträge 1768, 37. Stück (17. Dezember 1768), S. 464f.; [A.C.] v[on] W[üllen], Über die Gedanken, so das Calenbergische Institutum einer allgemeinen Wittwenverpflegungsgesellschaft betreffen, in: Hannoverisches Magazin 1769, 22. Stück (17. Dezember 1769), S. 337–351. 13 S. z. B den Brief von Maria Elisabeth Petersen geb. Eyllern und anderen Witwen aus Rostock und Güstrow an die Verwalter der Calenbergischen, 22. Februar 1791, H ­ StA­Hann, Dep 7B, Bd. 362II, S. 211f.

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Wahrscheinlichkeit an, dass bürgerliche Witwe und Waisen der Verarmung ausgesetzt seien, wenn nicht durch neue Maßnahmen für ihren Unterhalt vorgesorgt würde.14 Neuere Forschungen zu der Situation von Witwen in der frühen Neuzeit haben herausgearbeitet, dass das zeitgenössische Bild der „armen Witwe“ als Ideologem anzusehen ist.15 Dabei gingen (wie sich herausstellte) Männer, die ihre Frauen in eine Witwenkasse einkauften statt zu sparen oder eine Mitgift zu verlangen und gut damit hauszuhalten, das Risiko der tatsächlichen Verarmung ein – und zwar mehr oder weniger bewusst. Diese Risikobereitschaft unterstreicht den Charakter der Witwenrente als Teil eines breiteren Kulturprojekts: 1777 schrieben die Verwalter der Calenbergischen, die Kasse sei „zur Sicherheit der Ehemänner, dass ihren Wittwen ein anständiger Unterhalt mit völliger Zuverlässigkeit gereicht werde“, angelegt worden. „Sicherheit“ bezieht sich hier auf den Gemütszustand des Ehemanns, „anständig“ auf die Erhaltung einer standesgemäßen Lebensweise, denn „es ist nicht nur dem publico, sondern auch einem Ehemann außer der ehelichen Liebe allerdings daran gelegen, seine nachbleibende Witwe, so viel an ihm ist, dergestalt zu besorgen, daß sie mit ihren etwa fürhandenen unerzogenen Kindern nicht darben dürfe, sondern durch eine anständige Führung ihres Witwen-Standes ihm auch nach dem Tode Ehre mache.“16 „Zuverlässigkeit“ erinnert an die Tatsache, dass bürgerliche Männer auf verwandtschaftliche Netzwerke, Reputation, Anwartschaften, den Gnaden ihrer Vorgesetzten und Gönner und kurzfristige Strategien angewiesen waren.17 So deutet „Sicherheit“ bei diesen Männern auf eine Kombination von materiellen und mentalen Zuständen. In den Gesprächen unter Männern der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist „Sicherheit“ in einem Begriffsfeld angesiedelt, das Vorstellungen vom Gewissen und Ungewissen, von Regelmäßigkeit und Dauer, Berechenbarkeit und Willkür umfasst, die im Kontext dieser schichtenspezifischen Lebensbedingungen zu verstehen sind. Die Witwenkassen kamen bei dem Bürgertum einem Verlangen nach neuen Formen der Kreditschöpfung, aber auch nach festen, geregelten und nicht zuletzt unter eigener Kontrolle stehenden Einkommensverhältnissen nach. 14

Carl D. Küster, Der Wittwen- und Waisenversorger, oder Grundsätze, nach welchen dauer­ hafte Wittwen- und Waisensocietäten gestiftet werden können. Zum nutzen unbelehrter Leser, welche Aufseher oder Glieder dieser wohlthätigen Anstalten sind, Leipzig 1772, S. 3f. 15 S. u. a. Gesa Ingendahl, Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie, Frankfurt a. M. 2006; sowie den Beitrag der Autorin in diesem Band. 16 Verwalter der Calenbergischen an königliche Regierung, 10. April 1777, HStAHann, Dep. 7B, Bd. 366, S. 18. 17 Stefan Brakensiek, Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750–1830) (Bürgertum 12), Göttingen 1999.

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Manche Kassen funktionierten als Kreditanstalten, ja stellten sogar Anleihen auf die Kapitaleinlage aus.18 Und eine regelmäßige Rente gegen ein kleines (unter Umständen überhaupt kein) Kapital zu erhalten, war nicht nur im finanziellen Sinne ein Wunschtraum. Denn die Möglichkeit, eine Versicherung auf das Leben des Ehemanns auf Raten zu kaufen, entlastete die Partnerwahl von finanziellen Zwängen und versprach somit, Männer wie Frauen aus der Abhängigkeit von verwandtschaftlichen oder beruflichen Machtstrukturen zu befreien.19 Um es pointiert auszudrücken: Hinter dem Witwenkassen- (d. h. dem Lebensversicherungs-) projekt steckt das Wunschbild einer Liebesehe, die mehr als lebenslänglich war, da auch nach dem Tod des Ehemanns sein ethisches Interesse und die Abhängigkeit der Ehefrau in der Witwenrente weiterlebten. Verstehen wir das Männlichkeitsbild, das hier im Angebot steht, im Sinne des Strebens nach materieller Selbständigkeit und individueller Selbstentfaltung – wenn auch und gerade in und durch die Ehe – so besteht für die Teilnahme an Versicherungsprojekten ein weiteres Paradox. Denn eine Versicherungsanstalt verschafft Sicherheit durch die Verteilung des Risikos über ein Kollektiv von Einzelmenschen und verlangt neue, entpersonalisierte Formen des Vertrauens. Die Krisen der Witwenkassen erwiesen sich als Vertrauenskrisen, sowohl in den 1720er als in den 1770er und 1780er Jahren. Nicht zuletzt deshalb, weil die Interessenten im Selbstverständnis Mitglieder einer Gesellschaft auf Gegenseitigkeit, d. h. eines Wahlkollektivs, waren, ging es in ihren Gesprächen ausdrücklich um das Verhältnis zwischen Selbstvertrauen und Vertrauen zu anderen. Hier lassen sich allerdings Unterschiede zwischen den Haltungen in den beiden Generationen bemerken. 1720 war das Vertrauen, von dem man redete, die fromme Zuversicht, die von Gott befohlen und an keinem menschlichen Maßstab der Glaubwürdigkeit zu messen war.20 Bei der Einrichtung der Lüneburger Christlichen Gesellschaft 1700 hatten deren Gründer nicht an die Möglichkeit eines technisch-strukturell bedingten Versagens gedacht, sondern im schlimmsten Fall an die Pestgefahr als Risikofaktor für das Institut. Dabei waren sie bereit, sich darauf zu verlassen, dass Gott die Gesellschaft mit Erfolg segnen würde angesichts der frommen Absicht, auf der sie gebaut war. Als der Zusammenbruch eintrat, konnte man folglich keine Erklärung dafür in der Einrichtung 18

Dies war in der Lüneburger Christlichen Gesellschaft der Fall, Ordnung der Christlichen Gesellschaft zu Versorgung der Witwen und Waysen, Lüneburg 1700. 19 Dieses Themenkomplex spricht Justus Möser in einem satirischen Beitrag von 1772 an: Schreiben einer betagten Jungfer an den Stifter der Witwenkasse zu **, in: ders., Patriotische Phantasien (Justus Mösers Sämtliche Werke 2), Berlin 1842, S. 184–186. 2 0 Vgl. Johann H. Zedler, Großes Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle/ Leipzig 1728–1735,Bd. 21, Sp. 501, und Bd. 48, Sp. 19–33; Ute Frevert, Vertrauen. Eine historische Spurensuche, in: dies. (Hrsg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 14f.

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der Kasse sehen. Noch weniger traute man sich, Vorschläge zur Besserung zu machen. So antwortete ein 52-jähriger Pfarrer aus Braunschweig, Interessent in der Gesellschaft, auf die Frage, ob die Kasse aufzulösen sei: Gewiss die Witwen nebst Ihren vaterlosen Waysen werden denjenigen schlechten Dank wissen, die Schuld daran sind, daß dieses Christlöbl. Werk hat müssen aufgehoben werden. Ich dank meinen Gott daß ich desfalls keine Verantwortung habe, wiedrigenfals ich immer besorgen müsste, daß die Wittwen-Tränen und Seufzer, mir und den Meinigen bey Got nichts Guhtes effectuiren würden. Wenn die Herren Lüneburger meiner geringen Meynung nach ihren bisherigen Credit mainteniren wollen, so wäre kein besserer Moyen, als das sie sofort eine neue Wittwen-­ Societaet aufrichteten, allein es müste solche auf einem ganz andern Fuß gesetzt und alles dasjenige wodurch solche üble Arten, und Unordnung entstanden, gantzlich aus dem Wege geräumet werden. Doch mein geringes Votum möchte wol wenig dahin contribuiren, drum werde ich wohl am sichersten thun, wenn ich mich den meisten Votis Conform bezeige, wie es mir dann gleichviel seyn soll, es werde die WC cotinuiret oder gantzlich aufgehoben, wie wohl wenn ich die Wahl haben soll, ich vor allen Dingen die Continuation und Fortsetzung erwehlen dürfte.21

Wer woran schuld war, wie ein „ganz anderer Fuß“ auszusehen hatte, welche „üblen Arten“ zu vermeiden wären, bleibt hier obskur. In der Krise der 1770er und 1780er Jahre ging es im Gegenteil ausdrücklich darum, ob man zu viel Vertrauen in die Institution gesetzt hätte, oder ob man sich nicht konsequenter auf die eigene Urteilskraft bzw. die eigene Kompetenz hätte verlassen sollen. Von Gott war keine Rede, und die Interessenten und Kassenverwalter waren weniger um die Tränen der Witwen besorgt als darum, dass ihr „Geschrei“ die öffentliche Meinung gegen die erwünschte Lösung der Krise stimmen würde.22 In diesem Kontext wird „Sicherheit und Gewährleistung“ im Sinne von Versprechungen von Seiten der Kassenverwalter gebraucht, die „Vertrauen“ statt „Einsicht“ von Seiten der Interessenten erheischen.23 In einem Brief an die Verwaltung der Calenbergischen warfen sich 1781 eine Gruppe Hamburger Interessenten angesichts ihrer Enttäuschung zu viel Vertrauen vor: Der Plan lag uns allen vor Augen; man konnte prüfen und rechnen; der Beitritt war der freiwilligste Actus von der Welt. Aber auch disseits sah man dahin nicht durch, wohin wir jetzo zu sehen, durch die [erhöhten] Beiträge erwekt werden und wohin auch die Natur des Instituts schon längst hätte leiten können und leiten sollen. […] Der Beitrag war Anfangs 21

H. Petri, Braunschweig, 19. Juni1720, Stadtarchiv Lüneburg, Rep 102, I, 13, ohne Seitennummer. 2 2 Geheimrat Meyer an Johann Georg Büsch, 21. März 1781, HStAHann, Dep 7B, Bd. 370, ohne Seitennummer; Protokoll einer Sitzung der Kassenverwalter der Calenbergischen, 22. November 1781, ebd., Bd. 369, S. 2–7. 2 3 Nachricht von dem, was zwischen der Administration des Kalenbergischen Witwen-Instituts und einigen Genossen desselben verhandelt worden, Altona 1782, S. viii.

438 Eve Rosenhaft so mässig […] Dazu das Beispiel vieler angesehener Männer, bei denen man den Geist der Prüfung voraussezte. Dazu das Ansehen der Kalenbergischen Landesstände, zu deren Zuverlässigkeit man so viel und ein so gerechtes Zutrauen hegte. […] Gesagt hat man es uns, das ist nicht zu läugnen: aber oft so, dass der Ton und Zudringlichkeit, die wir an Meinungen anderer nicht lieben, uns die Absicht verdächtig machte. Und wo das der Fall nicht war, da trat Hofnung der Untersuchung vor; wir konnten entweder nicht ohne viel Mühe, oder wir mochten unsrer Beruhigung wegen nicht rechnen und prüfen; kurz es ging uns, wie es dem Menschen nur zu oft geht, das Herz ging mit dem Kopfe davon.24

Hier werden sowohl die weltliche Kompetenz als auch die Verantwortung jedes einzelnen Interessenten vorausgesetzt. Gleichzeitig bemerkbar ist aber eine wachsende Bereitschaft, die besondere Kompetenz wissenschaftlicher Experten – also von anderen Männern – anzuerkennen. In demselben Brief folgt der Selbstbezichtigung eine technisch recht selbstbewusste Analyse: Es liegt aber in der Einrichtung selbst ein Grundfehler, ein Fehler in der eigentlichen Natur unsers Instituts. Geben muß mit Nehmen in richtigem Verhältnisse stehen. Jeder Versorger muß durch Einschuß oder Beiträge während seiner wahrscheinlichen Ehejahre so viel herschiessen, daß es der Casse dermaleinst möglich wird, der Witwe während ihrer wahrscheinlichen Witwenjahre das Quantum an Pension auszahlen zu können, das ihr Versorger für sie bestimmt hat. Wir wollen mit Eulers Worten reden: […] Lebt seine Witwe über ihre wahrscheinlichen Lebensjahre weg, so sichert eine andre Witwe, die früher stirbt, dadurch der ersten die Pension und das alles in sich und aus seiner Natur selbst.

Die Erwähnung des Schweizer Mathematikers Leonhard Euler in Zusammenhang mit dem emphatischen Gebrauch von „wahrscheinlich“ weist darauf hin, dass unter den Autoren des Briefes Männer waren, die etwas vom statistischen Probabilismus verstanden, und die eine rein technische Lösung der Krise (oder Reform der Kasse) für notwendig und möglich hielten. 1720 hatte man sich an Juristen gewandt, um einen rechtlich „sicheren“ Ausgleich unter den betroffenen Interessenten und Witwen zu erreichen.25 In der Krise der Calenbergischen hingegen wurden fast alle namhaften Universitätsmathematiker in den deutschen Landen zu Rat gezogen, darunter Georg Christoph Lichtenberg und Abraham Gotthelf Kästner aus Göttingen, Thomas Bugge und Christian Karl 24

Holstein, Matthiesen, Hensler, Cropp, Dusch, Eberwein, Büsch, Winthen, und Fulda an die Verwalter der Calenbergischen, 24. Mai 1781, HStAHann, Dep 7B, Bd. 335, S. 37–43. Ähnlich argumentierte ein Mitglied anläßlich der Krise der Hamburger Witwenkasse der beeidigten Christen-Makler: [Georg Hinrich] S[chultze], Erörterung einiger Fragen über den Verfall und die Erhaltung der Wittwen- und Waysen-Casse der hiesigen beeidigten Christen-Mäckler, in: Sammlung verschiedener Aufsätze die Hamburgische beeidigte Christen-Mäckler Wittwen- und Waysen-Casse betreffend, Hamburg 1777, S. 89–116, hier S. 95f. 2 5 Justizkanzlei Celle an den König, 15. Juni 1724, HStAHann, Hann 70, Bd. 976, ohne Seiten­ nummer.

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­Lous aus Copenhagen, Andreas Böhm (Giessen), Carl Friedrich ­Hindenburg (Leipzig) und Wenceslaus Johann Gustav Karsten (Halle). Dabei profilierten sich als mathematisch gelehrte Experten vor allen Georg Christian von Oeder, Amtmann in Oldenburg, und Johann Nicolaus Tetens, Professor der Philosophie und Mathematik in Kiel und Projektemacher par excellence.26 Oeder ließ sich als Konsulent bei der Einrichtung der HAVA einstellen und lieferte die unternehmens- und versicherungstechnischen Grundsätze, auf die der Erfolg der Anstalt gebaut wurde. Tetens kam zu der „Witwenkassentheorie“ als Interessent in der Calenbergischen und schrieb auf Grund seiner Erfahrungen das erste deutsche Handbuch zur Berechnung von Leibrenten und Lebensversicherungen, in dem der eingangs zitierte Absatz erscheint. In einem anderen Abschnitt des Handbuchs deutet er an, dass in dieser „zweiten Krise“ der Witwenkassen die Autorität der Mathematik als „technology of trust“27 ausdrücklich zur Diskussion stand: Wer sind die Erfinder von den mancherley Planen von Wittwen-, Waysen- und Todtencassen und dergleichen gewesen, womit das Publikum getäuscht ist? Lauter gute Zahlenrechner, aber keine Algebraisten, die durch Hilfe der allgemeinen Arithmetik die Sache im Allgemeinen hätten berechnen können.28

In der Tat entstand im Laufe der Krise eine Situation, in der selbst diejenigen, die der Möglichkeit einer systematische Reform der Kassen skeptisch gegenüberstanden, sich mit dem Autoritätsanspruch der Mathematiker auseinandersetzen mussten: „Man rede noch so viel von sichern Berechnungen der möglichen Todesfälle, so beruhet doch […] die Sache selbst, ihrer Natur nach, auf Ungewisheit.“29 Auf dem Höhepunkt der Krise der Calenbergischen Witwenkasse 1783 formulierte ein Hannoveraner Beamter ein eigenes Projekt für eine neue Witwenkasse.30 Er schrieb an alle Amtsmänner in den Hannover’schen Landen und fragte sie, ob sie bereit wären, einer solchen Kasse beizutreten. 181 Antworten sind erhalten. Nur fünf antworteten einfach mit einem „Nein“ und dreizehn ohne weiteres mit einem „Ja“. Die Mehrheit zeigte sich nicht ablehnend (trotz allem!), wohl aber kritisch, und ihre Antworten zeugen von einem bereits ziemlich weit fortgeschrittenen Mentalitätswandel hin zum Vertrauen in die technische Expertise, wenn nicht unbedingt in die Techniker. Fünfzehn waren bereit, Vertrauen in andere zu setzen – einer in denjenigen, der den Plan vorgeschlagen hatte, ein anderer in seine Kollegen („wenn die anderen es auch tun“), dreizehn in die politische 2 6 27 28

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Zu Tetens’ Plänen für den Deichbau vgl. den Beitrag von Marie Luisa Allemeyer in diesem Band. Zum Begriff: Theodore M. Porter, Trust in Numbers. The Pursuit of Objectivity in Science and Public Life, Princeton 1995. Tetens, Einleitung (wie Anm. 1), S. xvii S[chultze], Erörterung einiger Fragen (wie Anm. 24), S. 97. Korrespondenz in HStAHann, Hann 93, Bd. 3704, S. 53–102.

440 Eve Rosenhaft

Autorität, indem sie erklärten, sie würden die Approbation des Königs abwarten. Die Mehrheit wollte wissen, worum es genau gehen sollte. Darunter wollten 57 einfach abwarten, bis der vollständige Plan vorliegen würde. 84 legten Bedingungen für ihren Beitritt fest: Hier taucht in zwölf Fällen das Wort „Sicherheit“ oder „sicher“ auf, und ein paar deuten in ihrem Kommentar darauf, was es hier zu sichern (oder zu versichern) galt: „wenn Sicherheit verschaffet wird, daß die Witwen dasjenige erhalten, was die Männer ihnen verschaffen wollen“ oder „völlige Sicherheit sowohl in Ansehung des Fonds, als auch der künftigen Witwen Pensionen“. Einer schrieb, die Kasse müsse „auf sichere und proportionierte Art eingerichtet“ sein. Auch war von „Bestand“, „begründete[r] Dauer“, „Festigkeit“ oder von einem „verhältnismäßigen Beitrag“ die Rede – Begriffen, die in der Debatte um die Reform der Calenbergischen geläufig geworden waren. Dass es bei der Einrichtung einer Witwenkasse auf technisch-wissenschaftliche Expertisen ankam, formulierten sieben etwa mit der Forderung, der Plan solle von Männern untersucht werden, „die in der zu Beurtheilung eines solchen Plans erforderlichen Art der Berechnungen bekanntlich belehret sind“. Und die abwartenden Reaktionen von sieben weiteren zeigten, dass sie meinten, selbst etwas von der Lebensversicherungstechnik zu verstehen. Auch wenn noch auszuhandeln blieb, wer sie am besten macht, hatte sich bei den meisten dieser Männer am Ende des Jahrhunderts die Vorstellung durchgesetzt, dass Sicherheit machbar war.

Cornel Zwierlein

Frühe Formen der Institutionalisierung von ‚Versicherung‘ und die Bedeutung der Versicherungsgeschichte für eine allgemeine Sicherheitsgeschichte In meinem abschließenden Beitrag will ich versuchen, insbesondere eine wichtige Entwicklung in der Versicherungsgeschichte – die man in verschiedenen Epochenschnitten strukturieren kann – genauer zu fokussieren, und zwar den Schritt der Institutionalisierung des Prämienversicherungsprinzips. Lange Zeit wurde die Prämienversicherung nur in Form von bilateralen Verträgen zwischen einzelnen Kaufleuten praktiziert. Im 17. Jahrhundert aber fanden dann die entscheidenden Schübe des Transfers des Prämienversicherungsprinzips hinein in institutionelle Strukturen statt: sowohl in Form privatrechtlicher Handelsgesellschaften als auch in Form obrigkeitlicher/staatlicher Institutionen. Die sichtbarste und lange Zeit bedeutsamste Sparte waren hier die Feuerversicherungen, die neben den maritimen Transportversicherungen für den Landbereich vom Geschäftsaufkommen bis ans Ende des 19. Jahrhunderts auch vom Volumen her den Leitsektor schlechthin bildeten. Auch im Transportversicherungsbereich fanden Institutionalisierungen statt: eine Fülle von entsprechend spezialisierten Handelsgesellschaften entstanden – in England schon früh im 17. Jahrhundert, im restlichen Europa meist erst spät im 18. Jahrhundert. Aber das Besondere an der Institutionalisierung von Feuer-, Lösegeld- und Rentenversicherungen ist, dass zugleich ein Transfer auf ganz andere Lebensbereiche und Wahrnehmungssphären stattfand; das Prämienversicherungsprinzip wurde nicht mehr nur mit Blick auf den Angstraum ‚Meer‘, sondern universalisiert zur Anwendung gebracht. Ich werde dabei zunächst mit einem sehr frühen konkreten Beispiel aus dem Bereich der Feuerversicherung etwas detaillierter einsetzen (I), um dann mit einigen notwendigerweise gröberen Strichen die Epochenschwellen der Institutionalisierungsgeschichte im Bereich der Feuerversicherungen zu beleuchten (II). Schließlich werde ich einige allgemeinere Konsequenzen hinsichtlich der Bedeutung von Versicherungsgeschichte für eine allgemeinere Sicherheitsgeschichte ziehen (III).1

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Forschungsstand und eigener Ansatz sind insoweit abgelegt in Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne (Umwelt und Gesellschaft 3), Göttingen 2011.

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I. Ein territorialer Institutionalisierungsplan von ‚Versicherung‘ 1604/8

In den Straßburger „Archives municipales“ liegt in einer Unterserie, auf die mich dankenswerterweise Gerrit Jasper Schenk aufmerksam gemacht hat,2 ein merkwürdiges und dort schlecht in den Rest der Verwaltungskommunikation kontextualisierbares Aktenkonvolut ganz vom Anfang des 17. Jahrhunderts: Es enthält Kopien und Originalschriftstücke zu einem Vorgang von 1604 bis 1608: vier Akteure, offenbar zwei Wallonen Ludwig Princier und Johann Joungbou(w) en sowie Isaac Mennius und Johann Lademayer versuchten in Straßburg und an vielen anderen deutschen und europäischen Orten ein ‚geheimes‘ Projekt an den Mann zu bringen, das in den Akten als „Inventio orta ex tribulatione et angustia“ und „Verzeichnus, welcher gestalt die Obrigkeitliche geuell vnd Intraden vermehret werden können, durch mittel der Vnderthanen, deren sie vff gewiesse fäll selbs nit zugeniessen“ und schließlich auch als „Feuerschadens-Rettung“ bezeichnet wurde. Vom Kommunikationstyp her handelt es sich um einen Fall früher Projektemacherei wie wir es meist erst aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und dem 18. Jahrhundert kennen mit verschlungenen Wegen und mit hohem Geheimhaltungsanspruch.3 Bei der „Inventio“ handelte es sich, soweit mir bekannt, um den frühesten Fall eines Feuerversicherungsprojektes auf territorialer und städtischer Ebene,4 das bisher noch nicht analysiert wurde und das deshalb so interessant ist, weil hier deutlich wird, wie der Diffusions- und Transferprozess

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Archives municipales de Strasbourg série III 93/3. Das relativ umfangreiche Konvolut ist in verschiedene Faszikel unterteilt, die nicht paginiert oder foliiert sind. Eine genauere Zitierweise ist kaum möglich, ich verzichte daher zumindest in diesem Vortragsdraft auf einen Versuch der genaueren Verweisnahme. Gerrit Jasper Schenk sei ausdrücklich für die Mitteilung dieses Fundes gedankt, ein gemeinsamer etwas weiter ausholender Artikel ist geplant. 3 Vgl. zum Kommunikationstyp der Projektemacherei Maximilian E. Novak (Hrsg.), The age of projects (UCLA Clark Memorial Library Series), Toronto 2008; einige Beiträge in Markus Krajewski (Hrsg.), Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin 2004, betreffen auch die Frühe Neuzeit; ein jüngerer programmatischer Forschungsüberblick Frédéric Graber, Pour une histoire des formes projet. Du faiseur de projet au projet régulier dans les Travaux Publics (18e–19e siècles), in: RHMC 58, 3 (2011), S. 7–33. 4 Als bislang frühestes Beispiel galt das Projekt, das ein vermutlich niederländischer Projektemacher Wilhelm Stiell beim Grafen Anton Günther von Oldenburg 1609 einbrachte, vgl. Wilhelm Schaefer, Urkundliche Beiträge und Forschungen zur Geschichte der Feuer­versicherung in Deutschland, 2 Bde., Hannover 1911, II, S. 115–129. Das Projekt ist in der Versicherungsgeschichte bekannt geworden über Johann Beckmann, Assecuranz, in: ders., Beyträge zur Geschichte der Erfindungen, Bd. 1, Stück 2, Leipzig 1785/86, S. 204–222, nach Johann Justus Winkelmann, Oldenburgische Friedens- und der benachbarten Oerter Kriegshandlungen, Oldenburg 1671, S. 68, vgl. zur Kritik der bisherigen Historiographie Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 254f.

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eines Prinzips der Sicherheitsproduktion stattfindet. Die Projektemacher rückten zunächst nicht mit dem Inhalt ihres Konzepts heraus und in den Akten ist auch nirgends der Originaltext vorhanden, sondern lediglich auszugsweise Kopien und Reflexe in Bedenken und Gutachten, die darauf Bezug nehmen. Sie schickten lateinische Versionen des Projekts nach Aachen, Lüttich, Bremen, ­Erfurt, an die Fürsten Joachim Friedrich Markgraf von Brandenburg; J­ ohann ­Georg Markgraf von Brandenburg, Pfalzgraf Johann von Zweibrücken, Erzherzog ­Maximilian von Österreich, Großherzog Ferdinand von Toskana (bzw. an Belisario ­Vinta, seinen Sekretär), an Friedrich I. Herzog von Württemberg, ­Christian von ­Anhalt-Bernburg, Georg Ludwig Landgraf zu Leuchtenberg, Pfalzgraf Kurfürst ­Friedrich IV. sowie vermittelt über den in der frühen Versicherungs­traktatistik ohnehin wichtigen Hamburger Anwalt Aachener Abkunft Rutger Ruland5, an die norddeutschen Städte Hamburg, Lübeck, Lüneburg, Wismar, Stralsund, Rostock, Braunschweig und Stade: Hier überall hin wurde das Projekt in den Jahren 1604–1608 gesandt, und die Empfänger verpflichteten sich gegenüber den Erfindern zur Geheimhaltung. Das Projekt setzte bei der gegenseitigen Verbindung von Untertanen und Obrigkeit an: Nun ist zwar vnleugbar das eines jeden vnderthanen wolfart vnd vffnehmen vff vleissiger hausshaltung vnd getreüer abwartung seiner arbeit vnd beruffs fürnemblich besteht, Es ist aber dabeneben nicht weniger nöttig alles das jenig abzuwenden vnd zu fürkheren dardurch ein redlicher vnderthan ohne sein verursachen oder Erschulden beuorab durch vrplötzliche fäll, vmbb alles kohmen kan, so ime die zeit seines lebens durch seine grosse mühe, arbeit, sorg vnd vleiß erworben […] zu der Obrigkeit zu grundtlichem nachtheil vnd schaden. […] Vnder solchen fallen seind eines theils also bewandt das sie von Gottes gewalt vnd vngewitter, so wol aus Feuerskraftt vnd feindtlichen verghergenn als ein universal verderben eruolgen, denen dan schwerlich zu remedieren […] dan wan ein vnderthan mit brunst vnd feüwers nott vberzieht vnd angegriffen vnd gleichsam in einer stunden umb all sein zeitlichs für sich vnd die seinen gebracht würd, Darzu jedem zu die Obrigkeitt mit zuempfinden vnd zuentgelten.

Solche Naturunglücke würden innerhalb der drei Vermögens-Stände – Reiche, Mittlere, Arme – zu großer Unbill führen, die Armen würden gänzlich zerstört, die Mittleren zu Armen und die Reichen und Obrigkeiten zu Mittleren gemacht. Anders betrachtet ergäbe sich ein dreifacher Schaden: der Untertan könne der Obrigkeit keine Steuern mehr zahlen, er könne zweitens seine Familie nicht mehr ernähren und er könne drittens seinen Nachbarn und Gläubigern weder Kredit noch Almosen zurückzahlen. „Dem bauern vff dem land vnd dem burger jn der

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Zu Rulands versicherungsjuristischen Arbeiten vgl. Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 31, 58–66, 241, 255.

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statt [wäre] an dem das er vor dergleichen gesichert sein, oder in vffbegebener vall würde restituirt werden können, mercklich vnd zm höchsten gelegen“, die Versicherung sei sowohl aus der Individualperspektive wie auch aus staatswirtschaftlicher Perspektive höchst hilfreich. Die Grundidee ist dann sehr einfach und wird in verschiedenen Versionen in den Projekt-Beschreibungen und den vom Straßburger Rat eingeholten Gutachten und Memorialen zum Projekt im Konvolut ventiliert: Die jeweilige Obrigkeit sollte im ganzen Land in den Ämtern Schätzer herumschicken, die bei jedem Untertanen aufnehmen sollen, welche mobilia und immobilia dieser zu welchem Wert einschreiben will: die Einschreibung überhaupt und die Angabe der Höhe des Werts wäre dem Einzelnen freiwillig überlassen, es gäbe keinen Zwang. Jeder müsse dann „järlich von jedem hundert so er also selbs angeben würdt drey batzen zu handt reichen“. In anderen Projektvarianten werden pro 100 fl. 4 Groschen oder pro 1000 fl. 2 Taler angesetzt. Insgesamt würde so eine „summ zusammen geschlagen“, die als „Capital“ zu verstehen sei. Man würde „alein der Krieg vnndt feindes gewaltt Oder auch da Gott der allmechttig gantze Lanndt vnndt Stätt mit fewer vom Himmel, wie Sodoma vnndt Gommorra verzehret“ vom Versicherungsschutz ausnehmen, „in allen anderen casibus fortuitis, da kein fürsatz noch muttwill sich befindt“, würde derselbe greifen. Die von den Projektemachern involvierten Obrigkeiten wurden damit gelockt, dass durch die ständige jährliche Einzahlung der Beiträge (= Prämien) sich bald ein großer Geldvorrat ansammele, man könne sich vorstellen, „wie viel taussent gülden dasselb in einer Summa anlauffe, vndt wieviel hundert taussent, in zwentzig, dreissig oder mehr Jahren, wan man nur den dritten oder vierttentheil hinderlegt, können zusammengesparet werden“. So könnten „die bestendige Intraden“, die Staatseinkünfte deutlich vermehrt werden. Einer der Projektemacher vergleicht die Versicherung einem Bergwerk, aus dem man Metallschätze heben könne, wenn man nur die richtige fachmännische Anleitung habe, ein anderer suggeriert, dass das Projekt in den Niederlanden bald schon umgesetzt würde, und dass also die Holländer „ohne zweyffell ein klein Neweß America in ihrem selbst eygenen prouincien finden vnd sich zu nutz machen kunden.“ So rudimentär die Ausführungen teilweise sind, so sehr sind sie doch in ein größeres Staats- und Gesellschaftsdenken eingebunden. Die Einrichtung einer Versicherung wird einerseits aus dem alten Verhältnis von Untertanen zu Herren, dem Schutz-und-Schirm-Verhältnis, hergeleitet. Allerdings wird dies neuzeitlich schon kontraktförmig überformt und durchstrukturiert gefasst. Es wirke hier zwischen Obrigkeit und Untertanen ein „mutuus respectus“ und es müsse eine „reciproce obligatio zwischen beiden theilen“ bestehen, „wan solche versicherung zu allerseits nutz vffnohmen vnd frommen soll gerichtet werden“. Der im Schutzund-Schirm-Gedanken meist nur als Defension gegenüber äußeren militärischen Angriffen gemeinte Schutz wird nun auf ganz andere Gebiete übertragen.

Frühe Formen der Institutionalisierung von ‚Versicherung‘ 445 Dan ihr meniglich bekant, daß fast alle gesatz vnnd ordnungen ex iure gentium ihren ursprung haben, vnnd gleichsam aus einem contract, so zwischen der obrigkeit vnnd den vnderthanen getroffen herfliessen, daß benamblich der vnderthonen von den obrigkeiten wider vnbilligheit geschutzt vnnd geschirmet, hergegen die obrigkeiten von den vnderthanen die notturfft zue solcher defension zuegewarten haben sollen vnd zwar weiln man in repub zweyerley zubesorgen, nemlich den eusserlichen gewaldt, vnnd dem die nutzliche vnordnung, darauß dem gemeinen wesen bisweilen, wa nicht grösser, iedoch gleich so starcker nachstende als von dem eusserlichen zubeferen, so seint zwei haubt fundamenta von den alten politischen scribenten, wie auch von den neuwlichen, als Platone, Aristotele, Bodino, Gregorio Tholosano, Waramundo ab Erenberg vnnd andern iedoch von einem mehr als dem anderen angedeutet vnnd verordnet, benamblicher Census et censura, da zwar daß erste in repub. also hoch von nöten, als spiritus uitalis einem ieden menschen zue erhaltung der menschlichen natur vnnd eigenschafft, dan so wenig ein mensch sine spiritu uitali ein formlicher mensch sein, also wenig kan auch eine Respublica einigen wolen lebhafften bestandt haben, ohne den censum gefell einkommen, vnnd was demselbigen anhengig ist.

Den Projektausführungen wird schließlich noch ein Blatt „Asseurance, Oder versicherung der Kauffleüte zu Wasser ist vngefähr vor hundert Jahren erst erfunden vnnd bestehet in einem dubbelen oder zweyfältigen nutzen, da sie recht vnd wol gebraucht wird“, in der die mediterrane Transport-Versicherungspraxis beschrieben wird, was offenbar auch in einer wichtigen Handelsstadt wie Straßburg, jedenfalls aber wohl in den mittel- und südwestdeutschen Territorialstaats-Kanzleien eine notwendige Hintergrundinformation war. In der Tat ist zu bedenken, dass selbst die ersten in London ausgestellten (und übrigens noch auf Italienisch verfassten) Policen erst aus dem Jahr 1547 stammen6 und dass der erste uns überlieferte Seeversicherungsvertrag aus einer deutschen Stadt, Hamburg, erst aus dem Jahr 1588 datiert.7 Obwohl die Seeversicherung in Italien (Genua, Florenz, Venedig) zwar zumindest schon seit Mitte des 14. Jahrhunderts in ihrer dann gängigen Form tagtäglich praktiziert wurde, brauchte die Diffusion der Praxis über Frankreich, Spanien, Niederlande in den Norden lange, nahm ihren Weg ausschließlich über die Hafenstädte und wurde lange Zeit eben als Spezialbrauch der See-Handelsleute betrachtet.8 Dass hier gerade einmal 15 Jahre später schon ein Transfer des Prinzips aus der Kaufmannspraxis in den obrigkeitlich-staatlichen Bereich und vom Risikoraum Meer auf die Zukunftssicherung des Wertes des Baubestands von Städten und Territorien stattfindet, ist bemerkenswert, vor allem, weil uns erstaunlicherweise für den südeuropäischen Raum eine solche Übertragung nicht bekannt ist: Dort, wo 6

Harold E. Raynes, A History of British Insurance, 2. Aufl. London 1964, S. 26f. Arnold G. Kiesselbach, Die wirtschafts- und rechtsgeschichtliche Entwickelung der Seeversicherung in Hamburg, Hamburg 1901, S. 15. 8 Vgl. für den Überblick Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 24–39 mit der einschlägigen Literatur. 7

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die Prämienver­sicherung erfunden wurde, in Italien, fanden Feuer- und andere Versicherungen erst im 19. Jahrhundert Einzug, die Entwicklung und der Transfer des Prinzips blieb den nordeuropäischen Ländern Deutschland und England seit dem 17. Jahrhundert vorbehalten. Das Straßburger Projekt zeigt über die fachsprachlichen Marker aus der Rechtssemantik, der Kaufmannswelt und der Politiktheorie der Zeit – „­casus fortuitus“9, „Asseurance, assecuratio“ – wie aus dem politiktheoretischen Bereich – „Intrade“10, Herrscher/Untertanen-„contract“11, protogrotianisch-naturrechtliche 9 Im römischen Recht wird dieser Begriff neben anderen (vis maior [Dig. 19, 2, 25, 6], casus

maior [Dig. 44, 7, 1, 4], fatale damnum vel vis magna [Dig. 18, 6, 2, 1], vis cui resisti non potest [Dig. 19, 2, 15, 2], improvisus casus [Cod. Just. 4, 35, 13]) für die ‚höhere Gewalt‘ benutzt (Dig. 19, 2, 30, 4; Dig. 16, 3, 1, 35; Cod. Just. 4, 24, 6; 4, 34, 1; 2, 18, 22; Inst. III, 14, 2; 23, 3.). Eine einheitliche Terminologie kannte das römische Recht zu keinem Entwicklungsstadium (Andreas Doll, Von der vis maior zur höheren Gewalt. Geschichte und Dogmatik eines haftungsentlastenden Begriffs, Frankfurt a. M. 1989); Wolfgang Ernst, Wandlungen des ‚vis maior‘-Begriffes in der Entwicklung der römischen Rechtswissenschaft, in: Index. Quaderni camerti di studi romanistici 22 (1994), S. 293–321; Jean-François Gerkens, ‚vis maior‘ and ‚vis cui resisti non potest‘, in: Rena van den Bergh (Hrsg.), Ex iusta causa traditum. Essays in honour of Eric H. Pool (Fundamina: Editio specialis), Unisa 2005, S. 109–120. In den frühen toskanischen Versicherungspolicen des 14. Jahrhunderts taucht der Begriff aus seinem Kontext, dem römischen Leistungsstörungsrecht, gelöst auf; in der juristischen Traktatistik über die Assekuranzen wird dies weitergereicht, vgl. die Anconaer Beispielspolice Benvenuto Straccha, Tractatus duo de assecurationibus ex proxenetis atque proxeneticis […], Amsterdam 1569/1668, 19: innerhalb der Policen ist er nun juristisch ein verabsolutierter Vertragsgegenstand, nicht mehr nur ein Begriff hinsichtlich der SchadensLasttragungsverteilung innerhalb einer bestehenden Lieferpflicht. Der Begriff wird dann im vorliegenden Projekt-Memorial schon genauso verabsolutiert wie später bei Leibniz, vgl. dazu Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 234–239. 10 Intrade dürfte hier auf ital. ‚entrate‘ zurückgehen, denkbar auch eine spanische Wortherkunft, was aber an der Bedeutung nichts ändert: Dies war der Fachbegriff in der italienischen Politik- und Verwaltungssprache für die Einkünfte eines Staates, die man wägend betrachtete: Cornel Zwierlein: Discorso und Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jh. und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 74), Göttingen 2006, S. 442–458. 11 Von den für die contract-Konzeption in Bezug genommenen Autoren kommt eigentlich nur Eberhard von Weihe (pseud. Waramundus ab Erenberg) in Betracht: Bodin und Pierre Grégoire liegen gerade nicht auf der kontraktualistischen Schiene, die antike Politiktheorie kannte diese Konzeption ohnehin nicht (Aristoteles/Platon-Verweis sind insofern Leerstellen). Mit von Weihe ist ein komplexer Autor kryptocalvinistischer couleur in Bezug genommen, der jedenfalls die ganze monarchomachische Herrschaftsvertragsliteratur kannte (Althusius, Mornay, auch die auf die „Vindiciae contra tyrannos“ Bezug nehmenden Akten des Kölner Pazifikationstags 1579 von Viglius van Aytta). In Waremundus de Erenberg: Meditamenta Pro foederibus ex prudentum monumentis discursim congesta, Offenbach 1610, S. 119ff. wird die calvinistische foederaltheologico-politische Lehre vom foedus zwischen Gott und Menschen aufgenommen, im Übrigen wird aber „foedus“ ex-

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Staatsbegründung (ex iure gentium)12, „census/censura“13, dazu noch die metaphorische Übertragung der medizinischen Lehre vom Blutkreislauf und des „spiritus vitalis“ auf die Staats-Einkünfte14 –, dass an diesem sensiblen Punkt um 1600 die analoge Übertragung des Prämienversicherungsprinzips auf die gerade im Aufschwung begriffene Verwissenschaftlichung von Politik/Policey in Deutschland stieß.15 Es ist typisch, dass hier Straßburg um 1600 im Zentrum

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plizit für Verträge zwischen Obrigkeiten und Fürsten, nicht für Verträge zwischen Fürsten und Untertanen eingesetzt wie hier. In Waremundus de Erenberg: Verisimilia theologica, iuridica ac politica: de Regni subsidiis ac oneribus subditorum, Frankfurt 1606 wird die Einsetzung der Obrigkeit und ihre Berechtigung zur Steuernahme nicht explizit aus einem Herrschaftskontrakt hergeleitet, Steuern werden zwar nicht als ‚spiritus vitalis‘, aber auch klassisch körpermetaphorisch als ‚nervus‘ des Staates bezeichnet. Dass hier um 1600 ‚ex iure gentium‘ steht, ist trotz des anderen Wortkörpers gerade ein Hinweis auf Naturrecht: im Ablösungsprozess von ius gentium intra gentes zum ius gentium inter gentes (ausgeführt bei Grotius, De iure belli ac pacis 1624) liegt zu diesem Zeitpunkt noch die zivilistische Dreiteilung ius civile, ius naturale, ius gentium vor, in der das ius naturale aber nur die biologische Deszendenz-Bedingungen meint, während ius gentium das bei allen Völkern (sc. des Römischen Reiches, die nicht römisches Bürgerrecht genießen) geltende Recht meint. Von dieser völkervergleichenden Perspektive her entwickelt sich das neuzeitliche Naturrecht, vgl. zur Verschmelzung mit der anderen, thomistisch-scholastischen Rechtssphären-Unterteilung Merio Scattola, Das Naturrecht vor dem Naturrecht: zur Geschichte des ius naturae im 16. Jahrhundert, Tübingen 1999. Dazu Lucia Bianchin, Dove non arriva la legge. Dottrine della censura nella prima età moderna, Trento 2004; Michel Senellart, ‚Census et censura‘ chez Bodin et Obrecht, in: Il pensiero politico 30, 2 (1997), S. 250–268. Als ‚spiritus vitalis‘ wurde in der galenischen und post-galenischen Medizin jene ephemere, leichte und belebende Substanz bezeichnet, in die das Blut im Herz umgewandelt würde; Differenzen zwischen Galen und der post-galenischen Theoriebildung von Michael Servet über Jean Fernel bis zu Gabriel Harvey betrafen die Frage, ob der kleine Teil des Bluts, der in den spiritus umgewandelt würde, durch die Herzscheidewand trete, und ob der ganze oder nur ein geringer Teil des Blutes in Umlauf gelange; diese Differenzierungen sind hier nicht von Belang, da das Konzept nur als Metapher dient. Vgl. Antonio ­Clericuzio, Spiritus vitalis: studio sulle teorie fisiologiche da Fernel a Boyle, in: Nouvelles de la République des lettres 8/II (1988), S. 33–84; Hiro Hirai, Alter Galenus. Jean Fernel et son interprétation platonico-chrétienne de Galien, in: Early Science and Medicine 10 (2005), S. 1–35. In späteren Jahrhunderten wäre nicht mehr der ‚spiritus vitalis‘ als Markierungswort verwandt worden, sondern die Metapher der ‚Zirkulation‘ wäre aus dem Blutkreislauf-Zusammenhang auf den Fluss von Werten und Strömen übertragen worden, vgl. Marcus Sandl/Harald Müller (Hrsg.), Gedächtnis und Zirkulation: der Diskurs des Kreislaufs im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 2002. Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat Die „Politica“ des ­Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636), Wiesbaden 1970; Horst Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft: Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Refor­mation bis zum Vormärz, 2 Bde., Köln u. a. 1991; Michael Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit. Studien zur Geschichte des öffentlichen Rechts, ­Frankfurt a. M. 1990; Wolfgang E. J. Weber, Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der

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dieser Bemühungen steht, denn dies war auch eines der Zentren der frühkameralistischen „Politica“-Lehre und auch -Druck-Tradition. Zu den führenden Köpfen um 1600 gehörte hier Georg Obrecht, der auch mit Eberhard von Weihe in Kontakt war; Obrecht wiederum fungierte auch als ein Mittelsmann zwischen den Projektmachern und dem Rat: er hatte die vom Rat vor Aushändigung des eigentlichen Projekttextes den Projektmachern auszustellende StillschweigeAbmachung („vrkundt belangent das silentium vnd secretum dern politischen Inuention“) dem Rat übergeben. Dass dann wenig später derselbe Obrecht – der ausweislich der Straßburger Akten das Projekt der vier Projektemacher kannte – in einem politikwissenschaftlichen Traktat ein ganz ähnliches, allerdings weniger politiktheoretisch durchwirktes Projekt einer territorialen Brandkasse veröffentlichte, ist selbstverständlich kein Zufall. Dieses Obrecht’sche Projekt galt bisher in der versicherungshistorischen Literatur als das einzig bekannte gedruckte territorialbezogene Versicherungsprojekt des 17. Jahrhunderts in Deutschland.16 Dass dahinter Obrechts Erfahrung mit der etwa zehn Jahre früheren Projektkommunikation in Straßburg stand, war nicht bekannt.17 Versicherung wurde in diesen Kreisen als ein merkantilistisches Mittel gesehen, das wundersam sowohl die Interessen der Untertanen nach ‚Sicherheit‘ befriedigte, als auch die Interessen der Obrigkeit, die Staatseinkünfte zu vermehren. Ganz ähnlich pries 1680 noch Leibniz eine universale, reichsweit einzurichtende Natur­ unglücks-Versicherung dem Kaiser, nachdem er gerade die 1676 in Hamburg nun tatsächlich eingerichtete „General-Feuer-Cassa“ kennengelernt hatte18, die insoweit dann erste erfolgreich eingerichtete staatliche Versicherungsinstitution dieser Größe – und mit der schon erwähnten Sklavenkasse die überhaupt erste Versicherungsinstitution in Europa, denn die erste dauerhafte (Feuer-) Versicherungsgesellschaft wurde ein wenig später, 1681, in London eingerichtet (das „Fire Office“ von Nicholas Barbon), und im Mittelmeerhandel versicherten bis ins 18. Jahrhundert nie private oder staatliche Institutionen (Gesellschaften oder deutschen Politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, Tübingen 1992; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft, 1600–1800, München 1988; Merio Scattola, Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell’età moderna, Mailand 2003; Cornel Zwierlein/Annette Meyer (Hrsg.), Machiavellismus in Deutschland. Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit (Historische Zeitschrift. Beiheft 51), München 2010. 16 Vgl. so etwa erwähnt bei Peter Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft in Deutschland, Karlsruhe 1998. 17 Ordinatio Von einer nothwendigen/vnd hochnutzlichen Fewr-Ordnung, in: Georg Obrecht, Constitutio Von nothwendiger vnd nutzlicher Anstellung eines Aerarij Sancti […], s. l. 1617, S. 158f. 18 Vgl. dazu im Detail Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 229–244.

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obrigkeitliche Einrichtungen), sondern nur Kaufleute oder maximal ad hoc sich zusammenfindende Kaufleute-Kollektive. Diese Verbindung schon um 1600 mit der Gedankenwelt der entstehenden „Politica“- und Policeywissenschaft ist bislang unbekannt in der Forschung. Dass über etliche personelle und Zitier-Beziehungen (Obrecht/Weihe, Ruland/Straßburger Projekt, Ruland/Weihe) auch das Oldenburger Projekt und das Hamburger know-how zur maritimen Versicherung hier einbezogen war, auch diese bisher bekannten zwei Orte der Verdichtung von Versicherungsdenken und –Praxis in Verbindung zum Straßburger Projekt standen, ist ebenfalls nicht bekannt gewesen und verdient noch einer genaueren Analyse. Es zeigt sich hier kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges eine Art Netzwerk des kreativen Umgangs mit dem Versicherungsprinzip, das an der Innovationsschwelle zur Umsetzung der Territorialisierung und Institutionalisierung stand. Dann aber dauerte es gut 70 Jahre, bis eine solche Umsetzung in Hamburg wirklich erfolgte.

II.  Zur Geschichte der Institutionalisierung des V­ ersicherungsprinzips

Die Frühneuzeitforschung zu Versicherungen war in den letzten Jahren vor allem auf die sogenannte ‚probabilistische Revolution‘ fixiert, die zunächst Ian Hacking und dann Lorraine Daston ins Zentrum gerückt hatten. Versicherungen wurden hier im Rahmen der Entwicklung des Wahrscheinlichkeitsdenkens als ein Anwendungsfall erwähnt, der auf diese Weise bei den Mathematikern lange Zeit in enger Verbindung zu Spiel/Wette eingeordnet wurde. Diese Fragerichtung lenkte auch den Hauptfokus auf die Lebensversicherungen, die, zuerst 1762, dann ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts breiter die Ergebnisse der vorher durch Mathematiker und Bevölkerungswissenschaftler von Huygens über John Graunt bis Leibniz u. a. vorangetrieben haben.19 Das ist, teleologisch von heute her betrachtet, sicherlich ein wichtiger Entwicklungsstrang, da Versicherungsgiganten ganze Abteilungen mit spezialisierten Mathematikern unterhalten. Die hier zum Marburger Panel beitragenden Wissenschaftler vertreten eher die Perspektive, dass die fundamentalen Transfer- und Wandlungsprozesse, die dazu führten, dass das Versicherungsprinzip aus den ‚Laboratorien‘ oder ‚Entwicklungsbiotopen‘ der Schifffahrt und den Hafenstädten immer weitere Teile der Gesellschaft erfasst, eigentlich vor und neben der auf enge intellektuelle 19 Lorenz

Krüger/Lorraine J. Daston/Michael Heidelberger (Hrsg.), The Probabilistic Revolution, Bd. 1: Ideas in History, Cambridge/MA 1987, S. 237–260; Lorraine J. ­Daston, Classical Probability in the Enlightenment, Princeton 1988; Ian Hacking, The Emergence of Probability. A Philosophical Study of Early Ideas about Probability, Induction and Statistical Inference, Cambridge 1976; Anders Hald, A History of Probability and Statistics and Their Applications before 1750, New York u. a. 1990.

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Zirkel beschränkten ‚probabilistischen Revolution‘ stattfand. Clark und Rosenhaft haben dabei beide den Blick auf die Lebensversicherung in unterschiedlicher Form erweitert, Ressel und ich haben uns hingegen für die an sich noch weiter vorgängigen Formen der Sklaverei- und der Feuerversicherung interessiert: In der Feuerversicherung spielt außer in London in den Jahren 1684/5 in einem letztlich winzigen Zeitpunkt Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Vergleich zum Glücksspiel bis ans Ende des 19. Jahrhunderts keine Rolle.20 Die ImmobilienFeuerversicherung ist aber wirtschaftlich-gesellschaftlich rasch die verbreitetste und wirkmächtigste. Während selbst Kaufleute im Landesinnern die Seetransportversicherung kaum kannten21 und das Prinzip auch kaum auf Landtransporte übertragen wurde, erfassten die Feuerversicherungen in Deutschland und England in unterschiedlichen Formen privatwirtschaftlich und staatlich doch bald relativ weite Kreise, genauso wie ihre strukturellen Ableger, zu denen die Witwenkassen gehören. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden über 100 Feuer­ assecuranzen/Brandkassen in großen und kleinen Territorien von Norden nach Süden diffundierend gegründet, genauso diffundierte das Agentur-Netz der Londoner privaten Feuerversicherungen im Verlauf des 18. Jahrhunderts von London nach England und gegen Ende des Jahrhunderts auch über England hinaus. Was vor dem Dreißigjährigen Krieg um 1600 ein unausgeführtes Projekt blieb, das immerhin in weite Teile des Reiches und darüber hinaus nach Europa kommuniziert wurde, fand mit Vorläufern in Hamburg ab der Epochenschwelle von 1680/1700 Verbreitung in bislang vom Versicherungsprinzip unberührte Regionen und Gesellschaftsbereiche. Die deutsche Form der Versicherungstheorie, die bislang kaum untersucht wurde22, gehört somit auch eher dem politik- und staatstheoretischen Milieu an, zunächst wie gesehen der Policey-/„Politica“Tradition, dann des Kameralismus. Das schon mehrfach erwähnte Gutachten von 1680, in dem Leibniz sich an den Kaiser wandte, ist das erste seiner Reihe und macht hier den Anfang; etwa 80 Kleinbeiträge, Zeitschriftenaufsätze, Monographien zu Feuerversicherungen lassen sich im 18. Jahrhundert ausmachen. Wenn um 1600 die Einrichtung einer Feuer-Assecuranz als Ausfluss des frühnaturrechtlich gedeuteten Herrschaftsvertrags verortet wurde, so war sie in der zweiten Jahrhunderthälfte des 18. Jahrhunderts Ausfluss des Rousseau’schen Gesellschaftsvertrags:

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Vgl. Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 204–207. Das beweist etwa die oben erwähnte Notwendigkeit, dass in Straßburg 1604/8 noch erklärt werden muss, was eine „Asseurance“ ist. 2 2 Vgl. jetzt Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 278–314 und Anhänge I-III. 2 1

Frühe Formen der Institutionalisierung von ‚Versicherung‘ 451 Wird die Sicherheit einer Nation von irgend einer Seite her bedrohet, so ist die ganze Gesellschaft verbunden, die Gefahr wo möglich zu entfernen, oder wenigstens das unvermeidliche Unglück, das jeden einzelnen betroffen, zu teilen, weil nun keiner mehr für sich allein lebt. Und so liegt unstrittig der Grund der Anstalten zu Versicherung des Eigentums und auf gewisse Art auch des Ertrags, in der Natur des gesellschaftlichen Vertrags – weil sie eine grössere Sicherheit des Lebens durch Sicherstellung des Unterhalts zum Grund haben.23

Der Kameralist, der dies formulierte, Ferdinand Friedrich Pfeiffer, ein Freund und Schulgenosse Schillers an der Karlsschule, zitiert in seinem Traktat ausführlich Rousseaus Definition des Gesellschaftsvertrags in seiner mathematischen Form (im „Émile“). Man würde das vorderhand wohl nicht erwarten bei ­einem Kontext, in dem es um so technische Dinge wie Einschätzung der Häuser, Verwaltung der Brandkasse, Eigenrisiko-Anteil u. ä. geht. Aber Versicherungen waren in der Frühen Neuzeit alles andere als graue Verwaltungsmaterie, sie entzündeten die Begeisterung, ja teilweise das fast utopische Denken der praktischen Aufklärer. Aus der Begründung der Versicherung als Ausfluss des Obrigkeit/UntertanenHerrschaftsvertrags ist hier dann ein echtes frühmodernes Gesellschaftsvertragsargument geworden. 1791 findet sich etwa noch ein Reichsreformprojekt als politischer Traum formuliert, der alle Reichsstädte und auch andere große Städte zu einem reichsweiten Versicherungsnetz zusammenspannen will. – Real blieben die Brandkassen aber meistens kleine territoriale Institutionen. Die praktischen Aufklärer stießen auch oft an Grenzen des Machbaren; Adlige sträubten sich genauso wie manches Dorf gegen die Einbeziehung in die Kassen, man witterte bei den anlass-los zu zahlenden Prämien eine camouflierte Steuer – und so war es aus merkantilistischer Sicht ja auch ursprünglich gedacht. Dieser ‚Präsentismus‘ setzte sich vom 16. bis 18. Jahrhundert meist durch in Deutschland, man bezahlte nur nachträglich im Umlageverfahren für tatsächlich im Quartal oder Jahr innerhalb der Feuersozietät angefallene Schäden.24 Hier waren die Witwenkassen näher am Antizipierungsprinzip von Versicherung, aber es gab auch einige ebenso funktionierende Brandkassen. Die Kassen funktionierten nach dem Muster:

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Schätzung des Werts der Häuser und Einschreibung zu einem zu bestimmenden Wertanteil in das Kataster oder Register der Kasse; in einigen Territorien war die Einschreibung zwangsweise, in anderen, etwa Hannover, war sie freiwillig. In Hamburg konnte anfangs nur maximal 75 % des Werts versichert werden, die Besitzer mussten ein Viertel Eigenrisiko tragen.

Ferdinand Friedrich Pfeiffer, Gedanken über Versicherungs-Anstalten hauptsächlich zum Vorteil der Landwirtschaft entworffen, Stuttgart 1780, 2 – meine Hervorhebung. 2 4 Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 278–305.

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Bei einem Brand erfolgte eine ‚Umlage‘, d. h. der Schaden wurde proportional entsprechend der eingeschriebenen Versicherungswerte auf die Hausbesitzer umgelegt. Bei territorialen Institutionen wie den preußischen StädteFeuersozietäten, die von der Ebene mittlerer Staatsverwaltungen aus auf das Netz der Städte herunterblickten, fand diese Umlage durchaus über mehrere Stufen statt, d. h. zunächst wurde gemäß der Größe der Versicherungssumme eines Amtsbezirks umverteilt, dann innerhalb des Amtsbezirks (Kreis) auf einzelne Städte und innerhalb der Städte auf einzelne Haushalte – ein durchaus verwaltungstechnisch und handwerklich-rechnerisch, wenn auch nicht mathematisch komplexes Verfahren für welches die einzelnen Beamten auf jeder Ebene Umrechnungstabellen zur Hand hatten, die in bestimmten Abständen auf den aktuellen Stand gebracht wurden, so in Preußen zumindest in sogenannten Quinquennien (Fünf-Jahres-Schritten). Wahrscheinlichkeitsrechnung wurde auf dieser Ebene der Verwaltungspraxis dann kaum mehr eingesetzt, lediglich zuweilen trifft man auf dreisatzförmige Berechnungen als Selbst-Steuerungsversuchen durch Berechnung der durchschnittlichen Brandzahl in bestimmten Jahresschnitten. Grundsätzlich waren die Kassen für ein durchschnittliches Brandaufkommen kleiner Brände gedacht, nicht für Stadt-Großbrände. In territorialen Brandkassen wie Preußen oder Württemberg waren Totalbrände kleinerer Städte aber durchaus aufzufangen, auch wenn es die jeweilige Brandkasse meist stark und über Jahre schwächte (so etwa 1782 Göppingen in Württemberg). Wenn zuweilen die Kraft der Kasse überfordert war, steuerte der Landesfürst besondere Hilfsgelder bei; man muss die Kassen also auch keinesfalls überbewerten als einzigen Akteur bei der Geldbeschaffung nach entsprechenden Großkatastrophen, sie steuerten aber zunehmend einen wichtigen Teil bei. All dies wurde allerdings erst mit der Epochenschwelle um 1680/1700 ins Werk gesetzt und benötigte ein Jahrhundert langsamer Penetration bevor das 19. Jahrhundert dann zum Jahrhundert des take-over durch das britische Modell der privaten Versicherungsgesellschaften wurde. Dies kann hier nicht im Detail entwickelt werden.25

Vgl. für die Entwicklung der Abläufe und den Nachweis der weiteren Literatur Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1).

Frühe Formen der Institutionalisierung von ‚Versicherung‘ 453

III.  Versicherungsgeschichte und eine allgemeine Sicherheits­geschichte der Frühen Neuzeit

Wofür können Versicherungen im Rahmen der Frühneuzeitgeschichte stehen, welchen Sinn kann es für die Frühneuzeitgeschichte haben, sie zu untersuchen? Ich habe mit einem Brandversicherungsprojekt aus der Zeit um 1600 begonnen und auf das Netzwerk der Versicherungs-Innovation und –Innovatoren verwiesen. Es gibt dann Anfang des 17. Jahrhunderts beschränkt auf die Hafenund Handelsstädte jenen schmalen, systematisch-strukturell aber bedeutsamen Entwicklungsstrang des Durchdringens obrigkeitlicher Strukturen mit und durch das Versicherungsprinzip im Bereich der Sklavenkassen, die zumindest in Hamburg offenbar als Matrix dann auch für die frühe Gründung der Feuerkasse diente. Im Übrigen verläuft die erwähnte Diffusion der versicherungsförmigen Institutionen dann während des 18. Jahrhunderts, insbesondere ab den 1750ern; die 1680/1700er-Epochenschwelle wird also um 1750 noch einmal verstärkend aufgegriffen, ohne dass allerdings um 1750 strukturell wesentliche Elemente, zumindest in den hier betrachteten Versicherungsbereichen, hinzukommen. Für England scheint mir fast dieselbe Chronologie zu gelten, nur dass es hier nie um eine Verschmelzung des Versicherungsprinzips mit Staatlichkeit geht, die gefundene und sich perfektionierende Institutionsform ist die der Handelsgesellschaft, wobei sogar anfangs in den Versicherungsgesellschafts-Werbe- und Projekttexten eine direkte Bezugnahme auf die kolonialen Handelsgesellschaften (East India Company) als Muster festzustellen ist. Auch hier wirken also die institutionellen Erfahrungen des Fernhandels zur See in die Gesellschaft hinein, die staatliche Lösung wird aber gleich zu Beginn der Entwicklung, 1681, mit erheblichem argumentativen Aufwand und erstaunlicher Offenheit abgewehrt, die Stadt London, die Obrigkeit, wird als unzuverlässiger und risikoreicher Versicherer abgelehnt, weil hier im Streit- und Prozessfall Angeklagter und Richter sich vermengen würden. Ein solches diffamatorisch vorgebrachtes Misstrauen gegenüber der höherstehenden Obrigkeit wäre im deutschen Fall nie vorzufinden, ja man findet im Gegenteil Aussagen in den Quellen darüber, dass allein und nur die Obrigkeit für die Versicherung in Frage käme. Diese kurzen Beobachtungen leiten über zu einigen abschließenden allgemeinen Reflexionen zur Bedeutung von versicherungsförmigen und verwandten Institutionen für eine frühneuzeitliche Sicherheitsgeschichte. Ich benutze dabei bewusst vorsichtig das Wort ‚versicherungsförmig‘, weil wir es de facto natürlich mit ziemlich unterschiedlichen Projekten, Einrichtungen, Realitäten zu tun haben, oft auch mit Hybriden zwischen Kassen/Versicherungen, gilden- und prämienversicherungsförmigen Institutionen. Ich spare daher hier auch bewusst die Frage und Diskussion nach den Ursprüngen der Versicherung aus, ob sie aus gilden- und zunftförmigen Einrichtungen entstanden sind oder aus der medi-

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terranen Seeversicherung: Diese ‚oder‘-Fragestellung ist ohnehin irreführend, richtig ist allerdings meines Erachtens – und das zeigt schon das Straßburger Beispiel – das für die Entwicklung hin zur echt neuzeitlichen Institutionalisierung die älteren Modelle nie hingereicht hätten und dass insbesondere ein Transfer der neuen irritierenden Versicherungspraxis auf die Ebene gelehrter Kommunikation (eigentlich zunächst ein ‚Umweg‘) eine notwendige Vorbedingung war. 1)  Die Institutionalisierung von Versicherung in England und Deutschland komparativ betrachtet eignet sich als eine Sonde zur Auslotung der unterschiedlichen Muster von Staatlichkeit; es ist erstaunlich mit welchem Purismus und mit welcher Logik die verschiedenen Gesellschaftssysteme protoliberalistisch, freiwirtschaftlich einerseits und protokameralistisch, staatswirtschaftlich andererseits auf die Einführung reagieren. Es sind damit verschiedene Formen von Ökonomisierung des Staatlichen bzw. der Gouvernementalität am Werke.26 Sicherheitsproduktions-Institutionen sind also auf ihre Staat(Obrigkeit)-Gesellschafts-Verhältnisse zu hinterfragen. 2)  Für den deutschsprachigen Raum ist interessant zu sehen, wie hier jenseits der älteren Sozialdisziplinierungs- und auch der Zivilisationsprozesslogik27 ein staatliches Instrument in Anschlag kommt, das die Untertanen – innerhalb der Städte in einer ein wenig geringeren Vertikalität – zur Eigenvorsorge stimulierte, anstatt sie auf Fremdvorsorge und obrigkeitliche Fürsorge zu verweisen. Natürlich war eine Intention der Obrigkeit, sich so auch zu entlasten, denn es war – abgesehen von Kollekten – letztlich die Obrigkeit, die in Katastrophenfällen die Hauptlast der Schadenszahlung zu bewältigen hatte. Nicht zu Unrecht wurde etwa von der Seite württembergischer oder preußischer Landstände, aber auch mancher städtischer Korporationen gegen die Einführung von Brandkassen Wi 2 6 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölke 27

rung, hrsg. v. Michel Senellart, Frankfurt a. M. 2004. Vgl. nur Winfried Schulze, Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit”, in: ZHF 14 (1987), S. 265–302; Kersten Krüger, Policey zwischen Sozialregulierung und Sozialdisziplinierung, Reaktion und Aktion – Begriffsbildung durch Gerhard Oestreich, in: Karl Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 107–119; Günther Lottes, Disziplin und Emanzipation. Das Sozialdisziplinierungskonzept und die Interpretation der frühneuzeitlichen Geschichte, in: WestF 42 (1992), S. 63–74; Heinrich R. Schmidt, Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 639–682; dazu auch Peter N. Miller, Nazis and Neo-stoics. Otto Brunner and Gerhard Oestreich before and after the Second World War, in: P & P 176 (2002), S. 144–186; sodann C ­ laudia Opitz (Hrsg.), Höfische Gesellschaft und Zivilisationsprozess. Norbert Elias’ Werk in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Köln 2005; Gerd Schwerhoff, Zivilisationsprozeß und Geschichtswissenschaft. Norbert Elias’ Forschungsparadigma in historischer Sicht, in: Historische Zeitschrift 266 (1998), S. 561–606 und spezieller Rüdiger Schnell (Hrsg.), Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne, Köln 2004.

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derstand geleistet, weil sie als eine neue camouflierte Steuerform wahrgenommen wurden.28 Andererseits verwirklichte sich aber aufgrund dieses Widerstands auch nicht die Vision der Staatsreformer und Utopisten, dass die neuen Institutionen über die Jahre hinweg große Reichtümer ansammelten, zumindest nicht bei den Feuerversicherungen; in Umlageverfahren-Institutionen war nie viel in der Kasse, da nur situationsbezogen der jeweils nötige Betrag eingetrieben wurde.29 Auch in denjenigen, in die regulär antizipierend eine gewisse Prämie eingezahlt wurde (Hamburg), entstand zwar ein gewisses Kapital, das die Kämmerei dann zum Teil auch für interne Kreditvergabe an die eigene öffentliche Hand nutzte, aber da die Prämien adäquat an die durchschnittlich nötigen Beiträge angepasst waren, entstanden hier auch nicht riesige Summen, wie man um 1600 dachte, oder wie noch Leibniz und Justi im 17. und 18. Jahrhundert träumten, die eine Art Investitionsfonds für Jungunternehmer und Projektemacher oder eine Kreditbank mit den Einnahmen finanzieren wollten.30 Was man aber vielleicht nicht unterschätzen sollte als Auswirkung dieser Einrichtungen ist die Stimulationswirkung: Die in die Kasse Einzahlenden zahlten entweder im Voraus eine hinsichtlich des Schadensgeschehens abstrakte, für sie aber bestimmte an den eigenen Hauswert gebundene Summe, oder im Umlageverfahren eine doppelt konkrete sowohl an den eigenen Hauswert und an den gerade eingetretenen Schaden gebundene Summe. Daraus ergab sich für den Einzelnen die ebenso konkrete Anspruchsposition, im Schadensfall Ersatz für sein Haus zu erhalten, und zwar war dies im deutschen Fall eben interessanterweise ein Anspruch gegenüber der Obrigkeit. Die dieses Verhältnis begleitende theoretische Herleitung aus entweder einem politiktheoretisch durchstrukturierten Schutz-und-Schirm-Verhältnis oder dann 2 8

Vgl. als Beispiele Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam Rep. 2, D807, 815, D842; Rep. 3 Nr. 11435; Rep. 23B Nr. 1264, 1265; dazu auch der Widerstand der Gewerke der Stadt Berlin vgl. Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), 292f.; für Württemberg vgl. die genaue Darstellung der Diskussion 1754–1773 zwischen Fürst und Ständen bei Paul Sauer, 200 Jahre Württembergische Gebäudebrandversicherungsanstalt 1773–1973, Stuttgart 1973. 2 9 Es kam freilich zuweilen doch zur Akkumulation einer gewissen Summe (Einschreibgebühren, Zahlungsrestanten usw.). 3 0 „[…] also were hier ein Capital zu haben so nur allein zu des Landes aufnehmen anzuwenden, und vermittelst deßen alsdann neue Manufacturen und Commercien eingeführt, und was von so vielen bishehr theorisirt worden, mit unaussprechlichen nuzen des Fürsten und der unterthanen practiciret werden köndte.“ So Leibniz 1680, zit. bei Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 303; Johann Heinrich Gottlob von Justi, Vorschlag von Verbindung der Feuerassecuranzsocietäten mit einer Leihebanco auf die Häuser, in: ders., Neue Wahrheiten zum Vortheil der Naturkunde und des gesellschaftlichen Lebens der Menschen, Stück I, Leipzig 1754, S. 561–582; ganz ähnlich ders., Vorschlag, wie durch die Feuer-Assecuranz-Anstalten eine Leihebank errichtet werden könne, um Nahrung und Gewerbe zu befördern, in: Göttingische Policey=Amts Nachrichten auf das Jahr 1755. oder vermischte Abhandlungen zum Vortheil des Nahrungsstandes […], Nr. XLVIII. Montags den 15ten December 1755, S. 189–191.

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aus dem Gesellschaftsvertrag im 18. Jahrhundert zeigt schlaglichtartig, dass durch diese Anspruchssituation gegenüber der Obrigkeit zwar in einem kleinen Bereich, aber doch eine interessante neue Konstellation eintrat, die wenig andere Parallelen hat, scheint mir: Die ältere frühneuzeitliche Konflikt- und Revoltenforschung hat vielfach gezeigt, wie Untertanen in Ausnahmesituationen entweder gegen als tyrannisch empfundene Obrigkeiten aufbegehrten oder sogar in juridifizierter Form gegen sie klagten. Aber dass die Obrigkeit selbst eine Institution einrichtet, in der sie leistungspflichtig gegenüber individualisierten Ansprüchen der ‚Untertanen‘ ist, macht eigentlich per se die Obrigkeit zu einer Dienstleistungseinrichtung und den Untertan latent zum Bürger; zumindest steht dies am Horizont. Man könnte dies als einen letztlich bedeutsameren kontraintentionalen Nebeneffekt der ursprünglichen Primärintention der Obrigkeit der Selbstentlastung bezeichnen. Sicherheitsproduktionsmittel sind also auf ihr Verhältnis zu Individuum/Individualität, Sicherheitsgewährungspflicht, Sicherheitsanspruch, auf das Verhältnis Individuum/Staat und Individuum/Gesellschaft hin, das sich in dem Sicherheitsproduktionsinstrument manifestiert, historisch zu untersuchen. 3) Ein weiterer bedeutsamer Effekt von Versicherungen ist die Abkopplung der Welt der Werte von der Welt der Natur. Schon die maritime Transportversicherung hatte diesen Effekt, und zwar insoweit sie letztlich ein ‚Buchungstrick‘ im Rahmen des mediterranen Systems doppelter Buchführung war: Schiffe mochten untergehen, aber indem man die Versicherungsprämie als zusätzliche Kosten einkalkulierte und nötigenfalls die Versicherungssumme an die Stelle der Warenwerte in die Haben-Spalte eintrug, war der in der Zentrale sitzende Kaufmann von dieser Unbill weitestgehend befreit.31 In der kameralistischen Selbstreflexion über die Funktion von Feuer- und Hagelassekuranzen wird dieser Gedanke dann mehrfach in der Weise ausgedrückt, dass man im Grunde ein ‚zweites Haus‘ in der Kasse habe: diese Metaphorik drückt gut aus, dass mit der zunehmenden ‚Codierung‘ der institutionellen Welt in Zahlen und Werten die Versicherungen als Abkopplungs-Medium dienten, damit eben Unglücksfälle nicht mehr die Glückseligkeit von Gesellschaft und Staat störten und damit nicht mehr nur die Haben-Seite eines Kaufmanns, sondern die Haben-Seite und der Wert eines ganzen Staates konstant blieben; ja man sah schließlich durch die Abkopplung dieser Wertewelt von der Unbill der Naturunglücke den Grundstein zu Wachstum: Die höhere Sicherheit der Grundstücke durch Versicherungen, die überall in Europa den Grundstock des Besitztums bildeten, insbesondere bei aufwendigeren Bauten in den Städten, würde höhere Kreditsicherheit und damit 31

Vgl. Cornel Zwierlein, Renaissance Anthropologies of Security. Shipwreck, Barbary fear and the Meaning of ‚Insurance‘, in: Andreas Höfele/Stephan Laqué (Hrsg.), Humankinds. The Renaissance and its Anthropologies (Pluralisierung & Autorität 25), Berlin/New York 2011, S. 157–182.

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höhere hypothekarische Belastbarkeit der Grundstücke, damit mehr Investitionskapital und Geldzirkulation und damit Wirtschaftswachstum bewirken. Wirtschaftshistoriker haben bislang diese These der Zeitgenossen noch nicht im Detail überprüft32, sie hat aber eine hohe Plausibilität und würde so eine entscheidende privatwirtschaftliche Lücke in der seit einigen Jahren (interessanterweise gerade in der angloamerikanischen Forschung) zu stark von der Staatsseite her argumentierenden Financial-Revolution-These schließen: Nicht nur funktionierende Ressourcen-Extraktions- und Steuersysteme gewähren Gläubigern des Staates Sicherheit und dieser wird für produktive Staatsverschuldung kreditwürdig, sondern gesamtwirtschaftlich werden alle vermögenden Gesellschaftsmitglieder in ihrem Besitz abgesichert und damit kreditwürdiger. Diese Überlegungen betreffen zuerst den Leitsektor der Feuerversicherungen, sind aber praeter propter auf fast alle anderen Versicherungszweige übertragbar, ob es sich um andere Naturunglücks-Versicherungen (Hagel-, Vieh-…) handelt, oder ob es um Warentransport- oder Lebensversicherungsderivate geht. Sicherheits­produktionsmittel sind also auf ihre privat- und staatswirtschaftlichen ökonomischen Funktionen hin zu untersuchen; dies liegt bei Versicherungen eigentlich auf der Hand, stellt aber im allgemeinen Frühneuzeit-Kanon-Wissen keinen Gegenstand dar. 4)  Versicherungsförmige Institutionen sind auch hinsichtlich der ihnen eingeschriebenen Raum-Zeit-Relationen bedeutsam. Die landläufige Auffassung, dass Assekuranzen schlechthin zukunftsbezogen sind, ist freilich zu einfach.33 Jedenfalls geben sie uns aber für eine allgemeinere Sicherheitsgeschichte unmittelbar einleuchtend die Frage auf den Weg, dass und wie wir den Zeit- und Raumbezug von Sicherheitsproduktionsmitteln zu analysieren haben; das hatte einst schon Franz-Xaver Kaufmann in seiner Sicherheitssoziologie kurz angedeutet, allerdings ist das nie recht ausbuchstabiert worden.34 3 2 Merkwürdigerweise hat Robin Pearson, Insuring the Industrial Revolution. Fire Insurance

in Great Britain, 1700–1850, Aldershot 2004, die These von der Financial Revolution gar nicht mehr im Blick; die von ihm eingangs gestellte Frage, ob der Versicherungssektor auch produktive und nicht nur eine sekundäre, geradezu parasitäre Stellung hinsichtlich der Industriellen Revolution hatte, wird sehr vorsichtig und zögerlich beantwortet; viel näher läge es doch, ihre Funktion in die der Industriellen Revolution vorgelagerte Finan­zielle Revolution (Peter Dickson, North, Brewer u. a.) einzubauen, hierzu Zwierlein, Prometheus (wie Anm. 1), S. 219–223. 3 3 Vgl. hierzu Cornel Zwierlein (Hrsg.), Sicherheit und Epochengrenzen (GG 38,3), Göttingen 2012. 3 4 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Unter­suchung zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, 2. Aufl. Stuttgart 1973, S. 156–169; ders., Erosion der ‚sicheren Normalgesellschaft‘ in der Gegenwart?, in: ­Cornel Zwierlein u. a. (Hrsg.), Sicherheit und Krise. Interdisziplinäre Beiträge der Forschungstage 2009 und 2010 des Jungen Kollegs der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Paderborn 2012, S. 32–40.

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Von der Betrachtung der versicherungsförmigen Institutionen her habe ich also einige Thesen zur allgemeinen Sicherheitsgeschichte entwickelt sowie auf die verschiedenen Phasen oder Anläufe, Spätmittelalter, um 1600, um 1680/1700, um 1750, 19. Jahrhundert hingewiesen. Für die Frühe Neuzeit scheint mir dabei um 1700 tatsächlich eine wichtige Schwelle: was hier entsteht, ist eine zumindest in den ökonomischen, politischen und Verwaltungseliten relativ schnell wachsende kontrafaktische Erwartungshaltung, dass Sicherheit der Normalzustand der Gesellschaft ist, Naturunglücke und sonstige Erwartungsenttäuschungen aber zu minimierende und zu vermeidende Ausnahmen; zuvor galten subjektiv auch große Dorf- und Stadtbrände eher als bedauernswerter gottverhängter Normalfall, jedenfalls konnte man eine allgemeine Sicherheit nicht schlicht kontrafaktisch erwarten. Indiz für diese Ausnahme-/Normalfall-Umkehrung um diese Zeit wenigstens in Mitteleuropa ist die signifikante Zunahme, ja Ersetzung der üblichen Staats- und Policeyzielbestimmungen hin auf ‚Sicherheit‘, nun auch begrifflich; im englischen Fall ist es eine Proliferation von ‚Sicherheit‘ als Leitbegriff und -konzept eher im Wirtschaftsmilieu: Man kann vom Entstehen einer ‚sicheren Normalgesellschaft‘ sprechen, zu der nun eine Fülle weiterer Felder gehören, die in diesem Band versammelt sind und etwa im politisch-staatlichen Bereich die Scheidung von innerer und äußerer Sicherheit betrifft. Die Universalisierung des Versicherungsprinzips und die Pluralisierung der Versicherungsfelder ist nur ein weiterer Indikator für diese Ausbreitung der ‚sicheren Normalgesellschaft‘ als Erwartungshaltung.

Wolfgang Behringer

Das europäische Konzept des Zufalls, oder: Von der Unsicherheit zur Versicherung. Ein Kommentar Lucien Lévy-Bruhl (1857–1939) hat einmal bemerkt, dass „für das primitive Denken nichts, was sich ereignet hat, aus Zufall passiert“. Wenn drei Frauen an einem Fluss sitzen und ein Krokodil eine von ihnen ins Wasser zieht und auffrisst, dann kann dies kein Zufall sein. Denn an diesem Fluss gibt es viele Raubtiere und viele Menschen, aber nur ein bestimmtes Krokodil hat eine bestimmte Frau angegriffen. Deshalb „muss jemand dieses bestimmte Krokodil zu seiner Tat veranlasst haben. Und das Krokodil wusste genau, welche Frau es unter Wasser ziehen sollte […] Nun muss man nur noch herausfinden, wer es getan hat“.1 Ähnliche Beispiele, die darauf hinweisen, dass das Konzept des Zufalls bei der Erklärung von Unglück in vielen traditionellen Gesellschaften unbekannt war, haben auch andere Anthropologen angeführt. Edgar Evan Evans-Pritchard führt eine Diskussion mit intellektuellen Anführern des Volkes der Azande im Osten des Sudan an, die ihm verdeutlichten, warum ihrer Meinung nach der Sturz über eine Baumwurzel mit anschließender Knochenfraktur keinesfalls auf einen Zufall zurückzuführen sei: die Wurzel sei schließlich immer dort und der Weg werde täglich benutzt, aber nur eine bestimmte Person an einem bestimmten Tag habe den Unfall erlitten. Deswegen müsse man untersuchen, wer dieser Person den Schaden zugefügt habe.2 Dieses Fehlen eines Konzepts von Zufall hat die Aufmerksamkeit von Psychologen und Anthropologen erregt. Eine überraschende Parallele innerhalb der eigenen Gesellschaft hat der Schweizer Pädagoge Jean Piaget aufgezeigt hat, der nachweisen konnte, dass Kinder unter sechs Jahren generell noch nicht an Zufall glauben können.3 Das Auftauchen und die Akzeptanz des Konzeptes von Zufall stellt in der individuellen Entwicklung der Persönlichkeit eine wichtige Entwicklungsstufe dar.4 Für Historiker – speziell für Historiker vormoderner Gesellschaften – noch interessanter ist aber der Umstand, dass es sich bei dem Konzept des Zufalls um eine kulturspezifische Entwicklung handelt, das vielleicht charakteristisch für Europa und seine Tochterzivilisationen ist. Da es ­keine vergleichende Zufallsforschung gibt, kann gegenwärtig nicht gesagt werden, welche anderen Kulturen über dieses Konzept verfügten – wir können aber mit Sicherheit sagen, dass es nicht universell verbreitet und in traditionellen Kulturen eher 1 Lucien Lévy-Bruhl, Primitive Mentality, London 1923, S. 50.

2 Edgar E. Evans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande, Oxford 1937,

S. 65ff. Jean Piaget, The Child’s conception of Physical Causality, London 1930. 4 Jean Piaget/Bärbel Inhelder, On the Origin of the Idea of Chance in Children, London 1975. 3

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nicht vorhanden ist. Das Konzept des Zufalls als Erklärung von Unglück, so die Londoner Soziologin Judith Green, muss daher als soziales oder kulturelles Konstrukt begriffen werden.5 Das Konzept des Zufalls stellt eine wichtige Ressource bei der Bewältigung von Unglück dar. Das „Management of Misfortune“ sieht anders aus, je nachdem, ob man Zufall akzeptiert oder nicht.6 Die Abwesenheit des Zufallskonzeptes führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Personalisierung von Unglück. Dies ist auch heute noch im südlichen Afrika, in Südostasien und in Lateinamerika der Fall, wo die Suche nach Schuldigen, die auf mystische Weise Unglück verursachen, zur Verfolgung von mystischen Akteuren führt.7 Im Fall von neuen Krankheiten wie AIDS, deren Kausalität nicht unmittelbar einsichtig ist, spielt dies sogar eine erhebliche Rolle.8 Einige Anthropologen behaupten, gesellschaftliche Modernisierung habe in Ländern der Dritten Welt sogar zu einer Verstärkung der Verhexungsängste geführt. Die Verbesserung der Lebensbedingungen, Krankenhäuser und Gesundheitsvorsorge allein hat, entgegen aller Prognosen von Vertretern der Modernisierungstheorie9, nicht zum Verschwinden der Personalisierung von Unglück geführt.10 In Westeuropa stoßen Ärzte nicht einmal auf großen Widerstand, wenn sie jungen Eltern erklären, ihr Baby sei am „plötzlichen Kindstod“ („mors subita infantium“ bzw. „sudden infant death dyndrome“ – SIDS) gestorben11, wenn auch ein Rest an Unbehagen bleibt, einen Tod ohne klar diagnostizierbare Ursache zu akzeptieren.12 Warum konnte man sich in Europa von dieser Personalisierung von Unglück lösen, deren Reflex wir noch in der Theodizee-Debatte erkennen können?13 Der englische Historiker Owen Davies führt komplexe Veränderungen des Lebens­stils 5

Judith Green, Risk and Misfortune. The Social Construction of Accidents (Health, risk and society), London u. a. 1997. 6 Susan Reynolds Whyte, Questioning Misfortune. The Pragmatics of Uncertainty in Eastern Uganda (Cambridge studies in medical anthropology 4), Cambridge 1997. 7 Wolfgang Behringer, Witches and Witch Hunts. A Global History (Themes in history), Cambridge u. a. 2004, S. 23f. 8 Adam Ashfort, Reflections on Spiritual Insecurity in a Modern African City (Soweto), in: African Studies Review 41, 3 (1998) S. 36–67. 9 Bronislaw Malinowski, Magic, Science and Religion, and other Essays, London 1954. 10 Wolfgang Behringer, Hexenprozess und Modernisierung, in: Johannes Dillinger/ ­Jürgen M. Schmidt/Dieter R. Bauer (Hrsg.), Hexenprozess und Staatsbildung – Witch-Trials and State-Building (Hexenforschung 12), Bielefeld 2008, S. 319–335. 11 Inzwischen gibt es sogar eine eigene Fachzeitschrift: The Journal of Sudden Infant Death Syndrome and Infant Mortality 1 (1996) ff. 12 Adrian Havill, While Innocents Slept. A Story of Revenge, Murder, and SIDS, London 2002. 13 John Bowker, Problems of Suffering in Religions of the World, Cambridge 1970; Hans-Gerd ­Janßen, Gott – Freiheit – Leid. Das Theodizee-Problem in der Philosophie der Neuzeit, 2. Aufl. Darmstadt 1993.

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als Ursache an, etwa in den Bereichen Agrarproduktion, Wohnung, H ­ ygiene, Gesundheitsvorsorge und Erziehung, zusätzlich das Aufbrechen der ­alten selbstversorgenden Dorfgemeinschaften durch moderne Medien wie Straßen und Fahrdienste, Zeitungen und seit dem 19. Jahrhundert Eisenbahn, Radio und Fernsehen, das Aufbrechen der lokalen Produktion und Konsumtion, das Verschwinden der nachbarlichen Reziprozität, also zunehmende Anonymisierung. Auch die Erfindung der Versicherung gehört in diesen Bereich der anonymen Vergesellschaftung. Interessanterweise misst Davies dabei den intellektuellen Veränderungen keine primäre Bedeutung zu14, ähnlich wie wir dies von Geoff Clarke und Eve Rosenhaft gehört haben, die keine „probabilistische Revolution“ im Vorfeld der frühen Versicherungen entdecken konnten.15 Lorraine Dastons und Ian Hackings Idee einer theoriegesteuerten Entwicklung wäre so elegant gewesen16, aber das Veto der Quellen müssen wir ernst nehmen. Und um den Zufall zähmen zu können, um einen Buchtitel Hackings aufzugreifen17, muss man erst einmal die Unglücksereignisse ihrer vermeintlichen moralischen Bedeutung entkleiden. Das bedeutet aber zunächst noch keine Mathe­matisierung, sondern eine Anerkennung der Existenz des Zufälligen. Unglück war weder schicksalshaft determiniert, noch gottgewollt18, noch durch böswillige Menschen (Hexen) auf mystische Weise verursacht. Die Kriterien, die Davies als Ursachen für diese „Entzauberung der Welt“ zusammenträgt, treten in der europäischen Geschichte zuerst an einem bestimmten sozialen Ort auf, nämlich der Großstadt. Der Tonfall der Straßburger Versicherungsunternehmer, die Cornel Zwierlein in seinem Vortrag angeführt hat, erinnert mich an den Antrag, mit welchem der Straßburger Zeitungsschreiber Hans Carle beim Magistrat die Gründung der weltweit ersten periodischen Zeitung ankündigte – er wollte Patent­schutz, wie auch das Bankwesen eine weitere wichtige europäische Innovation mit Herkunft aus dem Italien der Renaissance, welche die Sicherheit von Erfindern für die Rechte an ihrem geistigen Eigentum schuf. Johannes Carolus, wie sich der Erfinder der periodischen Presse gegenüber seinen humanistischen 14

Owen Davies, Witchcraft, Magic and Culture, 1736–1951, Manchester u. a. 1999, S. 278–293.

15 Geoffrey Wilson Clark, Betting on Lives. The Culture of Life Insurance in England, 1695–1775

(Politics, culture and society in early modern Britain), Manchester 1999; Eve Rosenhaft, How to tame Chance. Evolving Languages of Risk, Trust, and Expertise in Eighteenth Century Germany Proto-Insurances, in: Geoffrey Clark u. a. (Hrsg.), The Appeal of Insurance, Toronto, S. 16–42. 16 Lorraine Daston, Classical Probability in the Enlightenment, Princeton 1988; Ian Hacking, The Emergence of Probability, New York 2006. 17 Ian Hacking, The Taming of Chance (Ideas in context 17), Cambridge u. a. 1990. 18 Und ein Rezensent von Geoff Clarks Buch über die Lebensversicherungen hebt hervor, dass hier ein entscheidender Unterschied zwischen England und den katholischen Ländern lag: Oliver M. Westall, in: JEconH 60 (2000), S. 869f.

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Freunden nannte, bekam allerdings kein Patent auf die Erfindung der Zeitung. Es hat mich immer fasziniert, dass in dieser ersten Wochenzeitung – der Straßburger „Relation“ – der gesamte Bereich des Übersinnlichen keine Rolle spielte, sondern Woche für Woche trocken über die politischen Entwicklungen in Europa berichtet wurde. Auch dies war eine Form der Sicherheitsproduktion, indem seismographisch über Krisenherde berichtet wurde.19 Überhaupt scheint mir, dass die Bedeutung der im 16. Jahrhundert geschaffenen neuen Infrastruktur des Kommunikationswesens, die einen zuverlässigen Austausch über Waren-, Geld- und Wechselpreise sowie über Versicherungsprämien in konkurrierenden Städten, auf dem das Versicherungsgeschäft kalkulatorisch beruhte20, überhaupt erst ermöglichte. Entgegen der irrigen Ansicht Braudels war der Nachrichtenverkehr auf dem Landweg mit Hilfe des portionierten Raumes des Postsystems dabei immer schneller und sicherer als der auf dem Seeweg und ermöglichte entsprechend ökonomische Vorteile.21 Die Bedeutung der Kommunikation und der frühneuzeitlichen Kommunikationsrevolution für diesen Bereich der Historiographie müsste noch ausgelotet werden.22 Der „Besoin de Sécurité“, den Lucien Febvre in der Frühen Neuzeit gesehen hatte, und bei dem er ganz richtig zwischen materieller und spiritueller Sicherheit unterschied23, er war bei städtischen Rationalisten und Geschäftemachern offenbar bereits in der Frühen Neuzeit oder in der italienischen Renaissance anders gelagert als bei der Landbevölkerung. Ich halte es für eine gute Idee, in der Politiklehre und der entstehenden Policey-Wissenschaft zu graben, natürlich auch in Rechtsquellen und in der theologischen Literatur, dort finden wir jenseits der Versicherungspolicen und -statuten aussagekräftige Quellen. Aber pace Georg Obrecht und seinem frühen Straßburger Ratschlag für Kaiser Rudolf II., der unter anderem die Einführung von Feuerversicherungen vorschlug24, müsste man vielleicht noch tiefer graben. Schon Machiavelli bietet eine nüchterne Risikokalkulation auf dem Gebiet der Politik, und 19

Wolfgang Behringer, Nachrichten sind Geld. Ein Wundermann des Fortschritts: Johann Carolus und die Erfindung der Zeitung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 205, 4. Sept. 1999, S. III. Ndr. in: Michael Jeismann (Hrsg.), Das 17. Jahrhundert. Krieg und Frieden, München 2000, S. 43–47. 2 0 Marcus A. Denzel, Versicherung, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 14, Stuttgart/Weimar 2011, Sp. 222–225. 2 1 Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen 189), Göttingen 2003. 2 2 Wolfgang Behringer (Hrsg.), Communication in Historiography (German History 24, No. 3, Special issue), London 2006. 2 3 Lucien Febvre, Pour l’histoire d’un sentiment. Le Besoin de Sécurité, in: Annales ESC 11 (1956), S. 244–247. 24 François J. Fuchs, Georg Obrecht, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 19, Berlin 1999, S. 404–405.

Von der Unsicherheit zur Versicherung 463

Finanzkapitalisten wie Jacob Fugger pflegten eine handfeste Sicherheitsproduktion in den unterschiedlichsten Bereichen und nicht zuletzt durch eine privilegierte Verankerung des Geschäfts in den neuen Kommunikationsstrukturen seiner Zeit.25 Verhexungsfurcht war solchen Protagonisten der europäischen Renaissancekultur fremd. Großstädte wie London oder Paris, aber auch Augsburg im 16. Jahrhundert, verfolgten keine Hexen. „Sicherheitsproduzenten“, um diesen Terminus von Cornel Zwierlein aufzugreifen26, mussten sich vermutlich zunächst selbst sicher fühlen, sei es aufgrund der schieren Macht eines Fürsten oder eines Großstadtmagistrats, oder aufgrund der Selbstsicherheit von Gelehrten und Kaufleuten. Versicherungsanbieter und Käufer von Policen teilten die Ansicht, dass es Zufall gab und dass er zu zähmen war. Dass dabei nicht nur ein Risiko kalkuliert, sondern auch ein Spiel gespielt wurde, dürfte den Käufern von Geoff Clarks Sklavenversicherungen in Katalonien so klar gewesen sein wie den Kunden von Magnus Ressels Hamburger Sklavenkasse im 17. Jahrhundert oder den Teilnehmern an Eve Rosenhafts Lebensversicherungen auf Gegenseitigkeit im 18. Jahrhundert. Wichtig scheint mir dabei die Beobachtung, dass in den 1770er Jahren die Zuversicht in die Möglichkeit, den Zufall zu zähmen, providentialistisches und fatalistisches Denken in den Hintergrund drängte, nicht zuletzt als Folge des beginnenden Expertentums, das nun doch mit mathematischer Risikokalkulation operierte.27 Der Komplex Magie/Hexerei wurde etwa gleichzeitig von den aufgeklärten Intellektuellen der Lächerlichkeit preisgegeben.28 Unsere Marburger Frühneuzeittagung geht sehr großzügig mit dem Begriff „Sicherheit“ um. Manchmal kann man den Eindruck gewinnen, jeder spricht über die Themen, über die er tendenziell immer spricht, aber diesmal unter dem Aspekt der Sicherheit. Aber es ist natürlich auch wahr, dass Sicherheit etwas zu tun hat mit Religion, mit dem Staatsbildungsprozess, mit Diplomatie und internationalen Beziehungen, auch mit Festungsbau und Zeremoniell, mit Kommunikation und Infrastruktur, mit Bürokratisierung, Sozialdisziplinierung, Säkularisierung und den „üblichen Verdächtigen“ – Konzepten der Frühneuzeitforschung. Nicht viel besser erging es dem Problem des Zufalls, für das sich in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe von Wissenschaften interessiert hat, Philosophie und 2 5

Wolfgang Behringer, Fugger und Kommunikation, in: Johannes Burkhardt (Hrsg.), Die Fugger und das Reich (Studien zur Fuggergeschichte Bd. 41), Augsburg 2008, S. 245–268. 2 6 Cornel Zwierlein/Rüdiger Graf/Magnus Ressel (Hrsg.), The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History. Die Produktion von Human Security in Vormoderne und Zeitgeschichte (HSR 35, 4), Köln 2010. 27 Eve Rosenhaft, How to tame Chance. Evolving Languages of Risk, Trust, and Expertise in Eighteenth Century Germany Proto-Insurances, in: Geoffrey Clark u. a.(Hrsg.), The Appeal of Insurance, Toronto 2010, S. 22. 2 8 Sönke Lorenz/Dieter R. Bauer, Das Ende der Hexenverfolgung (Hexenforschung 1), Stuttgart 1995.

464 Wolfgang Behringer

Mathematik natürlich, Physik und Psychologie, Soziologie und die Wirtschaftswissenschaften, in denen man sich – ausgehend von der Kognitionspsychologie – die Frage stellte, welche Entscheidungen in Situationen der Unsicherheit getroffen werden.29 Im Zusammenhang mit der Theorie des Entscheidungsverhaltens unter Risikobedingungen (Prospect Theory)30 ging im Jahr 2002 der Wirtschaft-Nobelpreis an den Psychologen Daniel Kahnemann (geb. 1934) „für das Einführen von Einsichten der psychologischen Forschung in die Wirtschaftswissenschaft, besonders bezüglich Beurteilungen und Entscheidungen bei Unsicherheit“.31 In der Soziologie steht man auf dem Standpunkt, dass die Erforschung des Zufalls noch „undertheorized“ sei, wobei man hier aber in der Regel an historische Makro­prozesse denkt.32 Im Grunde ging es aber dabei jeweils um spezifische Fachprobleme, die unter den Aspekten des Zufalls oder der Unsicherheit betrachtet wurden, nicht um eine historische Analyse des Umgangs damit. Sicherheit durch Versicherung in historischer Perspektive scheint mir dagegen immer noch ein neuer Aspekt zu sein, trotz aller jüngeren Forschungen über Risiken und Katastrophen, ein Aspekt, der ins thematische Zentrum dieses Kongresses zielt und weitere Beachtung verdient, der auch in seiner Anschlussfähigkeit oder Unverträglichkeit zu anderen Konzepten und Prozessen erst noch durchgespielt werden muss. Die Entstehung der Versicherungen vor der Erfindung der Versicherungsmathematik führt uns zu der Schlussfolgerung, dass wir es – in der Terminologie Claude Levi-Strauss‘ – nicht mit Ingenieuren, sondern mit Bastlern zu tun haben, die durch ein Verfahren von Versuch und Irrtum – durch Bricolage – zu ihren Ergebnissen kamen.33 Bastelei oder nicht: Zu denken geben sollte uns die Einschätzung Daniel Defoes, der 1697 in seinem „Essay upon Projects“ die Erfindung des Versicherungswesens als einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit („an epochal turning point in the history of man“) begriffen hat, wie Geoff Clark in der Einleitung zu seinem Buch über die Lebensversicherungen zitiert.34 2 9

Daniel Kahnemann/Paul Slovic/Amos Tversky (Hrsg.), Judgement under Uncertainty. Heuristics and Biases, Cambridge 1982. 3 0 Daniel Kahnemann/Amos Tversky, Prospect Theory. An Analysis of Descision under Risk, in: Econometrica 47 (1979), S. 263–291; Amos Tversky/Daniel Kahnemann, Advances in prospect theory: cumulative representation of uncertainty, in: dies. (Hrsg.), Choices, Values and Frames, Cambridge 2000, S. 44–66. 31 de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Träger_des_von_der_schwedischen_Riechsbank_in_Erinnerung_an_Alfred_Nobel_gestifteten_Preises_für_Wirtschaftswissenschaften. 3 2 Mike Smith, Changing Sociological Perspectives on Chance, in: Sociology 27 (1993), S. 513–531. 3 3 Claude Levi-Strauss, La pensée sauvage, Paris 1962. Dies., Das wilde Denken [Aus d. Franz. von Hans Naumann], Frankfurt a. M. 1989, S. 29–33. 3 4 Clark, Betting on Lives (wie Anm. 15), S. 2, nach: Daniel Defoe, An Essay upon Projects, London 1697, S. 123.

SEKTION VIII · Soziale Sicherheit in Stadt und Land

Gerd Schwerhoff

Soziale Sicherheit in der Frühen Neuzeit? Zur Einführung in die Sektion Im Januar 1723 richtete die Witwe Maria Sybilla Revenich eine Supplik an den Kölner Rat. Vor zehn Monaten habe sie das Kind eines verunglückten Rheinmühlenknechts zu sich genommen. Nun sei ihr Mann, ein Sackträger an der Rheinmühle, selbst im Fluss ertrunken, und sie stehe mit ihren eigenen drei Kindern und dem Waisen mittellos da. Sie bitte darum, entweder das Kind ins Waisenhaus aufzunehmen oder eine jährliche Geldzuwendung zu erhalten. Wenige Monate später richteten der Pastor und die Nachbarn des Kirchspiels St. Kunibert ebenfalls eine Supplik an den Magistrat. In der Pfarrei seien vor kurzem binnen 24 Stunden Gerard Muller und seine Frau verstorben und hätten fünf Kleinkinder hinterlassen. Drei davon seien von barmherzigen Nachbarn aufgenommen worden, die zwei anderen könnten aus Mangel nicht verpflegt werden und sollten deshalb ins Armen- und Waisenhaus aufgenommen werden.1 Die beiden Supplikationen führen mitten hinein in das Themenfeld unserer Sektion. Allerdings ist zu Beginn klar festzuhalten, dass „soziale Sicherheit“ kein frühneuzeitlicher Begriff war. Friedenssicherung, Sicherheit von Leben, Eigentum und Ehre, ja selbst die Versicherung gegen Unfälle und andere Lebensrisiken – das alles, so machen die Beiträge des vorliegenden Bandes deutlich, wurde von den Zeitgenossen debattiert. Die Formel von der „social security“ dagegen ist sehr viel jünger, wie Franz-Xaver Kaufmann gezeigt hat: Sie wurde von Franklin Delano Roosevelt 1934 im Zusammenhang mit dem „New Deal“ geprägt und machte seither eine rasante Karriere als zentrales gesellschaftliches Wertesymbol.2 Selbst wer weniger begriffspuristisch verfährt, setzt den Beginn der „sozialen Sicherheit“ deutlich später an. So lässt Karl ­Heinz Metz in seiner „Geschichte der sozialen Sicherheit“ das „Zeitalter der Sicherheit“ im 19. Jahrhundert beginnen und stellt ihm Antike, Mittelalter und Frühe Neuzeit gleichermaßen als

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Historisches Archiv der Stadt Köln, Bestand 36: Suppliken 1723 Januar 7; ebd. 1723 Juni 22. Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 2. Aufl. Stuttgart 1973, S. 1 bzw. 92ff.; Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862, hier S. 857f.

466 Gerd Schwerhoff

„Zeitalter der Armut“ entgegen.3 Anders gewendet: Nicht nur, dass die Frühe Neuzeit die Vision einer umfassenden sozialen Sicherung noch nicht auf den Begriff brachte; im Gegenteil, sie war eher eine Periode fundamentaler sozialer Unsicherheit. Allerdings wurden auch in der Vormoderne Probleme sozialer Sicherung diskutiert und Strategien zur Bewältigung sozialer Unsicherheit entwickelt. In typischer Weise geschah das z. B. im Kontext der Debatten um die ‚gute Policey‘.4 Als Polizeiordnung definierte z. B. ein Lexikon Mitte des 18. Jahrhunderts im weiteren Sinn alle „Gesetze und Verordnungen, welche auf den Wohlstand ­einer Republik, einer Stadt oder eines Landes gehen, damit die Unterthanen in Ehrbarkeit, in Ruhe und bey gutem Auskommen erhalten werden“. Im engeren Sinne beträfen diese Ordnungen die Einrichtung der „Nahrungsgeschäfte“, „daß dadurch alle Glieder des Staats gute Nahrung und Bequemlichkeit haben“.5 „Gutes Auskommen“ und „gute Nahrung“, vielleicht auch „Notdurft“, sind hier die für uns einschlägigen Schlüsselbegriffe, die eine tiefere begriffsgeschichtliche Studie anleiten könnten.6 Die „Hausnotdurft“ ist von Renate Blickle als Prinzip des ständeübergreifenden Anspruchs auf den Zugang zu den existenzsichernden Ressourcen anschaulich aus den Quellen gearbeitet worden.7 Systematischen Zugang zum Diskurs der Policey in der Spätphase gibt das vielzitierte Standardwerk von Justi, dessen Entwurf einer Policeywissenschaft zwar ebenfalls „soziale Sicherheit“ nicht direkt thematisierte, immerhin aber den 3

Karl H. Metz, Die Geschichte der sozialen Sicherheit, Stuttgart 2008. Vgl. vor allem Karl Härter, Security and ‚Gute Policey‘ in Early Modern Europe: Concepts, Laws and Instruments, in: HSR 35 (2010), S. 41–65, hier bes. S. 53ff. zur Ausweitung des Konzeptes der ‚öffentlichen Sicherheit‘ auch in Richtung ‚sozialer Sicherheit‘ (z. B. durch Gesundheitspolizei) im 18. Jahrhundert. – Interessant ist in diesem Zusammenhang, wenn auch anders motiviert, die Suche nach frühneuzeitlichen Ursprüngen des Wohlfahrtsstaates bei Johannes Süßmann, Die Wurzeln des Wohlfahrtsstaats – Souveränität oder Gute Policey?, in: HZ 285 (2007), S. 19–47. 5 Johann Theodor Jablonskies […] Allgemeines Lexicon der Künste und Wissenschaften […], Bd. 2, Königsberg/Leipzig 1767, S. 1080. 6 Vgl. die Lemmata „Nahrung“ und „Notdurft“ im Deutschen Rechtswörterbuch (http:// drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/, 25. 03. 2012). 7 Renate Blickle, Hausnotdurft. Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung ­Bayerns, in: Günter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft (Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte 2), Göttingen 1987, S. 42–64. Vgl. auch Heinrich R. Schmidt, „Nothurfft vnd Hußbruch“ – Haus, Gemeinde und Sittenzucht im Reformiertentum, in: Andreas Holzem/ Ines Weber (Hrsg.), Ehe – Familie – Verwandtschaft – Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt, Paderborn 2008, S. 301–328. Vgl. aber zur widersprüchlichen Spannweite und den ideologischen Belastungen des Nahrungsbegriffs die Beiträge in ­Robert Brandt/Thomas Buchner (Hrsg.), Nahrung, Markt oder Gemeinnutz. Werner S­ ombart und das vorindustrielle Handwerk, Bielefeld 2004. 4

Soziale Sicherheit in der Frühen Neuzeit? 467

Zielpunkt der „gemeinschaftlichen Glückseligkeit“ fest im Blick hatte (wobei freilich die Nützlichkeit für den Staat den Maßstab dieser Glückseligkeit ausmachte). Elemente eines Diskurses über soziale Sicherungen finden sich z. B. im Kontext seiner Überlegungen über die „Steurung des Müßigganges, des Bettelns und andrer Unordnungen“. Der Endzweck aller Republiken, so Justi, bestehe in der vereinigten Bemühung aller Mitglieder, an ihrer gemeinschaftlichen Glückseligkeit zu arbeiten; und ein Land kann nur nach der Maaße glücklich sein, als die Unterthanen ihren Fleiß anstrengen, die zur Nothdurft und Bequemlichkeit des menschlichen Lebens erforderlichen Güter […] zu gewinnen.8

Müßiggang sei zu verhindern, seine fast zwangsläufige Folge, die Bettelei, möglichst zu verbieten. Allerdings hält Justi fest, dass es unstreitig „den Pflichten der Menschenliebe gemäß ist, den Nothleidenden beyzustehen“ und es die Schuldigkeit der Regierung sei, „für die alten gebrechlichen und durch Unglücksfälle zu Grunde gerichteten Armen Fürsorge zu tragen“.9 Dementsprechend erklärt er es zur Voraussetzung einer effektiven und strengen Bettelpolitik, die alten, unvermögenden und gebrechlichen Armen in gut geführten Hospitälern und Armenhäusern zu versorgen und erklärt es zur Pflicht der Regierung, Nahrung und Gewerbe im Land zu befördern, um den jungen und starken Bettlern keine Ausreden zu geben – Wirtschaftsförderung als soziale Sicherungsmaßnahme10, die menschliche Not und Armut bekämpfen könne. Den Ansatzpunkt für die Debatte über soziale (Un-) Sicherheit in der frühneuzeitlichen Policeywissenschaft11 bildete die Frage, inwieweit die Obrigkeit, auf dem Weg des Verbotes und/oder auf dem Weg der Fürsorge, menschliche Notlagen vermeiden oder beseitigen könne. Das war gar nicht so weit weg vom ursprünglichen Impuls Roosevelts, der vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise mit der Rede über „social security“ bzw. dann 1936 mit seinem „social security act“ zunächst einmal ökonomische Schutzbestimmungen vor sozialer Unsicherheit intendierte. Dass der Begriff dann innerhalb weniger Jahre zu einem „normativen Zielbegriff erster Ordnung“ (Conze) wurde, der z. B. auch die Gesundheitsvorsorge umfasste, und dass 1948 die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (Art. 22) ­einen umfassenden Begriff der sozialen Sicherheit enthielt, der auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zur Entwicklung der individuellen Persönlichkeit abhob, steht auf einem anderen Blatt.12 Roosevelts programmatische Rede vom Juni 8

Johann Heinrich Gottlob von Justi, Grundsätze der Policeywissenschaft […]. Dritte Ausgabe mit Verbesserungen und Anmerkungen von Johann Beckmann, Göttingen 1782, § 327. 9 Ebd., § 334. 10 Ebd., § 336f. 11 Selbstverständlich müsste eine ausführlichere Studie den Verästelungen dieser Debatte in anderen Diskurszusammenhängen, z. B. in der utopischen Literatur, weiter nachspüren. 12 Vgl. oben Anm. 2.

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1934 eröffnet aber noch weitere Perspektiven auf die Vergangenheit. Soziale Sicherheit, so erklärte er im amerikanischen Kongress, sei in früheren Tagen durch die enge Zusammengehörigkeit familiärer Gemeinschaften („through the interdependence of members of families upon each other and of the families within a small community upon each other“) gewährleistet worden. Diese einfachen Mittel zur Produktion von Sicherheit griffen angesichts der Komplexität der modernen, unüberschaubar gewordenen Gesellschaft nicht mehr. Nun müsse die Regierung einspringen, um eine größere soziale Sicherheit für den Einzelnen zu erreichen.13 Der Präsident arbeitet in dieser Passage mit einem doppelten Gegensatz, nämlich demjenigen von Staat und Gesellschaft und demjenigen von Gegenwart und Vergangenheit. Wo früher, und zwar erfolgreich, kleinräumige Gemeinschaften soziale Sicherheit garantiert hätten, müsse nun der Staat ran. Dabei handele es sich mithin lediglich um eine Rückkehr zu alten Werten. Wenn der amerikanische Präsident hier die gute alte Zeit menschlichen Zusammenhalts beschwört, so mag man darin einen schwärmerisch-rückwärtsgewandten Romantizismus am Werk sehen oder, was wahrscheinlicher ist, eine wohlkalkulierte Reminiszenz an die alten frontier-Tugenden – unter Historikern wird man die These, dass die modernen sozialen Sicherungssysteme des Staates tatsächlich ‚bloß‘ die alten gemeinschaftlichen Sicherungsmechanismen ersetzten, nicht ernsthaft diskutieren müssen. Reizvoll aber ist es, aus der historischen Abfolge ein analytisches Spannungsverhältnis zu machen, das sowohl für die Frühe Neuzeit als auch für die Moderne Geltung beanspruchen kann. Für die gegenwärtige Diskussion genügt es, auf die andauernden Debatten über die Grenzen der Leistungsfähigkeit moderner Sicherungssysteme oder über das Prinzip der Subsidiarität zu verweisen.14 Wichtiger ist es, aus frühneuzeitlicher Perspektive die romantisierende Rückschau zu korrigieren und – wie mit dem Beispiel der guten Policey angedeutet – zu zeigen, dass sich der frühmoderne Staat bzw. korrekter: die frühneuzeitlichen Obrigkeiten sehr wohl aktiv vieler Aspekte der sozialen Sicherung annahmen. So rechnete, um ein letztes Beispiel aus der Epoche zu geben, der Jurist Christoph Besold im 17. Jahrhundert die Sorge für die Körper der Untertanen (cura corporum subditorum) wie selbstverständlich zu den Aufgaben der Obrigkeit; sie habe die rechten Lebensbedingungen zu gewährleisten,

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„Therefore, we are compelled to employ the active interest of the Nation as a whole through government in order to encourage a greater security for each individual who composes it.“ Englische Zitate nach: MESSAGE TO CONGRESS REVIEWING THE BROAD ­OBJECTIVES AND ACCOMPLISHMENTS OF THE ADMINISTRATION. JUNE 8, 1934, online unter: http://www.ssa.gov/history/fdrstmts.html#message1 (26. 03. 2012). Die deutsche Übersetzung in Kaufmann, Soziale Sicherheit (wie Anm. 2), S. 92f., ist zweifelhaft. 1 4 Pars pro toto Gabriele Metzler, Der deutsche Sozialstaat vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, München 2003.

Soziale Sicherheit in der Frühen Neuzeit? 469

indem sie alles zum Unterhalt Notwendige und für die Gesundheit Unabdingbare (alimenta & quae ad sanitate necessaria sunt) bereithalten müsse.15 Diese Überlegungen führen zur einfachen, aber eben nicht trivialen Prä­misse für die Beiträge in der folgenden Sektion: Eine Beschäftigung mit „sozialer Sicher­heit“ in der Frühen Neuzeit stellt keinen unzulässigen Anachronismus dar. Sie bildet vielmehr erstens eine wichtige Grundlage, um das ganze Spektrum frühmoderner Sicherheitsüberlegungen, von geplanter Daseinsvor- und -fürsorge der damaligen Menschen, in den Blick zu bekommen. Damit schafft sie zweitens das Fundament für einen differenzierteren Vergleich zwischen den Epochen und zur Überwindung grob gestrickter Gegensatzpaare vom Schlage „Zeitalter der Armut“ vs. „Zeitalter der Sicherheit“. Drittens schließlich mag der Fokus auf die „soziale Sicherheit“ vielleicht auch den Debatten der Fachdisziplin selbst neue Impulse verleihen. Im Zeichen des Konzeptes der „Sozialdisziplinierung“ hatten in der Frühneuzeitforschung der Siebziger und Achtziger Jahre Studien zur Armenfürsorge Konjunktur und setzen, vielleicht auch vor dem Hintergrund moderner Erfahrungen, beim „Staat“ an. Die Kritik monierte hier sehr zu recht den vorherrschenden Etatismus und mahnte an, horizontale Mechanismen von Unterstützung und Solidarität sowie Selbsthilfe als strukturelle Momente zeitgenössischen Umgangs mit sozialer Unsicherheit angemessen zu berücksichtigen.16 Immer noch scheint eine systematische Integration vieler Perspektiven auf der Tagesordnung zu stehen: Es bedarf einer stärkeren Verknüpfung zwischen institutionellen und informellen Praxen des Umgangs mit sozialen Notlagen, einer besseren Berücksichtigung der Vielfalt von Akteuren in Gestalt von Familien, Nachbarschaften, Korporationen und Obrigkeiten, ebenso einer größeren Differenzierung nach Geschlecht, Alter und sozialem Status. Die beiden eingangs angeführten Suppliken mögen für diese hier nur angedeutete Vielfalt stehen: Eine Frau, die ein Waisenkind aufnimmt, dann aber, selbst bedürftig, um obrigkeitliche Unterstützung bittet; oder der Pfarrer und die Nachbarn als Akteure, die die Waisenversorgung zum Teil selbst übernehmen, zum Teil aber auf institutionelle Sicherung angewiesen sind. Selbstverständlich können die folgenden fünf Beiträge auf diesem sehr weiten Feld wiederum nur fallstudienhafte Probebohrungen vornehmen. Dabei beschäftigen sich Joel Harrington in Gestalt der unversorgten (nicht unbedingt verwaisten) Kinder in der Reichsstadt Nürnberg und Gesa Ingendahl in Gestalt 15

Christoph Besold, Synopsis Politicae Doctrinae, Ingolstadt 1637, S. 288; vgl. ­Christoph ­Besold, Synopse der Politik. Übersetzt von Cajetan Cosmann, herausgegeben von Laetitia Boehm, München 2000, S. 223. 16 Immer noch paradigmatisch die Kontroverse zwischen Martin Dinges, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Sozialdisziplinierung? Probleme mit einem Konzept, in: GG 17 (1991), S. 5–29; und Robert Jütte, „Disziplin zu predigen ist eine Sache, sich ihr zu unterwerfen ­eine andere“ (Cervantes) – Prolegomena zu einer Sozialgeschichte der Armenfürsorge diesseits und jenseits des Fortschritts, in: GG 17 (1991), S. 92–101.

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der Witwen in der Reichsstadt Ravensburg exemplarisch mit lebenszyklischen Problemlagen. Harrington zeichnet von der paternalistischen Praxis des Nürnberger Rates ein positiveres Bild, als es dessen harsch exkludierende Rhetorik vermuten lassen würde: Regelmäßig war er um direkte Unterbringung der Kinder im Findelhaus oder um Vermittlung und finanzielle Unterstützung in Pflegefamilien bemüht. Die Positionen der Ravensburgischen Witwen dagegen, beispielhaft im Spannungsfeld von Selbsthilfeverpflichtungen in familialen und sozialen Beziehungsnetzwerken einerseits und obrigkeitlichen Unterstützungsmaßnahmen wie der Lizenz zum Lebensmittelkleinhandel andererseits angesiedelt, erscheint eher prekär: Die sozial schwierige Situation der Witwen wurde noch dadurch belastet, dass ihr Status die Geschlechterordnung bedrohte; Deutungen und Unterstützungsmaßnahmen zielten mithin auch darauf, diese Gefahr einzuhegen. Sebastian Schmidts Aufriss der Armenfürsorge im katholischen Erzstift Trier zielt auf eine Analyse anstaltlich-staatlicher Maßnahmen sozialer Sicherung. Er zeigt, dass auch dort bis Ende des 18. Jahrhunderts eher auf Repression denn auf Vorsorge gesetzt wurde. Zwar bestand auf der Ebene der Normen und Verlautbarungen im Wesentlichen Übereinstimmung mit protestantischen Territorien darin, dass „würdige“ Arme unterstützungswürdig, „starke“ Bettler und Vaganten dagegen auszuschließen seien. In der Praxis jedoch konnte die Zentralisierung der Almosenverteilung kaum umgesetzt werden, etwa aufgrund der weiterhin dezentral und ohne Kontrollen praktizierten klösterlichen Caritas. Mit der Zunft nehmen Rüdiger Brandt und T ­ homas ­Buchner sodann eine „mittlere“ institutionelle Formation zwischen Obrigkeit und individuell-familaler Selbsthilfe in den Blick. Sie spielt seit langem in der historiographischen Debatte eine zentrale Rolle, aber der Beitrag zeigt, wie wenig wir über den tatsächlichen Anteil der Zunft an sozialen Sicherungsmaßnahmen wirklich wissen, wie stark man etwa zwischen Meistern und Gesellen ebenso wie zwischen einzelnen Handwerken zu differenzieren hat. So sind Bedeutung und Entwicklung der Armenkassen der Zünfte als zentraler Sicherungsinstrumente weithin unklar, viele Zünfte scheinen nie derartige Einrichtungen besessen zu haben. Der „Kommentar“ von Thomas Sokoll schließlich liefert weit mehr als sein Titel verspricht. Erstens versucht er die Probebohrungen in einer Matrix sozialer Sicherung zusammenzuführen, die lebenszyklische Lagen mit Agenturen und Medien sozialer Sicherung kombiniert. Zweitens nimmt er besonders die Familie als eine solche Agentur in den Blick, und drittens unternimmt er das mit einem speziellen Akzent auf England, einem in Fragen sozialer Sicherung in der Frühen Neuzeit besonders avanciertem Land. Sokoll verwendet durchgängig den Terminus der sozialen „Sicherung“ und bemerkt am Schluss pointiert, dass dieser für die Frühneuzeit analytisch treffender sei als derjenige der „sozialen Sicherheit“. Dem ist sicher zuzustimmen. Heuristisch zeigt sich die Fruchtbarkeit der Frage nach „sozia­ ler Sicherheit“ in der Frühen Neuzeit mithin am Ende darin, dass begrifflich wie empirisch die Differenz zwischen damaligen und heutigen Konzepten betont wird.

Joel F. Harrington

Waisen- und Findelkinder im frühneuzeitlichen Nürnberg – obrigkeitliche Fürsorge und „informal child circulation“ Die gleichzeitige Ausdehnung und Standardisierung der Armenfürsorge in den deutschen Staaten des 16. Jahrhunderts gelten gemeinhin als die Hauptanzeichen für eine sich wandelnde Wohlfahrtspolitik. Christliche Nächstenliebe, das Gefühl einer patriarchalen Verpflichtung und die Sorge um die soziale Ordnung waren die Motive, die in unterschiedlichem Maße zu einer neuen politischen Linie der Reichsstädte und Territorialstaaten führten, nach der streng unterschieden wurde zwischen Armen, die eine Unterstützung verdienten (hier waren meist Einheimische gemeint), und Bettlern, denen eine solche Hilfe nicht gebührte (was sich für gewöhnlich auf Auswärtige bezog). Was allerdings Kinder betraf, kristallisierten sich ehrgeizigere und umfassendere Pläne heraus, besonders in wohlhabenden Reichsstädten wie Nürnberg. Anders als Erwachsene lösten arme und notleidende Kinder bei Nürnbergs Stadtvätern oft einen ausgesprochen paternalistischen Impuls aus, der zu einer weitaus interventionalistischeren und großzügigeren Praxis führte, als es die offizielle politische Linie nahelegte. In vielen Fällen ignorierten die Nürnberger Stadträte den Aspekt der Zugehörigkeit zur Stadtbürgerschaft: Sie unterstützten nicht nur, dass Findel- und Waisenkinder auch von außerhalb in private Haushalte vermittelt wurden (informal child circulation), sondern ließen diese auch in das Nürnberger Findel- und Waisenhaus zu. Auch wenn beispielsweise seit 1522 jegliches Betteln von Kindern verboten war, sah der Nürnberger Magistrat das Problem der Straßenkinder durch­gängig in­ ­einem großzügigeren Licht und unter einer langfristiger ausgerichteten Perspek­ tive als die meisten Privatpersonen, die sich von den Herumtreibern meist nur unmittelbar belästig fühlten. Eingehend verurteilten die Stadträte die weitverbreitete „schand, sträfflicher handlungen und leichfertigkeyt“, die darauf zurückzuführen sei, dass auswärtige oder einheimische Kinder „so im pettel und müßiggeen aufgezogen“ würden.1 Sie kritisierten die ihre Kinder vernachlässigenden Eltern scharf und warfen ihnen vor, dass sie „die unwissende Kinder von jugend auf darzu erzogen, schendlichen underricht und dardurch zum spielen, stehlen, hurerey und andern lastern, so gemeinlich aus dem entstiehen der arbeit zu folgen pflegen […] und also zugleich umb Leib und Seel gebracht werden“.2 Anstatt ein 1

Almosenordnung vom 1. 9. 1522, vgl. Willi Rüger, Mittelalterliches Almosenwesen. Die ­Almosenordnungen der Reichsstadt Nürnberg (Nürnberger Beiträge zu den Wirtschaftsund Sozialwissenschaften 31), Nürnberg 1932, S. 78, 82f. 2 Almosenordnung von 1626, vgl. Rüger, Mittelalterliches Almosenwesen (wie Anm. 1), S. 95. Vgl. die Mandate vom 27. 11. 1556, 19. 3. 1562, 24. 7. 1566, 3. 12. 1566, 25. 10. 1571, 16. 8. 1615; Almosenamt Bericht 22. 4. 1668, alle Staatsarchiv Nürnberg (im Folgenden StaatsAN) 63Ia.

472 Joel F. Harrington

Handwerk zu erlernen und zu erkennen, wie wichtig der eigene Broterwerb für sie sei, trieben sich diese Jungen und Mädchen auch noch spät nachts auf den Straßen der Stadt herum und sangen „schandliche“ und „weltliche“ Lieder. Häufig seien sie in der Begleitung von „Manns und Weibs Personen, die allerley Püberey unnd unzucht auff den Gassen geübet unnd getrieben“ und würden daher als unnütze Bettler und Schmarotzer aufwachsen, die „sich desto beshwerlicher zu der handtarbeit“3 begäben. Oft waren die Aspekte des physischen, sittlichen und sozialen Wohlbefindens der Kinder in der Gesetzgebung aufs Engste miteinander verbunden. Eine Verordnung zum Bettelwesen beispielsweise enthielt in typischer Weise die unmittelbare Sorge, dass „die armen Jungen kinder von knaben unnd Maidlein, zu WintersZeiten dermassen erfrieren, das es Inen an Irem gesind shedlich, und dermassen verwarlost und verderbt werden, das sie hernach zu Iren gesundt nimmer mehr kommen, sondern also gebrechliche, shweche und arbeitselige leuth bleiben mussen“.4 Da Bettler und andere Landstreicher oft mit Krankheit und Seuchen assoziiert wurden, lag die Befürchtung nahe, „daß dergleichen Personen leichtlich andere davon inficirt warden könten“, vor allem Kinder und Jugendliche.5 Zum Leidwesen des Magistrates wurde die Mehrheit dieser Straßensänger und Bettler offensichtlich von ihren eigenen Eltern und oft gegen ihren Willen zu diesem Leben gezwungen. Da der Nürnberger Magistrat alle Kinder als verletzlich und noch nicht vollständig ausgeformt ansah, war er in höherem Maße als im Falle von Erwachsenen bereit, sich zu engagieren und einzugreifen. Bei der Erfüllung ihres paternalistischen Mandats ignorierten die Stadtväter oft die traditionellen Grenzen zwischen Einheimischen und Auswärtigen. Dieses Vorgehen in loco parentis resultierte aus der Auffassung der Obrigkeit, die das Problem der Straßenkinder unstreitig der schlechten Erziehung durch die Eltern ankreidete. In fast allen Fällen von sozial auffälligen Kindern war der Magistrat vom frühen 16. Jahrhundert an auf den Aspekt der schlechten Erziehung durch die Eltern fixiert, unabhängig vom sozialen Hintergrund der Familie. Selbst armen Stadtbürgern, die ihre Kinder hungrig umherlaufen ließen oder sie ausschickten, um nach Essen zu betteln, wurde wiederholt mit der Entziehung von Almosenvergabe oder gar mit der 3

Ordnung von 1522 bei Rüger, Mittelalterliches Almosenwesen (wie Anm. 1), S. 147; Mandat von 17. 11. 1556, StaatsAN 631a/B 143. Vgl. ähnlichen Klagen über „böse Eltern“ in den Bettelmandaten vom 15. 10. 1567, 10. 3. 1569 und 9. 6. 1651, sowie den Polizeiordnungen vom 29. 9. 1571 und 12. 5. 1572: StaatsAN 63 Ia, Bd. C: 158, 203; Bd. D: 52, 76; Stadtarchiv Nürnberg (im Folgenden StadtAN) D1/564. 4 Mandat vom 3. 12. 1566: StadtAN D1/543. Vgl. die Bettelordnung von 1557 gegen Eltern, die „ire kinder die hievor kelt, frost/ huner/ und nesse auff der strassen gelitten/ bey der arbeyt under den obdachern erhalten und von offenlichem pettel gewendt haben“: StaatsAN 63 Ia, Bd. B: 45v. 5 Stadtalmosenamt Bericht vom 20. 10. 1649: StadtAN D1/563.

Waisen- und Findelkinder im frühneuzeitlichen Nürnberg 473

Ausweisung aus der Stadt gedroht. Tiraden über Eltern, die ihre Kinder nicht daran hinderten, sich auf der Straße herumzutreiben und „lateinische und deutsche Lieder zu singen und zu jeder Tag und Nachtstunde auf der Straße und vor Häusern zu betteln“, waren oft begleitet von Beschwerden über die „ungezogene Jugend“, die Steine und Schneebälle warf, sich gegenseitig Schlägereien auf der Straße lieferte und viele andere Formen von wildem und gefährlichem Verhalten an den Tag legte.6 Ein brutaler Straßenkampf zwischen zwei Jugendlichen im Jahr 1616, bei dem einer der Jungen einen Finger verlor, veranlasste den amtierenden Magistrat dazu, die Bettelordnung neu abzufassen. Es wurde scharf verurteilt, dass sich die unzureichend beaufsichtigten Kinder in den Straßen der Stadt herumtreiben konnten und „grosses geshrey und Muttwillen“ erzeugten. Die Eltern der Jungen wurden ermahnt, „Ihr kind forthin in besserer zucht zuhalten“.7 Der paternalistische Imperativ ließ die Stadtväter sogar ihre traditionelle Zurückhaltung aufgeben, direkte finanzielle Verantwortung für neue Schützlinge zu übernehmen, wenn auch nur dann, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab. Bei allen Fällen von verlassenen oder ungewollten Kindern, die den Stadträten vorgestellt wurden, war es generell ihr Hauptanliegen, die behördliche Einmischung so gering wie möglich zu halten und jemanden zu finden, der ihnen die Kinder abnehmen würde – ein Prozess, den ich „informal circulation“ (informelle Vermittlung) nennen möchte. Bis zu einem gewissen Grad war diese Zurückhaltung der säkularen Obrigkeit der Anerkennung der privaten paternalistischen Autorität in allen Bereichen des Haushaltes geschuldet, des so genannten ‚Bereichs der Ehre‘.8 Noch grundlegender war, dass der Nürnberger Magistrat als Verwahrer der kostbaren Finanzmittel der Stadt diese möglichst schonen wollte. Manchmal konnte die Kinderbetreuung so arrangiert so werden, dass überhaupt keine Kosten für die Stadt entstanden, in anderen Fällen wurde eine bescheidene Summe Geldes bewilligt, falls dies notwendig war. Zentrale Zielvorgabe war, wo immer möglich eine private Lösung zu finden. Dies spiegelt die fortdauerende Bedeutung der informellen Pflegschaft und der ‚vermischten Familien‘ (blended families) während der Frühen Neuzeit wider.9 Häufig war dies nicht mehr, als schon bestehende Arrangements so lange wie möglich 6 Mandat

vom 3. 12. 1566: StadtAN D1/543. Vgl. Ratsverlass (im Folgenden RV) 1922, 75r (25. 4. 1616). Stadtalmosenamt Bericht vom 20. 10. 1649: StadtAN D1/563. „muthwillige Jugent..hochmuth wid.shlagen und waffen, so wol under wehrenden Gottesdienst, als sonsten treiben.“ RV 2137: 17r (2. 7. 1634); auch RV 2353: 6r-v (14. 12. 1648). 7 RV 1922: 27r, 47v, 60v, 75r (10, 16, 19, 25. 4. 1616). 8 Hermann Heidrich, Grenzübergänge: Das Haus und die Volkskultur in der frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen/ders. (Hrsg.), Kultur der einfachen Leute: Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, München 1983, S. 17–41. 9 Joel F. Harrington, The Unwanted Child: the Fate of Orphans, Foundlings, and Juvenile Criminals in Early Modern Germany, Chicago/London 2009.

474 Joel F. Harrington

auszudehnen, meist durch die Bewilligung einer jährlichen Unterhaltszahlung. Wenn Großeltern beispielsweise darum ersuchten, ihre Enkel im Findel zuzulassen, wurden sie in der Regel mit einer jährlichen Unterhaltszahlung von acht bis zwölf Gulden in bar zur Deckung ihrer Zusatzausgaben wieder nach Hause geschickt.10 Manchmal mussten die städtischen Beamten mit den Antragstellern um akzeptable Bedingungen verhandeln, damit das Kind bleiben konnte, wo es war. Die Höhe der Geldbeträge war aus diesem Grunde unterschiedlich und schwankte manchmal so ehrheblich, dass diese Uneinheitlichkeit nahe an Willkür grenzte.11 Es scheint, als sei der Status der Stadtbürgerschaft des Kindes oder der Pflegeeltern kein Thema gewesen. Es gab lediglich die Tendenz, eher auf „Freunde“ des Kindes im frühneuzeitlichen Sinne, im besonderen auf Blutsverwandte und Paten, zurückzugreifen, die am ehesten geneigt waren, für ein ungewolltes Kind zu sorgen. Wenn Geld allein den Bittsteller nicht zufrieden stellte, wurde ihm vom Magistrat angeboten, wenigstens ein oder zwei Geschwister, meist die jüngsten, im Findel anzunehmen, falls der Petitionär sich bereit erklärte, weiter für die anderen Kinder zu sorgen, oft mit städtischer Unterstützung.12 In den Verhandlungen mit den Bittstellern bezogen sich die Stadträte instinktiv auf einen weit dehnbaren Begriff von Familie und Haushalt, indem sie praktisch die Frage der Stadtbürgerschaftszugehörigkeit und andere soziale Faktoren ignorierten, um zu einer privaten Lösung zu gelangen. Geschwister zusammen zu lassen, hatte dabei selten Priorität. Tatsächlich wurde es nach 1610 eine besonders übliche Verhandlungstaktik, Geschwister zu trennen. Der Findelpfleger bat Bittsteller wiederholt, ein oder mehrere Geschwister aufzunehmen, wenn im Gegenzug ein oder mehrere Kinder vom Findel aufgenommen würden.13 Andererseits wurden in mehr als 90 % aller Fälle, in denen Geschwister erwähnt sind, mindestens zwei 10

Zum Beispiel: RV 1298: 16r (15. 1. 1569); RV 1776: 48v (15. 4. 1605); RV 1905: 31r (17. 1. 1615); RV 2153: 60v–61r (25. 10. 1633). 11 1569 bekam ein Großvater 12 fl. als jährliches Stipendium für seine drei verwaisten Enkelkinder; 50 Jahre später hat ein Vormunder 32 fl. pro Jahr für ein einziges Kind bekommen. Es geht nicht nur um Inflation. Die durchschnittliche Summe zwischen 1632 und 1638 war 10 fl. Vgl. RV 1298: 16r (15. 1. 1569); RV 1959: 1r (14. 1. 1619). Eine Woche später bekam ein anderer Vormunder ein Stipendium von 33 fl. jährlich für drei Kinder. RV 1959: 12r (23. 1. 1619); auch RV 1878: 13v (30. 12. 1612); RV 1896: 10r (29. 4. 1614); RV 1925: 25r (5. 7. 1616); RV 1977: 13v (28. 8. 1616); RV 1928: 33r (2. 10. 1616); RV 1928: 37r (4. 10. 1616); RV 2011: 33r (28. 11. 1622); and RV 2142: 8v–9r (16. 11. 1632). 12 1611 z. B. wurden die zwei jüngsten Weisen von Fritz Vogel angenommen und der Bittsteller bekam „ein gering ziehgelt“, um den dritten Bruder zu pflegen, „biss es sein Brod verdienen könne“. RV 1857: 49r (11. 6. 1611); auch RV 1860: 67v (11. 9. 1611) und RV 2145: 48v–49r (19. 2. 1633). 13 RV 1853: 11v (18. 2. 1611); auch RV 2251: 53v (26. 10. 1663). Vgl. den Fall von drei Kindern, deren Mutter im Spital lag und die Anweisung des Rates, dass der Findelpfleger „yedoch

Waisen- und Findelkinder im frühneuzeitlichen Nürnberg 475

Kinder der gleichen Familie im Findel angenommen. Es kam sogar vor, dass drei oder mehr Kinder gleichzeitig die Heimzulassung erhielten. Insgesamt hatte mehr als ein Drittel aller Heimneuzugänge mindestens ein Geschwisterkind, das ebenfalls dort aufgenommen wurde.14 Wenn kein Verwandter oder Pate gefunden werden konnte und die Bittsteller sich konsequent weigerten, auch nur ein Kind zu behalten, war der Nürnberger Magistrat offenbar bereit, die ungewollten Kinder so gut wie jedem zu überlassen, der sie nehmen wollte – wiederum ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zur Stadtbürgerschaft oder die Herkunft. Dies konnte so aussehen, dass in der Nachbarschaft, in der das Findelkind entdeckt worden war, durch informelle Befragungen eine neue Familie gesucht wurde. Manchmal gab es sogar öffentliche Aufrufe verschiedener Art. In einem Fall beauftragte der Innere Rat die Pastoren der Stadt, „am folgenden Sonntag eine Befragung von der Kanzel aus durchzuführen, ob nicht jemand willens sei ein zwei Jahre altes Findelkind aufzunehmen“.15 Es gibt keinen Beleg dafür, dass auch in Nürnberg die berüchtigte Praxis herrschte, die Kinder an professionelle Bettler und andere Personen zu verkaufen, wie es in französischen Findlingsheimen üblich war.16 Es wurde allerdings auch keine Überprüfung derjenigen Erwachsenen durchgeführt, die sich bereit erklärten, die bittstellenden Kinder aufzunehmen. Ebensowenig gab es nachfolgende Kontrollbesuche durch städtische Beamte. Der paternalistische Impuls gewann bei den Magistratsbeamten oft die Oberhand und führte dazu, dass sie die offizielle Unterscheidung zwischen Bürgerschaftsangehörigen und Nicht-Bürgerschaftsangehörigen ignorierten und auch Veranwortung für ungewollte Kinder übernahmen, die nirgends privat untergebracht werden konnten, vor allem wenn es sich um „arme und freundlose“ Findelkinder handelte. Die Richtlinie des Stadtrates, keine auswärtigen Kinder im Findel aufzunehmen, wurde zwar oft wiederholt, aber ebenso wenig in regelmäßiges Handeln umgesetzt wie die Drohung gegenüber nachlässigen Eltern, dass beim nächsten Mal wirklich eine Strafe zu erwarten sei. Nachdem beispielsweise ferner nachfragen ob eins oder Zwen davon ander orten unterzubringen sein möchten“. RV 1868: 27v & 1869: 1v–2r (4 & 14. 4. 1612). 14 Findelkinder Database in Harrington, Unwanted Child (wie Anm. 9), Appendix I (in Folgenden FKD). In Fällen, wo Geschwistern erwähnt wurden: 1049 von 1541 (68.1 %) zwei oder drei Geschwister zur gleichen Zeit angenommen, 199 (12.9 %) vier oder mehr zur gleichen Zeit angenommen, und 172 (11.2 %) nur teilweise angenommen—insgesamt 92.2 %. In 96 Fälle (6.2 %) wurden bis zu zwei Geschwistern abgelehnt und in 25 Fällen (1.6 %) mehr als drei Geschwister abgewiesen. 15 RV 1439: 1r (16 July 1579). 16 David E. Vassberg, Orphans and Adoption in Early Modern Castilian Villages, in: History of the Family 3/4 (1998), S. 445; Kristin E. Gager, Blood Ties and Fictive Ties: Adoption and Family Life in Early Modern France, Princeton 1996, S. 142.

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im Jahr 1616 die beiden Waisen des Vaters Friedrich Pellein, der nicht der Nürnberger Bürgerschaft angehörte, im Findel angenommen worden waren, verfügte der Innere Rat einmal mehr, man solle „in gdenck sein, ohne erhebliche ursach keine frembde zu Burgern anzunemen“.17 Es gab zwar sporadische Versuche, die Exklusionsregel umzusetzen, doch diese blieben die Ausnahme. Vierzehn Jahre später wurden die Nürnberger Handwerksmeister erneut daran erinnert, sich zunächst unter den heimischen von Almosen oder im Findel lebenden Kindern umzusehen, wenn sie einen Lehrling suchten, bevor sie jemanden von außerhalb einstellten, was ein weiterer Hinweis ist für die gängige Tendenz, die offizielle politische Linie zu ignorieren.18 Auch die tagtägliche Interaktion mit diversen Bittstellern offenbarte manchmal die sanftere Seite der Nürnberger Beamten, die im Gegensatz zu den offiziellen Verlautbarungen standen. Der Beschluss, nur in absolut notwendigen Fällen zu intervenieren, kollidierte häufiger mit dem tief empfundenen Mitgefühl beim Anblick der hungernden und leidenden Straßenkinder, von denen viele von außerhalb kamen.19 Es war oft Armut, die als Begründung für die Annahme eines bittstellenden Kindes angegeben wurde. Eine nicht der Bürgerschaft angehörende Großmutter, die großen Kummer darüber bekundete, dass sie zu arm sei, um auch nur eines ihrer drei verwaisten Enkelkinder aufzuziehen, bewegte offenkundig die Herzen der amtierenden Bürgermeister tief, die der Aufnahme aller drei Kinder im Findel zustimmten.20 Uneheliche, ungewollte Kinder von außerhalb lösten gelegentlich in ähnlicher Weise Mitgefühl und Großzügigkeit aus. Nur in Fragen der Religion zeigte sich der Magistrat generationsübergreifend vollständig im Einklang mit der von ihm proklamierten kommunalen Identität.21

17 RV 1924: 38r (12. 6. 1616). 18 RV

4. 5. 1630, neu proklamiert am 9. 3. 1650, auch am 14. 1. 1676. Vgl. 9. 5. 1659; StAN D1/430. 19 Z. B. „dieweil in hohe notturfft, daran zusein das die arme nachdem befelch Gottes gepürlich versorget, und die heufig herumb straifende arme unmündige waysen“; RV 2178 (16. 9. 1635). 2 0 RV 1924: 71r-v, RV 1925: 31v (26. 6. 1616 und 8. 7. 1616). 21 Da die zwei verwaisten Töchter Michael and Magdalena Weiss „gantz keine befreundte“ hätten und ihre Patin schon mit ihren eigenen sechs Kinder beschäftigt sei, hat der Findelpfleger die Schwestern angenommen, auch aus Angst, dass sie von einem möglichen anderen Pflegevater „zur Reformirten Religion gebrachte warden“. Vgl. die Annahme von Matthes Kramer, „damit es nit in Pabstumb kome“ bei einer Pflegemutter; RV 2523: 37r–v (16. 9. 1661); StadtAN D10/3/6: 24 (23. 7. 1624). Handwerkmeister sollten evangelischen Bürgerkindern vor Katholiken als Lehrlingen den Vorzug geben (RV 9. 5. 1659; ­StadtAN D1/430); auch Markus Meumann, Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord und unversorgte Kinder in der Frühen Neuzeit (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 29), München, 1995, S. 282.

Waisen- und Findelkinder im frühneuzeitlichen Nürnberg 477

Im Gegensatz zu den politischen Grundsätzen und der harschen Rhetorik, die der Innere Rat durchgängig vertrat, war die Zahl der Bewilligungen für das Findel recht hoch und betrug im Zeitraum zwischen 1557 und 1670 durchschnittlich 93 %.22 In den Fällen, in denen die Angehörigkeit zur Bürgerschaft erwähnt ist, hatte jedes zehnte der bittstellenden Kinder einen auswärtigen Vater. Die tatsächliche Anzahl lag wahrscheinlich noch weit darüber.23 Wenn bittstellende Kinder doch abgelehnt wurden, hatte der Findelpfleger meistens annehmbare Pflegeeltern gefunden und für finanzielle Hilfe zur Deckung des Unterhalts des Kindes gesorgt. Diese Vorkehrungen konnten nicht gänzlich verhindern, dass die fraglichen Kinder später nicht doch an den Türen des Findels anklopften, doch sie sorgten erfolgreich dafür, dass sich auf den Straßen der Stadt keine elternlosen Kinder mehr herumtrieben. In diesem Sinne leisteten sie der vorrangigen Aufgabe des Magistrats gegenüber allen „armen Waisen- und Findelkinder“ in Nürnberg genüge. Diese beispiellose Großherzigkeit wäre selbstverständlich nicht möglich gewesen ohne die gut gefüllten Nürnberger Staatssäckel (zumindest bis zum dreißigjährigen Krieg). Noch wichtiger war jedoch, dass die Vermittlung von privaten Pflegeeltern, ob sie nun Stadtbürger waren oder nicht, so erfolgreich war, dass sie die Anzahl der Anträge auf Zulassung im Findel drastisch senkte. Von den vielen tausend Nürnberger Kindern aus armen und am Rande des Elends lebenden Haushalten, in denen mindestens ein Elternteil noch am Leben war, endeten zwischen 1560 und 1670 weniger als nur eines von 300 im Findel, hauptsächlich innerhalb eines Zeitfensters von 45 Jahren.24 Dies ist eine erstaunlich geringe Anzahl für eine Stadt mit 40 000 Einwohnern, vor allem wenn man dies mit italienischen und französischen Institutionen aus dieser Zeit vergleicht, die mit zehn- bis zwanzigmal mehr hilfsbedürftigen Kindern konfrontiert waren. Selbst wenn man die anonym ausgesetzten Kinder und Waisen mit hinzurechnet, blieb die Anzahl der ungewollten Kinder, von denen die Nürnberger Behörden Kenntnis hatten, zwischen 1557 und 1670 mit nur 35,2 Kindern jährlich relativ gering.25 Die Praxis der Vermittlung von Kindern im frühneuzeitlichen Nürnberg zeigt eine städtische Gesellschaft, die flexibler und durchlässiger war, als es der „essentialistische und mystische“ Begriff der ‚Gemeinschaft‘ oder die vom Stadtrat

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FKD: 3 650 von 3 935 Fällen, in denen das Ergebnis bekannt ist. FKD: 9.8 % (92 von 936) Fälle, in denen die Herkunft bzw. territoriale Zugehörigkeit von Vätern erwähnt wurde. 24 Ungefähr 3733 bis 5333 Kinder bis zum Alter von 16 in armen Nürnbergischen Haushalten zwischen 1550 und 1670. – In dieser Zeit traten im Durchschnitt jährlich ca. 14,6 eheliche Kinder in das Findelhaus ein, bei denen mindestens ein Elternteil noch am Leben war; vgl. FKD, oder 27–39 % aller armen Kinder der Stadt. 2 5 FKD: Mindestens 3650 bis 3935 Zulassungsbitten, in denen das Ergebnis bekannt ist. 2 3

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oft beschworene Politik gegenüber ungewollten auswärtigen Kindern nahelegt.26 Horizontale Bindungen zwischen Nachbarn und Freunden mit unterschiedlichem Bürgerschaftsstatus oder unterschiedlicher räumlicher Herkunft machten es möglich, die große Mehrheit der Kinder erfolgreich zu vermitteln, ob sie nun Einheimische waren oder nicht, und die meisten der übrig gebliebenen wurden mit behördlicher Unterstützung privat oder im städtischen Findel untergebracht. Dass die Obrigkeit sporadisch durchaus Versuche unternahm, ihrer Politik der Exklusion Geltung zu verschaffen, macht deutlich, dass die Frage der Stadtbürgerschaft nicht gänzlich an Bedeutung verloren hatte, besonders bei denjenigen Stadtvorstehern, die unter ‚Gemeinschaft‘ die Verbindung durch „Leben, Ehre und Eigentum“ verstanden.27 Dass sich, wie hier ausgeführt, die städtischen Behörden in wachsendem Maße um arme, auswärtige Kinder kümmerten, ist jedoch ein Hinweis dafür, dass die Idee der Gemeinschaftsidentität des mittelalterlichen Stadtstaates generell in der Vorstellung der Stadtvorsteher länger überlebte und eine wichtigere Rolle spielte als in den Erfahrungen der Stadtbewohner und ihrer Kinder.

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Besonders wertvoll ist Katherine A. Lynch, Individuals, Families, and Communities in Europe, 1200–1800: the Urban Foundations of Western Society, Cambridge/New York, 2003, S. 4ff. 2 7 Vgl. Mack Walker, German Home Towns: Community, State, and General Estate, 1648–1971, Ithaca 1971, S. 137–142, besonders S. 140 über die wichtigen Unterschiede zwischen Bürger­ gemeinde und Einwohnergemeinde.

Gesa Ingendahl

Antizipierte Bedürftigkeit im Witwenstand. Vom Umgang mit einem Topos I.  „Die arme Witwe“

Ein Aufsatz zu Witwen in der Forschungsdiskussion um soziale Sicherheit der Frühen Neuzeit verspricht zunächst eine nur wenig aufregende Perspektive. Im untersuchten Zeitraum, in dem das „Dasein in steter Unsicherheit der Nahrung“1 ein Grundproblem sozialer Ordnung darstellte, gehören Witwen in Gestalt der ‚armen Witwe‘ zum verlässlichen Personal sozialhistorischer Armutsforschung in einem Erzählrahmen, der wenig Platz für neue Sichtweisen zuzulassen scheint. In nahezu jeder Darstellung zur öffentlichen Armenfürsorge in der Frühen Neuzeit werden Witwen als die „traditionell Armen“ klassifiziert, deren unverschuldete Not in Gemeinschaft mit den Waisen, Blinden und Lahmen zu allen Zeiten paternalistische Caritas und Fürsorge hervorruft.2 Die derart moralisch interpretierten „echten Armen“3 legitimierten, so der Begründungszusammenhang, in der ordnungspolitisch motivierten Wohlfahrtspolitik anschaulich die Bemühungen ‚guter Herrschaft‘ in ihrem zentralen Anliegen, den Gegenpart der ‚unwürdigen‘ Armen in Gestalt arbeitsunwilliger Müßiggänger und Landstreicher scharf abund von aller Unterstützung auszugrenzen. Im historiographischen Bemühen, über die Wohlfahrtspolitik das Zustandekommen von regulativer Staatlichkeit nachzuvollziehen4, gerannen Witwen so quasi nebenbei zu Verkörperungen des Systems von sozialem Ein- und Ausschluss und seinen dazu notwendigen bürokratisch-regulativen Prozessen.5 Demgegenüber belegen die Auswertungen dieser Almosengesuche und Armen­listen ebenso regelmäßig, dass der Status Witwe in der Frühen Neuzeit allein nicht ausreichte, um materielle Bedürftigkeit argumentativ in eine institutionalisierte Unterstützung umzumünzen.6 Weder waren alle Witwen arm, 1

Karl H. Metz, Die Geschichte der sozialen Sicherheit, Stuttgart 2008, S. 23.

2 Robert Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen

Neuzeit, Weimar 2000, S. 2. Jütte, Arme (wie Anm. 2), S. 15. 4 Vgl. Johannes Süßmann, Die Wurzeln des Wohlfahrtsstaats – Souveränität oder Gute Polizey?, in: HZ 285,1 (2007), S. 19–47; für einen Perspektivwechsel vgl. Martin Dinges, Aushandeln von Armut in der Frühen Neuzeit. Selbsthilfepotential, Bürgervorstellungen und Verwaltungslogiken, in: Werkstatt Geschichte 10 (1995), S. 7–15, hier S. 7. 5 Dieser Erzählrahmen spiegelt sich denn auch im vorliegenden Tagungsband wider, in dem Witwen und Waisen exemplarisch in den historiographischen Diskurs sozialer Prekarität eingebunden sind. 6 Vgl. Gesa Ingendahl, Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie (Geschichte und Geschlechter 54), Frankfurt a. M. 2006, S. 225–227; ebenfalls Sigrid Westphal, Die Auflösung ehelicher Beziehungen in der Frühen Neuzeit, in. dies./Inken Schmidt-­Voges/ 3

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noch griff das „Witwen-a-priori“7, das Pamela Sharpe noch in der caritativen Tradition des Mittelalters konstatiert hatte, bei der am Einzelfall orientierten, sozial disziplinierenden Almosenvergabe der Frühen Neuzeit. Witwen mussten sowohl bedürftig als auch arbeitswillig und arbeitsunfähig sein. Selbst ‚Alter‘ war, anders als heute, für sich keine ausreichende Begründung. Es musste ein „abgelebtes“8, ein gebrechliches Alter sein, das alte Menschen, ob Mann oder Frau, aus Leistungsunfähigkeit zu unterstützungswürdigen Armen machte. Auch verarmte Witwen konnten in diesem Verständnis zu ‚unwürdigen Armen‘ werden, denen das Almosen verweigert wurde. Dieser zunächst irritierende Befund lässt sich als ein Diskursphänomen identifizieren, das in seinen wesentlichen Parametern bis ins Mittelalter reicht und sich – den unterschiedlichen gesellschaftlichen Denkhorizonten je angepasst – kulturell, sozial, wirtschaftlich, rechtlich, wissenschaftlich und politisch bis heute im Rahmen eines überzeitlichen und überräumlichen ‚Witwen-Schicksals‘9 entfaltet. Seine Bedingtheit erwuchs aus dem unverschuldeten Verlust des Ehemanns in einer männlich dominierten Welt.10 Über diesen Verlust mit einem existenziellen Mangel behaftet, der halt- und ortlos macht, changierten die Deutungsmuster zu Witwen dialektisch zwischen ohnmächtiger Hilflosigkeit und übermächtiger Bedrohung. Im Topos der „armen Witwe“ oder der schutzbedürftigen „Witwen und Waisen“ kommt dies ebenso zum Ausdruck wie in seiner dialektischen Entsprechung der „reichen Witwe“, doch hat diese ‚reiche‘, die aktiv lebendige Seite längst nicht dieselbe Diskursmächtigkeit erfahren wie sein passiv Hilfe empfangendes Pendant.11

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Anette Baumann, Venus und Vulcanus. Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit (Bibliothek Altes Reich 6), München 2011, S. 163–241, hier S. 202. Pamela Sharpe, Survival Strategies and Stories. Poor Widows and Widowers in Early Industrial England, in: Sandra Cavallo u. a. (Hrsg.), Widowhood in Medieval and Early Modern Europe, Harlow 1999, S. 220–239, hier S. 235. Zum Leistungsdiskurs im Alter siehe Gerd Göckenjan, „Solange uns die Sonne leuchtet, ist Zeit des Wirkens“. Zum Wandel des Motivs Leistung im Alter, in: ders. u. a. (Hrsg.), Alter und Alltag, Frankfurt a. M. 1988, S. 67–99, hier S. 76. Vgl. zum Folgenden Gesa Ingendahl, Elend und Wollust. Witwenschaft in kulturellen Bildern der Frühen Neuzeit, in: Martina Schattkowsky (Hrsg.), Witwenschaft in der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 6), Leipzig 2003, S. 265–280. Zu den vergleichbaren Implikationen in zeitlich und räumlich unterschiedlichen Gesellschaften mit männlicher Hegemonie vgl. Marjo Buitelaar, Widows Worlds, Representations and Realities, in: Jan Bremmer u. a. (Hrsg.), Between Poverty and the Pyre. Moments in the History of Widowhood, London/New York 1995, S. 1–18; weiterführende kunsthistorische Betrachtungen steuert bei Allison Levy (Hrsg.), Widowhood and Visual Culture in Early Modern Europe, Burlington 2003. Vgl. auch Sandra Cavallo/Lyndan Warner, Introduction, in: Cavallo (Hrsg.), Widowhood (wie Anm. 7), S. 3–23, hier S. 6–9.

Antizipierte Bedürftigkeit im Witwenstand 481

Die kulturellen Sinnformationen der Witwe sind verankert im Dispositiv Geschlecht. In allen männlich-hegemonialen Gesellschaften, in denen die gegengeschlechtliche Ehe eine dominante Ordnungsfunktion innehat, repräsentieren Witwen eine sozial auffällige und in der öffentlichen Rede präsente Gruppe. Wo Ehefrauen und ledige Frauen hinter ihren lebenden männlichen Repräsentanten unsichtbar bleiben, ist die fortgesetzte Existenz hinterbliebener Frauen nach dem Tod dieses männlichen Repräsentanten ein viel beachtetes Phänomen mit je unterschiedlichen rechtlichen und sozialen Konsequenzen. Oder, wie es jüngst Siegrid Westphal formulierte, „die frühneuzeitliche Gesellschaft tat sich im Umgang mit Witwen schwer“.12 Witwen galten als „potentielle Störfaktoren“ in einer Gesellschaft, die geschlechterhierarchisch organisiert war und dennoch verwitweten Frauen Herrschaftsräume zugestehen musste, die aus ihrer vormaligen Position als Ehefrauen erwachsen waren. Witwenschaft diskursiv als eine Verkörperung des materiellen wie immateriellen Mangels zu deuten, bietet dann symbolische Orientierung.13 In der Sinnfigur des Mangels konnten die Widersprüche eigenständig männerloser Frauen in der männlich-dominierten Gesellschaft der Frühen Neuzeit kulturell neutralisiert werden. Auf sie verwiesen Theologen, Juristen, Theater- und Romanschriftsteller, Lexikonartikel und Zunftobere, städtische Ratsherren und Fürsten sowie Väter, Mütter, Kinder, Verwandte, Nachbarn, Arme und Reiche und die Witwen selbst. Passgenau akzentuierten darin die je (kon-)textspezifischen Ausdeutungen des Mangels die Vorstellungen über Witwen.14 Normativ-obrigkeitliche Schriften etwa strichen über die Unterstützungswürdigkeit von Witwen wohlfahrtspolitische Alleingeltungsansprüche heraus. Protestantische Trostschriften lassen sich daneben als spezifische Verfechterinnen des elenden und jammervollen irdischen (Witwen-)Lebens ausmachen, während katholische Schriften mithilfe von Witwen die besondere spirituelle Kraft von Keuschheit beschworen. Theater­ stücke, Schwänke und Sprichwörter bewegten sich, dem Genre angemessen, überwiegend im Horizont sexueller Konnotationen und dramatisch wirksamer Treulosigkeit der männerlosen Frauen, wohingegen Lexikonartikel zusätzlich auch rechtliche und soziale Implikationen des Mangels mit aufnahmen. Nicht zuletzt die Bittschriften der Witwen selbst nutzten alle angelagerten Vorstellungen des Witwen-Mangels, um ihren Antrag auf materielle und immaterielle Unterstützungen erfolgreich durchzubringen.15 12

Westphal, Auflösung (wie Anm. 6), S. 233. Zur Orientierungsfunktion kultureller Topoi vgl. Hermann Bausinger, Stereotyp und Wirklichkeit, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 14 (1988), S. 157–170. 14 Vgl. zum Folgenden Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 25f. und S. 78 mit weiteren Belegen. 15 Vgl. ausführlich Gesa Ingendahl, „Eigen-Sinn“ im „Fremd-Sinn“. Ravensburger Witwen in städtischen Verwaltungsakten des 18. Jahrhunderts, in: Daniela Hacke (Hrsg.), Frauen in 13

482 Gesa Ingendahl

Dieses reich ausgestaltete topische Gemälde perpetuieren die historiographischen Erklärungsmodelle der europäischen Armutsforschung, solange in ihnen, trotz aller nachfolgenden Differenzierung, das so wirkmächtige Metonym der „Witwen und Waisen“ argumentativ weiterlebt. Es tradiert schicksalhafte Unausweichlichkeit16 und verdeckt seine Historizität. Denn nicht die verwitweten Frauen allein waren es, die wesentlich die sozial und wirtschaftlich stark beeinträchtigten Menschen in der Frühen Neuzeit stellten, sondern es handelte sich insgesamt um alleinstehende bzw. um ehemannlose Frauen.17 Auch die vermeintlich so schicksalhafte, weil durch den Tod verursachte, Prekarität und Existenzunsicherheit war damit zuvorderst der asymmetrischen Geschlechterordnung geschuldet, die Chancen auf Existenzsicherung in der frühneuzeitlichen Gesellschaft rechtlich, ökonomisch und sozial unterschiedlich verteilte.

II. Sichtbare Witwen

Wenn also Witwen der Frühen Neuzeit keinen selbsterklärenden Beleg staatlicher oder kommunaler Wohlfahrtspolitik zu liefern imstande sind, so kann ihre Bearbeitung doch – im Sinne des Aufsatzauftaktes – ‚aufregend‘ werden. Greift man die besonders auch während der Tagung diskutierten Ansätze einer differenzierten Betrachtung und Historisierung von Sicherheit in frühneuzeitlichen Zusammenhängen auf, so gewinnt das topisch wie empirisch so facettenreiche Deutungsmuster der Witwe in Prekarität heuristisch einen neuen Wert. Verwitweten Frauen wurden, wie verwitweten Männern, als verbliebener Teil der Einheit Ehe die Funktionen beider Eheleute gemeinsam übertragen. Daraus erwuchsen umfassende Stellvertretungsfunktionen, die ihre soziale Aufgabenstellung strukturierten.18 Die geschlechtshierarische Wahrnehmung der Geschlechter wurde hintangesetzt zugunsten der Fortführung des Haushalts mit seinen zentralen Ordnungsaufgaben für das Gemeinwesen.19 Hintangesetzt, jedoch nicht aufgehoben, weshalb der Status der Witwen angesiedelt war in

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der Stadt. Selbstzeugnisse des 16.–18. Jahrhunderts (Stadt in der Geschichte 29), Filderstadt 2004, 165–186. Zuletzt, etwas unvermittelt, Westphal, Auflösung (wie Anm. 6), S. 168. Vgl. dazu ebenso Dinges, Aushandeln (wie Anm. 4), S. 13. Vgl. Heide Wunder, Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: Ute Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997, S. 28–54, hier S. 31; grundsätzlich Gerhard Dilcher, Die Ordnung der Ungleichheit. Haus, Stand und Geschlecht, in: Ute Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. München 1997, S. 55–72, hier S. 60. Zum funktionalen Gebrauch der Geschlechterkategorie siehe Heide Wunder, Normen und Institutionen der Geschlechterordnung am Beginn der Frühen Neuzeit, in: dies./­Gisela ­Engel (Hrsg.), Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit. Königstein 1998, S. 57–78.

Antizipierte Bedürftigkeit im Witwenstand 483

einem Spannungsfeld zwischen Haushaltsvorstand und geschlechtlicher Unter­ ordnung. Ihre Existenz geriet schnell in ein unbehagliches ‚Dazwischen‘, in ein Grenzgängerinnentum mit unsicheren Auswirkungen. Diese Position prädestiniert Witwen zum geschlechtsübergreifenden Exemplum. Während ledige und verheiratete Frauen, hausrechtlich eingebunden, zumeist unsichtbar blieben und nur in Ausnahmefällen als ordnungspolitisches Problem wahrgenommen wurden, musste Witwenbedürftigkeit offensiv beantwortet werden. In christlicher Tradition und als Bürgerinnen und Haushaltsvorstände eines Gemeinwesens hatten sie Anspruch darauf, dass die Obrigkeit ihre Wohlfahrt beförderte und sie wirtschaftlich unterstützte. Mit diesem Anspruch auf Wohlfahrt gingen Witwen als soziale Gruppe gut sichtbar in die Überlieferung ein20 und können detailliert deutlich machen, mit welch vielschichtigem Konglomerat an Vorkehrungen gegen Notzeiten die frühneuzeitliche Gesellschaft ausgerüstet war. Ihre aktive Präsenz im frühneuzeitlichen Ordnungsdiskurs erlaubt zudem, praxeologisch das multiple Interessengeflecht zu untersuchen, das von allen beteiligten Akteuren aus je eigenen Motivationslagen heraus aktiv und offensiv gewebt wurde, um den auch aus zeitgenössischer Perspektive offenkundig bedrohten Lebensumständen verwitweter Frauen wirksam zu begegnen. An ihrem Beispiel lässt sich so das Ineinander und Gegeneinander individueller, familialer, gemeinschaftlicher und institutioneller Maßnahmen aufspüren, mit dem so charakteristisch für die Frühe Neuzeit die Risiken des Lebens und der Existenz versucht wurden zu meistern.21

III.  Witwen in Ravensburg

Der vorliegende Aufsatz wird diese komplexen Zusammenhänge gleichwohl nur ausschnitthaft bearbeiten können. Anhand meiner Untersuchungen zu den Witwen der Reichsstadt Ravensburg – einer kleinen Stadt in der Nähe des Bodensees mit traditionsreich geprägten Handels- und Handwerksstrukturen – möchte ich der Frage nachgehen, wie eine frühneuzeitliche Stadtgesellschaft diese spezifische Bedürftigkeit als Witwe antizipierte. Wie verhielten sich die frühneuzeitlichen „Agenturen sozialer Sicherung“22, sprich die kommunale Armenfürsorge, die Stadt, die Zünfte, die sozialen Netzwerke aus Familien, Verwandt- und Nachbarschaften und die Witwen selbst in und mit ihrer (potentiellen) Existenzunsicherheit?

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Zur exeptionellen Sichtbarkeit von Witwen in frühneuzeitlichen Verwaltungsbeständen siehe Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 57–82. 21 Vgl. dazu den Kommentar von Thomas Sokoll zu dieser Sektion. 2 2 Ebd.

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Die strukturellen Rahmenbedingungen für Witwen im städtischen Umfeld waren ambivalent gestaltet.23 Im zünftischen Handwerk Ravensburgs war es Witwen nicht erlaubt, die Werkstatt allein zu betreiben.24 Durften Handwerksmeister nach dem Tod ihrer Ehefrau Produktion und Vertrieb je nach Kapazitätsvermögen auch als Alleinmeister aufrecht erhalten, waren verwitwete Handwerksmeisterinnen gezwungen, ungeachtet eigener Kenntnisse und Fertigkeiten den Verlust ihres Ehemanns über einen Gesellen zu kompensieren. Dazu war wenigstens ein Minimum an finanziellen Rücklagen notwendig, was im weiteren Lebensverlauf, wie Steuerbücher und Haushaltszählung belegen, vor allem für Weberinnen, Schreinerinnen oder Schuhmacherinnen immer schwieriger wurde.25 Sie konnten ihren Betrieb nur ausnahmsweise längerfristig etablieren, wenn von Beginn der Witwenschaft an genügend Kapital vorhanden war, mit dem Geschäftsführung und Ideen konstruktiv gestützt werden konnten. Witwenbetriebe von Dauer finden sich daher in der Regel nur in kleiner Anzahl und nur in den kapitalkräftigen Gewerben der Schmiede, Bäcker, Metzger oder Müller.26 Im Kleinhandel waren Witwen dagegen vielfältig anzutreffen, gehörten doch Kaufen und Verkaufen im frühneuzeitlichen Gewerbehaushalt zu den genuinen Aufgaben der weiblichen Haushaltsmitglieder.27 Hier jedoch waren nur kleine Verdienstspannen zu erzielen, nicht zuletzt, da rigide Marktordnungen und vielfältige Monopolgrenzen des heimischen Handwerks die unternehmerischen Expansionsbestrebungen beschnitten.28 Im Großhandel dagegen war es üblich, dass Handelsfrauen für die Geschäftsreisen männliche Vertreter einstellten oder einen Rechtsanwalt zahlten, um sich bei ihren Geschäftspartnern zu behaupten. Und suchten sich Witwen außerhalb von Handwerk und Handel zu ernähren, blieben ihnen als Frauen im geschlechtersegregierten Arbeitsmarkt nur weni-

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Zur geschlechtlich organisierten Erwerbstätigkeit in der Frühen Neuzeit immer noch grundlegend Heide Wunder, „Er ist die Sonn, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992; für Ravensburg Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), bes. S. 50–54. 24 Die Regelungen und Beschränkungen verwitweter Frauen im Handwerk waren lokal stark gewerbepolitisch ausgerichtet, dazu unten noch ausführlich; zur Stellung von Frauen im Handwerk im Überblick siehe Christine Werkstetter, Frauen im Augsburger Zunfthandwerk. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse im 18. Jahrhundert (Colloquia Augustana 14), Berlin 2001. 2 5 Vgl. Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 107–114. 2 6 Zu den finanziellen Voraussetzungen von zünftischen Handwerksbetrieben vgl. auch Werkstetter, Frauen im Zunfthandwerk (wie Anm. 24), S. 201–208. 27 Eine anschauliche Schilderung dieses Tätigkeitssegments für Frauen bietet Olwen Hufton, Frauenleben. Eine europäische Geschichte 1500–1800, Frankfurt a. M. 1998, S. 231–234. 28 Beispiele vgl. Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 114–117; Martin Dinges, Stadtarmut in Bordeaux (1525–1675). Alltag, Politik, Mentalitäten (Pariser historische Studien 26), Bonn 1988, S. 80.

Antizipierte Bedürftigkeit im Witwenstand 485

ge und schlechtbezahlte Verdienstmöglichkeiten.29 Nur in einem Punkt griff in Ravensburg die Geschlechterhierarchie nicht: Im Erbrecht galt die Realteilung und wie überall in Realteilungsgebieten wurde geradezu penibel auf die Gleichrangigkeit aller Geschwister geachtet.30 Ebenfalls lässt sich – unabhängig vom vereinbarten Güterstand – beobachten, dass der Nießbrauch der Ehegatten in der gewohnheitlichen Praxis darauf ausgerichtet war, dem oder der Überlebenden unabhängig vom Geschlecht die Fortführung des Haushalts zu ermöglichen, vor allem wenn Kinder vorhanden waren.31

IV. Rollenergänzung und Reziprozität

Vor diesem komplexen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Hintergrund lässt sich eine ganze Reihe von Umgangsweisen mit drohender und gegenwärtiger Bedürftigkeit verwitweter Frauen ausmachen. Ihr Schwerpunkt liegt im Selbsthilfepotential der frühneuzeitlichen Akteure selbst. Da staatlich organisierte Sicherungssysteme weder ausreichten noch als Träger umfassender Existenzsicherung verstanden wurden, sorgten, mit Martin Dinges, „die Menschen selbst dafür, nicht bedürftig, also abhängig von Fürsorgeleistungen Dritter zu werden.“32 Sie griffen dabei zuerst auf verwandtschaftlich33 organisierte Netzwerke und Strategien zurück, mit denen Vorkehrungen gegen Notzeiten getroffen wurden.34 Ihre 2 9

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Vgl. zusammenfassend Jütte, Arme (wie Anm. 2), S. 57. Zur Bedeutsamkeit egalitärer Erbregelungen siehe Jack Goody, Inheritance, Property and Women. Some Comparative Considerations, in: ders. (Hrsg.), Family and Inheritance. Rural Society in Western Europe 1200–1800 (Past and present publications), Cambridge 1976. Vgl. Gesa Ingendahl, Witwenhaushalte in der frühneuzeitlichen Stadt: (k)ein Generationenprojekt, in: Mark Häberlein u. a. (Hrsg.), Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (ca. 1250–1750) (Konflikte und Kultur – historische Perspektiven 20), Konstanz 2011, S. 193–212, hier S. 197f. mit weiterer Literatur; für Österreich Margareth Lanzinger, Ehegütermodelle und Balanceakte, in: dies./Gunda Barth-Scalmani/Ellinor Forster/Gertrude Langer-Ostrawsky, Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich (L’Homme-Archiv 3), Köln/Weimar/Wien 2010, S. 459–467. Dinges, Aushandeln (wie Anm. 4), S. 8. „Verwandtschaft“ subsummiert neben den Mitgliedern der direkten Eltern-Kind-Familie zusätzlich Angehörige wie Schwager- und Schwiegerverhältnisse, die im untersuchten Zusammenhang in Konstellationen gemeinsamer Haushaltsführung ebenfalls zu beobachten sind, vgl. zur Begrifflichkeit Heidi Rosenbaum, Verwandtschaft in historischer Perspektive, in: Michael Wagner u. a. (Hrsg.), Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema (Der Mensch als soziales und personales Wesen 14), Stuttgart 1998, S. 17–33, hier S.18. Zur multidisziplinär arbeitenden Netzwerkforschung vgl. im konzisen Überblick auch für die Vormoderne Heidi Rosenbaum/Elisabeth Timm, Private Netzwerke im Wohlfahrtsstaat. Familie, Verwandtschaft und soziale Sicherheit im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Konstanz 2008, S. 9–22.

486 Gesa Ingendahl

Vereinbarungen wurden im Verlauf der Frühen Neuzeit zunehmend schriftlich über Verträge dokumentiert und dem städtischen Notariat zur Aufbewahrung übergeben.35 Als Ehe- und Erbverträge, Leibgeding- und Pfründkaufverträge sowie Testamente ließen sie zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in sprunghaften Intervallen die Registraturen der freiwilligen Gerichtsbarkeit kommunaler Rechtsabteilungen beträchtlich anwachsen. Immer mehr Menschen begannen in dieser Zeit nicht nur die Möglichkeiten schriftlichen Ausdrucks zu schätzen, sondern auch die Sicherungsfunktionen der städtischen Verwaltung eigenständig wahrzunehmen.36 In der Folge dieses Verschriftlichungs- und Verrechtlichungsprozesses bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gelangten so die für die historische Geschlechterforschung, wie für die Familien- und Netzwerkforschung zentralen Schriftstücke ins Archiv.37 Ihre Überlieferungen machen aus der Sicht der Vertragspartner bedeutsame Willensäußerungen von Einzelnen und Gruppen sichtbar, mit denen sie Interessenkonflikte in Gegenwart und Zukunft gütlich und verbindlich regeln wollten. Sie sind als zweiseitige Vereinbarungen sozial generiert und bahnen als überliefertes Substrat oftmals langdauernder Gespräche, Verhandlungen, Streitigkeiten und Einigungen den historiographischen Weg zur Erforschung von inner- wie außerfamilialen Beziehungsstrukturen und deren Bedeutungszuweisungen.38 Im Zentrum der Aushandlungen stand der familial/verwandtschaftlich organisierte Haushalt. Seine möglichst lückenlose Kontinuität als Garant für politische Ordnung und soziale Existenz hatte oberste Priorität und wurde, wie Michael Mitterauer betont, vor allem mit dem Instrument der synchronen Rollenergänzung versucht zu erhalten.39 Daher hatten nach dem Tod des Ehegatten Witwen wie Witwer die alleinige Vorstandschaft über Haushalt und Besitz. Erb- und Besitzanwartschaften griffen in der Regel erst, wenn die bestehende Lebens- und Wirtschaftseinheit ‚Haus‘ aufgelöst wurde. In der langen oder kurzen Zwischenzeit bildeten sie im Sinne des Goodyschen „relational idiom“ das zentrale dingliche 3 5

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Zur Entwicklung der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Lauf der Frühen Neuzeit vgl. Gerhard Dilcher, Rechtsgeschichte der Stadt, in: Karl S. Bader/ders., Deutsche Rechtsgeschichte. 2. Teil, Berlin/Heidelberg/NewYork 1999, S. 251–827, 593–621. Zum Wandel der Kommunikation vom Mündlichen zum Schriftlichen siehe im Überblick Jens Brockmeier, Literales Bewusstsein. Schriftlichkeit und das Verhältnis von Sprache und Kultur, München 1998. Zur Diskussion um Verrechtlichung als einem kulturellen Produkt sozialen Normhandelns siehe ausführlich Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 78–82. Vgl. David W. Sabean, Property, Production and Family in Neckarhausen, 1700–1870 (Cambridge studies in social and cultural anthropology 73), New York 1990, S. 247–258; jüngst Lanzinger/Langer-Ostrawsky/Barth-Scalmani/Forster, Aushandeln (wie Anm. 31). Vgl. Michael Mitterauer, Mittelalter, in: Andreas Gestrich/Jan-Uwe-Krause/­Michael ­Mitterauer (Hrsg.), Geschichte der Familie (Europäische Kulturgeschichte 1), Stuttgart 2003, S. 160–363, hier S. 299.

Antizipierte Bedürftigkeit im Witwenstand 487

Mittel zum Zweck.40 Mit den ausgehandelten und zugesagten Anwartschaften ­wurde der Verlust der Arbeitskraft des Verstorbenen kompensiert, Unterstützung eingefordert oder Netzwerkverbindungen errichtet und aufrechterhalten. Es war dabei wesentlich die zeitlich gestreckte „Vermittlerqualität von Eigentum“, wie ­David Sabean es nannte41, die diese Vereinbarungen stützte und ein wechselseitiges Netz aus Ansprüchen, Rechten und Erwartungen knüpfte – ob als unmittelbare Übergabe, Teilhabe oder versprochene Anwartschaft, ob als gewohnheitlich zu erwartendes Erbe oder Nießbrauch, ob als vertraglich getätigter Kauf oder Kredit oder als Geschenk. Witwer setzten, wie sich nicht nur anhand der Heiratsverträge Ravensburgs zeigt, ihre Besitzrechte zumeist recht schnell in eine erneute Heirat um.42 Witwen hingegen blieben – gewollt oder ungewollt – in den meisten Fällen unverheiratet.43 Sie mussten das Außergewöhnliche eines unvollständigen Haushalts in einen lebensfähigen Dauerzustand umwandeln. Dazu stand ihnen an vorderer Stelle das gemeinsame Wirtschaften mit erwachsenen Söhnen oder Töchtern zur Verfügung. Meine Untersuchung zum Generationenverhältnis auf der Grundlage einer biographisch verdichteten Bevölkerungszählung vom Ende des 18. Jahrhunderts ließ erkennen, dass gut die Hälfte der dortigen Handwerkswitwen statt mit einem nicht-verwandten Gesellen mit ihren erwachsenen Söhnen oder Töchtern produzierten.44 In Großhandel und Taglohn, im Kleinhandel oder bei Spinnarbeiten lebten und arbeiteten ebenfalls erwachsene Kinder beiderlei Geschlechts im Haushalt der verwitweten Mutter. In materiell armen Haushalten außerhalb von Gewerben mit strikten Geschlechtergrenzen scheinen sogar die Mutter-Tochter-Haushalte überwogen zu haben.45 Zwar sind schriftliche Über 4 0 Esther 41

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Goody, Contexts of Kinship. An Essay in the Family Sociology of the Gonja of Nothern Ghana, Cambridge 1973, S. 3; Goody, Inheritance (wie Anm. 30), S. 19. David W. Sabean, Junge Immen im leeren Korb. Beziehungen zwischen Schwägern in einem schwäbischen Dorf, in: Hans Medick/ders. (Hrsg.), Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen 1984 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 75), S. 231–250, hier S. 232. Vgl. Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 279–285; Margret Pelling, Finding Widowers. Men without Women in English Towns before 1700, in: Cavallo, Widowhood (wie Anm. 7), S. 37–54, hier S. 50. Vgl. Heide Wunder, Wie wird man ein Mann? Befunde am Beginn der Neuzeit (15.– 17. Jahrhundert), in: Christiane Eifert u. a. (Hrsg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel, Frankfurt a. M. 1996, S. 122–155, hier S. 124. Vgl. Ingendahl, Witwenhaushalte (wie Anm. 31), S. 201–204, dort auch zur ausnahmsweisen handwerklichen Produktion mit erwachsener Tochter. Vgl. auch Josef Ehmer, Ökonomische Transfers und emotionale Bindungen in den Gene­ rationenbeziehungen des 18. Und 19. Jahrhunderts, in: Martin Kohli u. a. (Hrsg.), Generationen in Familie und Gesellschaft (Lebenslauf, Alter, Generation 3), Opladen 2000, S. 77–96, hier S. 77.

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einkünfte hier äußerst selten, doch lassen sich Hinweise auf gemeinsame MutterTochter-Haushalte durch obrigkeitliche Regelungen verdichten. Besonders unter den Lohnarbeiterinnen gab es etliche Haushalte, in denen Mütter und Töchter gemeinsam in Heimarbeit nähten, flickten oder spannen. Trotz der gemeinsamen Anstrengung war ihr Verdienst meist zu gering, um sich davon ernähren zu können. Immer wieder mussten sie bei der städtischen Armenfürsorge um zusätzliche Unterstützung nachsuchen.46 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts änderte sich jedoch die Armenpolitik der Stadt.47 Nun stand nicht mehr ausschließlich die geringwertige Hilfe zur Selbsthilfe im Vordergrund. Zusätzlich wurde die kommunale Almosenvergabe mit einer neuen Form geschlechtsspezifischer Sittlichkeitspolitik verknüpft.48 Insbesondere Haushalte von Müttern mit erwachsenen Töchtern wurden verdächtigt, dem Müßiggang, der Prostitution und der Bettelei nachzugehen. Sie mussten vor Gericht verantworten, warum ihre Töchter bei ihnen wohnten, anstatt „an einen Dienst zu gehen“, wie es hieß.49 Die verwitweten Mütter gaben an, sie seien bereits alt und gebrechlich und benötigten die Hilfe ihrer Töchter „zum Holzklauben und anderer nöthiger Aushülfe“. Andere sagten aus, die Töchter trügen mit Nähen oder Sticken zum Lebensunterhalt bei. Doch diese Erklärungen nutzten nichts. Die gemeinsamen Haushalte wurden aufgelöst und die Töchter aus der Stadt in ein auswärtiges Dienstverhältnis geschickt. Den bedürftigen Müttern wurde als Ausgleich das Almosen erhöht. Vorher waren sie in der Lage gewesen, sich in einer Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft mit Unterstützung der Töchter kümmerlich selbst zu ernähren und nur von Fall zu Fall um Almosen nachzusuchen. Jetzt waren sie allein und wurden existenziell von städtischer Wohlfahrt abhängig. Witwen setzten, soviel wird nicht zuletzt aus diesem ausführlich dargestellten Konflikt zweier „Agenturen der sozialen Sicherheit“, der kommunalen Armenfürsorge und dem familialen Netzwerk, deutlich, nach dem Tod des Ehemanns auf die gemeinsame Arbeit mit einem oder mehreren ihrer Kinder. Ihr Beziehungsverhältnis war eindeutig, darauf verweist die semantische und semiotische Analyse der Verträge, auf die dauerhafte Vorstandschaft der verwitweten Mütter hin ausgerichtet.50 Das Orientierungsmuster der Rollenergänzung unterstützte Witwen darin, die Kontinuität des Haushalts aus der gegenwärtigen Besetzung heraus zu denken und im Alltag zu leben, indem sie ihre erwachsenen Kinder nach ihren Fähigkeiten einbanden und durch ihre abhängige Mitarbeit 4 6 Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 126. 47 Ebd. S. 227.

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Vgl. Merry E. Wiesner, Working Women in Renaissance Germany, New Brunswick, New Jersey 1986, S. 6. 49 Stadtarchiv Ravensburg StARV Bü 1720–1722, die Jahre 1780–1800, zitiert in Ingendahl, Witwenhaushalte (wie Anm. 31), S. 205. 5 0 Vgl. Ingendahl, Witwenhaushalte (wie Anm. 31), S. 203–210 mit weiterer Literatur.

Antizipierte Bedürftigkeit im Witwenstand 489

die Arbeitskraft des verstorbenen Ehemanns kompensierten. Im Gegenzug waren die Beteiligten jedoch bemüht, das Verhältnis nicht konkurrent, sondern reziprok ausgleichend zu gestalten.51 Sie gingen dabei antizipatorisch vor und berücksichtigten zukünftig zu erwartende Bedürfnisse. Doch strukturiert wurden ihre Aushandlungen von der jeweilig vorfindlichen Situation.52 Je aus den momentanen personalen oder besitzrechtlichen Konstellationen wurde das zunächst Notwendige und Gewünschte vereinbart und optional in die Zukunft verlängert. Neben dem oben erwähnten Sohn als Geselle im Handwerksbetrieb der Witwe oder einer sorgfältig austarierten Juniorpartnerschaft eines jungen Ehepaars in einem weitverzweigten Handelsunternehmen konnte es sich dabei im Verlauf eines langen Lebens schließlich auch darum handeln, den Besitz an die Nachkommen ab- und weiterzugeben.53 Dann waren es das beibehaltene Wohnrecht, die aktive Mitarbeit im Haushalt der Kinder oder auch der Beitrag aus der Almosenkasse, die sicher stellten, dass die verwitwete Mutter ein vollwertiges Mitglied des Haushalts blieb und darauf rechnen konnte, bis zu ihrem Tod akzeptiert und gepflegt zu werden. Dass es dabei zu Auseinandersetzungen kam oder die eine und andere Seite vergeblich auf eine adäquate Gegenleistung hoffte, war nicht ausgeschlossen. Die Parteien waren sich der Fragilität des gemeinsamen Wirtschaftens bewusst, denn sie setzten zunehmend auf die schriftliche Versicherung im Heiratsvertrag. Doch wählten sie diese gemeinsame Wohn- und Wirtschaftsform, weil sie eine anerkannte und etablierte Option zur langfristigen Existenzsicherung in der frühneuzeitlichen Gesellschaft war. In geringerem Maß sind ähnliche Vereinbarungen zur Rollenergänzung auch unter Nicht-Verwandten überliefert, zumeist, um eine Alterspflege mit einer zukünftigen Erbschaft abzusichern. Doch lag es nahe, sich mit solchen Anliegen zuerst an die eigenen Kinder und deren angeheiratete Partner zu wenden. Ihnen würde eines Tages ein Teil des familialen Besitzes zufallen – warum also dafür nicht zu Lebzeiten eine Gegenleistung verlangen?

V. Witwen-Vergünstigungen

Es war ein wechselseitig bezügliches Netzwerk, das, weil materiell wie immateriell abgesichert und sogar vor Gericht verwendbar54, als durchaus stabil wahrgenommen wurde. Um es stabil zu halten und auf Dauer zu stellen, wurden ergänzend bei Bedarf die obrigkeitlichen Unterstützungsangebote hinzugezogen. Im Spek­ 51

Zum Prinzip der Gegenseitigkeit als wesentliches Kriterium informeller Netzwerkbindungen vgl. im Überblick Rosenbaum/Timm, Netzwerke (wie Anm. 34), S. 87. 5 2 Vgl. auch Lanzinger, Heiratsverträge (wie Anm. 31), S. 20. 5 3 Vgl. Ehmer, Ökonomische Transfers (wie Anm. 45), S. 96. 5 4 Zu den Gültigkeiten schriftlicher Vereinbarungen aus Freiwilliger Gerichtsbarkeit in der Frühen Neuzeit s. ausführlich Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 253–258.

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trum der Daseinsfürsorge frühneuzeitlicher Städte hatten Witwen im Bürgerrecht Anspruch auf alle unterstützenden und schützenden Maßnahmen der städtischen Regierung, Verwaltung und Gerichte.55 Witwen konnten sich auf Antrag von den Abgaben an die Stadt befreien lassen und sie waren, wie bereits erwähnt, berechtigt, bei Bedürftigkeit Almosen zu beantragen. Diese Maßnahmen und ihre sozialdisziplinierenden Kriterien teilten sie mit allen anderen bedürftigen ‚würdigen‘ Armen der Stadt. Tatsächlich witwenspezifische obrigkeitliche Unterstützungsmaßnahmen begannen im untersuchten städtischen Gefüge erst oberhalb materieller Almosenbedürftigkeit. Auch hier folgte man dem normativ wirksamen Muster der Selbsthilfe und förderte Witwen in ihrer Rolle als Haushaltsvorstand. Dabei standen in Ravensburg diejenigen Maßnahmen im Vordergrund, die sich an den spezifischen Lebens- und Wirtschaftsverhältnissen zünftisch eingebundener und gewerblich im Handel tätiger Bewohnerinnen und Bewohner der Reichstadt orientierten. Die älteste dieser Maßnahmen, eine privilegierte Lizenz zum Lebensmittelkleinhandel, soll kurz beschrieben werden, da sie den Horizont der Hilfen präzise umreißt.56 Das Privileg gehört zu den ersten gewerbepolitischen Regelungen der mittelalterlichen Stadtwirtschaft und war bis ins 19. Jahrhundert unverändert wirksam. Seine stets begehrte Lizenz konnte unentgeltlich beantragt werden von Witwen, die oberhalb der Almosengrenze noch über genügend finanzielle Mittel für einen Kleinhandel mit Waren des täglichen Bedarfs verfügten. In beschränktem Maße und gegen eine Gebühr wurde sie auch anderen städtischen Einwohner/innen zugestanden, die dem Kriterium „minderer Vermöglichkeit“ entsprachen. Arme Witwen und arme ‚Nicht-Witwen‘ waren hier in ihrer Hilfsbedürftigkeit gleich gestellt, doch wurden arme Witwen ihres Standes wegen bevorzugt behandelt. Dies unterstützte sie in der traditionell weiblich konnotierten Kompetenz des Kaufens und Verkaufens. Für materiell Schlechtgestellte war zudem der Lebensmittelkleinhandel sehr geeignet, der mit nur geringem Kapital ein leidliches Auskommen ermöglichte. Das Witwen-Privileg war demnach genau an der Stelle platziert, an der Frauen kulturell und wirtschaftlich eigenständig waren. Es ermöglichte ihnen, ihre erworbenen Kompetenzen anzuwenden und schrieb zugleich einen äußerst geringen und geringwertigen Radius fest, innerhalb dessen agiert werden konnte. Auch eine weitere städtische Vergünstigung fußte auf den erworbenen Kompetenzen der Witwen. Sie privilegierte Handwerkswitwen, sich auf Antrag von 5 5

Vgl. ebd. S 140–150; allgemein vgl. Andrea Löther, Unpolitische Bürger. Frauen und Partizipation in der vormodernen praktischen Philosophie, in: Reinhart Koselleck u. a. (Hrsg.), Bürgerschaft. Rezeption und Innovation der Begrifflichkeit vom Hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert (Sprache und Geschichte 22), Stuttgart 1994, S. 239–273. 5 6 Vgl. Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 227–230.

Antizipierte Bedürftigkeit im Witwenstand 491

der zünftischen Wanderpflicht für ihre Söhne befreien zu lassen57 und förderte damit die oben ausgewiesene soziale Praxis des gemeinsamen Wirtschaftens mit erwachsenen Kindern. Als Förderkriterium war ein Mangel ausschlaggebend, der nicht materiell war, sondern daraus resultiert, dass Handwerkswitwen in Ravensburg personell abhängig waren von Gesellen, um ihren Betrieb führen zu können. Gewährt wurde das Privileg entweder kostenlos oder, bei einigem Vermögen, gegen eine recht hohe Gebühr. Ursprünglich nur für Witwen in die Stadtrechte eingeschrieben, konnte es in der Praxis auch von anderen Bürgern in Anspruch genommen werden, denen die Arbeitskraft ihrer Söhne fehlte. Neben diesen beiden Witwen-Privilegien, die von Obrigkeit wie Bevölkerung gleichermaßen akzeptiert waren, stieß das Privileg erleichterter Einheirat in die Stadt mit verwitweten Frauen auf Akteursseite auf ein geteiltes Echo.58 Obrigkeitlich galt die erneute Eheschließung als das probateste Mittel zur Wiederherstellung einer existenzsichernden Ordnung. Um dies zu erreichen, wurde Einheiratenden nicht nur die Bürgerrechtsgebühr nachgelassen oder sogar ganz erlassen und überhaupt vom Nachweis eines materiellen Vermögens abgesehen, um in der Stadt aufgenommen zu werden. Zudem war es in manchen Handwerken zum Ende des 18. Jahrhunderts unmöglich, ohne eine Eheschließung mit einer Witwe in die Zunft aufgenommen zu werden59, weshalb sich die Zunft in Einzelfällen sogar als aktive Heiratsvermittlerin betätigte. In diesem Kontext von Heiratsbeschränkungen, immer restriktiver werdenden Bürgeraufnahmen und kontingentierten Meisterzulassungen stellten privilegierte Wieder- und Einheiraten demnach ein besonders wirkungsvolles ordnungspolitisches Instrument dar, mit dem nachhaltig die Auffassung gestützt wurde, dass ein ‚unvollständiger‘ Hausstand nur mangelhaft für wirtschaftliche Sicherheit sorgen konnte. Im normativen Diskurs erscheint die erleichterte Einheirat in Stadt und Gewerbe ausschließlich über die absichtsvolle Nadelöhrfunktion zum zünftischen Werkstatterwerb für Gesellen. In der städtischen frühneuzeitlichen Einbürgerungspraxis erwies sich jedoch das Privileg der erleichterten Einheirat als gültig für Ehepartner von Witwen und Witwern gleichermaßen. Wie Eheregister und Ratsprotokolle dokumentieren, öffnete eine Ehe mit verwitweten Bürgerinnen und Bürgern die Stadttore und Zunftschranken für diejenigen, die sonst rigide ausgeschlossen waren. Insbesondere arme, ledige junge Frauen vom ländlichen Umland der Reichsstadt erheirateten sich so die Teilhabe an einem vollständigen Haushalt und dessen materieller und

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Vgl. ebd., S. 230–232. Vgl. ebd., S. 232–239; zum jahrhundertlangen Diskurs um Wiederheirat allgemein siehe die Registereinträge mit vielen Verweisen bei Cavallo (Hrsg.), Widowhood (wie Anm. 7). 59 Zur aktiven Witwenpolitik durch Geselleinheirat in geschlossene lokale Handwerke vgl. Wunder, Sonn (wie Anm. 23), S. 182

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immaterieller Ausstattung.60 Für Witwen war das Instrument ebenfalls eine notwendige Vorkehrung. Ihre in den Eheregistern ohnehin nur selten dokumentierten Ehen61 schlossen sie häufig, wenn nicht überwiegend mit Neubürgern. Während die nicht verwitwete Hochzeitsklientel durchweg Einheimische bevorzugte, mussten die Heiratskreise Verwitweter beiderlei Geschlechts wesentlich größer und mit Vergünstigungen ausgestattet sein, um die offensichtlich bestehenden Vorbehalte gegen eine Wiederheirat zu überwinden. Mit dem Konzept der Witwenkassen von Pfarrern und Beamten nahm am Ende des 18. Jahrhunderts dann ein neuartiges sozialpolitisches Instrument seinen Anfang.62 Zunächst noch weniger witwen- als gebrechlichkeitsspezifisch orientiert, bezogen die ersten Versuche einer kapitalgedeckten Unterstützungskasse ebenso „invalide Herrn Prediger“ wie „bedörftige Witwen“ ins Konzept ein.63 In mehreren Anläufen wurden die Witwenkassen im Lauf des 18. Jahrhunderts jedoch zu einer exklusiven Einrichtung eines gesellschaftlich bedeutender werdenden Berufsstandes mit neuer Akzentsetzung. Dies lässt sich in Ravensburg besonders eindrucksvoll nachvollziehen. Dort gehörten die Pfarrwitwen wie die Witwen der mit „Gnadengehältern“ bedachten hinterbliebenen Ehefrauen verstorbener Stadträte und hoher Beamter zu den Familien wohlhabender Honoratioren. Ihre Konnotation als Hinterbliebene wurde zunehmend zum Movens der Unterstützung. Das garantierte am Ende des Jahrhunderts schließlich auch wohlhabenden Witwen eine Zahlung „in Rücksicht auf die vielfältig erworbenen Verdienste ihres wohl seeligen Eheherren, wie den andern Pfarrers Wittfrauen“.64 Witwenkassen entwickelten sich zu exklusiven Pensionskassen, mit der der Arbeitgeber, wie Bernd Wunder zusammenfasste, „die Dienste der Väter an ihren Hinterbliebenen belohnte“.65 Ihre Anspruchsberechtigungen machten sie zum Mittel der Distinktion, mit dem das beamtete Bürgertum sich vom traditionellen Stadtbürgertum abgrenzte.

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Zum Phänomen der „Hypergamie“ vgl. Sabean, Property (wie Anm. 38), S. 236. Wie anderswo heirateten in Ravensburg Witwen nur halb so häufig wie Witwer ein weiteres Mal, vgl. die Auszählung der Eheregister bei Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 233f. Zur Entwicklung von Witwenkassen vgl. Eve Rosenhaft, “But the heart must speak for the widows.” The origins of life insurance in Germany and the gender implications of actuarial science, in: Ulrike Gleixner u. a. (Hrsg.), Gender in Transition. Discourse and Practice in German-Speaking Europe 1750–1830 (Social history, popular culture and politics in Germany), Ann Arbor 2006; S. 90–113; siehe auch den Beitrag von Eve Rosenhaft in diesem Band. Vgl. Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 240–249. Stadtarchiv Ravensburg, Bü 1703b, 11. 4. 1792, zit. in Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 249. Bernd Wunder, Pfarrwitwenkassen und Beamtenwitwen-Anstalten vom 16.–19. Jahrhundert. Die Entstehung der staatlichen Hinterbliebenenversorgung in Deutschland, in: ZHF 12 (1995), S. 429–498, hier S. 471.

Antizipierte Bedürftigkeit im Witwenstand 493

VI. „Witwenrechte“

In der Reihe der vorgestellten institutionalisierten Witwen-Vergünstigungen fehlt eine hierunter bislang selbstverständlich subsumierte Regelung: die unter dem Obertitel „Witwenrechte“ bekannten zünftischen Artikel in Handwerksordnungen. Ihre vielfältigen Inkongruenzen lassen es geraten erscheinen, sie nicht als Witwen-Vergünstigungen zu charakterisieren, obwohl die unter diesem Titel zusammengestellte Sammlung disparater Einzelbelege aus den Archiven zwischen Kiel und Wien, Danzig und Köln vom 13. bis zum 19. Jahrhundert in der nationalökonomisch argumentierenden frühen Handwerksforschung als besonders schlagkräftiger Beweis für die genossenschaftliche Fürsorglichkeit des deutschen Handwerks galt.66 „Aus der Überzeugung heraus“, so beschrieb es etwa Rudolf Wissell 1929, „dass die Mitglieder eines Handwerks eine große Gemeinschaft seien, erwuchs auch die Pflicht, der Witwe eines Zunftmeisters nach Möglichkeit die wirtschaftliche Lage zu erleichtern.“67 Geschlechtergeschichtliche Forschungen wiesen diese Fürsorglichkeit zurück und entschlüsselten stattdessen die verstreut überlieferten Fragmente als Zeugnisse eines funktional ausgerichteten Konzepts, in dem Witwen die Werkstatt als „Platzhalterinnen“68 fortführten, bis die männliche Ordnung in der Werkstatt wiederhergestellt war. Wieso diese Überbrückungsfunktion der Witwen jedoch lokal und zeitlich unterschiedlich einmal begrenzt oder behindert wurde und zu anderen Zeiten wieder aufgehoben war69, dies erhellt die konsequente lokale Kontextualisierung einzelner Überlieferungen in mediengeschichtlicher wie wissensanthropologischer Perspektive. Danach lassen sich die verschiedenen schriftlichen Fragmente noch einmal anders gewichten. Statt nur die Überbrückung zu regeln, dokumentieren ihre disparaten Äußerungen die kondensierte Praxis im Moment aktueller Problemlösungen als ein situatives Substrat einander widerstreitender Interessen im Rahmen der Professionalisierungsbestrebungen des Handwerks durch die Jahrhunderte.70 In 6 6

Vgl. etwa Rudolf Wissell, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, Bd. 2, (zuerst 1929) 2. Aufl. Berlin 1971, S. 435. 67 Ebd., S. 435. 6 8 Katharina Simon-Muscheid, Frauenarbeit und Männerehre. Der Geschlechterdiskurs im Handwerk, in: dies. (Hrsg.), „Was nützt die Schusterin dem Schmid?“ Frauen und Handwerk vor der Industrialisierung, Frankfurt a. M./New York 1998, S. 13–55, hier S. 29. 6 9 Für Belege für lokal und zeitlich wechselnde Beschränkungen und Aufhebungen vgl. die umfassende Sammlung an Regelungen von Peter-Per Krebs, Die Stellung der Handwerkswitwe in der Zunft vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Regensburg 1974, bes. S. 75–83. 70 Vgl. Gesa Ingendahl, „(…) und ihr das Handwerk fortzusetzen vergönnet seyn.“ Witwenbetriebe in Handwerksordnungen am Beginn der Moderne, in: LWL-Freilichtmuseum Hagen (Hrsg.), Frauen im Handwerk. Perspektiven der Forschung. Beiträge der Tagung im LWL-Freilichtmuseum Hagen vom 13. – 14. November 2008, Hagen 2009, S. 47–57, im Anschluss an Anne-Marie Dubler, Entstehung und Wesen der ‚Handwerksordnung‘ in

494 Gesa Ingendahl

dieser Lesart war die stellvertretende Betriebsführung durch Witwen aus dem Haushaltskonzept des ‚Ehepaars als Arbeitspaars‘ heraus selbstverständlich und insbesondere für das zünftische Handwerk identitätsstiftend.71 Mit den vielerorts zu verschiedenen Zeiten angeordneten und wieder aufgehobenen Fristen für die Stellvertretung oder die verbindliche Anwesenheit männlicher Gesellen wurde dagegen der gewerbepolitische Anspruch unterstrichen, dass nur männlich zünftische Ausbildung die zertifizierte Güte des Produkts rechtfertigte. Dieser Spagat zwischen Handwerksidentität und Professionalisierung wurde mit dem Wandel des Geschlechterverständnisses immer erklärungsbedürftiger. Hatte es vorher genügt, Witwenwerkstätten in Handwerksordnungen lediglich affirmativ zu nennen – wenn sie denn überhaupt erwähnt wurden – brauchte es zu anderen Zeiten oder in anderen Situationen handwerklicher Selbstbehauptung ausführliche, erklärende Artikel, Rechtfertigungen oder Gunsterweise. Was sich in der gesamten Zeit dagegen nicht änderte, waren die wirtschaftlichen und sozialen Existenzbedingungen der Witwenwerkstätten. Es waren je die eigenen Fähigkeiten, die finanzielle Ausstattung, die gewerbliche Standfestigkeit und der soziale Rückhalt von Familie und Zunft, dank denen von Witwen geleitete Betriebe florierten oder in Konkurs gingen, mühsam die Existenz aufrechterhielten oder zu Großbetrieben expandierten.72 Fortführungsregelungen in Handwerksordnungen sind damit Teil eines spezifischen gesellschaftlichen Diskurses um Beruf und Geschlecht der Frühen Neuzeit. Wieso dieser Diskursausschnitt in der Historiographie so prominent als übergreifende „Witwenrechte“ tradiert wurde, soll abschließend mithilfe wissensanthropologischer und archivtheoretischer Überlegungen skizziert werden.73 Diese Sichtweise berücksichtigt zusätzlich die materiale Dinglichkeit der überlieferten Handwerksordnungen. Ihre repräsentative formale Gestaltung sowie ihre archivische Klassifizierung als Urkunde machen Handwerksordnungen zu Schriftstücken, die über den Inhalt hinaus ihre Richtigkeit mit semiotischen Geltungscodes

der deutschsprachigen Schweiz, in: Itinera 14 (1993), S. 57–65; Josef Ehmer, Traditionelles Denken und neue Fragestellungen zur Geschichte von Handwerk und Zunft, in: Friedrich Lenger (Hrsg.), Handwerk, Hausindustrie und Historische Schule der Nationalökonomie, Bielefeld 1998, S. 19–77. 71 Vgl. Lyndal Roper, Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation (Geschichte und Geschlechter), Frankfurt a. M. 1995, S. 41; das Fortführungsrecht behielt bis heute seine identitätsstiftende Funktion im Handwerk. Abgeschafft wurde es, gegen den Willen der Handwerkskammern, erst im Jahr 2004, vgl. Ingendahl, Witwenbetriebe in Handwerksordnungen (wie Anm. 71) S. 56. 7 2 Vgl. Ingendahl, Witwen (wie Anm. 6), S. 114; ebenso die Ergebnisse bei Werkstetter, Frauen im Zunfthandwerk (wie Anm. 24), S. 202–208. 7 3 Dies kann hier nur angerissen werden, ausführlich dazu Gesa Ingendahl/Lioba KellerDrescher, Historische Ethnographie. Das Beispiel Archiv, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 106 (2010), S. 241–263.

Antizipierte Bedürftigkeit im Witwenstand 495

garantieren. Urkunden gelten in der Überlieferung als „geltungsautark“74, da über Präambel und Narratio aus sich selbst heraus verständlich. Sie sind unzweifelhaft archivwürdig75 und gehören dadurch in nahezu allen Archivbeständen zu den am besten zugänglichen und glaubwürdigsten Quellen. Das macht sie semiotisch zu wirkmächtigen Zeitzeugen erster Klasse, zu eigenen Akteuren im Feld der historischen Forschung. Es verleiht ihren Dokumenten den Charakter einer bedeutungsstarken „Machtgebärde“76, der nachhaltig auf den historischen Forschungsprozess einwirkt. Obwohl ihre Artikel – entgegen der Anmutung – weder inhaltlich vollständig noch in sich kontextualisiert sind, obwohl sie sich weder lokal noch situativ umstandslos vergleichen lassen, wird ihren Aussagen mehr geglaubt als lang erprobten quellenkritischen Verfahren77, bis ihre nicht zueinander passenden Fragmente weit verstreuter Herkünfte zu übergreifend gültigen Beweisen für „Witwenrechte“ erstarren.

VII.  Gesellschaftsstabilisierende Prekarität der Witwen

Die hier vorgestellten Überlegungen bieten folgendes Fazit: In der Vormoderne existierte ein ausdifferenziertes Netz reziproker Beziehungen vornehmlich verwandtschaftlicher Prägung. Es antizipierte Bedürftigkeit aller seiner Mitglieder über materielle Anwartschaften und Teilhabe und es gewährte Verlässlichkeit über den bewussten Umgang mit seiner Fragilität. Witwen waren selbstverständlich agierender Teil dieses Beziehungsnetzes und gleichzeitig belastet von mehrfacher Prekarität: Nicht nur lebten sie in einer Zeit verstärkter Unsicherheit, sondern sie hatten zudem nur wenig sozialen und wirtschaftlichen Spielraum, diese auszugleichen. Denn die an sie adressierten institutionalisierten Maßnahmen zur Selbsthilfe affirmierten zuvorderst die geschlechtliche und gesellschaftliche Ordnung, obwohl darin für das „Dazwischen“ des Witwenstands nur bedingt Platz war. Die reale Not verwitweter Frauen, die daraus entstand, wurde kulturell über die Deutung der ‚armen Witwe‘ mit paternalistischer Caritas abgefedert. Sie legitimierte die strukturelle Unsicherheit durch das Versprechen auf Schutzwürdigkeit und festigte die herrschende Geschlechterhierarchie.

74

Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a. M. 2000, S. 129. Vgl. Michael Hochedlinger, Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit (Historische Hilfswissenschaften), München/Wien 2009, S. 28. 76 Vismann, Akten (wie Anm. 74), S.128. 7 7 Vgl. dazu die anregende Antrittsvorlesung von Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: HZ 240 (1985), S. 529–570. 75

Sebastian Schmidt

Zu Repräsentationen von Armut und sozialer Sicherheit sowie den institutionellen Fürsorgepraktiken im Kurfürstentum Trier Die Frage nach dem Umgang mit Armen und sozialer Sicherheit zielt auf das zentrale Selbstverständnis von Gesellschaften. Sie berührt nicht nur grundlegende ethisch-moralische Überzeugungen, sondern ebenso politisch-soziale Ordnungsfragen. So ist auch die Frage nach der Einschätzung der Unruhen in London 2011, insbesondere Tottenham, wie sie etwa von Hans Georg Soeffner und Oliver Nachtwey in der FAZ konträr diskutiert wurde, nicht nur eine rein akademische Frage, sondern eine, die für die Konstituierung von Gesellschaft fundamental ist.1 Die Furcht davor, dass die Unzufriedenheit mit der sozialen Lage ein Gemeinwesen gefährdet, ist allerdings nicht allein ein Grundgedanke moderner, Gleichheitsgrundsätzen verpflichteter Demokratien, sondern war ebenso Bestandteil der Armutsdiskurse vormoderner, ständisch-stratifizierter Gesellschaften. So ließ bereits zu Beginn der Frühen Neuzeit Thomas Morus in seiner Schrift „Utopia“ einen seiner Protagonisten erklären, dass gerade diejenigen am eifrigsten auf Umsturz sinnen würden, denen ihre Lebensverhältnisse ganz und gar nicht gefallen würden und die nichts zu verlieren hätten. Diese armen Untertanen zu unterdrücken würde aber jeder Herrschaft ihre Majestät rauben. „Denn es ist eines Königs nicht würdig, über Bettler zu herrschen, sondern vielmehr über Wohlhabende und Glückliche.“2 So ist es sicherlich ein Kennzeichen der Frühen Neuzeit, dass man sich mit der allmählichen Loslösung von einer stratifizierten hin zu einer funktional differenzierten Gesellschaft die Frage nach dem Zusammenhang von sozialer Ungleicheit und legitimer Herrschaft intensiviert stellte. Wie der Soziologe Armin Nassehi entsprechend verallgemeinernd feststellt, ist es „die Bearbeitung legitimer oder eben nicht tolerierbarer sozialer Ungleichheiten, die den semantischen Haushalt der frühen Moderne geprägt hat“ und auch Einfluss auf die Praxis hatte – hier

1

Vgl. die Diskussion bei Hans-Georg Soeffner, Englands Staatskrise. Der natürliche Mensch in Tottenham. Großbritannien als eine Gesellschaft ohne Vertrag: Der neue Große Brand von London brach aus, weil der Staat keinen Schutz mehr bietet und darum keinen Gehorsam mehr erfährt, in: FAZ vom 17. August 2011; Oliver Nachtwey, Plasmabildschirme wollen auch sie. Hat sich in den Londoner Krawallen wirklich der „natürliche Mensch“ gemeldet, um gegen den Staat zu protestieren? Zur amoralischen Ökonomie der Revolte, in: FAZ vom 30. August 2011. 2 Thomas Morus, Utopia, in: Klaus J. Heinisch (Hrsg.), Der utopische Staat (Philosophie des Humanismus und der Renaissance 3), 26. Aufl. Reinbek 2001, S. 7–110, S. 40.

Fürsorgepraktiken im Kurfürstentum Trier 497

jedoch mit einer „erstaunlichen Toleranz für radikale soziale Ungleichheitsgefälle“.3 Die sich neu herausbildende Literaturform der Staatsutopie war zum einen Ausdruck dieses intensivierten Diskurses, zum anderen aber auch das konkrete Reformprogramm des Fürsorgewesens, wie es zu Beginn des 16. Jahrhunderts in ganz Westeuropa greifbar wird.4 Wie wurde nun dem Themenkomplex ‚soziale Sicherheit und Armut‘ im Kurfürstentum Trier Rechnung getragen und wie gestalteten sich die Semantiken und Praktiken konkret? Dies soll im Folgenden knapp und thesenartig für die Zeit von 1500 bis 1795 gezeigt werden. Für die Residenzstadt Trier konnte Wolfgang ­Laufer anhand der Steuerlisten bei den im Jahr 1624 steuerlich erfassten Einwohnern der Stadt einen Anteil von 51,9 % berechnen, die einer Schicht zuzurechnen sind, die so wenig besaßen, dass sie von der Hand in den Mund lebten und kaum Rücklagen bilden konnten.5 Sie gehörten damit entweder zu den besitzlosen Armen oder zur großen Gruppe derjenigen, die jederzeit drohten, in Armut zu fallen. Letztere rechnet Laufer der ‚unteren Mittelschicht‘ bzw. ‚bürgerlichen Armut‘ zu, deren Gewerbeeinkünfte bzw. beweglicher Besitz sich auf höchstens 25 Gulden beliefen und deren durchschnittliche Vermögenswerte sich zwischen 36 fl und 253 fl bewegten, wobei hierzu der gesamte Immobilienbesitz, d. h. die gesamte Habe dieser Familien zählt. Immerhin besaßen 23 % – und damit fast ein Viertel der Bürger – mit höchstens 35 fl Gesamtvermögen noch weniger als diese Personen der unteren Mittelschicht. Diese Gruppe der Armen und Besitzlosen verfügte zusammen gerade einmal über 1,3 % der städtischen Vermögenswerte.6 Dabei handelt es sich allerdings nur um die ortsansässigen Bürger. Umherziehende Personen oder solche, die nicht in den Steuerlisten erfasst waren, dürften zusätzlich die Anzahl bedürftiger Personen innerhalb des Gemeinwesens deutlich erhöht haben. Ihnen gegenüber stand eine kleine Schicht reicher Bürger, die nur 3,7 % der Gesamtbevölkerung ausmachte, aber über ein Drittel (35,8 %) des städtischen Gesamtvermögens verfügte. Wir können damit für Trier ein enormes soziales Ungleichheitsgefälle ausmachen, das sich auch im 18. Jahrhundert kaum veränderte.

3

Armin Nassehi, Inklusion, Exklusion, Ungleichheit. Eine kleine theoretische Skizze, in: Thomas Schwinn (Hrsg.), Differenzierung und soziale Ungleichheit. Die zwei Soziologien und ihre Verknüpfung, Frankfurt a. M. 2004, S. 323–352, S. 323. 4 Zur europaweiten Reform der Fürsorge vgl. Theodor Strohm/Michael Klein (Hrsg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 1: Historische Studien und exemplarische Beiträge zur Sozialreform im 16. Jahrhundert, Heidelberg 2004. 5 Wolfgang Laufer, Die Sozialstruktur der Stadt Trier in der frühen Neuzeit, Bonn 1973, S. 151; Klaus Gerteis, Sozialgeschichte der Stadt Trier 1580–1794, in: Kurt Düwell/Franz ­Irsigler (Hrsg.), 2000 Jahre Trier, Bd. 3: Trier in der Neuzeit, 2. Aufl. Trier 2000, S. 61–98, S. 76. 6 Gerteis, Sozialgeschichte (wie Anm. 5), S. 75.

498 Sebastian Schmidt

Wenn wir anhand dieses statistischen Materials heute bestimmte Lebenslagen als „prekär“ oder „potentiell arm“ einstufen, so stimmt dies allerdings nicht mit der zeitgenössischen Sichtweise überein. Denn nur ein Teil der Bedürftigen galt auch tatsächlich als „arm“ gemäß der Definition Georg Simmels, dass unter Armen nur solche Personen zu verstehen sind, die entsprechend der gesellschaftlichen Normen Unterstützung erhalten sollten.7 Wie gestalteten sich aber die Repräsentationen von Armut und die Differenzkriterien in dem geistlichen Kurfürstentum, nach denen man die „Würdigen“ von den „Unwürdigen“ schied? Wir haben es in Kurtrier im 16. Jahrhundert – ebenso wie es Tim ­Lorentzen für den protestantischen norddeutschen Raum zeigen konnte – weniger mit einer Säkularisierung der Fürsorge zu tun, als zunächst vielmehr mit der Übernahme sakraler Vorstellungen im Bereich der weltlichen Fürsorgepolitik.8 Das Funktionssystem der Religion differenzierte sich dabei im ausgehenden 15. sowie zu Beginn des 16. Jahrhunderts zunehmend über das Medium Glauben und die dazugehörige ethische Einstellung und Moral aus9, war aber noch eng mit dem Funktionssystem der Politik bzw. dem ständischen Herrschaftsdenken gekoppelt. Dadurch kam es zur Übernahme der religiös gültigen Normen und Differenzkriterien im politischen Diskurs mit den entsprechenden Konsequenzen: So lässt sich auch in Kurtrier eine Dramatisierung der Exklusions- bzw. Inklusionssemantiken erkennen, die im Wesentlichen bereits Jahrhunderte zuvor Gültigkeit besessen hatten.10 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden sie aber zu Legitimationssemantiken christlicher Herrschaft und führten entsprechend in der Praxis zu raumbezogenen Kontrollen und Ausschlüssen.11 Dass für Christen eine absolute Inklusionsforderung in dem Sinne bestand, dass sie Armen nach ihrer Möglichkeit immer zur Hilfe verpflichtet waren, stand außer Frage. Es ging 7 Georg

Simmel, Zur Soziologie der Armut, in: Archiv für Socialwissenschaft und Socialpolitik N.F. 22 (1906), S. 1–30, S. 27. 8 Tim Lorentzen, Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 44), Tübingen 2008, S. 206. 9 Rudolf Schlögl, Historiker, Max Weber und Niklas Luhmann. Zum schwierigen (aber möglicherweise produktiven) Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Systemtheorie, in: Soziale Systeme 7 (2001), S. 23–45, S. 28f.; Alois Hahn, Funktionale und stratifikatorische Differenzierung und ihre Rolle für die gepflegte Semantik, in: KZSS 33 (1981), S. 345–360, S. 352. 10 Katrin Dort/Christian Reuther, Armenfürsorge in den karolingischen Kapitularien, in: Lutz Raphael/Herbert Uerlings (Hrsg.), Zwischen Ausschluss und Solidarität. Modi der Inklusion/Exklusion von Fremden und Armen in Europa seit der Spätantike. (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 6), ­Frankfurt a. M. [u. a.] 2008, S. 133–164. 11 Zum Raumbezug vgl. Rudolf Schlögl, Differenzierung und Integration: Konfessionalisierung im frühneuzeitlichen Gesellschaftssystem. Das Beispiel der habsburgischen Vorlande, in: ARG 91 (2000), S. 238–284, S. 239.

Fürsorgepraktiken im Kurfürstentum Trier 499

in den Diskursen vielmehr darum, genau zu definieren, wen man von Seiten der Herrschaft aus als „arm“ verstanden wissen wollte und wen nicht. Der fremde Vagant und „starke Bettler“ wurde dabei geradezu zum unterstützungsunwürdigen Gegenbild des einheimischen verschämten Hausarmen.12 In den kurtrierischen Armenverordnungen wurden Bettler kriminalisiert und als Gefahr für die Gemeinschaft stigmatisiert, gegen welche die Herrschaft vorzugehen hatte. Die Gefahrenzuschreibungen betrafen gleich mehrere zentrale gesellschaftliche Funktionsbereiche. So sah man in ihnen potentielle Delinquenten, die auf Umsturz sannen oder durch ihre kriminellen Handlungen auch ungewollt die politische Ordnung bedrohten. Diesen Punkt sah man in direkter Verbindung mit einer Gefährdung der Landesökonomie. Wo politische Ordnung und der Landfrieden gefährdet seien, würden auch der Handel und die gesamte Staatsökonomie zurückgehen. Den Rückgang der ökonomischen Potenz verband man gedanklich wiederum mit einem Rückgang militärischer Macht. Darüber hinaus schrieb man den Vaganten im 18. Jahrhundert eine Hauptschuld an der Ausbreitung von Seuchen und Krankheiten zu, die wiederum die politische Gemeinschaft schwächen und gefährden könnten. Schließlich machte man sie auch für einen Niedergang der Moral und religiöser Werte verantwortlich. Nicht nur, dass sie so unethisch seien, und „den rechten Armen und nottürfftigen“ das Almosen entziehen würden, wie es in einer Kurtierer Verordnung hieß13, sondern der Müßiggang selbst wurde bereits als sündhaftes Verhalten gewertet.14 In den Bettler- und Vagantenfamilien, so die in den Verordnungen und Mandaten vertretene Ansicht, würde dadurch jegliche Moral zerstört. Verbunden mit der Vorstellung von einer Proliferation armer Familien entstand daraus jedoch nach Ansicht der Kameralisten dem Staat nicht nur ein ökonomischer Schaden, sondern ebenso eine Gefahr für den Staat schlechthin. In den Verwaltungserlassen und Verordnungen wurde das „Gesindel“ eindeutig als eine Sicherheitsbedrohung beschrieben, gegen die sich der Territorialstaat zur Wehr zu setzen, sprich von denen man sich zu „befreien“ und zu „reinigen“

12

Zum Bild des Vaganten in der Frühen Neuzeit vgl. Gerhard Ammerer, Heimat S­ traße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime, Wien/München 2003, hier bes. S. 178; Ernst Schubert, Mobilität ohne Chance. Die Ausgrenzung des fahrenden Volkes, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität (Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien 12), München 1988, S. 113–164. 13 Ioannes Iacobus Blattau, Statuta Synodalia, Ordinationes et Mandata. Archidiocesis Trevirensis, 5 Bde., Trier 1844–1849, hier Bd. 2, S. 81–87. 14 Vgl. Sebastian Schmidt, Armenfürsorge in Stadt und Land. Maßnahmen gegen Armut und Bettelei in Mainz sowie im Rheingau im 17. und 18. Jahrhundert, in: Helmut Bräuer (Hrsg.), Arme – ohne Chance? Kommunale Armut und Armutsbekämpfung vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Leipzig 2004, S. 71–98, hier S. 73.

500 Sebastian Schmidt

hatte.15 Zu diesem Zweck unterhielten die Trierer Landstände zwei bewaffnete Regimenter zur Vertreibung und Inhaftierung von Bettlern. Da es ebenfalls zur Aufgabe dieser Einheit gehörte, Deserteure aufzuspüren, wurde sie auch als „Flucht-Kompanie“ bezeichnet.16 Die Grenzen bekamen unter diesem Sicherheits- und Kontrollaspekt eine große Bedeutung. Bereits hier sollte möglichst die Gefahr des Zuzugs gefährlichen Gesindels abgewehrt und damit die Sicherheit im Land garantiert werden. Zur Abschreckung ließ der Landesherr entlang der Grenze Tafeln aufstellen, auf denen die Strafen dargestellt wurden, die den Zigeunern und anderen Vaganten beim Eintritt in das Territorium drohten.17 Bettler galten nun als sichtbares Zeichen für das Versagen von Herrschaft.18 Die gemeinsamen Kreisverordnungen gegen Bettler und Vaganten des Kur- sowie des Oberrheinschen Kreises, wie z. B. von 1748, zeigen indes, dass sich zumindest in diesem Punkt und den aus der Gefahrenabwehr abgeleiteten repressiven Maßnahmen die protestantischen sowie katholischen Regierungen einig waren.19 Die Gewährung von sozialer Sicherheit und Fürsorge für die unterstützungswürdigen Armen bedeutete infolge dessen selbst in geistlichen Territorien zunächst für andere Bedürftige Marginalisierung und Ausschluss durch staatliche Kontrollund Repressionsmaßnahmen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist zudem der Wandel von der direkten zur indirekten Almosengabe. Der Wandel ist insofern bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass der Straßburger Münsterprediger Geiler von Kaysersberg zu Beginn der Frühen Neuzeit noch die Unantastbarkeit der privaten Almosenvergabe postulierte und einer dagegen verstoßenden Obrigkeit ewige Verdammnis angedroht hatte20, während der ehemals Trierer, dann später Mainzer Kurfürst 15

Vgl. hierzu etwa den Befehl vom 6. Mai 1721, Landeshauptarchiv Koblenz 1C, 19658. So z. B. in der Quelle des Landeshauptarchivs Koblenz, 1C, 9791 – Das Hospital zu Münstermaifeld. 17 Landeshauptarchiv Koblenz 1C, 1114, Verordnung vom 30. Oktober 1721. Desgl. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden 110/IIa, Nr. 2a. 18 Deutlich ausgesprochen findet sich dies vor allem in den verschiedenen zeitgenössischen Aufklärungszeitschriften, aber auch bei Beamten und Staatstheoretikern anderer Territorien wie Justus Möser. Vgl. hierzu Justus Möser, Etwas zur Verbesserung der Armenanstalten (1767), abgedruckt in: Manfred Rudersdorf, „Das Glück der Bettler“ – Justus Möser und die Welt der Armen. Mentalität und soziale Frage im Fürstbistum Osnabrück zwischen Aufklärung und Säkularisation, Münster 1995, S. 336. 19 Chur- und Ober-Rheinische Gemeinsame Poenal-Sanction und Verordnung wieder das schädliche Diebs- Raub- und Zigeuner- so dann herrnlose Jauner- Wildschützen- auch müßig- und liederliche Bettel-Gesindel, Stadtarchiv Mainz LVO; dazu ebenso Haus-, Hof-, und Staatsarchiv Wien: Mainzer Erzkanzlerarchiv, Kurrheinische Kreisakten 40b. 2 0 Rita Voltmer, Wie der Wächter auf dem Turm. Ein Prediger und seine Stadt. Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510) und Straßburg, Trier 2005, S. 574. 16

Fürsorgepraktiken im Kurfürstentum Trier 501

und Erzbischof Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg 1725 die individuelle Almosengabe als Zuwiderhandlung gegen die kurfürstliche Verordnung kriminalisierte und den Gebern eine Bestrafung androhte.21 In Kurtrier wies man darauf hin, dass das Spenden von Almosen an der Haustür zu unterbleiben habe und wies die Bettelvögte 1776 gesondert an, diesen Sachverhalt zu kontrollieren. Eine solche Kontrolle war offenbar nötig, da Teile der Bevölkerung weiterhin keine unrechtmäßige Handlung im Spenden von Almosen sehen wollten. Anzumerken ist hierzu ebenfalls, dass die religiösen Bildprogramme in Kurtrier weiterhin diese Form der Hilfe propagierten, wie z. B. in der Darstellung der Mantelspende des Heiligen Martin – so gesehen eigentlich ein Verstoß gegen die Bettelordnung.22 In Kurtrier war bereits 1533 ein grundsätzliches Bettelverbot für fremde Bettler sowie die Bestrafung „starker Bettler“ festgelegt worden.23 Auch der Überblick über die folgende Fürsorgegesetzgebung zeigt deutlich, dass die verbreitete Annahme, dass in protestantischen Territorien das Betteln prinzipiell verboten, in katholischen Territorien demgegenüber das Betteln prinzipiell erlaubt gewesen sei, nicht zutreffend sein kann, sondern vielmehr, dass es bei beiden Konfessionen vergleichbare Regelungen gegeben hat. Welche Formen der öffentlichen Unterstützung lassen sich demgegenüber für die „würdigen“ Armen in der Praxis ausmachen? Für Kurtrier war bereits in der Verordnung des Jahres 1533 die Einrichtung einer zentralen Almosenkasse gefordert worden. Zwischen 1594 und 1632 wurden jährlich nicht unter 200 Haushalte – 23 % bis 27  % aller Trierer Haushalte – aus dieser Kasse mit Almosen versorgt.24 Existenz sichernd war diese Form der Fürsorge für den Großteil der Bedürftigen aber nicht, da die durchschnittliche jährliche Almosenspende nicht

2 1 Maria Schmitz, Die Armenpflege in Koblenz unter dem letzten Trierer Kurfürsten Clemens

Wenceslaus und ihre Fortsetzung auf der rechten Rheinseite unter dem Fürsten Friedrich Wilhelm von Nassau-Weilburg (1768–1815), Berlin 1936, S. 79. 2 2 Sebastian Schmidt, Religiöse Bildprogramme als Ausdruck kollektiver Einstellungen? Zu widersprüchlichen Repräsentationen des Almosenspendens und ihrer politischen Funktion in der Frühen Neuzeit, in: AKG 89, Heft 2 (2007), S. 283–300; vgl. dazu ebenfalls Philine Helas, Darstellungen der Mantelspende des Heiligen Martin vom 12. bis zum 15. Jahrhundert als Indikator der Veränderung sozialer Praktiken, in: AKG 89, 2 (2007), S. 257–281. 2 3 Zur Fürsorgegesetzgebung in Trier 1533 vgl. Alexander Wagner, „Gleicherweiß als wasser das feuer, also verlösche almuse die sünd“. Frühneuzeitliche Fürsorge- und Bettelgesetzgebung der geistlichen Kurfürstentümer Köln und Trier (Schriften zur Rechtsgeschichte, 153), Berlin 2011, S. 85–122. 24 Vgl. Maria Ackels, Das Trierer städtische Almosenamt im 16. und 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Analyse sozialer Unterschichten, in : Kurtrierisches Jahrbuch 24 (1984), ­S. 75– 103. Vgl. hierzu ebenso den Bestand Stadtarchiv Trier, Ta 2/1–6: Almosenei-Rechnungen 1591–1793.

502 Sebastian Schmidt

mehr als ca. 18 Albus betrug.25 Die Rechnungen der Armenkasse gewähren uns zudem einen guten Einblick in die persönliche Lebenssituation der Betroffenen. So z. B. über Familien- oder Wohnverhältnisse. Deutlich wird z. B. bei einer Auswertung der Dekade von 1591 bis 1601, dass die Armen nicht nur an den Rändern der Stadt, sondern im Gegenteil im ganzen Stadtgebiet verteilt lebten.26 Straßen/Plätze

Anzahl

Straßen/Plätze

Anzahl

Deutschgasse

140

Auf der Platzen

37

Predigergasse

 90

An der Alterpforte

35

Hinter dem Palast/ i. d. Grafschaft

 82

Rahnengasse

29

St. Jacobsgasse

 73

Sichelgasse

27

Moselgasse

 71

Wächtergasse

27

Metzlergasse

 62

Weberbach

27

Wolfernerneugasse

 56

Konengasse

26

bei St. Paul

 54

Kürenzer Pforte

24

Geilergasse

 41

Uff dem Pferdemarkt

21

Hintergasse

 38

Palastgasse

20

Tab 1  Häufigkeit der Almosenspenden nach Straßen und Plätzen von 1591–1601 (hier nur Nennungen mit über 20 Einzelspenden)

Hier bildeten sie teils Wohngemeinschaften. So z. B. in den sogenannten „Gottsheusgen“, in denen drei bis sechs Arme, zumeist arme Frauen, gemeinsam lebten.27 Es wird deutlich, dass ihnen mitunter die elementarsten Dinge fehlten – wie etwa Brennholz oder Schuhe für Kinder im Winter. Darüber hinaus bestätigen sich Ergebnisse aus anderen Untersuchungen28, dass die arme Familie eben nicht die Großfamilie mit einer Unzahl von Kindern war, sondern vielmehr alleinerziehende Frauen mit zwei Kindern den häufigsten Typus darstellen. 2 5

Ackels, Almosenamt (wie Anm. 24), S. 100. Vgl. hierzu auch die Karten-Darstellung von Ackels, Almosenamt (wie Anm. 24). 27 Zu komplexeren Wohnverhältnissen bei Armen vgl. Thomas Sokoll, Household and Family among the Poor. The Case of two Essex Communities in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, Bochum 1993. 28 Helmut Bräuer, Zur Mentalität armer Leute in Obersachsen 1500 bis 1800, Leipzig 2008, S. 95.

2 6

Fürsorgepraktiken im Kurfürstentum Trier 503 30

25

20

15

10

5

0 1

2

3

4

5

6

Anzahl der Almosen empfangenden Familien in Trier, geordnet nach der Anzahl der genannten Kinder (1–6) pro Familie im Rechnungsjahr 1600/1601

Diagramm 1

Für das Jahr 1600/1601 kann man zudem feststellen, dass in knapp einem Fünftel aller Fälle, in denen Frauen als Almosenempfänger genannt sind, sich der Zusatz findet, dass es sich um Witwen handelt.29 Neben dieser kommunal zentralisierten Form der Fürsorge aus der Almosenkasse gab es aber noch weitere Formen der Unterstützung. Statt des individuellen Bettelns erlaubte man in den Residenzstädten Koblenz und Trier eine wöchentliche Bettelprozession unter Vorantragung des Kreuzes und Beaufsichtigung städtischer Bediensteter, bei der die Sammlung und Verteilung des Almosens durch dafür bestimmtes Personal erfolgte. Der Bettelprozession war dabei jedoch zunächst finanziell nur ein bescheidener Erfolg beschieden.30 Eine weitere wichtige Ausnahme im Hinblick auf die Exklusion bzw. Nichtversorgung von Bettlern stellten die Klöster dar. Sie spendeten weiterhin ohne besondere Bedürftigkeitskontrollen an Bettler und Pilger Nahrung.31 Gerade das Fortbestehen der dezentralen klösterlichen Karitas prägte bis zum Ende des Alten Reichs die Fürsorgekultur in den katholischen Territorien mit. Zwar konnte Rüdiger Nolte zu Recht darauf verweisen, dass die Almosen-Ausgaben der Klöster im Hinblick auf ihren gesamten Wirtschaftshaushalt als sehr gering einzustufen 29 30 31

Stadtarchiv Trier, TA 2/1: Almosenei-Rechnung 1600–1601. Irmgard Huberti, Das Armenwesen in der Stadt Trier vom Ausgang der kurfürstlichen Zeit bis zum Ende der französischen Herrschaft (1768–1814), Berlin 1935, S. 40. Verordnung vom 18. Oktober 1736. Blattau, Statuta (wie Anm. 13), Bd. 4, S. 243–247.

504 Sebastian Schmidt

sind und nur 1,5 bis 3 % betrugen, doch konnte selbst dieser Prozentsatz bei den größeren Einrichtungen, etwa beim Kloster St. Maximin vor den Toren der Stadt Trier oder der Abtei Maria Laach, im Vergleich zu anderen Almosenabgaben recht hoch sein. So soll etwa die Abtei St. Maximin 1765 rund 500 Malter Korn an der Klosterpforte an die Armen verteilt haben.32 Rechnet man das Malter Korn zu vier Reichstaler, so wurde Korn im Wert von ca. 2 000 Reichstaler an die Armen abgegeben. Hier kam es im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu deutlichen Interessenskonflikten zwischen der Landesregierung und den Klöstern. War die Landesregierung daran interessiert, dass die Klöster ihre Almosengelder der zentralen Fürsorgekasse und Aufsicht unterstellten, so argumentierten die Klöster, dass sie gern dazu bereit wären, wenn sie gewiss sein könnten, dass dann kein Bettler mehr an ihre Pforten käme. Eine kontrollierte Vergabe von Almosen fand dabei nicht statt, sodass hier in der Praxis ein deutlicher Unterschied zu den in den Normen postulierten Forderungen zu sehen ist. Neben den Klöstern stellten eine weitere sehr verbreitete Hilfseinrichtung die Hospitäler als karitative Einrichtungen in Stadt und Land dar.33 Bei genauerer Untersuchung der Institutionen stellt man aber fest, dass sie zwar als Dienstleistungsgeschäft bedeutend waren, aber im Hinblick auf die öffentliche unentgeltliche Fürsorge wohl eher eine geringere Rolle spielten. Im Jahr 1729 wurde durch den Trierer Kurfürsten eine Oberinspektionskommission als zentrale Kontrollinstanz über alle Stiftungen „ad pias causas“ eingesetzt.34 Die Hospitäler, die bis zum 18. Jahrhundert mehr und mehr von den Kommunen beaufsichtigt und kontrolliert worden waren, sollten so wieder der direkten erzbischöflichen Verwaltung unterstellt werden. Zwar konnten die Kommunen rechtlich nicht gegen eine solche Vorgabe vorgehen, aber wie etwa Untersuchungen zum Hospital von Montabaur zeigen35, fand man auf lokaler Ebene andere Wege, um diesen Zentralisierungsbemühungen Widerstand entgegenzubringen. So folgte man den verschiedenen landesherrlichen Anweisungen offenbar nur mit erheblichen Verzögerungen.

3 2

Bertram Resmini, Aufklärung und Säkularisation im Trierer Erzstift, vornehmlich bei den Klostergemeinschaften in der Eifel und in der Stadt Trier, in: Georg Mölich u. a. (Hrsg.), Klosterkultur und Säkularisation im Rheinland, Essen 2002, S. 81–104, S. 87. 3 3 Zur Verteilung der Hospitäler vgl. Sebastian Schmidt, Caritas: Die Sorge um Arme und Kranke, in: Bernhard Schneider (Hrsg.), Geschichte des Bistums Trier. Band III: Kirchenreform und Konfessionsstaat, 1500–1801 (Veröffentlichungen des Bistumsarchivs Trier 37), Trier 2010, S. 424–461, S. 444. 3 4 Jakob Marx, Geschichte des Erzstifts Trier, Abt. 3, Trier 1864 (Ndr. Trier 1970), S. 11. 3 5 Ingeborg Schewior, Das Heilig-Geist-Hospital der Stadt Montabaur. Von Bürgerstolz und Fürstenmacht (Schriftenreihe zur Stadtgeschichte von Montabaur 10), Montabaur 2004, S. 103 und 132.

Fürsorgepraktiken im Kurfürstentum Trier 505

Die Protokollberichte der Oberinspektionskommission machen aber überdies deutlich, dass auch ohne solchen Widerstand die Leistungen der Hospitäler vielfach durch Veruntreuungen der Gelder, fehlende oder mangelhafte Rechnungsführung oder schlicht durch den desolaten baulichen Zustand äußerst begrenzt waren. Eine im Jahr 1729 angeordnete Visitation der Hospitäler brachte zu Tage, dass zwar theoretisch ca. eine Millionen Gulden Stiftungsgelder bei den Hospitälern vorhanden seien, diese aber nicht der Entsprechung gemäß für Arme ausgegeben worden seien.36 Tatsächlich erbrachte eine Auflistung aller Stiftungen und Hospitäler des Erzstiftes Trier unter der Regierung von Clemens W ­ enzeslaus 1769 ein Gesamtkapital von knapp 233 000 Reichstalern verteilt auf 65 Stiftungen, wobei es regional hier große Unterschiede gab und nur elf Stiftungen überhaupt Ausgaben von über 100 Gulden im Jahr tätigten. Dekanat

Geld/Taler

Korn/Malter

Korn/Simmer

Dietkirchen/Limburg

1 623

173

 3

St. Florin/Montabaur

1 265

 25

 4

Piesport

  604

 16

14

Boppard

  581

 40

 4

Ochtendung

  475

158

15

Koblenz (ohne Stadt)

  293

234

 4

Zell

  252

Perl

  239

Engers

  231

  9

 4

Wadrill

   86

 2

Trier (ohne Stadt)

    4

 3

Luxemburg (ohne Stadt)

    3

 7

Merzig

    2

  7

Karden

    0

  0

 0

Tab 2 

Ausgaben der Stiftungen des Erzbistums Trier zusammengefasst nach Dekanaten, ­1769  37

3 6

Zur Visitation im Erzstift Trier, vgl. Landeshauptarchiv Koblenz, 1C, 9660.

37 Landeshauptarchiv Koblenz 1C, 9660.

506 Sebastian Schmidt

Die geringen Summen erklären, warum in vielen Berichten unter der Rubrik Armenfürsorge lediglich angeführt wird, dass man in das Hospitalszimmer etwas frisches Stroh ausgestreut habe, aber zu mehr nicht in der Lage war.38 Auch nutzte z. B. der Hospitalskellner von Boppard sein Amt dazu aus, die Hospitalszimmer zu vermieten, anstatt darin arme und kranke Bürger aufzunehmen.39 Für die Aufnahme in ein Hospital waren zumeist Geld oder gute Beziehungen nötig. Als Lösung des Problems der Armut und des Müßiggangs sah man vor allem im 17. und 18. Jahrhundert die neu gegründeten Arbeitshäuser an, die jedem arbeitswilligen Armen die Möglichkeit geben sollten, für seinen Unterhalt selbst aufzukommen. Die Anstalten in Trier und Koblenz, die man hier erst 1775/1776 einrichtete, waren Mischformen aus Zucht- und Arbeitshäusern, die mit den Waisenhäusern zusammen einer gemeinsamen Aufsicht unterstanden. Einerseits sollten sich diese Institutionen durch den Verkauf der erzeugten Spinnerei-Produkte selbst tragen, andererseits erhoffte man sich Gelder aus den Trierer Klöstern und Abteien. Die Klöster aber verweigerten die Zahlung, da sie die Auffassung vertraten, dass das Spinninstitut niemals die ca. 1 000 Personen unterstützen könne, die es aber tatsächlich vorgab zu versorgen. Als Reaktion darauf ordnete Clemens Wenzeslaus pragmatisch an, dass sie das Arbeitshaus wöchentlich mit 797 Pfund Korn oder Mehl zu unterstützen hätten.40 Tatsächlich arbeiteten schließlich im Winter bis zu 250 Personen in dieser Spinnerei. Vor allem Handwerker wie Maurer konnten damit den Einkommensausfall im Winter etwas ausgleichen. Große Bedeutung hatte die Spinnerei aber weniger für die armen Erwachsenen als für die armen Kinder ab vier Jahre, die hier die Mehrheit der Arbeiter stellten und dafür eine warme Mahlzeit bekamen. Dabei gingen bis zum Einmarsch der Franzosen die Einnahmen der Anstalt immer weiter zurück. Eine dauerhafte Lösung des Armutproblems versprach diese Anstalt damit auch nicht. Die Waisenhäuser, wie sie in der Stadt Trier 1676 und 1729 in Koblenz für Knaben eingerichtet wurden, waren demgegenüber Prestigeobjekte der Kurfürsten für nur einige wenige ausgewählte Kinder.41 Auf dem Land fehlten solche Einrichtungen völlig. Ein Großteil karitativer Tätigkeit wurde allerdings weder öffentlich verwaltet noch gesondert kontrolliert. Hier ist vor allem an den großen Bereich der Pflege in den Familien oder der Unterstützung durch die Nachbarschaft zu denken. Aber

3 8

Siehe hierzu das Beispiel des Hospitals in Kobern, Landeshauptarchiv Koblenz 1 C, 9793. Zu Boppard vgl. Landeshauptarchiv Koblenz 1C, 9696. 4 0 Zum Spinnhaus vgl. Huberti, Armenwesen (wie Anm. 30), hier S. 45. 41 Zu den Waisenhäusern vgl. Richard Laufner, Die Geschichte der Trierer Hospitäler, Lepro­sen- und Waisenhäuser, des Spinnhauses und der adeligen Benediktinerinnenabtei St. Irminen-Oeren bis zur Säkularisation, in: Heinz Cüppers u. a. (Hrsg.), Die Vereinigten Hospitien in Trier, Trier 1980, S. 33–72, S. 58; Marx, Geschichte (wie Anm. 34), S. 303. 3 9

Fürsorgepraktiken im Kurfürstentum Trier 507

ebenso waren Verordnungen über die Nutzung von Waldrechten, die Schweinemast oder die Nachlese für die Ökonomie des Notbehelfs von großer Bedeutung.

Fazit

Die Untersuchung der katholischen Armenfürsorge in Kurtrier hat gezeigt, dass zwar auf der semantischen und der Verordnungsebene die Erlasse in diesem katholischen Territorium zu denen in den protestantischen Ländern weitgehend identisch erscheinen, in der Praxis aber größere Unterschiede bestanden. Die Ausbildung staatlicher, kommunaler zentraler Sammelinstanzen blieb gegenüber protestantischen Territorien schwach oder erfolgte erst spät. Auf der institutionellen Ebene und der Ebene der praktischen Armenfürsorge war das katholische Fürsorgewesen ein vielfach gegliedertes System aus teils relativ autonomen, dezentralen Einheiten. Dass hierbei trotz der Verordnungen keine ausreichende zentrale Kontrolle und Erfassung erfolgen konnte, liegt auf der Hand. Einige Klöster und Hospitäler bildeten markante Stützen bzw. Knotenpunkte dieses Hilfsnetzes und bildeten starke regionale Unterschiede bei der Fürsorge aus. Gerade hierin ist ein bedeutsamer Unterschied zu den protestantischen Territorien zu sehen: Die Vielzahl der Fürsorgeinstitutionen sowie der dort jeweils praktizierten Karitas führten dazu, dass man weder von einer Umstellung auf systematische Inklusion der Armen in die Fürsorgesysteme sprechen kann, noch von einem eindeutigen Prozess der Schließung gegenüber Bettlern und Vaganten. Die einzelnen Hilfsleistungen blieben jedoch sehr beschränkt. Werden somit auf den ersten Blick in den katholischen Territorien die gleichen Personengruppen, das heißt vor allem die starken und fremden Bettler, von der Fürsorge exkludiert, so ermöglichen viele Ausnahmeregelungen längere Zeit das Fortschreiben älterer religiös motivierter Unterstützungspraktiken. Dass damit ein Mehr oder Weniger sozialer Sicherheit gegenüber anderen/protestantischen Territorien gegeben war, lässt sich daraus nicht ableiten. Zusammenfassend lässt sich aber feststellen, dass trotz des intensiven Fürsorgediskurses die öffentlichen Hilfsmaßnahmen bis Ende des 18. Jahrhunderts in der Praxis gering blieben und die Regierung stärker auf Repression als auf Armutsprävention setzte. Der Gedanke der Vorsorge kam in Ansätzen erst Ende des 18. Jahrhunderts mit der Einrichtung einer Witwen- und Waisenkasse für Staatsbedienstete auf.

Robert Brandt und Thomas Buchner

Soziale Sicherheit durch korporative Einbindung. Das Beispiel der städtischen Zunft I. Einführung

Die deutschsprachige Forschung unterstellte dem Zunfthandwerk noch bis vor wenigen Jahren eine grundlegende „Sozialstabilität“.1 Besonders während seiner vermeintlichen Blüte, dem Mittelalter, habe das ‚Alte Handwerk‘ den Meistern das standesgemäße Auskommen, die ‚Nahrung‘, gesichert, wozu auch solidarische Leistungen gegenüber schwächeren Genossen zählten. Rudolf Wissell etwa betonte 1930: Die „Sozialpolitik“ war den Meistern und ihren Gesellen „schon völlig geläufig“ und sei ihnen „fast als selbstverständlich erschienen“.2 Als Quelle dieser gemeinnützigen Solidarität galt die Zunft, genauer gesagt, die quasi natürliche Solidarität der „Zunftgenossen“ untereinander.3 Diese Denktradition ist international seit den 1980er, in der deutschsprachigen Forschung seit den 1990er Jahren in die Kritik geraten und darf mittlerweile als diskreditiert gelten. Das Handwerk wird nun als flexibel und wandlungsfähig wahrgenommen, womit auch der Blick für die sozialen Unterschiede in und zwischen den Handwerken geschärft wurde. Diese revisionistische Perspektive

1

So Elke Schlenkrich und Helmut Bräuer in ihrer Kritik an Helga Schulz, die dies in ihrer 1997 erschienenen Wirtschaftsgeschichte Europas auch noch für die Frühe Neuzeit annimmt (dies., Handwerker, Kaufleute, Bankiers. Wirtschaftsgeschichte Europas 1500–1800, Frankfurt a. M. 1997, S. 88–117); vgl. Elke Schlenkrich/Helmut Bräuer, Armut, Verarmung und ihre öffentliche Wahrnehmung. Das sächsische Handwerk des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts, in: Karl Heinrich Kaufhold/Wilfried Reininghaus (Hrsg.), Stadt und Handwerk in Mittelalter und Früher Neuzeit (Städteforschung A/54), Wien/Köln/Weimar 2000, S. 93–117, S. 93. 2 Rudolf Wissell, Der soziale Gedanke im alten Handwerk, Berlin 1930, S. 9. 3 Alfred Müller-Armack etwa bemerkte in seiner Genealogie der Wirtschaftsstile: Neben der „statischen Arbeitsidee“ sei für das Handwerk „die religiös bedingte Spendengesinnung [charakteristisch], die den sittlichen Zusammenhalt der Zünfte erst ermöglichte. Die Solidarität der Zunftgenossen füreinander, für Witwen und Waisen, die Hausgenossenschaft selbst zwischen Meister, Gesellen und Lehrlingen, das Wandern der mittellosen lernbegierigen Gesellen durch die weite Welt, alles setzte voraus, daß viel, gerne und reichlich gegeben wurde“. Die Reformation habe das „moralische Gefüge der Zunft“ aufgelöst, den „schwersten Schlag erhält die Spendengesinnung“. Alfred Müller-Armack, Genealogie der Wirtschaftsstile. Die geistesgeschichtlichen Ursprünge der Staats- und Wirtschaftsformen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1944, S. 225, 226 u. 227.

Das Beispiel der städtischen Zunft 509

wurde auf die Zünfte ausgedehnt, auch ihnen wird mittlerweile Anpassungs­ fähigkeit – vor allem an Märkte und bei Innovationen – konzediert.4 Bemerkenswert ist nun, dass genau jener Bereich, der gleichsam per se die Überprüfung von Kernaussagen der älteren Forschung erlauben würde, nämlich die soziale Sicherheit und deren Umsetzung, in der jüngeren Forschung nahezu vollständig ausgeklammert wird. Der einzige Versuch einer systematischen Auseinandersetzung mit der sozialen Sicherung im deutschsprachigen Handwerk ist eine wirtschaftswissenschaftliche Dissertation aus dem Jahre 1976, der überwiegend normative Quellen zu Grunde liegen.5 Seither ist, von begrenzten Überlegungen abgesehen, nichts Substantielles mehr unternommen worden.6 4

Vgl. zusammenfassend Reinhold Reith, Handwerk, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2007, Sp. 148–173; James R. Farr, Artisans in Europe 1300–1914, Cambridge 2000. 5 Sigrid Fröhlich, Die Soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden. Darstellung, Analyse, Vergleich (Sozialpolitische Schriften 38), Berlin 1976. Fröhlichs verdienstvolle Arbeit, auf die beim Thema soziale Sicherheit in der Vormoderne gerne verwiesen wird, ist nicht unproblematisch: Sie ist, dem Vorwort zufolge, entstanden, um, ausgehend von einem am Kölner „Forschungsinstitut für Einkommenspolitik und Soziale Sicherung“ entwickelten „Instrumentarium“ zur „Analyse des heutigen Systems der gesetzlichen Krankenversicherung“, soziale Sicherung in vergangenen Perioden zu untersuchen (S. 5). Die Arbeit basiert überwiegend auf gedruckten, normativen Quellen; ungedruckte Quellen wurden in kleinerer Zahl ausschließlich aus dem Kölner Stadtarchiv herangezogen; die Auswahl der untersuchten Handwerke, Zeiträume sowie Städte und Regionen ist ausgesprochen selektiv und lässt nur bedingt eine Systematik erkennen; Konzepte und Methoden der Sozialstaatsanalyse wurden ohne weitergehende Problematisierung auf die vormoderne, also die vorsozialstaatliche Zeit übertragen, so etwa Begriffe wie „Arbeitslosigkeit“. 6 Knut Schulz, Handwerksgesellen und Lohnarbeiter. Untersuchungen zur oberrheinischen und oberdeutschen Stadtgeschichte des 14. bis 17. Jahrhunderts, Sigmaringen 1985, S. 196–208; Kurt Wesoly, Lehrlinge und Handwerksgesellen am Mittelrhein. Ihre soziale Lage und ihre Organisation vom 14. bis ins 17. Jahrhundert (Studien zur Frankfurter Geschichte 18), Frankfurt a. M. 1985, S. 325–335. Vgl. außerdem: Friedrich Strube, Soziale Sicherung bei den Handwerkszünften in Bremen, jur. Diss., Bremen 1974; Uwe Perlitz, Das Geld-, Bank- und Versicherungswesen in Köln 1700–1815 (Untersuchungen über das Spar-, Giro- und Kreditwesen. Abt. A: Wirtschaftswissenschaft 84), Berlin 1976, S. 244–249, 251–259; Thomas Fischer, Städtische Armut und Armenfürsorge im 15. und 16. Jahrhundert (Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 4), Göttingen 1979, S. 75–79, 85–89; Helmut Bräuer, Das Zwickauer ‚Tuchknappenregister‘ von 1536 bis 1542. Bemerkungen zum Problem der sozialen Sicherung im Handwerk, in: JbWG 2 (1990), S. 97–114; Reinhold Reith, Altersprobleme und Alterssicherung im Handwerk der Frühen Neuzeit, in: Gerd Göckenjan (Hrsg.), Recht auf ein gesichertes Alter? Studien zur Geschichte der Alterssicherung in der Frühzeit der Sozialpolitik (Beiträge zur Sozialpolitik-Forschung Bd. 5), Augsburg 1990, S. 14–34; ders., Zur sozialen Lage der Handwerksgesellen und Lehrlinge vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Sparfähigkeit, Sparmöglichkeiten und Sparmotivationen, in: Zeitschrift für Bayerische Sparkassengeschichte 6 (1992), S. 57–82; Helga Schultz, Das ehrbare Handwerk. Zunftleben im alten Berlin zur Zeit des Absolutis-

510 Robert Brandt und Thomas Buchner

Aber auch von Seiten der älteren Forschung liegen nur wenige systematische Untersuchungen vor, die ebenfalls meist auf normativen Quellen beruhen.7 Die Geschichtsschreibung zu den Bruderschaften lässt das Thema Handwerk und soziale Sicherheit selten aus, wirklich präzise Informationen über den Zusammenhang von Handwerksbruderschaften und Caritas findet man aber – ­neben den ausführlichen Beschreibungen der seelsorgerischen Funktionen der Bruderschaften – eher selten.8 Vergleicht man dies alles mit den zahlreichen Forschungen mus, Weimar 1993, S. 105–108, 126–32; Katrin Keller, Armut und Tod im alten Handwerk. Formen sozialer Sicherung im sächsischen Zunftwesen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Peter Johanek (Hrsg.), Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800 (Städteforschung A/50), Köln 2000, S. 199–233; Wilfried Reininghaus, Die Beziehungen der Bettelorden zu Handwerkern in westfälischen Städten vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: Westfälische Zeitschrift 155 (2005), S. 37–50. Nur bedingt hilfreich sind die Ausführungen von Arnd Kluge, Die Zünfte, Stuttgart 2007, S. 321–334: Zwar spricht Kluge manch wichtige Frage an – beispielsweise den Zusammenhang von politischer Struktur (in den Reichsstädten) und der Art und Weise, wie die soziale Sicherung organisiert wurde – aber auch bei ihm wirkt die Auswahl der empirischen Beispiele selektiv und ganz generell unterstellt er dem vorindustriellen Handwerk zu oft „Sozialstabilität“. 7 Georg Hogen, Erwerbsordnung und Unterstützungswesen in Deutschland von den letzten Jahrhunderten des Mittelalters bis zum Dreißigjährigen Kriege, mit besonderer Berücksichtigung der Zunftverfassung, Borna-Leipzig 1913. Vereinzelte, meist unsystematische Hinweise finden sich in der versicherungswissenschaftlichen Literatur, vgl. beispielsweise Friedrich Kleeis, Die Geschichte der sozialen Versicherung in Deutschland, Berlin 1928; Horst Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 3. Aufl. Sankt Augustin 1978; Dieter Schewe, Geschichte der sozialen und privaten Versicherung im Mittelalter in den Gilden Europas (Sozialpolitische Schriften 80), Berlin 2000. Eine Ausnahme unter den versicherungswissenschaftlichen Publikationen bildet Friedrich Wilhelm Ponfick, Geschichte der Sozialversicherung im Zeitalter der Aufklärung, Dresden 1940 (ursprünglich eine Leipziger rechtswissenschaftliche Diss.) sowie Charlotte Koch, Wandlungen der Wohlfahrtspflege im Zeitalter der Aufklärung, Erlangen 1933, welche die Vorläufer der modernen Sozialversicherung systematisch zu untersuchen versuchen. 8 Zu empfehlen sind: Rolf Lusiardi, Caritas – Fraternitas – Solidarität. Überlegungen zur kollektiven Daseinsvorsorge in spätmittelalterlichen Zünften und Gesellenvereinigungen, in: Hans-Jörg Gilomen/Brigitte Studer (Hrsg.), Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung. Umbrüche und Kontinuitäten vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert/ De l’assistance à l’assurance sociale. Ruptures et continuités du Moyen Age au XXe siècle (Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 18), Zürich 2002, S. 139–151; Katharina Simon-Muscheid, Zunft-Trinkstuben und Bruderschaften: „Soziale Orte“ und Beziehungsnetze im spätmittelalterlichen Basel, in: Gerhard Fouquet/Matthias Steinbrink/ Gabriel Zeilinger (Hrsg.), Geschlechtergesellschaften, Zunft-Trinkstuben und Bruderschaften in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (Stadt in der Geschichte 30), Ostfildern 2003, S. 147–162; Rebekka von Mallinckrodt, Struktur und kollektiver Eigensinn. Kölner Laienbruderschaften im Zeitalter der Konfessionalisierung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 209), Göttingen 2005, S. 99–102, 104–106, 108–109, 111–113, 132, 298–309 u. 343–354. Pauschale Hinweise auf die sozial-karitative Arbeit der Bruderschaften bei Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft

Das Beispiel der städtischen Zunft 511

zu Armut und Krankheit in der Frühen Neuzeit sowie mit den grundlegenden Arbeiten, die beispielsweise in den Niederlanden in den letzten Jahren zum Thema soziale Sicherheit erschienen sind, dann wird diese Leerstelle umso offen­ sichtlicher.9 Das bedeutet nun folgende Herausforderung: Eine Untersuchung sozialer Sicherheit im Zunfthandwerk muss zum einen Empirie auch jenseits normativer Quellen zutage fördern, zum anderen aber auch ein Narrativ finden, welches das revisionistische Bild vom Zunfthandwerk zur Kenntnis nimmt. Inwiefern dafür der Begriff der „sozialen Sicherheit“ zielführend ist, würde eine intensivere Diskussion erfordern, als dies an dieser Stelle möglich ist.10 Dieser ist bekanntlich und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bde., Freiburg 2006, Bd. 1: 396–419 (414f.); Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Band I: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997, S. 56–63, 70–97, vor allem S. 78, 80f. und 95f. (eigentlich informativ, aber bekanntlich leiden Hardtwigs Ausführungen generell darunter, dass er Mittelalter und Frühe Neuzeit durch die Brille des 19./20. Jahrhunderts betrachtet). Häufig wird verwiesen auf Ludwig Remling, Bruderschaften in Franken. Kirchen- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bruderschaftswesen (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 35), Würzburg 1986, obwohl der Autor betont, dass Bruderschaften mit caritativer Ausrichtung im spätmittelalterlichen-frühneuzeitlichen Franken keine große Rolle spielten, da die Kommunalisierung der Sozialfürsorge bereits im 15. Jahrhundert einsetzte (S. 278–290); folglich finden sich ganze zwei (!) Beispiele für karitatives Wirken von Handwerksbruderschaften bei Remling (S. 300–342, 317 u. 331–336). Knapp: Sabine von Heusinger, Die Zunft im Mittelalter. Zur Verflechtung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Straßburg (VSWG Beihefte 206), Stuttgart 2009, S. 133. Etliches zu Zunftbruderschaften, aber nichts zu karitativer Tätigkeit bei Bernhard Schneider, Bruderschaften im Trierer Land. Ihre Geschichte und ihr Gottesdienst zwischen Tridentinum und Säkularisation (Trierer theologische Schriften 48), Trier 1989; P. Rudolf Henggeler, Die kirchlichen Bruderschaften und Zünfte der Innerschweiz, Einsiedeln 1955, S. 160–184. 9 Grundlegend die Arbeit von Sandra Bos, „Uyt liefde tot malcander“. Onderlinge hulpverlening binnen de Noord Nederlandse gilden in internationaal perspectief (1570–1820), Amsterdam 1998; vgl. ferner den jüngsten Überblick: Marco H. D. van Leeuwen, Guilds and middle-class welfare, 1550–1800: provisions for burial sickness, old age, and widowhood, in: EconHR 65(2012), S. 61–90 (mit zahlreichen Verweisen auf die jüngere niederländische Literatur). Allerdings betont auch van Leeuwen: „welfare provision by guilds is an understated and neglected aspect of guild activities“, S. 62. 10 Vgl. hierzu auch die einleitenden Bemerkungen von Gerd Schwerhoff. Wie wenig der frühneuzeitliche Sicherheitsbegriff mit dem modernen Verständnis sozialer Sicherheit zu tun hat, zeigt sich bei: Christoph Kampmann/Christian Mathieu, Sicherheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11, Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 1143–1150; Emma Rothschild, What is Security?, in: Daedalus 124 (1995), S. 53–98; Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grund­begriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862. Vgl. allgemein auch Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit: Das Leitbild beherrschbarer Komplexität, in: Stefan Lessenich (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. His-

512 Robert Brandt und Thomas Buchner

kein frühneuzeitlicher Quellenbegriff, sondern entstammt der sozialstaatlichen Semantik des 20. Jahrhunderts und ist untrennbar mit Institutionen, Akteuren und Praktiken dieser Zeit verknüpft.11 Dies legt an sich die Neuentwicklung eines für die Vormoderne adäquaten Begriffs von sozialer Sicherheit nahe. Dies ist aber bislang nicht geschehen und kann im Rahmen dieses Beitrages auch nicht geleistet werden, weshalb in diesem Aufsatz aus pragmatischen Gründen von sozialer Sicherheit bzw. sozialer Sicherung gesprochen wird. Allerdings können Bedingungen formuliert werden, die eine alternative Begrifflichkeit zu erfüllen torische und aktuelle Diskurse, Frankfurt a. M. 2003, S. 73–104. Allerdings verweist Karl ­ ärter auf Verbindungen zwischen „welfare“ und „security“ in politischer Theorie und H Policeywissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts, vgl. Karl Härter, Security and ‚Gute Policey‘ in Early Modern Europe: Concepts, Laws and Instruments, in: HSR 35 (2010), S. 41–65. Daraus nun den Schluss zu ziehen, soziale Sicherheit im 20. Jahrhundert wäre analog zu Wohlfahrt in der Frühen Neuzeit, stellt aber naturgemäß eine ahistorische Annahme dar. Unklar ist in diesem Zusammenhang, inwieweit Michel Foucaults Begriff der Sicherheit weiterführende Perspektiven bietet. Er war unter den zeitgenössischen Theoretikern einer der wenigen, der explizit mit dem Begriff „Sicherheit“ arbeitete, ihn aber zugleich einer ganz eigenen Systematik unterwarf: Sicherheit als „Dispositiv“ übernimmt bei Foucault die Funktion der Bewältigung jener Risiken, die im Zusammenhang mit der ab dem 18. Jahrhundert verorteten Herausbildung individueller Freiheiten entstehen. Kennzeichnend für das Sicherheitspositiv sei die (häufig statistische) Beschreibung von Fällen, ihrem Vorhandensein und ihrer Verteilung sowie die Steuerung von daraus resultierenden Risiken. Foucault selbst sah dieses Dispositiv als kennzeichnend für die modernen Gesellschaften, sein Aufkommen sei eng an das Aufkommen der liberalen Gouvernementalität im 18. Jahrhundert gekoppelt. Er grenzte das Sicherheitsdispositiv von der Frühen Neuzeit ab; so sei beispielsweise der Umgang mit den Pocken im 19./20. Jahrhundert ein anderer gewesen als der frühneuzeitliche Umgang mit der Pest, für die laut Foucault ein Dis­ziplinardispositiv kennzeichnend gewesen war. Eine einfache Übertragung des Foucaultschen Begriffs der Sicherheit auf die Frühe Neuzeit ist demnach schon durch die Werkexegese erschwert; vgl. Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (Vorlesung am Collège de France 1977–1978), Frankfurt a. M. 2004. Vgl. dazu Thomas Lemke u. a., Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung, in: Ulrich Bröckling u. a. (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M. 2000, S.7–41, S. 13ff. 11 In Überblicksdarstellungen zu Sozialpolitik und Sozialstaat wird dieser enge Nexus sehr deutlich: Carsten G. Ullrich bspw. definiert soziale Sicherung als „jene Kernbereiche des Sozialstaats, deren primäre Aufgabe in der Herstellung sozialer Sicherheit gesehen wird. Zu diesen zählen traditionell neben der Sozialhilfe vor allem die mittlerweile fünf Sozialversicherungen (Rentenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Arbeitslosenversicherung und Unfallversicherung)“. Carsten G. Ullrich, Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Eine Einführung, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 63. Er orientiert sich dabei an Franz Xaver Kaufmann, der zwischen sozialer Sicherheit als normativem Leitbild und sozialer Sicherung als dessen institutioneller Umsetzung unterscheidet. Auch Kaufmann, der im Unterschied zu zahlreichen Sozialpolitikexperten einen Blick für die Geschichte des Gegenstands in seine Überlegungen integriert, reserviert beide Begriffe für die Moderne. Vgl. Kaufmann, Sicherheit (wie Anm. 10), S. 73.

Das Beispiel der städtischen Zunft 513

hätte. Unumgänglich ist, dass er keinen teleologischen Verweis auf einen wie auch immer gestalteten Sozialstaat darstellt. Dies beinhaltet mehrere Aspekte: Zum einen ist die geringe Bedeutung zentralstaatlicher Institutionen in der Frühen Neuzeit anzuerkennen, woraus sich ergibt, dass eine Vielfalt an Akteuren (Obrigkeiten, Gruppen, Individuen) in Rechnung gestellt werden muss, deren Unterstützungspraktiken und -vorstellungen variierten, dabei häufig informell waren und daher schwer zu rekonstruieren sind. Zum zweiten wäre es verfehlt, das breite Spektrum frühneuzeitlicher Unterstützungsinstitutionen hinsichtlich ihrer Vorläuferfunktion für moderne Institutionen und Praktiken, besonders des Versicherungswesens, zu begreifen, was zwangsläufig eine Verzerrung ihrer zeitgenössischen Bedeutung darstellen würde. Dies beinhaltet in weiterer Folge, dass die für die Entstehung des Versicherungswesens zentrale Frage nach der Entstehung des Kalkulierens von Risiken auf statistischer Grundlage in ihrer Bedeutung für frühneuzeitliche Unterstützungspraktiken zu relativieren ist. Ferner müsste ein für die Vormoderne adäquater Begriff auf einer Diskussion darüber aufbauen, was sich denn in der Frühen Neuzeit überhaupt als ‚sozial‘ begreifen ließe. Unumgänglich scheint beispielsweise, die Memoria für Verstorbene mit in den Blick zu nehmen. Schließlich müsste anerkannt werden, dass das, was die Moderne so klar zu unterscheiden vorgibt, nämlich Hilfe und Geschäft, in der Frühen Neuzeit kaum zu trennen ist, wie sich etwa an der im Bereich des Handwerks häufig geübten Praxis der Darlehensvergabe an Bedürftige zeigt. Ist in diesem Beitrag von sozialer Sicherheit (als normativem Leitbild) bzw. sozialer Sicherung (als deren institutionelle Umsetzung) die Rede, dann unter Berücksichtigung der Bedingungen, die hier skizziert wurden. Was hier erfolgen soll, ist eine Bestandsaufnahme der Institutionen und Praktiken sozialer Sicherung, die sich für das deutschsprachige Zunfthandwerk in der Literatur nachweisen lassen. Diese Einrichtungen werden in Beziehung gesetzt zum handwerklichen Wirtschaften und den damit verknüpften sozialen Unsicherheiten.12 Abschließend soll auf Probleme und Potentiale der Forschung verwiesen werden.

II.  Zünftische Sicherungsmaßnahmen

Auf Grundlage der Handwerksordnungen lassen sich vielfältige Institutionen und Praktiken sozialer Sicherung im Zunfthandwerk rekonstruieren, die im Folgenden nach den davon hauptsächlich betroffenen Gruppen Meister, Gesellen und Witwen differenziert werden. Diese Übersicht umfasst keineswegs alle Maß 12 In

diesem Aufsatz wird der Begriff „Risiko“ nur vereinzelt verwendet, da er eine kalkulierbare Form der Unsicherheit umschreibt, von der im Kontext der zünftischen Sicherungsmaßnahmen nur partiell gesprochen werden kann; vgl. Wolfgang Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995.

514 Robert Brandt und Thomas Buchner

nahmen der sozialen Sicherung; einzelne Normen beispielsweise bezogen sich auf gewerbespezifische Unsicherheiten, die hier nur teilweise berücksichtigt werden können.13 Dabei ist zu beachten, dass zahlreiche Statuten von Zünften – aber auch von Gesellengilden und Bruderschaften – keine einschlägigen Regelungen beinhalten14 bzw. diese in jüngeren Ordnungen auch wieder spurlos verschwinden konnten. In welchem Ausmaß und in welcher Form einschlägige Regelungen in den Zunftstatuten in der Praxis relevant waren, muss in zahlreichen Fällen offen bleiben.15 Auf jeden Fall ist zu beachten, dass die auf soziale Sicherung zielende Tätigkeit der Zünfte und Gesellenbruderschaften auch in dem Kontext zu sehen ist, dass damit erstens ein gewichtiges Argument für die Legitimität des jeweiligen Zusammenschlusses gegeben war, zweitens etwaige fiskalische Begehrlichkeiten seitens städtischer und staatlicher Obrigkeiten abgewendet werden konnten sowie drittens – insbesondere im Falle der Gesellenbruderschaften – die Möglichkeit überhaupt erst eröffnet wurde, obrigkeitlich sanktionierte Autonomie zu erlangen. Die Normen sind unterschiedlich detailliert und reichen von vagen Absichtserklärungen, die Zunftgenossen zu unterstützen, bis zu ausführlichen Bestimmungen hinsichtlich Art und Umfang der zu gewährenden Leistungen. Die Unterstützungen erstreckten sich vom Stunden zünftischer Gebühren (z. B. Quartalsgeldern)16 bis zum Auszahlen von Beihilfen aus der Zunftlade. Ziel der einschlägigen Handwerksartikel war die rasche Wiederherstellung der ­Arbeitsfähigkeit und Selbständigkeit der betroffenen Meister und Gesellen; sahen die Artikel das Fortführungsrecht durch Witwen vor, sollte die Kontinuität der Werkstatt gewährleistet werden.

13

So findet sich beispielsweise bei manchen Müllerzünften die Regelung, wonach von Überschwemmungen betroffenen Meistern Unterstützung – in der Regel als Darlehen – gewährt werden soll; vgl. etwa Harald Uhl, Handwerk und Zünfte in Eferding. Materialien zum grundherrschaftlichen Zunfttypus (Fontes rerum Austriacum, Abt. 3: Fontes Iuris 3), Wien 1973, S. 114. 14 Lusiardi, Caritas (wie Anm. 8), S. 140 zieht nach Durchsicht der einschlägigen Literatur zum Spätmittelalter den Schluss, dass „nur eine Minderheit spätmittelalterlicher Genossenschaftsstatuten im deutschen Sprachraum solche [auf Praktiken kollektiver Selbsthilfe verweisenden] Regelungen beinhaltet“. 15 Englische Forschungen haben für spätmittelalterliche Bruderschaften mit religiösen und karitativen Funktionen nachgewiesen, dass diese paradoxerweise kaum arme Mitglieder unterstützt haben. Mit Verweis darauf räumt Lusiardi Ähnliches auch für den deutschsprachigen Raum ein, ohne freilich auf vergleichbares Quellenmaterial verweisen zu können. Vgl. Ben R. McRee, Charity and Gild Solidarity in Late Medieval England, in: Journal of British Studies 32 (1993), S. 195–225; Lusiardi, Caritas (wie Anm. 8), S. 143f. 16 Auf diese einfache, aber sehr häufig anzutreffende Form der Unterstützung verweist Keller, Armut und Tod (wie Anm. 6), S. 204f.

Das Beispiel der städtischen Zunft 515

III. Meister

Zunftmitgliedschaft konnte in gewissem Ausmaß per se soziale Sicherung darstellen oder materielle Sicherung voraussetzen. Die Ausübung einzelner Handwerke war mit Hausbesitz verbunden (z. B. Bäcker), in anderen Handwerken setzte die Aufnahme in die Zunft den Nachweis eines gewissen Kapitalstocks voraus (z. B. Gold- und Silberschmiede). Hinzu kamen mit dem Werkzeug und teils auch der Werkstatt wichtige Wertspeicher in der chronisch bargeldknappen vorindustriellen Ökonomie.17 Selbst das zur Verarbeitung überlassene Rohmaterial konnte gegebenenfalls von Handwerksmeistern verpfändet werden. Für die Habsburgermonarchie weiß man um die sogenannten Realgewerbe, also Handwerke, bei denen die Gewerbeberechtigung selbst einen Wert darstellte, der verkauft, vererbt oder belehnt werden konnte.18 Bereits an dieser Stelle ist auf Unterschiede zwischen den einzelnen Gewerben zu verweisen: Schneider oder Schuhmacher waren wenig kapitalintensive Gewerbe, im Unterschied etwa zu Edelmetall verarbeitenden Handwerken. Die Nahrungsmittelgewerbe wiederum, insbesondere Bäcker und Metzger, konnten gegebenenfalls auf finanzielle Unterstützung des Rates hoffen.19 Generell eröffnete der vorgeschriebene Erwerb des Bürgerrechts durch die Meister die Möglichkeit, eines der städtischen Unterstützungsangebote für Bürger nutzen zu können (kommunale Armenfürsorge, Bürgerspitäler etc.). In von Stadtadel und Kaufleuten dominierten Städten wie Nürnberg und Frankfurt am Main etwa, wo die Handwerke keine Zünfte bzw. nur eine begrenzte Zunftautonomie etablieren konnten, waren die Handwerke mangels eigener Institutionen gerade auf diese städtischen Einrichtungen angewiesen.20 17

Zum chronischen Liquiditätsmangel in der vorindustriellen Wirtschaft vgl. am Beispiel Nürnbergs Valentin Groebner, Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 108), Göttingen 1993. 18 Vgl. Josef Ehmer, Wien und seine Handwerker im 18. Jahrhundert, in: Kaufhold/­ Reininghaus, Stadt und Handwerk (wie Anm. 1), S. 195–210, S. 206 sowie ausführlicher Karl Pribram, Die Einlösung der Realgewerbe Wiens. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Gewerbepolitik, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich N.F. 28 (1904), S. 1411–1449. 19 Vgl. Groebner, Ökonomie ohne Haus (wie Anm. 17), S. 58. 2 0 Robert Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit. Städtisches Armenwesen in Frankfurt am Main und Köln (Kölner Historische Abhandlungen 31), Köln/Wien 1984, S. 63–73, 117–119, 121, 137–141, 144f., 171f., 176, 193–195; Kluge, Zünfte (wie Anm. 6), S. 323. Zu ergänzen sind in diesem Zusammenhang noch Stiftungen wie jene des Handelsmanns Konrad Mendel (ab 1388) oder jene des Montanunternehmers Matthäus Landauer (ab dem frühen 16. Jahrhundert) in Nürnberg, die jeweils zwölf alte Handwerker in einem Zwölfbruderhaus versorgen ließen. Auch die Augsburger Fuggerei stellte eine auf einer Stiftung basierende Versorgungseinrichtung für arme Tagelöhner und Handwerker dar, die in dieser Siedlung bei günstigem Mietzins ihrem Handwerk nachgehen

516 Robert Brandt und Thomas Buchner

Über individuelle Vorsorge von Meistern ist wenig bekannt; systematisch wurden diese Aspekte kaum untersucht. Verstreute Hinweise lassen aber für wohlhabendere Meister vielfältige Praktiken der Vermögensbildung erkennen (Immobilien, Leibrenten, Sterbekassen, Obligationen etc.), die auch der Minimierung der handwerksspezifischen Risiken und Unsicherheiten dienten. Ob wirklich alle Meister bis zum Tod arbeiten mussten, wie gelegentlich behauptet wird21, ist angesichts solcher Beobachtungen doch fraglich. Die kollektiven, in Zünften organisierten Bestrebungen auf dem Feld der sozialen Sicherheit lassen sich auf Basis der normativen Quellen folgendermaßen zusammenfassen:

IV.  Unfall und Krankheit

Die mit Krankheit und Unfall eines Meisters verbundenen finanziellen Schwierigkeiten suchten die Zünfte durch Stellung eines Gesellen, der die Arbeit fortführte22, und vor allem durch Gewährung von Darlehen zu mindern.23 Ein Rechtsanspruch auf ein Darlehen bestand nicht. Unterstützung wurde nur auf Antrag, bei Bedürftigkeit und bei Nachweis der Schuldlosigkeit gewährt. Gelegentlich wurden zunfteigene Krankenkassen mit freiwilliger Mitgliedschaft eingerichtet und Verträge mit Hospitälern abgeschlossen.24 Dieses System konnte sich als durchaus leistungsstark erweisen: 1828 wurden in Hamburg die Kosten des Aufenthalts von Handwerkern im kommunalen Krankenhaus zu etwa drei Vierteln

konnten; vgl. Rolf Kiessling, Vom Pfennigalmosen zur Aussteuerstiftung. Materielle Kultur in den Seelgeräten des Augsburger Bürgertums während des Mittelalters, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse (Hrsg), Materielle Kultur und religiöse Stiftung im Spätmittelalter. Internationales Round-Table-Gespräch Krems an der Donau 26. September 1988 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte 554), Wien 1990, S. 37–62, S. 50f; Wilhelm Treue u. a. (Hrsg.), Das Hausbuch der Mendelschen Zwölfbrüderstiftung zu Nürnberg. Deutsche Handwerkerbilder des 15. und 16. Jahrhunderts, München 1965. 21 Kluge, Zünfte (wie Anm. 6), S. 329. 2 2 Reith, Altersprobleme (wie Anm. 6), S. 23. 2 3 Zur Bedeutung des Darlehens als Form der Unterstützung vgl. Lusiardi, Caritas (wie Anm. 8), S. 141. 24 Bei den Krankenkassengründungen gab es eine große Bandbreite: In Bremen beispielsweise richteten einige Zünfte nach der Reformation eigene Versorgungskassen ein, jedoch bei Weiten nicht alle; auch waren die Versorgungsleistungen höchst unterschiedlich (vgl. Strube, Soziale Sicherung (wie Anm. 6), S. 12–39, 78–95). Neben der sozialen Lage war vermutlich meist der Grad der Autonomie ausschlaggebend dafür, ob Meister den Schritt zur Kassengründung gehen wollten und konnten oder ob sie kommunaler Fürsorge unterlagen.

Das Beispiel der städtischen Zunft 517

von der jeweiligen Zunft, dem Amt oder der Krankenkasse beglichen.25 Einzelne reiche Zünfte sollen sogar eigene Hospitäler gegründet haben.26 Grundsätzlich aber war die Pflege eines erkrankten Meisters zunächst die Aufgabe seiner Familienangehörigen.

V. Sicherung im Todesfall

Beim Tod eines Meisters sorgte die Zunft für Begräbnis und Memoria des Verstorbenen. Sie stellte die für das Begräbnis nötigen Gerätschaften und übernahm in unterschiedlichem Ausmaß anfallende Kosten. Seit dem 17. Jahrhundert häufiger anzutreffende eigene Begräbnisgesellschaften bzw. Sterbekassen zahlten eine bestimmte Summe an die Hinterbliebenen, sofern der Verstorbene regelmäßig Beiträge geleistet hatte, oder die Begräbniskasse finanzierte die Beerdigung.27 Einzelne Handwerke boten Bestattungen auch für Zunftfremde an und bauten diese Dienstleistung während der Frühen Neuzeit zu regelrechten „Bestattungsökonomien“ aus, die den Zunftkassen zusätzliche Einnahmen brachten. In Frankfurt am Main beispielsweise waren es vor allem Schneider und Schreiner, die zunächst nach der Reformation, als die bisher die Bestattung durchführenden Bruderschaften und Orden verschwunden waren, und dann vor allem im 18. Jahrhundert nicht nur Personen für den Leichenzug stellten, sondern auch nötiges Gerät (Leichentuch, Kerzen etc.) bereit hielten.28

VI. Sicherung gegen Armut

In vielen Ordnungen fehlen explizite Normen zum Umgang mit verarmten Meistern; meist werden nur allgemeine Verpflichtungen zum gegenseitigen Beistand genannt. Direkte Unterstützung gewährten Zünfte in Form von niedrig verzinsten Darlehen, die nach Vermögenslage zurückzuzahlen waren, oder man leistete regelmäßige Zuwendungen. Einzelne Belege deuten für manche Zünfte auf die 2 5 Reinhard

Spree, Handwerker und kommunale Krankenhäuser im 19. Jahrhundert, in: Kaufhold/Reininghaus, Stadt und Handwerk (wie Anm. 1), S. 269–300, S. 291. 2 6 Einzelne davon sollen Vorläufer der Allgemeinen Krankenhäuser im 19. Jahrhundert gewesen sein, vgl. ebd., S. 281; Reith, Altersprobleme (wie Anm. 6), S. 29; Fröhlich, Soziale Sicherung (wie Anm. 5), S. 196ff. Auch zu diesem Aspekt fehlen ausführlichere Studien, wie etwa auch Holger R. Stunz für das Spätmittelalter betont. Er selbst führt als Beispiel für eine Zunft als Trägerin eines Hospitals die Magdeburger Gewandschneiderzunft an. Ob allerdings Handwerker zu den Zunftmitgliedern zählten, ist nicht klar; vgl. Holger R. Stunz, Hospitäler im deutschsprachigen Raum im Spätmittelalter als Unternehmen für die caritas – Typen und Phasen der Finanzierung, in: Michael Matheus (Hrsg.), Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich (Geschichtliche Landeskunde 56), Stuttgart 2005, S. 129–159, S. 135f. 27 Vgl. für Sachsen Keller, Armut und Tod (wie Anm. 6), S. 215–217. 2 8 Heinz Lenhardt, Feste und Feiern des Frankfurter Handwerks, Frankfurt a. M. 1950, S. 65–71.

518 Robert Brandt und Thomas Buchner

Existenz eigener Armenkassen hin, die regelmäßige, in der Regel wöchentliche, Geldzuwendungen in festgelegter Höhe boten. Für ältere Meister sahen die Zunftartikel Naturalleistungen (Verpflegung, Bekleidung sowie Pflege und Betreuung), die Bevorzugung bei der Arbeitsvermittlung29 und auch das Stellen eines Gesellen vor; vereinzelt zahlte man auch eine Rente oder brachte ältere Meister in Hospitälern unter. Als indirekte Unterstützung lässt sich in einzelnen Ordnungen auch die Reservierung eines spezifischen Marktsegments (häufig Flickarbeiten) für ärmere Meister einordnen.30

VII. Gesellen

In den meisten Handwerken lebten Gesellen bei dem Meister, bei dem sie in A ­ rbeit standen. Daraus lässt sich aber nicht per se auf die Unterstützung erkrankter Gesellen durch die jeweiligen Meister schließen. Individuelle Vorsorge, wie sie zumindest für einen Teil der Meisterschaft möglich war, stand besonders aus finanziellen Gründen nur den wenigsten Gesellen offen.31 Studien zum sozialen Hintergrund der Bettler in der Frühen Neuzeit verweisen auf die Bettelei als Form der Selbsthilfe für Gesellen.32 Außerhalb von Zünften und Gesellschaften gab es nur vereinzelt institutionelle Unterstützung für Gesellen. In den Pestspitälern etwa konnten jene, die keine häusliche Pflege erwarten durften, aufgenommen werden.33 2 9

Vgl. Reith, Altersprobleme (wie Anm. 6), S. 23. Bei den Augsburger Schneidern etwa sollten Flickarbeiten für ältere Meister und Witwen reserviert sein, bei den Linzer Schneidern reservierte die 1644 erlassene Ordnung die Herstellung von Strümpfen für die beiden ältesten Stadtmeister. Vgl. Christine Werkstetter, Frauen im Augsburger Zunfthandwerk. Arbeit, Arbeitsbeziehungen und Geschlechterverhältnisse im 18. Jahrhundert (Colloquia Augustana 14), Berlin 2001, S. 203; Georg Grüll, Die Linzer Handwerkszünfte im Jahre 1655. Ein Beitrag zur Geschichte der Entstehung der allgemeinen Handwerksordnung, in: Jahrbuch der Stadt Linz (1952), S. 261–296, S. 271. 31 Vgl. Reith, Zur sozialen Lage der Handwerksgesellen (wie Anm. 6), S. 59f. 3 2 Schlenkrich/Bräuer, Armut (wie Anm. 1), S. 114; vgl. auch Sigrid Wadauer, Die Tour der Gesellen. Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 30), Frankfurt a. M. 2005, S. 314ff. Vgl. auch die sehr anschauliche Mikrostudie über einen invaliden, bettelnden Berliner Fleischhauergesellen bei Otto Ulbricht, Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 256–296. 3 3 Frank Hatje, Institutionen der Armen-, Kranken- und Daseinsfürsorge im nördlichen Deutschland (1500–1800), in: Martin Scheutz u. a. (Hrsg.), Europäisches Spitalwesen. Insti­ tutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hospitals and Institutional Care in Medieval and Early Modern Europe (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 51), Wien 2008, S. 307–350, S. 332. Vereinzelt nahmen die besonders im Mittelalter nachgewiesenen Bruder- bzw. Seelhäuser Handwerksgesellen auf, die während ihrer Wanderschaft erkrankt waren. Über Ausmaß oder Art dieser Leistungen ist aber wenig bekannt; vgl. Ludwig Ohngenach, Spitäler in Oberdeutschland, 3 0

Das Beispiel der städtischen Zunft 519

Davon abgesehen wurde Unterstützung für Gesellen im Rahmen etlicher Zunftordnungen geregelt. Für erkrankte Gesellen, welche gerade in Arbeit standen und nicht wanderten, wurde Unterstützung in Form von Spitalbetten oder Darlehen bereit gestellt. Von den obrigkeitlichen Institutionen der Fürsorge lösten sich bereits im Spätmittelalter Gesellen in Süddeutschland, die im Rahmen von Gesellengilden, -zechen oder -bruderschaften eigene Unterstützungseinrichtungen aufbauten, deren zentrale Aufgaben Krankenfürsorge und Begräbnis waren.34 Für das 14. und vor allem für das 15. Jahrhundert finden sich erste Hinweise auf Kranken- und Sterbekassen in den Städten Oberdeutschlands sowie am Oberund Mittelrhein. Im österreichischen Raum lassen sich seit dem 15. Jahrhundert von den Meistern kontrollierte Gesellenzechen bzw. -bruderschaften mit einschlägigen Regelungen nachweisen. Die Kassen – organisatorisch mal Teil der Gesellengilde, mal eigenständige Bruderschaften – richteten Krankenbüchsen ein, an welche die Gesellen regelmäßig Beiträge zu entrichten hatten, und gewährten ihren Mitgliedern im Krankheitsfall unter bestimmten Auflagen Darlehen. Letztere wurden häufig in zwei Teilen ausgezahlt; die erste Zahlung geschah auf Treu und Glauben, für die zweite musste ein Pfand hinterlegt oder es mussten in Einzelfällen sogar Bürgschaften eingeholt werden. Schon die ältesten bekannten Artikel regeln Rückzahlungsfristen und –modalitäten. Krank zuwandernden Gesellen sowie bei Krankheiten, die als selbst verschuldet galten (Syphilis etc.), wurde bereits seit dem 14./15. Jahrhundert jegliche Unterstützung verwehrt und drohte die Abschiebung aus der Stadt. Seit der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert sind differenziertere Regelungen überliefert (Höhe der Beiträge, Art der Krankheit, Kriterien für die Vergabe von Darlehen wie selbst verschuldetes und unverschuldetes Erkranken, Kosten etc.). Ab dem frühen 15. Jahrhundert kauften die Kassen Betten in Spitälern und trafen detaillierte Vereinbarungen über Art und Umfang der Leistungen (Verköstigung, Pflege, Grablege), denen Knut Schulz „überwiegend rechenhaften Charakter“ attestiert.35 Im Allgemeinen gewinnt man aus der vorliegenden Literatur den Eindruck, dass Art und Ausmaß der Unterstützung während der Frühen Neuzeit in zunehmendem Maße

Vorderösterreich und der Schweiz in der Frühen Neuzeit, in: ebd., S. 255–294, S. 278; ­Thomas Just, Herwig Weigl, Spitäler im südöstlichen Deutschland und in den österreichischen Ländern im Mittelalter, in: ebd., S. 149–184, S. 157. 3 4 Zum Folgenden vgl. generell Schulz, Handwerksgesellen (wie Anm. 6), S. 196–208; W ­ esoly, Lehrlinge (wie Anm. 6), S. 325–335; Andreas Baryli, Die Wiener Innungen und das Allge­ meine Krankenhaus, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 37 (1981), S. 88–116; Heinz Zatschek, Handwerk und Gewerbe in Wien. Von den Anfängen bis zur Erteilung der Gewerbefreiheit im Jahre 1859, Wien 1949, S. 108ff, 202ff. 3 5 Schulz, Handwerksgesellen (wie Anm. 6), S. 201.

520 Robert Brandt und Thomas Buchner

in Beziehung gesetzt wurden zu vorhergegangener Beitragsleistung.36 Vereinzelt kam es auch durch Gesellengilden zur Gründung eigener, kleiner Spitäler. Wurden die ersten Kassen noch von verheirateten und damit außerhalb des Meisterhaushalts lebenden Gesellen gegründet (Wollweber), so sind es bereits seit Beginn des 15. Jahrhunderts vor allem Gesellen aus den großen und finanzstarken Handwerken (Bäcker, Müller, Kürschner, Schmiede etc.), die Kassen einrichteten. Andere Gesellengilden am Rhein, in Oberdeutschland und in Sachsen folgten diesen Vorbildern, wobei zu beachten ist, dass Belege nur für einzelne Städte und Gewerbe vorliegen. Unklar ist auch, welche Bedeutung diesen Kassen jenseits der Normen zukam und wie sie in unterschiedlichen und sich wandelnden Kontexten agierten; überliefert ist beispielsweise, dass sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts angesichts wachsender ökonomischer Probleme Gesellen ihrer Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Kassen zu entziehen versuchten. Selbst finanzstarke Gilden dürften in wirtschaftlich schlechten Zeiten, zumindest aber im Gefolge von Seuchenzügen, die Leistungen der Kassenlage angepasst haben, um das Überleben der Kassen zu sichern. Die Expansion des Kassenwesens seit dem 16. Jahrhundert wurde bisher kaum untersucht. Zwischen den Anfängen im Spätmittelalter und der Situation am Ende des 18. Jahrhunderts, als beispielsweise in Berlin „nahezu alle Gesellschaften“ eine Büchse für den Krankheits- und Todesfall besessen haben sollen, klafft eine große historiographische Lücke.37 In Bremen, einer der wenigen untersuchten Städte, wurden die ersten Gesellenkassen nach der Reformation gegründet, also später als in Süddeutschland, wo sich, wie bereits erwähnt wurde, die Gesellen schon früh von den kirchlichen und städtischen Institutionen der Fürsorge lösten.38 Gemeinsame Merkmale der Bremer Gesellenkassen waren – durchaus ähnlich zu süddeutschen Entwicklungen – die Beitrittspflicht für alle Gesellen einer Zunft, ärztliche Untersuchung vor Aufnahme in die Krankenkasse sowie Kontrolle der Kranken durch die Altgesellen. Allerdings gab es hier neben diesen Kassen eine große Zahl von Gesellengilden, die Versorgungseinrichtungen dieser Art nie besessen haben. In Köln wurden neben den seit dem Spätmittelalter auch karitativ tätigen Bruderschaften im 18. Jahrhundert so genannte „Cassa Bru-

3 6

Darin allerdings nun eine Vorstufe der modernen Versicherung zu sehen, ist nicht unproblematisch. Einzelne Kennzeichen des modernen Versicherungsverständnisses wie der Rechtsanspruch auf Unterstützung bei erbrachten Beiträgen war bei den Unterstützungsmaßnahmen durch Zünfte und Gesellenbruderschaften nicht oder nur in Ausnahmen gegeben. Unabhängig davon bleibt die Frage, inwieweit teleologische Annahmen dem Forschungsgegenstand gerecht werden (s. u. „Probleme und Potentiale der Forschung“). 37 Schultz, Das ehrbare Handwerk (wie Anm. 6), S. 105–108, 126–132, S. 105. 3 8 Strube, Soziale Sicherung (wie Anm. 6), S. 42–77.

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derschafften“, also Krankenkassen, gegründet, darunter vermutlich auch einige wenige von Gesellen.39 Die Gesellenkassen wurden, so sie sich auf karitative Zwecke beschränkten, in der Regel von den Obrigkeiten toleriert und teils unterstützt. Aufgrund der erkennbaren Entlastung des zünftigen, städtischen und landesherrlichen Fürsorgewesens waren die Kranken- und Sterbekassen der Gesellen, soweit sie sich auf diese Aufgaben beschränkten, „nie ernstlich durch ein Verbot gefährdet“.40 Kontinuitäten lassen sich folglich vereinzelt bis ins 19. Jahrhundert nachweisen.

VIII. Witwen

Obwohl sich der Forschungsstand zu Meisterwitwen in den letzten Jahren deutlich verbessert hat, lassen sich auch hier nur vereinzelt Aussagen jenseits der Normen treffen. Bezeichnend ist hier beispielsweise Fröhlichs Einschätzung: „Viele Zünfte“ hätten Witwen die Werkstatt weiterführen lassen, „viele Zünfte“ hingegen hätten ihnen dieses aber auch verweigert.41 In der Literatur hat besonders das Recht auf Fortführung des Handwerks Aufmerksamkeit erfahren. Die bisher vorliegenden Hinweise deuten darauf hin, dass dieses Recht, wenn auch nur vereinzelt in den Normen verankert, zumindest weithin geübte Praxis war. Wo einschlägige Normen nachweisbar sind, findet sich eine Vielfalt an Regelungen, in denen das Recht zeitlich befristet bzw. mit dem Vorhandensein unmündiger Kinder, offener Aufträge oder noch nicht verarbeiteter Rohstoffe in Verbindung gesetzt wurde.42 In vielen Normen endete das Fortführungsrecht mit der Verheiratung der Witwe. Einzelne empirische Untersuchungen43 verweisen darauf, dass in der Praxis auf diese Normen rekurriert werden konnte, die genauen Bedingungen der Fortführung aber letztlich Aushandlungsprozessen und lokaler Praxis unterworfen waren. Die Einordnung des Rechts auf Fortführung des Handwerks ist charakteristisch für die Schwierigkeiten, in diesem Zusammenhang mit einem Begriff wie ‚soziale Sicherheit‘ zu operieren. Einerseits ermöglichte dies Witwen ein mehr oder minder selbständiges Erwirtschaften des eigenen Lebensunterhalts, was sie gegenüber anderen von Armut bedrohten Witwen höchstwahrscheinlich privilegiert haben dürfte. Doch in der Forschung zeigen sich unterschiedliche Einschätzungen des Fortführungsrechts. Für die einen handelte es sich dabei 3 9 Mallinckrodt, Struktur (wie Anm. 8), S. 343–354.

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Wesoly, Lehrlinge (wie Anm. 6), S. 335. Fröhlich, Soziale Sicherung (wie Anm. 5), S. 74. 4 2 Vgl. die bereits von Rudolf Wissell gesammelten Beispiele: Rudolf Wissell, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, Bd. 2.2, erweiterte und bearbeitete Auflage, hrsg. von Ernst Schraepler, Berlin 1974, S. 435ff. 4 3 Vgl. etwa Werkstetter, Frauen (wie Anm. 30), S. 145ff. 41

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um eine wichtige Versorgungsmöglichkeit von Witwen44, für andere hingegen fungierten diese als „Platzhalter“45, deren Funktion als „‘Einspringen‘“46 beschrieben werden könne. Damit wäre die – von den Zünften favorisierte – Kontinuität der Werkstatt gewährleistet, bis diese wieder von einem Mann übernommen werden konnte. Auch hier ist eine pauschale Einschätzung nicht möglich, hängt doch die Fortführung einer Werkstatt durch eine Witwe nicht nur vom Votum der Zunft ab, etwa in Fällen, wo es sich um eine vererbbare Realgerechtigkeit handelte. Es wäre demnach das Fortführungsrecht jeweils im Zusammenhang mit Erbrecht bzw. Erbpraktiken zu diskutieren. Darüber hinaus konnte die Übernahme einer Werkstatt durch eine Witwe auch Anlass für Unterstützungsmaßnahmen seitens der Zünfte bieten, etwa wenn die Werkstatt überschuldet war – bei vorangegangener Krankheit des Mannes keine ungewöhnliche Situation – und Kinder zu versorgen waren. Ähnlich wie bei älteren Meistern sind hier Maßnahmen zu nennen wie beispielsweise die Reservierung eines spezifischen Tätigkeitsbereiches (z. B. Flickarbeit bei den Schneidern) oder die Bevorzugung bei der Arbeits­vermittlung. Allerdings entwickelten sich im 18. Jahrhundert – vermutlich in den reicheren Zünften47 – auch eigene Witwenkassen im Handwerk, die daraufhin zu überprüfen wären, ob sie mit Bemühungen zusammenhingen, das Fortführungsrecht der Witwen zu beschränken.

IX.  Handwerkliches Wirtschaften und die spezifischen U ­ nsicherheiten im Handwerk

Eine Einschätzung der Sicherungsmaßnahmen von Zünften und Gesellenvereinigungen ist nur möglich, wenn die spezifischen Unsicherheiten und Verarmungsursachen im Handwerk berücksichtigt werden.

4 4

Vgl. etwa Annemarie Steidl, ‘Trost für die Zukunft der Zurückgelassenen…‘. Witwenpensionen im Wiener Handwerk im 18. und 19. Jahrhundert“, in: Josef Ehmer/Peter Gutschner (Hrsg.), Das Alter im Spiel der Generationen. Historische und sozialwissenschaftliche Beiträge, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 320–347, S. 323f. 4 5 Katharina Simon-Muscheid, Frauenarbeit und Männerehre. Der Geschlechterdiskurs im Handwerk, in: dies. (Hrsg.), ‚Was nützt die Schusterin dem Schmied?‘. Frauen und Handwerk vor der Industrialisierung (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft Bd. 22), Frankfurt a. M./New York 1998, S. 13–33, S. 29. 4 6 Gesa Ingendahl, Witwen in der Frühen Neuzeit. Eine kulturhistorische Studie (Geschichte und Geschlechter 54), Frankfurt a. M./New York 2006, S. 164. Vgl. auch den Beitrag von ­Gesa Ingendahl in diesem Band. 47 In Wien beispielsweise wurde die erste einschlägige Kasse 1764 bei den Badern und Chirurgen gegründet, es folgten 1774 die bürgerlichen Seidenzeugmacher und 1801 die Goldschmiede; vgl. Steidl, ‘Trost für die Zukunft‘ (wie Anm. 44), S. 330.

Das Beispiel der städtischen Zunft 523

Verarmungsprozesse im Handwerk hängen zunächst einmal mit strukturellen Merkmalen der frühneuzeitlichen Ökonomie zusammen: Hier sind die ökonomischen Zyklen zu nennen, die Saisonalität zahlreicher Gewerbe sowie der Umstand, dass in der auf Kredit beruhenden Wirtschaft Zahlungsausfälle zu erheblichen individuellen materiellen Schwierigkeiten führen konnten. Ereignisse wie Krieg, Brand, Raub oder Seuchenzüge bildeten ebenso Teil des Ursachenbündels. Davon abgesehen hingen Verarmungsprozesse in erster Linie damit zusammen, dass Handwerker auf ihre – vor allem körperliche – Arbeitsfähigkeit angewiesen waren, um sich den Lebensunterhalt erwirtschaften zu können. Wesentlich war nun, ob diese Arbeitsfähigkeit individuell erhalten werden konnte und vor allem ob ihre Bedeutung für die Bestreitung des Lebensunterhaltes durch den Erwerb von Besitz relativiert werden konnte.48 Dahinter verbargen sich lebenszyklisch unterschiedlich verteilte Risiken der Verarmung in der Frühen Neuzeit.49 Dies bedeutet, dass gerade jene Gruppen, die alterten, ohne in der Lage zu sein, nennenswerte Rücklagen aufbauen zu können, besonders Gefahr liefen, auf Unterstützung anderer angewiesen zu sein. Dies traf auf Gesellen zu50, was deren prominente Rolle im Rahmen eigener sowie zünftischer Institutionen der sozialen Sicherung erklärt. Dies galt aber auch für jene Meister, die sich in materieller Hinsicht kaum von der Mehrzahl der Gesellen unterschieden. Hierzu zählten zahlreiche so genannte Alleinmeister, die ohne nennenswerten Besitz ihr Handwerk alleine oder mit Hilfe ihrer Familien betrieben, und in vergleichbarem Maße auf die eigene Arbeitsfähigkeit angewiesen waren. Auch bei den Verarmungsursachen sind gewerbespezifische Unterschiede zu nennen, womit die vielfach starken innergewerblichen Besitzunterschiede nicht relativiert werden sollen. Ein besonderes Verarmungsrisiko wird häufig den Massenhandwerken und insbesondere den exportorientierten Textilgewerben unterstellt.51 Tatsächlich konnten Schneider oder Schuhmacher ihr Handwerk ohne große Investitionen treiben, sie verfügten auch über tendenziell weniger Kapital, waren aber zugleich in größerem Maße der Konkurrenz von außerhalb der Zünfte ausgesetzt. Gewerbespezifische Verarmungsrisiken anderer Art bar 4 8

Helmut Bräuer verweist darauf, dass Handwerksmeister in Krisenzeiten gezwungen waren, Kosten für Hilfskräfte einzusparen und die eigene Arbeitskraft bzw. jene ihrer Familienangehörigen stärker einzubringen. Das individuelle Arbeitsvermögen gewann damit an Bedeutung; vgl. Helmut Bräuer, ‚…und hat seithero gebetlet‘. Bettler und Bettelwesen in Wien und Niederösterreich zur Zeit Leopolds I., Wien/Köln/Weimar 1996, S. 131. 49 Vgl. Martin Dinges, Neues in der Forschung zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Armut?, in: Gilomen/Studer, Von der Barmherzigkeit (wie Anm. 8), S. 21–43, S. 23. 5 0 Vgl. Reith, Altersprobleme (wie Anm. 6), S. 17. 51 Helmut Bräuer, Armut in der frühen Neuzeit – Sachsen und Österreich im Vergleich, in: Ernst Bruckmüller (Hrsg.), Armut und Reichtum in der Geschichte Österreichs, Wien/ München 2010, S. 32–57, S. 49.

524 Robert Brandt und Thomas Buchner

gen die grundsätzlich besser gestellten Nahrungsmittelhandwerke, da sie häufig mit verderblicher Ware handelten, die teils (wie bei den Metzgern) mit hohem Investitionsbedarf verbunden waren. Gewerbespezifische Ursachen anderer Art lassen sich in den bislang kaum erforschten ‚Berufskrankheiten‘ erkennen, die besonders im Alter Invalidität und Verarmung zur Folge haben konnten. Diese Verarmungsursachen sind angesichts des beachtlichen Anteils von Handwerkern unter den Bettlern von großer Bedeutung. Unter den im späten 17. Jahrhundert in Wien visitierten Bettlern beispielsweise war jeder Dritte Handwerker.52 Zugleich wäre es aber verfehlt, das Handwerk als besonders verarmungsanfällig zu bezeichnen. Dagegen spricht der Umstand, dass zahlreiche Handwerke saisonal betrieben wurden, und damit selbst in städtischen Zentren mit einem hohen Grad arbeitsteiliger Produktion das Handwerk nicht die einzige und auch nicht per se die primäre Quelle war, den Lebensunterhalt zu erwirtschaften; eine gewisse Risikostreuung dürfte die Folge gewesen sein. Überdies war Armut in ihrem Ausmaß von temporären und saisonalen Schwankungen geprägt, was auch für Handwerker den Schluss zulässt, dass Phasen der Bedürftigkeit keinen endgültigen sozialen Abstieg bedeuten mussten. Das Darlehen als primäre Unterstützungsform könnte deshalb als Versuch interpretiert werden, dem Rechnung zu tragen. Davon abgesehen wurde das Handwerk auch als Möglichkeit des sozialen Aufstiegs begriffen: So ermöglichten viele Waisenhäuser Waisenjungen eine Handwerkslehre.53 Auch spricht die Tatsache, dass es während der gesamten Frühen Neuzeit zahlreichen Handwerkern gelang, die teils erheblichen und vielfach steigenden Kosten für den Erwerb des Bürgerrechts aufzubringen, sowohl für die Attraktivität des Handwerks als auch für das soziale und ökonomische Potential der Handwerker – was sich übrigens auch im Zugang zu vielfältigen Kreditquellen ausdrücken konnte.

X.  Probleme und Potentiale der Forschung

Abschließend sollen einzelne Probleme und Potentiale der Forschung skizziert werden. Der Forschungsstand erlaubt es weniger, Antworten zu geben, als vielmehr, Fragen zu formulieren, die unserer Ansicht nach auf das Potential künftiger Arbeiten verweisen. Aus dieser Zusammenschau wurde deutlich, dass es systematischer Studien bedarf, die sich nicht nur auf normative Quellen stützen, um für eine Stadt, eine Region oder ein Gewerbe die Bedeutung und Funktionsweise der vielfältigen Formen sozialer Sicherung einschätzen zu können. Hierbei ist es unerlässlich, institutionelle Formen der Unterstützung (z. B. Gesellenkassen) 5 2

5 3

Bräuer, „und hat seithero gebetlet“ (wie Anm. 48), S. 129. Vgl. beispielsweise Martin Scheutz/Alfred Stefan Weiß, Spitäler im bayerischen und österreichischen Raum in der Frühen Neuzeit (bis 1800), in: Scheutz, Europäisches Spitalwesen (wie Anm. 33), S. 185–229, S. 195.

Das Beispiel der städtischen Zunft 525

nicht isoliert zu betrachten, sondern jeweils im Zusammenhang mit individuellen und informellen Formen, das Auskommen zu sichern. Erst dies würde auch eine bessere Einschätzung der Bedeutung von Verschriftlichung und Normierung erlauben. War die schriftliche Regulierung von Unterstützungsleistungen Ausdruck von Bürokratisierung und Rationalisierung, die das Ende der „natürlichen“ Solidarität im Zunfthandwerk markierten? Steht Verschriftlichung in Zusammenhang mit einer Monetarisierung – und damit Bewertung – bislang nichtmonetär geleisteter Dienste, beispielsweise: Bettenkauf im Spital anstelle der persönlichen Pflege erkrankter Gesellen durch andere Gesellen? Welche Rolle spielten dabei pragmatische Entwicklungen, etwa dass die Größe der Zunft oder die Territorialisierung des Zunftwesens schriftliche Regulierungen förderten? Hierbei sind auch gegenläufige Tendenzen, also etwa Entschriftlichung, zu berücksichtigen: In manchen Ordnungen werden Einrichtungen und Maßnahmen nicht mehr erwähnt, die in älteren Ordnungen enthalten waren.54 Ferner ist zu beachten, dass für einzelne Städte die Existenz obrigkeitlich anerkannter Zünfte nachgewiesen wurde, die über keine schriftliche Zunftordnung verfügten.55 Zu systematisieren wären auch die Kassenleistungen und die Struktur der Kassen. Kann man wirklich von einer Entwicklung ausgehen, wie sie vor allem in der versicherungswissenschaftlichen Literatur skizziert wird: Vom einfachen Almosen unter den Mitgliedern des Handwerks über das Darlehen, das aus der Büchse der Zunft oder Gesellenbruderschaft gezahlt wurde, hin zur Versicherung mit Rechtsanspruch auf Unterstützung, die auf Umlageverfahren und einer von den Büchsen getrennten Kasse basierte? Oder gab es nicht zu viele handwerksspezifische, konfessionelle sowie andere lokale bzw. regionale Unterschiede zwischen den Gewerben, die eine solche Linearität und Teleologie – am Ende der Entwicklung steht der Versicherungstyp des 19./20. Jahrhunderts – eigentlich ausschließen? Eine äußerst komplexe Frage schließt sich an, verbunden mit einer fundamentalen Kritik zentraler Grundannahmen der älteren Handwerksgeschichtsschreibung: Was lässt sich mit der Diskussion sozialer Sicherheit über die soziale Kohäsion im Zunfthandwerk sagen, ein Aspekt, der in der Forschung bisher selten angesprochen wurde, den aber Bert de Munck in einem jüngeren Aufsatz am Beispiel Antwerpens diskutiert hat.56 Deutet die Etablierung von Kassen mit 5 4

Vgl. etwa Uhl, Handwerk und Zünfte (wie Anm. 13), S. 70.

5 5 In Linz beispielsweise hatten von 47 im Rahmen einer 1655 durchgeführten Erhebung über

die Handwerksmissbräuche erfassten Zünfte 22 keine Ordnung; vgl. Grüll, Die Linzer Handwerkszünfte (wie Anm. 30). 5 6 Bert de Munck, Fiscalizing solidarity (from below). Poor relief in Antwerp guilds: between community building and public service, in: Manon van der Heijden u. a. (Hrsg.), Serving

526 Robert Brandt und Thomas Buchner

definierten Zugangs- und Bezugsregeln auf schwache oder ganz im Gegenteil auf starke Bindungen hin? Bert de Munck kommt am Beispiel Antwerpens zu dem Schluss, dass die Etablierung zünftischer Unterstützungskassen als Resultat eines schwächer werdenden Ethos der Brüderlichkeit und Gleichheit zu interpretieren ist. Gleichwohl geht auch de Munck von der Annahme eines direkten Zusammenhangs zwischen sozialer Sicherung und sozialer Kohäsion aus, was gleichwohl erst der näheren Diskussion bedarf. Unumgänglich ist die Einordnung sozialer Sicherungssysteme im Handwerk in andere Formen der organisierten und der nicht organisierten Selbsthilfe. Wie sind die zünftischen Einrichtungen in individuelle Praktiken zur Organisierung des Lebensunterhalts einzuordnen?57 Konnte aus dieser Perspektive Zunftmitgliedschaft auch eine Investition in künftige Sicherungsleistungen darstellen? Welche Bedeutung hatten konfessionelle Unterschiede? Martin Dinges verweist darauf, dass institutionelle Reformprozesse bei der Armenfürsorge über Länder- und Konfessionsgrenzen hinweg ähnlich verliefen und die Bedeutung der Reformation daher nicht überschätzt werden dürfe. Für den Bereich des Handwerks verweist er auf die zeitliche Parallelität der gegenreformatorischen Renaissance katholischer Bruderschaften und des Aufbaus handwerklicher Leichen- und Sterbekassen.58 Bert de Munck kommt für die Antwerpener Zünfte zu dem Schluss, dass konfessionelle Gründe für die Etablierung von Unterstützungskassen nicht maßgeblich waren.59 Allerdings fehlen auch hier Forschungen, um diese Beobachtungen für den handwerklichen Bereich bzw. für den deutschsprachigen Raum näher überprüfen zu können. Welche Rolle spielten die Kommunalisierung und Verstaatlichung des Armenwesens und wie ist hier der Ausbau zünftischer Leistungen in der Frühen Neuzeit einzuordnen? In welchem Verhältnis standen diese zu Institutionen der Armenpflege? Das Verhältnis zu den Spitälern etwa war durchaus nicht nur ungetrübt: Einerseits investierten Zünfte in Spitäler und bezogen Kredite von dort60; von „Störern“ konfiszierte Ware wurde in vielen Fällen zugunsten eines Spitals the Urban Community. The Rise of Public Facilities in the Low Countries, Amsterdam 2009, S. 168–193. 57 Für Dinges ist die größere Bedeutung informeller Formen der Selbsthilfe evident, wobei er besonders Beziehungen zu Verwandten, Nachbarn, aber etwa auch Zunftgenossen zählt. „Die Handwerker hatten durch Zünfte etc. lediglich zusätzliches Sozialkapital, das aber nicht überschätzt werden sollte“; Dinges, Neues in der Forschung (wie Anm. 49), S. 25. 5 8 Ebd., S. 30, 34. 59 De Munck, Fiscalizing solidarity (wie Anm. 56), S. 178. 6 0 Zu Zünften und Handwerkern als Kreditnehmern von und Kreditgeber für Spitäler vgl. Ohngenach, Spitäler in Oberdeutschland (wie Anm. 33), S. 266; Hannes Lambacher, Das Spital der Reichsstadt Memmingen. Geschichte einer Fürsorgeanstalt, eines Herrschaftsträgers und wirtschaftlichen Großbetriebes und dessen Beitrag zur Entwicklung Stadt und Land (Memminger Forschungen 1), Kempten 1991, S. 276–288.

Das Beispiel der städtischen Zunft 527

veräußert. Andererseits finden sich immer wieder Klagen über die Konkurrenz durch Handwerker, die in Spitälern lebten.61 Welche Bedeutung hatte das Darlehen als primäre Form der Unterstützung? Hatte die Vergabe von Darlehen nicht den angenehmen „Nebeneffekt“, die Abhängigkeit der Kassen von kontinuierlichen Beiträgen zu relativieren, eine Überlegung, die Sandra Bos in den Raum gestellt hat.62 Und ist dies als Spezifikum des mitteleuropäischen Systems zu sehen, während beispielsweise in den Niederlanden Geldbeträge ohne Rückzahlungsverpflichtung ausgegeben wurden?63 Ein Vorteil, Unterstützung als Darlehen zu gewähren, liegt gewiss darin, dass sich die Kassen durch die teilweise Rückzahlung der gewährten Unterstützung zumindest zu einem gewissen Teil selbst finanzierten, was eine breite Unterstützung auch bei einem relativ niedrigen Beitragsniveau erlaubte. Daraus folgen allerdings gleich mehrere grundlegende Fragen, die beim derzeitigen Forschungsstand – dies sei an dieser Stelle abschließend nochmals betont – schlicht nicht beantwortet werden können: Wie liquide waren die Kassen eigentlich? Inwieweit wurden sie am Kapitalmarkt aktiv, um ihre Liquidität zu erhöhen und von laufenden Beiträgen unabhängiger zu werden? Und wie liquide mussten sie sein, um überhaupt Unterstützung gewähren zu können?

61

Vgl. etwa Martin Scheutz, Supplikationen an den ‚ersamen Rat‘ um Aufnahme ins Bürgerspital. Inklusions- und Exklusionsprozesse am Beispiel der Spitäler von Zwettl und Scheibbs, in: Sebastian Schmidt (Hrsg.), Arme und ihre Lebensperspektiven in der Frühen Neuzeit (Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart Bd. 10), Frankfurt a. M. 2008, S. 157–206, S. 204f. 6 2 Bos, „Uyt liefde tot malcander“ (wie Anm. 9), S. 296. 6 3 Vgl. ebd.

Thomas Sokoll

Soziale Sicherheit, soziale Sicherung, Subsistenzsicherung. ­Ein Kommentar Die Beiträge dieser Sektion behandeln unterschiedliche Formen und Ansätze, um für bestimmte Zielgruppen soziale Sicherheit zu erreichen, oder vielleicht sollte man vorsichtiger sagen: um ihre soziale Unsicherheit aufzufangen und einzudämmen oder zumindest deren Auswirkungen zu lindern. Auch methodisch sind die vier Kapitel ganz unterschiedlich ausgerichtet: Joel Harrington und Gesa Ingendahl bieten Fallstudien, Robert Brandt und Thomas Buchner einen thematischen Überblick, Sebastian Schmidt eine Kombination aus beidem. Zu jedem einzelnen der Beiträge ließe sich in der Sache wie auch in methodischer Hinsicht eine ganze Reihe von Fragen aufwerfen und diskutieren. Ich habe jedoch einen anderen Weg gewählt und möchte meinen Kommentar dazu nutzen, die Beiträge systematisch zu bündeln und als Gesamtpaket zu würdigen, aus dem sich eine vergleichende Perspektive auf übergreifende Gesichtspunkte und Probleme eröffnen lässt. Zu diesem Zweck habe ich die behandelten Fälle und Themen in eine einfache Matrix des Formats 4 × 4 eingetragen (Tabelle 1). Soziale Sicherung

Kinder

Individuell Familial

Tab 1 

Erwachsene

Alte ­Menschen Witwen in Ravensburg

Findelkinder bei ­Pflegeeltern in Nürnberg

Kollektiv/ Korporativ Anstaltlich

Jugendliche

Lehrlinge, Gesellen und Handwerksmeister in der Zunft (und in Gesellenbruderschaften) Kinder im Findelhaus Nürnberg/­ Arbeitshaus Trier

Jugendliche, erwachsene und alte Arme/Bettler im Arbeitshaus Trier

Formen der sozialen Sicherung nach Lebenszyklusphase: ausgewählte Orte, 1500–1800;

Quelle: Beiträge der Sektion Soziale Sicherheit von Brandt/Buchner, Harrington, ­Ingendahl und Schmidt.

Dabei ist es kaum verwunderlich, dass gar nicht alle 16 Zellen der Matrix ausgefüllt sind. Überraschend ist vielmehr umgekehrt, wie weit das thematische Feld ausfällt, das sich auf diese Weise ergibt. Unsere vier Sektionsbeiträge umspannen nämlich nicht nur den gesamten lebenszyklischen Bogen über die vier Altersgruppen von der Kindheit über die Jugend und das Erwachsenenalter bis ins

Soziale Sicherheit, soziale Sicherung, Subsistenzsicherung 529

hohe Alter, sondern decken auch vier grundlegende Typen der institutionellen Ausgestaltung der sozialen Sicherung ab, von der Einzelperson über Familie und genossenschaftliche Organisation bis hin zur (geschlossenen) Anstalt. Ein weiterer Vorteil dieser einfachen Synopse besteht darin, dass sie sofort den Wunsch nach systematischer Erweiterung weckt, und zwar nicht nur deshalb, weil sie manche der in den vier Beiträgen angesprochenen Aspekte der sozialen Sicherheit nur implizit abdeckt (etwa: die Geschlechterordnung im Rahmen der Familie), ohne sie in dem Maße zu explizieren, wie es der Sache nach eigentlich angezeigt wäre, sondern vor allem deshalb, weil sie andere Dimensionen der sozialen Sicherheit im Grunde ganz ausspart. So müsste z. B. die Sozialstruktur aufgenommen werden, denn auch die soziale Sicherung war gerade in der Frühen Neuzeit hierarchisch gestaffelt. Stets haben wir es mit standes-, schichten- und klassenspezifisch ungleichen Vermögensmassen, Einkommensströmen und Versorgungslagen zu tun, denen unterschiedliche Ansprüche auf soziale Sicherung und unterschiedliche Möglichkeiten ihrer Durchsetzung und Ausgestaltung entsprechen: hier die Anwartschaft einer wohlhabenden Ravensburger Kaufmannswitwe, dort die Zwangseinweisung eines Straßenkindes ins Nürnberger Findelhaus oder seine Unterbringung in einer Pflegefamilie. Als nächstes wären (wie bereits angedeutet) die geschlechtsspezifischen Brechungen jeder dieser drei Dimensionen zu berücksichtigen, ferner das ideologische Feld, das sich mit dem der Konfessionen überschneidet, oder auch demographische Faktoren. Und bei alledem wäre die historische Gretchenfrage nach den Veränderungen im Zeitverlauf (und umgekehrt: nach Kontinuitäten und Konstanten) noch nicht einmal gestellt. Es versteht sich von selbst, dass der Entwurf einer solchen umfassenden systematischen Matrix zur analytischen Erschließung des Problems der sozialen Sicherheit in der Frühen Neuzeit meinen vorgegeben Rahmen sprengen würde. Ich bleibe daher der Einfachheit halber bei meiner schlichten Ausgangstabelle (Lebenslauf überkreuzt mit institutioneller Konstellation), betone nochmals, dass ‚quer‘ dazu weitere Dimensionen stets mitzudenken sind (vor allem: Geschlecht und Stand/Klasse), und versuche, auf dieser Basis einige weiterführende Überlegungen anzustellen.1

1

Zu Stand/Klasse Hans-Ulrich Wehler, Vorüberlegungen zur historischen Analyse sozialer Ungleichheit, in: ders. (Hrsg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, S. 9–32; ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1987, S. 124–217. Zur frühneuzeitlichen Geschlechterordnung Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992; Natalie Zemon Davis, Frauen und Gesellschaft am Beginn der Neuzeit, Berlin 1986. Konzeptionell brillant Ivan Illich, Genus. Zu einer historischen Kritik der Gleichheit, München 1995. Dem Charakter eines Kommentars entsprechend beschränken sich meine Literaturhinweise auf wenige Schlaglichter.

530 Thomas Sokoll

Die institutionelle Komponente ließe sich auch als eigene Kreuztabelle (2 × 2) sortieren, um die Kontraste zwischen den Optionen noch deutlicher herauszustreichen: individuell versus kollektiv/korporativ, familial versus anstaltlich.2 Dabei fällt auf, dass die individuellen (Leibzucht bei Ingendahl) und kollektiven/ korporativen (Zunft bei Brandt/Buchner) Formen der sozialen Sicherung allesamt Vertragscharakter besitzen. Für das bäuerliche Ausgedinge (das ich hier ergänze) gilt dasselbe.3 Einen Vertrag zur sozialen Sicherung kann man aber nicht schließen, wenn man über keine nennenswerten materiellen Ressourcen verfügt. Sozialversicherungsverträge kamen daher innerhalb unseres Untersuchungszeitraums für weite Teile der Bevölkerung überhaupt nicht in Frage. Ganz anders die Familie auf der einen und Institutionen wie Findelhaus, Arbeitshaus etc. auf der anderen Seite. Sie kamen als soziale Orte der sozialen Sicherung auch (oder vielmehr: gerade) in den minderbemittelten Schichten potentiell für jeden in Frage, wobei erstere einen Freiraum markierte, während letztere Zwangsanstalten waren, woraus für die Betroffenen (so paradox dies zunächst klingen mag) in beiden Fällen beträchtliche Handlungsoptionen erwachsen konnten. Die Familie (demographisch genauer: der Haushalt) war als Keimzelle der frühneuzeitlichen Gesellschaft zugleich eine elementare Zelle der sozialen Siche­ rung. Im Handwerk (wie bei Brandt und Buchner gesehen) ebenso wie (ich ergänze) in der Landwirtschaft wurde über den patriarchalischen Haushalt (der ein Ehepaar voraussetzte) die soziale Ordnung als Geschlechterordnung begründet und zugleich reproduziert. Im Rahmen des ‚ganzen Hauses‘ (­ Brunner) war der Hausvater zugleich Herrschaftsträger, Herr über andere und damit Garant einer sozialen Ordnung, die auf dem Prinzip der Ungleichheit (Mann/Frau, Herrschaft/ Gesinde) beruhte.4 Nun verfügte aber spätestens seit dem 15./16. Jahrhundert in 2 Ein

ähnlicher Ansatz, soziale Sicherungssysteme als komparative Matrix zu denken, bei Michael Daunton, Wealth and Welfare. An Economic and Social Histroy of Britain 1851–1951, Oxford 2007, S. 521–524. 3 Beispiele für Ausgedingeverträge bei David Gaunt, Formen der Altersversorgung in Bauern­familien Nord- und Mitteleuropas, in: Michael Mitterauer/Reinhard Sieder (Hrsg.), Historische Familienforschung, Frankfurt a. M. 1982, S. 156–191; Pat Thane, Old Age in English History. Past Experiences, Present Issues, Oxford 2000, S. 75–81. Zur Sache A ­ ndreas Gestrich/Jens-Uwe Krause/Michael Mitterauer, Geschichte der Familie, München 2003, S. 632–634; Josef Ehmer, Ausgedinge, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2005, Sp. 852–856. Zum Zusammenhang von Familie, Eigentum und sozialer Sicherung nach wie vor unverzichtbar Jack Goody, Inheritance, property and women: some comparative considerations, in: Jack Goody/Joan Thirsk/E. P. Thompson (Hrsg.), Family and Inheritance. Rural Society in Western Europe, 1200–1800 (Past and present publications), Cambridge 1976, S. 10–36 (deutsch: Erbschaft, Eigentum und Frauen. Einige vergleichende Betrachtungen, in: Mitterauer/Sieder (Hrsg.), Familienforschung, S. 88–122). 4 Andreas Gestrich, Haus, ganzes, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2007, Sp. 216–218; ders., Haushalt, in: ebd., Sp. 224–230. Als sozialer Ordnungsbegriff, der

Soziale Sicherheit, soziale Sicherung, Subsistenzsicherung 531

der Stadt wie auf dem Land nur eine kleine Minderheit überhaupt über ein Haus dieser Art.5 Umso deutlicher war für das Gros der Bevölkerung die Kernfamilie als dominante Haushaltsform zugleich der ­soziale Ort der Subsistenzsicherung, wenn auch weniger durch ihre Funktion als Produktionsstätte (das war sie eben oft nicht) als vielmehr dadurch, dass sie als Einkommenspool die gemeinsame Konsumption gewährleiste (ihre Bedeutung als – buchstäbliche – Keimzelle der demographische Reproduktion versteht sich von selbst). Vor allem aber war dieser soziale Raum auch in den Unterschichten dem Eingriff von außen (genauer gesagt: von oben) entzogen. Selbst für arme Leute bot die Familie einen Freiraum, der enorme Handlungsspielräume eröffnete, wie die Verhandlungen mit der Nürnberger Findelverwaltung eindringlich zeigen: Da musste mit den Groß­ eltern, die ihre verwaisten Enkel aufnehmen sollten, über die Höhe des Ziehgeldes gefeilscht werden, weil man ihnen die Kinder nicht einfach aufzwingen konnte. Ein vergleichender Blick auf England vermag diese Beobachtung zu erhärten. Bekanntlich wurde der empirische Nachweis, dass die Kernfamilie bereits lange vor der Industrialisierung die dominante Haushaltsform war, zuerst für das frühneuzeitliche England erbracht. Die Arbeiten Peter Lasletts waren hier richtungsweisend.6 Standen diese zunächst noch ganz im negativen Bann des die normativen Vorgaben der (buchstäblich) tonangebenden Schichten markiert, behält Brunners ‚ganzes Haus‘ daher seine historische Berechtigung, vgl. Gerard Dilcher, Die Ordnung der Ungleichheit. Haus, Stand und Geschlecht, in: Ute Gerhad (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997, S. 55–72. Zur diskursgeschichtlichen Verschränkung von ‚Haus‘ und Wirtschaft in der Frühen Neuzeit: Johannes Burkhardt, Ökonomie. IV. (16.–18. Jh.), in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 550–59; und die vorzügliche Quellensammlung: Johannes Burkhardt/ Birger Priddat (Hrsg.), Geschichte der Ökonomie (Bibliothek der Geschichte und Politik 21), Frankfurt a. M. 2000. 5 Valentin Groebner, Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 108), Göttingen 1993; Jane Humphries, Household economy, in: Roderick Floud/Paul Johnson (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Modern Britain, Bd. 1: Industrialisation 1700–1850, Cambridge 2004, S. 238–267; Thomas Sokoll, Hauswirtschaft, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2007, Sp. 256–259. 6 Ich nenne nur drei klassische Texte: Peter Laslett, The World We Have Lost, 2. Aufl., London 1971 (erweiterte 4. Aufl.: The World We Have Lost – Further Explored, London 2000); ders./Richard Wall (Hrsg.), Household and Family in Past Time, Cambridge 1972; Peter Laslett, Family Life and Illicit Love in Earlier Generations, Cambridge 1977. Zur raschen Rezeption in Deutschland trug seinerzeit zum einem die von Hans ­Medick angestoßene Diskussion über die proto-industrielle Familienwirtschaft bei; Hans ­Medick, Zur strukturellen Funktion von Haushalt und Familie im Übergang von der traditionellen Agrargesellschaft zum industriellen Kapitalismus: die proto-industrielle Familienwirtschaft, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas: Neue Forschungen (Industrielle Welt 21), Stuttgart 1976, S. 254–282; zum anderen ­Michael ­Mitterauer durch

532 Thomas Sokoll

konservativen Ideals der traditionellen Großfamilie, gegen das sie gerichtet waren (Brunners ‚ganzes Haus‘ [auf Riehl fußend], Le Plays Stammfamilie), so ging Laslett in seinen späteren Arbeiten der Frage nach, welche wohlfahrtspolitischen Implikationen sich aus dem historisch-demographischen Befund ergeben. Diese Überlegungen, die in Deutschland noch immer kaum zur Kenntnis genommen (geschweige denn eingehend diskutiert worden) sind, gehen von einem einfachen Modell des Kernfamiliensystems aus, das auf den beiden Strukturprinzipen der Nuklearität (Kernfamilie = Haushaltsnorm) und des Neolokalismus (Eheschließung = neuer Haushalt) beruht, und versuchen dessen Funktionsweise von demographischen Grenz- oder Härtefällen aus zu verstehen (nuclear hardship hypothesis), die der Logik des Systems zuwider (zu) laufen (drohen). Nehmen wir als Beispiel ein älteres Ehepaar, das einen Zwei-Personen-Haushaltes führt (= Kernfamilie), seitdem die erwachsenen Kinder bei ihrer Hochzeit ausgezogen sind und eigene Haushalte (= Kernfamilien) gegründet haben. Nun stirbt der Mann und die Frau bleibt als arme Witwe zurück, da er ihr nichts hinterlässt und sie selbst nicht mehr arbeiten kann. Ein „nuklearer Härtefall“, der sich im Rahmen des Systems zunächst nicht auffangen lässt. Wenn nämlich z. B. eines ihrer Kinder, das inzwischen selbst Kinder hat (= Kernfamilie), die verwitwete Mutter in seinen Haushalt aufnähme, ergäbe sich daraus eine komplexe Familienstruktur und die Nuklearitätsregel würde verletzt. Was aber, wenn die Witwe eine regelmäßige Armenunterstützung erhielte, damit sie als Alleinstehende ihren eigenen Haushalt weiterführen kann? Diese Variante, so Laslett, würde der Logik des Kernfamiliensystems besser entsprechen, und von daher sei es auch kein Wunder, dass sich in England die Armenfürsorge bereits im späten 16. Jahrhundert zu einem relativ umfassenden System der sozialen Sicherung entwickelt habe, also genau zu dem Zeitpunkt, ab dem sich auch die Kernfamilie als dominante Haushaltsform erstmals empirisch belegen lässt.7 In der Tat legen die Ergebnisse der neueren Forschung zum so genannten Alten Armenrecht, das in England von 1601 bis 1834 galt, die Vermutung nahe, dass es von allen sozialen Sicherungssystemen in der Frühen Neuzeit nicht nur das umfassendste (Verpflichtung für jede Gemeinde) und konsistenteste (klare gesetzliche Grundlage), sondern vermutlich auch das großzügigste System der seine methodisch eng an Laslett angelehnten Auswertungen österreichischer Quellen; Michael Mitterauer, Historisch-anthropologische Familienforschung (Kulturstudien 15), Wien 1990; ders., Familie und Arbeitsteilung (Kulturstudien 26), Wien 1992 (Sammlungen der wichtigsten Aufsätze). 7 Peter Laslett, Family, kinship and collectivity as systems of support in pre-industrial Europe: a consideration of the „nuclear hardship“ hypothesis, in: Continuity and Change 3 (1988), S. 153–175; Thomas Sokoll, Household and Family Among the Poor. The Case of Two Essex Communities in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries (Veröffentlichungen des Arbeitskreises Deutsche England-Forschung 18), Bochum 1994, S. 289–293.

Soziale Sicherheit, soziale Sicherung, Subsistenzsicherung 533

öffentlichen Armenfürsorge war (hohe Unterstützungsausgaben).8 Zudem hat die angelsächsische Forschung die besondere Bedeutung der demographischen Komplikationen unterstrichen, der alle familialen Formen der sozialen Sicherung ausgesetzt sind. Alle umlagefinanzierten Sicherungssysteme stehen nämlich vor dem demographischen Dilemma, dass die produktive Generation im erwerbsfähigen Alter (von, sagen wir: 20–64 Jahren) sowohl die heranwachsenden Kinder und Jugendlichen als auch die altersschwachen Eltern zu versorgen hat (von kapitalfinanzierten Systemen können wir hier absehen, weil sie für das Gros der Bevölkerung überhaupt nicht in Frage kommen).9 Für weite Teile gerade der unterständischen Schichten in der frühneuzeitlichen Gesellschaft bedeutete dies, dass eine verarmte Witwe (unser eben skizzierter Härtefall) kaum auf die Unterstützung durch ihre erwachsenen Kinder rechnen konnte. Umgekehrt aber gilt wiederum (und damit komme ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zurück), dass daraus gewisse Handlungsspielräume erwachsen konnten. In der Tat hat die neuere Forschung zum englischen Armenrecht gezeigt, dass der Haushalt eines Armen vom zuständigen Armenpfleger noch so großzügig unterstützt werden mochte – in seiner inneren Struktur war er unantastbar, wie aus zahlreichen für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert gut dokumentierten Streitfällen ersichtlich ist. So konnte z. B. ein junger Familien­ vater, der Armenfürsorge für seine Kinder bezog, niemals gezwungen werden, seine verwitwete Mutter gegen seinen Willen in seinen Haushalt aufzunehmen. Natürlich mochte er dies aus freien Stücken tun – war aber genau dann wiederum in einer günstigen Verhandlungsposition, indem er dem Armenpfleger bedeuten konnte, seine Mutter bei sich aufnehmen zu können, sofern man ihm aus der Armenkasse einen Pflegezuschuss für sie gewähre. Verweigerte die Gemeinde ihm den Zuschuss, so blieb dem Armenpfleger nichts anderes übrig, als die alte Dame entweder ins Armenhaus aufzunehmen (sofern die Gemeinde 8

Thomas Sokoll, Poor Law, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 10, Stuttgart/Weimar 2009, Sp. 192–195. 9 Nach wie vor grundlegend ist die systematische Erörterung lebenszyklischer Versorgungsrisiken bei Richard M. Smith, Some issues concerning families and their property in rural England, 1250–1800, in: ders. (Hrsg.), Land, Kinship and Life-Cycle (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 1), Cambridge 1984, S. 1–86, hier S. 68–86; gute Diskussion lebenszyklischer Armutsrisiken bei Steven King, Poverty and Welfare in England 1700–1850. A Regional Perspective (Manchester Studies in Modern History), Manchester/New York 2000, S. 127–34. – Der Arbeitskreis Historische Demographie hat auf seinen Jahrestagungen 2007 und 2008 einen ersten Versuch unternommen, solche Ansätze auch für die deutsche Diskussion fruchtbar zu machen; vgl. Thomas Sokoll (Hrsg.), Soziale Sicherungssysteme und demographische Wechsellagen. Historisch-vergleichende Perspektiven (1500–2000) (Geschichte: Forschung und Wissenschaft 32), Berlin/Münster 2011. Brillanter Aufriss des Problemfeldes bei Josef Ehmer, Lebenslauf, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, Stuttgart/Weimar 2008, Sp. 677–699.

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überhaupt eine solche Einrichtung besaß) oder sie in ihrem eigenen Haushalt zu unterstützten – obwohl beide Varianten eindeutig höhere Kosten verursachten als die Unterstützung des Haushalts ihres Sohnes und obwohl das Armenrecht die Unterstützung der Generationen untereinander ausdrücklich vorschrieb.10 In England scheint der sprichwörtliche Grundsatz der Unverletzlichkeit der Wohnung („My home is my castle“) jedenfalls dazu geführt zu haben, dass man im 17. und 18. Jahrhundert alten Menschen auch dann, wenn sie verarmt waren, ein hohes Maß an residentieller Wahlfreiheit zugestand (die Zeit davor können wir quellenmäßig ‚von unten‘ nicht wirklich greifen), will sagen: Sie wurden ganz einfach in dem Haushalt unterstützt, den sie als Lebensraum gewählt hatten, ganz unabhängig von dessen sozialem und/oder demographischem Zuschnitt (EinPersonen-Haushalt, einfacher Haushalt mit Ehepartner, komplexer Haushalt mit Angehörigen oder Verwandten, Wohngemeinschaft mit anderen Alten). Daneben ist ein Trend zu standardisierten Unterstützungssätzen für alte Leute erkennbar, die sich als Vorstufe einer modernen Grundrente deuten lassen. Dasselbe gilt für die Unterbringung älterer Leute in Armenhäusern, die – sofern sie überhaupt erfolgte – eindeutig als Versorgungsleistung und nicht als repressive Maßnahme anzusehen ist.11 Damit sind wir wieder in Nürnberg im 16. Jahrhundert, wo wir einer ähnlichen Alternative begegnet sind, nämlich bei der Frage, ob man ein Waisenkind ins Findelhaus einweisen oder in eine Pflegefamilie geben sollte. Ich erinnere außerdem daran, dass die Grenzen zwischen diesen beiden an sich entgegengesetzten Varianten der sozialen Sicherung durchaus fließend waren und oft sogar beide Optionen gleichzeitig bedient wurden, etwa wenn verwaiste Geschwistergruppen teils im Findelhaus, teils in Familien untergebracht wurden, wobei auch diese Aufteilung überhaupt nicht endgültig sein musste, sondern wieder verändert werden konnte. Hinzu kommt schließlich, dass dieses Changieren nicht nur für die Verantwortlichen der Armenfürsorge in Frage kam, sondern unter Umständen eben auch für die Betroffenen selbst. Dies gilt nicht nur für Nürnberg. So 10

Bezeichnend ist, dass es selbst unter dem brutalen Neuen Armenrecht ab 1834 kaum gelang, den Grundsatz der Unterstützung unter Familienmitgliedern durchzusetzen, vgl. David Thomson, „I am not my father’s keeper“: families and the elderly in nineteenth-century England, in: Law and History Review 2 (1984), S. 265–286. – Für die Verhandlungen mit den Armenpflegern sind die englischen Armenbriefe (nebst den Antworten der Armenpfleger) eine wahre Fundgrube. Exemplarische Streitfälle über familiale Wohnverhältnisse und die (fehlenden) Möglichkeiten der gegenseitigen Unterstützung unter Verwandten bei Thomas Sokoll, Negotiating a living. Essex Pauper Letters from London, 1800–1834, in: IRSH 45 (2000), S. 19–46, hier S. 37–42; reichhaltige Quellenedition: ders. (Hrsg.), Essex Pauper Letters 1731–1837, 2. Aufl. Oxford 2005. 1 1 Thane, Old Age (wie Anm. 3), S. 119–59; Susannah R. Ottaway, The Decline of Life. Old Age in Eighteenth-Century England (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 39), Cambridge 2004, S. 116–276.

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wissen wir z. B. auch von den großen Findelhäusern in Frankreich oder Italien, dass Kinder dort von ihren Eltern periodisch nur für bestimmte Zeiten – etwa während der flauen Wintermonate – untergebracht und anschließend wieder herausgenommen wurden. Ähnliche Gebrauchsformen ‚von unten‘ sind für die Armen- und Arbeitshäuser in den Niederlanden bezeugt, in die z. B. schwer erziehbare Kinder, widerspenstige Jugendliche und selbst demente ältere Menschen gegen ihren Willen von den eigenen Angehörigen abgeschoben wurden.12 Armen- und Arbeitshäuser wurden somit auch gegen ihren ursprünglich intendierten Zweck genutzt. In der alltäglichen Praxis waren zudem die Grenzen zwischen Armen-, Findel- und Siechenhäusern auf der einen und Arbeits- und Zuchthäusern auf der anderen Seite durchaus fließend. Gleichwohl haben wir es hier natürlich mit zwei unterschiedlichen Anstaltstypen zu tun, die sich den beiden Polen der sozialen Sicherung und der sozialen Disziplinierung zuordnen lassen. In der Tat war die Auseinandersetzung um soziale Sicherung und ganz besonders die Armenpolitik in der Frühen Neuzeit stets von scharf polarisierenden Zuschreibungen bestimmt, die das breite Spektrum der potentiell Betroffenen über dichotomische Kodierungen besser handhabbar machen sollte: würdige gegen unwürdige Arme, eigene gegen fremde, arbeitsfähige/willige gegen arbeitsunfähige/unwillige. Die Frage der Arbeitsfähigkeit scheint mir dabei den eigentlichen Kern des Problems zu bilden: die Vorstellung, wer bei vollen Körperkräften ist, könne nicht arm sein und habe daher keinen Anspruch auf Unterstützung durch andere. Den realgeschichtlichen Hintergrund für dieses Motiv (die Quellen sprechen von „starken Bettlern“, „able-bodied paupers“ u. ä.) bildet der freie Arbeitsmarkt, also die schlichte Tatsache, dass in der Frühen Neuzeit weite Teile der Bevölkerung in der Stadt wie auf dem Land in zunehmendem Maße für die Subsistenzsicherung auf Lohnarbeit angewiesen und damit den Wechselfällen des Marktes und den Bewegungen der Konjunktur ausgesetzt waren. Saisonale, konjunkturelle und strukturelle Unterbeschäftigung war endemisch und schlug immer wieder in offene Arbeitslosigkeit um. Zugleich aber war die frühneuzeitliche Gesellschaft offenbar außerstande, Arbeitslosigkeit als solche, also als genuines Strukturpro-

12

Volker Hunecke, The abandonment of legitimate children in nineteenth-century ­Milan in the European context, in: Joahn Henderson/Richard Wall (Hrsg.), Poor Women and Children in the European Past, London/New York 1994, S. 117–35; Catharina Lis/Hugo Soly, Disordered Lives. Eighteenth-Century Families and their Unruly Relatives, Cambridge 1996; deutsches Material bei Markus Meumann, Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 29), München 1995, S. 313–362.

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blem des Arbeitsmarktes anzuerkennen. Sie wurde stattdessen den Betroffenen als moralisches Versagen angelastet.13 Diskursgeschichtlich verweist das Motiv des „starken Bettlers“ auf die wechselseitige Verschränkung von Armut und Arbeit, die in der Frühen Neuzeit besonders scharf ausgeprägt war, und zwar nicht zuletzt durch die protestantische Arbeitsethik, die in den reformatorisch motivierten Armenordnungen ab den 1520er Jahren zu greifen ist (auch wenn sie in der historischen Forschung der letzten Jahrzehnte gern vergessen oder heruntergespielt worden ist).14 Die radikale Unbarmherzigkeit im protestantischen Kampf gegen Bettel und Müßiggang markiert aber nur die Zuspitzung eines mentalitätsgeschichtlichen Langzeittrends, der bereits im Spätmittelalter einsetzt. Der Zwang zur Lohnarbeit um jeden Preis für jeden kräftigen Arbeiter (unter 60 Jahren) ist nämlich auch schon im berühmten Statute of Labourers von 1349 formuliert. Auch die ältesten Nürnberger Armenordnungen aus dem späten 14. Jahrhundert argumentieren ganz ähnlich.15 Nach wie vor spricht somit vieles für die von Volker Hunecke und Otto-Gerhard Oexle schon vor dreißig Jahren vertretene These, als Startpunkt der ‚neuzeitlichen‘ Armutspolitik, die im Kern bis zur Herausbildung des modernen Sozialstaats im ausgehenden 19. Jahrhundert verfolgt wurde, nicht etwa die Reformation, sondern den sozialpolitischen Repressionskurs im Anschluss an die Arbeitsmarktverschiebungen durch die Große Pest von 1347–50 anzusetzen.16

13 Reinhold Reith, Markt, 2.1. Arbeitsmarkt, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 8, Stuttgart/

Weimar 2008, Sp. 47–54; ders., Lohnarbeit, in: ebd., Sp. 988–98; Josef Ehmer, Landarbeiter, in: ebd., Sp. 458–61; ders., Tagelöhner, in: ebd., Bd. 13, Stuttgart/Weimar 2011, Sp. 226–232; Thomas Sokoll, Subsistenzwirtschaft, in: ebd., Sp. 1–7; ders., Unterbeschäftigung, in: ebd., Sp. 1057–1059; ders., Arbeitslosigkeit, in: ebd., Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2005, Sp. 543–45; ders., Arbeitsmoral, in: ebd., Sp. 557–559; Josef Ehmer/Reinhold Reith, Märkte im vorindustriellen Europa, in: JbWG 2 (2004), S. 9–24, hier S. 18–21. 14 Zur protestantischen Unbarmherzigkeit der umwerfende Essay von Herbert Lüthy, Protestantismus, Kapitalismus und Barmherzigkeit (zuerst 1959), in: ders., Essays I. 1940–1963 (Gesammelte Werke Bd. 3), Zürich 2003, S. 341–356. Zur Armenpolitik im Zuge der Reformation guter europäischer Überblick bei Catharina Lis/Hugo Soly, Poverty and Capitalism in Pre-Industrial Europe (Preindustrial Europe 1350–1850), Brighton 1982, S. 82–96. 15 Texte bei Alfred E. Bland/Philipp A. Brown/Richard H. Tawney (Hrsg.), English Economic History. Select Documents, London 1914, S. 164–67; Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, 2. Aufl. Stuttgart 1998, S. 63–66, zur Sache ebd., S. 28–40 (und S. 40–80 mit weiteren einschlägigen Quellenauszügen). 16 Volker Hunecke, Überlegungen zur Geschichte der Armut im vorindustriellen Europa, in: GG 9 (1983), S. 480–512; Otto-Gerhard Oexle, Armut, Armutsbegriff und Armenfürsorge im Mittelalter, in: Christoph Sachße/Florian Tennstedt (Hrsg.), Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Beiträge zu einer historischen Theorie der Sozialpolitik, Frankfurt a. M. 1986, S. 73–100. Vgl. auch ders., Arbeit, Armut ‚Stand‘ im Mittelalter, in: Jürgen Kocka/

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Gegen die normative Kontinuität steht freilich die nur unzureichende Umsetzung solcher Intentionen in der praktischen Armenpolitik vor Ort. Hier wirkten die Traditionen der christlichen Barmherzigkeit und der paternalistischen Fürsorge oft ungebrochen, wie wir im Fall des Nürnberger Findelhauses im 16. Jahrhundert so deutlich gesehen haben. Ähnliches gilt für die katholische Gegenseite im Falle Kurtriers, wo zudem die soziale Brechung im ideologischen Feld so klar hervortritt: Während die katholische Obrigkeit den Bettel verbietet und damit den protestantischen Kurs aufnimmt, beharrt das gemeine Kirchenvolk auf seinem Recht zur freien Almosenvergabe.17 Mein letzter Punkt zielt auf die Begrifflichkeit, um die wir in dieser Sektion wie auch auf der gesamten Marburger Tagung gerungen haben. Auch wenn ich im Hinblick auf Haushalt und Familie in meinem Kommentar selbst mit dem Begriff der sozialen Sicherheit gespielt habe, so scheint er mir doch aufs Ganze gesehen für die Fragen, die unserer Sektion aufgegeben waren, eher ungeeignet zu sein. Soziale Sicherheit konnte es in der Frühen Neuzeit nur für die kleine Minderheit derjenigen geben, die über ansehnlichen Besitz verfügten. Johann Heinrich Gottlob von Justi unterschied 1758 in seiner Staatswirtschaft, einem weit verbreiteten kameralistischen Lehrbuch, sechs Stufen der Lebenshaltung: Armut, Dürftigkeit, Notdurft, Auskommen, Vermögen, Reichtum. Die Schwelle, auf der die soziale Sicherheit als ernsthafte Perspektive der Lebensführung dauerhaft ins Spiel kommen konnte, würde ich irgendwo zwischen „Auskommen“ und „Vermögen“ ansetzen wollen. Unterhalb dieser Schwelle dagegen, will sagen: für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, die buchstäblich von der Hand in den Mund lebte, ging es um die schiere Subsistenzsicherung, deren Gefährdung unterschiedlich stark ausgeprägt war: Armut, Dürftigkeit, Notdurft, Auskommen. Für diesen Problemkomplex scheint mir als übergeordneter Terminus der Begriff der sozialen Sicherung analytisch treffender zu sein.18 Claus Offe (Hrsg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a. M./New York 2000, S. 67–79. 17 Zu den konfessionellen Konvergenzen in der frühneuzeitlichen Armenpolitik der umsichtige Überblick bei Sebastian Schmidt, „Gott wohlgefällig und den Menschen nützlich“. Zu den Gemeinsamkeiten und konfessionsspezifischen Unterschieden frühneuzeitlicher Armenfürsorge, in: ders./Jens Aspelmeier (Hrsg.), Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart 2006, S. 61–90. 18 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Staatswirtschaft, 2. Aufl. Leipzig 1758, Ndr. Aalen 1963, §§ 432–481; vgl. noch immer die instruktive Skizze von Rolf ­Engelsing, Probleme der Lebenshaltung in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, in: ders., Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 4), 2. Aufl. Göttingen 1978, S. 11–25, 285–287. Für den Vorschlag, an Stelle des irreführenden Begriffs der „Subsistenzwirtschaft“ lieber vom Problem der „Subsistenzsicherung“ zu sprechen: Sokoll, Subsistenzwirtschaft, 3–4; ähnlich ders., Hauswirtschaft (wie Anm. 5), Sp. 256–259.

SEKTION IX · Sicherheit für Minderheiten – Sicherheit vor Minderheiten: Sicherheitsstreben und staatliche Schutzpolitik

Ulrich Niggemann

Minderheiten und Sicherheit – Zur Einführung Als im Herbst 1685 die Auswanderung französischer Protestanten bereits einen ersten Höhepunkt erreichte und zahlreiche dieser sogenannten Hugenotten sich in Frankfurt am Main, Rotterdam und anderen Orten zur Weiterreise sammelten, versprach Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg den Exulanten eine „sichere und freye retraite in alle unsere Lande“ sowie seinen „absonderlichen Schutz und protection“.1 Auch andere Landesherren stellten die Hugenotten und weitere Einwanderergruppen unter ihren ausdrücklichen Schutz.2 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Konflikte, die im Zusammenhang mit größeren Migrationsbewegungen zwischen Immigranten und ansässiger Bevölkerung auftraten3, verweisen diese landesherrlichen Zusagen auf die empfundene oder tatsächliche Schutzbedürftigkeit von immigrierten Minderheiten. Heute ist der Minderheitenschutz sogar in den Verfassungen moderner Demokratien fest verankert.4 Minderheiten – so die Tendenz solcher Schutzmaßnahmen – sind innerhalb 1 Edikt

Kurfürst Friedrich Wilhelms, Potsdam 29. Oktober 1685, gedruckt z. B. bei Ernst ­Mengin, Das Recht der französisch-reformierten Kirche in Preußen. Urkundliche Denkschrift, Berlin 1929, S. 186–196. 2 Zu den Hugenottenprivilegien Barbara Dölemeyer, Die Hugenotten, Stuttgart 2006, S. 40– 49; und zu frühneuzeitlichen Einwandererprivilegien allgemein Ulrich Niggemann, Die altständische Antwort auf die soziale Herausforderung Migration: Privilegien als Mittel staatlicher Einwanderungspolitik im Europa der Frühen Neuzeit, in: Joachim Bahlcke/­ Rainer Leng/Peter Scholz (Hrsg.), Migration als soziale Herausforderung. Historische Formen solidarischen Handelns von der Antike bis zum 20. Jahrhundert (Stuttgarter Beiträge zur historischen Migrationsforschung 8), Stuttgart 2011, S. 183–200. 3 Vgl. für die Hugenottenansiedlung Ulrich Niggemann, Immigrationspolitik zwischen Konflikt und Konsens. Die Hugenottenansiedlung in Deutschland und England (1681–1697) (Norm und Struktur 33), Köln/Weimar/Wien 2008; und zum städtischen Raum ders., Craft Guilds and Immigration: Huguenots in German and English Cities, in: Bert de Munck/ Anne Winter (Hrsg.), Gated Communities? Regulating Migration in Early Modern Cities, Farnham 2012, S. 45–60. 4 Hierzu nur knapp Hans-Jürgen Becker, Minderheitenschutz (privat- und staatsrechtlich), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 568–570; und Karl-Heinz Ziegler, Minderheitenschutz (völkerrechtlich), in: ebd., Sp. 570–572.

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einer Mehrheitsgesellschaft Unsicherheiten ausgeliefert und besitzen somit ein spezielles Sicherheitsbedürfnis. Mit diesen wenigen Bemerkungen wird bereits deutlich, dass Minderheiten als ein wichtiger Aspekt des Themas „Sicherheit in der Frühen Neuzeit“ gelten können, denn ihre Existenz stellte vielfach auch ein „Sicherheitsproblem“ dar. Minderheiten waren bedroht oder fühlten sich bedroht und waren deshalb in besonderer Weise auf Schutz angewiesen. Daher ist die prekäre Lage von Minderheiten und Randgruppen in der Forschung vielfach thematisiert worden. In einer Minderheitenposition konnten sich in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft zahlreiche Individuen und Gruppen befinden: Menschen, die sich zu einer anderen Religion oder Konfession bekannten als die sie umgebende Mehrheit, Zuwanderer aus der Fremde ebenso wie aus der näheren Umgebung, Männer und Frauen, die eine fremde Sprache sprachen oder einem als fremd empfundenen Kulturkreis angehörten. Zahlreiche Menschen standen am Rande der Gesellschaft, so dass man von „Randgruppen“ oder von „Marginalisierten“ spricht. Dazu gehörten etwa Bettler und Invaliden oder das sogenannte „fahrende Volk“, Menschen, die zeitweise oder dauerhaft auf der Straße lebten und umherzogen, bis hin zu den „unehrlichen“ Berufsgruppen und „imaginierten“ Randgruppen wie etwa den „Hexen“.5 Diese Menschen waren häufig Anfeindungen ausgesetzt und lebten in Unsicherheit. Immer wieder kam es in zahlreichen europäischen Ländern zu Übergriffen und regelrechten Pogromen auch gegenüber den Juden.6 In einigen Reichsterritorien, in Spanien, 5 Einen weitgespannten Überblick bietet Bernd Roeck, Außenseiter, Randgruppen, Minder-

heiten, Göttingen 1993. Vgl. auch Ernst Schubert, Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld 1995; Martin Rheinheimer, Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850, Frankfurt a. M. 2000; Robert Jütte, Poverty and Deviance in Early Modern Europe (New Approaches to European History [4]), Cambridge 1994; sowie den Sammelband von BerndUlrich Hergemöller (Hrsg.), Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft, 2. Aufl. Warendorf 2001; Jelle Koopmans, Le théâtre des exclus au Moyen Âge. Hérétiques, sorcières et marginaux, Paris 1997; sowie František Graus, Randgruppen in der städtischen Gesellschaft im Spätmittelalter, in: ZHF 8 (1981), S. 385–437. In dem einschlägigen Artikel der Enzyklopädie der Neuzeit werden Minderheiten ausschließlich religiös/konfessionell aufgefasst; Martin Rothkegel, Minderheiten, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 8, Stuttgart/ Weimar 2008, Sp. 548–559. Ein eigener Artikel zu Randgruppen fehlt leider. Zu den Schwierigkeiten einer Definition von „Minderheiten“ und „Randgruppen“ in der Vormoderne auch Bernd-Ulrich Hergemöller, Randgruppen der spätmittelalterlichen Gesellschaft. Wege und Ziele der Forschung, in: ders. (Hrsg.), Randgruppen, S. 1–57, hier S. 11–15; und Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 34), München 1995, S. 3–7. 6 Einführend mit weiteren Literaturhinweisen Roeck, Außenseiter (wie Anm. 5), S. 23–27; Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Enzyklopädie deutscher Geschichte 60), München 2001, S. 16–21, 36–38; ders., Das Euro­ päische Zeitalter der Juden, 2 Bde., 2. Aufl. Darmstadt 2000, hier etwa Bd. 1, S. 179–207,

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in Frankreich und in England waren sie am Beginn der Neuzeit ausgewiesen worden7, während ihnen in weiten Teilen des Reichs immerhin der kaiserliche Judenschutz zugute kam.8 „Fahrende“ und Bettler lebten schon aufgrund ihrer Unbehaustheit in stetiger Unsicherheit. Heimatlosigkeit bedeutete Schutzlosigkeit, wie Ernst Schubert für das Mittelalter treffend feststellt.9 Das dürfte auch für die Frühe Neuzeit noch weitgehend gegolten haben.10 Migrierenden ethnischen Gruppen wie den „Zigeunern“ bot zwar die eigene Gemeinschaft ein gewisses Maß an Sicherheit, doch waren sie mehr noch als die Juden öffentlichen Anfeindungen und obrigkeitlichen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt.11 Manche dieser Gruppen schlossen sich schon im Mittelalter, um sich gegen die vielfältigen Gefahren ein Mindestmaß an Absicherung zu schaffen, zu Bruderschaften und Genossenschaften zusammen.12 Doch ansonsten wissen wir kaum etwas darüber, ob und in welcher Weise mobile Individuen und Gruppen ihr Dasein unter dem Aspekt der Sicherheit thematisierten und welche Strategien zur Herstellung von Sicherheit sie entwickelten. Weitaus besser steht es mit den konfessionellen Großgruppen, deren Strategien zur Erlangung des Rechts auf Religionsausübung, aber auch zur Herstellung von Sicherheit, sich anhand zahlreicher Quellen nachvollziehen lassen. Die aus der Reformation hervorgegangenen neuen Minderheiten sahen sich zunächst – nicht selten mit Recht – in ihrer Religionsausübung und bisweilen auch in ihrer 234–261; Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1997, S. 52–152; sowie die einschlägigen Artikel von Annekathrin Helbig, Judenfeindschaft, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart/Weimar 2007, Sp. 57–63; und dies., Judenverfolgung, in: ebd., Sp. 87–92. 7 Battenberg, Juden (wie Anm. 6), S. 3f.; ders., Zeitaler (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 123–140; H ­ elbig, Judenverfolgung (wie Anm. 6), Sp. 90f.; und speziell zur Vertreibung aus BrandenburgPreußen Brigitte Scheiger, Juden in Berlin, in: Stefi Jersch-Wenzel/Barbara John (Hrsg.), Von Zuwanderern zu Einheimischen. Hugenotten, Juden, Böhmen, Polen in Berlin, Berlin 1990, S. 153–488, hier S. 160–164. 8 Vgl. dazu Battenberg, Juden (wie Anm. 6), S. 14f.; ders., Zeitalter (wie Anm. 6), Bd. 1, S. 106–111, 140–150. 9 Schubert, Fahrendes Volk (wie Anm. 5), S. 69. Generell zu den Unsicherheiten des Umherwanderns, ebd., S. 69–84. 10 Etwa Tim Hitchcock, Rough Lives: Autobiography and Migration in Eighteenth-Century England, in: de Munck/Winter (Hrsg.), Gated Communities (wie Anm. 3), S. 197–214; und Jan Lucassen/Leo Lucassen, Fahrendes Volk, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart/ Weimar 2006, Sp. 772–774. 11 Vgl. etwa Rheinheimer, Arme (wie Anm. 5), S. 174–212; ders., Zigeuner, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 15, Stuttgart/Weimar 2012, Sp. 483–488; sowie Leo Lucassen, Zigeuner im frühneuzeitlichen Deutschland: Neue Forschungsergebnisse, -probleme und -vorschläge, in: Karl Härter (Hrsg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft (Ius Commune. Sonderheft 129), Frankfurt a. M. 2000, S. 235–262, hier S. 240–248. 12 Schubert, Fahrendes Volk (wie Anm. 5), S. 131–144.

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nackten Existenz bedroht, denn in weiten Teilen Europas reagierten die beim alten Glauben verbliebenen Obrigkeiten mit Verfolgung der Multiplikatoren und Anhänger der neuen Lehren. Das Wormser Edikt Kaiser Karls V. verhängte über Martin Luther und alle, die ihn unterstützten, die Reichsacht.13 In Frankreich führte insbesondere die affaire des placards von 1534 zur Einrichtung der chambre ardente, eines außerordentlichen Gerichts für Häretiker, das eine Reihe von Protestanten zum Scheiterhaufen verurteilte.14 Es zeigte sich jedoch im Reich wie auch in Frankreich und zahlreichen weiteren Ländern, dass die neue Lehre auf diese Weise nicht auszumerzen war. Im Reich wurden nach und nach vorläufige „Anstände“ geschlossen, die schließlich nach dem Schmalkaldischen Krieg und dem Fürstenaufstand in den Augsburger Religionsfrieden von 1555 mündeten.15 Auch in Frankreich begann spätestens mit dem Januar-Edikt von Saint-Germain 1562 die lange Reihe von Pazifikationsedikten, die im Edikt von Nantes 1598 einen vorläufigen Abschluss fanden.16 Diese Entwicklungen sind in der bisherigen Forschung vielfach als Verrechtlichung des religiösen Konflikts interpretiert worden, doch sie lassen sich auch unter dem Aspekt der Sicherheit beschreiben.17 Die konfessionellen Minderheiten entwickelten – so die These – ein spezifisches Sicherheitsbedürfnis, ein Bedürfnis nach verbindlichen Konzessionen, innerhalb derer sie als Minderheit existieren und ihre Religion ausleben durften. Freilich blieb ihre Stellung selbst dort, wo sie Erfolg hatten, wo Religionsfrieden Recht und Sicherheit garantierten, prekär, wie die Rücknahme von Konzessionen etwa im Herrschaftsbereich der Habsburger18, die Aufhebung des Edikts von Nantes 13

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Knapper Überblick mit weiterer Literatur bei Wolfgang Reinhard, Reichsreform und Refor­ mation 1495–1555, in: Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl. Stuttgart 2001, Bd. 9, S. 111–356, hier S. 271f.; Harm Klueting, Das Konfessionelle Zeitalter 1525–1648, Stuttgart 1989, S. 114–116; Olaf Mörke, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung (Enzyklopädie deutscher Geschichte 74), München 2011, S. 26f. Dazu etwa Mack P. Holt, The French Wars of Religion, 1562–1629 (New Approaches to European History [8]), Cambridge 1995, S. 28f.; Didier Boisson/Hugues Daussy, Les protestants dans la France moderne, Paris 2006, S. 37–41. Vgl. Reinhard, Reichsreform (wie Anm. 13), S. 327–356; Klueting, Zeitalter (wie Anm. 13), S. 125–133; Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter (Deutsche Geschichte 5), 2. Aufl. Göttingen 2001, S. 33–44. Übersicht bei Nicola M. Sutherland, The Huguenot Struggle for Recognition, New Haven/ London 1980, S. 333–372. Von „Verrechtlichung“ sprechen etwa Heckel, Deutschland (wie Anm. 15), S. 67–71; B ­ arbara Stollberg-Rilinger, Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1805, München 2006, S. 60–63. Als zumindest teilweise von „gemeinsamen Sicherheitsinteressen getragen“ beschreibt bereits Wolfgang Reinhard den Augsburger Religionsfrieden; Reinhard, Reichsreform (wie Anm. 13), S. 351. Vgl. etwa Arno Herzig, Der Zwang zum wahren Glauben. Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Göttingen 2000; oder die Beiträge bei Rudolf Leeb/Martin Scheutz/ Dietmar Weikl (Hrsg.), Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habs-

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in Frankreich 168519 oder das Ausweisungsedikt im Erzstift Salzburg verdeutlichen.20 In England mussten protestantische Non-Konformisten sogar bis in die 1680er Jahre warten, bis ihnen zunächst 1687 die umstrittene Declaration of Indulgence König Jakobs II. und dann dauerhafter die Toleration Act von 1689 Sicherheit garantierten.21 Die katholische Minderheit im Land blieb indes bis ins 19. Jahrhundert Unsicherheiten ausgesetzt.22 Prekär blieb überall in Europa auch die Stellung der Minderheiten, die nicht zu den drei großen Konfessionen zählten, also etwa die der verschiedenen Täufergruppen.23 Auch Zuwanderer aus der Fremde waren zahlreichen Unsicherheiten ausgesetzt. Neben ungewisser Aufenthaltserlaubnis waren es auch wirtschaftliche Nöte burgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert) (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 51), Wien/München 2009. 19 Aus der umfangreichen Literatur seien nur angeführt: Elisabeth Labrousse, „Une foi, une loi, un roi“? Essai sur la révocation de l’Édit de Nantes (Histoire et société 7), Genf 1985; Janine Garrisson, L’édit de Nantes et sa révocation. Histoire d’une intolérance, Paris 1985. Knapper Überblick bei Ulrich Niggemann, Hugenotten, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 25–30. 2 0 Mack Walker, The Salzburg Transaction: Expulsion and Redemption in Eighteenth-Century Germany, Ithaca/NY 1992; Gabriele Emrich, Die Emigration der Salzburger Protestanten 1731–1732. Reichsrechtliche und konfessionspolitische Aspekte (Historia profana et ecclesiastica 7), Münster u. a. 2002; Rudolf Leeb, Die große Salzburger Emigration von 1731/32 und ihre Vorgeschichte (Ausweisung der Deferegger 1684), in: Joachim Bahlcke (Hrsg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 4), Berlin 2008, S. 277–305; Astrid von Schlachta, Die Emigration der Salzburger K ­ ryptoprotestanten, in: Leeb/Scheutz/Weikl (Hrsg.), Geheimprotestantismus (wie Anm. 18), S. 63–92. 2 1 Zur Toleranzpolitik Jakobs II. John Miller, Popery and Politics in England, 1660–1688, Cambridge 1973, S. 196–228; und William Gibson, James II and the Trial of the Seven Bishops, New York 2009. Zur Toleranzpolitik nach der Revolution von 1688/89 vgl. John Spurr, The Church of England, Comprehension and the Toleration Act of 1689, in: English Historical Review 104 (1989), S. 927–946; Gordon J. Schochet, The Act of Toleration and the Failure of Comprehension: Persecution, Nonconformity, and Religious Indifference, in: Dale Hoak/ Mordechai Feingold (Hrsg.), TheWorld of William and Mary. Anglo-Dutch Perspectives on the Revolution of 1688–89, Stanford/CA 1996, S. 165–187; sowie die Beiträge bei Ole P. Grell/Jonathan I. Israel/Nicholas Tyacke (Hrsg.), From Persecution to Toleration: The Glorious Revolution and Religion in England, Oxford 1991. Allgemein zum Toleranzedikt in der Frühen Neuzeit Ulrich Niggemann, Toleranzedikt, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 13, Stuttgart/Weimar 2011, Sp. 629–632. 2 2 Zur katholischen Kirche in England auch Alexandra Walsham, Church Papists: Catholicsm, Conformity and Confessional Polemic in Early Modern England (Royal Historical Society Studies in History 68), Woodbridge 1993; John F. Nash, The Sacramental Church. The Story of Anglo-Catholicism, Eugene/OR 2011. 2 3 Vgl. zu den Täufern in der öffentlichen Wahrnehmung und politischen Kommunikation Astrid von Schlachta, Gefahr oder Segen? Die Täufer in der politischen Kommunikation (Schriften zur politischen Kommunikation 5), Göttingen 2009; und knapp Martin Rothkegel, Täufer, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 13, Stuttgart/Weimar 2011, Sp. 282–289.

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und Anfeindungen durch die Einheimischen, die das Sicherheitsbedürfnis eingewanderter Minderheiten erhöhten.24 Wenn sie dazu in der Lage waren, brachten sie dieses Bedürfnis den Obrigkeiten gegenüber zum Ausdruck. ­Typisch sind hier etwa die Petitionen von Migranten, die oftmals die Bitte um landesherrlichen Schutz formulierten oder Anklagen angesichts tatsächlicher oder vermeintlicher Anfeindungen enthielten.25 Die bislang vorgestellten Beobachtungen stellen indes nur eine Seite der ­Medaille dar: die Sicherheit für Minderheiten. Demgegenüber steht auf der anderen Seite die Wahrnehmung der Minderheiten selbst als Sicherheitsrisiko, vor dem die Mehrheitsbevölkerung geschützt werden musste. Mit dem Blick auf positiv konnotierte Migranten wie die Hugenotten wird bisweilen vergessen, dass Migration und Mobilität in der Vormoderne, so verbreitet sie auch waren26, vielfach mit Misstrauen begegnet wurde. Schnell gerieten migrierende Bevölkerungsgruppen in den Verdacht krimineller Umtriebe.27 Selbst die Hugenotten waren vor Verdächtigungen nicht geschützt: In Kassel etwa gingen Gerüchte um, Huge­notten hätten in Mannheim Brunnen vergiftet, und während des neunjährigen Krieges wurden sie der Spionage verdächtigt.28 In London galten sie sogar als 24

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Zur Alltagserfahrung konfessioneller Immigrantengruppen in der Frühen Neuzeit auch die Beiträge bei Joachim Balcke/Rainer Bendel (Hrsg.), Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive (Forschungen und Quellen zur Kirchen und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 40), Köln/Weimar/Wien 2008. Vgl. Niggemann, Immigrationspolitik (wie Anm. 3), S. 191f., 200f. Zu Zuwandererpetitionen am Beispiel Kursachsens auch Alexander Schunka, Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert (Pluralisierung & Autorität 7), Hamburg 2006, S. 102–130. Vgl. z. B. Klaus J. Bade/Jochen Oltmer, Normalfall Migration (ZeitBilder 15), Bonn 2004; dies., Migration und Integration in Deutschland seit der Frühen Neuzeit, in: Rosmarie Beier-de Haan (Hrsg.), Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500–2005, Berlin/ Wolfratshausen 2005, S. 20–49, hier S. 20; Jan Lucassen/Leo Lucassen, Migration, Migration History, History: Old Paradigms and New Perspectives, in: dies. (Hrsg.), Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives (International and Comparative Social History), 2. Aufl. Bern u. a. 1999, S. 9–38, hier S. 9. Zur zugeschriebenen Nähe mobiler Gruppen zur Kriminalität Andrea Komlosy, Der Staat schiebt ab. Zur nationalstaatlichen Konsolidierung von Heimat und Fremde im 18. und 19. Jahrhundert, in: Sylvia Hahn/Andrea Komlosy/Ilse Reiter (Hrsg.), Ausweisung – Abschiebung – Vertreibung in Europa. 16.–20. Jahrhundert (Querschnitte 20), Innsbruck/ Wien/Bozen 2006, S. 87–114, hier S. 91f.; und generell zum Misstrauen gegenüber mobilen Bevölkerungsgruppen Roeck, Außenseiter (wie Anm. 5), S. 81f.; Karl Härter, Recht und Migration in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft. Reglementierung – Diskriminierung – Verrechtlichung, in: Beier-de Haan (Hrsg.), Zuwanderungsland (wie Anm. 26), S. 50–71. Vgl. Alfred Heussner, Die französische Colonie in Cassel (Geschichtsblätter des Deutschen Hugenotten-Vereins XII, 2/3), Magdeburg 1903, S. 11; Franz-Anton Kadell, Die Hugenotten in Hessen-Kassel (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 40), Darmstadt/

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verkappte Katholiken.29 Im Zuge der Verfestigung des Nationalstaats verstärkte sich die Tendenz zur Schließung von Grenzen und zur Überwachung der Zuwanderung noch einmal.30 Migrierende und umherziehende Gruppen galten den Obrigkeiten zudem oftmals als Gefährdung der Ordnung und Stabilität in einer Gesellschaft, in der idealiter jeder seinen festen Platz und Rang haben sollte und in der Menschen, die sich keiner Korporation und keinem Stand zuordnen ließen, suspekt waren.31 Die zahlreichen Policey-Ordnungen der Frühen Neuzeit mit ihren restriktiven Bestimmungen gegenüber „fahrendem Volk“ und anderen Gruppen geben davon ein beredtes Zeugnis ab.32 Religiöse Minderheiten gefährdeten aus der Sicht des etablierten Klerus wie auch der Obrigkeiten nicht nur das Seelenheil der Bevölkerung, sondern galten auch als ständiger Konfliktherd, als Unregelmäßigkeit einer als ideal gedachten Ordnung, die auf Konformität beruhte. Auch in diesem Sinne stellte die Existenz von Minderheiten ein Sicherheitsproblem dar. Ihre Tolerierung, oftmals mit der Vermeidung schlimmeren Übels begründet33, war daher vielfach als temporäres Notrecht konzipiert und stand somit unter der stetigen Drohung der Aufhebung bei der nächsten günstigen Gelegenheit.34

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Marburg 1980, S. 668; und Niggemann, Immigrationspolitik (wie Anm. 3), S. 348. Ähnliche Beobachtungen zu Sachsen auch bei Frank Metasch, Exulanten in Dresden. Einwanderung und Integration von Glaubensflüchtlingen im 17. und 18. Jahrhundert (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 34), Leipzig 2011, S. 66, 85f., 88. Vgl. Daniel Statt, Foreigners and Englishmen. The Controvery over Immigration and Population, 1660–1760, Newark 1995, S. 171; Bernard Cottret, The Huguenots in England. Immigration and Settlement, c. 1550–1700, Cambridge 1991, S. 191–195; Niggemann, Immigrationspolitik (wie Anm. 3), S. 467–469. Vgl. Leo Lucassen, Cities, States and Migration Control in Western Europe: Comparing Then and Now, in: de Munck/Winter (Hrsg.), Gated Communities (wie Anm. 3), S. 230–237; sowie Komlosy, Staat (wie Anm. 27). So etwa Härter, Recht (wie Anm. 27), S. 62–64; sowie in knapper Grundlegung Paul Münch, Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutsche Geschichte 1600–1700, Stuttgart 1999, S. 67–91. Vgl. etwa Karl Härter, Die Bedeutung der „guten Policey“ und vormodernen Ordnungsgesetzgebung für die Ausformung des öffentlichen Rechts im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Gerhard Dilcher/Diego Quaglioni (Hrsg.), Gli inizi del diritto pubblico, Bd. 3: Verso la costruzione del diritto pubblico tra medioevo e modernità, Bologna/Berlin 2011, S. 449–482, hier S. 452–464; ders., Recht (wie Anm. 27). Dies entsprach im Wesentlichen den schon bei Augustinus angelegten und im Mittelalter weiterentwickelten Vorstellungen zur Toleranz insbesondere gegenüber religiöser D ­ evianz; vgl. Klaus Schreiner, Toleranz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 445–605, hier S. 450–472; zur Frühen Neuzeit ebd., S. 472–494. Schon die unterschiedlichen „Anstände“ zwischen den Konfessionsparteien im Reich wie auch in Frankreich wiesen stets auf die Gültigkeit bis zu einer dauerhaften Wiedervereinigung der Konfessionen hin; vgl. Heckel, Deutschland (wie Anm. 15), S. 43; Holt, Wars (wie Anm. 15), S. 162f.; Mario Turchetti, Une question mal posée: la qualification „perpétuel et

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Über die Unsicherheit und Bedrohtheit von Individuen und Gruppen in Minderheitenpositionen ist viel geschrieben worden, ebenso wie über einzelne Gegenmaßnahmen der Obrigkeiten, die zumindest die „nützlichen“ Minderheiten zu schützen suchten.35 Zudem standen die Exklusionsmechanismen von Gesellschaften und die Frage nach der diskursiven Produktion von Randständigkeit im Mittelpunkt des Interesses.36 Weitaus weniger indes wissen wir über das Bedürfnis nach Sicherheit bei den Angehörigen von Minderheiten selbst, über die Strategien und Argumentationsweisen im Hinblick auf die Herstellung von Sicherheit oder gar über das zugrundeliegende Verständnis von Sicherheit. Konnte sich, insbesondere bei den religiösen bzw. konfessionellen Minderheiten, überhaupt ein ausgeprägtes Bedürfnis nach innerweltlicher Sicherheit entwickeln? Oder blieb Sicherheit negativ konnotiert, als zumindest aus theologischer Sicht gefährliche Konzentration auf das Diesseits und fehlendes Vertrauen in die göttliche Lenkung der Welt? Wie verhielt sich das Streben nach Sicherheit zum universal verstandenen religiösen Wahrheitsanspruch? Damit ist das Verhältnis zwischen eschatologischen und pragmatischen Dimensionen in der Suche nach Sicherheit angesprochen, das erst in Ansätzen untersucht ist. Der Blick auf die Sicherheitsstrategien und Sicherheitsbedürfnisse trägt dazu bei, Minderheiten und Mehrheitsgesellschaften wie auch deren Obrigkeiten in Beziehung zueinander zu setzen und dabei nach den Aushandlungsprozessen zwischen beiden Seiten zu fragen. Wieviel Sicherheit konnte Minderheiten zugestanden werden, ohne tatsächlich oder vermeintlich die Sicherheit der Mehrheit zu gefährden? Diese Fragen berühren zwei grundlegende Tendenzen der neueren Sicherheitsforschung: Erstens die Frage nach der innergesellschaftlichen Aushandlung von Sicherheit und den dahinterliegenden Interessen. So ist insbesondere in der Politikwissenschaft, vermehrt aber auch in der historischen Forschung, die Ausweitung des Begriffs und des Konzepts „Sicherheit“ auf immer neue Bereiche thematisiert und namentlich aus einer weitgehend etatistischen Perspektive beleuchtet worden.37 Hier bietet eine Fokussierung auf Minderheiten irrévocable“ appliquée à l’Édit de Nantes de 1598, in: Bulletin de la Société d’Histoire du Protestantisme Français 139 (1993), S. 41–78. 3 5 Die Frage der „Nützlichkeit“ etwa von Immigranten spielte im Rahmen des kameralistischen Diskurses eine zunehmend wichtigere Rolle; vgl. Rainer Gömmel, Die Entwicklung der Wirtschaft im Zeitalter des Merkantilismus 1620–1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 46), München 1998, S. 44f.; und ausführlich Martin Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N.F. 101), Paderborn 2002. 3 6 Z. B. Astrid Küntzel, Fremde in Köln. Integration und Ausgrenzung zwischen 1750 und 1814 (Stadt und Gesellschaft. Studien zum Rheinischen Städteatlas 4), Köln/Weimar/Wien 2008. 37 Hier sind v. a. die Konzepte der sogenannten „Copenhagen School“ zu nennen; vgl. etwa Ole Wæver, Securitization and Desecuritization, in: Ronnie D. Lipschutz (Hrsg.), On

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und Migran­ten die Chance, Prozesse der „Versicherheitlichung“ aus einem alter­ nativen Blickwinkel zu betrachten. Zweitens ist in der jüngeren historischen Sicherheitsforschung auch die Verbindung zu Fragen der Perspektivierung und Konzeption von Zukunft hergestellt worden. Während eine Vielzahl politischer Leitbegriffe, wie etwa „Frieden“, universale Geltung beanspruchen konnten, stellt „Sicherheit“ ein zeitlich wie räumlich begrenztes Konzept dar, das auf konkreter Zukunftsplanung und Risikoabschätzungen beruht.38 Insbesondere die Frage nach dem Umgang von religiösen Minderheiten mit der Sicherheitsproblematik verweist auf das Spannungsfeld zwischen universal verstandener (religiöser) Wahrheit und Heilserwartung auf der einen und der partikularen innerweltlichen Sicherheit im Rahmen religiöser Koexistenz auf der anderen Seite. Die folgenden Beiträge bemühen sich, die Sicherheitsproblematik in bezug auf Minderheiten in der Frühen Neuzeit sowohl unter dem Blickwinkel der Sicher­heit für die jeweilige Minderheit als auch vor der Minderheit exemplarisch an Einzelbeispielen zu erörtern. Dabei werden Minderheiten nicht lediglich als Objekte obrigkeitlicher Politik untersucht, sondern ganz dezidiert auch ihre eige­ nen Strategien und Konzepte zur Sicherung ihrer Existenz in die Betrachtung einbezogen. Es versteht sich von selbst, dass dies nur exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit geschehen kann. Die ausgewählten Beispiele decken jedoch sowohl zeitlich als auch thematisch ein breites Feld ab, wobei zwei Beispiele sich mit bereits ansässigen Minderheiten innerhalb frühneuzeitlicher Gemeinwesen – den Juden im Alten Reich und den Hugenotten in Frankreich – beschäftigen, während zwei weitere Beiträge das Sicherheitsproblem mit Blick auf Migrationsvorgänge behandeln. ­André Griemert zeigt anhand der jüdischen Minderheit im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation das Ringen um die Rechtssicherheit auf. Dabei wird deutlich, dass Juden im Reich keineswegs passive Objekte obrigkeitlicher Politik waren, sondern sehr gezielt und strategisch die Justizapparate des ReiSecurity (New Directions in World Politics), New York 1995, S. 46–86; Barry Buzan/Ole Wæver/Jaap de Wilde, Security: A New Framework for Analysis, Boulder/Col. 1998, hier bes. S. 23–29; Barry Buzan/Lene Hansen, The Evolution of International Security Studies, Cambridge 2009. Zur Übernahme in die Geschichtswissenschaft auch Eckart Conze, ­Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 357–380; ders., Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 15f.; und ders., „Securitization“. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz?, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 453–497. 3 8 Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne (Umwelt und Gesellschaft 3), Göttingen 2011; sowie dessen Beitrag in diesem Band. Außerdem Christoph Kampmann/Christian Mathieu, Sicherheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12, Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 1143–1150, hier v. a. Sp. 1143. Vgl. auch die Einleitung von Christoph Kampmann und Ulrich Niggemann zu diesem Band.

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ches nutzten, um ihre Interessen durchzusetzen. Griemert präsentiert damit ein Beispiel dafür, wie die aktive Justiznutzung die Rechtssicherheit der Juden im Reich erheblich förderte. Wie das Streben nach Sicherheit auf beiden Seiten allmählich eschatologische Positionen überlagerte, zeigt das Beispiel der französischen Bürgerkriege, das von ­Ulrich N ­ iggemann untersucht wird. Insbesondere auf der Seite der hugenottischen Minderheit, die freilich über erhebliches militärisches Potential verfügte, durchzog das Ringen um Sicherheit zunehmend die Verhandlungen um die Friedensschlüsse und schlug sich konkret in der Forderung nach Sicherheitsplätzen nieder. Deren Einrichtung produzierte freilich ein Sicherheitsdilemma, stellten sie doch auch nach 1598 ein beträchtliches Bedrohungspotential innerhalb des französischen Staates dar. Zugleich lassen sich anhand der Sicherheitsplätze sowohl die Ambivalenzen des frühneuzeitlichen Sicherheitsbegriffs aufzeigen als auch die grundsätzliche Frage nach der Zukunftsplanung in den Blick nehmen. Mit einem Spezialfall frühneuzeitlicher Migration beschäftigt sich Raingard Eßer, die in ihrem Beitrag zu den Remigranten während des Niederländischen Aufstandes auf die Sicherheitsproblematik vor allem aus Sicht der städtischen Magistrate hinweist. Für die Obrigkeiten nämlich stellten die Remigranten ein erhebliches ordnungs- und sicherheitspolitisches Problem dar, nicht zuletzt aufgrund des Verdachts der Unzuverlässigkeit von Bevölkerungsanteilen, die ihre Heimat zeitweilig verlassen hatten. Ein Destabilisierungsfaktor waren diese Remigranten aus Sicht der Eingesessenen aber auch, weil sie unter Wilhelm von Oranien teilweise schnell in hohe Ämter aufstiegen, die traditionell den alteingesessenen Familien vorbehalten waren. Das Beispiel Nijmegen verdeutlicht aber auch, dass das Festhalten an katholischen Erinnerungsformen und die Duldung anti-oranischer Konspirationen seitens des Magistrats bei den protestantischen Remigranten selbst ein Gefühl der Bedrohung und Unsicherheit auslöste. Die große Rolle von Sicherheitsstreben und konkreten „Sicherheitsstrategien“ wird auch in der Publizistik und den Petitionen von Konfessionsmigranten der Frühen Neuzeit deutlich. So richtet Alexander Schunka das Augenmerk auf die Aushandlungsprozesse um Schutz und Sicherheit zwischen Migrantengruppen und aufnehmenden Landesherren und hält sie obrigkeitlichen Sicherheits- und Ordnungsbedürfnissen entgegen. Dabei kam Mittelsleuten als „Sicherheitsstiftern“ zum Teil erhebliche Bedeutung zu. Sicherheit, so lässt sich festhalten, bestimmte sowohl das Verhalten von Migranten als auch die Migrationsregime in den potentiellen Aufnahmeländern. Auch hier wird deutlich, dass Minderheiten – in diesem Fall Migranten – ihre Positionen und Zielsetzungen aktiv vertraten und keineswegs nur Objekte obrigkeitlich bestimmter Migrationsregime waren.

André Griemert

Der Reichshofrat in der Justiznutzung von Juden in der Herrschaftszeit Rudolfs II. – Die Causa Israel von Lübbecke contra Hilmar von Quernheim1 I. Einleitung

Zwischen 1579 und den späten 1580er Jahren beschäftigte sich der Reichshofrat (RHR), also das Reichsgericht, das am kaiserlichen Hof ansässig war und direkt dem Reichsoberhaupt unterstand2, mit der Klage des Juden Israels von ­Lüb­becke. Der Prozess steht stellvertretend für acht weitere Prozesse, die während der Herrschaftszeit Rudolfs II. zeitgleich sowohl am RHR als auch an dem von den Reichsständen stark beeinflussten Reichskammergericht3 (RKG) anhängig waren.4 Die meisten dieser Fälle liegen nach 1585, also in einer Phase, in der das RKG durch den Magdeburger Administratorstreit in die Arbeitsunfähigkeit rutschte.5 Insofern wirft dieser Fall ein bezeichnendes Licht nicht nur auf die 1

Dieser Aufsatz ist im Rahmen eines Graduiertenstipendiums der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn entstanden. Die Sachmittel für die Archivarbeit stellte die Adolf-SchmidtmannStiftung Marburg zur Verfügung. 2 Eva Ortlieb, Reichshofrat, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 10, Stuttgart/Weimar 2009, Sp. 914–921; dies., Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657) (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit des Alten Reichs 38), Köln/Weimar/Wien 2001; Stefan ­Ehrenpreis, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionenkonflikt. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576–1612 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 72), Göttingen 2006; Sabine Ullmann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 214; Abteilung Universalgeschichte, Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 18), Mainz 2006; Wolfgang Sellert, Prozessgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N.F. 18), Aalen 1973. Zur Verbindung von RHR und Juden vgl. Stephan Wendehorst, Imperial spaces as jewish spaces – the Holy Roman Empire, the Emperor and the Jews in the early modern p ­ eriod. Some premilinary observations, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 2 (2003), S. 437–474. 3 Zum RKG siehe den neusten Forschungsstand zusammenfassend Friedrich Battenberg (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 57), Köln/Weimar/Wien 2010. 4 Siehe Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien [= HHStA], Reichshofrat [= RHR], Protocollum Rerum Resolutarum [= RP], XVI/45, fol. 441r (28. 8. 1579); ebd., XVI/46, fol. 96r (9. 12. 1578); ebd., XVI/52a, fol. 582r (4. 6. 1586); ebd., XVI/54a, fol. 134r (8. 11. 1586); ebd., XVI/64, fol. 44v (20. 3. 1591); ebd., XVI/80a, fol. 3v, 4r (4. 1. 1591); ebd., XVII/4, fol. 49v (18. 3. 1603). 5 Siehe ebd., XVI/52a, fol. 582r (4. 6. 1586); ebd., XVI/63, fol. 271r (26. 6. 1591); ebd., XVI/65, fol 7v (7. 1. 1592); ebd., XVI/54a, fol. 134r (8. 11. 1586); ebd., XVI/64, fol. 44v (20. 3. 1591);

Die Causa Israel von Lübbecke contra Hilmar von Quernheim 549

Arbeitsweise des RHR, sondern auch auf seine Wahrnehmung und die des Kaisers als obersten Richter durch die Juden und auf das bis heute noch nicht geklärte Problem des Konkurrenzverhältnisses zwischen RKG und RHR, dessen Vorrang die Kaiser stets betonten. Insbesondere das Präventionsprinzip bot in diesem Rahmen immer wieder Anlass zu Streit zwischen Kaiser und Reichsständen.6 Wesentliche Einblicke in die Causa Israels von Lübbecke liefert dabei natürlich das Archiv des Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, lagern dort doch die Wiener Gerichtsakten.7 Im Zusammenhang mit der Aktenüberlieferung in den Staatsarchiven Oldenburg und Münster ermöglichen die Bestände eine reichs- und regionalgeschichtliche integrierende Sichtweise auf eine an sich unspektakuläre Causa8, die aber in der Verquickung verschiedenster Instanzen und Akteure nicht nur ein idealtypisches Bild für Prozesse unter jüdischer Beteiligung am Ende des 16. Jahrhunderts widerspiegelt und das rechtsstrategische und argumentative Handeln der Prozessgegner beispielhaft beleuchtet, sondern auch die Rechtspraxis9 des RHR jener Jahre beispielhaft abbildet. Hierbei kann ebd., XVI/80a, fol. 3v, 4r: (4. 1. 1597); ebd., XVII/4, fol. 49v (18. 3. 1603). Zum Magdeburger Adminis­tratorstreit Christoph Kampmann, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, Stuttgart 2008, S. 23–25. 6 ­Wolfgang Sellert, Über die Zuständigkeit von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit ­(Untersuchungen zur deutschen Staat- und Rechtsgeschichte N. F. 4), Aalen 1965, S. 98–127; Bernhard Diestelkamp, Zur ausschließlichen Zuständigkeit des Reichshofrats für die Kassation kaiserlicher Privilegien, in: Leopold Auer (Hrsg.), Höchstgerichte in Europa: Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 53), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 163–176, hier S. 163f., 173–176. 7 Siehe Leopold Auer, Such- und Erschließungsstrategien für die Prozessakten des Reichshofrats, in: Wolfgang Sellert (Hrsg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 34), Köln/Wien 1999, S. 211–219; ders., Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv und die Geschichtswissenschaft. Zum 250jährigen Jubiläum seiner Gründung, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48 (2000), S. 53–71; ders./Eva Ortlieb, Die Akten des Reichshofrats und ihre Bedeutung für die Geschichte des Juden im Alten Reich, in: Andreas ­Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hrsg.), Juden im Reich. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich (Zeitschrift für Historische Forschung 39), Berlin 2007, S. 25–38. 8 Dietmar Schiersner, Überblick von unten. Oder ein kleines Reich. Was hat die Regionalgeschichte der Reichsgeschichte zu sagen?, in: Johannes Burkhardt (Hrsg.), Geschichte in Räumen. Festschrift für Rolf Kießling zum 65. Geburtstag, Konstanz 2006, S. 295–322. 9 Hierunter ist in einem allgemeinen Sinn die „Praxis richterlicher Rechtsanwendung“ zu verstehen. Vgl. Peter Oestmann, Einleitung. Höchstrichterliche Rechtsprechung im ­Alten Reich – Einleitende Überlegungen, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/­Stephan­ Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen, Fallstudien, Statistiken (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 50), Köln/Weimar/Wien 2005, S. 1–15, S. 5f., Zitat S. 6.

550 André Griemert

insbesondere das Prozessverhalten Israels und seines Geschäftspartners Abrahams als strategisch bezeichnet und insofern im Sinne des von Martin Dinges in die Diskussion eingebrachten Paradigmas der Justiznutzung eingeordnet werden.10 Gerade weil das Justiznutzungskonzept die Justiz als Angebot zur Regulierung von sozialen Konflikten begreift11, scheint die Beschäftigung mit Gerichtsprozessen in dieser Perspektive besonders dazu geeignet, da sie das Augenmerk auf die Juden als Akteure und weniger als passive Objekte herrschaftlichen Handelns lenkt. Das Konzept umschreibt zum einen die gerichtliche Inanspruchnahme, zum anderen aber die Art und Weise sowie die Form dieser Inanspruchnahme. Gerichte gelten bei Dinges als Angebot der Herrschaft, dessen Inhalt dadurch mitbestimmt wird, ob und wie seine Zielgruppe es annimmt. Auf diese Weise sind die Partizipienten an Gerichten wie zum Beispiel den Reichsgerichten dafür verantwortlich, wie sich deren Struktur oder deren generelle Außenwahrnehmung gestaltet.12 Dabei zeigt der Fall vor allem das enorme Selbstbewusstsein jüdischer Kläger, die offensiv unter Verwendung aller ihnen am RHR zur Verfügung stehenden rechtspraktischen Mittel ihre Rechte vor dem RHR auch gegen Reichsadlige einzusetzen gewillt waren. Um die Justiznutzung der einzelnen Akteure in dieser Causa zu untersuchen, ist es einleitend unabdingbar, einen Blick auf den Beginn und den Anlass des Falles zu werfen, um hiervon ausgehend die Ursachen zu beleuchten. Im Zentrum sollen dann die rechtsstrategischen und argumentativen Vorgehensweisen der Akteure stehen.

II.  Beginn und Anlass des Prozesses

Ende März des Jahres 1579 wurde eine kurze Supplikation des Juden Israel von Lübbecke im RHR präsentiert, aus der das kaiserliche Gericht entnehmen ­konnte, wie der Jude für eine Obligation Hilmars von Quernheim13 über „etli 10

Vgl. zu diesem Konzept Martin Dinges, Frühneuzeitliche Justiz: Justizphantasien als Justiznutzung am Beispiel von Klagen bei der Pariser Polizei im 18. Jahrhundert, in: Heinz Mohnhaupt/Dieter Simon (Hrsg.), Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie, Bd. 1 (Rechtssprechung. Materialien und Studien 4), Frankfurt a. M. 1992, S. 269–292; ders., Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 1), Konstanz 2000, S. 503–544. 11 Dinges, Justiznutzungen (wie Anm. 8), S. 505. 12 Hierzu Wolfgang Schmale, Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit. Ein deutsch-französisches Paradigma (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 30), München 1997, S. 111. 13 Vgl. zu den Quernheimern als westfälischem Uradel Heinrich Henkel, Geschichte der Familie Freiherr von Quernheim, Pohlheim 1988; Gotha. Genealogisches Taschenbuch der Uradeligen Häuser 4, 1903, S. 728.

Die Causa Israel von Lübbecke contra Hilmar von Quernheim 551

chen hundert tausennt goldtgulden“ bürgte.14 Konkret ging es um einen Vertrag aus dem Jahr 1575.15 In ihm hatte Hilmar von Quernheim Israel beauftragt, eine Schuldverschreibung von über 300 000 Goldgulden, die auf Hilmars Namen ausgestellt war, einzulösen und auszuliefern. Dafür sollte er binnen eines Jahres 15 000 Goldgulden erhalten. Israel beschaffte diese Obligation. Sein Geld erhielt er nicht.16 Der Jude informierte nun den RHR nicht weiter über die eigentliche Angelegenheit, sondern ging sehr schnell dazu über, von einer Zitation des RKG zu berichten, die ihn für den 26. Februar nach Speyer vorlud. Den diesbezüglichen Termin habe er verstreichen lassen müssen. Da die Zitation erst am 12. Februar angekommen sei, habe er sie nicht mehr persönlich annehmen können, da er sich bereits auf einer Geschäftsreise nach Prag befand.17 Tatsächlich fertigte das RKG eine „Citation ex L: diffamari“ gegen den Bischof von Minden, Israel von Lübbecke und Abraham von Hausberge aus und lud die Parteien nach ­Speyer vor. Ihren Ursprung hatte die Zitation in der Klage Hilmars von Quernheim, der insbesondere gegen die Juden wegen Ehrverletzung am ständischen Reichsgericht klagte.18

III.  Die Hintergründe des Prozesses

Was waren die Hintergründe für Israels Wendung an den RHR und warum klagte Hilmar gegen die Juden am RKG? Zu der Klage war es weniger durch die nicht ausgezahlten 15 000 Goldgulden, als vielmehr durch einen Zufall gekommen. Der Mindener Bischof Hermann von Schaumburg19 beauftrage seinen Schutzjuden Abraham von Hausberge20, mit 1 800 fl. nach Frankfurt zu reisen und dort für ihn Luxuswaren einzukaufen. Dieser tätigte die Reise mit ­Israel. In Frankfurt wurden die beiden durch eine Denunziation anderer Juden verhaftet. Als Kaution mussten sie die erwähnten 1 800 fl. stellen und gelangten mit leeren

14

Siehe Israel von Lübbecke an den Kaiser (Praes. 25. 3. 1579) in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3 (Zitate ebd.). Siehe eine Abschrift der Vereinbarung in Israel von Lübbecke u. a. an den Kaiser (Praes. 28. 3. und 30. 3. 1582) in ebd. 15 Siehe Bischof von Minden am 22. 10. 1578 an den Hofrat in Staatsarchiv Münster [= StAMü] Q 117, fol. 28r. 16 Siehe Israel von Lübbecke an den Kaiser (Praes. 25. 3. 1579) in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3. 17 Vgl. Israel von Lübbecke an den Kaiser (Praes. 25. 3. 1579) in ebd. 18 Vgl. die Zitation vom 12. 12. 1578 in StAMü Q 117, fol. 16r–19v. 19 Otto Bernstorf, Bischof Hermann von Minden aus dem Gräflich Schaumburger Hause. Ein geistlicher Fürst der Reformationszeit, Minden 1964, S. 110, 113–116, 135–139. 20 Siehe hierzu direkt Abraham von Hausberge an das RKG (Praes. 21. 2. 1579) in StAMü Q 117, fol. 91v.

552 André Griemert

Händen zurück nach Minden.21 Der Bischof, zunächst überzeugt, dass Israel die Angelegenheit eingefädelt hatte, ließ diesen in Lübbecke22 verhaften. Erst als der Verhaftete die Angelegenheit gegenüber dem Bischof richtig stellte, wurde er entlassen.23 Israel machte den Bischof darauf aufmerksam, dass nicht er es war, der für die Ereignisse in Frankfurt verantwortlich sei, sondern Hilmar von Quernheim der eigentliche Urheber wäre.24 Letzterer habe die Frankfurter Juden auf Israel mit dem Versprechen angesetzt, sie könnten sich an diesem schadlos halten, um sich gleichzeitig seiner Schuldzahlung an Israel zu entledigen.25 Der Mindener Bischof ließ Israel sofort frei und unterstützte ihn mit allen Mitteln bei der Erlangung seiner Schuld.26 Eine Supplik wechselte die andere und letztlich standen sich die Positionen unversöhnlich gegenüber, so dass es zur Einschaltung der beiden obersten Reichsgerichte kam: Zuerst das RKG durch Hilmar, dann der RHR durch Israel.

IV.  Das rechtsstrategische Vorgehen und seine argumentative Absicherung

Als Schutzjude des Mindener Bischofs firmiert Israel als einer der wohl finanzkräftigsten Juden, die am RHR zur Zeit Rudolfs II. prozessierten. Zudem besaß er als Hofjude des in Ostfriesland herrschenden Hauses Cirksena27 enge wirtschaftliche Kontakte zum Grafen Ezard II.28 Aber auch mit anderen Personen aus dem ostfriesischen und ostwestfälischen Bereich stand Israel in engen Han-

21

Vgl. Bischof von Minden an den Hofrat am 22. 10. 1578 in StAMü Q 117, fol. 26r–29v, hier fol. 26r–26v; zur Geschichte der Mindener Juden und insbesondere zu den vorhandenen Quellen siehe Bernd-Wilhelm Linnemeier, Jüdisches Leben im Alten Reich. Stadt und Fürstentum in der Frühen Neuzeit (Studien zur Regionalgeschichte 15), Bielefeld 2002. 22 Vgl. zur Geschichte der Lübbecker Juden Dieter Zassenhausen, Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde Lübbecke. Vom Spätmittelalter bis ins frühe 19. Jahrhundert, Lübbecke 1988. Israel wird hier nicht erwähnt. 23 Siehe Bischof von Minden an den Hofrat am 22. 10. 1578 in StAMü Q 117, fol. 26r–29v, hier fol. 26r–27r. 24 Vgl. Israels von Lübbecke am 30. 10. 1578 an den Bischof von Minden in ebd., fol. 36r–39v. 25 Siehe Israels von Lübbecke am 7. 10. 1578 an Bischof von Minden in ebd., fol. 24r–25v. 26 Vgl. Bischof von Minden am 22. 10. 1578 an den Hofrat in ebd., fol. 26r–29v, hier fol. 27v– 28v. Siehe auch ders. am 5. 11. 1578 an den Hofrat in ebd., fol. 40r–45v, hier fol. 42v–43r. Hofrat an Hilmar von Quernheim als Drosten des Haus Reinebergs am 23. 10. 1578 in ebd., fol. 30r–31v; vgl. Hilmar von Quernheim am 26. 10. 1578 an den Hofrat in ebd., fol. 33r–35v; Hilmar von Quernheim am 16. 11. 1578 an den Hofrat in ebd., fol. 52r–55v, hier fol. 53v–54v; siehe das Kautionsangebot, das Israel am 16. 11. 1578 zugestellt wurde in ebd., fol. 49r–51v. 27 Heinrich Reimers, Ostfriesland bis zum Aussterben seines Fürstenhauses, Nachdruck Vaduz 1991. 28 In Staatsarchiv Oldenburg [= StAOl] 20–42 A Nr. 96, fol. 7 tritt Israel als ostfriesischer Hofjude auf.

Die Causa Israel von Lübbecke contra Hilmar von Quernheim 553

delskontakten.29 Israel pflegte als bekannter Geschäftsmann, der weit über die Grenzen des Stifts Minden reüssierte30, zudem enge informelle Kontakte zum kaiserlichen Hof.31 Diesem Umstand ist die oben bereits erwähnte Geschäftsreise nach Prag geschuldet, wegen der er – so ­Israel – die Zitation des RKG nicht hatte persönlich in Empfang nehmen können. Dem war allerdings nicht ganz so. Israel erhielt laut Aktenlage die Vorladung in Lübbecke persönlich.32 Er verließ den Ort erst nach deren Erhalt und erreichte Prag spätestens am 12. März, da bereits an diesem Tag der RHR ein kaiserliches Schreiben an den Bischof von Minden in der Angelegenheit erließ.33 Während Israel am RHR die Angelegenheit verfolgte, war Abraham für die Prozessführung in Speyer verantwortlich, erscheint sein Name doch in den diesbezüglichen Akten.34 Die beiden Juden teilten sich demnach die Verfolgung ihrer Interessen gezielt auf.35 Sie erfanden die Mär von der verspäteten Zitation gezielt, damit Israel auf einer seiner Geschäftsreisen über Prag gehen konnte, um beim RHR zunächst die Bereitschaft auszuloten, zeitgleich zu einem RKG-Prozess in der gleichen Sache tätig zu werden.

29

Vgl. bspw. einen Schuldbrief aus dem Jahr 1571, der auf Israel ausgestellt ist in StAMü 137, fol. 71r; vgl. auch Israel von Lübbecke am 16. 6. 1579 an Prunseken in Staatsarchiv Aurich [= StAA] Rep. 4 A II b, Nr. 281 bezüglich eines Geldgeschäftes über eine höhere Summe. Siehe zu Israel Arno Herzig, Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 2005, S. 108f.; siehe ausführlicher Bernhard Brilling, Die Entstehung der jüdischen Gemeinde in Emden, in: Herbert Reyer/Martin Tielke (Hrsg.), Frisia Judaica. Beiträge zur Geschichte der Juden in Ostfriesland (Friesia Judaica 67), Aurich 1991, S. 27–44, hier S. 36f. 30 So Hilmar von Quernheim am 7. 7. 1579 an den Kaiser (Praes. 18. 7. 1579) in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3; siehe das Mandatum procuratorium Abrahams von Hausberge vom 1. 5. 1579 in StAMü Q 117, fol. 56r–59v, hier fol. 56v: „weil nun ehr Ißrael Judt seiner gescheffte halber Inn frembde Lande notwendig verreisenn mussen, und ehr Ißrael Jude Also solche Angekundigter keiserlichenn Citation Inn der Person nicht nachleben“ könne. 31 Vgl. bspw. „Urkhundt in sachen Israel Judt ct. Quernheim“ (Praes. 28. 2. 1586) in StAMü Q 117, fol. 118r–118v, wo Bürgermeister und Rat der Stadt Emden am 6. 1. 1585 für Israel bezeugen, dass er wegen seinen Geschäften den gesamten Sommer und Herbst des Jahre 1585 auf Reisen war und sich in Prag aufgehalten habe. 32 Siehe die Insinuationsbestätigung in ebd., fol. 10r–10v. 33 Siehe Abschrift des Schreibens Rudolfs II. an den Bischof von Minden vom 12. 3. 1579 in ebd., fol. 63r–63v, in der Einzelheiten der Vorgänge in Lübbecke und Minden erwähnt werden. 34 Siehe das „Mandatum procuratorium“ Abrahams von Hausberge vom 1. 5. 1579 in StAMü Q 117, fol. 56r–59v. 35 Israel betonte (vgl. ders. an den Kaiser [Praes. 25. 3. 1579] in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3), dass bereits sein Gesandter „an die Neun Wochen“ am kaiserlichen Hof in Prag wegen der Sache anwesend gewesen und jetzt sogar er selbst „alher gereiset“ sei, mithin nichts von der Citation habe wissen können (Zitat ebd.).

554 André Griemert

Die Strategie der beiden Juden ging zunächst auf. Das bereits am 12. März vom RHR erlassene kaiserliche Schreiben trug dem Bischof von Minden auf, dem Juden zu seinem Geld zu verhelfen. Israel scheint gezielt eigene Kanäle am kaiserlichen Hof abseits des RHR besessen zu haben, war der RHR zu diesem Zeitpunkt in Anbetracht fehlender Eintragungen in seinen Protokollen36 doch noch gar nicht offiziell in der Sache involviert, besaß aber gemäß des Schreibens bereits alle wichtigen Informationen.37 Israels Reise nach Prag stellt dabei ein durchaus gängiges Vorgehen von Juden in jener Zeit dar, um inoffiziell mit Funktionsträgern des RHR oder des kaiserlichen Hofes in Kontakt zu treten und die eigene Angelegenheit zu beschleunigen.38 36 Lothar Groß, Reichshofratsprotokolle als Quellen niederösterreichischer Geschichte, in:

Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 26 (1936) S. 119–123; Barbara Staudinger, Die Resolutionsprotokolle des Reichshofrats als Quelle zur jüdischen Geschichte, in: A ­ nette ­Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 37), Köln/Weimar/ Wien 2001, S. 119–140. 37 Siehe Abschrift Rudolf II. an den Bischof von Minden vom 12. 3. 1579 in StAMü Q 117, fol. 63r–63v, in der Einzelheiten der Vorgänge in Lübbecke und Minden erwähnt werden. 38 So Jacob Fröschl aus Prag im Fall Isaak und Mayer ct. Konrad von Pappenheim (vgl. HHStA, RHR, Protocollum Rerum Exhibitarum [= RE], XVII/1, fol. 23v [14. 3. 1600] u. ­Jacob Fröschl an den Kaiser [Praes. undat.] in ebd., Jud. misc., K. 42). In ebd., RP, XVI/64, fol. 147r (2. 12. 1591) beschweren sich die Quernheimisch Erben im Schuldprozess gegen Ostfrieslandt und Israel von Lübbecke, dass „ettlich Juden zu Prag aus der Behaimischen Canzlej ein arest auspracht“ hätten und daher die vom Ostfriesischen Grafen beschlagnahmten Gelder immer noch nicht ausgezahlt würden. Siehe zur Anwesenheit Isaacs von Nagelsberg und seiner Frau Khelas Anwesenheit in Prag ders. an Stelzer als „N 22.“ bzw. „26.“ in Staatsarchiv Ludwigsburg, Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein [= StAL-HZAN], We 10, Bü 95/6; ders. an Wolfgang von Hohenlohe (Praes. 22. 8. 1595) in ebd., We 10, Bü 95/16 und dies. an den Kaiser (Praes. 15. 1. 1596) in HHStA, RHR, ApA, K. 84/2, fol. 270r– 271v sowie das beigelegte Legitimationsschreiben der Rabbiner Löw ben Bezalel (vgl. zu dieser herausragenden Rabbinergestalt Guiseppe Veltri, ‚Ohne Recht und Gerechtigkeit‘. Kaiser Rudolf II. und sein Bankier Markus Meyzl, in: ders./Anette Winkelmann (Hrsg.), An der Schwelle zur Moderne. Juden in der Renaissance (Studies in European Judaism 7), Leiden/Boston 2003, S. 233–255) und Gabriel in ebd., fol. 272r–273v; ebenso dies. an den Kaiser (Praes. undat.) in ebd., fol. 274r–275v, hier fol. 274r; dies. (Praes. 16. 11. 1598) in ebd., ApA, K. 84/2, fol. 282r–282v. Vgl. bspw. ebd., RE, XVI/3, fol. 30r–30v; ebd., RP, XVI/3, fol. 30v (undat. [1598]); Judenschaft in Schwaben an den Reichsvizekanzler Siegmund Vieheuser (undat. [1583]) in ebd., ApA, K. 86, fol. 44r–44v; Schmoll an den Kaiser (Praes. undat.) als „.5.“ in Staatsarchiv Würzburg [= StAWü], Lehensachen 5328; vgl. „Expens Zettel Schmoll Judens wider die Gebrüeder vom Stein“ in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 42, wo von insgesamt 5 Reisen die Rede ist; ders. an Würzburger Bischof (Praes. 30. 7.[1592]) als „No. 4.“ ct. Steins in ebd., Den. ant., K. 177, fol. 325r–327v, hier fol. 325v; vgl. Schmoll an den Kaiser (Praes. 4. 6. 1592) ct. Stein in ebd.; Schmoll an den Bischof (Praes. 29. 8. 1596) in StAWü, Lehensachen 5328.

Die Causa Israel von Lübbecke contra Hilmar von Quernheim 555

Mit dem gewählten Vorgehen verzeichnete Israel auch im weiteren Verlauf der Causa durchaus Erfolge: Nach dem erwähnten Schreiben befahl der RHR dem RKG in einem eindeutigen Befehlston die Remittierung des Falles an den Mindener Bischof als erste Instanz.39 Eine eigene aktive Beteiligung im Fall lehnte das kaiserliche Gericht hingegen offenbar ab, bezog aber gegenüber dem RKG eindeutig eine ex officio übergeordnete Position.40 Im Mai 1579 ließ A ­ braham dieses reichshofrätliche Schreiben am RKG einreichen, ohne dass freilich hierzu eine Reaktion des Speyrer Gerichts vorliegt.41 Der Prozess wurde nach Ausweis der Akten zwar nicht remittiert, geriet allerdings ins Stocken, was auf eine gewisse Unsicherheit der Parteien und Richter am RKG schließen lässt.42 Ein Jahr lang tat sich mit Ausnahme von wenigen Schriftstücken nichts Wesentliches in der ­Causa. Seit März 1581 ruhte der Fall sowohl in Speyer als auch in Prag endgültig. Ausschlaggebend dürften die Erkrankung und das Ableben ­Hilmars gewesen sein.43 Israel nutzte diesen prozessualen Stillstand, um im September in Prag erneut persönlich vorstellig zu werden. Dort erbat er ein Schreiben an den Mindener Bischof, das der RHR erneut ohne weiteres bewilligte44 und in welchem der Kaiser dem Bischof die schnelle Auszahlung der Schuldforderung an Israel ans Herz legte.45 Zusätzlich gewährte der RHR Israel ein kaiserliches Schreiben an den Grafen Ezard II. von Ostfriesland. In ihm forderte der Kaiser den Grafen dazu auf, Israel „Auff angeregten Quernheimischen Geldern, Ob einige bey dir stunden zue geburlicher furderlicher bezahlung [zu] verhelffen“.46 Hiermit war ein Kredit von über 12 000 fl. gemeint, den Ezard und sein Bruder Johann 1574 zusammen mit Bürgermeister und Rat der Stadt Emden zwecks Deichbauten in 39

Siehe „fürschrifft ans Camerg[r]icht für Israel Juden von Lübeck“ am 25. 3. 1579 in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3. Siehe zu den Kategorien von Promotorialschreiben Markus Senn, Der Reichshofrat als oberstes Justizorgan unter Karl V. und Ferdinand I. (1519–1564), in: Anja Amend/Anette Baumann/Stepan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung, (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 52), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 27–39, hier S. 30f. 40 Vgl. Senn, Reichshofrat (wie Anm. 39), S. 30, 35. 41 Siehe Eintrag unter dem 11. Mai im Spezialprotokoll in StAMü Q 117, fol. 1v, siehe die Abschrift des Promotorials in ebd., fol. 61r–61v. 42 Siehe ähnlich Senn, Reichshofrat (wie Anm. 39), S. 35. 43 Das Spezialprotokoll in StAMü Q 117, fol. 2v weist nur wenige Verhandlungstage auf. Siehe hier auch die Bekanntmachung des Todes Hilmas von Quernheims durch seinen Anwalt Johann Gödelmann. 44 Vgl. HHStA, RHR, RP, XVI/47, fol. 47v (15. 9. 1581) u. ebd., XVI/50, fol. 67v (15. 9. 1581). 45 Vgl. Fürschrifft an Bischoffen zu Minden vom 15. 9. 1581 in ebd., Jud. misc., K. 43/3. 46 Das Konzept ist nicht mehr vorhanden, liegt aber als „Copia kay[serlichen] Schreybens Ann Graff Ezdtshardten zue OstfrießLandt pro Ißrael Juden von Lübeck E.“ in ebd. (Zitat ebd.) vor.

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der Emdener Region mit Hilmar von Quernheim abgeschlossen hatten und in Form einer jährlichen Pension von 960 fl. an Letzteren zurückzahlen mussten.47 Israel besaß durchaus Kenntnis von diesem Vertrag, besorgte er doch für die Grafen seit 1579 die Gelder zwecks Rückzahlung der erwähnten Kreditsumme.48 Mit diesem Schreiben gelang es Israel insofern nochmals, das kaiserliche Gericht zur Beförderung seiner Interessen geschickt zu nutzen. Nachdem sich im Prozess erneut nichts mehr bewegte, erbat Israel zwecks „schleinigen Proceß“ eine Kommission vom RHR, die mittels einer Zeugenbefragung die Urkunden Hilmars in Ostriesland mit denen vergleichen sollte, die er bezüglich des Obligationshandels besaß, um seine Forderungen an den Quernheimer zu verifizieren.49 Als Argument brachte er vor, dass die Quernheimer einen „langweilige[n] Proces“ am Reichsgericht in Speyer führten und den Fortgang der Sache nur aufhalten wollten. Ziel Israels war es, über den dem RKG zu Lasten gelegten Vorwurf der Justizverzögerung den Prozess vom Kaiser an den RHR ziehen zu lassen. Tatsächlich dürfte dem ostfriesischen Hofjuden bereits nach den ersten kaiserlichen Schreiben bewusst gewesen sein, dass die Quernheimer ihre Meinung nicht ändern bzw. das RKG sich nicht in einen rechtshängigen Fall vom RHR hineinreden lassen würden. Insofern ist hinter dem bisher Geschilderten durchaus strategisches Kalkül Israels zu vermuten.50 Der Hofjude bemühte sich, den RHR über die obige Darstellung des RKG-Prozesses für den vorliegenden Fall näher zu interessieren. Unter Verwendung der Vorstellung vom Reichsoberhaupt als der „höchsten von gott dem Allmechtigen gesezter Obrigkeit und brunnen der gerechtigkeit“ argumentierte Israel wie auch andere Juden zusätzlich in prononcierter Weise mit der traditionellen Vorstellung vom kaiserlichen Amt als einzige Quelle allen Rechts im Reich und sah damit in Anlehnung an das römische Kaiserrecht in ihm und seinem Gericht gegenüber dem RKG die alles entscheidende übergeordnete Revisions- und Aufsichtsinstanz.51 Der Jude berief sich im Kern auf seine persönliche Annahme, der Kaiser könne jederzeit von seinem Avokationsrecht gegenüber dem RKG Gebrauch machen 47

Siehe die betreffende Urkunde vom 30. 3. 1574 StAA Rep. 1, 860. Vgl. Israel von Lübbecke an Occo Friese als Drosten von Emden am 2. 6. 1579 in ebd. Rep. 4 A II b Nr. 281; die Rückzahlung war bereits 1576 ins Stocken geraten (vgl. Occo Friese am 24. 11. 1576 an Ezard II. in ebd.); hierzu Jan Lokers, Die Juden in Emden 1530–1806. Eine sozial- und wirtschaftsgeschichtlich Studie der Juden in Norddeutschland vom ausgehenden Mittelalter bis zur Emanzipationsgesetzgebung (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands 70), Aurich 1990, S. 122, Anm. 574. 49 Zitat HHStA, RHR, RP, XVI/1, fol. 370v (28. 3. 1582). 50 Siehe zur Avokation Kurt Perels, Die Justizverweigerung im alten Reiche seit 1495, in: ZRG GA 25 (1904), S. 1–51, hier S. 30f., 33–37. 51 Vgl. Israel von Lübbecke an den Kaiser (Praes. 2. 4. 1582) in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3 (Zitat ebd.). Vgl. hierzu Senn, Reichshofrat (wie Anm. 39), S. 28–30. 48

Die Causa Israel von Lübbecke contra Hilmar von Quernheim 557

und setzte dieses Argument in offenherziger Weise ein. Zugleich stellt dies ein durchaus übliches Vorgehen jüdischer Kläger in dieser Zeitspanne dar: Gerne stellten sie das RKG als eine Institution dar, die nicht wirklich arbeitsfähig war oder sein wollte und damit Partei für die Gegenseite ergriff. Sie nutzten den RHR damit nicht nur in ihrem Interesse, sondern schienen ihn geradezu als ein effektives und effizientes Aufsichtsorgan gegenüber dem RKG bewertet zu haben, das sie wiederum implizit als niederrangig gegenüber dem RHR qualifizierten.52 Hilmar von Quernheim und später seine Erben stellten dem gegenüber – ­allerdings vor dem RKG – klar, dass die RHR-Schreiben und die RHR-Kommission „mit Verschreyung und erdichten grudloßen […] sub et obreptitie“ ausgebracht worden seien, der Kaiser sich also von einem Juden und dessen ‚Lügen‘ habe beschwatzen lassen. Vielmehr sei es doch so, wenn praeventio Jurisdictionis Sola citatione legitime facta inducitur undt Also in gegenwertiger sach non solum iurisdictio Epi[scopi] sed etiam Jursidictio caesaris cum camerae concurrens praeuenta sit so soll billich vermog der Rechten, der selbenn lehrer haltung undt ublichen gebrauch des hochloblichen kay[serlichen] Cammergerichts, noch diese sach Alhie die Angefangen, verpleiben, undt zue endt gebracht

werden müsse. Weil der Prozess am RKG anhängig sei, könne die Angelegenheit nicht an den Bischof von Minden oder den kaiserlichen Hof verwiesen werden. Der Instanzenzug im Reich müsse gewahrt bleiben.53 Aber auch Abraham und Israel zogen die in Prag ausgebrachten kaiserlichen Schreiben als Argumentationsbasis am RKG zur Verfolgung ihrer Interessen heran, bewerteten gleichwohl die Vorgänge konträr anders. Bezüglich der Remittierung an den Bischof durch das kaiserliche Promotorial kam ihr Anwalt zu dem Schluss, dass man in solchen fall diß Ortts mit nichten Verhafft noch begriffen da Römischen Kay[serlichen] M[ajes]t[ä]t Unnseres allergnedigsten herrn, Auch s[eine] f[ürstlichen] g[naden] Unnd diß hochlöblichen Kay[serlichen] Cammergerichts Jurisdiction unnd gerichtszwang zugleich sich erreget Unnd mit einlauff, seytemal die Remissio nicht an hochstermelte Kay[serliche] M[ajes]t[ä]t sonder[n] Anwalts gnedigen Fürst und Herrn Principalen als Ordinarium begert.54

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Hierzu auch Senn, Reichshofrat (wie Anm. 39), S. 28–30. Siehe weitere Beispiele aus dieser Zeit in Fuldaer Juden an die Statthalter und Räte in Mergentheim (Praes. 9. 8. 1591) in Bericht der Mergentheimer Regierung an den Kaiser vom 14. 10. 1591 (Praes. 21. 12. 1591) in HHStA, RHR, Decisa, K. 2 263; allgemein Fuldaer Juden an den Kaiser undat. (Praes. 21. 12. 1591) in ebd. 53 Hilmar von Quernheims an das RKG (Praes. 10. 5. 1580) in StAMü Q 117, fol. 66r–70v, Zitate fol. 67r–67v. 54 Zitat Abraham von Hausberge an das RKG (Praes. 21. 2. 1581) in StAMü Q 117, fol. 89r–89v.

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Während Hilmar von Quernheim, seine Erben und deren Anwälte jegliche Einmischung von Seiten Prags als dem Reichsrecht zuwiderlaufend ablehnten, beriefen sich die Juden auf den Umstand, dass der Kaiser sich hier nicht einmische, sondern den eigentlichen Instanzenzug des Reiches mit seiner Rechtsprechung wahre und somit lediglich als eigentlicher Hüter des Reichsrechts auftrete. Damit stilisierten sich Israel und Abraham allerdings implizit zu Sachwaltern kaiserlicher Vorrechte im Besonderen und des Reiches im Allgemeinen gegenüber einem Reichsadeligen und dem RKG.

V.  Die Argumentationsstrategien der Parteien

Die Argumentationen der beiden Prozessparteien spiegeln ebenso wie ihr rechtsstrategisches Handeln und deren Begründung generelle Muster jener Jahre wider. Insbesondere die Selbstbilder beider Parteien waren durchaus dafür ausschlaggebend, welchen prozessualen Weg die Kontrahenten einschlugen und wie das weitere argumentative Vorgehen jeweils ausfiel. Hilmar von Quernheim hatte sich an das ständische Reichsgericht mit der Klage gewendet, weil er sich durch die Beschuldigung Israels in seiner Ehre verletzt und diffamiert fühlte.55 Dabei zeichnete er ein Bild vom Juden, mit dessen Hilfe er diesen gezielt kriminalisierte. Er bestritt nicht nur alle Vorwürfe56, sondern warf dem Juden implizit Urkundenfälschung vor. Insofern bewertete er das Vorgehen Israels nicht nur als Unrechtmäßigkeit, sondern auch als abträglich für das kaiserliche Ansehen: Soll demnach E[ure] Kay[serliche] M[ajestä]t beständigen Wahrhafften gegenbericht Allerunderthenigst nicht verhalten daß ich mich eines solchen Verfeindtlichen und erdichte den Ehrenrurigen Angebens mit nichten Versehen Sondern helte In der zuuersicht gestanden er der Jud […] solt er dennoch E[ure] Kay[serliche] M[ajestä]t Alß das höchste haupts der Christenheit darmit unbemuhet gelaßen haben.

Hilmar wies den Kaiser darauf hin, dass er wegen dieser Zusammenhänge an das RKG eben als kaiserliches und zugleich reichsständisches Gericht appelliere.57 Die Anrufung des Kaisers als Schutzherr der Christenheit leistete im Argumen­ tationsrahmen Hilmars der Diskreditierung Israels als Nichtchrist sowie damit dessen Ausgliederung als gleichberechtigter Untertan des Reichs Vorschub. Gleichzeitig sollte aber die Aufmerksamkeit des Reichsoberhauptes allein auf Hilmar als ehrenhaften Adeligen gelenkt werden. 55

Hilmar von Quernheims an das RKG in ebd., fol. 22r–23v. Citation vom 12. 12. 1578 in ebd., fol. 16v. 56 So zumindest Quernheim an das RKG (Praes. 10. 5. 1580) in ebd., fol. 66r–70v, hier fol. 69r. 57 Zitat Hilmar von Quernheim am 7. 7. 1579 an den Kaiser (Praes. 18. 7. 1579) in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3; vgl. nochmals Quernheimische Erben an den Kaiser (Praes. 1. 3. 1585) in ebd.

Die Causa Israel von Lübbecke contra Hilmar von Quernheim 559

Dem gegenüber verwies Israel auf seine eigene prekäre Situation, in die er durch die Nichtzahlung gebracht worden sei. Mit dem langwierigen RKG-Prozess gerate er sukzessive „zue eußerster Armutt“, so dass der „bettelstab“ nicht mehr weit wäre.58 Gerade deswegen habe er sich an den Kaiser als letzte Rettung wenden müssen.59 Als „medirte Im Reich“ besäße er das Recht, gegen jedermann zu klagen. Israel sah sich also selbstbewusst als Reichsuntertan und postulierte damit sein Recht als ehrlicher Geschäftsmann60, beim Kaiser als „hochsten vonn Gott Allerg[ned]igst verordneten Obrigkeit“ vorzusprechen.61 Israels bezog sich wie andere Juden jener Jahre zusätzlich auf einen bewusst von Hilmar von Quernheim in Kauf genommenen Landfriedensbruch, um dessen Ehrvorstellungen zu desavouieren. Hierfür wies er zum einen auf die Missachtung der landesherrlichen Jurisdiktionskompetenzen durch Hilmar hin, der doch den Bischof von Minden als unseren „Lanndesfürsten und Erster Instantz ordentliche Obrigkeit“ übergangen habe. Demgegenüber ganz loyal zur Landesherrschaft betonte der Jude, er selbst habe sich bisher gesträubt, einen solchen Schritt zu tun, weil es doch der Bischof „nit guet heissen“ würde.62 Zum anderen bezichtigte Israel Hilmar von Quernheim unter Verweis auf seine prekäre persönliche Lage63 sowie die seiner Familie: Neben deme Ich Leibs und Lebenns, auf denn kaiserlichenn Landtstrassen nicht sicher, Inmassen mir dann mein Son unnder diesem hanndel ermördert beraubt unnd mir sein Wittib unnd Kinnder ob dem halß gelassen worden.64

Unter Verwendung der Beschuldigung des offenen Landfriedensbruchs, die den Kaiser als Garant des Landfriedens und als Schutzherr aller Reichsbewohner wie insbesondere der personae miserabilis65 in besonderer Weise ansprechen musste, versuchte er, dass kaiserliche Gericht für sich einzunehmen.

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Vgl. Israel von Lübbecke u. a. an den Kaiser (Praes. 28. 3. und 30. 3. 1582) (Zitate ebd.) sowie ders. an den Kaiser (Praes. 2. 4. 1582) in ebd., Jud. misc., K. 43/3. Ähnlich StAOl 20–42 A Nr. 96, fol. 16r, 57r–58r, 74v, 89v; in ebd., fol. 115v bezeichnet er sich als „armer clagender Jude“. 59 Vgl. ebd., fol. 77r–77v. 60 Zitat ebd., fol. 116r. 61 Ebd., fol. 49r–50r, hier 49v, Zitat fol. 14v. 62 Zitat Israel von Lübbecke an den Kaiser (Praes. 25. 3. 1579) in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3. 63 Er sei als ein „Armenn Mann in unschulig verderbenn leibes und guetes“ geraten (Zitate ebd.). 64 Zitat ebd. 65 Z. B. auch Seligmann an den Kaiser (Praes. 6. 3. 1600) ct. Grafeneck in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 41. Vgl. Adalbert Erler, Miserabiles, in: Handwörterbuch für Rechtsgeschichte 3 (1984), Sp. 597–599, hier Sp. 598.

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Wie groß die potenzielle Stoßkraft dieses Arguments in den Augen des Gerichts sein konnte, beweist auch die Reaktion des Prozessgegners. Hilmar legte große Aufmerksamkeit auf die Beschuldigung des Landfriedensbruchs, könne der ­Jude doch „die tage seines Lebens mit bestand und grunt der Warheit nicht mit dem geringsten dahin können, daß Ich Jemalß die Kayserlichen Landstraße nicht gefreiet“. So sei dessen Sohn nicht durch ihn, sondern auf den Handelsreisen Israels nach Frankfurt vor längerer Zeit umgekommen.66 Dass sich dieser Vorwurf demnach als unwahr und damit als opportunistisch erwies, schmälert die Stoßrichtung des argumentativen Konstrukts vom systematischen Bruch des kaiserlichen Landfriedens durch Hilmar von Quernheim aus Sicht des Juden keineswegs, zeigt sich hierin doch nicht nur das Wissen um die fundamentale Bedeutung des RHR als Wächter über die Prärogativen des Kaisers, sondern auch das enorme Vertrauen, das der Jude eben in dieses Argument und damit seine Wirksamkeit legte.67

VI.  Die RHR-Kommission und ihre Bedeutung in den Argumentationsstrategien der Parteien

Angesichts der Verwicklungen im Fall mit dem RKG und den vorgelegten Argumenten der Parteien nahm sich der RHR ausreichend Zeit zur Beratschlagung bezüglich ihrer Sachanträge. Wie die Entscheidungsfindung im Gremium aussah, ist mangels einer fehlenden Relation nicht nachvollziehbar. Allerdings schienen die Räte die Angelegenheit zunächst nicht vertiefen zu wollen.68 Vermutlich lagen die Gründe für diese Zurückhaltung in der Tatsache, dass das RKG schließlich schon eine Zitation ausgebracht hatte, das heißt die Prävention unumstößlich gegeben war.69 Im Laufe des Prozesses erließen die RHR-Räte dann aber doch die erbetene „Commißio zur guete“.70 Diese Kommissionsart kam in jenen Jahren am RHR am häufigsten in Causen mit jüdischer Beteiligung vor. Bei ihr erhielt der Kommissar den Auftrag, die Parteien anzuhören, eine Verhandlung einzuleiten und zwischen ihnen einen Vergleich herzustellen, diesen aber durch den Kaiser approbieren zu lassen bzw. beim Scheitern eines Vergleichs sich erneut an den RHR zu wenden. Eigene Entscheidungen ohne Rücksprache mit Prag durfte die

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Zitat Hilmar von Quernheim am 7. 7. 1579 an den Kaiser (Praes. 18. 7. 1579) in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3. 67 Siehe zu ähnlichen Fällen Senn, Reichshofrat (wie Anm. 39), S. 35. 68 Vgl. ebd., RP, XVI/1, fol. 370v (28. 3. 1582), fol. 375r (2.4.); ebd., XVI/50, fol. 101v (30. 3. 1582). 69 Vgl. zur Frage der Prävention Sellert, Zuständigkeit (wie Anm. 6), S. 119. 70 Vgl. HHStA, RHR, RP, XVI/50, fol. 102r (5. 4. 1582) (Zitat ebd.) u. ebd., XVI/47, fol. 12r (5. 4. 1582).

Die Causa Israel von Lübbecke contra Hilmar von Quernheim 561

Kommission in diesen Fällen nicht fällen.71 Gleichwohl kam die Kommission im vorliegenden Fall einer de facto-Avokation des Falles nach Prag gleich.72 Von Anfang an sabotierte die Quernheimer Erbengemeinschaft – H ­ ilmar war ja inzwischen gestorben – mit ihren Anwälten die Kommission.73 Erneut standen die Rechtshängigkeit des Prozesses am RKG zusammen mit der Infragestellung der kommissarischen und reichshofrätlichen Kompetenzen im Zentrum ihrer Argumentation. Insbesondere die Befugnis zur Zeugenbefragung und zum Urkundenvergleich stieß bei den Quernheimern auf vehementen Protest. Einen direkten Auftrag zur Beweiserhebung und Informationsbeschaffung fand sich im Kommissionsschreiben zwar tatsächlich nicht, was bei Kommissionen zur Güte durchaus üblich war.74 Der RHR versah die Kommission hingegen dennoch mit weit reichenden Kompetenzen, gab er ihr doch zu verstehen, dass sie sambt und sonderlich dessen auch hiemit unsern volkommen gewalt, Unnd wollen, das Ir in unsernn namen und an unser statt obgedachte Partheijen, durch sich selbst od[er] Ihre volmechtige Anwelde […] und entlich alles Ires furbringens notturfftiglich anhöret, unnd alßdan allen meniglichen menschlichen vleiß mehret, damit Sie vorberurter Irer fordungen halben in der güte vertragen

werden.75 Aus der Formulierung „samt und sonderlich“ tritt zum einen die Bedeutung der Causa für den RHR hervor, taucht sie für die Herrschaft Rudolfs II. am RHR nur in dieser einen Kommission mit jüdischer Beteiligung auf. Mit ihr berechtigte das Gericht alle an einer Kommission involvierten Kommissare zum selbstständigen Agieren auch gegen den Willen der Mitkommissare, was die Effek­tivität der Kommissionen steigern sollte.76 Auf der anderen Seite zeichnet den 71

Ähnlich Ortlieb, Auftrag (wie Anm. 2), S. 115 und Ullmann, Geschichte (wie Anm. 2), S. 35–37 u. 121–124. Eine weitere häufige Kommissionsart war die zur Güte und Recht, bei der die Kommissare weiterreichende Handlungskompetenzen durch den RHR erhielten. 72 Vgl. zu solchen Fällen Eva Ortlieb, ‚Reichspersonal‘? Die kaiserlichen Kommissare des Reichshofrats und ihre Subdeligierten, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst (Hrsg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 46), Köln/ Weimar/Wien 2003, S. 59–87, hier S. 63. 73 Als Quernheimer Anwälte nicht erschienen, stellten die Kommissare fest, dass diese die Vorladung augenscheinlich „Inn windt geschlagen“ hätten. Vgl. hierzu bspw. StAOl 20–42 A Nr. 96, fol. 13r–22v, 71v–75v. Vgl. auch StAOl 20–42 A Nr. 96, fol. 152r–152v: „unnd wahrlich, wann der Gegentheill verstunde waß Recesse weren, so wurde er sich sonderzweifell zubescheiden wissen“; siehe auch ebd., fol. 162r–163v: „unnutzenn geschwatz“ des Juden, mit dem er die Kommissare behellige. 74 Siehe zu solchen Kommissionen Ortlieb, Auftrag (wie Anm. 2), S. 107f. 75 Zitat „Beuelch zwischen Isael Juden zu Emden und den Quernhaimischen Erben güetlich zuhandeln“ vom 5. 4. 1582 in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3. 76 Vgl. zu dieser Formel Raimund J. Weber, Die kaiserlichen Kommissionen des Hauses Württemberg in der Neuzeit, in: ZWLG 43 (1984), S. 205–236, hier S. 228f.

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Kommissionsbefehl eine durchaus vielseitig interpretierbare Formulierung aus, vermutlich in der Hoffnung, man könne den Konflikt vor Ort mit Hilfe lokalen Sachverstands in Form eines Vergleiches schnell beilegen. Eine Kommission zur Güte bot sich hier wie in anderen Fällen üblicherweise an. Die Kommissare sollten insofern in einem weitläufigen Sinne alles das vornehmen, was dem Ziel der Güte dienlich war und gegebenenfalls auch gegen den Widerstand eines der Mitkommissare diesem Ziel zuarbeiten.77 Gerade die unspezifische Formulierung des Kommissionsbefehls nutzten die Quernheimer aber aus und machten deutlich, dass sie zu einer eben solchen gütlichen Einigung mit einem Juden überhaupt nicht bereit seien und die Güte für sie beim freiwilligen Erscheinen bei den Kommissionsverhandlungen aufhöre.78 Vor der Kommission beteuerten die Quernheimer ihre Ehrerbietigkeit79 gegenüber dem Kaiser80, zumal man „sich keines ungehorsames“ gegenüber dem Reichsoberhaupt schuldig machen wolle.81 Allerdings stritten sie erneut auf Berufung der strikten Trennung von RKG- und RHR-Prozessen gemäß des Reichsrechts82 die Berichtigung des Juden ab, in dieser eigentlich am RKG anhängigen Angelegenheit beim Kaiser eine Kommission auswirken zu dürfen. Damit habe sich Israel „unverschambt und widerrechtlich an kai[serl]j[chen] hofen“83 gewendet. Daher protestierten sie „austrucklich […] Inn dießer Angemutete[n] transaction“ vom Juden behelligt zu werden.84 Da ein Urkundenvergleich und eine Zeugenbefragung nicht explizit genannt, demnach auch nicht gestattet seien, forderten sie die Kommissare auf, sie sollten „inter limites mandatj pleiben“85, da „solche Commissiones sint stricti jursi, unnd billich Inn Recht zunehmen seien“. Ansonsten werde der Rechtsprechung des RKG vorgegriffen.86 77 Nach

Ortlieb, Auftrag (wie Anm. 2), S. 111–113 entsprach dies durchaus dem üblichen Vorgehen des RHR. 78 StAOl 20–42 A Nr. 96, fol. 94: „so werde […] unßern Principalin ein greul sein, mitt dieß C. J. sich Inn einige gutlichkeitt zu begeben, der den Quernheimern gefehrlich zusetze“. Siehe auch ebd., fol. 93r, 101r–101v, 123v. 79 Bereist bei der Insinuation ebd., fol. 65r–65v. 80 „Ewrenn heiligkeitenn“; ebd., fol. 84r. 81 Ebd., fol. 81r–81v, Zitat fol. 81v. 82 „Nun weiß E. herr und gst. sich zubescheiden, daß Niemandt befugt, oder bemechtigt lite pendente Auch Ann die kai[serl]j[che] Ma[jes]t[ä]t zue supplicierenn […] besonders d[as] Jede Processe Ann den Ortt woe sie angefangenn, unableßlich continuiret unnd Ausgefurt werdenn sollenn, Unnd die Sach Jemandt unnderstehett Jemandts à diuersa tribunalj zue ziehen, daß derselbige […] ernstlich […] zustraffenn“; ebd., fol. 86v–87r. 83 Ebd., fol. 91r–92r, fol. 91r (Zitat eins), 143r (Zitat zwei). 84 Ebd., fol. 41v–42r („der Jude weniger dann mitt Rechten befugt die Quernheimische erben, der massen zue molestiren und zu beschweren“), 45v–49r, hier Zitat 46r, siehe auch fol. 91r. 85 Ebd., fol. 123v. 86 Ebd., fol. 48v–49r, 93r–93v, 102r. Die Kommissare müssten den Quernheimer Erben „solche Allergnädigst wollfertigkeitt, gnadt, und freundlichs erpietenn, und höchstgemalter Ihrer

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Sah sich Israel durchaus selbstbewusst dazu berechtigt, gegen die Quernheimer als Obrigkeit zu klagen, widersprach dies deren adeligem Selbstverständnis. Ihr Ziel war neben einer Diskreditierung des Juden87, mit dem man sich in keine Diskussion über die Sache begeben wolle88, eine sukzessive Prozessverschleppung durch Leugnung der kommissarischen Zuständigkeit im Zusammenhang mit der Prävention des Falles am RKG, wo dem Prozess unter kaiserlicher Aufsicht seinen „starcken lauff gegönnt“ werden solle.89 Strategisch verbanden sie die Rechtshängigkeit des Falles am RKG mit der Rolle des Kaisers als Oberster Richter, der schließlich auch die Rechtssprechung des anderen Reichsgerichts repräsentiere, mit der Leugnung des kommissarischen Auftragsumfangs. Damit verknüpfte sich zugleich die Leugnung des Rechts auf Nutzung der Reichsjustiz durch einen Juden. Auf diese Weise war das Bekenntnis zur kaiserlichen Autorität in Frage gestellt, da der Kaiser und sein Gericht Israel eine Kommission nur „auf ungleichmeßigen bericht“ zum Nachteil eines Adeligen gewährt habe.90 Freilich bewertete Israel die Kommission und ihren Auftrag gänzlich anders, deutete er den Kommissionsauftrag als eine dezidiert vom Kaiser allein für sein Anliegen ausgebrachte allumfassende Hilfestellung.91 Im Detail verfolgte ­Israel dabei einen streng legalistischen Kurs unter regelmäßigem Bezug auf den Kaiser und dessen Autorität als obersten Richter im Reich. Israel sah sich vollkommen berechtigt, „vonn Röm[ischer] Kai[serl]j[cher] Ma[jes]t[ä]t solche Commission billich und mit guten Außgebracht“ zu haben. Der Kaiser besaß seiner Meinung nach das Recht, zu jedem beliebigen Zeitpunkt solche Kommissionen einsetzen zu dürfen.92 Gegenüber den Kommissaren warf Israel den Quernheimern vor, sie handelten „nicht zue Weniger verachtung hochstgedachter kai[serl]j[cher] Ma[jes]t[ä]t commißion“.93 Sie würden vorsätzlich den Fortgang der Kommission behindern.94 Dies beinhaltete automatisch die Beschuldigung des Ungehorsams kai[serl]j[chen] Ma[jes]t[ä]t unnd E. herr und gst., mit ihren gebett zue dem liebenn Gott, In aller demut zuverschulden sich pflichtig erkennen“. Zudem beriefen sie sich auf die kommissarische Kompetenz, wenn sie gegenüber von Halle beteuerten, „faß E G solche Commission besser denn der gegentheill selbsten, eingenommen und verstanden, Unnd daß wahrlich der Buchstabe vonn den gegentheillen, viel zuweitt, unnd Anders denn ehr gemeinnet“ seien; ebd., fol. 98v. 87 Vgl. bspw. ebd., fol. 126v u. 127v, wo vom „gefehrlichen Juden“ die Rede ist. 88 Ebd., fol. 85r, ähnlich fol. 88r, 94r. 89 Ebd., fol. 85r, 91r. 90 „verschwiegener wahrheit unnd unerforderlichen bericht“; ebd., fol. 87r, hier auch fol. 46r– 46v, 50r–50v, 83r–88v, hier 84r–84v, 91r, 92r, 103r–104r. 91 Ebd., fol. 44r–45r, 72r, 77v, 94v–95r, auf fol. 113r betont er, die Kommissare besäßen „maaß und macht“. 92 Ebd., fol. 49r–50r, hier fol. 49v, Zitat fol. 14v. 93 Ebd., fol. 45r. 94 Ebd., fol. 115r–115v.

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der Quernheimer gegenüber dem Kaiser durchaus im prononcierten Sinne des crimen laesae majestatis.95 Angesichts dessen bestritt Israel auch während der gesamten Verhandlung, sich überhaupt auf einen RKG-Prozess eingelassen zu haben, sondern verwies auf Abraham und den Mindener Bischof, gegen welche die Quernheimer in Speyer klagten.96 Er sei davon überhaupt nicht betroffen. Hier transformierte sich die zwischen Abraham und Israel vorgenommene strategische Aufteilung der Prozessführung in Speyer und Prag in argumentatives Rüstzeug, gegen die die Quernheimer wenig entgegen zu setzten hatten, da Israel ja tatsächlich nicht in Speyer als Prozesspartei auftrat. Israel sah demnach den Kaiser als für jegliche Entscheidungen im Reich ausschlaggebend an. Dem Reichsoberhaupt unterstand nach Israels Interpretation nicht nur er als jüdischer Reichsuntertan, sondern auch die Quernheimer als Reichsadelige, dem sie schlussendlich alleine zu gehorchen hatten.

VII.  Das Ende des Prozesses

Gelangte die eigentliche Streitfrage aufgrund der geschilderten Aspekte tatsächlich erst sehr spät auf die Tagesordnung97, ließen sich die Kommissare allerdings nicht auf die prozessualen Spielchen der Quernheimer ein.98 Allerdings betonten die Kommissare von Anfang an, dass sie sowohl zum Urkundenvergleich als auch zur Zeugenbefragung befugt seien.99 Es zeichnete sich daher schnell ab, dass sie gewillt waren, dem Juden in seinem Ansuchen statt zu geben.100 Die Bemühungen der Kommission, die Parteien und insbesondere die Quernheimer Abgesandten selbst in Einzelgesprächen zu Vergleichsverhandlungen zu bewegen, schlugen hingegen aber allesamt fehl.101 Dennoch schritt die Kommission unter Hinweis, ihr Vorgehen 95

Vgl. hierzu Peter Collin, Majestätsbeleidigung, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 7, Stuttgart/ Weimar 2008, Sp. 1121–1123; Rolf Lieberwirth, Crimen laesae maiestatis (Majestätsverbrechen), in: Handwörterbuch für Rechtsgeschichte 1, 1971, Sp. 648–651; Gernot Obersteiner, Das Reichshoffiskalat 1596 bis 1806. Bausteine zu seiner Geschichte aus Wiener Archiven, in: Baumann/Oestmann/Westphal/Wendehorst (Hrsg.), Reichspersonal (wie Anm. 72), S. 89–164, hier S. 109; siehe ähnliche Fälle bei Isaak von Nagelsberg an den Kaiser (Praes. undat.) als „hofrath 2506.“ in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 42/1 (ebenso in StAL-HZAN, We 10, Bü 95/6 15. bzw. 19.); Schmoll an den Kaiser (Praes. 16. 3. 1588) ct. Grumbach in StAWü, Lehensachen 2337, fol. 99r–102v, fol. 102r: „bej Verlierung aller lehen, recht und gerechtigkeiten, ja bej entlicher E[urer] Ma[jes]t[ät] hochsten ungnatt und straff “. 96 Ebd., fol. 72r–72v, 75v. 97 Ebd., fol. 42r–43r, 48r, 51r–51v. 98 Ebd., fol. 53r–54v, 82r–82v. 99 Ebd., fol. 21v–22v, 88v–90v. 100 Ebd., fol. 100v. 101 Ebd., fol. 99r–100v, 155r–156v.

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sei mittelst kaiserlichem Befehl vollkommen abgedeckt102 und trotz Drohung der Quernheimer, man werde an das RKG auf Nullität appellieren103, zum Urkundenvergleich und zu den Zeugenbefragungen.104 Beides fand allerdings tatsächlich erst statt105, nachdem die Quernheimer die Kommissionsverhandlungen unter Protest verlassen hatten.106 Freilich bestätigten die Zeugenverhöre die Echtheit von Israels Dokumenten. Der Jude hatte sein Ziel erreicht und zudem Zeit gewonnen, ruhte doch während der Kommissionsverhandlung der RKG-Prozess in Speyer.107 Ein gutes halbes Jahr nach offizieller Beendigung der Kommission lag dem RHR deren kurzer Bericht vor. In ihm stellen die Kommissare fest, dass sie die Ansprüche des Juden durchaus als gegeben ansähen. Allerdings seien die Quernheimer nicht bereit, sich auf eine „gutlichen handlung mit dem Clagendenn Judenn“ einzulassen.108 Dem RHR blieb nach dem Studium dieser Akten nichts anderes übrig als festzustellen, dass die Quernheimer nicht bereit waren, einem Prozess in Prag zuzustimmen. Dr. Johann Wolfgang Freymon, der als ehemaliger Beisitzer des RKG109 das Aktenreferat übernahm, hatte laut Protokolleintrag anscheinend eine tiefere Einsicht in den Fall, referierte er auch Fakten bezüglich des RKG-Prozesses, die nicht im Kommissionsakt vorzufinden sind. Freymon konnte lediglich zusammen mit den Kommissaren konstatieren, dass „des Judens uero petit hic causa decidj“ seien. Seine Kollegen schlossen sich seinem Urteil an und legten den Fall zu den Akten. Israel verwiesen sie mit dem Hinweis an das RKG, dass man sich seiner Sache in Prag wegen der Rechtshängigkeit in Speyer nicht annehmen könne, auch wenn man prinzipiell wolle. Allerdings versprachen sie ihm, angesichts seiner erwiesenen Forderungen nötigenfalls Promotoriale zu bewilligen.110 Hiervon machte Israel, der sich anscheinend erneut längere Zeit in 102 Ebd., fol. 155v–157v.

103 Ebd., fol. 102r–103r.

104 Ebd., fol. 100v, 163v–164v. 105

Vgl. Ebd., fol. 185v–199r.

106 Ebd., fol. 157v–160v, 165r–166v. 107

Vgl. das Spezialprotokoll in StAMü Q 117, fol. 4v: „Anno 1583 nihil.“ Erst mit dem 22. 11. 1583 beginnt in Speyer ein neuer Prozess in dieser Angelegenheit; vgl. ebd. Q 122, fol. 1. Siehe Hinweis hierzu im Kommissionsbericht Jean de Mepsch, Johann von Halle und Anton Wietersheim vom 26. 7. 1583 an den Kaiser (Praes. 28. 11. 1583) in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3. Die Prozessaussetzung war in solchen stets üblich, allerdings laut Ortlieb, Auftrag (wie Anm. 2), S. 113, nur für solche, die auch zuvor am RHR anhängig waren. 108 Vgl. Kommissionsbericht Jean de Mepsch, Johann von Halle und Anton Wietersheim vom 26. 7. 1583 an den Kaiser (Praes. 28. 11. 1583) in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3 (Zitate ebd.). 109 1576 wurde er vom Kaiser im RKG präsentiert, vgl. Ehrenpreis, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 2), S. 295f. 110 Vgl. HHStA, RHR, RP, XVI/50, fol. 225v (28. 11. 1583); ebd., XVI/52a, fol. 218r (28. 11. 1583) u. ebd., XVI/ 53, fol. 35r (28. 11. 1583) (Zitat ebd.). Siehe auch den „Bescheid fur Israel Juden ct. Quernheimische Erben“ vom 28. 11. 1583 in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3.

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Prag aufhielt111, dann auch Gebrauch. Der RHR erließ für ihn ein entsprechendes Promotorial, in dem er das RKG zur schleunigen Behandlung des Falles aufforderte112, da man von Prager Seite aus zu der Auffassung gelangt sei, das „der and[ere] thaill litem Immortalem mach[en] wolle“.113 Die Prager Räte waren sich also über die Strategie des Quernheimer in Speyer im Klaren. Allerdings wollte das Gremium gegen den Widerstand der Quernheimer die Sache nicht weiter an sich ziehen, stand der Vorwurf des Verstoßes gegen Reichsrecht doch allzu offen im Raum. Insofern fiel dieses letzte Promotorial wesentlich neutraler in Form eines Empfehlungsschreibens an das RKG aus. Israel konnte allerdings auch in Speyer bis zu seinem Tod 1587114 nichts mehr erreichen. Insofern wird deutlich, dass der RHR tatsächlich die Institution war, auf die Israel seine ganzen Hoffnungen gesetzt hatte, weshalb er noch mehrmals beim RHR einkam und das Gericht bat, die Sache doch vom RKG abzuziehen und der Kommission erneut zu übertragen. Seine Erwartungen an die kaiserliche Rechtssprechung waren demnach ungebrochen. Die Rechtshängigkeit des Falles am RKG wurde von den Räten gleichwohl nicht mehr in Frage gestellt.115

VIII. Abschließende Bemerkungen

Gerade der Fall des Israels von Lübbecke verdeutlicht mehrere generelle Aspekte im Klageverhalten von Juden in der Herrschaftszeit Rudolfs II.: (1) Israel sah wie andere Juden auch den Kaiser und sein Gericht als ­Quelle allen Rechts an. Israel hatte erkannt, dass es oberhalb seines bischöflichen Schutzherren noch den Kaiser gab, den er mit Aussicht auf Erfolg für seine Ziele zu instrumentalisieren hoffte. Insofern schätzte der Jude seine Chancen am RHR

111

Siehe Spezialprotokoll unter Quadrangel 31 in StAMü Q 117, fol. 7r; vgl. auch „Urkhundt in sachen Israel Judt q Quernheim vom Emdener Magistrat“, in der er die Anwesenheit Israels in Prag bestätigt (Praes. 28. 2. 1586) in ebd., fol. 118r–118v. 112 Siehe „Promotoriales ans Camergericht, für Israel Juden von Lübeck“ vom 17. 12. 1583 in HHStA, RHR, Jud. misc., K. 43/3. 113 Vgl. ebd., RP, XVI/50, fol. 229 (17. 12. 1583) (Zitat ebd.). Siehe auch ebd., XVI/52a, fol. 225r (17. 12. 1583) u. ebd., XVI/53, fol. 38r (17. 12. 1583). 114 Vgl. Spezialprotokoll StAMü Q 117, fol. 7v u. Domprobts, Dechant, Senior und Kapitel des Stifts Minden an Bürgermeister und Rat der Stadt Emden am 19. 7. 1587 in Stadtarchiv Emden [= StadtA Emden] I Nr. 378a. 115 Vgl. HHStA, RHR, RP, XVI/50, fol. 264r (19. 6. 1584); ebd., XVI/52a, fol. 299r (19. 6. 1584); ebd., XVI/53, fol. 23r (19. 6. 1584). Siehe auch Spezialprotokoll in StAMü Q 117, fol. 7v. Israels Erben klagten noch bis 1625 auf Rückzahlung der Schuld. Ob sie Erfolg hatten, ist aus dem RKG-Akt nicht zu entnehmen (siehe Spezialprotokoll in ebd., fol. 8r–9r und ebenso in ebd. Q 122, fol. 1r–3v).

Die Causa Israel von Lübbecke contra Hilmar von Quernheim 567

als dem Reichsoberhaupt direkt unterstehenden Gericht besser ein als am reichsständisch geprägten RKG in Speyer. (2)  Zur Erreichung seiner Ziele ging Israel durchaus virtuos mit den generell am RHR zur Verfügung stehenden juristischen Sachanträgen um. Dies gilt auch für seine argumentative Vorgehensweise. Israel sah für sich im RHR einen Garant für die Geltung einer umfassenden Rechtssicherheit, die ihm einen rechtlich gleichberechtigten Platz als Untertan im Reich zuwies. Der RHR hatte hierüber zu wachen, was dazu führte, dass Israel das Gremium als Aufsichtsinstanz aller Gerichte im Reich wie gerade auch des RKG ansah. Den RHR sah Israel im Gegensatz zum RKG als das „allainge höchste Reichsgericht“ an und nahm deshalb eine tendenzielle Überordnung des RHR über das RKG vor.116 (3) Israel suchte daher am RHR einen „summarischen Proces“.117 Er ermöglichte ihm eine schnelle und effiziente Klärung seines Rechtsstreits.118 Die Arbeit des RKG’s brandmarkte Israel als ineffizient. Zusammen mit den vielen kaiserlichen Befehlen, die er im Verlauf des Prozesses erhielt, versprach der RHR durch eine geringere Normiertheit seiner Rechtspraxis schnelle Rechtshilfe. In diesem Umstand drückt sich sein Bewusstsein für die flexiblen Regelungsmechanismen von Konflikten auf Seiten des RHR aus. (4)  Hatte der RHR versucht, als Aufsichtsorgan über das RKG den Fall mittelst einer kaiserlichen Kommission zu lösen oder bei Möglichkeit sogar an sich zu ziehen, musste er beim anhaltenden Widerstand der Quernheimer, der zugleich den politischen Abstand oder doch zumindest eine gewisse Reserviertheit zum Kaiser ausdrückte, von einer Avokation Abstand nehmen. Alles andere hätte das Ansehen des Kaisers als obersten Richter im Reich und Garant des gerichtlichen Instanzenzuges geschädigt. Dennoch zeigt sich hierin ansatzweise, dass der RHR gewillt war, für einen Juden ohne Abstriche Recht zu sprechen. Erst einige Jahre später, als das RKG angesichts des virulenter werdenden Konfessionsstreits im Reich tatsächlich schrittweise in die Arbeitsunfähigkeit glitt, mischte sich Prag 116

Zitat Johann Christian Herchenhahn, Geschichte der Entstehung, Bildung und gegenwärtigen Verfassung des kaiserlichen Reichshofraths nebst der Behandlung der bei demselben vorkommenden Geschäfte. Zweiter Theil, Mannheim 1792, S. 5. 117 Zitat Israel von Lübbecke an den Kaiser (Praes. 30. 3. 1582) in HHStA, Jud. misc., K. 43/3; vgl. Schmoll an Würzburger Fürstbischof (Praes. 11. 6. 1591) als „55.“ ct. Stein in ebd., K. 42: der Fürstbischof möge die Angelegenheit „gänzlich od durch summarischen proces“ entscheiden. Simon von Günzburg an den Kaiser (Praes. 17. 3. 1574), ders. an den Kaiser (Praes. 18. 3. 1574): „schleinige summarische Rechtliche Handlung“ u. ders. an den Kaiser (Praes. 3. 11. 1574) ct. Abt von Ursberg in ebd., K. 43/2. 118 Abraham u. Liepmann Fänklein sowie Mändlein an den Kaiser (Praes. 21. 11. u. 26. 11. 1601) in ebd., ApA, K. 85, fol. 249r–251v, hier fol. 249r; Seligmann an den Kaiser (Praes. undat.) in ebd., Jud. misc., K. 41; Israel von Lübbecke an den Kaiser (Praes. 30. 3. 1582) in ebd., K. 43/3; Schmoll an den Kaiser (Praes. 6. 9. 1598) als .74. ct. Grumbach in ebd., K. 41; ähnlich ders. an den Kaiser (Praes. 15. 12. 1589) ct. Grumbach in ebd.

568 André Griemert

auch in solche Causen ohne Bedenken offen ein. Dies war beispielsweise im Prozess zwischen der Stadt Hildesheim und dem Kurfürsten Ernst von Köln als Bischof von Hildesheim der Fall, in dem es um die Vertreibung der bischöflichen Juden durch die Stadt ging. Der RHR sah den Kaiser in diesem Fall, in dem die Stadt vor dem RKG gegen den Bischof klagte, in einer dezidierten übergeordneten Aufsichtsfunktion gegenüber dem niederrangigen RKG.119 Israel Strategie war also durchaus sinnvoll angelegt, auch wenn sie auf Grund des frühen Zeitpunktes noch nicht zu greifbaren Erfolgen führte und zeugt von einem enormen Vertrauen der Juden in die kaiserliche Rechtssprechung, das Israel selbstbewusst für sich in Anspruch nahm.120 Dies steht dem bisher so oft kolportierten „Mythos von der jüdischen Passivität“ konträr entgegen121, so dass in zukünftigen Forschungen die Juden als grundsätzlich aktiv agierende Subjekte zumindest am kaiserlichen Gericht angesehen werden sollten.122

119

Vgl. HHStA, RHR, RP, XVI/80a, fol. 3v–4r (4. 1. 1596): „Unnd dannenhero erscheine das des Camergerichts Jurisdiction […] nit allein per Imperatorem diesfals preueniert, sonder auch […] gannz nichtig und von uncrafften seie, derowegen solle Camera diese sach hieher ad Caesarem remittieren“. Vgl. Peter Aufgebauer, Die Geschichte der Juden in der Stadt Hildesheim im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Schriftenreihe des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Hildesheim 12), Hildesheim 1984, hier S. 83f.; vgl. zur politischen Situation in Hildesheim Christian Plath, Konfessionskampf und fremde Besatzung. Stadt und Hochstift Hildesheim im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (Schriftenreihe des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Hildesheim 32), Hildesheim 2005. 120 Ähnliche Ergebnisse für das RKG im 16. Jahrhundert Sabine Frey, Rechtsschutz der Juden gegen Ausweisung im 16. Jahrhundert (Rechtshistorische Reihe 30), Frankfurt a. M. 1983, S. 129f. 121 Zitat Yosef Hayim Yerushalmi, Diener von Königen und nicht von Diener von Dienern. Einige Aspekte der politischen Geschichte der Juden (Carl-Friedrich von Siemens Stiftung; Themen 58), München 1995, S. 27. 122 So die Kernintention des Justiznutzungskonzepts bei Dinges, Justiznutzungen (wie Anm. 8), S. 508; siehe aus Perspektive der deut.-jüd. Historiografie Salo W. Baro, Ghetto and Emancipation, in: Menorah Journal 14 (1928), S. 515–526, S. 515–526. Baro forderte, eine jüdische Geschichte ohne Tränen zu schreiben und die Juden als Akteure stärker wahrzunehmen; Friedrich Battenberg, Des Kaisers Kammerknechte. Gedanken zur rechtlich-sozialen Situation der Juden in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: HZ 245 (1987), S. 545–599, hier S. 592 sah die Juden als „Objekt, nicht Subjekt des Handelns“. Dagegen Stefan Litt, Geschichte der Juden Mitteleuropas 1500–1800 (Geschichte Kompakt), Darmstadt 2009, S. 6, der Juden als aktiv handelnde Subjekte bewertet.

Ulrich Niggemann

Places de sûreté. Überlegungen zum Sicherheitsstreben der Hugenotten in Frankreich (1562–1598) Am 30. April 15981 unterzeichnete König Heinrich IV. nach langen Verhandlungen mit den Hugenotten das Edikt von Nantes und beendete damit vorerst eine bereits über dreißig Jahre andauernde Periode blutiger Bürgerkriege. Das Edikt, das in Wissenschaft und Öffentlichkeit lange vor allem als Toleranzedikt für die Protestanten in Frankreich wahrgenommen wurde, verfügte die vollständige Restitution der katholischen Kirche im Königreich. Zugleich gestand es den Protestanten genau festgelegte Orte zur Ausübung ihres Gottesdienstes zu, zudem rechtliche und zivile Gleichstellung mit den Katholiken, Zugang zu allen Ämtern sowie die Einrichtung spezieller Kammern an den Gerichts­höfen.2 Darüber hinaus übertrug das Brevet vom 30. April den Hugenotten über achtzig Städte und Festungen als ‚Sicherheitsplätze‘, places de sûreté, in denen sie eigene Garnisonen unterhalten durften, darunter so bedeutende Städte wie La 1

Über das genaue Datum gibt es unterschiedliche Ansichten. Der 13. April entspricht weitgehend der Konvention, wobei schlicht das Datum von Heinrichs Einzug in Nantes angesetzt wird. Vieles spricht jedoch dafür, dass das Hauptedikt zusammen mit den Geheimartikeln erst am 30. April unterzeichnet wurde; vgl. dazu Bernard Cottret, 1598: L’Édit de ­Nantes. Pour en finir avec les guerres de religion, Paris 1997, S. 176f.; und Jean-Louis B ­ ourgeon, La date de l’édit de Nantes: 30 avril 1598, in: Michel Grandjean/Bernard Roussel (Hrsg.), ­Coexister dans l’intolérance: L’Édit de Nantes (1598) (Histoire et société 37), Genf 1998, S. 17–50. 2 Die Literatur zum Edikt von Nantes ist inzwischen extrem umfangreich. Vgl. aus der neueren Forschung etwa Cottret, 1598 (wie Anm. 1); Grandjean/Roussel (Hrsg.), Coexister (wie Anm. 1); Marie-José Lacava/Robert Guicharnaud (Hrsg.), L’Édit de Nantes: Sûreté et éducation. Colloque international organisé par la Ville de Montauban et la Société Montalbanaise d’Étude et de Recherche sur le Protestantisme, Montauban 1999; Pierre Bolle (Hrsg.), L’Édit de Nantes: un compromis réussi? Une paix des religions en DauphinéVivarais et en Europe, Grenoble 1999; Janine Garrisson, L’Édit de Nantes. Chronique d’une paix attendue, Paris 2003. Der Text des Edikts liegt in mehreren Editionen vor, verwendet im Folgenden: Janine Garrisson (Hrsg.), L’Édit de Nantes, Biarritz 1997. Allgemein zu den Hugenotten und den Bürgerkriegen des 16. Jahrhunderts Mack P. Holt, The French Wars of Religion, 1562–1629 (New Approaches to European History [8]), Cambridge 1995; Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 48–88; Menna Prestwich, Calvinism in France, 1555–1629, in: dies. (Hrsg.), International Calvinism, 1541–1715, Oxford 1985, S. 71–107; Janine Garrisson, Guerre civile et compromis 1559–1598 (Nouvelle histoire de la France moderne 2), Paris 1991; dies., A History of Sixteenth-Century France, 1483–1598: Renaissance, Reformation and Rebellion (European Studies Series), Basingstoke 1995; Didier Boisson/Hugues ­Daussy, Les protestants dans la France moderne, Paris 2006; Denis Crouzet, Dieu en ses royaumes. Une histoire des guerres de religion, Seyssel 2008; sowie zur ersten Orientierung ­Ulrich ­Niggemann, Hugenotten, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 13–21.

570 Ulrich Niggemann

­Rochelle, Montauban, Nîmes oder Grenoble. Insgesamt circa hundertfünfzig Orte im König­reich standen damit unter hugenottischer Kontrolle. Darüber hinaus wurde festgelegt, dass diese Garnisonen von der Krone finanziert werden sollten.3 Mit dem Edikt von Nantes und den dazugehörigen Brevets und Geheim­artikeln wurde folglich die in der Zeit der Bürgerkriege herausgebildete Existenz eines eigenen protestantischen Militär- und Verwaltungsapparats perpetuiert. Erst unter Ludwig XIII. und in der Folge der erneuten Bürgerkriege der 1620er Jahre wurde dieser Zustand beseitigt.4 Obwohl diese Tatsachen in der Forschung stets bekannt waren, fehlt eine systematische Aufarbeitung der Geschichte der hugenottischen Sicherheitsplätze. Zwar existieren einige jüngere Aufsätze zum Thema, doch eine monographische Behandlung ist ihm bislang nicht zuteil geworden.5 Die wenigen Arbeiten haben freilich wichtige Ergebnisse zur Verteilung und Funktion dieser Plätze sowie hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der protestantischen Minderheit in Frankreich geliefert.6 Gerade im Hinblick auf 3 Relevant ist diesbezüglich das zweite Brevet vom 30. April 1598; ediert bei Garrisson (Hrsg.),

L’Édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 93–98. Vgl. allgemein zu den Sicherheitsplätzen Arlette Jouanna, Places de Sûreté, in: dies. u. a. (Hrsg.), Histoire et Dictionnaire des Guerres de Religion, Paris 1998, S. 1209. Die neuere Forschung unterscheidet verschiedene Typen von Plätzen, neben den places de sûreté ist die Rede von places de mariage und places fortes; vgl. etwa Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 177f.; oder Eckart Birnstiel/Pierre-Jean Souriac, Les places de sûreté protestantes. Îlots de refuge ou réseau militaire?, in: Lacava/Guicharnaud (Hrsg.), L’Édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 127–149, hier S. 133f. Für den vorliegenden Zusammenhang kann auf diese Ausdifferenzierung verzichtet werden. 4 Der Frieden von Alès wurde am 16. Juni 1629 geschlossen, die Bestimmungen in das Edikt von Nîmes übernommen; Edikt von Nîmes, Juli 1629, gedruckt in Eugène Haag/Émile Haag, La France Protestante ou vies des protestants français qui se sont fait un nom dans l’histoire depuis les premiers temps de la réformation jusqu’à la reconnaissance du principe de la liberté des cultes par l’Assemblée Nationale, 10 Bde., Genf 1846–1859, hier Bd. 10, S. 334–340. Vgl. zum Edikt auch Hermann Weber, Die Hugenottenfrage zur Zeit Ludwigs XIII., in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Exodus der Hugenotten. Die Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 als europäisches Ereignis (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 24), Köln/Wien 1985, S. 9–28, hier S. 12, 24f.; Holt, Wars (wie Anm. 2), S. 186–188; Garrisson, L’édit de Nantes et sa révocation. Histoire d’un intolérance, Paris 1985, S. 78–80; Boisson/ Daussy, Protestants (wie Anm. 2), S. 168f.; Daniel Ligou, Le protestantisme en France de 1598 à 1715 (Regards sur l’histoire), Paris 1968, S. 96–98. 5 Die an der Universität Toulouse verfasste und nicht publizierte Mémoire de Maîtrise von Pierre-Jean Souriac, Les places de sûreté protestantes (1570–1629). Reconnaissance et déclin de la puissance politique et militaire du parti protestant, Université Toulouse II-Le Mirail 1997, konnte für die vorliegenden Überlegungen leider nicht eingesehen werden. 6 Vgl. etwa Birnstiel/Souriac, Places de sûreté (wie Anm. 3); Jacques Lelièvre, Réformés et places de sûreté (1570–1598), in: Nonagesimo Anno (1999), S. 741–778; Eckart Birnstiel, Das Edikt von Nantes (1598). Triumph oder Scheitern der Reformation in Frankreich?, in: Hugenotten 63 (1999), S. 3–26; Pierre-Jean Souriac, Une solution armée de coexistence. Les Places de Sûreté protestantes comme élément de pacification des Guerres de Religion,

Überlegungen zum Sicherheitsstreben der Hugenotten in Frankreich 571

Fragen nach dem Verständnis und der Konzeption von Sicherheit sowie nach dem Sicherheitsbedürfnis von Minderheiten besteht jedoch weiterer Forschungsbedarf. So verspricht eine über die bisherigen Ansätze hinausgehende Beschäftigung mit den französischen places de sûreté tiefere Einblicke in Befindlichkeiten von protestantischer Minderheit und katholischer Mehrheitsgesellschaft sowie in das Verhältnis von Minderheit und Staat. Insbesondere stellt sich die Frage nach den ideen- und mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen, etwa nach der Bedeutung und dem Zusammenhang von Angst, Eschatologie und Zukunftsverständnis. Die vorliegenden Ausführungen indes können kaum mehr sein als ein knapper Überblick über den Forschungsstand und einige Prolegomena für noch zu leistende umfänglichere Forschungen, deren Ziel es sein muss, die Entwicklungsgeschichte des spezifischen Konfliktlösungsansatzes durch die Schaffung von Sicherheitsplätzen in den Blick zu nehmen und sie einzubetten in einen ideengeschichtlichen Horizont. Im Folgenden soll die Genese der hugenottischen Forderung nach solchen Plätzen vor dem Hintergrund ihrer Verhandlungen mit der Krone analysiert werden, wobei insbesondere das dahinterliegende spezifische Verständnis von Sicherheit zu beachten ist (I und II). Beitragen zu einem weiteren Verständnis dieser Entwicklung kann möglicherweise das politikwissenschaftliche Konzept der „securitization“ (III). Schließlich sind auch Überlegungen zu den strategischen Planungen sowohl der Hugenotten als auch der Krone anzustellen, die zugleich Fragen nach dem Zukunftsverständnis aufwerfen (IV).

I.  Die Forderung nach Sicherheitsplätzen

Das Edikt von Nantes steht bekanntlich in einer längeren Reihe von Pazifika­ tionsedikten, die im Zuge der acht Bürgerkriege seit 1562 erlassen wurden.7 Es in: Didier Boisson/Yves Krumenacker (Hrsg.), La coexistence confessionelle à l’épreuve. Études sur les relations entre protestants et catholiques dans la France moderne (Chrétiens et Sociétés: Documents et Mémoires 9), Lyon 2009, S. 51–72; Philippe Chareyre, Les places de sûreté, in: Vincent David (Hrsg.), L’édit de Nantes. Nantes, musée du château des ducs de Bretagne 17 avril – 16 août 1998. Pau, Musée national du château de Pau 18 septembre 1998 – 4 janvier 1999, Paris 1998, S. 51–62; und bereits Léonce Anquez, Histoire des assemblées politiques des réformés de France (1573–1622), Paris 1859, Ndr. Genf 1970, S. 139–168. Penny Roberts, The Most Crucial Battle of the Wars of Religion? The Conflict over Sites for Reformed Worship in Sixteenth-Century France, in: ARG 89 (1998), S. 247–267, hingegen beschäftigt sich kaum mit den Sicherheitsplätzen. 7 Dem Begriff „Pazifikationsedikt“ ist gegenüber dem des „Toleranzedikts“ der Vorzug zu geben, wie Grégory Champeaud, Le parlement de Bordeaux et les paix de religion, 1563–1600, Narrosse 2008, S. 24, völlig zu recht betont. Toleranz war eben nicht Ziel, sondern allenfalls Mittel der Politik. Die Intention der Edikte war die Wiederherstellung des Friedens oder realistischer: der Ordnung und Sicherheit. Zur Stellung des Edikts von Nantes in der Reihe der Pazifikationsedikte auch Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 84–86; Garrisson, L’édit de Nantes et sa révocation (wie Anm. 4), S. 17; Ligou, Protestantisme (wie

572 Ulrich Niggemann

war zunächst einmal nichts anderes als ein weiterer Versuch, nach vielfachem Scheitern einen Religionsfrieden in Frankreich zu etablieren.8 Sicherheitsplätze tauchen erstmals im Edikt von Saint-Germain von 1570 auf.9 Die Krone gab darin die Städte La Rochelle, Montauban, Cognac und La Charité-sur-Loire für zwei Jahre in die Obhut der Hugenotten.10 Die Kontrolle über eine Anzahl befestigter Plätze und der Unterhalt eigener Garnisonen blieb von da an fester Bestandteil der hugenottischen Forderungen.11 In einer Reihe weiterer Edikte, etwa im Edikt von Boulogne (1573)12, im Edikt von Beaulieu (1576)13 oder im Frieden von Bergerac (1577)14, erhielten die Hugenotten je nach aktueller militärischer Lage Städte und Festungen für eine bestimmte Anzahl von Jahren.15 Die Errichtung von Sicherheitsplätzen im Edikt von Nantes war also keineswegs eine Innovation Anm. 4), S. 9–11; und Mark Greengrass, An Edict and its Antecedents: the Pacification of Nantes and Political Culture in later Sixteenth-Century France, in: Ruth Whelan/Carol ­Baxter (Hrsg.), Toleration and Religious Identity. The Edict of Nantes and its Implications in France, Britain and Ireland, Dublin 2003, S. 128–146. Eine Liste mit Beschreibungen der einzelnen Religions- und Pazifikationsedikte bei Nicola M. Sutherland, The Huguenot Struggle for Recognition, New Haven/London 1980, S. 333–372. 8 Zu den vergeblichen Friedensbemühungen während der Bürgerkriege vgl. Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 48–88; Roberts, Battle (wie Anm. 6); Holt, Wars (wie Anm. 2), passim. Zur Sonderstellung und zum abschließenden Charakter des Edikts von Nantes: Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 329f. 9 Das Edikt vom 9. August 1570 ist ediert bei André Stegmann, Édits des guerres de religion (Textes et documents de la renaissance 2), Paris 1979, S. 69–81. Vgl. zum Edikt auch Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 351f.; Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 175f. und 358–360; Holt, Wars (wie Anm. 2), S. 70; Champeaud, Parlement (wie Anm. 7), S. 42–48. 10 „[N]ous avons baillé en garde à ceux de ladite religion, les villes de la Rochelle, Montauban, Cognac, et la Charité“; Artikel 39 des Edikts von Saint-Germain, Stegmann, Édits (wie Anm. 9), S. 78f. Vgl. auch Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 52; Birnstiel/Souriac, Places de sûreté (wie Anm. 3), S. 127f.; Lelièvre, Réformés (wie Anm. 6), S. 745; Garrisson, L’édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 237f.; Chareyre, Places (wie Anm. 6), S. 51 ; Anquez, Histoire (wie Anm. 6), S. 139f. 11 Vgl. etwa zu den Verhandlungen in der Folge der Bartholomäusnacht Janine Garrisson, Protestants du Midi, 1559–1598, Toulouse 1980, S. 184; sowie generell zur Haltung der hugenottischen Versammlungen, Anquez, Histoire (wie Anm. 6), S. 139–168. 12 Edikt vom Juli 1573, hier Artikel 19, gedruckt bei Stegmann, Édits (wie Anm. 9), S. 86–93. Vgl. zum Edikt Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 352f. 13 Edikt vom 6. Mai 1576, hier Artikel 59, gedruckt bei Stegmann, Édits (wie Anm. 9), S. 97–120. Dazu auch Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 354f.; Lelièvre, Réformés (wie Anm. 6), S. 749; Birnstiel/Souriac, Places de sûreté (wie Anm. 3), S. 130; Garrisson, L’édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 238; Anquez, Histoire (wie Anm. 6), S. 23f. und 141f. 14 Edikt vom September 1577, hier Artikel 59, gedruckt bei Stegmann, Édits (wie Anm. 9), S. 131–153. Vgl. Anquez, Histoire (wie Anm. 6), S. 26f.; Lelièvre, Réformés (wie Anm. 6), S. 750; Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 355f.; Garrisson, L’édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 238. 15 Vgl. etwa Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 52; Birnstiel/Souriac, Places de sûreté (wie Anm. 3), S. 127–131.

Überlegungen zum Sicherheitsstreben der Hugenotten in Frankreich 573

gegenüber vorhergehenden Edikten, auch wenn die Bestimmungen von 1598 hinsichtlich ihrer Anzahl, Dauer und Finanzierung weit über die bisherigen Zugeständnisse hinausgingen. Entscheidend ist, dass das Ringen um die hugenottischen Sicherheitsplätze einen Einblick in die mentale Disposition der hugenottischen Minderheit, oder doch zumindest ihrer Verhandlungsführer, zulässt. Es ist sicher richtig, dass, nachdem offenkundig eine vollständige Religionsfreiheit für ganz Frankreich nicht durchsetzbar war, die Frage nach den Orten, an denen der reformierte Gottesdienst öffentlich praktiziert werden durfte, zu den zentralen Verhandlungsgegenständen gehörte.16 Penny Roberts Formulierung, diese sei „the most crucial battle of the wars of religion“ gewesen17, muss jedoch relativiert werden. Denn so wichtig die Frage nach den Orten der Religionsausübung auch war, sie wurde stets flankiert von der Forderung nach Sicherheit. Schon Nicola Sutherland spricht daher von einem „struggle for security“.18 Seit 1572 erhielten die Protestanten die Erlaubnis für politische Versammlungen, die in der Folge zum Hauptverhandlungspartner der Krone wurden.19 Die Frage der Sicherheit tauchte im Zuge ihrer Verhandlungen immer wieder auf und wurde auch gegenüber den königlichen Repräsentanten vertreten.20 Besonders virulent wurde diese Frage in dem langwierigen Ringen um das Edikt von Nantes. Beispielhaft seien hier nur die Plaintes des Églises réformées de France angeführt, die im unmittelbaren Vorfeld des Edikts von Nantes an den König gerichtet und als Flugschrift publiziert wurden. Darin wurde verwiesen auf die bisherigen Klagen „sur tant d’outrages, violences & injustices qui nous sont faites tous les jours“. Diesen Verfolgungen seien die Reformierten ausgesetzt gewesen „desia l’espace de plus de trente & cinq ans“.21 Angesichts dieser Bedrückungen 16

Das zeigt sich schon in der Ausführlichkeit der Bestimmungen sowohl im Hauptedikt (Art. 6–21) als auch in den Geheimartikeln vom 2. Mai 1598; Garrisson (Hrsg.), L’édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 31–37, 72–91. Zum Verhandlungsverlauf auch Garrisson, L’édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 193–213; Mark Greengrass, France in the Age of Henri IV. The Struggle for Stability (Studies in Modern History), London/New York 1984, S. 75–79. 17 Roberts, Battle (wie Anm. 6). 18 Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 137. 19 Vgl. insgesamt zu diesen von den Synoden und Kolloquien klar zu unterscheidenden Versammlungen Anquez, Histoire (wie Anm. 6); und zu den Versammlungen ab 1593: Henri Zuber, Les assemblées du protestantisme 1593–1601. Entre loyalisme et exigence d’un statut, in: Lacava/Guicharnaud (Hrsg.), L’Édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 91–100; Garrisson, L’édit de Nantes et sa révocation (wie Anm. 4), S. 15f.; und Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 297–328. Eine Liste der Versammlungen findet sich bei Garrisson (Hrsg.), L’édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 131. 2 0 Vgl. Anquez, Histoire (wie Anm. 6), S. 1–57 und 139–161. 21 Plaintes des Eglises Réformées de France; sur les Violences et Injustices qui leur sont faites en plusieurs endroits du Royaume: & pour lesquelles, elles se sont, en toute humilité, à

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erwarteten die Reformierten nichts anderes als „la liberté de nos consciences, le repos de l’Estat, la seureté de nos biens & de nos vies“.22 Auch die Cahiers de doléances, die von den hugenottischen Versammlungen eingereicht wurden, formulierten entsprechende Forderungen nach Sicherheit.23 Das ist aufschlussreich, gerade weil es nicht selbstverständlich ist. Eine konfessionelle Minderheit, die sich als erwählt und als neues Volk Israel empfand und deren Selbstverständnis von Jean Crespins Le Livre des Martyrs (1554) geprägt war, musste nicht zwangsläufig in erster Linie an innerweltlicher Sicherheit interessiert sein.24 Vielmehr konnten Erwähltheitsglaube, Martyrium und Endzeiterwartung durchaus einen eigenständigen Diskurs ausprägen, der das Ziel der kompromisslosen Durchsetzung der eigenen Wahrheit um jeden Preis formulierte.25 Genau hier stellt sich also die Frage nach der Entwicklung von innerweltlichen Sicherheitskonzeptionen und den dahinterliegenden Zukunftserwartungen, in deren Zentrum eben nicht das Millennium und das Jüngste Gericht standen.

diverses fois, addressées à Sa Majesté, Et Messieurs de son Conseil, o. O. 1597, S. 4f.; ähnlich auch ebd., S. 21f. und passim. Zusammenfassung auch bei Haag/Haag, France (wie Anm. 4), Bd. 10, S. 218–226, hier S. 219. Vgl. zu diesem Text Lelièvre, Réformés (wie Anm. 6), S. 761. 2 2 Plaintes des Eglises (wie Anm. 21), S. 172. Wiedergegeben auch bei Haag/Haag, France (wie Anm. 4), Bd. 10, S. 226. 2 3 Garrisson, L’édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 186. Vgl. auch die vereinzelten Hinweise auf die Cahiers bei Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 283–332. Eine sorgfältige Auswertung der Cahiers der hugenottischen Versammlungen mit Blick auf die Frageperspektiven dieses Beitrags steht noch aus. Ähnliche Hinweise gibt es auch für die Petitionen hugenottischer Synoden und Gemeinden, die freilich ebenfalls hinsichtlich dieser Frage noch nicht ausgewertet wurden; vgl. aber Penny Roberts, Huguenot Petitioning during the Wars of Religion, in: Raymond Mentzer/Andrew Spicer (Hrsg.), Society and Culture in the Huguenot World, 1559–1685, Cambridge 2002, S. 62–77. 24 Vgl. etwa Charles H. Parker, French Calvinists as the Children of Israel: An Old Testament Self-Consciousness in Jean Crespin’s Histoire des Martyrs before the Wars of Religion, in: The Sixteenth Century Journal 24 (1993), S. 227–248. Zu Crespins Martyrologie vgl. auch Jean-François Gilmont, Jean Crespin. Un éditeur réformé du XVIe siècle, Genf 1981, S. 165–190. 2 5 Eine stark auf den Millenarismus zielende Interpretation der Bürgerkriege bietet insbes. Crouzet, Dieu (wie Anm. 2); und zum Martyrium Rainer Babel, Kreuzzug, Martyrium, Bürgerkrieg: Kriegserfahrungen in den französischen Religionskriegen, in: Franz Brendle/ Anton Schindling (Hrsg.), Religionskriege im Alten Reich und in Alteuropa, Münster 2006, S. 107–117, hier S. 111f. Zur kompromisslosen Haltung der Konfessionen – mit dem vielleicht etwas anachronistischen Begriff „Fundamentalismus“ – vgl. auch Heinz ­Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 2), Paderborn u. a. 2007, S. 403f.; und die Beiträge bei dems. (Hrsg.), Konfessioneller Fundamentalismus (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 70), München 2007.

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II.  Das Verständnis von Sicherheit während der Bürgerkriege

Die Phase der Bürgerkriege war vor allem durch eine Atmosphäre existentieller Angst geprägt, und zwar sowohl auf protestantischer als auch auf katholischer Seite.26 Ereignisse wie das „Massaker von Vassy“ am Beginn der Bürgerkriege sowie insbesondere die Bartholomäusnacht vom 24. August 1572 wirkten auf die Reformierten sicher wie eine Bestätigung fundamentaler Ausrottungsängste. Diese existentielle Angst wird auch in den bereits zitierten Klagen der Reformierten deutlich, indem sie explizit auf die „massacres de Vassi, de Meaux, de Sens, de Tours, de la sainct Barthelemy“ verwiesen.27 Dabei ist Angst nicht nur als handlungslegitimierender, sondern auch als handlungsgenerierender Faktor der Politik ernst zu nehmen.28 Vermutlich trug diese existentielle Angst auf Seiten der Hugenotten dazu bei, sich einerseits als erwählte Zeugen der Wahrheit zu empfinden und zugleich andererseits als verfolgte Minderheit die Frage der Sicherheit in den Vordergrund zu rücken.29 2 6

Dazu Barbara Diefendorf, Prologue to a Massacre: Popular Unrest in Paris, 1557–1572, in: AHR 90 (1985), S. 1067–1091; Babel, Kreuzzug (wie Anm. 25), S. 107f.; P ­ restwich, ­Calvinism (wie Anm. 2), S. 92f.; Arlette Jouanna, La Saint-Barthélemy. Les mystères d’un crime d’état, 24 août 1572, Paris 2007, S. 160–169; und speziell zur katholischen Seite Luc Racaut, Persecution or Pluralism? Propaganda and Opinion-Forming during the French Wars of Religion, in: Richard Bonney/David J. B. Trim (Hrsg.), Persecution and Pluralism. Calvinists and Religious Minorities in Early Modern Europe 1550–1700 (Studies on the History of Religious and Political Pluralism 2), Oxford u. a. 2006, S. 65–87, hier S. 67f. 27 Plaintes des Eglises (wie Anm. 21), S. 41; wiedergegeben auch bei Haag/Haag, France (wie Anm. 4), Bd. 10, S. 221. Dazu auch Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 162–166. Zum Massaker von Vassy Boisson/Daussy, Protestants (wie Anm. 2), S. 120f.; Holt, Wars (wie Anm. 2), S. 47–49. Die Forschungslage zur Bartholomäusnacht ist inzwischen alles andere als übersichtlich; vgl. hier nur die unterschiedlichen Ansätze bei Diefendorf, Prologue (wie Anm. 26); Denis Crouzet, La nuit de la Saint-Barthélemy. Un rêve perdu de la Renaissance, Paris 1994; Ilja Mieck, Die Bartholomäusnacht als Forschungsproblem. Kritische Bestandsaufnahme und neue Aspekte, in: Historische Zeitschrift 216 (1973), S. 73–110; außerdem die Zusammenfassungen bei Holt, Wars (wie Anm. 2), S. 76–97; Prestwich, Calvinism (wie Anm. 2), S. 91–93; Boisson/Daussy, Protestants (wie Anm. 2), S. 127–129. Vgl. zum Misstrauen und der Angst der Hugenotten nach der Bartholomäusnacht auch Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 211, 284; Jouanna, Saint-Barthélemy (wie Anm. 26), S. 235–247. 28 Angst ist insgesamt ein noch zu wenig untersuchtes Motiv politischen Handelns; vgl. immerhin Franz Bosbach (Hrsg.), Angst und Politik in der europäischen Geschichte (Bayreuther Historische Kolloquien 13), Dettelbach 2000; und allgemeiner zur Angst in der Vormoderne, jedoch weitgehend ohne Bezug auf politisches Handeln Jean ­Delumeau, La peur en Occident (XIV e – XVIIIe siècles): Une cité assiégée, Paris 1978. Gerade im Zusammenhang mit religiösen Konflikten ergibt sich hier ein lohnendes Forschungsfeld. 2 9 Zur Zeugenschaft auch Jouanna, La Saint-Barthélemy (wie Anm. 26), S. 251f. Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Wahrnehmungsmustern müsste etwa anhand des hugenottischen Schrifttums in der Folge der Bartholomäusnacht noch genauer herausgearbeitet werden.

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Ein Frieden ohne adäquate Sicherheitsgarantien erschien offenbar immer weniger möglich, so dass gerade die Forderung nach Sicherheitsplätzen zu einer conditio sine qua non des Friedens wurde.30 Obwohl der Begriff place de sûreté in keinem offiziellen Dokument erscheint, war doch das Zugeständnis fester Plätze an die Hugenotten stets mit dem Sicherheitsargument verknüpft. So wurde die Übergabe der vier Städte im Edikt von Saint-Germain damit begründet, den Hugenotten eine Möglichkeit geben zu wollen, „d’être privés de repos attendant que les rancunes et inimitiés soient adoucies“.31 In den Beschlüssen der Konferenz von Nérac heißt es sogar: „Néanmoins pour sûreté de ce que dessus, et assurance de l’exécution dudit Edit, l’on laisse et baille en garde audit Sieur Roi de Navarre les villes qui s’ensuivent“.32 Auch in den Verhandlungen um die Friedensschlüsse scheint die Forderung nach sicheren Plätzen für die Hugenotten zunehmend wichtiger geworden zu sein.33 Doch um welche Art von Sicherheit ging es den hugenottischen Verhandlungsführern überhaupt? Der Begriff place de sûreté kommt, wie oben festgestellt, in den offiziellen Dokumenten nicht vor. Die Rede ist stets einfach von villes oder places.34 Wann genau der Begriff place de sûreté erstmals gebraucht wurde, ist unbekannt, wahrscheinlich aber wurde er vorwiegend von hugenottischer Seite verwendet.35 Nun ist schon sûreté alles andere als ein eindeutiger Begriff. Noch das Dictionnaire de l’Academie françoise von 1762 gibt eine Reihe unterschiedlicher Bedeutungen, die auch in den Texten des ausgehenden 16. Jahrhunderts mitschwingen. So konnte sûreté als „éloignement de tout péril“ verstanden werden, aber auch als „une sorte de caution“, also im Sinne des deutschen Plurals „Sicherheiten“.36 „Être en lieu de sûreté“ wird hier umschrieben mit „être dans un 3 0

Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 55 und 58. Vgl. auch Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 216, 224, 230. 312. 31 Edikt vom 9. August 1570, Artikel 39, Stegmann, Édits (wie Anm. 9), S. 78. Fast wortgleiche Formulierung auch im Edikt von Boulogne, Juli 1573, Artikel 19; ebd., S. 91. 3 2 Konferenz von Nérac, Februar 1579, Stegmann, Édits (wie Anm. 9), S. 158–170, hier Artikel XVII (es folgt eine Aufzählung der Städte). 3 3 Vgl. Anquez, Histoire (wie Anm. 6), S. 139–161; und zu den intensiven Verhandlungen um die Sicherheitsplätze im Jahr 1583 ebd., S. 147. Vgl. ferner Lelièvre, Réformés (wie Anm. 6), S. 760–766; Garrisson, L’édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 237–249. 3 4 Auf das Fehlen des Begriffs im Edikt von Nantes weisen auch Birnstiel/Souriac, Places de sûreté (wie Anm. 3), S. 132, hin. Die Behauptung, dass der Begriff von Zeitgenossen aber durchaus verwendet worden sei, wird leider nicht belegt. 3 5 Birnstiel/Souriac, Places de sûreté (wie Anm. 3), S. 139, weisen etwa auf ein handschriftliches Pamphlet von 1605 hin, das schon im Titel die Verlängerung der „villes de seureté“ fordert. 3 6 Hier allerdings zitiert in der wortgleichen Formulierung von 1811: Dictionnaire de l’Académie françoise, Paris 1811, Bd. 2, S. 624. In früheren Lexika fehlt der Begriff oft – eine genaue Erhebung steht freilich noch aus. Antoine Furetière, Dictionnaire universel, Contenant generalement tous les Mots François, tant vieux que moderne, & les Termes de toutes les

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lieu d’asile“, wohingegen place de sûreté bezeichnenderweise im Sinne eines vom Landesherrn als Pfand ausgegebenen Ortes verstanden wird: „On appelle Places de sûreté, Les Places qu’un Prince donne ou retient pour la sûreté de l’exécution d’un traité“.37 Damit aber wäre ein Sicherheitsplatz ein vertragssicherndes Instrument, wie es tatsächlich in der Frühen Neuzeit vor allem in der auswärtigen Politik regelmäßig zum Einsatz kam.38 In der Tat scheint gerade dieser letzte Aspekt eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Sicherheitsplätze gespielt zu haben. Auffällig ist etwa die relativ kurze Dauer, die in den frühen Pazifikationsedikten hinsichtlich der Besetzung dieser Plätze zugestanden wurde. Zwei Jahre waren es im Edikt von Saint-Germain, immerhin sechs Jahre im Edikt von Bergerac.39 Erst das Edikt von Nantes konzedierte großzügige acht Jahre.40 Auch die geringe Zahl der Sicherheitsplätze in den frühen Edikten spricht nicht für die Annahme, dass diese Plätze vorrangig als places de refuge gedacht waren. Vielmehr waren sie ein Pfand, das in der von gegenseitigem Misstrauen geprägten Atmosphäre die Durchsetzung des Friedens durch den König sichern sollte. Dementsprechend wird die Zusage im Vertrag von Nérac als „assurance de l’exécution dudit Edit“ verstanden.41 War der Frieden erst einmal etabliert, sollten die Plätze zügig und ohne Widerstand an die Krone zurückgegeben werden.42 Darüber hinaus weisen auch die Forderungen der Hugenotten selbst in diese Richtung: Philippe Duplessis-Mornay verlangte 1593 ein Edikt „certain et asseuré“, und auch die Plaintes des Eglises forderten einen „profonde & tres-asseuree paix“.43 Darüber hinaus bezeichnete Sciences et des Arts, 3 Bde., Den Haag 1690, unpag., verzichtet auf das Lemma „sûreté“ und definiert „securité“ als „Assurance dans le peril, manque de crainte“. 37 Dictionnaire de l’Académie (wie Anm. 36), Bd. 2, S. 624. 3 8 Es fehlt freilich zu dieser Pfandproblematik noch an systematischen Forschungen. Ein prominentes Beispiel wäre aber der Münchener Vertrag vom Oktober 1619, als Kaiser ­Ferdinand dem bayerischen Kurfürsten Oberösterreich bis zur Übertragung der Kurwürde als Pfandbesitz überließ; vgl. dazu einführend Christoph Kampmann, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, Stuttgart 2008, S. 40, 48. 3 9 Edikt vom 9. August 1570, Artikel 39, Stegmann, Édit (wie Anm. 9), S. 78f.; und Edikt von 1577, Artikel 59, Stegmann, Édit (wie Anm. 9), S. 149f. Vgl. auch Jouanna, Places de sûreté (wie Anm. 3); Lelièvre, Réformés (wie Anm. 6), S. 750. 4 0 Geheimartikel zum Edikt von Nantes, 30. April 1598, gedruckt bei Garrisson (Hrsg.), L’édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 93. Vgl. auch Jouanna, Places de sûreté (wie Anm. 3); und Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 52. 41 Konferenz von Nérac, Februar 1579, Stegmann, Édits (wie Anm. 9), S. 158–170, hier Artikel XVII. Vgl. zur Funktion als Pfand auch Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 51. 42 So etwa die Regelungen im Edikt von Saint-Germain, Artikel 39, Stegmann, Édits (wie Anm. 9), S. 78f. 4 3 Plaintes des Eglises (wie Anm. 21), S. 10. Zitat Duplessis-Mornay bei Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 300. In diese Richtung argumentiert auch Pierre-Jean Souriac, der dem

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die genannte Flugschrift die Stadt Puimirol als „une des place qu’on nous auoit donnees pour seureté“.44 Dazu passt, dass andere Mittel der Vertragssicherung, die ebenfalls vor allem aus der Außenpolitik bekannt sind, genutzt wurden. Dabei ist insbesondere an die 1572 vollzogene Hochzeit des Hugenottenführers Heinrich von Navarra mit der Schwester König Karls IX., Margarete, zu denken, deren Ziel die Befriedung Frankreichs war.45 Es ist möglicherweise kein Zufall, dass Instrumentarien, die in der Außenpolitik erprobt waren, auf den inneren Konflikt angewandt wurden, gab es doch insbesondere im Süden Bestrebungen unter den Hugenotten, mit den Provinces-Unies du Midi eine Art Republik nach niederländischem Vorbild zu etablieren, so dass der innere Konflikt durchaus Tendenzen zu einer Sezession aufwies.46 Zugleich kann festgestellt werden, dass der Aspekt places de refuge, sofern er überhaupt eine Rolle spielte, offenbar vor allem für das Führungspersonal der Hugenotten von Bedeutung war. Dass die zunächst nur sehr wenigen Sicher­ heitsplätze für die Masse der Hugenotten eine Zuflucht darstellen konnten, war natürlich illusorisch. Angesichts befürchteter Anschläge auf die Hugenottenführer durch die Guise und die Liga konnten die Sicherheitsplätze jedoch den Charakter eines durch eigenes Militär gesicherten Zufluchtsorts für eben diese Personen annehmen.47 Erst mit der enormen quantitativen Ausweitung der Sicher­heitsplätze durch das Edikt von Nantes und der nach dem Ablauf der acht Jahre bis 1625 mehrfach verlängerten Konzession änderte sich der Charakter dieser Plätze, wobei neben der Idee einer Zufluchtsstätte zweifellos auch die symbolische Bedeutung im Hinblick auf die Demonstration militärischer Stärke eine Rolle spielte.48

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Begriff place de refuge die Bezeichnung place d’otage entgegenstellt; Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 52. Vgl. auch Garrisson, L’édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 238f. Plaintes des Eglises (wie Anm. 21), S. 56. Zur Hochzeit Heinrichs und Margaretes, die in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1572 zu den Morden der Bartholomäusnacht führte, vgl. Jean-Pierre Babelon, Henri IV, Paris 1982, S. 161–183. Zur Bedeutung von Heiratsverbindungen für die Absicherung von Friedensschlüssen vgl. auch Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 25), S. 147–150. Zu den Provinces-Unies du Midi und ihren Organisationsstrukturen, die freilich offiziell jede sezessionistische Intention leugneten, ausführlich Garrisson, Protestants (wie Anm. 11), S. 177–224; und knapper Arlette Jouanna, Provinces de l’Union, in: dies. u. a. (Hrsg.), Histoire (wie Anm. 3), S. 1229f.; Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 71–78; Prestwich, Calvinism (wie Anm. 2), S. 89f. Vgl. etwa Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 176. Janine Garrisson, Les grands du parti protestant et l’édit de Nantes, in: Grandjean/Roussel (Hrsg.), Coexister (wie Anm. 1), S. 175–186, weist auch auf die Rolle des Hochadels in den Verhandlungen hin (speziell zu den places de sûreté ebd., S. 185f.).

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III.  Die „Versicherheitlichung“ des Konfessionskonflikts

Die bis hierhin dargestellten Vorgänge können durchaus mithilfe des Konzepts der „Versicherheitlichung“ beschrieben werden. Mit „Versicherheitlichung“ bzw. „securitization“ ist ein Ansatz der jüngeren Politikwissenschaft angesprochen, der von der sogenannten „Copenhagen School“ um Ole Wæver und Barry Buzan eingeführt worden ist und von der Erkenntnis ausgeht, dass Sicherheitsprobleme nicht objektiv gegeben sind, sondern durch Perzeptionen und Diskurse erst zu solchen werden. „Versicherheitlichung“ soll die Prozesshaftigkeit des Vorgangs verdeutlichen, so dass die Frage gestellt werden kann, wie ein bestimmtes Problem zu einem Sicherheitsproblem wird und wie über „Sicherheit“ politische Zielvorstellungen thematisiert werden.49 „Sicherheit“ ist in dieser Konzeption ein Wertbegriff und somit prinzipiell umstritten.50 Inzwischen ist diese Herangehensweise auch von Historikern fruchtbar gemacht worden.51 Mit Bezug auf die französischen Bürgerkriege des 16. Jahrhunderts ließe sich argumentieren, dass im Zuge der Erfahrung existentieller Bedrohung der Konfessionskonflikt zunehmend als Sicherheitsproblem thematisiert wurde und sich somit von einer Ebene universaler Wahrheitsansprüche und eschatologischer Erwartungen auf eine Ebene innerweltlicher Sicherheit verlagerte. Dabei ist freilich zu beachten, dass die politikwissenschaftliche Konzeption vor allem auf den Staat bezogen ist. Demnach hätten Staaten im Sinne ihrer Selbstlegitimierung ein besonderes Interesse an der „Versicherheitlichung“ möglichst vieler relevanter Themen.52 Genau hier bedarf das Konzept freilich einer Ausweitung: Im Falle der französischen Bürgerkriege lag die „Versicherheitlichung“ nämlich nicht allein im Interesse der Krone oder des Staates. Vielmehr lässt sich eindeutig eine Tendenz zur „Versicherheitlichung“ gerade auf Seiten der Minderheit feststellen. Die Hugenotten waren eher bereit, einen militärischen Konflikt weiterzuführen als einen Frieden unter Missachtung der eigenen Sicherheitsinteressen abzuschließen. „Liberté, Égalité, Sûreté“ – so umschreibt Jacques Lelièvre sehr prägnant

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Vgl. etwa Ole Wæver, Securitization and Desecuritization, in: Ronnie D. Lipschutz (Hrsg.), On Security (New Directions in World Politics), New York 1995, S. 46–86; Barry Buzan/ Ole Wæver/Jaap de Wilde, Security: A New Framework for Analysis, Boulder/Col. 1998, hier bes. S. 23–29; sowie forschungsgeschichtlich zur „Copenhagen School“ Barry Buzan/ Lene Hansen, The Evolution of International Security Studies, Cambridge 2009, S. 212–217. 5 0 Christopher Daase, Wandel der Sicherheitskultur, in: PolZG 50 (2010), S. 9–16. 51 Vgl. etwa Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 53 (2005), S. 357–380; ders., Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 15f.; und ders., „Securitization“. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz?, in: GG 38 (2012), S. 453–467. 5 2 Deutlich etwa bei Wæver, Securitization (wie Anm. 49), S. 54–57.

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die hugenottische Devise in den Bürgerkriegen und den sie unterbrechenden Friedensverhandlungen.53 Das heißt indes nicht, dass nicht auch die Krone ein Interesse daran haben musste, das Hugenottenproblem zu „versicherheitlichen“, denn dadurch wurde der Konflikt erst handhabbar. Solange er sich auf unüberbrückbare religiöse Gegensätze konzentrierte und unvereinbare Wahrheitsansprüche zum Gegenstand hatte, ließ er sich kaum in einer friedlichen Koexistenz auflösen. Genau darin aber bestand gerade für die Krone und die staatliche Gewalt die eigentliche Gefahr, wie insbesondere die Gruppe der politiques bereits frühzeitig erkannte.54 „Versicherheitlichung“ bedeutete also auch die Wiedergewinnung staatlicher Handlungsoptionen. Damit sind Phänomene beschrieben, die in der Forschung bislang eher unter den Schlagworten „Verrechtlichung“ und „Säkularisierung“ gefasst wurden.55 „Versicherheitlichung“ indes verweist viel stärker auf das Bedürfnis aller Beteiligten und geht der „Verrechtlichung“ voraus, indem die Thematisierung des Konfessionskonflikts als Sicherheitsproblem erst die Notwendigkeit der Schaffung von Rechtsinstrumenten erzeugt und die Voraussetzung für eine Problemlösung auf säkularer Ebene darstellt.56

IV.  Die räumlich-strategische Bedeutung der Sicherheitsplätze

Die Priorität von „Sicherheit“ sowohl auf Seiten der Minderheit als auch auf Seiten der Krone berührt noch eine andere Problematik, nämlich die spezifische 5 3 Lelièvre, Réformés (wie Anm. 6), S. 745. Vgl. auch Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 55–59.

Kritik an dieser Engführung des Versicherheitlichungs-Konzepts auch bei Conze, Securitization (wie Anm. 51). 5 4 Zur Gruppe der politiques, die sich zeitweise als dritte Kraft zwischen den Religionsparteien etablierte, vgl. Holt, Wars (wie Anm. 2), S. 168f.; Garrisson, History (wie Anm. 2), S. 319–331; dies., Guerre (wie Anm. 2), S. 127–142. Zur Notwendigkeit für die Krone, den Religionskonflikt zu entschärfen, um die eigene Autorität wiederherzustellen, vgl. Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), 285f.; sowie mit Blick auf die königliche Justiz die Durchsetzung königlicher Edikte Penny Roberts, Royal Authority and Justice during the French Religious Wars, in: P & P 184 (2004), S. 3–32. 5 5 Zum säkularisierenden Charakter der Pazifikationsedikte vgl. etwa Boisson/Daussy, Protestants (wie Anm. 2), S. 144; Champeaud, Parlement (wie Anm. 7), S. 28. Differenzierter Arlette Jouanna, L’édit de Nantes et le processus de sécularisation de l’État, in: Paul Mironneau/Isabelle Pébay-Clottes (Hrsg.), Paix des armes – paix des âmes. Actes du colloque international tenu au Musée national du château de Pau et l’Université de Pau et des Pays de l’Adour, Paris 2000, S. 481–489; und Crouzet, Dieu (wie Anm. 2), S. 467. 5 6 Dabei ist deutlich hervorzuheben, dass „Säkularisierung“ ein Anachronismus ist und die Ziele des Edikts von Nantes weder in einer Säkularisierung noch in einer dauerhaften Koexistenz unterschiedlicher Konfessionen lagen. Vgl. zu dieser Einschätzung auch ­Mario ­Turchetti, Une question mal posée: la qualification „perpétuel et irrévocable“ applique à l’Édit de Nantes de 1598, in: Bulletin de la Société d’Histoire du Protestantisme Français 139 (1993), S. 41–78; Birnstiel, Edikt (wie Anm. 6), S. 23f.; Holt, Wars (wie Anm. 2), S. 163f.

Überlegungen zum Sicherheitsstreben der Hugenotten in Frankreich 581

Form der räumlichen Radizierung von Sicherheit. Die Schaffung von Sicherheitsplätzen – und zwar sowohl in ihren Aspekten als Pfandbesitz wie auch als Zufluchtsort – bedeutete gewissermaßen eine Verräumlichung des Sicherheitsstrebens. Wie im Ringen um die Erlaubnis zur öffentlichen Religionsausübung stand auch in der Verhandlung des Sicherheitsproblems die räumliche Fixierung im Vordergrund. Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass die Huge­notten die ihnen zugesprochenen Städte gar nicht so sehr als places de refuge, als Rückzugs- und Zufluchtsorte betrachteten, sondern vor allem als places d’otage, als Pfand für die Ausführung der Bestimmungen des Edikts von Nantes. Es ist immerhin auffällig, dass sich die Sicherheitsplätze größtenteils gerade nicht in den Regionen befanden, wo die Hugenotten als schwache Minderheit besonders gefährdet waren und der Zufluchtsorte besonders dringend bedurft hätten. Vielmehr befand sich die Mehrzahl der Sicherheitsplätze im stark protestantisch geprägten Süden Frankreichs.57 Diese Tatsache spricht sehr dafür, dass es vor dem Hintergrund strategischer Planungen und Erwartungen künftiger Szenarien um den Erhalt einer militärischen Schlagkraft ging.58 Gerade dort, wo die Hugenotten stark waren, konnten sie schnell ihre Kräfte sammeln. Die places de sûreté bedeuteten somit eine Aufrechterhaltung einer Bedrohung, die bewusste Möglichkeit, jederzeit den Bürgerkrieg erneut entfachen zu können. Nicht Frieden im Sinne einer Niederlegung der Waffen, sondern bewaffnete Sicherheit und Abschreckung standen für die hugenottischen Verhandlungsführer also offenkundig im Vordergrund. Eckart Birnstiel hat mit Blick auf das Edikt von Nantes betont, dass die Festlegung bestimmter Sicherheitsplätze durchaus auch einige Vorteile für die Krone gehabt habe. Dadurch seien nämlich die militärischen Kräfte der Protestanten örtlich gebunden und eingehegt worden. Aus mobilen, offensiv orientierten Truppen seien ortsgebundene, defensive Kräfte geworden, die zudem von der Krone finanziert und damit bis zu einem gewissen Grad von ihr abhängig w ­ aren.59 Es ist daher durchaus zutreffend, wenn festgestellt wird, die places de sûreté seien eben auch places royales gewesen.60 Dennoch wäre es irreführend, wollte man daraus den Schluss ziehen, sie seien von der Krone gezielt zur Domestizierung der Hugenotten eingesetzt worden. Schon der Verhandlungsverlauf um das Edikt von Nantes weist auf das Gegenteil hin. Heinrich IV. zeigte sich nämlich nur äußerst widerstrebend bereit, in diesem Punkt auf die Hugenotten 57

Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 56; Birnstiel/Souriac, Places de sûreté (wie Anm. 3), S. 134–138; Ligou, Protestantisme (wie Anm. 2), S. 20. 5 8 Vgl. Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 329; und Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 56. 59 So insbesondere Birnstiel, Edikt (wie Anm. 6), S. 18f.; Birnstiel/Souriac, Places de sûreté (wie Anm. 3), S. 133f.; Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 178f. 6 0 Birnstiel/Souriac, Places de sûreté (wie Anm. 3), S. 133.

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zuzugehen, während die Hugenotten ihrerseits ihrem ehemaligen Protecteur mit Misstrauen begegneten.61 Das Zugeständnis von Sicherheitsplätzen kann also als „Sicherheitsdilemma“62 beschrieben werden, denn es ermöglichte zwar für den Moment die Beendigung der Bürgerkriege und eine Sicherung des französischen Staates gerade auch vor dem Hintergrund außenpolitischer Herausforderungen63, bedeutete aber zugleich die Weiterexistenz eines Unsicherheitsfaktors. Die Sicherheit für die Minderheit wurde daher schon unter Heinrich IV. als Sicherheitsrisiko für die Mehrheit und den Staat wahrgenommen.64 Es zeigt sich dabei aber auch, dass die Schaffung der Sicherheitsplätze sehr viel mit einer intensiven Risikoabwägung auf beiden Seiten zu tun hatte. Sowohl das hugenottische Bedürfnis nach Sicherheit und der Aufrechterhaltung einer Drohkulisse als auch die Bereitschaft der Krone, unter Hinnahme eines 61

Zum Verhandlungsverlauf und zur Haltung des Königs gegenüber den hugenottischen Forderungen vgl. Anquez, Histoire (wie Anm. 6), S. 149–161; Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 311–328; Boisson/Daussy, Protestants (wie Anm. 2), S. 141f.; Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 56; Garrisson, L’édit de Nantes (wie Anm. 2), 237–249; Chareyre, Places (wie Anm. 6), S. 51f. Zum Verhältnis Heinrichs zu den Hugenotten, insbesondere nach seiner Konversion 1593, vgl. Greengrass, France (wie Anm. 16), S. 69–75; Cottret, 1598 (wie Anm. 1), S. 155–162; Mario Turchetti, L’arrière-plan politique de l’édit de Nantes, avec un aperçu de l’anonyme De la concorde de l’Estat. Par l’observation des Edicts de Pacification (1599), in: Grandjean/Roussel (Hrsg.), Coexister (wie Anm. 1), S. 93–114, hier S. 106f. Zum Verhältnis Frankreichs und Spaniens auch nach dem Frieden von Vervins vgl. u. a. Béatrice Nicollier, Édit de Nantes et traité de Vervins: une simultanéité fortuite?, in: Grandjean/ Roussel (Hrsg.), Coexister (wie Anm. 1), S. 135–158. Zur Konversion auch Michael Wolfe, The Conversion of Henri IV. Politics, Power, and Religious Belief in Early Modern France, Cambridge/MA 1993. 6 2 Der Begriff wurde – freilich mit engem Bezug auf das Wettrüsten im Kalten Krieg – konzipiert von John Herz, Idealist Internationalism and the Security Dilemma, in: World Politics 2 (1950), S. 157–180. Vgl. auch Martin List u. a., Internationale Politik. Probleme und Grundbegriffe (Grundwissen Politik 12), Opladen 1995, S. 92f. 6 3 Zur Außenpolitik Frankreichs unter Heinrich IV. zu diesem Zeitpunkt Babelon, Henri IV (wie Anm. 45), S. 618–625; Schilling, Konfessionalisierung (wie Anm. 25), S. 271–273; sowie zum Zusammenspiel zwischen Außenpolitik und Edikt von Nantes Nicollier, Édit de Nantes (wie Anm. 61), S. 135–158. 6 4 Sutherland, Struggle (wie Anm. 7), S. 312, spricht sogar von einem Wiedererstehen des „Protestant state“, der durch die schon im Vorfeld des Edikts von Nantes vom König gemachten Zugeständnisse anerkannt worden sei. Ebd., S. 331, auch die Einschätzung, die Konzession von Sicherheitsplätzen sei „damaging to the king’s authority“ gewesen. Vgl. auch Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 61. Viel zu wenig ist übrigens bislang über vergleichbare Zugeständnisse zugunsten der Liga bekannt. Anscheinend gab es auch hier Übertragungen fester Plätze, die allerdings nicht – wie im Falle der hugenottischen Generalversammlungen – mit den führenden Ligisten ausgehandelt wurden, sondern mit einzelnen städtischen Magistraten; vgl. dazu Michel de Waele, Les places de sûreté catholiques, ou l’édit de Nantes comme victoire de la Ligue, in: Lacava/Guicharnaud (Hrsg.), L’Édit de Nantes (wie Anm. 2), S. 39–49; und Souriac, Solution (wie Anm. 6), S. 57f.

Überlegungen zum Sicherheitsstreben der Hugenotten in Frankreich 583

Risikos Stabilität und Autorität wiederherzustellen, verweisen auf die bewusste Kalkulation von künftigen Szenarien und Handlungsoptionen jenseits fundamentaler und eschatologischer Positionen. Es wäre also durchaus noch einmal grundlegend zu diskutieren, inwieweit eine „Entdeckung der Zukunft“ tatsächlich erst am Beginn der Moderne stand.65 Jedenfalls waren die Hugenotten auch nach 1598 bestrebt, die Sicherheitsplätze zu erhalten, während die Krone, die die Konzession zunächst noch regelmäßig verlängerte, dieselben spätestens unter Ludwig XIII. und Richelieu als Problem und als Unsicherheitsfaktor wahrnahm und sie schließlich im Edikt von Alès beseitigte.66

V. Resümee

Thesenhaft lässt sich festhalten, dass sich in der Frage der places de sûreté die zentrale Bedeutung von „Sicherheit“ im Kontext der eskalierenden Auseinandersetzungen im Frankreich des 16. Jahrhunderts manifestiert. Spätestens mit dem Frieden von Saint-Germain (1570) rückten die Sicherheitsplätze zu einem der wichtigsten Verhandlungsgegenstände aller weiteren Friedensschlüsse auf. Dahinter lag freilich – zumindest auf Seiten der Hugenotten – ein ganz spezielles Verständnis von Sicherheit: Weniger die Möglichkeit einer sicheren Zuflucht vor weiteren Verfolgungen stand für sie im Vordergrund als die abschreckende Wirkung einer bewaffneten Sicherheit. Die Sicherheitsplätze waren Pfandbesitz und zugleich militärische Drohung im Inneren des Königreichs. Dass die Krone diesen Unsicherheitsfaktor (widerstrebend) akzeptierte, war Resultat einer Risiko­ abwägung, die der kurzfristigen Schaffung von Sicherheit Priorität einräumte. Es liegt daher nahe, die französischen Bürgerkriege auch aus der Perspektive sich wandelnder Sicherheitskonzeptionen zu betrachten. Das politikwissenschaftliche Konzept der „Versicherheitlichung“ eignet sich dabei gut, um den Vorgang zu beschreiben, in dem die Konfessionsproblematik zunehmend als Sicherheitsproblematik wahrgenommen wurde. Sie bedarf aber der Erweiterung einer ‚Versicherheitlichung von unten‘. Gerade in diesem Zusammenhang ist 6 5

So Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999. Wichtig in diesem Zusammenhang auch die Überlegungen von Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1992, S. 17–37; ders., Neuzeit. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ebd., S. 300–348; und ders., ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien, in: ebd., S. 349–375. Außerdem jüngst mit der Feststellung grundlegenden Wandels schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts: Achim Landwehr, Das Ende der Endzeit, in: epoc 2011, H. 1, S. 16–23. 6 6 Weber, Hugenottenfrage (wie Anm. 4); Holt, Wars (wie Anm. 2), S. 186–188; ­Garrisson, ­L’Édit de Nantes et sa révocation (wie Anm. 4), S. 78–80; und Philippe Chareyre, Trent ans après: de la paix à la grâce, l’édit de Nîmes, juillet 1629, in: Mironneau/Pébay-­Clottes (Hrsg.), Paix (wie Anm. 55), S. 343–370.

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auch die Frage zu stellen, ob Minderheiten hier nicht generell innovationsfähiger waren, konnten sie doch weit eher unter Berufung auf das Notrecht abrücken von Extremzielen. Das Sicherheitsargument war dafür ein wichtiges Instrument. Gerade in der „Versicherheitlichung“ des Konfessionskonflikts zeigt sich ein Spannungsfeld, das dringend der weiteren Erforschung auf der Grundlage sowohl der Publizistik als auch der Verhandlungsakten bedarf, nämlich das Verhältnis von Eschatologie und Endzeiterwartung auf der einen und Streben nach innerweltlicher Sicherheit und Zukunftsplanung auf der anderen Seite. Dieses Verhältnis ist nämlich keineswegs selbstverständlich, und es ist zu klären, inwieweit im Zuge einer „Versicherheitlichung“ eschatologische Heilserwartungen und religiöser Fundamentalismus verdrängt wurden oder inwieweit beide Denkformen ihren Platz nebeneinander behaupten konnten.

Raingard Eßer

Rückkehr oder Unterwanderung? Niederländische Remigranten im Schatten des Achtzigjährigen Krieges Der Einfluss von Exulanten auf die Geschicke des Achtzigjährigen Krieges ist kein neues Thema in der historischen Forschung. Seit den 1980er und 1990er Jahren haben sich Wissenschaftler wie Marcel Backhouse, Alastair Duke und ­Andrew ­Pettegree mit der Rolle niederländischer Flüchtlinge als Guerillakämpfer in der ersten Phase der bewaffneten Auseinandersetzungen, beim Aufbau der calvinistischen Kirchen in den nördlichen Niederlanden und als Mitarbeiter bei der Reorganisation neuer politischer Gesellschaften beschäftigt.1 Die Studien von Pettegree und anderen Forschern zu Refugiantengemeinden haben herausgearbeitet, dass die Erfahrung im Exil die religiösen Überzeugungen von Exulanten festigte, in vielen Fällen sogar erst systematisch formte.2 Während bis vor kurzem diese Untersuchungen auf die protestantischen Emigranten beschränkt geblieben sind, haben sich in jüngster Zeit eine Reihe von Wissenschaftlern auch mit der Erfahrung des katholischen Exils aus den Niederlanden beschäftigt. Hier liegen bislang allerdings noch keine systematischen Studien vor. Dennoch sollte der Anteil der Katholiken, die vor den Geuzen die Flucht ergriffen, nicht unterschätzt werden. Henk von Nierops vorsichtigen Schätzungen zufolge flohen in den ersten turbulenten Jahren des Aufstandes mindestens doppelt so viele Katholiken aus der Provinz Holland wie Protestanten.3 Einige erste Untersuchungen zum katholischen Exil sind zu ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen, wie sie bereits für protestantische Exulanten vorliegen.4 Auch hier scheinen die Erfahrungen 1 Marcel Backhouse, Guerrilla War and Banditry in the Sixteenth Century: the Wood B ­ eggars

in the Westkwartier of Flanders, in: ARG 74 (1983), S. 232–256; Andrew Pettegree, Emden and the Dutch Revolt: Exile and the Development of Reformed Protestantism, Oxford 1992; Alastair Duke, Reformation and Revolt in the Low Countries, London 1990. 2 Pettegree, Emden and the Dutch Revolt (wie Anm. 1); Raingard Eßer, Niederländische Exulanten im England des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts: Die Norwicher Fremdengemeinden (Historische Forschungen 55), Berlin 1996; Andrew Spicer, The French-Speaking Reformed Community in Southampton 1567-ca.1620 (Huguenot Society new series 3), London 1997. Siehe auch Heinz Schilling, Peregrini und Schiffchen Gottes: Flüchtlingserfahrung und Exulantentheologie des frühneuzeitlichen Calvinismus, in: Ansgar Reiss/Sabine Witt (Hrsg.), Calvinismus: Die Reformierten in Deutschland und Europa, Dresden 2009, S. 160–168. 3 Henk van Nierop, Treason in the Northern Quarter. War, Terror and the Rule of Law in the Dutch Revolt, Princeton/Oxford 2009, S. 180. 4 Judith Pollmann, Catholic Identity and the Revolt of the Netherlands 1520–1635 (The Past & Present Book Series), Oxford 2011; Geert H. Janssen,The Counter-Reformation of the Refugee. Exile and the Shaping of Catholic Militancy in the Dutch Revolt, in: ­JEcclH 63 (2012), S. 671–692; ders., Quo Vadis? Catholic Perceptions of Flight and the Revolt of the Low Countries, 1566–1609, in: Renaissance Quarterly 64.2 (2011), S. 472–499.

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der Flüchtlinge, die in den katholischen Hochburgen Köln, Douai und Lüttich eine temporäre, teilweise auch dauerhafte Heimat fanden und die spirituellen und organisatorischen Initiativen der katholischen Reformation kennenlernten, zu einer bewussteren Hinwendung zum Katholizismus neuer Prägung geführt zu haben. Insgesamt hat die Forschung bislang die Rolle der Remigranten und ihren Einfluss auf die Entwicklungen in den Niederlanden sehr positiv gesehen. So spricht Alastair Duke von dem „remarkable success“ der (allerdings kurz­ lebigen) calvinistischen Republik in Gent, die zu einem beträchtlichen Teil von rückkehrenden Exulanten getragen wurde, und auch die „History of the Low Countries“ von J.C.H. Blom und Emiel Lamberts hebt den „high intellectual tone“ unter Gents remigrierten Predigern lobend hervor. 5 Im Norden, in den holländischen Städten Hoorn und Enkhuizen spielten rückkehrende Exulanten mit calvinistischen Überzeugungen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für die aufständische Seite.6 Im Chaos der ersten Monate des Konflikts kehrten zahlreiche der unter Alvas Conseil de Troubles Verbannten zurück in die Niederlande und trugen, teilweise unter direkter Anweisung von Wilhelm von Oranien, dazu bei, dass viele der holländischen und seeländischen Städte für die oranische Sache eintraten.7 Heimkehrende Exulanten übernahmen auf seine Anordnung politische Ämter. Oft wurden sie, wie etwa der ursprünglich aus Antwerpen stammende Alkmaarer Landbesitzer Guillaume Mostaert, mit der Inventarisierung der Kirchen- und Klostergüter und den Besitzungen katholischer Verbannter und Flüchtlinge in Holland betraut.8 Eine Instruktion von 1570 sollte die Restitution der durch Alvas Rat konfiszierten Güter regeln.9 Auch hierfür wurden Administratoren benötigt. Das Vertrauen, das der Prinz in diese Gruppe investierte, beruhte auf Gegenseitigkeit. Viele der Exulanten banden ihr Schicksal, nicht selten gegen den Widerstand gewachsener lokaler Traditionen und Strukturen, an den Erfolg der oranischen Sache. Auch im Süden spielten nicht nur die calvinistischen Remigranten der ersten Stunde, sondern auch die katholischen Rückkehrer insbesondere nach den Eroberungen Alexander Farneses 5

Duke, Reformation and Revolt (wie Anm.1), S. 265; J.C.H. Blom/Emiel Lamberts, History of the Low Countries, New York 2006, S. 137. 6 Van Nierop, Treason (wie Anm.3), S. 62–66. 7 Siehe hierzu zusammenfassend Geert H. Janssen, Exiles and the Politics of Reintegration in the Dutch Revolt, in: History 94.1 (2009), S. 37–53. 8 van Nierop, Treason (wie Anm. 3), S. 189. 9 Instruction issued on behalf of my Lord, the Prince of Orange, Count of Nassau which N.N. shall be obliged to follow if God gives hem the Grace to take the Town of N., 24 November 1570, J.F. van Someren, La Correspondance du prince Guillaume d’Orange avec Jacques de Wesenbeke (Utrecht, 1896) 148–153. Siehe auch: http://www.dutchrevolt.leiden.edu/ english/sources/Pages/15701124.aspx (1. 3. 2013).

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in der ersten Hälfte der 1580er Jahre eine wichtige Rolle in der Durchsetzung der Habsburger Herrschaft und deren Programm der katholischen Reform. In Antwerpen setzten sich beispielsweise die begüterten Handelsfamilien Houtappel, van der Cruyce, De Smit und Boot, deren Mitglieder eine Zeit im Kölner Exil verbracht hatten, durch großzügige Stiftungen für visuelle Propagierung der Gegenreformation in Architektur und Kunst ein.10 Diese Interpretation der Rolle der Remigranten verstellt jedoch den Blick auf eine Reihe von Schwierigkeiten, die die Migrationserfahrung der Exulanten einerseits, und andererseits ihre Rückkehr in die Städte der nördlichen, aber auch der südlichen Niederlande mit sich brachten. Diese sollen im Folgenden näher beleuchtet werden. Judith Pollmann hat vor kurzem noch einmal hervorgehoben, dass die Entscheidung für oder gegen den niederländischen Aufstand bei vielen Zeitgenossen insbesondere in der ersten Phase der Auseinandersetzungen vornehmlich an die Frage der Sicherheit und Stabilität der (städtischen) Gemeinschaft gebunden war.11 Solidarität und die soziale Ordnung der städtischen Gesellschaft, der gemeente, waren Leitlinien, nach denen sich die Bürger vor Ort für oder gegen die Politik der Aufständischen oder der spanischen Krone entschieden. Hierbei spielte das Verhalten der Truppen der einen oder anderen Seite und das Auftreten der Heerführer und ihrer Administratoren in den betreffenden Landstrichen und Städten sehr oft eine wichtigere Rolle als die „große Politik“ in Brüssel, Delft oder Mechelen. Der Angriff auf die Rechtssicherheit der traditionellen politischen Ordnung und Praxis war ja auch das entscheidende, bindende Argument der ersten Jahre des Widerstandes gegen die Reformen Philipps II. gewesen. Erst nach den einschneidenden Erfahrungen mit den calvinistischen Regimen in Gent, Antwerpen und Brügge und der neuen spanischen Politik unter Alexander Farnese nach 1585 wurde die Entscheidung für oder gegen die spanische Herrschaft verstärkt durch eine konfessionelle Argumentation bestimmt. Nicht nur wurde die intolerante Politik der calvinistischen Stadtrepubliken als typisches Zeichen protestantischer Regierungen gewertet, die wenig Gutes für das Zusammenleben mit Katholiken versprach, problematisch erschien auch die Zusammensetzung der neuen Stadträte, insbesondere in Gent, wo sich die calvinistische Magistratur zu einem Großteil aus „homines novi“, Aufsteigern ohne traditionelle Mitgliedschaft in der städtischen Hierarchie, zusammensetzte. Wiederum war es also auch 10

Bert Timmermans, Patronen van patronage in het zeventiende-eeuwse Antwerpen (Studies stadsgeschiedenis 3), Amsterdam 2008; ders., The Chapel of the Houtappel Family and the Privatisation of the Church in Seventeenth-Century Antwerp, in: Piet Lombaerde (Hrsg.), Innovation and Experience in the Early Baroque in the Southern Netherlands. The Case of the Jesuit Church in Antwerp (Architectura moderna 6), Turnhout 2008, S. 175–186. 1 1 Pollmann, Catholic Identity (wie Anm. 4), bes. S. 120–124. Siehe auch van Nierop, Treason (wie Anm. 3), insbes. Preface.

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hier der Angriff auf die korporativen Traditionen der städtischen Gesellschaft, nicht zuletzt durch die Remigranten, der im Mittelpunkt der Kritik stand. Die calvinistische Republik in Gent galt auch in den nördlichen Niederlanden als warnendes Beispiel für eine aus dem Ruder gelaufene Reform der städtischen und religiösen Ordnung und keineswegs als Vorbild. In einer vielzitierten Rede aus dem Jahr 1597 warnte der damalige Amsterdamer Bürgermeister Cornelis Pietersz Hooft explizit vor dem Einfluss von stadtfremden Immigranten auf kirchliche und städtische Organisationen und die gute Ordnung in der Stadt. Hier hatte er vor allem die aus dem Süden geflüchteten Protestanten im Visier.12 Die wichtige Rolle, die der Faktor Sicherheit in der städtischen und staatlichen Ordnung spielte, hatte also auch Auswirkungen auf das Verständnis von Exil und die Aufnahme von Immigranten und Remigranten sowohl auf städtischer als auch auf supra-städtischer Ebene. Zu bedenken ist darüber hinaus, dass viele von denjenigen, die in der Forschung als „returning exiles“ bezeichnet werden, nicht wirklich in ihre Heimatorte, noch nicht einmal in ihre Heimatprovinzen zurückkehrten, sondern vor allem in der ersten Phase des Aufstandes an die „Brandherde“ der Revolte reisten, um dort für ihre Sache zu kämpfen. Die Vorstellung von Exil war zunächst negativ konnotiert. Das galt sowohl für diejenigen, die ihre Heimat verließen, als auch für die Mitglieder der Gesellschaften, die sie verließen und die Gastgesellschaften, die sie aufnahmen. In den ersten Jahren des Aufstandes standen diejenigen, die ihrer angestammten sozialen Gemeinschaft, freiwillig oder als Verbannte, den Rücken kehrten, unter dem generellen Verdacht der Unzuverlässigkeit. Diese Wahrnehmung beruhte auf älteren Vorstellungen eines gemeinschaftlichen Lebens und war eingebettet in das Gefüge der frühneuzeitlichen Gesellschaft, in der Vertrauen, erworben durch ein Netzwerk von Familien- und korporativen Verbänden, eine wichtige Kategorie des Zusammenlebens darstellte. Für den Brügger Juristen Joos de Damhouder kamen Verbannung und Konfiskation deshalb einem „sozialen Tod“ gleich.13 In der Praxis wurde diese Auslöschung wirkungsmächtig an der Zerstörung von Häuserzeichen oder der ganzen Häuser der Ausgewiesenen sichtbar gemacht, wie sie beispielsweise die Anordnungen zum Umgang mit Verbannten und ihren Besitzungen des Conseil de Troubles einforderten.14 Selbst Konfessi 12 Geeraerd

Brandts, Historie der Reformatie, en andere kerkelycke geschiedenissen in en omtrent de Nederlanden, Amsterdam 1671–1704, Bd.1, S. 818, 820; zitiert in Benjamin Kaplan, „Dutch“ religious tolerance: celebration and revision, in: Ronnie Po-Chia Hsia/ Henk van Nierop (Hrsg.), Calvinism and Religious Toleration in the Dutch Golden Age, Cambridge 2002, S. 14. 13 Joos de Damhouder, Praktycke ende handbouck in criminele zaecken, Leuven 1555, S. 78. 14 Siehe die Anweisungen des Herzog von Alva, in: A.L.E. Verheyden, Le conseil des troubles: Liste des condamnés (1567–1573) (Publications de la Commission royale d’histoire 59), Brüssel 1961, S. 557–560. Diese Praxis war nicht neu, sondern bereits aus der Burgundischen

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onsgenossen gegenüber blieben auch die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft reserviert, wie die Tagebucheintragungen des Katholiken Hendrick van Biesten aus Amsterdam verdeutlichen. Er kommentierte: „Flüchtlinge können niemals wieder gute Bürger sein, denn man kann niemanden einen guten Bürger heissen, der in Zeiten der Unruhe seine Stadt, seinen Geburts- und Abstammungsort verlässt“.15 Amsterdam blieb bis 1578 der spanischen Seite treu und wurde das Ziel tausender flüchtender Katholiken aus dem holländischen Umland. Die Ankunft einer großen Anzahl Flüchtlinge brachte die Stadt, deren Lebensmitteleinfuhr durch die Seeblockade der Watergeuzen beträchtlich reduziert war, in eine starke wirtschaftliche Krise, die mit großer Besorgnis zur Kenntnis genommen wurde. Das persönliche Schicksal der durch die Kriegswirren in die Stadt gespülten Immigranten beschrieb ein andere Zeitgenosse, der Augustinermönch Wouter Jacobszon, selbst ein Flüchtling aus Gouda, in seinem Tagebuch in dramatischen Bildern: Angesichts der neuen Unsicherheiten, durch die sie ihren Platz in der Gemeinschaft verloren hatten, zogen sich viele von ihnen ganz in sich selbst zurück, mussten um den Lebensunterhalt betteln und starben selbst an Hunger und Entbehrungen.16 Zu dem Verdacht der Unzuverlässigkeit kam der Schock des Verlustes an sozialem und wirtschaftlichem Kapital in der Fremde. Gleichzeitig sahen sich viele katholische wie protestantische Flüchtlinge mit der Frage konfrontiert, ob ihr Gott von ihnen ein Aushalten der Angriffe auf Besitz und Leben (bis hin zum Martyrium) erwartete oder ob es seinem Willen gemäßer sei, Haus und Hof für den Glauben zu verlassen. Erst im Verlauf des Krieges, in dem die Auswanderungserfahrung zum oft bitteren, aber teilweise auch bereichernden Alltag weiterer Teile der niederländischen Bevölkerung wurde, setzte eine Umdeutung von Exil ein. Biblische und klassische Modelle wurden nun in der Exulantenliteratur sowohl auf protestantischer als auch auf katholischer Seite herangezogen, um den Verdacht der Unzuverlässigkeit und Feigheit in ein Lob der Standhaftigkeit des gelebten Glaubens umzuwandeln.17 Diese Umdeutung erlaubte auch eine Neuinterpretation der aus dem Exil Zurückkehrenden. Herrschaft bekannt. Ähnlich reagierte man in Frankreich auch bei der Verbannung der Hugenotten. Siehe hierzu zusammenfassend, Janssen, Exiles and the Politics of Reintegration (wie Anm.7), S. 47–49. 15 Vervolgh ein anteykeningen van broer Hendrick van Biesten over het gebeurde te Amsterdam, 1566–1574, De Dietsche Warande 8 (1869), S. 417–63, hier S. 421, Übersetzung der Autorin. 16 Isabella Henrietta van Eeghen (Hrsg.), Dagboek van broeder Wouter Jacobsz (Gualtherus Jacobi Masius): Amsterdam 1572–1578 en Montfoort 1578–1579, 2 Bde, Groningen 1959–1960, Bd.1, S. 158–159. 17 Janssen, Quo Vadis? (wie Anm. 4), S. 472–499; Pollmann, Catholic Identity (wie Anm. 4), S. 131–153. Diese Strategie findet sich auch bei anderen Flüchtlingsgruppen in Europa. Siehe beispielsweise Alexander Schunka, Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der

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In den ersten Kriegsjahren war es aber auch die Ämterpolitik Wilhelm von Oraniens, die vor Ort nicht immer auf Zustimmung traf. Der bereits erwähnte Guillaume Mostaert war vor seiner Zuständigkeit für konfiszierte Kirchengüter von Oraniens Stellvertreter in Holland, Dirk Sonoy, 1572 zum obersten Beamten der Stadtverwaltung in Alkmaar ernannt worden, stieß aber in der Ausübung dieses Amtes so kontinuierlich auf den Widerstand der lokalen Eliten, dass es günstiger erschien, ihn mit einer anderen Funktion zu betrauen. Aber auch in seiner neuen Zuständigkeit für die Übersicht über die konfiszierten katholischen Güter und deren Einnahmen fand er sich mit so starker Ablehnung konfrontiert, dass er von den Staaten von Holland schließlich auf Drängen der lokalen Bevölkerung abgesetzt wurde. Als ein Grund für die Abneigung, die ihm entgegenschlug, wurde immer wieder angegeben, dass er kein Eingesessener, sondern ein gebürtiger Brabanter war, der weder den Respekt noch das Vertrauen der Einheimischen besaß.18 Auf der anderen Seite blieb es aber selbst rückkehrenden Katholiken in Holland möglich, ihre konfiszierten Güter zurückzuerhalten und einvernehmlich und respektiert in einem protestantischen Umfeld zu leben, wenn sie sich als gute Mitglieder der städtischen Gemeinschaft ausgezeichnet hatten, weiterhin eine tadellose Reputation behielten und ihre Religion in dem ihnen gesteckten, unsichtbaren Rahmen ausübten. Henk van Nierop hat das sehr eindringlich am Schicksal des katholischen Juristen Jan Jeroenszon aus Hoorn beschrieben.19 Verkompliziert wurde die Bevölkerungslage zudem in allen niederländischen Landesteilen durch die generelle Amnestie, die in der Pazifikation von Gent 1579 festgeschrieben wurde. Artikel I legte fest, dass alle Vergehen, die im Zusammenhang der bewaffneten Auseinandersetzungen seit 1572 begangen worden waren, vergeben und vergessen seien. Die von Alva Verbannten konnten damit also wieder in ihre Heimat zurückkehren. Unklar blieb in der kurzlebigen Vereinbarung allerdings, wie im Einzelnen etwa die Restitution konfiszierter Güter zu regeln war. Ähnlich vage blieben auch die Anordnungen im Vertrag des Zwölfjährigen Waffenstillstands (1609–1621), der ebenfalls eine Amnestie für alle an den Auseinandersetzungen des Aufstandes Beteiligten auf dem Papier regelte und darin den Status Quo von 1609 als rechtliche Grundlage für Besitz und dessen Restitution festlegte. Konfiszierte Güter, ausstehende Erbschaften und andere finanzielle Angelegenheit konnten nun eingefordert werden. Die Forschung hat sich bislang noch nicht mit den Folgen dieser Politik auf lokaler

Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert (Pluralisierung & Autorität 7), Hamburg 2006, S. 130–153. 18 Van Nierop, Treason (wie Anm. 3), S. 189, 197, 225–226. 19 Ebd., S. 189, 197, 225–226.

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und regionaler Ebene beschäftigt. In der Praxis verliefen diese Verfahren jedoch sicher nicht immer einfach. Das wechselnde Kriegsglück, aber auch die verschiedenen Kompromissver­ suche im Verlauf des Achtzigjährigen Krieges verkomplizierten zudem das Schicksal von Migranten und Remigranten. Während die aktuellen Kampfhandlungen in Holland und Seeland am Ende der 1580er Jahre faktisch beendet waren, zeichnete sich vor allem in den Grenzgebieten im Osten der Niederlande und im heutigen niederländisch-belgischen Grenzraum, im damaligen Herzogtum Brabant, eine mit wechselndem Kriegsglück sich verändernde politische und konfessionelle Lage ab. Diese Wechselfälle führten sowohl zu Ein- als auch zu Auswanderungs- und Rückwanderungswellen, die die soziale Stabilität in den betroffenen Städten vielfach auf das Äußerste strapazierten. So wechselte ‘s Hertogenbosch in Brabant im Verlauf der Kriegshandlungen nach schweren Belagerungen 1579 (durch spanische Truppen) und dann 1629 (durch die Oranier) zweimal die Seiten, um schließlich als Teil der Generalitätslanden unter der direkten Herrschaft der Generalstaaten zu verbleiben. Die Einwohner der Stadt Geraardsbergen in Ostflandern durchlebten eine 14-jährige protestantische Phase von 1580 bis 1594, an deren chronologischen Eckpunkten es zu massenhaften Auswanderungen von Mitgliedern der jeweils anderen Konfession kam. Nijmegen in Gelderland schloss sich 1579 zögerlich der Pazifikation von Gent an, wurde nach dem Einmarsch spanischer Truppen von 1585 bis 1591 von einer spanischen Garnison regiert, um danach für den Rest des Krieges auf der Seite der Oranier zu verbleiben. Vorangegangen waren hier, wie in vielen anderen Städten der Niederlande, die Verbannungen zahlreicher Teilnehmer an den Bilderstürmen von 1566. Von ihnen kehrten ebenfalls viele in ihre Heimatstadt zurück, als sich das Kriegsglück zugunsten der Vereinigten Provinzen neigte. Bezeichnenderweise haben sich die zeitgenössischen Chronisten mit dem Problem der Rückwanderung so gut wie gar nicht beschäftigt. Für Autoren, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, ihre Stadt oder Landschaft im bestmöglichen Licht zu beschreiben, waren Referenzen auf Ein- und Auswanderung mit den damit verbundenen politischen Bruchstellen als Thema sowohl während der noch andauernden Kampfhandlungen als auch in den ersten Jahren nach dem endgültigen Waffenstillstand von 1648 zu brisant. In den Publikationen von Nijmegens Historikern, Vater und Sohn Johannes Smetius, die im 17. Jahrhundert die wichtigsten Stadtgeschichten Nijmegens verfassten, kommen Migranten nicht vor.20 Das ist umso verwunderlicher, weil die Familie Smetius selbst in 2 0

Johannes Smetius, Oppidum Batavorum, seu Noviomagum; Quod ostenditus, Batavorum oppidum Corn. Tycito Lib. Hist v, c.xix, memoratum, esse Noviomagum, Amsterdam 1644, 2. Auflage 1645; Johannes Smetius jr, Chronyck van de oude Stadt der Batavieren: Waer in (Nevens de Beschryvinge van Nymegen) de eerste oorspronck van dese Landen, de

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das Migrationsschema der Stadt passte: Johannes Smetius senior war 1590 in Aachen geboren. Sein Vater stammte aus dem Grenzgebiet im Bistum Lüttich, seine Mutter aus Karken, einem Dorf in der Nähe des geldrischen Roermond. Die Familie hatte ihr Glück in Aachens bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges florierendem Textilgewerbe gefunden. Smetius selbst verließ früh sein Elternhaus und wurde über verschiedene andere Stationen schließlich Pfarrer an der Nijmegener Hauptkirche St. Steven. Nach der Kapitulation Aachens an General Spinola 1614 flüchtete die Familie zu ihrem Sohn nach Gelderland. Dennoch erwähnten weder Smetius senior noch sein Sohn, wie sein Vater Pfarrer an St. Steven, der sich ebenfalls als Stadthistoriker betätigte, die Migrationsströme von und nach Aachen oder in andere Gebiete in ihren Stadtgeschichten mit keinem Wort. Dasselbe Schweigen gilt auch für die Stadthistoriker von Geraardsbergen und ‘s Hertogenbosch. Weder der katholische Johannes van Waesberghe, Kanoniker in St. Omaars te Lillars, dessen Familie selbst während der calvinistischen Republik aus Gent flüchten musste, noch Jacob von Oudenhoven, Pfarrer in Heusden, einem Ort in der Nachbarschaft von ’s Hertogenbosch, gingen in ihren Werken auf die Migration in und aus den beiden Städten ein.21 Dabei bietet sich gerade das Nijmegener Beispiel an, um eine Reihe von Charakteristika vorzustellen, die sowohl die Rolle von Sicherheit, Migration und Remigration als auch die Bedeutung von Recht und Ordnung in einer Stadt an der Peripherie der sich neu konstituierenden niederländischen Republik näher beleuchten. Die Reichsstadt Nijmegen gehört sicherlich eher zu den Verlierern des Achtzigjährigen Krieges und bewahrte gegenüber den Wortführern des Aufstandes in Holland und Seeland seit Beginn der Kampfhandlungen eine kritische Distanz. Regelungen zu Nijmegens und Gelderlands politischen Beziehungen zum Habsburgerreich waren erst 1541 im Vertrag von Venlo festgelegt worden, in dem die Stadt ihre Sonderrechte in Zoll- und Rechtsangelegenheiten gegen die Habsburger Zentralgewalt sichern konnte. Diese Sonderrolle, die Zeitgenossen auf eine jahrhundertealte Tradition aus der Zeit Karls des Großen zurückführten, blieb konstitutives Element für das Selbstverständnis der Nijmegener politischen achtbaere oudtheyt van dese Stadt, de voortreflickheyt van haere Privilegien, en de voornaemste Geschiedenissen van de vooringe eeuwen kortelick vertoont worden, ­Nymegen, uyt de Druckerie van R. Smetius, 1667, Aenteekeningh der Autheuren of Register van Oude en Nieuwe soo gedruckte als geschrevene Boecken en Papieren, die in dese Chronijck zijn gebruyckt, n. p.; Antiquitates Neomagenses. Sive Notitia Rarrissimarum Rerum Antiquarum, quas in veteri Batavorum Oppido studiose comparavit Johannes Smetius, Pater& Filius etc., Nijmegen 1678. 21 Ioannes van Waesberghe, Gerardimontium sive Altera Imperialis Flandriae Metropolis eiusque Castellania, Brüssel 1627; Jacob van Oudenhoven, Beschryvinge der Stadt ende Meyerye van ’s Hertogen-Bossche, Amsterdam 1649.

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Elite und bestimmte ihre Politik gegenüber den anderen Provinzen und den Generalstaaten.22 Zwar kam es auch in Nijmegen 1566 zu Bilderstürmereien, die mit der Verbannung der Beteiligten endeten, aber insgesamt sind wenig antiprotestantische Aktivitäten in der Stadt zu verzeichnen, die katholisch dominiert blieb. Erst zögerlich trat man 1579 der Union von Utrecht bei. Im Februar 1579 wurde der Magistrat protestantisch, die St. Stevenskirche wurde von den Calvi­ nisten übernommen. Der katholische Klerus wurde enteignet, blieb aber, wie vielfach in den niederländischen Städten üblich, finanziell alimentiert. Geistliche durften keine Schulen mehr unterhalten oder sich öffentlich religiös betätigen. 1584 wendete sich allerdings das Kriegsglück zugunsten der Spanier. Statthalter Gelderlands wurde nun Claude de Barlaymont, Herr von Haultepenne. Am 28. April 1585 übergab der Magistrat der Stadt dem Statthalter eine Petition, in der die Ratsherren Bedingungen für eine friedliche Übernahme vorschlugen, die von den Spaniern angenommen wurden. Bis 1591 blieb die Stadt dann unter einer spanischen Garnison. 1591 wendete sich das Kriegsglück erneut, diesmal gab Nijmegen einer Belagerung durch Moritz von Oranien nach. In den Verhandlungen mit den jeweiligen Kriegsherren stellten die Ratsherren von Nijmegen einen Forderungskatalog auf, der für beide Situationen, 1585 und 1591, auffallend ähnlich ausfiel, und wiederum die Rolle von Frieden und Ordnung in der Stadt in den Mittelpunkt stellte. In beiden Traktaten stand an erster Stelle der Wunsch nach einer Amnestie für alle Bürger, Privatleute und öffentliche Amtsträger, für ihr Handeln in der Zeit unter dem jeweils anderen Regime. Eingeschlossen in die Amnestie für alle Taten, „waer van de memorie dood en tot niet blijven zal“23 (wovon die Erinnerung tot und nichtig bleiben soll), waren, wie es in dem Schreiben vom 25. April 1585 ausdrücklich hieß, auch diejenigen, „die hen hebben vertrokken of gedwongen zijn uyt te gaan met billetten, gedurende dese troubelen“ (die während dieser Unruhen weggezogen sind oder per Verurteilung gezwungen wurden wegzugehen), also auch Emigranten und Verbannte. Wer gegen das Vergessen verstieß, heißt es weiter, verstieß damit gegen die „goede vrientschap“ in der Stadt. Fast wortgleich und ebenfalls unter Einschluss der aus der Stadt Ausgewiesenen wurde diese Forderung dann 1591 bei der Unterwerfung unter den oranischen Statthalter wiederholt.24 Auch hier ist die schweigende Wiedereingliederung potentieller Remigranten wichtiger Bestandteil der Erhaltung der „gemeine ruste“, der allgemeinen Ruhe.

2 2

Jan K. Haalebos, Nijmegen: Geschiedenis van de oudste stad van Nederland, Wormer 2005. 2 3 Pieter Bor Christiaensz, Historie van de Nederlandtsche Oorlogen, Teil 2, Buch 20, Amster­ dam 1697, S. 564. 24 Pieter Bor Christiaensz, Nederlantsche Historien, Teil 3, Buch 28, Amsterdam 1681, S. 576.

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Das Beharren auf Sicherheit und Ordnung in der Stadt als erster Aufgabe aller Bürger und der Landesherrschaft stand auch am Anfang eines Schreibens einer Gruppe ehemaliger Bilderstürmer aus Nijmegen, die die Stadt 1566 verlassen mussten, aber mit dem Anschluss der Stadt an die Union von Utrecht zurückkehrten und damit gerade zu denjenigen gehörten, die unter die Amnestie von 1585 fallen sollten. Die Gruppe aus dem Exil zurückgekehrter Bürger forderte vom damaligen geldrischen Statthalter Johan von Nassau die Absetzung des Nijmegener Rates und tat dies mit Hilfe einer Supplik, datiert vom 28. November 1578. Der Inhalt dieses Schreibens wirft ein bezeichnendes Licht sowohl auf die Rolle von Exil als auch auf die gewählte diskursive Strategie der Verfasser, die sich gerade an der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Stadt orientierte.25 Sie soll im Folgenden etwas genauer beleuchtet werden. Auffallend ist zunächst die Selbstbezeichnung der Unterzeichnenden, die sich als „guede patriotten“ vorstellten, die sich durch ihr zwölfjähriges Exil hohen politischen Kredit als treue „lyfhebbers des waerachtigen woort Gots“ erworben hatten. Die Bedeutung des Exils als Wertsiegel für die Glaubwürdigkeit der Absender wurde noch zweimal an anderer Stelle im Text hervorgehoben. Hier zeigt sich also bereits die Umdeutung des Exilbegriffs von dem Verdacht der Unzuverlässigkeit zur Standhaftigkeit, die Pollmann und Janssen für die 1580er Jahre konstatiert haben. Gleichzeitig argumentiert der Text aber, und in erster Instanz, mit dem Problem fehlender Sicherheit in der Stadt, die der Politik der amtierenden Magistratur angelastet wird. Hier wurden gravierende Fehler in der Rechtsprechung angemerkt, die auf eine Bevorteilung katholischer Bürger zurückzuführen waren und die für die Unterzeichnenden in gefährlicher Nähe zur „olde Albanischen tirannie“ angesiedelt waren. Hierzu gehörte ihrer Ansicht nach das Verschleppen eines Prozesses gegen eine anti-oranische Konspiration in der Stadt (deren Brennpunkt im umstrittenen Observantenkloster lag) sowie die Duldung der Rückkehr rechtmäßig überführter Unruhestifter gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung. Gleichzeitig mit der Sorge um die rechte Ordnung in der Stadt und die Ausübung des Gesetzes ging die Angst um das eigene Leben einher, das die Unterzeichnenden mit der Warnung vor einer Wiederholung der „blodige Parysische bruylloft“, der Pariser Bluthochzeit, also des Massakers an Hugenotten in der Bartholomäus­nacht vom 23./24. August 1572, verbanden. Ein weiterer unmissverständlicher Hinweis auf die anti-protestantische Haltung des Magistrats war zudem das Abhalten des so genannten Knodsenfestes, eines jährlichen Festes, das in der Stadt zur Erinnerung an die Vertreibung des protestantischen Predigers Ludovicus Ornaeus aus Nijmegen am 24. September nach dem Bil 2 5

KHA, inv.III, nr. 897-V, orig. abgedruckt in: A.E.M. Janssen, Nijmegen en de Unie van ­Utrecht. Gelderlands eerste hoofdstad temidden van politiek-religieuze spanningen (1578/79), Numage XXVI (1979), S. 55–91, hier S. 84–95.

Niederländische Remigranten im Schatten des Achtzigjährigen Krieges 595

dersturm von 1566 veranstaltet wurde. Dieses Festhalten an einer katholischen Erinnerungstradition wurde hier als Bedrohung von Leib und Leben der bereits einmal ausgewiesenen Exulanten dargestellt. Kernpunkt der Kritik blieb allerdings die Sorge um die städtische Ordnung und Sicherheit. Deren Missachtung konnte nur, so forderte die Supplikation, mit einer Absetzung der Magistratur begegnet werden, die zudem bei der Nijmegener Bevölkerung auf breite Zustimmung treffen würde. Die Forderungen der Gruppen fanden allerdings kein Gehör, der Umsturz, den angeblich die Mehrheit der Nijmegener einforderte, blieb aus. Bei den folgenden Magistratswahlen im Februar 1579 wurde der Magistrat dann jedoch protestantisch. Zu denjenigen, die von dieser Umbesetzung profitierten, gehörten wiederum auch einige der ehemaligen Verbannten, die nun schnell offizielle Posten in der Stadt bekleideten.26 Der frühere Krämer und Schulmeister ­Johann Kelffken, der 1566 nach Wesel ins Exil ging, wurde 1579 Ratsmitglied und 1592 Bürgermeister der Stadt. Gysbert Spruit war noch 1566 als Meister der einflussreichen Sinterclaesgilde, die die Politik in der Stadt bis 1591 bestimmte, abgesetzt worden, wurde aber nach seiner Rückkehr 1579 in den Rat gewählt und ist 1594 als Bürgermeister verzeichnet. Jan Meusz, ebenfalls ehemaliger Meister der Sinterclaesgilde, kehrte gleichfalls nach 1579 in den Rat zurück. Johann Scharrenborch wurde 1567 als Ratsmitglied abgesetzt, war aber 1579 wieder im Rat vertreten. Frederik Loifsz, 1566 zusammen mit seiner Mutter aus Nijmegen verbannt, kehrte 1578 zurück. Roeloff van Steenwijck, ebenfalls Unterzeichner der Petition von 1578, wurde nach dem Übergang des Rates in protestantische Hände am 19. Oktober 1580 mit der Verwaltung konfiszierter Kirchengüter betraut und bekleidete das Amt bis zum Einmarsch der Spanier 1585. Der Versuch des Statthalters und des Gelderländer Hofes in Arnhem, diesen wichtigen Posten zentral durch von ihnen bestellte Administratoren zu besetzen, scheiterte am Widerstand des Nijmegener Rates, der sich auf die Privilegien der Stadt als Reichsstadt berief, und, im Übrigen ähnlich wie im Falle des bereits erwähnten Guillaume Mostaert, die Berufung des in Arnhem vorgeschlagenen ursprünglich aus Brabant stammenden Gelderner Generalrentmeisters Thomas Gramaye als Landfremdem ablehnte.27 Auffällig ist, dass, anders als beim Genter Beispiel, die bekannten Remigranten, die nach 1579 wichtige Ämter in der Stadt bekleideten und in der Politik den Ton angaben, bereits vor ihrem Exil in der Stadtverwaltung tätig gewesen waren und nicht zu den gefürchteten „homines 2 6

Die folgenden biographischen Informationen sind entnommen aus Maarten ­Hagemann, Het kwade exempel van Gelre: de stad Nijmegen, de Beeldenstorm en de Rad van ­Beroerten, 1566–1568, Nijmegen 2005, S. 339–341; A.E.M. Janssen/W.J. Meeuwissen (Hrsg.), ­Kerkeraadsacten van de Nederduits Gereformeerde Gemeente te Nijmegen, 1592–1651 (Nijmeegse studien 17), Nijmegen 1996. 27 Adriana J. Maris, De Reformatie der Geestelijke en Kerkelijke Goederen in Gelderland, in het bijzonder in het kwartier van Nijmegen, Den Haag 1939, S. 283.

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novi“ gehörten. Einmal im Rat, blieb von der Rhetorik der Aristokratie des Exils, wie sie sich in der Supplik findet, nicht mehr viel übrig. Auch hier zeigte sich, dass die Sorgen um die Sicherheit der Stadt deutlich über den konfessionellen Belangen der ehemaligen Exulanten angesiedelt waren. So stellte Roeloff van Steenwijk Lambert van Wijnhaven auf dessen Ersuchen vom 5. Mai 1584 eine Rente und eine Wohnung aus den Einnahmen aus den konfiszierten Kirchengütern bereit.28 Van Wijnhaven hatte geltend gemacht, dass seine Vorfahren den Altar der Weber in der St. Stevenskirche gestiftet hatten und sich seine Familie traditionell um den Altar gekümmert hatte. Durch eigene Gebrechlichkeit war Lambert, der letzte Nachkomme dieses Hauses, nun selbst nicht mehr in der Lage, seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Ehre, die sich die Familie in der katholischen Zeit durch die Stiftertätigkeit erworben hatte, wurde in einer Ratssitzung am 3. Juni durch die Zusage der erbetenen Unterstützung respektiert und honoriert.29 Noch deutlicher wird dieser Fokus auf die Sicherheit und Ordnung in der Stadt in einer weiteren Episode, die sich im September 1584, schon im Angesicht der herannahenden spanischen Truppen in der Stadt zugetragen hat.30 Für den 2. September verzeichnet das Protokoll der Nijmegener Ratsversammlung folgenden Vorfall: Der Nijmegener Bürger Eenis de Kestemaker war mit einem Bündel Gebetsbriefchen angetroffen worden, die er innerhalb der Nachbarschaft verteilen wollte. Auf Nachfrage, worum es in diesen Briefchen gehe, gab er an, dass sie Gebete für einen guten und beständigen Frieden enthielten. Auf die weitere Frage nach dem Autor dieser Gebetsbriefchen nannte er schließlich Johann Schmitt, einen ehemaligen Mönch aus Beveren, einem Ort in Flandern in der Nachbarschaft von Antwerpen. Gefragt, wie diese Briefchen dann nach Nijmegen gekommen seien, nannte de Kestemaker als Übermittler einen Haarlemer Bürger namens Huybert van Bastonien, der bei der Nijmegenerin Barbara van Possel untergekommen sei. Am Ende der Ermittlungen wurde im Rat beschlossen, weitere Untersuchungen über de Kestemaker und über den Autor des Textes anzustellen und dafür selbst einen Delegierten nach Haarlem zu schicken. Bekanntermaßen wurde in Nijmegen, wie auch in den meisten Städten der Vereinigten Provinzen, die Anwesenheit von katholischen Geistlichen und Ordensleute geduldet, solange sie nicht außerhalb ihres privaten Raumes religiös aktiv wurden. Die Aktivitäten von Johann ­Schmitt, ­Huybert van ­Bastonien und Eenis de Kestemaker bewegten sich außerhalb die 2 8

Oud-Archief Nijmegen, Resolutiën, Notulen en bijbehorende Stukken, De Magistrat, Fiche 82, 1584–1586, Eintrag 5. Mai 1584. 2 9 Oud-Archief Nijmegen, Resolutiën, Notulen en bijbehorende Stukken, De Magistrat, Fiche 82, 1584–1586, Eintrag 3. Juni 1584. 3 0 Oud-Archief Nijmegen, Resolutiën, Notulen en bijbehorende Stukken, De Magistrat, Fiche 82, 1584–1586, Einträge 2. und 3. September 1584.

Niederländische Remigranten im Schatten des Achtzigjährigen Krieges 597

ses eng gezogenen Rahmens. Bereits am folgenden Tag musste sich der Magistrat wieder mit dieser Angelegenheit beschäftigen. Am 3. September fand sich, so das Ratsprotokoll, eine aufgebrachte Menge vor der Magistratur ein und forderte die Einstellung des Verfahrens gegen de Kestemaker und die anderen an der Angelegenheit Beteiligten. Es wurde argumentiert, dass das Bitten um einen guten und dauerhaften Frieden doch eine gute Sache sei und nichts mit einer „neuen“, gemeint ist hier natürlich eigentlich „katholischen“, Glaubenspraxis zu tun hätte. Mit dieser Argumentation sollten sowohl der Verteiler als auch der Autor des Briefchens rehabilitiert werden. Interessant an dieser Episode ist nun die Reaktion des Rates. Hier finden sich führende Mitglieder, unter ihnen nicht zuletzt der 1566 ausgewiesene Bilderstürmer und derzeitige Bürgermeister Johann Kelffken, die bereit waren, für die Beschuldigten als Leumund einzutreten. Man gab der Forderung der Menge nach und stellte die Sache ein. Der in die Angelegenheit verwickelte Mönch wurde aufgefordert, sich wieder in sein Kloster zurückzuziehen und sich dort ruhig zu verhalten. Auch hier stellten die Mitglieder der Stadtverwaltung die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung vor die konfessionelle Agenda. Dies ist besonders bemerkenswert zu einem Zeitpunkt, an dem man die Rückkehr der Stadt unter ein katholisches spanisches Regime bereits befürchten musste. Eine alternative Haltung, bei der der protestantische Rat Härte gegen das öffentliche Aufkommen katholischer Praktiken hätte durchsetzen wollen, wäre auch möglich gewesen. Es ist bislang nicht bekannt, welche Konsequenzen die erneute Übernahme der Stadt durch spanische Truppen für die Remigranten hatte. Im März 1585 lieferte Roeloff van Steenwijk eine Endabrechnung seiner Tätigkeit ab, die er sich von Derrick van Kempten und Garet Page beglaubigen ließ.31 Danach verlieren sich seine Spuren in den Akten. Insgesamt ist bislang noch wenig über die spanische Periode in der Stadt bekannt. Die Goedesdagsakten, die Protokolle der Nijmegener Ratversammlung, sind, vielleicht bezeichnenderweise, zwischen 1586 und 1589 nicht mehr vorhanden. Ob es wiederum zu Auswanderungen oder sogar Ausweisungen aus der Stadt gekommen ist, ist noch unerforscht. Mitglieder der Familien Kelffken und Spruit blieben allerdings weiterhin über Jahrzehnte (und Jahrhunderte) tonangebend in der Stadtverwaltung. Die einflussreiche Sinterclaesgilde, in der viele der Remigranten vor ihrer Auswanderung und dann wieder nach ihrer Rückkehr Karriere gemacht hatten, wurde nach dem erneuten Machtwechsel 1591 auf Betreiben des neuen oranischen Statthalters aufgelöst. Ihren Mitgliedern wurde vorgeworfen, während der spanischen Besatzungszeit allzu gut mit den Spaniern zusammengearbeitet zu haben. Tatsächlich ging es allerdings um die Aushebelung partikularer städtischer Gewalten zugunsten der 31

Oud-Archief Nijmegen, Resolutiën, Notulen en bijbehorende Stukken, De Magistrat, Fiche 82, 1584–1586, Eintrag 11. März 1584.

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geldrischen Statthalter, die die Gelegenheit der Stunde nutzten, um die traditionellen Sonderrechte der Stadt erheblich zu beschneiden. Festzuhalten bleibt, dass das Thema „Sicherheit“ einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf die Politik der durch Krieg, Emigration und Immigration gezeichneten Städte der Niederlande hatte. Dem Argument des Stadtfriedens mussten sich alle anderen Belange, nicht zuletzt die konfessionellen, unterordnen. Es steht zu vermuten, dass sich die Remigrationspolitik in Nijmegen in ähnlicher Weise auch in anderen Städten der Niederlande, und wohlmöglich auch in anderen, durch Bürgerkriege erschütterten Städte der Frühen Neuzeit, gestaltete. Die Friedens- und Waffenstillstandsverträge des langen Achtzigjährigen Krieges, in denen immer wieder das Vergessen (wenn nicht das Vergeben) der begangenen Taten gefordert wurde, weisen jedenfalls in diese Richtung.

Alexander Schunka

Schutz und Chancen: Sicherheitsstrategien von Migranten im Reich des 17. und 18. Jahrhunderts I. Sicherheit als Kategorie frühneuzeitlicher Migrationsgeschichte

Im Jahr 1628 schrieb der Astronom Johannes Kepler (1571–1630) aus dem böhmischen Prag, wo er sich besuchsweise aufhielt, einen Brief an Kurfürst J­ ohann Georg I. von Sachsen.1 Aus Sicherheitsgründen ließ er das Schreiben mit der Post des sächsischen Agenten nach Dresden befördern.2 Kepler stand unmittelbar vor einem Wechsel seines Dienstverhältnisses. Er sollte im schlesischen Sagan bei Wallenstein angestellt werden, aber er schien der politischen Situation nicht recht zu trauen: Wenige Monate zuvor war die Verneuerte Landesordnung in Böhmen erlassen worden, und der konfessionspolitische Druck auf Protestanten in den Habsburgerländern hatte sich sukzessive erhöht. Damit gingen unmissverständliche Aufforderungen an die nichtkatholische Bevölkerung zur Konversion zum Katholizismus einher, aber auch massenhafte Auswanderungen derjenigen, die sich der Rekatholisierungspolitik widersetzten.3 Vor diesem Hintergrund schrieb der Astronom an den sächsischen Kurfürsten: Demnach aber die Jezige schwäre Laüffe, auch an besagtem Ort allerhand Ungelegenhaitten per consequentiam verursachen, Und Ich sampt meinen Angehörigen in diser Mir noch Zur Zeitt ohne das gantz unbekanten refier über nacht auffgetriben, Und meinen Fuß noch weitter Zusetzen genötigt werden möchte: alß gelangt ferners an E. Churfl. Durchl. mein Underthänigstes Bitten, Die [sc. Sie] geruhen Mir bey diser meiner noch Immer fort continuierenden Wanderschafft, Und darbey habenden sorgfaltigkhaitt, sovil Trosts Zuvergunnen, Und wan es nit anderst sein wolte, mein sicheres refugium Und unverwehrte Unterkunfft mit Weib Und Kindern in dero benachbarten Landen haben […] möge.4

Mit der Bitte um ein „sicheres refugium“ bei Kurfürst Johann Georg sorgte der Protestant Kepler für sich und seine Familie vor. Aus Angst vor dem „unbekanten 1

Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Geheimer Rat, Loc. 10331/13, fol. 85r–86r, Johannes Kepler an Kurfürst Johann Georg von Sachsen, 19/29. Feb. 1628. Zu Keplers Aufenthalt in Prag 1628 vgl. Martha List, Kepler, Johannes, in: Neue deutsche Biographie Bd. 11, Berlin 1977, S. 494–508, hier S. 506. 2 Zum sächsischen Agenten Friedrich Lebzelter vgl. Alex Heskel, Friedrich Lebzelter als kursächsischer Agent in Hamburg, 1632–1634, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 25 (1924), S. 210–225, hier S. 210f. 3 Überblick z. B. bei Arno Herzig, Die Rekatholisierung in den deutschen Territorien im 16. und 17. Jahrhundert, in: GG 26 (2000), S. 76–106, zur Verneuerten Landesordnung ebd., S. 88. 4 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Geheimer Rat, Loc. 10331/13, fol. 85r–86r, Johannes Kepler an Kurfürst Johann Georg von Sachsen, 19/29. Feb. 1628.

600 Alexander Schunka

Refier“ im böhmischen Nebenland Schlesien unter den Bedingungen von Dreißigjährigem Krieg und habsburgischer Rekatholisierungspolitik bemühte er sich parallel und prophylaktisch um eine Aufnahme im lutherischen Kurfürstentum. Er sollte faktisch nie darauf zurückkommen müssen, denn er ging tatsächlich ins schlesische Sagan und starb bereits 1630 während eines Aufenthalts in Regensburg. Nicht nur in seinem gelehrten Werk, auch biographisch scheinen für den Astronomen Kepler Kategorien von Ordnung, Harmonie und Sicherheit eine bedeutsame Rolle gespielt zu haben.5 Bei seiner Bitte an den Kurfürsten um Schutz und spätere Ansiedlung verhielt er sich freilich analog zu vielen anderen Protestanten, die schon vorab eine Auswanderung planten, wenn konfessionspolitische Veränderungen drohten und sich dadurch größere Konsequenzen für die eigenen Lebensumstände erwarten ließen. Prospektive Migranten schrieben Suppliken und Hilfsgesuche oft nicht erst in Zeiten unmittelbarer Not und Gefahr, sondern bereits zuvor.6 Andere unternahmen schon vor einer möglichen Emigration Erkundungsreisen und sahen sich nach Plätzen um, wo man sich im Exil aufhalten konnte, damit sie eben nicht in einem „unbekanten Refier“ landeten, wie Kepler sich ausgedrückt hatte.7 Wieder andere verlagerten Teile ihres Vermögens vorab an sichere Orte, falls die Situation zu gefährlich würde.8 In einigen grenznahen protestantischen Gegenden in unmittelbarer Nähe zu rekatholisierten Territorien bildeten sich darüber hinaus Kirchen-, Sozial- und Wirtschaftsstrukturen aus, die man bei Bedarf zum „Ausweichen“ verwenden konnte.9 Wenn es dann aber tatsächlich zu einer Auswanderung kam, so brachen 5

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Darauf verweisen nicht nur seine astronomischen Harmonievorstellungen, sondern auch in biographischer Hinsicht die Auswahl seiner Frau nach langer Prüfung, die Unterbringung der Familie in Kriegszeiten, die Verhandlungen mit dem Kaiser u. a., vgl. List, ­Kepler (wie Anm. 1) sowie jüngst Jürgen Hübner, Johannes Kepler. Astronomie als Theologie der Schöpfung, in: Institut für Europäische Geschichte (Hrsg.), Europäische Geschichte Online, Mainz 2010, http://www.ieg-ego.eu/huebnerj-2010-de (22. 06. 2012), mit der einschlägigen biographischen Literatur. Zum Supplikenwesen von Zuwanderern vgl. Alexander Schunka, Pragmatisierung konfessioneller Autorität. Zuwanderer im Kursachsen des 17. Jahrhunderts im Spiegel des Supplikenwesens, in: Joachim Bahlcke (Hrsg.), Glaubensflüchtlinge. Ursachen, Formen und Auswirkungen frühneuzeitlicher Konfessionsmigration in Europa (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa 4), Berlin 2008, S. 235–256. Aus dem Kontext hugenottischer Refugiés z. B. der Bericht des Buchhändlers Jacob Etienne, in: Jochen Desel/Walter Mogk (Hrsg.), Wege in eine neue Heimat. Fluchtberichte von Hugenotten aus Metz, Lahr-Dinglingen 1987, S. 93f. Beispiele aus dem Kontext polnischer Protestanten bei Wojciech Kriegseisen, Die Protestanten in Polen-Litauen (1696–1763). Rechtliche Lage, Organisation und Beziehungen zwischen den evangelischen Glaubensgemeinschaften (Jabloniana 2), Wiesbaden 2011, S. 151–154. Für den böhmisch-sächsischen Raum einschlägig zum ‚kleinen Grenzverkehr‘: Wulf W ­ äntig, Grenzerfahrungen. Böhmische Exulanten im 17. Jahrhundert (Konflikte und Kultur 14),

Sicherheitsstrategien von Migranten im Reich des 17. und 18. Jahrhunderts 601

viele Migranten nicht sofort alle Brücken hinter sich ab: Besitz wurde verpachtet, Geschäfte wurden so lange wie möglich weitergeführt, und manchmal lebte man noch im Exil vom Einkommen aus den Herkunftsgebieten. Die Option auf eine Rückkehr hielt man sich möglichst lange offen.10 Solche Strategien sind nicht spezifisch für die Emigrationen von evangelischen Bewohnern der habsburgischen Territorien im ‚langen‘ 17. Jahrhundert. Tatsächlich findet man eine derartige Überlebensplanung bei näherem Hinsehen unter europäischen Migranten ganz unterschiedlicher Herkunft immer wieder. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz taucht in ihren Briefen und Bittschriften genauso auf wie in entsprechenden Druckwerken, in denen oft die Hilfsbedürftigkeit und das Schutzbedürfnis der Verfolgten gegenüber potentiellen Unterstützern herausgestellt wurden. Der Wunsch nach Sicherheit auf Seiten frühneuzeitlicher Migranten liegt natürlich aus lebensweltlicher Perspektive durchaus nahe, denn kaum jemand stürzte sich und seine Familie unüberlegt ins Ungewisse oder verließ um des Glaubens willen Hals über Kopf seine vertraute Umgebung – was die aus der älteren Literatur überkommene und bisweilen noch in der neueren Forschung auffindbare Gegenüberstellung von „Glaube“ und „Heimat“ lange Zeit suggeriert hat.11 Die Sicherheitsinteressen und konkreten Sicherheitsstrategien frühneuzeitlicher Migranten lassen sich beispielhaft im Umfeld der großen konfessionell geprägten Wanderungen im 17. und 18. Jahrhundert greifen und lassen sich zugleich wohl als typische Phänomene konfessioneller Migration verstehen. Drei besonders augenfällige Aspekte können dabei heuristisch getrennt und hervorgehoben werden: die Sicherheitserwartungen und -hoffnungen, wie sie in der Migrantenpublizistik formuliert wurden, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Einwanderern und Aufnahmegesellschaften bei den konkreten Strategien zur Erlangung und Aufrechterhaltung von Schutz und Sicherheit sowie schließlich die Rolle von Mittelsleuten (Brokern) zwischen Migrantengruppen und lokalen Gesellschaften, denen im Aushandeln von Schutz und Chancen Konstanz 2007, z. B. S. 320–326; für Schlesien zusammenfassend: Alexander Schunka, Protestanten in Schlesien im 17. und 18. Jahrhundert, in: Rudolf Leeb/Martin Scheutz/ Dietmar Weikl (Hrsg.), Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert) (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 51), Wien-München 2009, S. 271–297, hier S. 286–289; weitere Beispiele aus anderen Regionen in den entsprechenden Beiträgen im selben Band. 10 Desel/Mogk, Wege (wie Anm. 7), S. 100, 119; vgl. für die Zuwanderer in Sachsen z. B. ­Alexander Schunka, Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert (Pluralisierung und Autorität 7), Münster u. a. 2006, S. 32, 98, 147. 11 Z. B. Michaela Hrubá (Hrsg.), Víra nebo vlast? Exil v Českých dějinách raného novověku, Ústí nad Labem 2001.

602 Alexander Schunka

für Zuwanderer auf der einen und den Sicherheits- und Ordnungsbedürfnissen aufnehmender Gemeinwesen auf der anderen Seite eine besondere Rolle zukam. Dass sich das Augenmerk der Forschung zu religiösen bzw. konfessionellen Migrationen in der Frühen Neuzeit auf Fragen nach den Interaktionen der beteiligten Institutionen und Akteure und nach dem Aushandeln migratorischer Praktiken richtet, ist eine neuere Entwicklung.12 Lange Zeit hat man bevorzugt einzelne Migrantengruppen auf ihrem Weg zwischen Auswanderungsgebiet und Ansiedlungsräumen begleitet,13 ihre Siedlungs- und Wirtschaftsgewohnheiten in den Zielgebieten und ihr Integrationsverhalten im Blick auf einen längerfristigen Nutzen für die Aufnahmegesellschaft verfolgt.14 Außerdem ist versucht worden, religiöse Wanderungsbewegungen in ein typologisierendes Schema frühneuzeitlicher Migrationen einzusortieren – von erzwungener über marktbedingte bis zu gelenkter Migration –, wobei die empirischen Befunde häufig die Grenzen solcher Typologien aufzeigen.15 Einig ist man sich inzwischen aber zunehmend darüber, dass Migrationen nicht unbedingt linear zwischen einem Auswanderungsgebiet und einer Einwanderungsregion verlaufen, sondern ein komplexes Gemisch aus kleinräumigen Ortswechseln, Weiterwanderungen, Rückwanderungen, mithin aus komplizierten Verschränkungen zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaften darstellen können.16 Wie diese migratorische Komplexität mit den Migra­ 12

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Vgl. z. B. die Beiträge in: Henning P. Jürgens/Thomas Weller (Hrsg.), Religion und ­Mobilität. Zum Verhältnis von raumbezogener Mobilität und religiöser Identitätsbildung im frühneuzeitlichen Europa (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 81), Göttingen 2010; Ulrich Niggemann, Konflikte um Immigration als „antietatistische“ Proteste? Eine Revision der Auseinandersetzungen bei der Hugenotteneinwanderung, in: HZ 286 (2008), S. 37–61. Beispielhaft das monumentale Werk von Theo Kiefner, Die Waldenser auf ihrem Weg aus dem Val Cluson durch die Schweiz nach Deutschland, 5 Bde. Stuttgart (später Göttingen) 1980–2007. Vgl. etwa Heinz Schilling, Confessional Migration as a Distinct Type of Old European Longdistance Migration, in: Simonetta Cavaciocchi (Hrsg.), Le migrazioni in Europa Secc. XIII–XVIII, Firenze 1994, S. 175–189 und weitere Veröffentlichungen desselben Autors; zu Selbstbild und Traditionsbildung der Hugenotten vgl. jetzt den Überblick bei ­Ulrich ­Niggemann, Hugenotten, Köln u. a. 2011, S. 99–108. Thomas Klingebiel, Migrationen im frühneuzeitlichen Europa. Anmerkungen und Überlegungen zur Typologiediskussion, in: Thomas Höpel/Katharina Middell (Hrsg.), Réfugiés und Émigrés. Migration zwischen Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert, Leipzig 1997, S. 23–38; Matthias Asche, Migrationen im Europa der Frühen Neuzeit – Versuch einer Typologie, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 32 (2004), S. 74–89; anders ­Alexander Schunka, Glaubensflucht als Migrationsoption. Konfessionell motivierte Migrationen in der Frühen Neuzeit, in: GWU 56 (2005), S. 547–564. Auslösend wirkte der Aufsatz von Nina Glick Schiller/Linda Basch/Cristina Szanton Blanc, From Immigrant to Transmigrant. Theorizing Transnational Migration, in: Anthropological Quarterly 68 (1995), S. 48–63; vgl. auch den Forschungsüberblick bei Jochen Oltmer,

Sicherheitsstrategien von Migranten im Reich des 17. und 18. Jahrhunderts 603

tionsregimen frühneuzeitlicher Gemeinwesen vereinbar ist, deren Interessen von organisierten Ansiedlungsmaßnahmen bis zur Ausschließung unerwünschter Fremder, von postulierter Monokonfessionalität bis zu bemerkenswerter religiöser Offenheit reichen konnten, ist noch lange nicht in allen Einzelheiten erforscht.17 Darüber hinaus geraten migrantische Netzwerke und Diasporen von Minderheiten zunehmend ins Interesse.18 Manchmal lässt sich dann freilich nicht mehr klar zwischen Mehrheit und Minderheit, zwischen ‚Wandernden‘ und ‚Sesshaften‘ unterscheiden – gerade dann, wenn man in Rechnung stellt, dass räumliche Mobilität in der Frühen Neuzeit schlicht eine ganz verbreitete Option der Lebensbewältigung war. Wenn unter bestimmten Umständen nahezu jeder frühneuzeitliche Mensch in die Situation eines Ortswechsels oder zumindest in den Kontakt mit Migranten kommen konnte, dann bedeutet dies aber auch, dass Migrationsoptionen und Mobilitätstechniken, einschließlich dem Streben nach Sicherheit und Schutz, nach Ordnung und ‚auskömmlicher Nahrung‘, für die frühneuzeitliche Bevölkerung allgemein virulent waren. Bei der Lebensbewältigung und bei der Befriedigung elementarer Sicherheitsbedürfnisse waren Migranten in gewissem Umfang immer auch auf Selbsthilfe angewiesen, die sie nicht in Opposition zu einer aufnehmenden Gesellschaft, sondern im Dialog mit ihr aushandelten. In dieser Hinsicht unterscheiden sich religiös bzw. konfessionell legitimierte, hier: rekatholisierungsbedingte Migrationen nicht so sehr von anderen Wanderungsbewegungen. Aus einer solchen akteursbezogenen Perspektive geht es weniger um das Problem, wie sich Migranten und Nichtmigranten dichotomisch gegenüberstehen, sondern darum, wie sich Migrantenstrategien und Migrationsregime überlappen, ergänzen, beeinflussen oder gegebenenfalls miteinander in Konflikt treten. Fragt man danach, wie Migranten möglicherweise bestimmte Migrationsregime instrumentalisieren, prägen und verändern, dann kann das Augenmerk auf migrantische Sicherheitsbedürfnisse und Sicherheitsstrategien hierfür einen Zugang bieten.

Migration im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 86), München 2010, S. 61–64. 17 Vgl. die Beiträge in einem jüngeren Themenheft von Geschichte und Gesellschaft: Jochen Oltmer/Ute Frevert (Hrsg.), Europäische Migrationsregime (GG 35/1, 2009), ­Göttingen 2009. 18 Vgl. z. B. einige Beiträge in Susanne Lachenicht (Hrsg.), Religious Refugees in Europe, Asia and the Americas, Hamburg 2007; jetzt auch David Worthington, British and Irish Experiences and Impressions of Central Europe, c. 1560–1688 (Politics and Culture in Europe, 1650–1750), Farnham 2012.

604 Alexander Schunka

II. Sicherheitsargumente in der Migrantenpublizistik

Zunächst ist wenig überraschend, dass Sicherheitsaspekte im Kontext von Wanderungen der Rekatholisierungszeit eine große Bedeutung besaßen – in der theoretischen Auseinandersetzung genau wie in der Praxis. Ausgehend von der zeitgenössischen Publizistik von und für Migranten lassen sich hier vor allem drei Bereiche unterscheiden: Zum einen erbauliche Predigten und Gebetbücher, die auf Seiten (potentiell) Betroffener für Glaubensfestigkeit und emotionale Sicherheit sorgen sollten. Sie sollten dabei helfen, die Leiden von Exil und Emigration standhaft zu ertragen. Ihre Autoren waren üblicherweise Geistliche, die selbst Leidtragende konfessionspolitischer Homogenisierung geworden waren. Teilweise richteten sich solche Publikationen allerdings nicht nur explizit an Migranten, sondern auch auf die Erbauung ‚normaler‘ Protestanten, denen man die Glaubensverfolgten als leuchtende Beispiele konfessioneller Standhaftigkeit nahebrachte.19 Erbauliche Veröffentlichungen zum religiösen Exil hingen außerdem oft mit den konkreten Sicherheitsbedürfnissen ihrer Verfasser zusammen: Sie dienten gleichsam als Qualifikation und Eintrittskarte für die Autoren, um im Exil ihr Überleben zu sichern und an neue Positionen zu gelangen.20 Ein zweiter Bereich exulantischer Publizistik, in dem man sich mit Sicherheitsaspekten auseinandersetzte, sind Fluchtberichte oder Klageschriften, die in drastischer Weise von den Verfolgungen und dem Leid verfolgter Protestanten erzählten und die darauf abzielten, politische oder auch finanzielle Unterstützung für konkrete Migrantengruppen zu erhalten. Solche Traktate richteten sich dann oft an Personenkreise, von denen man konkret Hilfe und Schutz erwartete oder erhoffte: Herrscher, Politiker, aber auch andere potentielle Geldgeber aus der Bevölkerung.21 Hier wurde weniger erbaulich argumentiert als vielmehr gleichsam 19

Vgl. etwa das wohl an Geistliche gerichtete, umfangreiche ‚Exulantenhandbuch‘ des ­Coburger Superintendenten Andreas Kesler, Patientia christiana. Außführlicher Tractat Von der Kirchen Christi Persecution, Coburg 1630, z. B. S. 66f. und passim. 2 0 So etwa bei den Prager Geistlichen Scherertz und Natus, vgl. Sigismund Scherertz, Vale pragense. D. i. Relation von dem Abzugk der vier teutschen evangelischen Prediger von Prag, Lüneburg 1624; Fabian[us] Natus, Vermahnungs-Predigt Zur Christlichen Beständigkeit. Gehalten in der Königlichen Haupt und alten Stadt Praga/ bey der deutschen Evangelischen Kirchen zum Salvator genandt/ den 11. Martii Anno 1622 […], Leipzig [1623]. Der bettelnde Pfarrer Wenzeslaus Altwasser hatte seine eigenen Schriften in sein Kollektenbuch eingebunden, das er den Almosengebern vorzeigte, vgl. Alexander Schunka, Exulanten, Konvertiten, Arme und Fremde. Zuwanderer aus der Habsburgermonarchie in Kursachsen im 17. Jahrhundert, in: Frühneuzeit-Info 14 (2003), S. 66–78. 21 Vgl. neben anderen die folgende, strategische englische Übersetzung im Kontext der oberungarischen Protestantenverfolgung: Bengt Oxenstierna, The case of the persecuted and oppressed Protestants in some parts of Germany and Hungary. Laid open in a memorial which was lately presented at Vienna to his Imperial Majesty, London 1674; vgl. auch die Zuschreibung an den gerade gekrönten Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg in der

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zeithistorisch – die Bedürftigkeit und Unterstützungswürdigkeit einer Personengruppe legitimierte sich demnach aufgrund dramatischer Verfolgungsschicksale. Der dritte Komplex exulantischer Literatur, der freilich insgesamt am überschaubarsten sein dürfte, bot praktische Hilfestellung für Betroffene. Das Spektrum reichte von Ratschlägen, wie man als verfolgter Glaubensflüchtling mit Menschen der Aufnahmegesellschaft umgehen sollte, bis hin zu reiseführerartigen Übersichten von Zielorten, die auf die Bedürfnisse protestantischer Migranten abgestimmt waren. Auch juristische Abhandlungen zum Auswanderungsrecht lassen sich in diesen Bereich einordnen.22

III. Siedlungssicherheit

Es ist bei vielen, wenngleich lange nicht bei allen der erwähnten Schriften möglich, ihre praktische Verwendung durch Migranten nachzuvollziehen, etwa im Kontext von Spendensammlungen.23 Um einen Einblick in die Praxis der Herstellung von Sicherheit für Migranten zu erhalten, muss man darüber hinaus allerdings administrative Quellen heranziehen. Dabei zeigt sich, wie eng die Sicherheitswünsche von Migranten und die Sicherheitserwartungen der Verwaltungen miteinander verknüpft sein konnten – nicht zuletzt deshalb, weil Zuwanderer im Interesse der eigenen Sicherheit auf die Erwartungen einer Aufnahmegesellschaft reagieren mussten (und umgekehrt). Auch hier wird deutlich, dass sich Dichotomien zwischen Wandernden und Sesshaften manchmal geradezu auflösen konnten. Schon das eingangs erwähnte Beispiel der Bittschrift des Astronomen ­Johannes Kepler verweist darauf, dass Migranten weder die Entscheidung zur Auswanderung noch die Wahl eines Zuwanderungsortes dem Zufall überließen. Die meisten Wanderungsbewegungen gingen denn auch zunächst in grenznahe Gebiete, die man möglichst vorher schon kannte.24 Ein kurzfristiges ‚Ausweichen‘ über die Grenze oder eine Ansiedlung nahe dem Heimatland ließ die Möglichkeit historiographisch-agitatorischen Schrift von Charles Ancillon, Histoire de l’Etablissement des François Refugiez dans les Etats de son Altesse Electorale de Brandebourg, Berlin 1690; ferner Georg Holyk, Kurtze und wahrhafftige Erzehlung Des betrübten und gar traurigen Zustandes Des König-Reichs Böhmen, In welchem es, insonderheit in den letzten Verfolgungs-Jahren der Religion halben gerathen […], Amsterdam 1679 und weitere Schriften desselben Autors. 2 2 Z. B. Johannes Burius, Einfältige Motiven an hohe und niedrige evangelische StandesPersonen, den unglüklichen Exulanten Gutes zu thun, o. O. 1680; Christoph Daniel Klesch (resp.), Dissertatio de jure peregrinantium, Jena 1680 (mehrfach aufgelegt). 2 3 Schunka, Exulanten (wie Anm. 20); Holyk, Erzehlung (wie Anm. 21). 24 Dies gilt für Böhmen im sächsischen Erzgebirge, für viele Hugenotten bei ihrer Orientierung in die Schweiz bzw. nach Genf, in die Pfalz oder in die Niederlande, für österreichische Emigranten bei ihrer Emigration nach Süddeutschland und insbesondere in die Grafschaft Ortenburg u. v. a.

606 Alexander Schunka

zur Rückkehr möglichst lange offen, und von solchen Rückkehrmöglichkeiten machten offensichtlich viele Menschen Gebrauch, auch wenn Rückwanderungen im Kontext religiös legitimierten Exils der Frühen Neuzeit bisher schlecht erforscht sind. In zahlreichen Fällen ließ man zudem seinen Besitz in der Heimat so lange weiterbewirtschaften, wie dies möglich war – um sich Rückkehroptionen offenzuhalten oder um im Exil von den Erträgen zu leben. Mitunter wurden auch langwierige gerichtliche Prozesse mit Behörden oder Einzelpersonen in der ehemaligen Heimat angestrengt, um für den Verlust bestimmter Güter entschädigt zu werden.25 Sicherheitserwägungen betrafen in besonderem Maße auch Fragen der Ansiedlung: Genauso wie Migranten selten allein reisten, sondern möglichst in kleinen Gruppen, so bemühten sich Zuwanderer angesichts der Überlebenswichtigkeit sozioökonomischer Netze in der frühneuzeitlichen „Anwesenheitsgesellschaft“26 auch in ihrem Siedlungsverhalten um enge Verbindungen zu Landsleuten und Schicksalsgenossen. Dies führte vielerorts zur entweder obrigkeitlich geförderten oder eher zufälligen Bildung ethnisch, regional oder anderssprachlich geprägter Migrantengemeinden oder -viertel, innerhalb derer sich eine eigene kirchliche, soziale und/oder ökonomische Infrastruktur herausbildete. Derartige Ansiedlungsbemühungen mündeten etwa bei den hugenottischen Refugiés und böhmischen Siedlern in Brandenburg in eigene Migrantenkolonien, denen unter Umständen auch eine gesonderte rechtliche Ordnung zugrunde lag – von obrigkeitlichen Siedlungsinitativen, die auf Segregation abzielten und die nicht nur soziale Sicherheit und ökonomische Nischenbildung für Migranten bedeuteten, sondern auch den Ordnungsanspruch aufnehmender Gemeinwesen widerspiegelten, nahm man oft erst im Lauf des 18. Jahrhunderts bewusst Abstand. Wo aber Migrantenviertel oder -kolonien bestanden, da entwickelten diese wiederum eine kaum zu steuernde Sogwirkung und zogen nicht selten auch Menschen aus völlig anderen Gegenden an, die sich dann entsprechend unter die „Böhmen“ oder die „Franzosen“ mischten.27 2 5

Desel/Mogk, Wege (wie Anm. 7), S. 100, passim. Für die Salzburger vgl. Rainer Walz, Die Ansiedlung der Salzburger Emigranten in Ostpreußen, in: Klaus Militzer (Hrsg.): Probleme der Migration und Integration im Preussenland vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts (Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung 21), Marburg 2005, S. 105–140. 2 6 Mit paradigmatischem Anspruch: Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: GG 34 (2008), S. 155–224. 27 Vgl. Johann Heinrich Gottlob von Justi/Johann Beckmann, Grundsätze der Policeywissenschaft, 3. Aufl. Göttingen 1782, S. 81f., S. 141; zu den Ansiedlungen in BrandenburgPreußen grundlegend: Matthias Asche, Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbewältigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswieder­ aufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Münster 2006;

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Unverzichtbares Kommunikationsmittel zwischen Migranten und Aufnahmeinstitutionen waren Suppliken. Gerade in Bittschriften an die neuen Obrigkeiten spielten Sicherheitswünsche der Migranten eine zentrale Rolle. Die Suche nach „Sicheren Orten“ betraf aber nicht nur Leib und Leben, sondern in topischer Überhöhung auch eine „Sicherheit des Gewissens“. Dabei war der Wunsch nach Schutz durch einen Herrscher nicht territorial, sondern personell konnotiert: Wenn ein Exulant einmal Schutz des Monarchen genossen hatte, dann ließ sich daraus eine Sicherheitserwartung für die gesamte Familie und manchmal gleichsam über mehrere Generationen ableiten, auch wenn Teile der Familie sich gar nicht oder nicht mehr im Zuwanderungsland aufhielten. Wünsche nach fürstlicher Intervention durch einen protestantischen Monarchen konnten damit auch Angehörige einschließen, die sich noch in katholischen Ländern aufhielten.28 Umgekehrt erwarteten Aufnahmebehörden die „Versicherung“ der Migranten, dass sie „ruhig, ehrlich, still und friedlich“ leben würden, dass sie sich (entgegen den Wünschen vieler Migranten) nicht zu nah an der Grenze ansiedelten und Stefi Jersch-­Wenzel, Juden und „Franzosen“ in der Wirtschaft des Raumes Berlin-Brandenburg zur Zeit des Merkantilismus (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 23), Berlin 1978. 28 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Geheimer Rat, Loc. 8753/3, 58r–59r, Dresden 4. April 1648: „Euer Churfl. Durchl. gebe ich aus höchttringender Noth underthänigst zuerkennen, was maßen mein lieber Vater seel. […] umb sicherheit des gewißens […] in Euer Churfl. Durchl. Landen sich begeben, undt sonderlich erstlich Zu Plauen, und hernach in dero freyen Bergkstadt Marienberg niedergelaßen, alda er sich auch euer Churfl. Durchl. underthänigst Pflichtbahr gemacht, mich erzeuget, und endlich im Eylfften Jahr seines Exilii mich sampt der Mutter durch seinen Zwar seel., doch uns gar Zu frühen Todt in den elenden betrübten Witben undt Wäysenstandt gesetzet undt hinterlaßen, in welchen wir so lange verblieben, biß […] gedachte meine liebe Mutter […] ein Daniel Schlutitzky Bürger undt des Raths in gedachter Stadt Saatz, ordentlicher weiße Zur Ehe begehret worden, in welche sie nicht eher bewilligen wollen biß von der hohen Geistlichkeit […] consens einkommen, das sie wegen ihrer Evangelischen religion unangefochten, sicher bleiben, undt gelaßen werden sollte […]. So werde ich doch leider itzo kurtz hero von einem guten Freundt glaubwürdig berichtet, das ihr gewißen sehr gekräncket werde, undt sie […] von EE. Rath daselbst mit einem schweren arrest beleget worden, deßelben sie nicht zuerlaßen, biß sich gemelte meine liebe Mutter Zur Röm. Catholischen religion bequemen thäte. […] Gelanget demnach an dießelbe [den Kurfürst, A.S.] mein eüserstes underthänigstes gehorsambstes flehen, Sie geruhen in favorem der reinen Evangelischen religion undt des heyl. Ehestandes, mir Euer Churfl. Durchl. Landseingebohren gehorsambsten underthanen, die hohe Churfürstl. Gnade Zuerweisen undt eine Gnädigste intercession […] Gnädigst ergehen Zulaßen, damit […] meine liebe Mutter bey Ihrem Ehemanne daselbst zu Saatz ohne anstos ihres gewißens undt bey freyheit ihrer Evangelischen religion die ubrige Zeit ihres lebens gleich anders so ohne ärgernüs ihres Glaubens da leben, trew verbleiben, oder kraft des beneficii Emigrandi an andere orth sich frey sicher undt ungehindert begeben dörfte […].“

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auch nicht weiterzogen oder gar wieder in ihre alte Heimat zurückgingen.29 In Sachsen forderte man von Migranten Garantien in Form von Untertaneneiden und begründete dies damit, der Kurfürst müsse sich „derer jenigen welche Unsers schuzes genießen wollen, versichern“.30 Dies war allein schon deshalb nötig, weil angesichts verbreiteter Rückkehrhoffnungen oft nur wenige Migranten bereit waren, überhaupt irgendwelche Verpflichtungen gegenüber dem neuen Gemeinwesen einzugehen. Was man aus Sicht der Migranten für den Wunsch nach Flexibilität und damit ebenfalls für eine – wenngleich anders gelagerte – Sicherheitsstrategie halten kann, das wurde auf der Seite der Obrigkeiten leicht als unstetes Verhalten interpretiert. Dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle: Ein ähnliches Problem herrschte noch im friderizianischen Preußen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Im Zusammenhang mit der Bruchkolonisation der Hohenzollern an Oder, Warthe und Netze bestand ein gravierendes Problem darin, dass man den Neusiedlern nicht glaubhaft garantieren konnte, dass sie von den Militärwerbungen ausgenommen waren. Dies wiederum schreckte zahlreiche potentielle Kolonisten ab und führte auch dazu, dass Neusiedler wieder aus Ansiedlungen flohen, was die Behörden dann wiederum auf das „unruhige Wesen“ der Migranten zurückführten.31 Die Gewähr von Sicherheit und Schutz durch die Obrigkeiten korrespondierte freilich mit deren Wunsch nach Gegenleistungen seitens der Migranten: Das konnten Versicherungen von Loyalität und Gehorsam gegenüber dem aufnehmenden Monarchen sein, deren Nichteinhaltung Migranten zu Rechtsbrechern machen konnte und sie rhetorisch in die Nähe unbotmäßiger Unruhestifter oder 2 9

Staatsfilialarchiv Bautzen, Oberamt 4278, fol. 53r, Johann Georg I. an den Landvogt der Oberlausitz, Dresden 12. April 1652: „Haben der notturfft erachtet Euch hiervon Zu dem ende ungeseumbte nachricht Zugeben, damit Ihr alsbaldt bey den angrenzenden gegen Böhmen die ernste Ambtsverfügung thut, daß sie nicht allein in aufnehmung solcher leutte behutsamb gehen, und Sie entweder von sich weiter ins Land weisen, oder da Sie nach gelegenheit der umbstände etwa auf eine wenige Zeit sich nieder thun wollen, von ihnen versicherung nehmen, daß sie ruhig, ehrlich, still und friedlich leben, in Böhmen aber sich nicht begeben, vielweniger gegen iemanden rach und frevel iezo oder künfftig verüben wolten und solten.“ 3 0 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Geheimer Rat, Loc. 30398, fol. 4r, Kurfürst an Schösser und Räte, [Dresden] 14. August 1654: „Nun dann nicht unbillich, daß wir Uns derer jenigen welche Unsers schuzes genießen wollen, versichern Alß begehren wir, ihr wollet die, welche sich nicht seßhafftig gemachet, und also den Unterthanen Eyd nicht abgeleget, vor euch erfordern, diese unsere Anordnung eröffnen, und dahin anhalten, daß Sie sich, nach Inhalt inliegender Juramentsform verpflichten sollen.“ 31 Zit. bei Gustav Schmoller, Die ländliche Kolonisation des 17. und 18. Jahrhunderts [1886], in: Otto Büsch/Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Moderne Preußische Geschichte 1648–1947. Eine Anthologie Bd. 2 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 52,2), Berlin-New York 1981, S. 911–950, hier S. 924.

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gar von Deserteuren rückte.32 Mit einer Ansiedlung verknüpften sich aber auch längerfristige wirtschaftliche Erwartungen, wie sich dies etwa in den preußischen Kolonisationsmaßnahmen oder allgemein in der Privilegienpolitik im Reich seit dem späten 17. Jahrhundert widerspiegelt.33 Manchmal wurden selbst Geldzahlungen erwartet: Kurfürst Johann Georg I. von Sachsen forderte 1632 von den böhmischen Exulanten Darlehen zur Unterstützung seiner Armee, weil sich seine Soldaten gemeinsam mit den Schweden immerhin gerade daran machten, Böhmen für den Protestantismus zurückzuerobern. Die Exulanten reagierten darauf äußerst zurückhaltend, und man kann hin und wieder vermuten, dass dies nicht ausschließlich in deren akutem Geldmangel begründet lag, sondern eher in einem tieferliegenden Misstrauen.34 Hier wie in anderen Zusammenhängen lässt sich annehmen, dass Sicherheit für frühneuzeitliche Migranten gerade in der größtmöglichen Umgehung obrigkeitlicher Abhängigkeiten und Verpflichtungen bestand. Das Aushandeln von Schutz und Sicherheit zwischen Migranten und Obrigkeiten gerade im Rahmen administrativer Korrespondenz und insbeson­dere im Supplikenwesen erweckt den Eindruck, dass die Zuwanderer vor allem rhetorisch den Erwartungen der Verwaltung entgegenkamen35 – indem sie ihre Standhaftigkeit im Glauben, ihre Exulantenschicksale, ihre Verfolgung und Bedürftigkeit betonten. Eine christliche Beständigkeit, die sich Exulanten gern in Suppliken und Selbstzeugnissen zuschrieben, stand allerdings in einem gewissen Widerspruch zu ihrer faktischen Mobilität und zu ihrer Zurückhaltung beim Eingehen rechtlicher oder administrativer Bindungen. Und dies wiederum erschwerte ihre Erfassung und Kontrolle. Insofern ist es kaum überraschend, 3 2

Vgl. Erika Herzfeld, Preußische Manufakturen, Berlin 1994, S. 150; Jersch-Wenzel, Juden (wie Anm. 27), S. 91, 141–144. 3 3 Zuletzt Ulrich Niggemann, Die altständische Antwort auf die soziale Herausforderung Migration. Privilegien als Mittel staatlicher Einwanderungspolitik im Europa der ­Frühen Neuzeit, in: Joachim Bahlcke/Rainer Leng/Peter Scholz (Hrsg.), Migration als soziale Herausforderung. Historische Formen solidarischen Handelns von der Antike bis zum 20. Jahrhundert (Stuttgarter Beiträge zur Historischen Migrationsforschung 8), Stuttgart 2011, S. 183–200. 3 4 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Geheimer Rat, Loc. 10833, fol. 12r ff. zu Exulanten­ darlehen. 3 5 Z. B. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Geheimer Rat, Loc. 10331/13, fol. 117r–v, W ­ itwe ­Kronberger an Rat Dresden, 6. Juni 1628: Es sei „ohne weitleufftiges erinnern bekandt, was es bishero mit den Evangelischen unter der Cron Böhmen vor einen betrubten Zustand gehabt, Auch wie solche wegen Irer bestandigkeit alle das Irige verlaßen und mit den rucken ansehen mussen […]. Wan dan mir armen Witben, mit meinen Sohn und Tochter, eben derogleichen Gott erbarme es, begegnet, und in Ir. Churfl. Durchl. Landen, bevoraus in dero Vestung alhier, ich mich gern niederlaßen, etwas keuflichen an mich bringen, und Burgerliche Nahrung pflegen woltte.“

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wenn die Obrigkeiten längerfristig versuchten, gegenzusteuern und die Situation gegenüber unkontrollierter Zuwanderung verschärften. Um 1700 häufen sich Mandate, nach denen von Migranten Pässe und Nachweise gefordert und amtliche Anmeldepflichten definiert wurden, die Gültigkeit von Dokumenten befristet und falsche Exulanten verfolgt werden sollten. Zunehmend versuchten sich die Verwaltungen ihrer Zuwanderer zu versichern – mit Gesetzen, die sich freilich oft nicht durchsetzen ließen.36

V. Mittelsleute als Sicherheitsstifter

Eine andere, deutlich flexiblere und seit dem 16. Jahrhundert immer wieder auffindbare Option im Kontext religiösen Exils ist die Instrumentalisierung bestimmter Mittelsleute sowohl von Seiten der Migranten als auch der aufnehmenden Obrigkeiten. Solche ‚Broker‘ verfügten oft selbst über einen Migrationshintergrund, hatten sich aber bereits innerhalb der administrativen oder kirchlichen Strukturen des Aufnahmelands etabliert. Sie besaßen das Wissen beider Seiten und konnten Vertrauen schaffen – und davon profitierten unter Umständen die Migranten ebenso wie die Verwaltungen. Broker dienten idealiter sowohl den Migranten als auch der Aufnahmegesellschaft zur Befriedigung elementarer Sicherheitsbedürfnisse. Bei ihnen verwischten sich bisweilen auch die Grenzen zwischen beiden Seiten. Faktisch profitierten dabei aber auch nicht selten die Vermittler selbst – durch Kontakte, Geschenke oder berufliche Karrieren. Im Rahmen einer frühneuzeitlichen Face-to-Face-Gesellschaft kommt solchen Vermittlern bei der Schaffung eines Sicherheitsbewusstseins zwischen Migranten und Aufnahmeinstitutionen eine besondere Rolle zu. Bei den Böhmen, Österreichern, Ungarn, Hugenotten, Waldensern, Salzburgern und anderen finden sich solche Broker häufig unter Geistlichen, hin und wieder auch unter Inhabern politischer Ämter. Zu nennen wären etwa der Regensburger ­Salomon Lentz, der Pirnaer Böhme Samuel Martini, der Augsburger Samuel ­Urlsperger, der Berliner Charles Ancillon, der Waldenser Henri Arnaud, der Niederländer ­Pieter Valkenier und viele weitere, die manchmal einflussreiche Migrantendynastien begründeten (Martini, Klesch, Ancillon).

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Zu diesem Problemkomplex vgl. Karl Härter, Recht und Migration in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft. Reglementierung – Diskriminierung – Verrechtlichung, in: Rosemarie Beier-de Haan (Hrsg.), Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500–2005, B ­ erlin 2005, S. 50–71; Alexander Schunka, Die Grenzen der Solidarität. Armut, Mobilität und Betrug im frühneuzeitlichen Europa, in: Bahlcke u. a. (Hrsg.), Migration (wie Anm. 33), S. 233–254; klassisch zum Phänomen nicht durchgesetzter Gesetze: Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates? in: GG 23 (1997), S. 647–663.

Sicherheitsstrategien von Migranten im Reich des 17. und 18. Jahrhunderts 611

Gerade am Beispiel Brandenburg-Preußens, das aufgrund seiner Peuplierungsmaßnahmen seit dem Dreißigjährigen Krieg zum deutschen Einwanderungsland par excellence avancierte, lässt sich die besondere Funktion solcher Mittelsleute vielfach feststellen. Ein in diesem Kontext weniger bekanntes, gleichwohl aussagekräftiges Beispiel ist der langjährige brandenburgisch-preußische Hofprediger Daniel Ernst Jablonski (1660–1741). Jablonski entstammte aus einer Familie von Exulanten und hochrangigen Angehörigen der böhmischen Brüderunität, einer aus dem Hussitentum entstandenen evangelischen Religionsgemeinschaft, die sich im Zuge der Rekatholisierung der böhmischen Länder schließlich in Polen etabliert hatte. Sein Urgroßvater war als ‚Senior‘ der Unität an der Krönung des böhmischen ‚Winterkönigs‘ Friedrich von der Pfalz beteiligt gewesen, sein Großvater mütterlicherseits war der Gelehrte Johann Amos Comenius und sein Vater, der selbst noch in Böhmen geboren worden war, hatte ebenfalls das Seniorat der Unität bekleidet. Jablonski wurde in der Nähe von Danzig geboren und hatte nach seiner Ausbildung zunächst verschiedene Schul- und Kirchenämter in Polen und Preußen inne, bevor er 1691 zum reformierten Hofprediger in Königsberg wurde. Diese Anstellung hatte er vor allem den in Königsberg ansässigen Exilbriten und Polen zu verdanken, weil er neben Deutsch sowohl Englisch als auch Polnisch sprach, weil er bereits einige Jahre in Großbritannien verbracht hatte, mit einer Exilschottin verheiratet war und man sich von ihm eine mehrsprachige und gleichsam multikulturelle geistliche Betreuung erhoffte.37 Schon zwei Jahre später folgte allerdings Jablonskis Berufung auf ein Hofpredigeramt in Berlin. Hier wurde er schnell zum politischen Berater und Experten für britische ebenso wie für ostmitteleuropäische Konfessionspolitik. Dazu qualifizierten ihn nicht nur seine im zeitgenössischen Rahmen ausgezeichneten Kenntnisse Großbritanniens und Polens und seine entsprechenden Kontakte, sondern auch die Tatsache, dass er seit 1699 selbst das Seniorat und damit ein zentrales Leitungsamt der böhmisch-polnischen Brüderunität innehatte. Jablonskis Weihe zum extraterritorial ansässigen Senior dieser Minderheitskirche hing ganz entscheidend mit Sicherheitserwägungen der Unität zusammen. Ein Kirchenoberhaupt, das im Ausland residierte, noch dazu unter einem Monarchen, der sich selbst als oberster Schützer der Protestanten Mitteleuropas verstand, konnte das Über-

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Die Gründe für die Anstellung gehen hervor aus: Geheimes Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA, Rep. 7 Preußen Nr. 69 b, fol. 158–169 (1691). Zu den Familienverhältnissen vgl. Joachim Bahlcke, Comenius – Figulus – Jablonski. Eine mitteleuropäische Familie zwischen Heimat und Exil, in: Joachim Bahlcke/Bogusław Dybaś/Hartmut Rudolph (Hrsg.), Brückenschläge. Daniel Ernst Jablonski im Europa der Frühaufklärung, Dößel 2010, S. 32–51.

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leben dieser Kirche auch bei noch so harten Rekatholisierungsmaßnahmen im polnisch-litauischen Unionsstaat gewährleisten.38 Der böhmisch-polnisch-preußische Hofprediger vermittelte in den folgenden Jahren Auswanderer nach Großbritannien, er brachte Ungarn in Brandenburg unter, organisierte mehrfach internationale Spendensammlungen für polnische Protestanten und war eine wichtige Anlaufstelle für protestantische Verfolgte verschiedener Couleur: von Orangeois über Ungarn und Polen bis zu Schweizern.39 Insgesamt aber zielten seine Interessen nicht primär auf die Ansiedlung von Migranten, sondern auf eine Stärkung des internationalen Protestantismus. Als Preußen versuchte, polnische Protestanten zur Emigration ins Nachbarland zu animieren, entwickelte er im Einklang mit der Brüderunität Pläne gegen diese Ansiedlungen und für die Unterstützung der Protestanten vor Ort – eine Option, die er für sicherer hielt.40 Das heißt, wenn es um die polnischen Protestanten ging, war er seinem Monarchen gegenüber nicht uneingeschränkt loyal. Er betrachtete sich selbst als Pole, wenn er mit seiner polnischen Kirche korrespondierte – in Polen wurde er dafür manchmal als Preuße angefeindet.41 Jablonski brachte es durch seine Vermittlertätigkeit und seine guten Kontakte zu einer nicht zu unterschätzenden zeitgenössischen Berühmtheit: im Osten Europas ebenso wie in England, wo er als Experte für verfolgte Protestanten Kontinentaleuropas galt.42 Persönlich brachte ihm die Tatsache, dass er auch für die Kapitalanlagen polnischer Protestanten in Preußen zuständig war, wohl auch einen gewissen Profit ein. Seinen Beziehungen zu protestantischen Ungarn 3 8

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Joachim Bahlcke, Glaubenssolidarität und Öffentlichkeit. Antworten auf religiöse Diskriminierung und Verfolgung in Ostmitteleuropa, in: ders. u. a. (Hrsg.), Brückenschläge (wie Anm. 37), S. 202–219; Kriegseisen, Protestanten (wie Anm. 8), S. 85f., 160–166. Dies geht aus Jablonskis Briefkopialbüchern im Francke-Nachlass der Staatsbibliothek preußischer Kulturbesitz in Berlin ebenso hervor wie aus der immer noch nicht überholten Biographie von Hermann Dalton, Daniel Ernst Jablonski. Eine preußische Hofpredigergestalt in Berlin vor zweihundert Jahren, Berlin 1903. Zu den Orangeois vgl. auch den Auszug aus dem (verschollenen) Tagebuch Jablonskis: La persécution à Orange d’après un extrait du Journal inédit de Jablonski, prédicateur à la cour de Prusse (26 septembre 1703), in: Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme Français 46 (1900), S. 546f. Vgl. auch Alexander Schunka, Internationaler Calvinismus und protestantische Einheit, in: Bahlcke u. a. (Hrsg.), Brückenschläge (wie Anm. 37), S. 171–185, hier S. 185. Hans-Jürgen Bömelburg, Konfession und Migration zwischen Brandenburg-Preußen und Polen-Litauen 1640–1772. Eine Neubewertung, in: Bahlcke (Hrsg.), Glaubensflüchtlinge (wie Anm. 6), S. 119–144, hier S. 133–140; Kriegseisen, Protestanten (wie Anm. 8), S. 244–247; Johann Kvačala, D.E. Jablonsky und Großpolen, in: Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen 15 (1900), S. 1–30, 247–320, 16 (1901), S. 1–53, hier S. 303f. u. Anm. 2 auf S. 304. Kvačala, Jablonsky (wie Anm. 40), S. 248–250. Siehe jetzt die einschlägigen Beiträge in: Bahlcke u. a. (Hrsg.), Brückenschläge (wie Anm. 37).

Sicherheitsstrategien von Migranten im Reich des 17. und 18. Jahrhunderts 613

verdankte er einige Jahre lang regelmäßige Lieferungen mit Rotwein.43 Von diesen Besonderheiten abgesehen, scheint der Hofprediger aber keineswegs ein Ausnahmefall gewesen zu sein. Man könnte eine große Zahl anderer Personen aus dem Bereich des multikonfessionellen brandenburgisch-preußischen Staatswesens herausgreifen, die aufgrund ihrer Expertise und ihrer Stellung zwischen Politik, Kirche, Migranten bzw. Minderheiten und Mehrheitsgesellschaft zu wichtigen Anlaufstellen von Einzelpersonen und Gruppen wurden. Während der Hofprediger Jablonski primär die Situation der Protestanten in Polen, Ungarn und Böhmen im Auge hatte, kümmerte sich zum Beispiel sein Kollege, der Hofprediger Karl Konrad Achenbach, in den Jahren nach 1700 vor allem um die Protestanten in und aus der Pfalz: Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass Achenbach als gebürtiger Pfälzer seinerseits über entsprechende Kontakte verfügte.44 Die Frage, inwieweit hinter dem Aufstieg von Migranten in frühneuzeitlichen Staatsverwaltungen der Zufall stand oder bestimmte politische Strategien, sich deren spezifisches Wissen nutzbar zu machen, ist nicht pauschal zu beantworten. Fest steht aber, dass gerade in Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhundert die Migrantendichte in herausgehobenen administrativen oder kulturellen Positionen enorm war, was sich wiederum auf die Migrationspolitik niederschlug. Das gilt nicht nur für die vielen französischen Refugiés, deren Vermittlungsfunktion teilweise recht gut erforscht ist, sondern auch für hochrangige Beamte bei der Kolonisation von Oderbruch und anderen Flusslandschaften unter Friedrich dem Großen, die niederländische, pfälzische oder böhmische Wurzeln hatten (Süßmilch, Haerlem, Brenckenhoff u. a.). Sie sollten nicht nur Deiche bauen, sondern organisierten bisweilen auch konkret die Ansiedlung von Zuwanderern. Die Berliner Akademie unter Friedrich dem Großen wiederum wurde zeitweise von Migranten dominiert – dort konnten von Franzosen, Schweizern und anderen tatsächlich auch migratorische und demographische Fragen und Probleme erörtert werden.45 Auch wenn in vielen Fällen noch Einzelforschungen nötig sind, um zu klären, inwieweit migrationspolitische Interessen eines Staatswesens wirklich auf einen Migrationshintergrund bestimmter Interessenvertreter zurückzuführen sind, so kam die Zwischenstellung dieser Vermittler zweifellos sowohl den Sicherheitsbedürfnissen von Migranten als auch den Erwartungen der Verwaltung entgegen. Gerade einflussreiche Mittelsleute an zentralen Positionen von Verwaltung und Kirche eigneten sich ganz offensichtlich dazu, Vertrauen zu schaffen und die 4 3

Zum Kontext von konfessioneller Diplomatie und Geschenken bereite ich gerade einen Aufsatz vor. 4 4 Vgl. Gustav Hecht, Gebürtige Pfälzer als Träger der preussischen Kirchenpolitik im Streite um die Heiliggeistkirche in Heidelberg, in: ZGO N.F. 41 (1928), S. 173–252. 4 5 Zu diesen Aspekten vgl. Alexander Schunka, Migranten und kulturelle Transfers, in: Bernd Sösemann/Gregor Vogt-Spira (Hrsg.), Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, Stuttgart 2012, Bd. 2, S. 80–96, hier S. 90–92.

614 Alexander Schunka

Praktiken von Einwanderung, Aufnahme und Integration zu beeinflussen. Würde man der Rolle solcher Mittelsleute noch genauer nachgehen, dann ließen sich umfassender als bisher die Einflussmöglichkeiten von Migranten auf Politik und Kultur der Aufnahmegesellschaften eruieren. Dies könnte dazu beitragen, dass sich manche Dichotomien oder Asymmetrien zwischen Wandernden und Sesshaften, zwischen Minderheiten und Mehrheiten hinterfragen, wenn nicht auflösen ließen. Für Migranten und Aufnahmegesellschaften des konfessionellen Zeitalters war Sicherheit zweifellos eine zentrale Kategorie. Festhalten kann man in diesem Zusammenhang, dass das Streben nach Sicherheit das Migrationsverhalten von Individuen und Gruppen ebenso beeinflusste wie die Migrationsregime frühneuzeitlicher Gemeinwesen. Und auch das Reden über Sicherheit war in gewisser Weise sicherheitsrelevant: Migranten tendierten dazu, Beständigkeit als zentrale Charaktereigenschaft in den Vordergrund ihrer Argumentation zu rücken, während sie in der Praxis nach größtmöglicher Flexibilität strebten – einer Flexibilität, die Weiter- und Rückwanderungen ebenso einschloss wie die Nichtverpflichtung gegenüber neuen Obrigkeiten. Den Verwaltungen wiederum lag andererseits naturgemäß bei aller Hochschätzung von Volkreichtum die Ordnung und Stabilität des Gemeinwesens und die Verlässlichkeit der Untertanen am Herzen. Die Kommunikations- und Aushandlungsstrategien zwischen diesen beiden Polen unterstreichen dabei, dass auch die sogenannten Glaubensflüchtlinge der Frühen Neuzeit keineswegs nur die passiven Opfer der Rekatholisierung oder die Verfügungsmasse peuplierungswilliger Verwaltungen waren, sondern dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihr Schicksal recht aktiv in die Hand genommen haben.

SEKTION X · Rechtssicherheit: Sicherheit durch Recht oder Sicherheit des Rechts?

Siegrid Westphal und Karl Härter

Rechtssicherheit: Sicherheit durch Recht oder Sicherheit des Rechts? Der Begriff „Rechtssicherheit“ ist kein Leitbegriff der Frühen Neuzeit, vielmehr findet er sich erstmals in seiner modernen Bedeutung Ende des 18. Jahrhunderts als Ausdruck eines Rechtsdiskurses, der vor dem Hintergrund der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft und spätaufklärerischer Vorstellungen über die Rechte des Individuums geführt wurde.1 Es ging um die Frage, wie die Rechte des Bürgers, seine Freiheit und sein Eigentum durch eine verlässliche – durch Bestimmtheit, Klarheit und Beständigkeit eines ius certum gekennzeichnete – Rechtsordnung geschützt werden konnten.2 Dem Staat sollte einerseits die Aufgabe zufallen, diese sichere Rechtsordnung bereitzustellen, andererseits sollte der Bürger aber auch vor allzu weit reichenden Eingriffen des Staates bewahrt werden. Der Begriff „Rechtssicherheit“ ist also Ausdruck eines spezifischen juristischen Diskussionszusammenhangs um 1800, er wurde in Abgrenzung zum bestehenden Rechtssystem konturiert, das als unsicher, ungerecht, heterogen und ineffektiv charakterisiert wurde. Aspekte des ius certum, die diskutiert wurden, waren insbesondere Forderungen nach Verlässlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts, die durch Kodifikation, Vereinheitlichung und Rechtsreformen erreicht werden sollten. Der moderne Begriff der Rechtssicherheit lässt sich somit nicht auf die gesamte Frühe Neuzeit projizieren. Dennoch kann Recht – verstanden als Normen, Diskurse, Institutionen und Praxis – auch für die Frühe Neuzeit als das normative System gelten, das ver 1

Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit. Perspektivische Annäherungen an eine „idée directrice“ des Rechts, Tübingen 2006; Jens Eisfeld, Rechtssicherheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 10, Stuttgart 2009, Sp. 743–746. 2 Heinz Mohnhaupt, ‚Lex certa‘ and ‚ius certum‘: The Search for Legal Certainty and Security, in: Lorraine Daston/Michael Stolleis (Hrsg.), Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe. Jurisprudence, Theology, Moral, and Natural Philosophy, ­Aldershot u. a. 2008, S. 73–88. Die Mitwirkenden dieser Sektion danken an dieser Stelle Heinz ­Mohnhaupt herzlich für anregende Gespräche und Diskussionen bei der Konzeptualisierung der Themenstellung.

616 Siegrid Westphal und Karl Härter

lässliche, erwartbare, vorhersehbare Normen und Entscheidungen bereit hält und in diesem Sinne „sicher“ sein soll, das aber auch Sicherheit von Personen, Eigentum, des Staates usw. durch Konfliktbearbeitung, Gefahrenabwehr oder Kriminalitätsverfolgung gewährleisten bzw. erzeugen soll. Diese zentrale Funktion gewann das Recht seit dem 16. Jahrhundert insbesondere durch die Tätigkeit obrigkeitlich-staatlicher Gerichte und die Gesetzgebung: Wir kommen jetzt zu dem bei Weitem wichtigsten Gegenstande der Gesetze: zur Sorge für die Sicherheit. Dieses unschätzbare Gut, ein unterscheidendes Zeichen der Civilisation, ist ganz das Werk der Gesetze. Ohne Gesetze giebt es keine Sicherheit […] Das Princip der Sicherheit umfaßt die Erhaltung aller dieser Erwartungen: seine Vorschrift ist, daß alle Schicksale, so weit sie von den Gesetzen abhangen, den Erwartungen gemäß seien, durch welche sie vorgebildet worden sind […] Bei einem Streite zwischen der Sicherheit und der Gleichheit darf man also keinen Augenblick unschlüssig sein: die Gleichheit muß zurückstehn.

So beschrieb Jeremy Bentham Anfang des 19. Jahrhunderts die zentrale Funktion des Gesetzes bezüglich der Produktion von Sicherheit, wobei Sicherheit durch Recht vor der Sicherheit des Rechts und dem Schutz subjektiver Rechte vor Eingriffen der Obrigkeit dominierte.3 Diese Entwicklung manifestierte sich insbesondere in der seit Mitte des 17. Jahrhunderts rapide zunehmenden obrigkeitlichen Gesetzgebung, die auf Ordnung und Sicherheit zielte.4 Innere bzw. öffentliche wie soziale, wohlfahrtsstaatliche Sicherheit avancierte damit in der Frühen Neuzeit zu einer zentralen normativen Leitkategorie des Rechtssystems, substituierte teilweise den universalen Frieden – und damit den Rechtsfrieden auch im Sinne von Konfliktlösung – und markierte einen Prozess der Säkularisierung des Rechts mittels obrigkeitlicher Gesetzgebung, das seine göttliche Gewissheit verlor. Dieser Prozess der normativen Verdichtung und Verrechtlichung kann damit nicht nur als eine Intensivierung von Konfliktregulierung auf der Basis von Recht, sondern auch als ein Prozess der Produktion von Sicherheit durch neues (gesetztes) Recht und entsprechende obrigkeitliche Institutionen der Um- und Durchsetzung bzw. Anwendung der Gesetze (Gerichte, Verwaltungen usw.) verstanden werden.5 3

Jeremy Bentham, Grundsätze der Civil- und Criminal-Gesetzgebung, aus den Handschriften des englischen Rechtsgelehrten Jeremias Bentham, hrsg. von Etienne Dumont […] Nach der zweiten verbesserten und vermehrten Aufl. für Deutschland bearbeitet und mit Anmerkungen von Dr. Friedrich ­Eduard ­Beneke, Berlin 1830, S. 273, 276 und 292. 4 Karl Härter, Security and „gute Policey“ in Early Modern Europe: Concepts, Laws and Instruments, in: Cornel Zwierlein/Rüdiger Graf/Magnus Ressel (Hrsg.), The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History (HSR 35, 4), Köln 2010, S. 41–65. 5 Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862.

Sicherheit durch Recht oder Sicherheit des Rechts? 617

Allerdings handelt es sich nicht um einen einseitigen Prozess einer durch die Obrigkeit betriebenen Verstaatlichung mittels Gesetzgebung. Auch in der Frühen Neuzeit fragten bereits Normadressaten und Untertanen nach Sicherheit durch Recht, und die Obrigkeiten benutzten Gesetzgebung und Gerichte im Sinne symbolischer Kommunikation, um Sicherheit zu produzieren. Kommunikation von und über Recht auf der Ebene der Gesetze wie der Rechtspraxis der Gerichte (durch Entscheidungen, Urteile, Strafen usw.) sollen Sicherheit – durch und des Rechts – erzeugen. Aus diesem Grund verstärkt sich zum Beispiel nach exzeptionellen Verbrechen der öffentliche Ruf nach Gesetzen, dem Politiker nur zu gerne folgen (wenn sie ihn nicht gar selbst erzeugen). „Sicherheit“ bleibt folglich letztlich ein diskursiv-kommunikatives, empirisch nur schwer messbares Produkt6, was insbesondere für Rechtssicherheit gilt, die darauf beruht, dass Normadressaten das Recht bzw. Rechtssystem kennen, akzeptieren und es im Hinblick auf ihre Interessen für „sicher“ bzw. angemessen oder gerecht halten. Die Zunahme von auf Sicherheit ausgerichteten Gesetzesnormen und die Ausweitung des staatlichen Sicherheitsinstrumentariums verstärkten rechtliche Pluralität und Heterogenität wie Eingriffe in die Rechtssphäre der Untertanen und Bürger und beeinträchtigten damit auch langfristig die Sicherheit des Rechts. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschien den Rechts- und Staatswissenschaften, den Obrigkeiten (aufgrund ihrer praktischen Erfahrungen im Rahmen des lernenden und experimentierenden Staates) und womöglich auch den Untertanen, die durch „außerrechtliche“ Verfahren wie Supplikationen, Dispensgesuche, Gnadenbitten, Aushandeln oder Infrajustiz zur Unsicherheit des Rechts mit beitrugen, das Recht unsicherer denn je.7 Der juristisch-aufklärerische Diskurs thematisierte daher zunehmend das Problem des Rechtsschutzes und der Rechtssicherheit, benutzte diese Begriffe allerdings nur sehr selten und behandelte meist nur einzelne Themenfelder (wie z. B. Kodifikation, richterliche Willkür, Kabinettsjustiz, Reform der Reichsgerichtsbarkeit usw.). Verrechtlichung, Säkularisierung, Wachstum und Reform des Rechts warfen insofern zunehmend die Fragen nach Gewissheit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit des Rechts auf und wurden zumindest von einigen Autoren auf das Problem des Schutzes und der Sicherheit des Individuums vor dem wuchernden staatlichen Rechtssystem ausgeweitet. 6 Michel

Foucault, Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, hrsg. von Michel Sennelart, Frankfurt a. M. 2004. 7 Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert) (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 19), Berlin 2005; Karl Härter/Cecilia Nubola (Hrsg.), Grazia e giustizia. Figure della clemenza fra tardo medioevo ed età contemporanea (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 81), Bologna 2011.

618 Siegrid Westphal und Karl Härter

Der hier knapp skizzierte Prozess der allmählichen Ausformung eines Diskurses über Rechtssicherheit und das diesem strukturell zugrunde liegende ambivalente Verhältnis von Sicherheit und Recht sollte in der Sektion „Rechtssicherheit: Sicherheit durch Recht oder Sicherheit des Rechts?“ exemplarisch ausgelotet werden, da es kaum möglich scheint, alle Aspekte des Verhältnisses von Sicherheit und Recht in der Frühen Neuzeit abzudecken. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass bisher nur wenige Untersuchungen die Bedeutung von Recht für die Herstellung, Bewahrung und Garantie von Sicherheit in den Blick nehmen und sich dann häufig auf das 19. und 20. Jahrhundert beziehen.8 Das Hauptaugenmerk der Frühneuzeitforschung lag bisher vor allem auf der eng mit dem Aspekt Sicherheit verbundenen Friedensthematik und der Bedeutung der höchsten Gerichtsbarkeit.9 Stichworte sind hier „Frieden durch Recht“10 und das Konzept der Verrechtlichung sozialer Konflikte, worunter eine Verlagerung des gewaltsamen Konfliktaustrags zwischen Obrigkeit und Untertanen auf den Rechtsweg verstanden wird.11 Die durch zahlreiche Untersuchungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich nachgewiesene Friedenssicherung und Rechtsschutzfunktion für verschiedenste Gruppen12 hat nachhaltig zur Vorstellung des Alten Reiches als Rechts- und Friedensordnung beigetragen und letztlich damit entscheidend zu 8 Eisfeld, Rechtssicherheit (wie Anm. 1), Sp. 743–746. 9

Bernhard Diestelkamp/Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn/Wetzlar 1997, S. 117–127; Eva Ortlieb/Siegrid Westphal, Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich – Einführung, in: zeitenblicke 3, 2004, Nr. 3 [13. 12. 2004]; dies., Die Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich: Bedeutung, Forschungsentwicklung und neue Perspektiven, in: ZRG GA 123 (2006), S. 291–304. 10 Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Mainz 1994. 11 Winfried Schulze, Einführung in die Neuere Geschichte, Stuttgart 1987, hier S. 61–67; ders., Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Der deutsche Bauernkrieg 1524–1526 (GG Sonderheft 1), Göttingen 1975, S. 277–302. 12 Friedrich Battenberg, Das Reichskammergericht und die Juden des Heiligen Römischen Reiches. Geistliche Herrschaft und korporative Verfassung der Judenschaft in Fürth im Widerspruch (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 13), Wetzlar 1992; Bernhard Ruthmann, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555–1648): eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 28), Köln/Weimar/Wien 1996; Jessica Jacobi, Besitzschutz vor dem Reichskammergericht (Rechtshistorische Reihe 170), Frankfurt a. M. 1998; Ralf-Peter Fuchs, Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht 1525–1805, Paderborn 1999; Rita Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 33), Köln/Weimar/Wien 1999; Britta Gehm, Die Hexenverfolgung im Hochstift Bamberg und das Eingreifen des Reichshofrats zu ihrer Beendigung, Hildesheim/Zürich/New York 2000; Siegrid Westphal

Sicherheit durch Recht oder Sicherheit des Rechts? 619

dessen Aufwertung geführt.13 Der institutionelle Ausbau verbunden mit einem Bürokratisierungs- und Verwissenschaftlichungsprozess, der Professionalisierung des Personals sowie einer Verfahrensintensivierung stehen für die rechtliche Funktionsfähigkeit des Alten Reiches.14 Gleichzeitig weisen die seit Gründung der Höchstgerichte artikulierten Beschwerden, beispielsweise über lange Verfahrensdauer, die Parteilichkeit der Richter oder eine ausufernde Konsilienpraxis, aber auch daraufhin, dass diese Gerichte und ihre Rechtsprechung keinesfalls von jedem als sicher und verlässlich empfunden wurden. Weitet man den Blick über die Höchstgerichtsbarkeit hinaus zudem auf die territoriale Gerichtsbarkeit bzw. die heterogene Gerichtslandschaft des Alten Reiches, das Strafrecht oder außergerichtliche Konfliktregelungsmechanismen aus, dann werden die für das Zivilrecht und die Reichsebene gewonnenen Erkenntnisse erheblich relativiert. Sicherheit sollte u. a. durch einen geregelten Instanzenzug, ein festgeschriebenes Verfahrensrecht, Gesetze sowie obrigkeitlich-staatliche Mechanismen zur Durchsetzung von Recht, aber auch Schutzbestimmungen für Individuen und Gruppen gewährleistet werden. Dieser säkulare, auf Sicherheit ausgerichtete Verrechtlichungsprozess der Frühen Neuzeit produzierte jedoch gerade im rechtlichen Mehrebenensystem des Alten Reiches mit seinen sich überlagernden legal spaces eine zunehmende Unsicherheit des Rechts.15 Darin spiegelt sich die Ambivalenz der frühneuzeitlichen Rechtsordnung, die sich in der grundlegenden Fragestellung nach „Sicherheit durch Recht oder Sicherheit des Rechts?“ manifestiert. Dieser Ambivalenz wird anhand von zwei Themenschwerpunkten nachgegangen. Der erste fokussiert stärker auf das Verhältnis von Sicherheit und Recht in der Rechtspraxis mit Schwerpunkt auf dem zivilrechtlichen Bereich: Eva Ortlieb nimmt zunächst den Aspekt von Rechtsschutz einer spezifischen Personengruppe in den Blick und untersucht Fälle, in denen sich Amtsträger gegen eine Entlassung und/oder Inhaftierung durch ihre dienstgebenden Fürsten an die Höchstgerichte im Alten Reich – insbesondere den Reichshofrat – wandten. (Hrsg.), In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln/ Weimar/Wien 2005. 13 Karl Härter, Sicherheit und Frieden im frühneuzeitlichen Alten Reich. Zur Funktion der Reichsverfassung als Sicherheits- und Friedensordnung 1648–1806, in: ZHF 30 (2003), S. 413–431. 14 Bernhard Diestelkamp, Verwissenschaftlichung, Bürokratisierung, Professionalisierung und Verfahrensintensivierung als Merkmale frühneuzeitlicher Rechtsprechung, in: Scheurmann (Hrsg.), Frieden (wie Anm. 10), S. 110–117. 15 Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Lesebuch Altes Reich (Bibliothek altes Reich 1), München 2006; Karl Härter, The Early Modern Holy Roman Empire of German Nation (1495–1806): A Multi-layered Legal System, in: Jeroen Duindam u. a. (Hrsg.), Law and Empire. Ideas, Practices, Actors, Leiden/Boston 2013 (im Druck).

620 Siegrid Westphal und Karl Härter

Die Konstellation Amtsträger versus Fürst (als Repräsentant des frühneuzeitlichen Staates) stellt einen speziellen Fall einer Problemstellung dar, die im 19. Jahrhundert unter der Überschrift „Rechtssicherheit“ und „Rechtsstaatlichkeit“ diskutiert wurde: der Schutz der Rechte der einzelnen Bürger gegen den Staat. Insofern gehört die Frage des Rechtsschutzes für Beamte durch Höchstgerichte zu den Elementen der sich im frühneuzeitlichen Alten Reich allmählich ausformenden Rechtssicherheit. Im Anschluss daran untersucht Ulrich Falk anhand der frühneuzeitlichen Konsilienpraxis, ob das Einholen von Rechtsgutachten zur Rechtssicherheit beitrug oder eher die Unsicherheit des Rechts verstärkte. Viele Gerichte fällten ihre Urteile in Zivil- und Strafsachen nicht selbst, sondern holten sich – das Institut der Aktenversendung nutzend – „Rat“ bei juristischen Fakultäten bzw. den dort tätigen Rechtsgelehrten, die Consilia verfassten und damit die Urteile wesentlich beeinflussen konnten. Auch die Parteien nutzten zunehmend das Instrument der Rechtsgutachten, um ihre Interessen vor Gericht durchzusetzen. Damit erzeugte die Gutachtentätigkeit allerdings immer größere rechtliche Varianz, bis hin zur parteigutachterlichen Deduktion fast jeder erdenklichen Auslegung und jedes erdenklichen Ergebnisses, durch ausgerechnet jene Institution – die „Konsilien/ Gutachten“ –, von der man sich einen Zuwachs an Erwartungssicherheit und Rechtsrationalität erhofft hatte. In dieser Hinsicht steht die Paradoxie der Konsilien exemplarisch für die frühneuzeitliche Ambivalenz von Sicherheit durch Recht und Sicherheit des Rechts. Der zweite Schwerpunkt richtet den Fokus stärker auf den Bereich des öffentlichen Rechts und des Strafrechts. Inken Schmidt-Voges untersucht Rechtsdiskurse zur rechtlichen Sicherung des Hauses um 1700 und die Diskussion über den Hausfrieden. In den Debatten um die Produktion bzw. Gewährleistung von Sicherheit beschäftigten sich zwischen 1674 und 1725 mehrere Juristen mit der Frage, wie Sicherheit und Schutz für die Institution des „Hauses“ zu gewährleisten sei. In Auseinandersetzung mit den verschiedenen Traditionen des „Hausfriedensbruchs“ spielte die Frage der Sicherheit in doppelter Weise eine Rolle: Im Sinne der securitas domestica wurde die Unversehrtheit des Hauses und der Schutz seiner Bewohner vor Gewalt behandelt. Da es aber darüber hinaus grundsätzlich um den Versuch ging, die soziale und politische Institution des Hauses in juristischen Kategorien zu fassen, wurden zugleich die Frage der Sicherheit des Rechts, die certitudo iuris domestici, und damit die verschiedenen jurisdiktionellen Zuständigkeiten diskutiert. Abschließend behandelt Karl Härter den im späten 18. Jahrhundert einsetzenden strafrechtlichen Diskurs über Sicherheit. Rechtssicherheit im Sinne von Bestimmtheit, Klarheit und Beständigkeit des Rechts und einem zügigen Verfahren bildete eine zentrale Forderung an das vormoderne Strafrecht, dem aber auch die Funktion zukam, Sicherheit zu produzieren. Das Strafrecht spielte

Sicherheit durch Recht oder Sicherheit des Rechts? 621

folglich eine wesentliche, katalytische Rolle in dem ambivalenten Verhältnis von Recht und Sicherheit: Es sollte Sicherheit durch Gefahrenabwehr und Kriminalitätsbekämpfung gewährleisten, aber es war auch der Rechtsbereich mit den größten „Unsicherheiten“ bzw. dem größten repressiven Potential, zeichnete es sich doch durch Pluralität und Heterogenität strafrechtlicher Normen, inquisitorische Strafverfahren und eine sozial zweigleisige Strafjustiz aus. Allerdings hatten nicht nur Untertanen oder Delinquenten ein Interesse an einem besseren Rechtsschutz, sondern auch Obrigkeiten und Juristen wollten die Sicherheit des Rechts verbessern, um die Rationalität des Strafrechtssystems zu steigern. Diesem Spannungsverhältnis von Sicherheitsproduktion, Rechtsschutz und Rechts(un)sicherheit im frühneuzeitlichen Strafrecht geht der Beitrag nach, um daran für die Frühe Neuzeit die diskursive Produktion und Ambivalenz von Sicherheit exemplarisch aufzuzeigen, die für die weitere Entwicklung des Strafrechts im 19. Jahrhundert prägend bleiben und wesentlich zur Etablierung von „Rechts­ sicherheit“ als einer neuen normativen Leitkategorie beitragen sollten.

Eva Ortlieb

Rechtssicherheit für Amtsträger gegen fürstliche Willkür? Die Funktion der Reichsgerichte Hohe Amtsträger regierender Fürsten in der Frühen Neuzeit gehören zu den Personengruppen, die in besonderer Weise in einem Raum der Unsicherheit agierten. Zu allgemeinen Lebensrisiken wie Krankheit und Unfällen, Naturkatastrophen und Kriegen trat eine mit ihrer dienstlichen Tätigkeit zusammenhängende Gefährdung, die sich aus der Struktur der fürstlichen Regierungsform ergab. Zwar wurde der herrschende Fürst durchaus nicht als frei von allen rechtlichen Bindungen gedacht, sondern in einen Kosmos von Tugenden gestellt, die insbesondere auf einem christlichen Verständnis von göttlichem Recht basierten. Eine im Zweifelsfall durchsetzbare Unterordnung des Fürsten unter konkrete, schriftlich fixierte Gesetze war damit aber kaum verbunden, da sie tendenziell einer auf dem „Gottesgnadentum“ aufbauenden Herrschaftsauffassung widersprach. Damit gelangte ein unhintergehbar persönliches Element in die fürstliche Herrschaftsausübung, dem, so die Auffassung vieler zeitgenössischer Theoretiker, nur durch eine kluge Erziehung des Fürsten gesteuert werden konnte.1 Für die Amtsträger, die als Kanzler oder Präsidenten, Geheime Räte oder Hofräte die Spitze der Regierung und Verwaltung des Landes bildeten, bedeutete dieses persönliche Element einen erheblichen Unsicherheitsfaktor. Verschärfend wirkte sich die durch die ständische Gesellschaft der Frühen Neuzeit bedingte soziale Distinktion zwischen einem in der Regel gemäß den Normen seines Standes erzogenen Fürsten und seinen meist universitär gebildeten bürgerlichen oder neuadeligen Amtsträgern aus. Diese Faktoren führten dazu, dass der Amtsträger einerseits Erwartungen und persönlichen Vorlieben des Fürsten, die unter Umständen im Widerspruch zu den Ressourcen des Landes standen, zu entsprechen hatte, andererseits stets in Gefahr stand, für etwaige unerwünschte Folgen der so bestimmten Politik haftbar gemacht zu werden. Auseinandersetzungen innerhalb der Fürstenfamilie, die Aktivitäten eines außerhalb der Ämterhierarchie stehenden, gleichwohl über enormen Einfluss verfügenden 1

Deutlichster Ausdruck der hier angedeuteten Herrschaftsauffassung ist die umfangreiche Fürstenspiegelliteratur, die sich in der gesamten Frühen Neuzeit außerordentlicher Beliebtheit erfreute, zusammenfassend Hans-Otto Mühleisen/Theo Stammen/Michael Philipp (Hrsg.), Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 6), Frankfurt a. M./Leipzig 1997. Zur Stellung des Herrschers in der politischen Theorie der Frühen Neuzeit auch Wolfgang Schmale, Das Heilige Römische Reich und die Herrschaft des Rechts. Ein Problemaufriß, in: Ronald G. Asch/Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Absolutismus – ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550–1700) (Münstersche historische Forschungen 9), Köln/Weimar/ Wien 1996, S. 229–248.

Die Funktion der Reichsgerichte 623

„Favoriten“2 und Regierungswechsel erforderten geschickte Positionierungen und konnten die einmal erreichte Stellung jäh gefährden. Im weitgehend durch persönliche Beziehungen geprägten Raum der Herrschaftsausübung gab es kaum institutionelle Schutzmechanismen gegen Cliquenbildungen und Intrigen unter den Bewerbern um die mit Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten verbundene Fürstengunst und Fürstengnade. Auch für den Fürsten konnte das Verhältnis zu seinen hohen Amtsträgern unter Umständen von Unsicherheit geprägt sein. Es bestand stets die Gefahr, dass die notgedrungen mit den Arcana der fürstlichen Politik und des fürstlichen Hauses bekannten Minister ihre Amtsführung in erster Linie in den Dienst der persönlichen Bereicherung stellten, auf einem reichsweiten Arbeitsmarkt von anderen Fürsten abgeworben wurden oder auf einem ebenfalls reichsweiten Nachrichtenmarkt publizistischen Gebrauch von ihrem Wissen machten. Darüber hinaus konnte die mit ihrer Stellung verbundene Verantwortung zu einem erheblichen Selbstbewusstsein der betreffenden Amtsträger führen, das sie zu allem anderen als devoten Untertanen machte. Die durch persönliche Faktoren bedingte Unsicherheit im Verhältnis zwischen dem Herrscher und seinen leitenden Amtsträgern stand dabei tendenziell im umgekehrten Verhältnis zur Größe des betreffenden Territoriums. Die durch besondere Unsicherheit gekennzeichnete Stellung insbesondere leitender Amtsträger hat im 19. Jahrhundert zur Ausformulierung eines speziellen rechtlichen Rahmens, des Beamtenrechts, geführt, dessen Anfänge bis zu den seit dem 16. Jahrhundert in größerer Zahl entstehenden Instruktionen und Verwaltungsordnungen, insbesondere für Hofämter und zentrale Rats­gremien, zurückreichen.3 Über diese eher auf Reglementierung und Disziplinierung ausgerichteten Verwaltungsnormen hinaus konnten sich die Betroffenen in der Frühen Neuzeit auch auf Bestallungsurkunden berufen, die in der Regel Bestimmungen insbesondere zu den Pflichten des Amtsträgers (Wahrung der Interessen von Fürst und Land, Verschwiegenheit) sowie zu einer etwaigen Kündigung enthielten. Trotz einer zunehmenden Verrechtlichung von Verwaltung durch 2

Das insbesondere das 17. Jahrhundert prägende Phänomen des „Favoriten“ und seines Sturzes ist in den letzten Jahren mehrfach untersucht worden, z. B. John H. Elliott/Laurence W. B. Brockliss (Hrsg.), The World of the Favourite. New Haven/London 1999; ­Michael ­Kaiser/Andreas Pečar (Hrsg.), Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten im Umkreis der Reichsfürsten in der Frühen Neuzeit (ZHF Beiheft 32), Berlin 2003; Jan ­Hirschbiegel/Werner Paravicini (Hrsg.), Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert (Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaft in Göttingen 8, Residenzenforschung 17), Ostfildern 2004. 3 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, S. 357–361; Hans Hattenhauer, Geschichte des Beamtentums (Handbuch des öffentlichen Dienstes 1), 2. Aufl. Köln 1993; Bernd ­Wunder, Geschichte der Bürokratie in Deutschland, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1988; ders., Beamtenrecht, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, Sp. 1130–1132.

624 Eva Ortlieb

Ordnungen und Bestallungsurkunden entwickelte sich im frühneuzeitlichen Alten Reich kein kodifiziertes Verwaltungsrecht, das Rechtssicherheit im Sinne eines gewissen, berechenbaren, verlässlichen und einheitlichen Beamtenrechts geboten hätte.4 Die Interaktion zwischen Fürst und leitenden Amtsträgern blieb durch eine strukturell bedingte Rechtsunsicherheit geprägt. Sicherheit musste auf andere Weise hergestellt werden. Den beiden höchsten Reichsgerichten kam dabei eine zentrale Rolle zu, die der folgende Beitrag – insbesondere anhand des Reichshofrats – untersucht.

I.  Leitende Amtsträger vor den Reichsgerichten

Die Reichsgerichte erreichte das Konfliktfeld zwischen Fürsten und ihren leitenden Amtsträgern in erster Linie in Form von Beschwerden bzw. Klagen der Amtsträger, manchmal – nach einem beruflichen Wechsel – auch ihrer neuen Dienstgeber.5 Gegenstand der Beschwerden waren meist die von dem betroffenen Fürsten gegen seinen (ehemaligen) Bediensteten verfügten, von diesem als ungerechtfertigt empfundenen Maßnahmen, etwa eine Entlassung, eine fiskalische Klage oder die ihr fol­gende Verurteilung, eine Ausweisung, Inhaftierung oder die Beschlagnahme bzw. Wegnahme von Besitz und Einkünften; häufig lag auch eine Kombinationen aus diesen Maßnahmen vor. Angerufen wurden im vorliegenden Zusammenhang sowohl das Reichskammergericht als auch der Reichshofrat. Während die weit fortgeschrittene Verzeichnung der Reichskammergerichtsakten eine systematische Erfassung einschlägiger Verfahren und damit auch Aussagen über die Entwicklung des Klageaufkommens im zeitlichen Verlauf erlaubt6, ist eine entsprechende Vorgehensweise für die erhaltenen Akten des Reichshofrats derzeit nicht möglich. Wissenschaftlichen Anforderungen genügende Findbe 4

Karl Härter, Die Verwaltung der „guten Policey“: Verrechtlichung, soziale Kontrolle und Disziplinierung, in: Michael Hochedlinger/Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 57), Wien/München 2010, S. 243–270. 5 Z. B. im Fall des zunächst braunschweig-wolfenbüttelischen, später braunschweig-blankenburgischen Rats Hieronymus von Münchhausen: Aktenmäßige Nachricht von der DienstEntlassung, Beschimpf- und Mißhandlung Hn. Hieron. v. Münchhausen, in: [Friedrich Carl von Moser (Hrsg.)] Patriotisches Archiv für Deutschland, Bd. 2, Frankfurt a. M./­Leipzig 1785, Nr. 6, S. 269–332, Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), RHR, Vota 7. 6 Eine Dissertation zu diesem Thema wird derzeit von Florian Lehrmann an der Universität Bonn vorbereitet. Zur Verzeichnung der Reichskammergerichtsakten zuletzt Bernd Schildt, Wandel in der Erschließung der Reichskammergerichtsakten. Vom gedruckten Inventar zur Online-Recherche in der Datenbank, in: Friedrich Battenberg/ders. (Hrsg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 57), Köln/Weimar/Wien 2010, S. 35–60.

Die Funktion der Reichsgerichte 625

helfe liegen vorerst nur für die Serie „Alte Prager Akten“ und der Beginn der Serie „Antiqua“ vor, deren zeitlicher Schwerpunkt in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. bzw. im 17. Jahrhundert liegt.7 Daraus ergibt sich, dass entsprechende Konflikte den Reichshofrat im 16. und 17. Jahrhundert, verglichen mit der Masse der übrigen Verfahren, nur vereinzelt beschäftigten. Für das 18. Jahrhundert ist noch immer auf die z. T. zeitgenössischen Repertorien zurückzugreifen, die den Streitgegenstand mittels eines meist wenig präzisen Schlagworts angeben. Die im vorliegenden Zusammenhang interessierenden Vorgänge finden sich zum Teil unter dem Begriff „amotionis ab officio“, worunter allerdings auch Amtsenthebungen lokaler Amtsträger wie Schultheißen oder städtischer Ratsherren fallen8, zum Teil unter Allgemeinbegriffen wie „arresti“, die auch viele andere Konfliktkonstellationen erfassen.9 Angaben zur Anzahl einschlägiger Verfahren sind auf dieser Grundlage nicht zu gewinnen. Der Reichshofrat bot leitenden Amtsträgern eine Vielzahl von Wegen, sich gegen von ihnen als ungerechtfertigt empfundene Maßnahmen ihres fürstlichen Dienstgebers zur Wehr zu setzen. Unterhalb der Schwelle der gerichtlichen Klage gab es die Möglichkeit, die betreffende Situation dem Reichsoberhaupt in einer Supplikation zur Kenntnis zu bringen und um die kaiserliche Hilfe zu bitten.10 1782 behauptete Friedrich Carl von Moser, er habe sich in seinem Konflikt mit Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt zunächst an den Kaiser gewandt, ohne Klage zu erheben.11 In den Bereich der sogenannten Gnadensachen, für die der Reichshofrat zuständig war, gehörten auch kaiserliche Geleit- bzw. Schutzbriefe, die 7

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Wolfgang Sellert (Hrsg.), Die Akten des kaiserlichen Reichshofrats, Serie I: Alte Prager Akten, Bd. 1–3 (A-O), bearb. von Eva Ortlieb, Berlin 2009–2012; Serie II: Antiqua, Bd. 1 (Karton 1–43), bearb. von Ursula Machoczek, Berlin 2010. Zum derzeit laufenden Verzeichnungsprojekt vgl. (08. 05. 2013). Z. B. die Prozesse Brodbeck contra Bischof von Speyer 1775: HHStA, RHR, Decisa 733 (alt 1028), Grünfüsser contra Augsburger Domkapitel 1777: ebd. 2442 (alt 2959), Fischer zum Liebenstein contra Anhalt-Zerbst 1785–1792: ebd. 1955 (alt 2458). So beispielsweise das unten behandelte Verfahren Stambke contra Schleswig-HolsteinGottorf (1735–1740). Sabine Ullmann, „vm der Barmherzigkait Gottes willen“. Gnadengesuche an den Kaiser in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Rolf Kießling/dies. (Hrsg.), Das Reich in der Region während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Forum Suevicum 6), Konstanz 2005, 161–184; Eva Ortlieb, Lettere di intercessione imperiale presso il Consiglio aulico, in: Karl Härter/Cecilia Nubola (Hrsg.), Grazia e giustizia. Figure della clemenza fra tardo medioevo ed età contemporanea (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento Quaderni 81), Bologna 2011, S. 175–203. Im April 2012 hat ein Forschungsprojekt zu Supplikationen an den Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Sabine Ullmann und Univ.-Prof. Dr. Gabriele Haug-Moritz seine Arbeit aufgenommen; http://www.ku.de/ggf/geschichte/landesgeschichte/forschung/untertanensuppliken/; http://www.gewi.uni-graz.at/suppliken/vorstellung.html (05. 05. 2013). Dazu unten.

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betroffene Amtsträger beantragen konnten. Sie stellten Übergriffe auf Person, Familie und Vermögen des Begünstigten unter Strafe und sollten auf diese Weise Sicherheit herstellen.12 Darüber hinaus stand den Amtsträgern der Klageweg offen. In erster Instanz waren sowohl Mandatsklagen13 als auch Anträge auf kaiserliche Reskripte, also Befehle, etwas zu tun oder zu lassen, möglich, ersteres insbesondere im Fall der Inhaftierung des Amtsträgers. Die Begründung der erstinstanzlichen Zuständigkeit der Reichsgerichte machte angesichts der Reichsunmittelbarkeit des fürstlichen Prozessgegners in der Regel geringe Schwierigkeiten. Eine gewisse Hürde stellte allerdings die 1654 festgeschriebene Verpflichtung der Reichsgerichte dar, im Fall einer Untertanenklage – zu denen Beschwerden von Amtsträgern gegen ihre Dienstgeber zu zählen waren – vor jeder weiteren Maßnahme einen Bericht der zuständigen Obrigkeit einzuholen.14 Eine Verurteilung nach einem auf Befehl des Fürsten durchgeführten fiskalischen Prozess, aber auch eine Entlassung oder Ausweisung ließ sich mittels einer Appellation (gegen Urteile) bzw. einer Extrajudizialappellation (gegen fürstliche Bescheide)15 angreifen. Zweifellos bedeutete die Beschwerde- bzw. Klagemöglichkeit fürstlicher Amtsträger vor den Reichsgerichten ein Instrument zur Durchsetzung ihrer Rechte und insofern einen Beitrag zur Rechtssicherheit. Welche Vorstellungen dabei zum Tragen kamen und welche Rolle der Reichshofrat in den betreffenden Konflikten spielte, wird im Folgenden anhand einiger Beispielfälle untersucht.

II.  Dr. Bernhard Lose und Johann Georg Seyffert contra ­ Hanau-Lichtenberg (1670)16

Der Fall des hanau-lichtenbergischen Rats Dr. Bernhard Lose und des hanaulichtenbergischen Geheimen Sekretärs Johann Georg Seyffert unterstreicht vor allem die Risiken, denen sich hohe Amtsträger fürstlicher Herren ausgesetzt 12 Eva Ortlieb, Gnadensachen vor dem Reichshofrat, in: Leopold Auer/Werner Ogris/dies.

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(Hrsg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 53), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 177–202, hier 187–190. Zum Mandatsprozess Manfred Uhlhorn, Der Mandatsprozeß sine clausula des Reichshofrats (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 22), Köln/Wien 1990. Jüngster Reichsabschied 1654, § 105: Arno Buschmann (Hrsg.), Kaiser und Reich. Klassische Texte zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, Teil 2, 2. Aufl. Baden-Baden 1994, S. 226f. Die Bestimmung bezog sich auf das Reichskammergericht, aber auch der Reichshofrat fühlte sich, wie die unten referierten Überlegungen im Fall Friedrich Carl von Moser zeigen, daran gebunden. Zur Extrajudizialappellation Tilman Seeger, Die Extrajudizialappellation (Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 25), Köln/Weimar/Wien 1992. Verfahrensakten: HHStA, RHR, Antiqua 26/1c; vgl. Machoczek, Antiqua 1 (wie Anm. 7), Nr. 362.

Die Funktion der Reichsgerichte 627

sahen. In zwei Schreiben an den Kaiser, die den Reichshofrat im Januar und ­Februar 1670 beschäftigten, führten Lose und Seyffert aus, sie seien von ­Friedrich ­Casimir Graf von Hanau-Lichtenberg ohne Berücksichtigung der in der Bestallungsurkunde Loses vorgesehenen Kündigungsfrist entlassen worden. Die Ehefrauen beider Bediensteten seien vorübergehend festgesetzt, die Schreibstube Loses sei versiegelt, Wein aus dem Keller Seyfferts fortgeschafft worden. Es seien Drohungen für den Fall geäußert worden, dass Lose und Seyffert einer Ladung nicht Folge leisten würden, später seien die Räte wegen Nichterscheinens zu einer hohen Geldstrafe verurteilt worden. Außerdem habe Friedrich Casimir eine ehrverletzliche Ediktalzitation an diverse Stadttore anschlagen lassen.17 Die Aktion gegen die beiden Räte, die sich auf langjährige und allseits respektierte Dienste für das Haus Hanau-Lichtenberg beriefen, hing mit den schweren politischen Differenzen zwischen Friedrich Casimir und seinem jüngeren Bruder Johann Philipp zusammen. Letzterem hatte sich die Witwe des zweiten Bruders, Johann Reinhard (II.), für ihre Kinder angeschlossen. Der Konflikt entlud sich im „tollen Jahr“ 1669 in einer versuchten Absetzung des regierenden Grafen.18 Lose und Seyffert standen auf der Seite der hanauischen Verwandtschaft und hatten sich dementsprechend gegen ihrer Auffassung nach Familienverträge verletzende Güterverkäufe ihres Dienstgebers ausgesprochen; auch der angebliche Plan Friedrich Casimirs, Lichtenberg an den Herzog von Lothringen zu verpfänden, spielte eine Rolle.19 Beide Räte hatten sich ihrem Dienstherrn durch Flucht entzogen; Lose war nach Wien gereist, um den Kaiser anzurufen.20 Vor dem Reichshofrat beschuldigten Lose und Seyffert ihren Dienstgeber – neben der Verletzung der Bestimmungen der Bestallungsurkunde – insbesondere, gegen einen Grundsatz verstoßen zu haben, den „die höchste billigkeit, ia auch aller völcker rechten erforderen“, nämlich „das wann ein regent oder herr etwaß wider seinen dienern zu haben vermeint, er denselben zuvor darüber gebührlich hören, unndt nach genugsamber unndersuchung, unndt befindung der Sachen entweder absolvendo, oder condemnando, unndt zwarn ordinaria juris via gegen ihn verfahre“.21 Sie beantragten ihre namentliche Aufnahme in einen kaiserlichen Schutzbrief, der von der Partei um Johann Philipp und Anna Magdalena von Hanau-Lichtenberg bereits erbeten worden sei, außerdem ein kaiserliches Mandat zur Rückgabe der beschlagnahmten Wertgegenstände, der 17

HHStA, RHR, Antiqua 26/1c, fol. 1–7 und 10–12. Ferdinand Hahnzog, Das Hanauer „tolle Jahr“ 1669, in: Hanauer Geschichtsblätter 20 (1965), S. 147–176, zum Konflikt mit den Amtsträgern insbesondere S. 159 mit Anm. 20 und S. 172f. Vgl. auch HHStA, RHR, Antiqua 26/1b und 26/1e; Machoczek, Antiqua 1 (wie Anm. 7), Nr. 361 und 364. 19 HHStA, RHR, Antiqua 26/1c, fol. 10–12. 2 0 Johann Georg Seyffert an Dr. Bernhard Lose 1670: ebd. fol. 13–15. 21 Ebd. fol. 1r. 18

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Rücknahme der Ladung und der Fortsetzung der Gehaltszahlungen. Später bemühten sie sich um kaiserliche Anordnungen zur Wiederherstellung ihrer durch die Ediktalzitation verletzen Ehre.22 Die Position Friedrich Casimirs von Hanau-Lichtenberg wurde vor dem Reichshofrat durch den mit ihm verbündeten Georg Christian Landgraf von Hessen-Homburg vertreten, der sich im Februar 1670 am Kaiserhof aufhielt. Georg Christian brachte – neben einigermaßen gehässigen Beschimpfungen Loses, der durch eine missglückte Wirtschaftsreform mehrere Tausend Reichstaler Schaden verursacht habe – insbesondere zwei Argumente vor. Zum einen habe der Reichshofrat mit seinen Verfügungen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt, indem er die Ausführungen der beiden Amtsträger dem beschuldigten Grafen nicht zur Stellungnahme habe zuschicken lassen. Das Vorgehen des Reichshofrats sei nur durch die Befangenheit des zuständigen Referenten Dr. ­Johann H ­ elwig S­ inold gen. Schütz – der aus Hessen stammte23 – zu erklären; Sinold sei mit Lose verwandt. Zum anderen sei gegen Lose und Seyffert im Rahmen von Strafprozessen vorgegangen worden, „die weder vor das Forum Aulae noch Camerae Caesareae gehören“ – eine Bezugnahme auf das reichsgesetzliche Appellationsverbot in Strafsachen.24 Der Reichshofrat leitete die Beschwerden beider Amtsträger an die wegen der familiären Auseinandersetzung ohnehin in Hanau-Lichtenberg tätige kaiserliche Sequestrationskommission weiter und beauftragte die Kommissare, die Angelegenheit zu untersuchen und keine weiteren Ladungen oder andere gegen seine ehemaligen Amtsträger gerichteten Maßnahmen des Grafen zu dulden.25 Wie sich die damit zumindest intendierte Sicherung der Amtsträger gegen ein unkontrolliertes Vorgehen ihres Dienstherrn in der Praxis auswirkte, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Der Konflikt wurde offenbar im Rahmen des im April 1670 durch die kaiserliche Kommission ausgehandelten Vergleichs zwischen den verschiedenen Fraktionen im Hause Hanau beigelegt.26 2 2

Die Amtsträger behaupteten, in der Ladung sei ihnen das Köpfen in effigie und das Schlagen ihrer Namen an den Galgen angedroht worden. Sie forderten, dem Grafen von HanauLichtenberg zu befehlen, die Ladung durch einen Rat statt durch den Henker abnehmen zu lassen und, im Falle ihres Freispruchs, ihre Bilder mit der Unterschrift „Dr. ­Bernhardus ­Losse, et Johann Georg Seuffert fideler Ministri domus Hanoicae“ in allen hanau-lichtenbergischen Amtsstuben anschlagen zu lassen: ebd. fol. 10–12. 2 3 Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich 33), Wien 1942, S. 272f. 24 HHStA, RHR, Antiqua 26/1c, fol. 21–23, Zitat 22r. 2 5 Ebd. fol. 8–9 sowie 19–20. Kommissare waren die Kurfürsten von Mainz, Sachsen und der Pfalz, der Herzog von Württemberg, später auch der Landgraf von Hessen-Darmstadt. 2 6 Auszug aus dem Hanauer Vergleich vom 19. April 1670: HHStA, RHR, Antiqua 26/1l, fol. 3–4; Machoczek, Antiqua 1 (wie Anm. 7), Nr. 371.

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III. Andreas Ernst Freiherr von Stambke contra Schleswig-Holstein-Gottorf (1735–1740)27

Auch das Beispiel des Diplomaten und schleswig-holstein-gottorfischen Geheimen Rats und Amtmanns von Trittau und Reinbek Andreas Ernst Freiherr von ­Stambke28 führt nachdrücklich die erhebliche Rechtsunsicherheit im Verhältnis zwischen Fürsten und ihren leitenden Amtsträgern vor Augen, die durchaus beide Seiten betreffen konnte. Verärgert über Schwierigkeiten bei der Kostenübernahme der von ihm in seiner Eigenschaft als Amtmann angeordneten Baumaßnahmen drohte Stambke, so die in seinem Namen vor dem Reichshofrat eingereichten Sachverhaltsdarstellungen29, eine Kündigung an und forderte seine rückständige Besoldung. Mit den ihm angebotenen Verschreibungen, u. a. auf von ihm selbst ausgehandelte russische Subsidienzahlungen, wollte er sich nicht zufrieden geben, sondern ließ die von seinem Dienstgeber Karl Friedrich Herzog von SchleswigHolstein-Gottorf zurückgeforderten, noch in seinem Besitz befindlichen Papiere aus seinen Verhandlungen in Russland in einem versiegelten Koffer nach Hamburg bringen und dort bei einem Kaufmann deponieren. Stambke wurde 1733 in Gewahrsam genommen, konnte aber noch die Übergabe des Koffers an einen Amtsträger des Zaren in Hamburg veranlassen. Daraufhin klagte der herzogliche Fiskal den eigenwilligen Minister wegen „verschiedener verbrechen, und criminum absonderlich perfidiae“30 an; das am 29. März 1735 in Kiel in Namen des Herzogs verkündete Urteil sah vor, „daß angeklagter und arrestatus Baron von Stambke aller seiner ehren-ämbter, würden, und bedienungen zu entsezen, auch so lange in einem gefälligen, sicheren, jedoch honetten verwahrsam zu halten sey, biß wir solchen arrest zu relaxiren dermahleinsten gnädigist guth, mithin unß und unsers fürstlichen hauses interesse unschädlich finden können“.31 Die Verwandtschaft des inhaftierten ehemaligen Geheimen Rats, insbesondere sein Neffe Heinrich Friedrich Pilgram, appellierte gegen dieses Urteil an den

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Verfahrensakten: HHStA, RHR, Den. rec. 1262/1. Die einzelnen Schriftstücke sind mit Quadrangelnummern versehen, nach denen im folgenden zitiert wird. Den Hinweis auf den vorliegenden Fall verdanke ich HR Hon.-Prof. Dr. Leopold Auer (Wien). 2 8 Stambke stammte aus Braunschweig und war vorher in hannoverschen sowie – bis 1718 – in schwedischen Diensten gewesen. 1726 ist er als Hofkanzler und Mitglied der Geheimen Kanzlei des Herzogs von Schleswig-Holstein-Gottorf belegt, nach seiner Rückberufung aus Russland 1729 war er im Geheimen Rat tätig, seit 1732 Amtmann von Trittau und Reinbek: Robert Pries, Das Geheime Regierungs-Conseil in Holstein-Gottorf 1716–1773 (Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig-Holsteins 32), Neumünster 1955, S. 28f., 35f., 43, 46, dort auch knapp zum hier behandelten Konflikt, allerdings ohne Erwähnung des Reichshofratsprozesses. 2 9 Insbes. HHStA, RHR, Den. rec. 1262/1 Nr. 3, 10, 16. 3 0 Zitat aus dem Urteil: vgl. die folgende Anmerkung. 31 HHStA, RHR, Den. rec. 1262/1 Nr. 1, Beilage A.

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Reichshofrat32, ohne jedoch allen Formvorschriften des Appellationsprozesses Genüge zu tun. Dabei berief sich der Agent Stambkes Hugo von Heunisch darauf, dem Kieler Anwalt seines Mandanten seien seine Manualakten weggenommen worden und er erhalte keinen Aktenzugang, außerdem sei der Herzog in dem fiskalischen Prozess durch seinen Fiskal als Ankläger und zugleich als Richter aufgetreten. Es liege eine unheilbare Nichtigkeit vor, die eine erstinstanzliche Anrufung des Reichshofrats rechtfertige.33 In der Sache führte der Agent einerseits aus, Stambke habe die Akten aus seinen Verhandlungen in Russland zur Durchsetzung seiner Gehaltsforderungen zurückbehalten, wozu er kraft ius retentionis34 berechtigt gewesen sei. Auch sei der Koffer 1734 ungeöffnet zurückgegeben worden, so dass der Vorwurf des herzoglichen Fiskals, durch Stambkes Schuld seien „arcana Serenissimi anderen zur ungebührlichen notice gekommen“35, nicht aufrecht zu erhalten sei. Zum anderen bemühte sich der Agent um kaiserliche Befehle zur Freilassung Stambkes und der Herausgabe der vorinstanzlichen Akten. Die entsprechenden kaiserlichen Befehle sollten von den ausschreibenden Fürsten des Niedersächsischen Reichskreises vollstreckt werden.36 Später forderte der Agent die Kassation des Kieler Fiskalprozesses und des gegen Stambke ergangenen Urteils, die Rückgabe oder den Ersatz beschlagnahmter Wertgegenstände, die Begleichung rückständigen Gehalts und eine Gehaltsfortzahlung, bis Stambke eine andere Stelle gefunden haben würde, außerdem Schadensersatz, u. a. für die mit dem – publizistisch verbreiteten37 – Urteil verbundene Ehrverletzung.38 Durchgehend wies er auf die Verdienste seines Mandanten in seiner langjährigen verantwortungsvollen Position hin.39 Bezogen auf die ihm vom Reichshofrat zur Stellungnahme zugeschickte Appellationsklage ließ der beklagte Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf durch seinen Agenten Daniel Hieronymus von Praun auf das Appellationsverbot in Strafsachen verweisen und behauptete damit die Unzuständigkeit des Reichshofrats.40 Hinsichtlich des Nichtigkeitsvorwurfs bemühte er sich um den Nachweis, dass der gegen Stambke durchgeführte Prozess weder formal noch material zu 3 2

Appellationsklage ebd. Nr. 1.

3 3 Insbes. ebd. Nr. 10.

3 4

St. Chr. Saar, Zurückbehaltungsrecht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Bd. 5, Berlin 1998, Sp. 1813–1815. 3 5 HHStA, RHR, Den. rec. 1262/1 Nr. 3. 3 6 Ebd. Nr. 16. 37 So die Ausführungen in der Appellationsklage ebd. Nr. 1. 3 8 Ebd. Nr. 27. 3 9 Z. B. ebd. Nr. 10 und 16. 4 0 Ebd. Nr. 19, 23. Zum Appellationsverbot in Strafsachen Christian Szidzek, Das frühneuzeitliche Verbot der Appellation in Strafsachen. Zum Einfluß von Rezeption und Politik auf die Zuständigkeit insbesondere des Reichskammergerichts (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Fallstudien 4), Köln/Weimar/Wien 2002.

Die Funktion der Reichsgerichte 631

beanstanden sei.41 Stambke sei durch einen Anwalt vertreten gewesen, der s­ eine Manualakten im Rahmen der üblichen Aktenkollationierung freiwillig dem Gericht übergeben und später nicht zurückverlangt habe. Das Gericht sei seiner eidlichen Verpflichtung auf den Fürsten entlassen bzw. an seinen Richtereid erinnert worden, wonach ohne Ansehen der Person Recht zu sprechen sei. Eine Aktenversendung sei im Fall von ordnungsgemäß bestellten höheren Gerichten nicht vorgeschrieben. Inhaltlich wies der herzogliche Agent darauf hin, dass einem Amtsträger keinesfalls ein ius retentionis an ihm lediglich zur Erfüllung seiner Aufgaben überlassenen, grundsätzlich im herrschaftlichen Archiv zu verwahrenden Akten zukomme. Die angebliche Zurückbehaltung sei ein Akt der Selbsthilfe und als solche eine Verletzung der Jurisdiktionsrechte der Obrigkeit und des Stambkeschen Diensteids. Ein solches „publicum delictum“ müsse in einem fiskalischen Prozess untersucht und der Verdächtige inhaftiert werden, zumal Stambke einen Fluchtversuch unternommen habe. Stambke sei nicht zum Tod verurteilt, sondern es sei lediglich eine seiner Ehre unschädliche Inhaftierung verfügt worden. Damit sei auf die „ordinariam poenam“ zugunsten einer „extraordinariam“ verzichtet worden. Der Nachweis, dass tatsächlich Arcana des Fürsten anderen zur Kenntnis gelangt seien, sei vor diesem Hintergrund verzichtbar. Der Agent des Herzogs bat, die Klage der Verwandten Stambkes abzuweisen. Der Reichshofrat folgte insofern den Ausführungen der Klägerseite, als er dem Antrag auf restitutio in integrum gegen etwaige Formverstöße im Rahmen des Appellationsverfahrens stattgab42 und später den Appellationsprozess eröffnete.43 Ansonsten ist das Verfahren von der Genehmigung der regelmäßig von beiden Parteien erbetenen Fristverlängerungen und der Zustellung der Schriftsätze an die jeweilige Gegenpartei zur Stellungnahme geprägt. Allerdings hat der Reichshofrat den Herzog mehrfach aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die Manualakten des Kieler Anwalts Stambkes freigegeben würden und Stambke Zugang zu Anwälten sowie die Möglichkeit, sich rechtlich zu verteidigen, erhalte, „wie es ohne diß eine unpartheyische justiz-administration und die rechte erforderen“. Außerdem solle Stambke gegen Kaution aus der Haft entlassen oder zumindest eine Verbesserung der Haftbedingungen gewährt werden. Der Herzog hatte die Befolgung dieser Anordnungen binnen zweier Monate nachzuweisen.44 Nach einer Prüfung des fiskalischen Prozesses legte der Reichshofrat dem Herzog nachdrücklich nahe, den gegen Kaution freizulassenden Stambke noch einmal zur Hauptsache zu hören, wobei ihm alle zur Vorbereitung seiner Verteidigung notwendigen Dokumente zur Verfügung zu stellen seien. Die im Beisein seines 41 Insbes. HHStA, RHR, Den. rec. 1262/1 Nr. 23.

42 Ebd. Nr. 12, Reskript an den Herzog.

4 3 Ebd. Nr. 42, Ladung des Herzogs, neu ausgefertigt an dessen Erben.

4 4 Ebd. Nr. 4 (Zitat), Nr. 22.

632 Eva Ortlieb

Anwalts inrotulierten Akten sollten dann einer auswärtigen Rechtsfakultät, die einzuschalten Stambke zugestimmt habe, zugeschickt werden, bei deren Urteil es zu bleiben habe. In der Folgezeit kam es weder zu einem solchen erneuten Prozess noch zu einem Appellationsprozess vor dem Reichshofrat. 1739 starb der beklagte Herzog, wenig später auch der noch immer inhaftierte Freiherr von Stambke. Seine Erben führten das Verfahren gegen die schleswig-holstein-gottorfische Vormundschaftsregierung zunächst weiter, bevor offenbar der Tod Kaiser Karls VI. 1740 den Prozess vor dem Reichshofrat zum Erliegen brachte.

IV.  Friedrich Carl von Moser contra Hessen-Darmstadt (1782–1788)45

Seine durch die Verfügungen Ludwigs IX. Landgraf von Hessen-Darmstadt verletzte Ehre schätzte Friedrich Carl von Moser so hoch ein, dass er darauf seine erste Klage gegen seinen ehemaligen Dienstgeber vor dem Reichshofrat gründete. Moser hatte seinen Dienst 1780 nach Unstimmigkeiten über die Einführung einer Lotterie aufgekündigt und war zunächst in Gnaden verabschiedet worden. Nach einem vom Landgrafen offenbar als beleidigend empfundenen Schreiben Mosers erhielt er aber ein später als „Signatur“ bezeichnetes Schriftstück, in dem schwere Vorwürfe gegen seine Amtstätigkeit erhoben wurden und das, so die Angaben Mosers, abschriftlich im Reich verbreitet worden sei. Der zutiefst gekränkte Moser reiste nach Wien. Dort erhob er, wie er betonte, zunächst keine Klage, stellte nach seiner Rückkehr nach Hessen dem Landgrafen aber offenbar eine solche in Aussicht, woraufhin ihm sein ehemaliger Dienstherr und Landesfürst unter Mosers Auffassung nach entwürdigenden Umständen „das consilium abeundi aus ihren landen ertheilen“ ließ. Moser entschloss sich zu einer Klage vor dem Reichshofrat. Er machte geltend, der Landgraf habe durch „Signatur“ und Landesverweis die Ehre seines ehemaligen Amtsträgers, dessen Verdienste er zuvor nachweislich anerkannt und gewürdigt habe, schwer verletzt, und zwar „unbefragt, ohnuntersucht, ohne urthel und recht“, und forderte Schadensersatz.46 4 5

Die Schilderung des Falls folgt den im Reichshofratsarchiv überlieferten zwei umfangreichen Relationen, in denen die Schriftsätze der beiden Parteien referiert und im Hinblick auf eine Entscheidung des Reichshofrats beurteilt werden: HHStA, RHR, Relationes 114. Vgl. auch Walter Gunzert, Ein deutscher Michel. Schicksal und Charakter des Freiherrn Friedrich Carl von Moser, in: Friedrich Facius/Karl Franz Reinking/Heinrich Schlick (Hrsg.), Geistiger Umgang mit der Vergangenheit. Studien zur Kultur- und Staatengeschichte (Festschrift Willy Andreas), Stuttgart 1962, S. 78–109, hier S. 96–103; ders., Friedrich Carl von ­Moser, in: Lebensbilder aus Schwaben und Franken 11 (1969), S. 82–117, hier S. 102–111; Angela Stirken, Der Herr und der Diener. Friedrich Carl von Moser und das Beamtenwesen seiner Zeit (Bonner historische Forschungen 51), Bonn 1984, S. 145–150. 4 6 HHStA, RHR, Relationes 114, Referat zu den am 29. August und am 9. Oktober 1782 präsentierten Eingaben.

Die Funktion der Reichsgerichte 633

Obwohl Moser für ihn vorteilhafte Verfügungen des Reichshofrats erwirken konnte, zog er am 21. Februar 1785 seine Klage zurück, um sich im August 1786 durch seinen Agenten Arnold Menk erneut an den Reichshofrat zu wenden. Der Landgraf hatte inzwischen einen fiskalischen Prozess gegen Moser vor einer ausschließlich zu diesem Zweck eingesetzten Kommission durchführen lassen, vor der Moser nicht erschienen war. In dem durch Aktenversendung an die Juristische Fakultät der Universität Frankfurt am Main ermittelten Spruch wurde Moser zu einer mehrjährigen Haft- und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Gegen seine Ladung zur Verkündung dieses Urteils reichte Moser erneut Klage vor dem Reichshofrat ein. Diesmal brachte er vor, mit der Einsetzung der nicht den kaiserlichen Verfügungen entsprechenden Kommission, von der er kein unparteiisches Verfahren erwarten könne, sei ihm das Recht versagt worden. Moser beantragte die Aufhebung der Kommission und die Kassation aller ­ihrer Verfügungen (einschließlich des Urteils und eines Vermögensarrests) sowie die Einsetzung einer unparteiischen Kommission aus Räten des Grafen von ­Hanau-Lichtenberg oder eines anderen Reichsstands, vor der er seine Unschuld ausführen könne.47 Ludwig von Hessen-Darmstadt ließ durch seinen Agenten Hafner drei umfangreiche Sachdarstellungen bzw. Befolgungsanzeigen vor dem Reichshofrat einreichen, zwei zur ersten, eine zur zweiten Klage seines ehemaligen Amtsträgers. Eher beiläufig wies er auf die Unzuständigkeit des Reichshofrats hin, da ein Amtsträger sich auch nach seinem Rückzug vor den Gerichten seines ehemaligen Dienstherrn und der Landesuntertan Moser sich vor dem Gericht seines Landesherrn zu verantworten habe. In der Sache erhob er schwere Vorwürfe gegen die Amtstätigkeit Mosers, die er als „eine kette des despotismi, eigenmacht, ungerechtigkeit“ bezeichnete. Die Verbrechen Mosers hätten erst in einer nach seiner Kündigung durchgeführten Untersuchung offengelegt werden können. Dass der Landgraf Moser seine Verfehlungen in der „Signatur“ habe vorhalten lassen, könne nicht als Beleidigung gewertet werden, der Landesverweis sei ein Akt der Großzügigkeit gewesen, um Moser einen fiskalischen Prozess zu ersparen. Sollte er sich damit nicht zufriedengeben, sei der Landgraf bereit, die Verfügung aufzuheben und eine unparteiische Kommission einzusetzen, vor der sich Moser verantworten könne. Die Mitglieder der Kommission würden für ihre Tätigkeit aus ihrem Eid auf den Landesfürsten entlassen oder aus den Räten benachbarter Reichsstände ausgewählt, das Urteil werde durch Versendung an eine unparteiische Rechtsfakultät ermittelt.48 Angesichts der zweiten Klage Mosers ließ der Landgraf nur noch auf „das aus der landesherrligen macht fliesende recht des 47 Ebd., Referat zu der am 28. August 1786 am Reichshofrat präsentierten Eingabe.

4 8 Ebd., Referat zu der am 26. Mai 1783 präsentierten Eingabe, ähnlich die Ausführungen in

einem am 26. April 1784 präsentierten Schriftsatz.

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herren impetraten, die impetrantische [also Mosers, d. Verf.] staats verwaltung durch eine eigene commission untersuchen zu laßen“, hinweisen, das der Kaiser ausdrücklich anerkannt habe.49 In seinen Verfügungen folgte der Reichshofrat zunächst weitgehend der Rechtsauffassung Mosers. In einem Reskript sine clausula, dessen Befolgung innerhalb von zwei Monaten nachzuweisen war, stellten die Reichshofräte fest, dass die vom Landgraf als beleidigend apostrophierten Moserschen Schreiben kein „Verbrechen“ seien und daher weder die „ohne alle untersuchung, ohne erstattetes gehör, und ohne erfolgten reichts [!] spruch gemachte härteste, und ehrverletzende auflagen“ der „Signatur“ noch die „abermahls ohne alle untersuchung, gehör, und urthel“ ausgesprochene Ausweisung zulässig seien. Daher sei Moser Schadensersatz zu leisten. Ein dem Reskript vorhergehendes Schreiben um Bericht hielt der zuständige Referent am Reichshofrat für unnötig, da Moser nach Kündigung und Landesverweis nicht mehr als hessen-darmstädtischer Untertan zu betrachten sei.50 Das Reskript wurde unter Verwerfung der landgräflichen Einreden in zwei Paritoria bestätigt. Dabei wurde dem Landgrafen allerdings vorbehalten, nach der Befolgung des Reskripts vor einer gemäß seinem Angebot unparteiisch besetzten Kommission gegen Moser vorzugehen. Die noch vor der Befolgung des Reskripts erfolgte Einsetzung der landgräflichen Untersuchungskommission gegen Moser sei zurückzunehmen.51 Nach der zweiten Klage Mosers kam es dem Reichshofrat vor allem darauf an sicherzustellen, dass die reichshofrätlichen Verfügungen der ersten Konfliktphase vom hessischen Landgrafen nicht völlig ignoriert wurden, ohne dass jedoch der Moserschen Argumentation gefolgt wurde. Moser habe seine Behauptung, er erhalte keinen Zugang zu den Akten und habe von der landgräflichen Kommission kein unparteiisches Verfahren zu erwarten, nicht bewiesen und die Sachdarstellungen seines ehemaligen Dienstgebers aus den Jahren 1783 und 1784 durch seinen Streitverzicht akzeptiert. Das Urteil der Frankfurter Rechtsfakultät gegen Moser wurde schließlich nur kassiert, weil das zugehörige Verfahren durch eine Ladung eingeleitet worden war, die der Reichshofrat 1784 und damit vor dem Moserschen Streitverzicht aufgehoben hatte.52 In seiner Erklärung zu dem entsprechenden kaiserlichen Reskript hielt der Landgraf an seiner Kommission fest. Sie sei durch den Reichshofrat lediglich bis zur Befolgung des Paritoriums von 1784 suspendiert worden; durch den Streitverzicht Mosers sei die Befolgung als gegeben anzusehen. Diese 49 Ebd., Referat zu der am 29. November 1787 präsentierten Eingabe.

5 0 Ebd., Conclusum vom 16. November 1782 mit vorhergehendem Votum des Referenten. 51 Ebd.,

Conclusa vom 12. September 1783 und vom 17. August 1784 mit vorhergehenden Voten des Referenten. 5 2 Ebd., Conclusum vom 28. Juni 1787 und vorhergehendes Votum des Referenten; Konzept des Reskripts an Ludwig Landgraf von Hessen-Darmstadt vom 30. Juni 1787: HHStA, ­RHR, OR 708/8.

Die Funktion der Reichsgerichte 635

Erklärung des Landgrafen wurde vom Reichshofrat letztlich für ausreichend erklärt, selbst wenn ihm die Publikation des Frankfurter Urteils untersagt wurde.53 Die Untersuchungen gegen Moser in Gießen gingen weiter und wurden erst 1790 nach dem Tod von Ludwig IX. Landgraf von Hessen-Darmstadt durch seinen Regierungsnachfolger niedergeschlagen.54

V. Rechtssicherheit für Amtsträger durch Reichsgerichtsverfahren?

Die im vorliegenden Beitrag und in der Forschung behandelten Beispiele55 zeigen, dass Amtsträger, die sich von ihren fürstlichen Dienstgebern ungerecht behandelt fühlten, die Reichsgerichte anrufen konnten und dies auch taten. Die entsprechenden Konflikte stützen damit die Interpretation von Bernhard Diestelkamp, wonach in der Konstruktion des Alten Reichs die Rechte der Einzelnen nicht durch eine auf Gewaltenteilung und Menschenrechten basierende Balance geschützt worden seien, sondern durch die Möglichkeit der gerichtlichen Klage.56 Für die Frage nach Rechtssicherheit erscheint bedeutsam, dass die betroffenen Amtsträger gerichtlich gegen ihren Dienstgeber vorgehen konnten, selbst wenn es sich dabei um ihre Obrigkeit handelte. Insofern wirkten die Reichsgerichte zweifellos an der Sicherung der Rechte der Einzelnen gegen die Träger hoheitlicher Gewalt mit, die ein – wenn auch weniger prominentes – Element des Rechtssicherheitsbegriffs, wie er sich im 19. Jahrhundert formte, bildete.57 Um 5 3 5 4

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HHStA, RHR, Relationes 114, Conclusum vom 28. Oktober 1788 mit vorhergehendem Votum des Referenten. Stirken, Herr (wie Anm. 42), S. 152. Z. B. Karl S. Bader, Die Rechtsprechung des Reichshofrats und die Anfänge des territorialen Beamtenrechts, in: ZRG GA 65 (1947), S. 363–379; Bernhard Diestelkamp, Reichskammergericht und Rechtsstaatsgedanke. Die Kameraljudikatur gegen Kabinettsjustiz, in: ders., Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich (Ius Commune, Veröffentlichungen des Max-Planck Instituts fürs Europäische Rechtsgeschichte, Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 122), Frankfurt a. M. 1999, S. 325–348. Bernhard Diestelkamp, Reichskammergericht und deutsche Rechtsstaatskonzeption, in: ders./Ingrid Scheurmann (Hrsg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn/Wetzlar 1997, S. 131–143. Vgl. auch Christoph Schmelz, Die Entwicklung des Rechtswegestaates am Beispiel der Trennung von Justiz und Policey im 18. Jahrhundert im Spiegel der Rechtsprechung des Reichskammergerichts und des Wismarer Tribunals (Schriften zur Rechtsgeschichte 117), Berlin 2004. Der zugrundeliegende Befund ist von der Frage der Anwendung des Staatsbegriffs auf das Alte Reich grundsätzlich unabhängig. Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit. Perspektivische Annäherungen an eine idée ­directrice des Rechts (Jus Publicum. Beiträge zum Öffentlichen Recht 148), Tübingen 2006, S. 9–14: Rechtssicherheit als Sicherung der Rechte des Bürgers nicht nur durch, sondern auch gegen den Staat; Werner Conze, Sicherheit, in: Otto Brunner/ders./Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 5, Stuttgart 1984, Ndr. 1994, S. 831–862, hier S. 853–855; Jens

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von einer effektiven Rechtssicherheit für Amtsträger gegen fürstliche Willkür sprechen zu können, müssten allerdings eine einigermaßen regelmäßige Inanspruchnahme der Reichsgerichte und die Wirksamkeit ihrer Verfügungen nachgewiesen werden. Zur ersten Frage – wie viele einschlägige Konflikte tatsächlich vor die Reichsgerichte gelangten – lassen sich auf der Basis der reichsgerichtlichen Überlieferung keine Angaben machen. Es fällt jedoch auf, dass die in den referierten Beispielen auftretenden Amtsträger schon vor dem Konflikt mit ihrem Dienstgeber über Verbindungen zum Reichshofrat verfügten; in den beiden ersten durch zumindest behauptete verwandtschaftliche Beziehungen und berufliche Kontakte58, und der ehemalige Reichshofrat Friedrich Carl von Moser kannte die reichshofrätliche Arbeitsweise natürlich genau. Zur zweiten Frage ist zu konstatieren, dass das reichshofrätliche Eingreifen in keinem der behandelten Beispiele direkt zu einer Lösung des Konflikts führte, die vielmehr (vermutlich) durch einen innerfamiliären Ausgleich bzw., in den beiden letzten Fällen, durch den Tod zumindest eines der Kontrahenten geregelt wurden. Damit ist selbstverständlich noch nicht über indirekte Wirkungen der reichshofrätlichen Verfügungen entschieden. Das Agieren des Reichshofrats erscheint vor allem durch die Auffassung geleitet, dass das Vorgehen fürstlicher Dienstgeber gegen ihre (ehemaligen) Amtsträger elementaren rechtlichen Grundsätzen genügen müsse, insbesondere dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs und der Einhaltung des ordentlichen Rechtswegs. Dies galt um so mehr, wenn es sich um hochrangige und langjährige Minister handelte, deren Verdienste von ihrem Dienstherrn beispielsweise durch Gnadenerweise anerkannt worden waren. Insbesondere Friedrich Carl von Moser legte dem Reichshofrat entsprechende Nachweise vor und stellte das Vorgehen des hessischen Landgrafen gegen ihn damit unter den Verdacht der Willkür. Als weiterer neuralgischer Punkt erwies sich die Verletzung der Ehre der betroffenen Amtsträger, die in allen behandelten Fällen eine maßgebliche Rolle spielte und von beiden Konfliktparteien gleichermaßen mit hoher Bedeutung versehen wurde, wie die mehrfach angezeigten Versuche der „Rufschädigung“ mit den Mitteln des Strafrechts oder der Publizistik belegen. Auch gravierende Eingriffe in die Lebensführung der betroffenen Amtsträger – durch Inhaftierungen oder Beschlagnahmen – forderten das reichshofrätliche Eingreifen heraus, sofern sie nicht durch ein auf dem ordentlichen Rechtsweg ergangenes Urteil Eisfeld, Art. Rechtssicherheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 10, Stuttgart/Weimar 2009, Sp. 743–746. 5 8 Der Freiherr von Stambke war an Verhandlungen mit kaiserlichen Vertretern wegen des Verzichts seines Dienstgebers auf Schleswig beteiligt: Pries, Regierungs-Conseil (wie Anm. 28), S. 50, und hatte nach eigenen Angaben in Russland eng mit den kaiserlichen Diplomaten zusammengearbeitet: HHStA, RHR, Den. rec. 1262/1 Nr. 3.

Die Funktion der Reichsgerichte 637

gerechtfertigt werden konnten. Das grundsätzliche Recht eines Fürsten aber, vor einem eigenen regulären oder Sonder-Gericht gegen dienstlicher Vergehen verdächtige Amtsträger vorzugehen, wurde vom Reichshofrat zumindest in den behandelten Fällen im 18. Jahrhundert nicht bestritten. Das betreffende Gericht musste allerdings als unparteilich gelten können, wozu dem Reichshofrat in den behandelten Fällen der Verweis, dass die betreffenden Richter für den in Rede stehenden Fall aus ihren eidlichen Verpflichtungen gegenüber dem Fürsten – ihrer Obrigkeit – entlassen worden waren, genügte. Die Frage der Eidentlassung von Richtern bzw. des Richtereids lässt durchaus Ansätze eines Denkens in Kategorien der Gewaltenteilung erkennen. Selbst wenn die direkte Wirkung der reichshofrätlichen Verfügungen im Einzelfall zweifelhaft ist und die behandelten Beispiele eher die Rechtsunsicherheit illustrieren, der sich fürstliche Amtsträger in der Frühen Neuzeit ausgesetzt sahen, trugen die reichsgerichtlichen Prozesse doch zweifellos zur Diskussion um die Rechte und Pflichten von Amtsträgern und ihren Dienstgebern bei. Diese Diskussion spielte sich nicht nur zwischen Klägern und Reichsgericht ab, sondern schloss – durch den Zwang zur Rechtfertigung der eigenen Maßnahmen, dem sich in den behandelten Beispielfällen keine der beklagten Obrigkeiten entzog – beide Seiten, Amtsträger und Fürsten, ein. Eine zusätzliche Wirkung konnte diese Diskussion durch die in den beiden letzten Fällen erwähnten und auch sonst bekannten publizistischen Möglichkeiten entfalten, indem Aktenstücke und Stellungnahmen gedruckt und damit einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.59 Insofern trugen die Reichsgerichte zumindest indirekt zur Rechtssicherheit von Amtsträgern und zur Ausbildung eines spezifischen Beamtenrechts bei.

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Friedrich Carl von Moser ließ vor dem Reichshofrat ausdrücklich die Bestrafung seines ehemaligen Dienstgebers beantragen, da er eine den Kaiser und ihn selbst diffamierende Schrift habe drucken und auf dem Reichstag verteilen lassen. Der Referent am Reichshofrat sprach sich dafür aus, den Antrag als nicht zur Sache gehörend abzuweisen: HHStA, RHR, Relationes 114, Referat zu der am 11. August 1788 präsentierten Eingabe sowie das dem Conclusum vom 28. Oktober 1788 vorausgehende Votum; vgl. auch den erwähnten Fall des braunschweigischen Rats Hieronymus von Münchhausen, den Moser in sein Patriotisches Archiv (wie Anm. 5) aufnahm.

Ulrich Falk

Rechtssicherheit durch Konsilien? 45 Thesen Rechtsgutachten (Konsilien) waren ein zentrales Element des gemeineuropäischen frühneuzeitlichen Rechtssystems. Viele Gerichte fällten ihre Urteile in Zivil- und Strafsachen nicht selbst, sondern holten sich – das Institut der Aktenversendung nutzend – „Rat“ bei juristischen Fakultäten bzw. den dort tätigen Rechtsgelehrten, die Consilia verfassten und damit die Urteile wesentlich beeinflussen konnten. Auch die Parteien nutzen zunehmenden das Instrument der Rechtsgutachten, um ihre Interessen vor Gericht durchzusetzen. Damit erzeugte die Gutachtentätigkeit allerdings immer größere rechtliche Varianz, bis hin zur parteigutachterlichen Deduktion fast jeder erdenklichen Auslegung und jedes erdenklichen Ergebnisses. Diese Varianz ging also ausgerechnet von jener Institution aus, von der man sich einen Zuwachs an Erwartungssicherheit und Rechtsrationalität erhofft hatte, den Gutachten (Konsilien). In dieser Hinsicht steht die Paradoxie der Konsilien exemplarisch für die frühneuzeitliche Ambivalenz von Sicherheit durch Recht und Sicherheit des Rechts. Diese Expertisen konnten zur Rechtssicherheit beitragen, aber auch die Unsicherheit des Rechts verstärken. Im Folgenden sollen Ambivalenz und Komplexität der Konsilien – wie beim mündlichen Vortrag in Marburg – lediglich in Form von Thesen entfaltet werden, die auf meiner umfassenden Studie aus dem Jahr 2006 basieren.1 Die Thesen 1. Konsilien – das heißt: von Rechtsexperten erstellte Rechtsgutachten zu streitigen Rechtsfällen – sind ein Dauer- und Kernphänomen der euro­ päischen Rechtskultur. 2. Schon im römischen Recht der Antike – dem Fundament dieser Rechtskultur  – waren solche consilia (responsa) von erheblicher Bedeutung, und mehr noch in den oberitalienischen Stadtstaaten des hohen und ausgehenden Mittelalters. 3. Auch in der heutigen Rechtspraxis begegnen Rechtsgutachten auf Tritt und Schritt. Ein zentraler Gegenstand des traditionellen deutschen Jura­studiums, das auf das erste Staatsexamen vorbereitet, ist die kunstgerechte Erstellung von Rechtsgutachten zu schwierigen Rechtsfällen (sogenannte Gutachtentechnik). Die Relationstechnik als methodische

1 Ulrich Falk, Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit (Recht-

sprechung 22), Frankfurt a. M. 2006. Ebd. auch sämtliche Belege und Nachweise. Eine extrem komprimierte Zusammenfassung einzelner Thesen findet sich bei ders., Konsilien, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart/Weimar 2007, Sp. 1118f.

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Grundlage der richterlichen Entscheidungsfindung ist eine Verfeinerung dieser Gutachten­technik. Konsilien waren auch ein prägendes Merkmal der Rechtspraxis im A ­ lten Reich in der rechtshistorischen Epoche des Usus modernus pandectarum (ca. 16.–18. Jahrhundert) auf der normativen Grundlage des rezipierten gemeinen römischen Rechts, verkörpert im Corpus Iuris Civilis des oströmischen Kaisers Justinian (Pandekten, Institutionen, Codex). In der Gerichtsverfassung des Alten Reichs waren diese Konsilien untrennbar mit einer Institution verknüpft, die zentrale Bedeutung für die damalige Rechtsprechung besaß – der Aktenversendung (transmissio actorum). Die frühneuzeitliche Praxis der Konsilien im Alten Reich ist als Markt zu deuten. Auf diesem Markt wurden Rechtsgutachten zu streitigen Rechtsfällen von unterschiedlichen Interessentengruppen im großen Umfang nachgefragt. Befriedigt wurde ihre Nachfrage von darauf spezialisierten Rechtsexperten gegen Zahlung marktüblicher Honorare, die als Anbieter professioneller juristischer Dienstleistungen miteinander konkurrierten. Es bleibt zu erforschen, inwieweit sich dieses rechtshistorische Deutungsmuster, das auf die frühneuzeitliche Gutachtenpraxis im Alten Reich zugeschnitten ist, auch für andere historische Räume und Epochen als passend erweist. Bewähren könnte sich das Marktmodell jedenfalls für die Deutung der Konsilienpraxis in den oberitalienischen Stadtstaaten des Mittelalters. Für die antike römische Praxis ist das unwahrscheinlicher. In vielen Territorien des Alten Reichs trafen Gerichte die Entscheidungen in Zivil- und Strafprozessen nicht selbst, sondern übertrugen die Urteilsfindung unter Versendung der Gerichtsakte an auswärtige Experten. Der gerichtliche Auftrag zur gutachterlichen Ausarbeitung von Entscheidungsvorschlägen (consilia iudiciale, Gerichtsgutachten) konnte sich auf die Erstellung eines Urteilstenors beschränken oder die Ausarbeitung einer inhaltlichen Begründung umfassen. In umkämpften Prozessen bedurfte es bis zum rechtskräftigen Endurteil oft einer Mehrzahl von Versendungen. Viele Gerichte überließen den Kollegien auch verfahrensleitende Zwischenentscheidungen und Rechtsmittel. Dies steigerte den Bedarf nach entsprechenden Konsilien und minderte zugleich die Arbeits- und Verantwortungslast der Gerichte, die auf dem Gutachtenweg eigene Defizite kompensieren konnten. Auftraggeber von Rechtsgutachten waren in unzähligen Fällen aber auch Prozessparteien bzw. deren Parteivertreter (Advokaten, Prokuratoren), am meisten in Zivilsachen (sogenannte Parteigutachten, consilia pro ­parte). Erstattet wurden die Konsilien teilweise durch einzelne namhafte Juris­ ten, insbesondere Rechtsprofessoren, überwiegend aber von juristi-

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schen Fakultäten, die hier als sogenannte Spruchkollegien eine rechtsprechende Funktion ausübten. Hinzu kamen einzelne Schöffenstühle, denen es im 16. Jahrhundert gelungen war, sich an gewandelte Strukturen der Rechtspflege anzupassen, insbesondere an die Vollrezeption des antiken römischen Rechts. Seit dem 16. Jahrhundert gelangte eine große Zahl oft mehrbändiger Konsiliensammlungen auf den Buchmarkt. Sie enthalten jeweils hunderte – mitunter sogar tausende – Gerichts- und Parteigutachten, teils im Volltext, teils mehr oder weniger stark gekürzt. Diese Expertisen bezeichneten die Zeitgenossen in Anlehnung an das römische Vorbild und die gemeinrechtliche Jurisprudenz des Mittelalters als consilia oder responsa (consiliare im Sinne von beraten, respondere von beantworten). Das Zentrum der Gutachtenpraxis im deutschsprachigen Raum lag in Sachsen (Jena, Leipzig, Wittenberg u. a.). Der Geschäftsanfall außersächsischer Kollegien war weitaus geringer, aber gleichwohl beträchtlich. Zum Beispiel werden die Universitäten Marburg und Kiel mit je 36 000 veranschlagt, Tübingen und das spät gegründete Göttingen mit je 25 000; Halle soll es vermutlich ebenfalls auf rund 36 000 Rechtsgutachten gebracht haben, obwohl es seine Dienstleistungen erst am Ende des 17. Jahrhunderts aufnahm. Die ständige Bereitschaft der Konsiliarjuristen zur Begutachtung von Prozessakten  – eine nicht nur verantwortungs- und anspruchsvolle, sondern auch zeitintensive und mühsame Tätigkeit – war primär finanziell motiviert. Für die Aktenversendung mussten die Parteien namhafte Gebühren entrichten, die unter den ordentlichen Mitgliedern der Kollegien aufgeteilt wurden. Noch attraktiver waren die Honorare, die private Auftraggeber zu zahlen bereit waren, zumal bei hohen Streitwerten, an erster Stelle im Erb- und Lehensrecht. Überzeugende Rechtsgründe, die auf guten Argumenten aufbauten, waren knappe Güter. Gute Rechtsgründe zu erzeugen, erforderte gehöriges Fachwissen, Erfahrung, Arbeitszeit und Kreativität. Dies hatte seinen Preis. Mittelbar kamen die universitären Dienstleistungen auch Landesherren und Städten zugute, die als Dienstherrn die Besoldung ihrer Professoren und Richter gering halten konnten, obwohl der reibungslose Betrieb und das Ansehen ihrer Universitäten und Gerichte von großem öffentlichen Interesse waren. Die Mitglieder der Spruchkollegien konnten für ihre Dienstleistungen nicht nur Honorar- und Gebührenanteile einstreichen, sondern profitierten von ihrer ständigen Arbeit in der Rechtspraxis auch fachlich. Ein Teil ihrer Publikationen fiel ihnen am Buchmarkt in Gestalt der Kon-

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siliensammlungen geradezu in den Schoß. Ein Rechtsprofessor im Alten Reich, der Rechtsgutachten ausarbeitete, war nichts weniger als ein weltfremder Stubengelehrter im berüchtigten Elfenbeinturm der Wissenschaft. Bezeichnenderweise wird die Epoche des Usus modernus pandectarum in der rechtshistorischen Literatur traditionell als besonders praxisnah, dafür aber rechtswissenschaftlich minderwertig ­bewertet. 18. Die Zweckbestimmungen der Parteigutachten waren zahlreich, komplex und tief in die Struktur der frühneuzeitlichen Gerichtsbarkeit verwoben. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Strukturen des Gutachtenmarkts. 19. Eine wichtige Absicht lag selbstverständlich darin, Aufklärung über die Rechtslage und eine unbefangene, verlässliche Einschätzung der Prozessaussichten zu erhalten – wenn man will also: Rechtssicherheit im Sinne von Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit gerichtlicher Entscheidungen. 20. Die leichte Verfügbarkeit professoraler Rechtsauskünfte bildete ein Gegengewicht zur schwierigen Gesetzeslage des römisch-kanonischen Rechts. Die Konsilien machten die normative Vielfalt erträglicher und wirkten den notorischen Schwächen der vormodernen Anwalt- und Richterschaft entgegen. 21. Anwälte, die ihre Mandanten zur Einholung von Konsilien motivier­ ten – im Zweifel auf Kosten dieser Mandanten – konnten eigene Schwächen kompensieren, sparten Arbeitszeit und entlasteten sich für den Fall des Scheiterns im Prozess von Eigenverantwortung, wenn nur die fachliche Autorität der anwaltsseitig beigezogenen Rechtsgutachter groß genug war. Auch deshalb waren die Juristenfakultäten angesehener Universitäten erste Adressen des frühneuzeitlichen Gutachtenwesens. 22. Die vormoderne Rechtsordnung des gemeinen, römisch-kanonischen Rechts (ius commune) ermöglichte kundigen Juristen ein besonders hohes Maß an Freiheit in der Entscheidungsfindung und -begründung. In jedem Rechtsfall, der einen gewissen Grad an Komplexität erreichte, waren normative Spielräume und Entscheidungsalternativen verfügbar. Sogenannte Anwendung des Rechts erschöpfte sich dann nicht in ­einer Subsumtion vorgegebener Sachverhalte unter Normen, deren Regelungsinhalte objektiv festgestanden hätten. Vielmehr kam stets eine rechtsschöpferische und -gestaltende Funktion hinzu, die von dienstleistenden Rechtsexperten genutzt werden konnte, zu wessen Vorteil auch immer. 23. Von einem wertungsfreien Mitteilen einer objektiv vorgegebenen Rechtslage konnte allenfalls bei schlichten, mehr oder weniger elementaren Rechtsfragen die Rede sein. So einfach lagen die Problemstellungen, die in der Gutachtenpraxis zur Entscheidung anstanden, aber nur selten. Auf einem anderen Blatt steht es freilich, dass der souveräne Ein-

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satz rechtsdogmatischer und rhetorischer Mittel die Illusion erzeugen konnte, das Ergebnis wäre von Rechts wegen zwingend vorgegeben. 24. Aus der Anwaltsperspektive war die Erwartung, die Urteilsfindung auf diesem Weg zu beeinflussen, nicht unrealistisch. Maßgebend waren nicht nur die fachliche Autorität der Fakultätsgutachten und die Kraft ihrer Argumente. Eine besondere Versuchung für jeden Richter hing mit ihrer formalen Struktur zusammen (Vorbildfunktion). Gutachtentechnisch waren zwei Versionen gleichermaßen verbreitet. 25. Am Anfang standen jeweils die rationes dubitandi (Zweifelsgründe). In diesen waren sämtliche Argumente zusammenzustellen, die zugunsten der unterliegenden Partei in Betracht kamen. Die rationes decidendi (Entscheidungsgründe) enthielten einen Katalog aller Argumente zugunsten der im Ergebnis siegreichen Partei. In der dreigliedrigen Version standen diese beiden Textteile unkommentiert nebeneinander. Ihre inhaltliche Verknüpfung erfolgt in den abschließenden rationes ­refutandi (Widerlegungsgründe). In der zweigliedrigen Fassung entfielen diese Widerlegungsgründe; hier stellten schon die erweiterten Entscheidungsgründe den Bezug her. 26. Der gerichtliche Referent, der in der Akte gründlich ausgearbeitete Konsilien vorfand, befand sich in einer erfreulichen Lage. Er konnte die Rechtslage bequem überblicken und die verfügbaren Argumente abwägen, ohne sich in die Fachliteratur einlesen zu müssen. Solche Konsilien ließen sich mit minimalem Aufwand in gerichtsinterne Relationen und, sofern erforderlich, in Urteilsgründe umformen. 27. Diese Verlockung stieg, wenn der Referent unter hohem Arbeitsanfall litt. Dazu wiederum trug bei, dass die Prozessakten im schriftlichen Verfahrensgang oft großen Umfang annahmen, was nicht zuletzt die professoralen Urteilsverfasser an den Universitäten belastete. 28. Ein beliebtes Mittel zur Verstärkung des Autoritätseffekts war die gehäufte Vorlage von Rechtsgutachten, sei es als voneinander unabhän­ gige Expertisen, sei es als Erstgutachten mit zustimmenden Zweitgutachten, sogenannten Approbationen. 29. Von größter praktischer Bedeutung war die Funktion von Parteigutachten zur Begrenzung des Prozesskostenrisikos. Im Prinzip galt die Regel, dass der Verlierer dem Sieger die Prozesskosten ersetzen musste. Die Rechtfertigung der Kostentragung sah die herrschende prozessrechtliche Lehre aber nicht in der bloßen Tatsache des Unterliegens, sondern in einer ­Strafe für eine leichtfertige Einlassung auf einen aussichtslosen Prozess. 30. Diese Fahrlässigkeit wurde nur widerleglich vermutet. Man gestattete dem Verlierer den Gegenbeweis, dass er in gutem Glauben an eine gerechte Sache – eine justa causa litigandi – prozessiert habe. Dafür ge-

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nügte es nach ganz herrschender Meinung, dass die unterlegene Partei vor Prozeßbeginn ein oder zwei Fakultätsgutachten einholte, die ihr hinreichende Erfolgsaussichten bescheinigten. In diesem Fall wurde der Empfänger des Gutachtens von der Ersatzpflicht freigestellt. Jede Partei hatte dann ihre eigenen Anwaltskosten voll und die Gerichts- und Aktenversendungskosten hälftig zu tragen. Diese Kostenregel wurde in vielen einzelnen Territorien durch Prozessund Gerichtsordnungen mehr oder weniger verändert, beherrschte aber – scharfer rechtspolitischer Kritik zum Trotz – die gemeinrechtliche Praxis bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts. Dies fand seinen Niederschlag nicht zuletzt in der Anwaltsliteratur: Die Verfasser, die ihrerseits Rechtspraktiker waren, rieten ihren Anwaltskollegen dringend zur Einholung von Parteigutachten, um sich den Kosteneffekt zunutze zu machen und gleichzeitig Verantwortung für etwaige Misserfolge im Prozess von sich selbst abzuwälzen. Die Konsilien namhafter Universitäten konnten sich auch bei Verhandlungen über einen Vergleich als nützlich erweisen. Ein nachhaltiger Effekt war besonders dann zu erhoffen, wenn der Gegner über keinen gleichwertigen Anwalt verfügte, also keine sogenannte Waffengleichheit herrschte. Die meisten Verwendungsmöglichkeiten für Parteigutachten hatten eine gemeinsame Bedingung: Das Gutachten musste im Ergebnis zugunsten des Auftraggebers ausfallen. Ein Dauerproblem des frühneuzeitlichen Gerichtswesens lag in der Entlohnung der juristischen Funktionselite. Auskömmliche Gehälter waren in den Territorien des Alten Reichs auch bei Richtern auf Lebenszeit lange Zeit die Ausnahme. An den meisten Gerichten verwies man die Richter auf die einkommenden Gerichtsgebühren. Ordentliche Professoren verfügten zwar in aller Regel über eine Festbesoldung, die aber – zumindest nach eigener Wahrnehmung – viel zu niedrig bemessen war. In Krisenzeiten wurden die Honorarzahlungen leicht zur einzig verlässlichen Einnahmequelle. Aus diesem Grund war es von entscheidender Bedeutung, dass die Einnahmen der Spruchpraxis nicht den Universitäten als Institutionen zuflossen. Sie wurden unter den Mitgliedern der Spruchkollegien nach internen  – oft hart umkämpften  – Schlüsseln aufgeteilt. Dieses wirtschaftliche Fundament der Konsiliarpraxis blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein unangetastet. Generell war die Mitgliedschaft in florierenden Spruchkollegien hochbegehrt. Die Spruchkollegien standen untereinander in scharfer Konkurrenz. Zahlungskräftige Auftraggeber, deren Erwartungen an einem Ort enttäuscht wurden, konnten anderenorts auf größeres Entgegenkommen

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hoffen. Manche Universitäten trafen sogar in ihren Statuten normative Vorsorge, um die Attraktivität ihres Angebots zu bewahren. 38. In diesem Kontext steht auch eine apokryphe Methodenregel, die in der Anleitungsliteratur für Rechtsgutachter gelehrt wurde: in dubio pro amico. Im Zweifel sei zu Gunsten des Freundes zu entscheiden. „Freund“ war die traditionelle Anrede, mit der sich die Auftraggeber von Rechtsgutachten und die dienstleistenden Rechtsexperten im Schriftverkehr wechselseitig anzureden pflegten. 39. Die simple Schlussfolgerung, vom materiellen Interesse auf eine ständige latente Bereitschaft zugunsten des jeweiligen Auftraggebers zu entscheiden, griffe freilich zu kurz. In Rechnung zu stellen sind viele weitere Faktoren: religiöse, ethische und fachliche Überzeugungen, persönliche Integrität, Gerechtigkeitswille, standesethische Pflichten, berufliche Sozialisation, gruppendynamische Prozesse in den Kollegien. 40. Eine effiziente Grenze war der Parteilichkeit aber auch bei Juristen gezogen, die auf ansehnliche Honorare angewiesen waren. Für ihre Auftraggeber war wenig gewonnen, wenn Richter und Gerichtsgutachter ihre Expertisen wegen evidenter Parteilichkeit gelangweilt zur Seite schoben. Allzu geradlinige Parteilichkeit verspielte soziales Kapital. 41. Auch das zweckrationale Kalkül des wohlverstandenen Eigeninteresses zog also der Parteilichkeit eine gewisse Grenze, deren konkreter Verlauf freilich in jedem Einzelfall anders – von strenger Prinzipientreue bis hin zu hemmungslosem Opportunismus – gezogen werden konnte. 42. Rechtsgutachter, die ihr berufliches Ansehen durch substanzlose Pseudodeduktionen verkommen ließen, mussten auf längere Sicht mit Umsatzeinbrüchen rechnen. Die Hemmungslosigkeit mancher Akteure zerstörte Marktvertrauen; zeitgenössische Beobachter sprachen dann von avaritia im Sinne maßloser Gier. 43. Hier liegt die Erklärung für die Diskreditierung der italienischen Konsiliatoren im Übergang vom späten Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Dieser Niedergang vollzog sich in scharfem Kontrast zur bis heute fortwirkenden Berühmtheit der italienischen Konsiliatoren des ausgehenden Mittelalters um Bartolus und Baldus. 44. Standhaftigkeit gegenüber allzu hohen Erwartungen des Auftraggebers  – wenn man will: des Freundes  – war im Zweifel die minder ­riskante Alternative. Noch besser war es freilich, falls es den Gutachtern gelang, gerade dann Glanzleistungen zu erbringen, wenn die angetragenen Fälle auf den ersten Blick fast aussichtslos wirkten. 45. Der Rechtssicherheit des Rechts – verstanden als Vorhersehbarkeit, im Idealfall sogar Eindeutigkeit des Rechts – war all dies nicht zuträglich. Den Interessen der zahlenden Auftraggeber umso mehr.

Inken Schmidt-Voges

Securitas domestica oder ius certum domus? Juristische Diskurse zur Sicherheit des Hauses um 1700 „Sehr häufig im täglichen Sprachgebrauch, sehr selten bei den Rechtsgelehrten findet sich die Erwähnung der Sicherheit des Hauses – oder umgangssprachlich des Hausfriedens.“1 Mit dieser Feststellung eröffnete der Wittenberger Rechtsprofessor Georg Beyer (1665–1714) eine Dissertation mit dem Titel „De violatione securitatis domesticae oder Hausfriedensbruch“; ihr Ziel war es, juristische Konzepte und Instrumente vorzustellen, mit denen Sicherheit für Häuser gewährleistet werden konnte, und diese zugleich zum Gegenstand gelehrter Diskussion zu machen. Dieser Einleitungssatz umreißt bereits die ganze Problematik seines Themas. In der Sache konstatierte er ein eklatantes Auseinanderklaffen zwischen Rechtspraxis und Rechtsnorm, die begriffliche Differenz zwischen der „securitas domestica“ des gelehrten Lateins und dem „Hausfrieden“ der Volkssprache spiegelt die Frage nach konzeptioneller Diskrepanz oder Analogie wider. Ihm ging es demnach um eine grundsätzliche Aufarbeitung von Rechtsnormen bezüglich dessen, was unter „Sicherheit“ auf der häuslichen Ebene zu verstehen sei und wie diese durch eine Aufarbeitung des „Hausfriedens“ adäquat in der gelehrten Jurisprudenz zu verankern sei. Über die inhaltliche Beschäftigung mit den 1



[Frequentissima in ore vulgo, rarissima apud ICtos securitatis, vel ut vulgo, pacis domesticae.] Georg Beyer, De Violatione securitatis domesticae, Jena 1713, § 1, S. 103. Das Werk ist beigebunden dem Druck von Friedrich Gottlieb Struve, Tractatus de pace domestica vulgo vom Haus-Frieden in quo haec materia ex iuris naturalis et gentium principiis nec non iuris civilis, canonici et feudalis placitis derivatur, pluribusque scabinatuum responsis illustrata ad praxin hodiernam adplicatur […], Jena 1713. Die hier zitierte Ausgabe ist Grundlage für die im Text verwendeten Zitate und Verweise. Die zugrundeliegende Dissertation wurde 1709 (und nicht 1701, wie im Struve-Band fälschlich angegeben) in Wittenberg unter dem Präsidium von Georg Beyer von dem Respondenten Heinrich Friedrich von Ende verteidigt und veröffentlicht unter Georg Beyer, Dissertatio iuris gentium et Germanici occasione edicti adversus duella a sereniss. et potentiss. patriae patre promulgati, de violatione securitatis domesticae = Hauß- Friedensbruch, Wittenberg 1709. Eine weitere Ausgabe erschien unter demselben Titel 1717 ebenfalls in Wittenberg und 1723 in den gesammelten Werken Beyers unter Georg Beyer, Georgii Beyeri […] dissertationes et opuscula de selectis iuris publici et privati argumentis conscripta: in unum volumen collecta; quo continentur dissertationes […]; quibus adiecta thematum ex vario iure selectorum centuria; praemissa est Vita autoris, Leipzig 1723, S. 156–182. Vgl. hierzu die Einträge in der Datenbank des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte „Juristische Dissertationen des 16.–18. Jahrhunderts aus Universitäten des Alten Reiches“, http://dlib-diss.mpier.mpg.de/ (23. 04. 2012). Da Verfasserschaft bei Dissertationen (Präses oder Respondent?) selten eindeutig zu klären ist, kommen grundsätzlich Präses und Respondent in Betracht, wobei ich hier der allgemeinen Praxis folgend den jeweiligen Präses als ersten Autoren nenne.

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vorhandenen Rechtsnormen hinaus stellt sich die Frage, ob die damit angestrebte Rechtssicherheit nicht selbst als Teil dieser häuslichen Sicherheit angesehen wurde. Die juristische Debatte um die Sicherheit des Hauses war – im Vergleich zur übergreifenden Sicherheitsdebatte dieser Zeit – eine kurze, aber intensive. Sie lässt sich vornehmlich an drei Dissertationen bzw. Traktaten zwischen 1674 und 1713 festmachen, die neben dem bereits erwähnten Wittenberger Georg Beyer noch vom Greifswalder Rechtsprofessor und Konsistorialrat Friedrich Gerdes (1634–1695) sowie dem Jenaer Hofgerichtsadvokaten und späteren Kieler Ordinarius Friedrich Gottlieb Struve (1676–1752) getragen wurden.2 Diese drei Juristen machten die Sicherheit des Hauses in einer Zeit zum Thema, die zum einen ein zunehmendes sozioökonomisches Interesse der Obrigkeiten an einer Steigerung und Stabilisierung der (Re)Produktivität häuslicher Ökonomien gewärtigte und die zum anderen eine Zeit prägender methodischer Entwicklung in den Rechtswissenschaften war: Mit der Etablierung des usus modernus pandectarum wurde die einst unumstrittene Autorität des römischen Rechts herausgefordert und eine gelehrte Beschäftigung mit den einheimischen Partikularrechten ermöglicht. Auf der anderen Seite stellte die sich entwickelnde Naturrechtslehre Begriffe und Denkmuster bereit, gesellschaftliche Ordnung neu zu denken und zu begründen.3 Diese beiden methodischen Voraussetzungen ermöglichten die juristische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen in einer neuen Komplexität, weil in den naturrechtlichen Ableitungszusammenhängen vielfach die sozialen und kulturellen Kontexte von Recht offenbar wurden, in denen die jeweiligen Untersuchungsgegenstände verortet wurden. Die Etablierung des „Hauses“ als Gegenstand von juristischen Sicherheitsdiskursen bot in den Augen der Verfasser demnach hinreichend Potenzial, die übergeordneten Debatten entscheidend zu erweitern.4 Wenn Beyer die fehlende wissenschaftliche Fundierung des vielfach benutzten Begriffes „Hausfrieden“ für die Rechtswissenschaft um 1700 monierte, gilt das 2

Daneben lassen sich noch zwei weitere Dissertationen aus späteren Jahren finden, die sich aber nicht mehr grundsätzlich zur Thematik äußern, sondern lediglich Teilfragen aufgreifen: Philipp Bechtold, Dissertatio inauguralis de crimine fractae pacis domesticae inprimis de Heimsucha Germanorum, Straßburg 1727; Carl Friedrich Walch, Singularia Germanorum Instituta de pace domestica, Jena 1772. Zur Bedeutung der Dissertationen als Textgattung für die Diskussion und Distribution aktueller Fragestellungen und neuer wissenschaftlicher Zugänge in den Rechtswissenschaften des Alten Reiches vgl. Karl Härter, Ius publicum und Reichsrecht in den juristischen Dissertationen mitteleuropäischer Universitäten der Frühen Neuzeit, in: Jacques Krynen/Michael Stolleis (Hrsg.), Science politique et droit public dans les facultés de droit européennes (XIIIe-XVIIIe siècles), Frankfurt a. M. 2008, S. 485–528. 3 Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3: Ab 1650, Köln 2008, S. 54–56. 4 Zu den übergeordneten Sicherheitsdebatten im Alten Reich vgl. Karl Härter, Sicherheit und Frieden im frühneuzeitlichen Alten Reich. Zur Funktion der Reichsverfassung als Sicherheits- und Friedensordnung 1648–1806, in: ZHF 30 (2003), S. 413–431.

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im Wesentlichen auch heute noch: Explizit eine historische Perspektive auf den Hausfrieden nehmen lediglich eine Monographie, eine strafrechtliche Dissertation und ein Handbuchartikel ein.5 Dennoch erfreut sich der Hausfrieden als Schutz von Leben, Leib, Ehre, Hab und Gut einer hohen Deutungskraft, insbesondere in Arbeiten zum Werte- und Normensystem (spät)mittelalterlicher Städte und Gemeinden. Peter Blickle weist dem Haus und seinem Frieden gar konstitutive Funktion für das Alte Europa zu.6 Ebenso tauchen in Arbeiten zu häuslicher Gewalt und Ehenormen in der Frühen Neuzeit immer wieder Hinweise auf den Hausfrieden als innerhäusliches Ordnungsprinzip auf7, ohne jedoch die konkrete historische Konzeptualisierung von Hausfrieden zu hinterfragen – zu offenbar scheinen die Analogien zum gegenwärtigen Verständnis von Hausfrieden bzw. Hausfriedensbruch zu sein.8 Fragt man also danach, warum die Verfasser gerade im „Hausfrieden“ den entscheidenden Ansatzpunkt für eine juristische Konzeptionalisierung von Sicher­heit für das Haus sahen, gilt es erstens deren Definitionen und begriffliche Verknüpfungen herauszuarbeiten, zweitens wird zu untersuchen sein, wem oder was die durch den Hausfrieden gewährte Sicherheit galt bzw. gegen welche potentiellen Bedrohungen die Sicherheit stark gemacht werden musste und schließlich ist 5 Eduard Osenbrügge, Der Hausfrieden. Ein Beitrag zur deutschen Rechtsgeschichte, Erlangen

1857 (Neudruck Aalen 1968), behandelt den Hausfrieden in mittelalterlichen Rechtstexten vornehmlich der Eidgenossenschaft vom 12.–16. Jahrhundert. Joachim Trabandt, Der kriminalrechtliche Schutz des Hausfriedens in seiner geschichtlichen Entwicklung, Hamburg 1970, bleibt in der Analyse hinter den Dissertationen des 18. Jahrhunderts deutlich zurück, die er auch nicht rezipiert hat. Bernd Kannowski, Hausfrieden, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 2011, Sp. 803–805, liefert einen aktuellen Überblick. 6 Peter Blickle, Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München 2008, S. 120f.; beispielhaft sei verwiesen auf Barbara Frenz, Frieden, Rechtsbruch und Sanktion in deutschen Städten vor 1300. Mit einer tabellarischen Quellenübersicht nach Delikten und Deliktgruppen (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas: Symposien und Synthesen 8), Köln 2003; Gudrun Wittek, „Fride“ und „pax“ als Bezeichnungen für spätmittelalterlichen städtischen Frieden, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 120 (1997), S. 59‑78. 7 Zur Problematik vgl. Inken Schmidt-Voges, Das Haus und sein Frieden. Plädoyer für eine Ausweitung des politischen Friedensbegriffs in der Frühen Neuzeit, in: dies./Siegrid Westphal/Volker Arnke/Tobias Bartke (Hrsg.), Pax perpetua. Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit (Bibliothek Altes Reich 8), München 2010, S. 197–218. 8 Vgl. Kannowski, Hausfrieden (wie Anm. 5), Sp. 805. Zur häuslichen Gewalt und Ehekonzepten vgl. z. B. Inge Kaltwasser, Ehen vor Gericht. Kriminalfälle und zivilrechtliche Ehesachen aus den Akten der Frankfurter „Criminalia“ und des Reichskammergerichts, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 68 (2002), S. 235–273, hier S. 241, 247; Beatrix Bastl, Caritas conjugalis. Zur Bedeutung des Friedens in der Ehe, in: Geschichtsblätter zur Wiener Geschichte 52 (1997), S. 221–233; zu Ehefrieden im Kontext ehelicher Machtverhältnisse vgl. Dorothea Nolde, Gattenmord. Macht und Gewalt in der frühneuzeitlichen Ehe, Köln 2003, S. 89–93.

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drittens zu fragen, mit welchen Mitteln eine solche Sicherheit in den Augen der Verfasser gewährleistet werden konnte. Jüngst ist für die frühneuzeitliche Entwicklung des Sicherheitsbegriffs darauf hingewiesen worden, dass dieser aus seiner Verankerung mit der „guten Policey“ und den grundsätzlichen Schutzfunktionen von herrschaftlicher Obrigkeit heraus zunächst sehr umfänglich angelegt war und sich auch auf Rahmenbedingungen der Existenzsicherung bzw. „Wohlfahrt“ bezog – also nicht nur den Schutz vor existentiellen Bedrohungen umfasste, sondern „human security“ bzw. soziale Sicherheit einschloss.9 Vor diesem Hintergrund erscheint eine kurze Darstellung der dem „Haus“ zugedachten gesellschaftlichen Ordnungsfunktion um 1700 zur Einordnung der juristischen Kontexte sinnvoll, bevor die einzelnen Texte analysiert werden.

I.  Das „Haus“ und seine Ordnungsfunktionen um 1700

In politisch-administrativer Hinsicht bildete das „Haus“ eine elementare Einheit der Gesellschaft. Der Hausvater repräsentierte als häusliche Herrschaft die ihm unterstehenden Hausgenossen in politischen und rechtlichen Angelegenheiten, darüber hinaus war das „Haus“ Basis für den obrigkeitlich-administrativen Zugriff auf die Untertanen, sei es zur Steuererhebung, Einquartierung oder Wachdiensten.10 Auch die soziale Normativität der „häuslichen“ Tugenden und Rollenmodelle besaß eine zentrale Funktion im Hinblick auf die Produktion von Ehre und sozialen Ressourcen. Dass die soziale Praxis der alltäglichen Lebensführung eine weitaus größere Heterogenität aufwies und das „Haus“ in den konkreten lebensweltlichen Verflechtungen mit anderen sozialen Netzwerken nicht mehr so klare Konturen aufwies, ist davon unbenommen.11 Gleichwohl mussten im Konfliktfall die Probleme anhand der vorgegebenen Normen kommuniziert werden, „Haus“ und „Häuslichkeit“ spielte also vor allem in der kommunikativen Verständigung über gesellschaftliche Ordnung und ihre Gestaltung eine zentrale 9

Karl Härter, Security and „gute Policey“ in Early Modern Europe: Concepts, Laws and Instruments, in: Cornel Zwierlein (Hrsg.), The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History (HSR 35, 4), Köln 2010, S. 41–65, hier S. 44–50; C ­ hristian ­Mathieu, Sicherheit/Mentalitäten, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 11, Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 1143– 1145. Vgl. auch Werner Conze, Sicherheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862. 10 Aus der zahlreichen Literatur sei verwiesen auf Anton Tantner, Ordnung der Häuser – Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie, Innsbruck 2007; Stefan Kroll, Soldaten im 18. Jahrhundert zwischen Friedensalltag und Kriegserfahrung. Lebenswelten und Kultur in der kursächsischen Armee 1728–1796 (Krieg in der Geschichte 26), Paderborn 2006. 11 Jüngst die neueren Forschungen zur sozialen Praxis im „Haus“ verknüpfend und auf das „offene“ Haus hin konzeptualisierend Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38 (2011), S. 621–664.

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Rolle.12 Das sinnstiftende Potenzial einer solchen Haus-bezogenen Organisation von Gesellschaft ging so weit, dass all diejenigen Untertanen, die „außer Haus“ lebten bzw. keinem „Haus“ zuzuordnen waren, idealiter in „Sonderhäusern“ organisiert sein sollten, wie Armen-, Zucht- und Waisenhäusern.13 Normative Regelungen, die das Bestehen und Funktionieren des Hauses sichern sollten, waren zum einen rechtliche Bestimmungen zum Schutz der Personen, der Tiere, des Gebäudes sowie aller Sachen, die zu einer Haushaltung gehörten, vor äußerer Gewalt.14 Zum anderen war die außerjuristische Normativität weitaus umfänglicher, die als oeconomia christiana seit dem 16. Jahrhundert die Sicherheit und Stabilität der sozialen Innen- und Außenbeziehungen des „Hauses“ über die Regulierung des Verhaltens jedes Haushaltsmitglieds zu maximieren versuchte. Hausfrieden wurde hier verstanden als eine auf der Stabilität der das Haus konstitutierenden persönlichen Beziehungen beruhende Sicherheit von innen heraus.15 12

Zur „Übersetzungsleistung“ individueller Lebensführung in häusliche Rollenmodelle vgl. gerade im Rahmen der Konfessionalisierungs-/Sozialdisziplinierungsforschung Andreas Holzem, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570–1800 (Forschungen zur Regionalgeschichte 33), ­Paderborn 2000, S. 310–330; Heinrich-Richard Schmidt, „Nothurfft vnd Hußbruch“ – Haus, Gemeinde und Sittenzucht im Reformiertentum, in: Andreas Holzem (Hrsg.), Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung zwischen Religion und sozialer Lebenswelt, Paderborn u. a. 2008, S. 301–328; sowie Schmidt-Voges, Haus (wie Anm. 7), S. 205, 208. Teil dieses Komplexes ist auch die Funktion des „Hauses“ in der politischen Theorie des 16. und 17. Jahrhunderts, vgl. u. a. Luise Schorn-Schütte, Politische Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Obrigkeitskritik im Alten Reich, in: GG 32 (2006), S. 273–314; Joel F. Harrington, Hausvater and Landesvater. Paternalism and Marriage Reform in Sixteenth-Century Germany, in: CEH 25 (1992), S. 52–75. 13 Falk Bretschneider, Gefangene Gesellschaft. Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert (Konflikte und Kultur – historische Perspektiven 15), Köln 2008; und Kirsten Bernhardt, Armenhäuser. Die Stiftungen des münsterländischen Adels (16.– 20. Jahrhundert) (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 119), Münster 2012, zeigen die prägende Kraft häuslicher Konzepte und Normen zur Organisation solcher Institutionen. 14 Selbst im Standardwerk von Georg Adam Struve, Juris-Prudenz oder Verfassung der landüblichen sächs. Rechte, Merseburg 1696, S. 808–810, findet sich nur ein Hinweis auf den Hausfrieden im Rahmen der Abhandlung von Gewalttaten, aber keine grundsätzliche Behandlung. Auch die Nomenklatur ist uneinheitlich: Das römische Recht kennt den Ausdruck der „pax domestica“ nicht, der Tatbestand wird anders umschrieben. Erst in der lateinischen Übersetzung von einheimischen Rechten taucht der Begriff manchmal auf. Fest etabliert ist er dagegen im theologischen Gesellschaftsmodell Augustins. 15 Vgl. hierzu Schmidt-Voges, Haus (wie Anm. 7), S. 197. Zur Problematisierung der Grenze von „innen“ und „außen“ des Hauses gerade im Kontext nachbarschaftlicher Netzwerke vgl. Inken Schmidt-Voges, Nachbarn im Haus. Grenzziehung und Friedewahrung in der „guten Nachbarschaft“, in: Christine Roll/Frank Pohle/Matthias Myrczek (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung (FrühneuzeitImpulse 1), Köln/Weimar/Wien 2010, S. 413–427.

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Die Stabilität häuslicher Ökonomien lag damit sowohl im Interesse des Einzelnen als insbesondere auch im Interesse der Obrigkeit, die sich entsprechend um eine größtmögliche Garantie dieser Sicherheitsleistungen bemühte. So fokussierte sich die obrigkeitliche Regulierung – jene von Beyer angesprochene umfangreiche Rechtspraxis – auf die Ahndung von gewalttätiger Störung jenes Hausfriedens wie auch auf die Regulierung von häuslichem Verhalten und Handeln im Sinne der Sittenzucht. Vor allem nach dem Dreißigjährigen Krieg rückten Sicherheit und Stabilität als Voraussetzung für eine Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität der Haushaltungen stärker in den Mittelpunkt, was sich insbesondere an der Entwicklung der Hausväterliteratur ablesen lässt. Mit der Verlagerung des inhaltlichen Schwerpunktes von den Selbst- und Sozialkompetenzen der Ehe- und Hausstandsliteratur des 16. Jahrhunderts hin zur Methoden- und Fachkompetenz in der stärker wirtschaftlich ausgerichteten Hausväterliteratur verschob sich der Fokus vor allem auf die materielle Basis des Haushaltens und die Ressourcennutzung16; in den politisch-rechtlichen Diskursen führte dies zu einer verstärkten Aufmerksamkeit auf die äußere Sicherheit – ohne jedoch die weiterhin praktizierte „Sittenzucht“ abzulösen.17 Vor diesem Hintergrund sind die juristischen Dissertationen zu lesen, die auf unterschiedliche Art das „Haus“ als gesellschaftliche Kerninstitution in die laufenden Sicherheitsdebatten einzugliedern suchen – was, da waren sich alle einig, nur gelingen konnte, wenn man das Problem aus der Unübersichtlichkeit der Partikularrechte herausholen und als ein gesellschaftliches Kernproblem verankern konnte.

II.  Friedrich Gerdes: De pace domestica, 1674

Der Greifswalder Professor beider Rechte Friedrich Gerdes (1634–1695) nutzte die Promotion eines Studenten, um 1674 unter dem Titel „De Pace domestica“ die Frage nach den rechtlichen Grundlagen der Sicherheit des Hauses zu diskutieren. Die Motivation zur Auseinandersetzung mit diesem Thema lässt sich nur vermuten: Zum einen war Gerdes in den 1670er–Jahren damit beschäftigt, die „Decisiones“ wie auch den „Commentarius in Ius lubecense“ seines Onkels David Mevius (1609–1670), Vize-Präsident des Wismarer Tribunals, für den Druck vorzubereiten. In beiden spielten der Hausfrieden und seine rechtliche 16

Zur „Ökonomisierung“ der Hausväterliteratur schon früh Gudrun Schröder-Lembke, Die Hausväterliteratur als agrargeschichtliche Quelle, in: ZAA 1 (1953), S. 109–119; vgl. auch Helga Brandes, Frühneuzeitliche Ökonomieliteratur, in: Albert Meier (Hrsg.), Die Literatur des 17. Jahrhunderts (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), München 1999, S. 470–484. 1 7 Vgl. hierzu Härter, Security (wie Anm. 9), S. 41–43; Thomas Simon, „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 170), Frankfurt a. M. 2004, vor allem S. 430–460.

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Behandlung eine Rolle, die bei Mevius im Kontext des usus modernus zu sehen ist.18 Wie dieser hatte auch Gerdes eine hohe Affinität zu Conrings Thesen; das Thema des Hausfriedens scheint ihm ein besonders plastisches Beispiel für die Notwendigkeit einer Ergänzung der römisch- und gemeinrechtlichen Grundlagen durch weitere, teilweise auch in Sitte und Gewohnheiten wurzelnde, Rechtswirklichkeiten gewesen zu sein. Seine eigene Rechtspraxis am Greifswalder Konsistorium und in der Spruchtätigkeit der Greifswalder Juristenfakultät mag ihm dabei die gesellschaftliche Bedeutung und Alltagsrelevanz jenseits der wissenschaftlichen Überlegungen vor Augen geführt haben.19 Dass „Hausfrieden“ in Gerdes’ Augen als Thema in den Rahmen der allgemeinen Sicherheitsdebatte gehörte, macht er gleich im ersten Kapitel deutlich, das mit „De securitate in genere“ betitelt ist und mit sieben der knapp 30 Seiten des Werkes das umfangreichste Einzelkapitel darstellt. Nach einer umfänglichen Herleitung des Unsicherheitsempfindens als nachbabylonisch-anthropologische Konstante von antiken bis hin zu zeitgenössischen Autoren wie Bodin und Grotius, wandte er sich scharf gegen Hobbes’ Theorem des „Krieges Aller gegen Alle“ und postulierte einen Naturzustand des Friedens. Dieser beruhte seiner Ansicht nach auf der göttlichen Erschaffung von Mann und Frau zu gegenseitiger Liebe und Ruhe, welche den Kern der Sicherheit des Menschen ausmache.20 Nur Un 18

So behandelte Mevius den Hausfrieden im Kontext von Mord und Totschlag, dem volkssprachlichen Begriff des Hausfriedensbruches setzte er die lateinische Übersetzung „fracta securitas domestica“ gegenüber, die auch hier auf den engen Zusammenhang der Begriffe „Frieden“ und „Sicherheit“ bzw. „pax“ und „securitas“ verweist. David Mevius, Commentarius in ius lubecense libri quinque, Frankfurt a. M. 1700, S. 813f.; ders., Decisiones supra causis praecipuis ad summum tribunal regium Vismariense delatis, Frankfurt a. M. 1702, Causae LIII, LXV, LXVI, LXVII u. a. Zu Mevius’ Leben und Werk vgl. die Beiträge in: Nils Jörn (Hrsg.), David Mevius (1609–1670). Leben und Werk eines pommerschen Juristen von europäischem Rang (Schriftenreihe der David-Mevius-Gesellschaft 1), Hamburg 2007. 19 Gerdes war seit 1669 Assessor am Greifswalder Konsistorium. Die Assessoren hatten die Urteilsfindung der Direktoren schriftlich vorzubereiten und tagten wöchentlich mittwochs von 13–17 Uhr. Leider sind die Protokolle und Urteile des 17. Jahrhunderts nicht überliefert, lediglich in internen Auseinandersetzungen um die pünktliche Bezahlung wird Gerdes’ Aktivität greifbar (LA Vorpommern, Greifswald Rep. 35, Nr. 53, 104). Aus seinen Rektoratsmemorabilien geht hervor, dass es durchaus Fälle von Hausfriedensbruch in seinem Zuständigkeitsbereich als Rektor gab. Ernst Friedländer, Aeltere Greifswalder Universitätsmatrikel, Bd. 2 (1646–1700), Leipzig 1894, S. 121. Da also konkrete Aktenüberlieferungen fehlen, muss diese Annahme eine Vermutung bleiben. Zu Gerdes vgl. Dirk Alvermann, Greifswalder Köpfe. Gelehrtenporträts und Lebensbilder des 16.–18. Jahrhunderts aus der Pommerschen Landesuniversität, Rostock 2006, S. 82f. 2 0 „[…] Deus ab initio creavit hominem ad imaginem suam, […] adeoque ad amorem atque tranquillitatem mutuam […]. Quo facto, mutuo amore ita coarctavit, ut homo adhaereret uxori suae, & essent duo in carne una […]. Ex quo oppidò societati non minus paternae quam maritali constat sua securitas: Nunquam enim quisquam exoderit carnem suam.“ Friedrich Gerdes, Dissertatio inauguralis de pace domestica vulgo Vom Hauß-Frieden,

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dankbarkeit könne diese „beatitudo familiaris“ zerstören. Auf dieser Basis seien die Gesellschaften aufgebaut und hierauf beziehe sich auch Grotius, wenn er von tranquillitas publica spreche.21 Sicherheit, zusammen mit Frieden und Ruhe Teil des Gemeinwohls aller Sterblichen, definiert er daran anschließend als Grundvoraussetzung aller menschlichen Gesellschaft, ohne die keine Reichtümer, Leben, Gesundheit und Ehre vollständig besessen werden könnten.22 Damit verweist Gerdes auf ein Sicherheitsverständnis, das nicht nur Aspekte der äußeren Bedrohung umfasst, sondern wesentlich aus den zwischenmenschlichen Beziehungen erwuchs, die Grundlage und Ziel seien, um ein dem menschlichen Auftrag gemäßes gutes Leben zu führen. In der Herstellung und Bewahrung einer solchen als tranquillitas verstandenen securitas publica liege die Legitimität der Obrigkeit zur Bestrafung von störenden Handlungen im Inneren und zum Abschluss von Verträgen und Bündnissen zum Schutz nach außen. Diesen ausführlichen Exkurs begründete Gerdes abschließend damit, dass dies nötig sei, um die besondere Bedeutung der Sicherheit, welche die Bewohner im Hause genössen, herauszuarbeiten – und zwar nicht die Sicherheit, die sie von einander erführen (das sei bereits ausreichend erörtert), sondern die Sicherheit gegen Bedrohungen von außen, sei es als Gewalt oder als Leichtfertigkeit.23 Der enge Zusammenhang zwischen dem Friedens- und dem Sicherheitsbegriff, den Gerdes eröffnet, ist demnach zweifach verankert, nämlich „in der Natur der bürgerlichen Gesellschaft wie in Gesetzen und den mit ihnen gleich stark seienden Sitten und tief verwurzelten Gewohnheiten“.24 Rechtlich gesehen sah er dies im Vertragscharakter des Friedens begründet, dem sich jeder Bürger eines Gemeinwesens durch seinen öffentlichen Schwur unterwerfe – securitas publica sei demnach das, „was jedem Privatmann in seinem Hause gegenüber von außen zugefügtem Unrecht geschuldet ist“.25 Dieser Ansatz einer naturrechtlichen Verankerung des Hausfriedens als Grundrecht eines jeden Menschen durchzieht Greifswald 1674, S. 4f. Respondent dieser Dissertation war Johann Adolph Höltich, weitere Ausgaben erschienen 1704 in Greifswald und 1740 in Jena. In der Ablehnung des Hobbes’schen Modells vom Naturzustand war er sich mit der großen Mehrheit seiner deutschen Kollegen einig; vgl. Jan Rolin, Der Ursprung des Staates. Die naturrechtlichphilosophische Legitimierung von Staat und Staatsgewalt im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts (Grundlagen der Rechtswissenschaft 4), Tübingen 2005, S. 18. 21 Gerdes, de pace domestica (wie Anm. 20), S. 5. 2 2 Ebd.: „Commune omnibus mortalium bonum, pax, quies, securitas, quo sine nullum bonum, quicquid est, perfectum est. Pone divitias, vitam, pudicitiam, sanitatem, honores […] quibus tamen inest plenitudo, nulla perfectio, si non cum securitate possideantur.“ 2 3 Ebd., S. 6f. 24 „[…] tam in natura civilis societatis, quam in legibus, & quae his aequi pollent, moribus & inveterata consuetudine.“ Ebd., S. 14. 2 5 „Describi potest securitas publica, quae privato cuique in domo sua adversum externorum injuriam debetur.“ Ebd., S. 9.

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auch die Diskussion der rechtlichen Grundlagen als fundamenta pacis. In den materiellen Rechtsbestimmungen streift er nur kurz römisch-rechtliche Aspekte, bevor er in einer breiten Diskussion Conring’scher Thesen die Verwurzelung des Hausfriedens in den Partikularrechten ausbreitete.26 Den Gegenstandsbereich des Hausfriedens definiert er in Anlehnung an das sächsische Landrecht als „Frieden, den ein ieglicher in seinem Hauß und Hofe, das ist, in seinen vier Pfählen haben soll.“27 Er setzte ihn gleich mit dem Burgfrieden, der einer Familie oder einer verschworenen Gemeinschaft gegeben sei, um ihr Schutz, Ehre, Ruhe, Frieden und innere Einigkeit zu ermöglichen; als Prinzip habe der Burgfrieden auch die Sonderfrieden von Kirchen, Schlössern, Gerichten, Rathäusern und anderen Orten öffentlichen Interesses beeinflusst.28 Dieser Hausfrieden gilt allen, die im Hause wohnen, also den „patres-/matresfamilias“ und all ihren „familiares“, zugleich aber auch für Mieter und Gäste.29 Das schließt eine Asylfunktion des Hausfriedens ein, „wer zu seinen [des Hausvaters, ISV] Gnaden fleucht, daß er sich wehre wieder unrechte Gewalt“.30 Was jedoch alles baulich als Haus zu bezeichnen sei, bedürfe genauerer Bestimmung. Die Minimaldefinition des Hauses als alles, was Wände und ein Dach hat, reiche nicht aus, zumal die Funktion eine wichtige Rolle spiele: so seien Schäferkarren und Flusskahn durchaus durch den Hausfrieden als mobile Behausungen geschützt, nicht aber ein Wirtshaus, das gerade keinen Privatcharakter besitze.31 Die Schutzfunktion des Hausfriedens richtet sich nach Gerdes also auf die Sicherheit vor Gewalt oder Unrecht von außen, hierin liege auch die Grenze zum inneren Frieden, zumal beide vielfach zusammenfielen.32 Wodurch der Hausfrieden gebrochen werde, führt Gerdes in einer eher abstrakten Ausarbeitung der Frage aus, wann eine vis privata und wann eine vis publica vorläge und inwiefern sich dies auf die Klassifizierung der Straftat auswirke. Eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Personengruppen findet nicht statt.33 Auch im abschließenden Kapitel zu den remedia pacis domestica, den Sanktionsformen, liegt der Schwerpunkt auf der Feststellung, dass die unterschiedliche Einordnung des Tatbestandes daher von den konkreten Umständen abhänge.

2 6 Ebd., S. 15–18. 27 Ebd., S. 10.

28 Ebd.

2 9 Ebd., S. 14f.

3 0 Ebd., S. 15.

31 Ebd., S. 16.

3 2

„Forma omnis est in securitate adversus vim vel injuriam extraneorum omnium. In qua eadem est finis internus pacis nostrae, secundum quod coincidunt plerumque utraque.“ Ebd., S. 17. 3 3 Ebd., S. 20–23.

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Gerdes blieb also eher bei einer Zusammenstellung der verschiedenen Rechtsmittel zur Bestrafung des Hausfriedensbruchs. Das Neue an seinen Ausführungen bestand demnach vor allem in der grundlegenden Einordnung des „Hausfriedens“ in die mit den aktuellen Sicherheitsdebatten verknüpften gesellschaftlichen Problemstellungen. Gerade in der Erörterung der kulturellen Wurzeln und sozialen Bedeutung des „Hauses“ als Ort elementarer menschlicher Sicherheitserfahrung und -erwartung entstand eine neue Sichtweise auf den Hausfrieden als ein gesellschaftliches Grundproblem, dessen rechtliche Regelung einer Systematisierung bedürfe. Die Verankerung in biblischen und naturrechtlichen Zusammenhängen verlieh dem Hausfrieden nun auch in rechtlichen Kontexten eine weitaus wichtigere Position, als dies zuvor der Fall gewesen war.

III.  Georg Beyer: De violatione securitatis domesticae, 1709/1713

Als völlig unzureichend erschien dieser Ansatz mehr als 30 Jahre später dem Wittenberger Rechtsprofessor Georg Beyer, der im Kontext der Novellierung der sächsischen Duellordnung die rechtlichen Grundlagen des Hausfriedens durchleuchten sollte. In seinem eingangs bereits genannten Verdikt kommt vor allem Gerdes denkbar schlecht davon, dem er vorwirft, dass „das Werk in den größten Teil in anderes abschweift und dort, wo es in den Grenzen seines Themas bleibt, die Sache aus fremden Prinzipien ableitet.“34 Beyer nutzte das Thema der Securitas domestica vor allem dazu, die Unzulänglichkeit der römischen Rechte für die Rechtsverhältnisse im Reich aufzuzeigen. Folglich steht bei ihm die Widerlegung möglicher Bezüge zu den römischen Rechten wie auch möglicher germanischer Wurzeln im Mittelpunkt: Dazu seien Fragen der Sicherheit bei den Germanen ausgesprochen gering geschätzt worden. Grundsätzlich sieht Beyer die Sicherheit einer unschuldigen Person nicht nur im Haus, sondern überall als einen naturrechtlich gegebenen Zustand an, der sich in seiner konkreten Institutionalisierung aber aus dem Burgfrieden und vor allem aus den Stadtrechten entwickelt habe.35 So kommt auch Beyer zu dem Schluss, dass eine einheitliche Definition des Vergehens des Hausfriedensbruchs kaum möglich sei, da immer wieder andere Schwerpunkte gesetzt würden. Gleichwohl könne als gemeinsamer Nenner angenommen werden, dass „Heiligkeit [Unverletzlichkeit] jedwedem Privathaus durch Statuten oder Gewohnheit verliehen sei; würde dieses in feindlicher Absicht angegriffen oder überfallen und die Bewohner eine Realinjurie erleiden, sind schwere Strafen zu verhängen.“36 3 4

Beyer, Violatione (wie Anm. 1), S. 103.

3 6

[Sanctimoniam statutis vel consuetudine aedibus privatis quibuscunque tributam, qua animo hostili eas oppugnantes at irruentes et inhabitantibus eorumve domesticis aut ab

3 5 Ebd., §§ 19–21, 26.

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Interessant an Beyers Definition der Sicherheit des Hauses ist ihre enge Koppelung an den Begriff der Immunität als einen Ort des besonderen Schutzes vor Unrecht und Gewalt durch Menschen.37 Damit schloss er an einen Immunitätsbegriff an, der im mittelalterlichen Recht einen Ort bezeichnete, der frei herrscherlicher Gewalt und Gerichtsbarkeiten sowie in seinen Grenzen unverletzlich war.38 Gerade im 17. Jahrhundert war die mit den Immunitätsprivilegien verbundene Einschränkung der fürstlichen Gewalt ein Gegenstand intensiver Diskussion.39 Beyer geht es aber um die grundsätzliche Schutzfunktion der häuslichen Immunität, die er folgerichtig aus den Kontexten der Entwicklung der Stadtrechte ableitete und damit gerade nicht in einen übergeordneten naturrechtlichen Zusammenhang verortete. In der abschließend sehr kurzen Diskussion der eher praktischen Fragen des Gegenstandsbereichs des „Hausfriedens“ sowie der Strafbemessung muss auch Beyer eingestehen, dass es aufgrund der vielen lokalen Gewohnheiten keine einheitlichen Richtlinien geben kann und geht im Wesentlichen nicht über Gerdes hinaus. Hatte Gerdes vor allem eine Einbettung der juristischen Problemstellung des Hausfriedens in den übergeordneten Zusammenhang der aktuellen Sicherheitsdebatten geleistet, zielte Beyer eher auf die innerhalb der Jurisprudenz geführten methodischen Diskussionen. Die Grundlage für eine juristisch zu konzeptualisierende Sicherheit des Hauses sahen beide im Institut des Hausfriedens; gleichwohl konnten beide allgemein gültige Grundlagen nur ganz vage in einem grundsätzlich naturrechtlich verankerten Anspruch auf Sicherheit der Person und ihres Besitzes ausmachen – alles weitere aber mussten sie der Vielfalt der lokalen Statuten und vor allem Gewohnheiten überlassen. Ging es beiden also in erster Linie um den exemplarischen Charakter des Hausfriedens für die Veranschaulichung übergeordneter rechtswissenschaftlicher Problemstellungen, so war es der über hundert Seiten umfassende Traktat von Friedrich Gottlieb Struve (1676–1752), der stärker auf die Systematisierung der inhaltlichen Details setzte. inhabitante receptis iniuriam realem inferentes graviori poenae subiiciuntur.] Ebd., § 28, S. 121. 37 „Quando sanctimoniam dico, non qualitatem sacram, cultusve religiosi debitum, sed immunitatem ab hominum iniuriis eminentiorem intelligo eodem sensu, quo sub Imperatoribus Christianis muri & portae civitatum res sanctae vocabantur.“ Ebd. S. 122. 3 8 Dietmar Willoweit, Immunität, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, 2. Aufl., Berlin 2011, Sp. 1180–1192. 3 9 Vgl. hierzu beispielhaft mit weiteren Literaturhinweisen Karl Härter, Vom Kirchenasyl zum politischen Asyl. Asylrecht und Asylpolitik im frühneuzeitlichen Alten Reich, in: Martin Dreher (Hrsg.): Das antike Asyl. Kultische Grundlagen, rechtliche Ausgestaltung und politische Funktion (Akten der Gesellschaft für Griechische und Hellenistische Rechtsgeschichte 15), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 301‑336, hier S. 314–136.

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IV.  Friedrich Gottlieb Struve: Tractatus de pace domestica vulgo Hausfrieden, 1713

Struves Traktat ist mit über 150 Seiten deutlich umfangreicher als die beiden Dissertationen, was sich wesentlich aus der Tatsache erklärt, dass Struve hier mehrere thematisch zusammenhängende Dissertationen gesammelt veröffentlichte.40 Was Friedrich Struve inhaltlich motiviert haben mag, geht nicht aus seinem Werk hervor. Wahrscheinlich war auch er – ähnlich wie Gerdes – sowohl in wissenschaftlicher wie praktischer Hinsicht mit dem Thema vertraut: Zum einen veröffentlichte er das Werk zusammen mit einer Abhandlung seines zuvor verstorbenen Vaters, Georg Adam Struve, über die Rechte „der großen Herren Residentz-Häuser“, zum anderen war Struve seit 1712 Advokat am Jenaer Hofgericht, aus dessen Urteilen er reichlich zitierte.41 Sein Werk leistet dementsprechend die umfangreichste Systematisierung der bestehenden Rechte zur Sicherheit des Hauses. Auch er stellt den engen Zusammenhang zwischen dem Rechtsinstitut des Hausfriedens und seiner Sicher­heitsleistung für das Haus her. Wie Beyer sieht Struve den Hausfrieden als die vornehmste der durch Gesetze geschützten Immunitäten des Hauses.42 Dies sei aber ganz explizit nur die rechtliche Grundlage des Hausfriedens, die gesellschaftlich-kulturellen Wurzeln seien eher in den religiösen Zusammenhängen zu suchen. Wie Gerdes stellte er den engen Zusammenhang von securitas und pax domestica in den Kontext der salus publica und des Ziels eines ruhigen und guten Lebens, wozu vor allem der durch die Rechte geschützte, ruhige Besitz des Eigentums zähle.43

4 0

Vgl. hierzu den Eintrag in der Datenbank „Juristische Dissertationen“ (wie Anm. 1). Friedrich Gottlieb Struve war der fünfte Sohn von Georg Adam Struve, einem Bruder von Burkhard Gotthelf Struve, der in Jena seit 1704 eine Professur für Geschichte innehatte. Friedrich Gottlieb hatte in Jena und Halle Jurisprudenz studiert und war 1702 mit einer Dissertation zu Badehäusern promoviert worden. Seit 1712 war er Assessor am Jenaer Hofgericht, seit 1722 Professor am Gymnasium illustre in Hildburghausen und seit 1725 ordentlicher Professor für beide Rechte an der Universität in Kiel. Vgl. Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 36, München 1893, S. 676. Vgl. die Urteilsbücher des Jenaer Hofgerichts 1708–1722, ThHStAW, Hofgericht Jena, Nr. 210b. 42 „Inter alias immunitates, quibus domus privatorum ex legibus et constitutionibus Imperatorum gaudent, illa non ultimum obtinet locum, quam pacem domesticam appellamus.“ Friedrich G. Struve, Tractatus de pace domestica vulgo vom Haus-Friede. In quo haec materia ex iuris naturalis et gentium principiis, nec non iuris civilis, canonici ac feudalis placitis derivatur, Jena 1713, S. 1. 4 3 „Definitur vero pax domestica per securitatem; Est enim securitatis vocabulum latius, quam pax, quippe quod non solum generaliter omnem tranquillitatem totius rei publicae denotat, quam qui turbat laesae maiestatis, reus est […], nec non ea continet, quae fieri publicae salutis & securitatis interest […]; sed etiam tuitionem ac quietam iuris nostri possessionem significat.“ Ebd., S. 4. 41

Juristische Diskurse zur Sicherheit des Hauses um 1700 657

Nach der Diskussion über die räumliche und personelle Reichweite des Hausfriedens, die im Wesentlichen die gleiche ist wie bei Beyer, erläutert Struve die spezifischen Sicherheitsleistungen, die man vom Hausfrieden zu erwarten habe. Dazu zählen zunächst der uneingeschränkte Schutz von Leib und Leben jedes Einzelnen im Haus, wie auch der ungestörte Besitz des Eigentums.44 Dies ergibt sich wesentlich aus dem Kern des Hausfriedens – der Immunität, die ausschließlich dem Hausvorstand das Recht vorbehält, Zutritt zu gewähren oder zu verweigern. Ausnahmen seien nur da möglich und genau reguliert, wo die Immunität anderer Hausvorstände betroffen sei; dies ist Struve zufolge dann der Fall, wenn jemand Grund zur Annahme habe, dass sich in einem fremden Haus Gegenstände, Tiere, Gesinde aus dem eigenen Haushalt oder Bönhasen befänden, die man auch ohne Genehmigung aus einem anderen Haus holen dürfe. Explizit ausgeschlossen sei dagegen, die eigene Frau mit Gewalt zurückzuholen, wenn diese in einem fremden Haus Zuflucht gesucht habe. Hausvorstände haben damit in Struves Ausführungen mehr Rechte, den Hausfrieden eines anderen Hauses im eigenen Interesse zu umgehen, als die Obrigkeiten gegenüber den Hausvätern. Im Falle einer Verhaftung, Hausdurchsuchung, Vorladung oder Befragung sei dies nur mit einer schriftlichen Genehmigung gestattet, Ausnahmen gälten nur bei unmittelbarer Lebensgefahr eines Hausbewohners oder einer strafrechtlichen Verurteilung.45 Auffällig im Vergleich zu den beiden anderen Dissertationen ist bei Struve die enge Verflechtung des Hausfriedens mit der baulichen wie auch der sozialen Funktion des „Hauses“; Schutz und Sicherheit vor äußeren Eingriffen sollen das Funktionieren der Ökonomie sicherstellen – dieses Grundrecht kann nur aufgehoben werden, wenn sich der Hausvorstand schwerer Vergehen schuldig gemacht hat, die ihn außerhalb der Gemeinschaft stellen.46 Die Funktion des Hausfriedens als Schutzinstitution für die Gesamtheit der häuslichen Ökonomie spiegelt sich auch in den Ausführungen wider, wie Hausfrieden gebrochen werden kann. Neben den bekannten Formen des gewaltsamen Eindringens und Zerstörens von Fenstern und Türen werden hier auch Formen der Ehrverletzung als Hausfriedensbruch klassifiziert. So zählen nicht nur Beleidigungen als Verbalinjurie, sondern explizit auch das Anbringen und 4 4

„Consistit haec pax domestica generaliter in eo, quod domi suae unus quisque tutus ac securus esse debeat, tam circa corpus vitamque suam, quam circa res et iura illorumque exercitium. […] Cum enim ratio formalis et finis ultimus omnis pacis in securitate consistat, idcirco hoc de recte pace domestica quoque licet asserere, quod scil. summus & communis eius effectus sit securitas, quam quivis privatim in aedibus habere debet.“ Ebd., S. 33. 4 5 Ebd., Cap. IV, Th. 2–25. 4 6 Struve bezieht sich hier auf einen Kommentar zur Behandlung der Haussuchung in Johann Jacob Speidels „Speculum juridico-politico-philosophico historicarum“ von 1683, in dem es darum geht, dass der Ehemann eine gesonderte obrigkeitliche Erlaubnis für eine Haussuchung bei seiner Ehefrau benötigt; vgl. ebd., Cap. III, Th. 7.

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Aufmalen von Schmäh- und Schimpfwörtern an Hauswänden.47 Auch hier fällt bei Struve die enge Verzahnung von „Innen“ und „Außen“ auf, wenn er darauf hinweist, dass auch das Anstiften von Ehepartnern, Kindern und Gesinde zu inneren Streitereien als Hausfriedensbruch zu werten sei.48 Diese Perspektive auf die wechselseitige Abhängigkeit von inner- und außerhäuslichen Verhältnissen prägt auch das letzte und umfänglichste Kapitel seines Traktates, das Struve dem Schutz des Hausfriedens gewidmet hat und das er im Gegensatz zu Gerdes und Beyer sehr viel stärker in der sozialen Praxis der Rechtsfindung verankert als in wissenschaftlichen Diskursen. Grundsätzlich, so hält er fest, sei es Aufgabe des Hausherren, für den Hausfrieden zu sorgen, was er sowohl aus der Bibel als auch von Grotius ableitet. Dem Magistrat stünde nur dann eine eigene Handlungskompetenz zu, wenn der Hausfrieden aus der inneren Disziplin des Hauses gefährdet sei, oder der Hausherr selbst betroffen sei. In diesem Falle sei es üblich, dass der Magistrat – in Analogie zum Vorgehen der Konsistorien bei Ehestreitigkeiten – einem „Haus“ den Frieden gebiete. Ginge der Konflikt dennoch weiter, habe die Obrigkeit somit die rechtliche Handhabe, die betreffende Person als Friedensbrecher zu bestrafen.49 Abgesehen davon stünde aber jedem Hausherren im Falle eines Hausfriedensbruchs die Möglichkeit einer Injurienklage zu, gleichwohl seien diese Prozesse immer als außerordentliche, summarische Prozesse zu führen, um eine rasche Konfliktbeilegung zu erreichen. Da sowohl die zivil- wie die kriminalrechtliche Behandlung des Hausfriedensbruches ganz maßgeblich auf eine genaue Kenntnis der Umstände beruhe, sei strikt darauf zu achten, dass Richter über diesen Fall zu Gericht säßen, die mit den persönlichen Umständen und den lokalen Sitten und Gewohnheiten vertraut seien.50 Die starke Betonung der praktischen Elemente bei der Friedewahrung im häuslichen Kontext zeigt sich vor allem in den zitierten Quellen, die gerade in diesem letzten Kapitel zu einem Großteil aus Urteilssammlungen stammen und nicht mehr aus theoretischen Rechtsmodellen oder Verordnungstexten. Im Unterschied zu Gerdes und Beyer betont Struve gerade die starke Anbindung an die situativen Umstände der jeweiligen häuslichen Ökonomien und ihrer Position im nachbarschaftlichen bzw. gemeindlichen Gefüge, welche es entsprechend 47 Ebd., Cap. V, Th. 3.

4 8 Ebd., Cap. V, Th. 4: „Huc etiam referri potest dolosa persuasio ac corruptio familiae, uxoris,

liberorum, servorum aut inquilinorum ad rixas in domo ciendas […]“. „Pertinet huc consuetus modus, quo ad rixas domesticas componendas Magistratus loci pacem edicit, quod vulgo dicitur Friede gebiethen. […] Ex pari ratione etiam Superintendenti loci concedunt, ut in causis matrimonialibus si conjuges rixas inter se moveant, possit pacem edicere, & citare partes ad Consistorium. Talem proinde pacem denunciatam violans, poena carceris vel alia arbitraria coerceri potest.“ Ebd., Cap. VI, Th. 3. 5 0 Ebd., Cap. VI, Th. 4–6, 15. 49

Juristische Diskurse zur Sicherheit des Hauses um 1700 659

bei der Be- und Verurteilung zu berücksichtigen gelte. Mit dem Hinweis auf die Rechtspraxis überwindet Struve das bei Gerdes und Beyer formulierte Problem der Unübersichtlichkeit und Vielgestaltigkeit in der gerichtlichen Urteilsfindung. Es ist also nicht nur der Umfang der Ausarbeitungen, die Struve von seinen beiden Vorgängern unterscheidet, sondern auch eine etwas andere Schwerpunktsetzung, die wesentlich in einer stärkeren Verflechtung der rechtlichen Konzeption von Hausfrieden als Sicherheitskonzept mit den sozialen Herausforderungen des „Hausfriedens“ und dem praktizierten Umgang damit zum Tragen kommt.

V. Schluss

Was lässt sich nun abschließend aus den drei Abhandlungen zur Bedeutung von Rechtssicherheit – vor allem in der Bedeutung Sicherheit durch Recht – für die Sicherheit des Hauses resümieren? Die Feststellung eines grundsätzlichen Anspruches der Menschen auf Sicherheit in ihrem Haus bzw. die Charakterisierung des Hauses als ein Ort von Sicherheit und Frieden leiten Gerdes wie auch Struve aus naturrechtlichen Zusammenhängen ab. Sie beziehen sich dabei zum einen auf biblische Begründungszusammenhänge wie die Stiftung der Ehe als Fundament jeder häuslichen Gemeinschaft zu gegenseitiger Liebe und Ruhe, zum anderen verweisen sie auf zeitgenössische Schriften, welche die Vergesellschaftung auf einer freiwilligen Vertragsbasis hervorhoben und in eine auf die ratio status ausgerichtete Gesellschaftsordnung einpassten. So gelang es, den „Hausfrieden“ als Teil eines übergeordneten, gesamtgesellschaftlichen Sicherheitsdiskurses zu etablieren, der bis dato nur in größtenteils mittelalterlich verwurzelten Stadt- und Partikularrechten rechtlich reguliert war. Diese Promotion des Hausfriedens vom rechtswissenschaftlichen Nischendasein zu einem gesellschaftlichen Fundamentalprojekt war allen Autoren aus der augenfälligen Diskrepanz zwischen der Rechtspraxis und der Rechtsnorm – und damit der Unsicherheit des Rechts – als notwendig erschienen. Die Etablierung des Hausfriedens als Sicherheitsthema gelang dabei vor allem aus einer engen begrifflichen Verknüpfung, die Sicherheit vor Gewalt und Unrecht als Teilaspekt des Friedens deutete oder gar die Verwirklichung von Sicherheit als Kennzeichen für einen Friedenszustand definierte – im Kontext zentraler Aufgaben der res publica. In diesem Zusammenhang waren also die Rechtsgesetze im Hinblick auf ihre Tauglichkeit zur Unterstützung und Konturierung der naturrechtlichen Vorgaben zu überprüfen bzw. zu setzen.51

51

Heinz Mohnhaupt, „Lex certa“ und „ius certum“. The Search for Legal Certainty, in: Lorraine Daston/Michael Stolleis (Hrsg.), Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe. Jurisprudence, Theology, Moral and Natural Philosophy, Aldershot 2008, S. 73‑88.

660 Inken Schmidt-Voges

Die juristische Herausforderung wird vor allem bei der konkreten Ausbuchstabierung der einzelnen Bestimmungen deutlich: Recht eindeutig können alle drei den Gegenstand fassen, wenn es um die bauliche Definition des Hauses, seine physischen Grenzen und deren mögliche Verletzung geht. Unbehagen wird da spürbar, wo die soziale Institution „Haus“ und die sie tragenden zwischenmenschlichen Beziehungen ins Spiel kommen. Zwar sehen alle hierin das soziokulturelle Fundament des Hausfriedens, zugleich liegt deren Regulierung aber jenseits der Möglichkeiten juristischer Normsetzung. Gerdes entgeht diesem Problem, indem er es wegdefiniert und implizit dem Bereich der kirchlichen Konfliktregulierung zuweist, Beyer beschränkt sich auf die rechtliche Herleitung von Burgfriedenskonzepten. Nur in Struves Werk bleibt das Bewusstsein für dieses Spannungsverhältnis bestehen; er löst es auf, indem er letztlich Rechtssicherheit im Sinne von Verlässlichkeit und Erwartbarkeit richterlicher Entscheidungen aus dem losen normativen Kontext hinaus in die soziale Verankerung und Handlungskompetenz der jeweiligen Richter verlegte und damit auch ein Stück weit die Nicht-Normierbarkeit des „Hausfriedens“ eingestand. Mit diesem Befund bieten die drei Dissertationen eine neue Perspektive auf die Umbrüche im gesellschaftspolitischen bzw. -theoretischen Denken um 1700. Sie offenbaren das Bemühen, ein letztlich im Aristotelismus begründetes Ordnungsmodell in das neue Paradigma eines säkularen Naturrechts zu transferieren. Was auf der theoretischen Ebene durch die Anknüpfung an Ehe und Elternschaft gelingt, wird da problematisch, wo die zu systematisierende Rechtspraxis auf die soziale Wirklichkeit des „Hauses“ trifft. Die Dynamik, die heterogenen, mitunter temporären Gebilde der „Häuser“ lassen sich nicht – oder nur sehr rudimentär – auf der Basis des Naturrechts normieren, was der Verweis auf die situative Handlungskompetenz der einzelnen Juristen enthüllt. Eine konsequente Umsetzung der im Naturrecht angelegten Ausrichtung auf das Individuum hätte letztlich die Auflösung des „Hauses“ bedeutet, was um 1700 (noch) nicht denkbar war. Diese Spannung zwischen Denkrahmen und sozialer Praxis blieb bestehen, sie findet sich etwa in Justis Windungen zur Bedeutung des Hausfriedens in seinen „Grundfesten“ und letztlich auch in den Kodifikationsunternehmungen, die zwar das „Haus“ im Grundsatz als „ständische Herrschaftseinheit“ auflösen, durch zahlreiche Einzelbestimmungen aber im Endeffekt doch wieder einführen.52 5 2

Johann Heinrich Gottlieb von Justi, Grundfeste zur Macht und Glückseeligkeit der Staaten, Königsberg 1761, 10. Buch; Reinhard Koselleck, Die Auflösung des Hauses als ständische Herrschaftseinheit, in: Neithard Bulst (Hrsg.), Familie zwischen Tradition und Moderne (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 48), Göttingen 1981, S. 109–124; zur Fortschreibung von familiären und häuslichen Herrschaftsmodellen in den Rechtskodifikationen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts vgl. z. B. die Beiträge in Ute Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997.

Karl Härter

Die Sicherheit des Rechts und die Produktion von Sicherheit im frühneuzeitlichen Strafrecht Wie kaum ein anderer Rechtsbereich warf das Strafrecht1 – verstanden als ein System von Normen, Diskursen und (Gerichts-)Praxis – im 18. Jahrhundert die Fragen nach Sicherheit durch Recht und Sicherheit des Rechts auf. Beide Funktionen wurden im staatsrechtlich-juristischen Diskurs diskutiert, wobei sich erst allmählich seit Beginn des 19. Jahrhunderts „Rechtssicherheit“ als zentraler Begriff etablierte.2 Das „moderne“ Konzept der Rechtssicherheit verdankt der weit ins 19. Jahrhundert reichenden aufklärerischen Reformdiskussion und dem frühneuzeitlichen Strafrecht dennoch wesentliche Impulse, gerade im Hinblick auf seine ambivalente Ausformung: Das Strafrecht sollte Sicherheit gewährleisten und produzieren, aber es war auch der Rechtsbereich mit den größten „Unsicherheiten“ bzw. dem größten repressiven Potential. Im 18. Jahrhundert gewannen beide Funktionen in dem durch Rechtspluralismus und Rechtszersplitterung gekennzeichneten Mehrebenensystem des Alten Reiches an Virulenz, und zwar sowohl bezüglich der Etablierung von Sicherheit als zentraler Leitkategorie obrigkeitlich-staatlichen Handelns, die auch das Verfassungssystem des Alten Reiches aufnahm, als auch hinsichtlich des Reformdiskurses um die „Mängel“ des Strafrechts.3 1 Insgesamt

zum Forschungsstand: Gerd Schwerhoff, Historische Kriminalitätsforschung (Historische Einführungen 9), Frankfurt a. M./New York 2011; Sylvia Kesper-Biermann/ Ulrike Ludwig/Jens Eisfeld, Strafrecht, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 12, Stuttgart/ Weimar 2010, Sp. 1082–1103. 2 Zur Begriffsgeschichte: Andreas von Arnauld, Rechtssicherheit. Perspektivische Annäherungen an eine „idée directrice“ des Rechts, Tübingen 2006. Zum aufklärerisch-reformerischen Strafrechtsdiskurs: Diethelm Klippel/Martina Henze/Sylvia Kesper-Biermann, Ideen und Recht. Die Umsetzung strafrechtlicher Ordnungsvorstellungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte (Ordnungssysteme 20), München 2006, S. 372–394; Sylvia Kesper-Biermann/Diethelm Klippel, Philosophische Strafrechtswissenschaft und Gesetzgebung. Die Neubegründung des Strafrechts zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Sylvia Kesper-Biermann/Diethelm K ­ lippel (Hrsg.), Kriminalität in Mittelalter und Früher Neuzeit. Soziale, rechtliche, philosophische und literarische Aspekte (Wolfenbütteler Forschungen 114), Wiesbaden 2007, S. 211–232. 3 Karl Härter, Sicherheit und Frieden im frühneuzeitlichen Alten Reich: Zur Funktion der Reichsverfassung als Sicherheits- und Friedensordnung 1648–1806, in: ZHF 30 (2003), S. 413–431; Karl Härter, Kontinuität und Reform der Strafjustiz zwischen Reichsverfassung und Rheinbund, in: Heinz Duchhardt/Andreas Kunz (Hrsg.), Reich oder Nation? Mittel­ europa 1780–1815 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz: Beiheft 46), Mainz 1998, S. 219–278.

662 Karl Härter

Rechtssicherheit im Sinne von Bestimmtheit, Klarheit, Beständigkeit des Rechts und einem zügigen Verfahren bildete folglich eine wesentliche aufklärerische Forderung an das Strafrecht, gerade weil ihm auch die Funktion zukam bzw. zukommt, Sicherheit zu gewährleisten. Das Strafrecht bildete insofern ein wichtiges Feld und einen Motor des sich entfaltenden frühneuzeitlichen Sicherheitsdiskurses, in dem „Rechtssicherheit“ zunächst einen zentralen obrigkeitlichutilitaristischen Zweck bezeichnete – die öffentliche Sicherheit, die der Staat gewährleisten und produzieren sollte: „der Staatszweck“ bestehe „in allgemeiner (innerer und äußerer) Rechtssicherheit“, formulierte Bauer bündig, und definierte: „Rechtssicherheit ist der Zustand in welchem uns keine Gefahr einer Rechtsverletzung droht […] Dieser ist nur dann in vollem Mase vorhanden, wenn der Willen eines jeden Menschen stets gestimmt ist, das Rechtsgesetz nicht zu überschreiten.“4 Für Konopak avancierte Rechtssicherheit um 1800 zur zentralen Begründung staatlichen Strafens: „Rechtssicherheit ist der Zweck der Strafe, wie man auch übrigens das Strafrecht begründen möge; es mag die Strafe auf Prävention gegründet, oder allein auf die Sanction des Gesetzes gerichtet werden, so ist doch in beyden Fällen der letzte Zweck der Zustand der Rechtssicherheit“.5 Rechtssicherheit als Schutz vor Rechtsverletzung und Zweck staatlichen Strafens zielte folglich primär auf Gefahrenabwehr, Kriminalitätsbekämpfung und Prävention und verweist auf die im 18. Jahrhundert insgesamt – im Straf- und Ordnungsrecht wie in der Gerichts- und Strafpraxis – gestiegene Bedeutung der öffentlichen Sicherheit.6 Diese manifestierte sich insbesondere im Hinblick auf Eigentumsdelikte und Staatsschutz: „Verbrechen gegen die öffentliche Rechtssicherheit einzelner Bürger […] welche das Eigenthum der Bürger beeinträchtigen“ und „Verbrechen gegen die öffentliche Rechtssicherheit des Staates“ wie politische bzw. Majestätsverbrechen.7 Dies ging einher mit einem Ausbau des exekutiven Sicherheitsinstrumentariums in den Territorialstaaten und auf der Ebene des 4

Anton Bauer, Lehrbuch des Naturrechts, Marburg 1808, § 216 und § 71. Christian Gottlieb Konopak, Über das Begnadigungs- und natürliche Strafrecht, in: Archiv des Criminalrechts 6/4 (1805), S. 1–22, Zitat S. 2. 6 Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 831–862; Karl Härter, Security and „gute Policey“ in Early Modern Europe: Concepts, Laws and Instruments, in: Cornel Zwierlein/Rüdiger Graf/Magnus Ressel (Hrsg.), The Production of Human Security in Premodern and Contemporary History (HSR 35, 4), Köln 2010, S. 41–65. 7 So die Kapitelüberschriften bei Karl Ludwig Wilhelm von Grolman, Grundsätze der Criminalrechtswissenschaft. Nebst einer systematischen Darstellung des Geistes der deutschen Criminalgesetze, Gießen 1798, §§ 283ff. und §§ 460ff. Zur Entwicklung des politischen Verbrechens: Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus: Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert, hrsg. von Karl Härter und 5

Die Sicherheit des Rechts und die Produktion von Sicherheit 663

Alten Reiches (in den Reichskreisen)8, einer Kriminalisierung spezifischer, die öffentliche Sicherheit gefährdender Gruppen wie Räuber- und Diebsbanden9 sowie einer Pluralisierung der Strafzwecke, unter denen Abschreckung und Prävention – auch aufgrund ihrer starken Korrelation zur Sicherheitsproduktion – das theokratische Strafmodell der Vergeltung ablösten.10 Dem entsprach eine ausdifferenzierte Strafpraxis mit einer Vielfalt von arbiträren und außerordentlichen Strafen, die nicht allein willkürlich repressiv als vielmehr nach utilitaristischen Zwecken sozial zweigleisig angewandt wurden.11 Intensivierung von Gesetzgebung, Sicherheitsdiskurs und praktischer Sicherheitspolitik – in welche auch die Untertanen vielfach eingebunden waren – verstärkten aber ebenfalls Bedrohungsgefühle und Unsicherheitswahrnehmung und zwar auch im Hinblick auf die „Unsicherheiten“ des Strafrechts und den mangelnden „Rechtsschutz“ des Einzelnen. Die Sicherheitsproduktion stimulierte folglich einen mehr oder weniger zeitversetzten Diskurs über die Defizite des Strafrechts, der allmählich und zögerlich wesentliche Probleme wie Rechtspluralismus, inquisitorisches Strafverfahren, Folter, mangelhafte Verteidigungsmöglichkeiten oder arbiträre Entscheidungs- und Strafpraxis thematisierte, die später in das

Beatrice de Graaf in Zusammenarbeit mit Gerhard Sälter und Eva Wiebel, Frankfurt a. M. 2012. 8 Karl Härter, Von der Friedenswahrung zur „öffentlichen Sicherheit“: Konzepte und Maßnahmen frühneuzeitlicher Sicherheitspolicey in rheinländischen Territorien, in: RhVjbll 67 (2003), S. 162–190; Karl Härter, Die Reichskreise als transterritoriale Ordnungs- und Rechtsräume: Ordnungsnormen, Sicherheitspolitik und Strafverfolgung, in: Wolfgang Wüst/Michael Müller (Hrsg.), Reichskreise und Regionen im frühmodernen Europa – Horizonte und Grenzen im spatial turn (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte 29), Frankfurt a. M. u. a. 2011, S. 211–249. 9 Peter Nitschke, Verbrechensbekämpfung und Verwaltung. Die Entstehung der Polizei in der Grafschaft Lippe, 1700–1814 (Internationale Hochschulschriften 21), Münster/New York 1990; André Holenstein u. a. (Hrsg.), Policey in lokalen Räumen. Ordnungskräfte und Sicherheitspersonal in Gemeinden und Territorien vom Spätmittelalter bis zum frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002; Gerhard Fritz, Eine Rotte von allerhandt rauberischem Gesindt. Öffentliche Sicherheit in Südwestdeutschland vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des Alten Reiches (Stuttgarter historische Studien zur Landes- und Wirtschaftsgeschichte 6), Ostfildern 2004. 10 Reiner Schulze u. a. (Hrsg.), Strafzweck und Strafform zwischen religiöser und weltlicher Wertevermittlung (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 25), Münster 2008. 11 Karl Härter, Zum Verhältnis von „Rechtsquellen” und territorialen Rahmenbedingungen in der Strafgerichtsbarkeit des 18. Jahrhunderts: Vagabondage und Diebstahl in der Entscheidungspraxis der Kurmainzer Landesregierung, in: Harriet Rudolph/Helga Schnabel-Schüle (Hrsg.), Justiz = Justice = Justicia? Rahmenbedingungen von Strafjustiz im frühneuzeitlichen Europa, Trier 2003, S. 433–465.

664 Karl Härter

moderne Konzept der Rechtssicherheit einfließen sollten.12 In diesem Sinn wurde Rechtssicherheit – wie Sicherheit allgemein – von den Akteuren im frühneuzeitlichen System des Strafrechts kommunikativ und diskursiv ausgehandelt. So formulierten nicht nur Untertanen, Konfliktparteien, Verdächtige, Beschuldigte oder Inquisiten ein Interesse an Rechtssicherheit, sondern auch Obrigkeiten und Juristen wollten die Sicherheit des Rechts verbessern, um die Rationalität und Effektivität des Strafrechtssystems im Hinblick auf die Sicherheitsproduktion zu steigern. In diese brachten wiederum Untertanen und soziale Gemeinschaften mittels Bittschriften oder durch ihre Mitwirkung an praktischen Sicherheitsmaßnahmen und Strafverfolgung ihre eigenen Interessen an „mehr Sicherheit“ bzw. Gefahrenabwehr, Prävention und Strafe ein.13 Die ambivalente Bedeutung von Rechtssicherheit verweist damit auf Problemlagen des Strafrechts, die von unterschiedlichen Diskursen und Akteuren verhandelt und die überwiegend durch staatliche Reformen bewältigt werden sollten: Ein rationales, berechenbares, verlässliches, gewisses, kodifiziertes, verstaatlichtes, zentralisiertes und monopolisiertes Strafrechtssystem wurde von Aufklärern und Obrigkeiten, von Rechtsunterworfenen wie von Juristen und Refor­mern als Voraussetzung für die Produktion von Sicherheit und eines ­sicheren Rechts – ius certum – gefordert bzw. konzeptualisiert.14

12

Härter, Kontinuität und Reform der Strafjustiz (wie Anm. 3); Karl Härter, Die Entwicklung des Strafrechts in Mitteleuropa 1770–1848: Defensive Modernisierung, Kontinuitäten und Wandel der Rahmenbedingungen, in: Rebekka Habermas/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte, Frankfurt a. M./ New York 2009, S. 71–107. 13 Vgl. zu den komplexen Kommunikations- und Interaktionsprozessen im Kontext von Strafjustiz und guter Policey exemplarisch: Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hrsg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert) (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 19), Berlin 2005; Karl Härter, Strafverfahren im frühneuzeitlichen Territorialstaat: Inquisition, Entscheidungsfindung, Supplikation, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 1), Konstanz 2000, S. 459–480; Marco Bellabarba u. a. (Hrsg.), Criminalità e giustizia in Germania e in Italia. Pratiche giudiziarie e linguaggi giuridici tra tardo Medioevo ed età moderna/Kriminalität und Justiz in Deutschland und Italien. Rechtspraktiken und gerichtliche Diskurse in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Bologna 2001 und Berlin 2001; André Holenstein, „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel Baden(-Durlach) (Frühneuzeitforschung 9), Tübingen 2003. 14 Arnauld, Rechtssicherheit (wie Anm. 2), S. 76–99; Heinz Mohnhaupt, ‚Lex certa‘ and ‚ius certum‘: The Search for Legal Certainty and Security, in: Lorraine Daston/Michael Stolleis (Hrsg.), Natural Law and Laws of Nature in Early Modern Europe. Jurisprudence, Theology, Moral, and Natural Philosophy, Aldershot u. a. 2008, S. 73–88.

Die Sicherheit des Rechts und die Produktion von Sicherheit 665

Aus dieser Perspektive wies das plurale und fragmentierte Mehrebenensystem des Alten Reiches insbesondere im Strafrecht die größten Mängel und Unsicherheiten auf, die sich schlagwortartig benennen lassen als: ·· Normenpluralismus, der sich in der peinlichen Halsgerichtsordnung des Reiches von 1532 (Carolina), unzähligen territorialen Kodifikationen, der ausufernden Ordnungs- und Policeygesetzgebung, dem traditionalen, loka­ len Gewohnheitsrecht und dem alles überwölbenden (aber keineswegs zusammenführenden) ius commune manifestierte; ·· normative Unbestimmtheit und fehlender rationaler Bezug zwischen Delikten und Strafen: Weder waren alle Verbrechen strafrechtlich abschließend festgeschrieben noch die dafür jeweils angedrohten Strafen; ·· eine geringe rechtliche Normierung des Inquisitionsprozesses mit seinen spärlichen oder nicht vorhandenen Verteidigungs- und Appellationsmöglichkeiten und der Drohung von Folter; ·· die als willkürlich eingeschätzte Entscheidungsfindung durch lokale und zentrale staatliche Justizinstitutionen, Regierungen, Gerichte, Juristenfakultäten, gekennzeichnet durch fehlende Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit, Aktenversendung, Konsilienpraxis und das Bestätigungsrecht des Landesherren (Kabinettsjustiz); ·· arbiträre und außerordentliche Strafen, normativ häufig nur unbestimmt vorgegeben und eine divergierende, sozial zweigleisige Strafpraxis; ·· und fehlenden Rechtsmitteln, da die Reichsgerichte lediglich bei Verfahrensfehlern angerufen werden konnten und es nur die Möglichkeit gab, mittels Supplikationen oder auf dem Gnadenweg Strafen zu mildern.15 Diese Zustandsbeschreibung wurde von den zeitgenössischen Reformern wie späteren (Rechts-)Historikern gerne aufgegriffen, um im Namen der „Rechtssicherheit“ Modernisierung durch den Nationalstaat (und seine Juristen) zu fordern. Kritik an der Unsicherheit des Rechts bzw. die Forderung nach Rechtssicherheit diente der Legitimierung eines staatlichen Strafrechtssystems, das sich 15

Christian Szidzek, Das frühneuzeitliche Verbot der Appellation in Strafsachen. Zum Einfluß von Rezeption und Politik auf die Zuständigkeit insbesondere des Reichskammergerichts (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas, Fallstudien 4), Köln u. a. 2002; Härter, Kontinuität und Reform der Strafjustiz (wie Anm. 3); Karl Härter, Grazia ed equità nella dialettica tra sovranità, diritto e giustizia dal tardo medioevo all’età moderna, in: Karl Härter/Cecilia Nubola (Hrsg.), Grazia e giustizia. Figure della clemenza fra tardo medioevo ed età contemporanea (Annali dell’Istituto storico italo-germanico 81), B ­ ologna 2011, S. 43–70; Karl Härter, Die Folter als Instrument policeylicher Ermittlung im inquisitorischen Untersuchungs- und Strafverfahren des 18. und 19. Jahrhunderts, in: K ­ arsten ­Altenhain/Nicola Willenberg (Hrsg.), Die Geschichte der Folter seit ihrer Abschaffung, Göttingen 2011, S. 83–114.

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wesentlich auf die Produktion von Sicherheit ausrichtete und ohne vor­moderne Unsicherheitsfaktoren auskam.16 Eine solche Perspektive verkennt freilich nicht nur die Andersartigkeit des „Rechtssystems Reich“, sondern widerspricht auch den Ergebnissen der historischen Kriminalitätsforschung. Danach ergibt sich ein differenzierteres und keineswegs bloß repressiv willkürliches Bild des frühneuzeitlichen Strafrechts, in dem die Sicherheit des Rechts für die unterschiedlichen Akteure auf verschiedenen Ebenen (Reich, Territorien, lokale) in zahlreichen rechtlichen Institutionen durch komplexe miteinander verschränkte Ordnungsmodelle, Handlungsspielräume oder Aushandlungsprozesse in einem begrenzten Umfang hergestellt werden konnte.17 Damit sollen die Defizite an „Rechtssicherheit“ im modernen Sinn nicht verharmlost, aber für die „Sattelzeit“ zwischen der Endphase des Alten Reiches und dem Vormärz doch einige Bereiche differenzierter ausgeleuchtet werden, die seit dem 19. Jahrhundert als wesentliche Strukturelemente des modernen Begriffs der Rechtssicherheit gelten, und zwar:    I)  Verlässlichkeit und Beständigkeit  II) Rechtsklarheit und Erkennbarkeit III)  Bestimmtheit und Berechenbarkeit.18

I.  Verlässlichkeit und Beständigkeit

Der strafrechtliche Normenpluralismus im Alten Reich schien kaum Rechtssicherheit, sondern Disparität, Obskurität, Ambiguität, materielle Unvollständigkeit und Unüberschaubarkeit des Rechts zu signalisieren, auf die der juristische 16 Exemplarisch: Albert Friedrich Berner, Die Strafgesetzgebung in Deutschland. Vom Jahre

1751 bis zur Gegenwart, Leipzig 1867; Otto Fischl, Der Einfluß der Aufklärungsphilosophie auf die Entwicklung des Strafrechts in Doktrin, Politik und Gesetzgebung und Vergleichung der damaligen Bewegung mit den heutigen Reformversuchen, Breslau 1913 (Ndr. ­Aalen 1981); Rainer Schröder, Die Strafgesetzgebung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Die Bedeutung der Wörter. Studien zur europäischen Rechtsgeschichte. Festschrift für Sten Gagnér zum 70. Geburtstag, München 1991, S. 403–420; Lothar Reuter, Die Implementation der bürgerlichen Strafrechtspflege zwischen Restauration und Revolution (1815–1848), in: Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988–1990). Beispiele, Parallelen, Positionen (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 53), Frankfurt a. M. 1991, S. 563–583. 17 Zusammenfassend: Schwerhoff, Kriminalitätsforschung (wie Anm. 1); als exemplarische Fallstudien: Harriet Rudolph, „Eine gelinde Regierungsart“. Peinliche Strafjustiz im geistlichen Territorium. Das Hochstift Osnabrück (1716–1803) (Konflikte und Kultur – historische Perspektiven 5), Konstanz 2001; Joachim Eibach, Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert, Paderborn u. a. 2003; Karl Härter, Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 190, 1, 2), Frankfurt a. M. 2005 18 Zu diesen Elementen und Kriterien: Arnauld, Rechtssicherheit (wie Anm. 2), S. 101ff.

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Diskurs und die staatliche Praxis mit Maßnahmen wie Rechtsaufzeichnung und Verschriftlichung des Rechts sowie Sammlung des Gesetzesrechts (in gedruckten Sammlungen) und dem Allheilmittel der Strafrechtskodifikation als systematisch-rationale Zusammenfassung allen geltenden Rechts antworteten, um ein einheitliches ius certum zu erlangen.19 Die auf Kodifikation zielenden Reformvorhaben legitimierten die Notwendigkeit einer Reformgesetzgebung öfters mit dem Verweis auf die „Unsicherheit“ des Rechts, dieses sei „ungewiß, schwankend und fast willkührlich […] durch die äußerst verschiedenen Meynungen der Rechtsgelehrten“.20 Oder sie formulierten den Anspruch, Rechtssicherheit im Sinne des Rechtsschutzes vor richterlicher Willkür herstellen zu müssen, damit „die Strafe in den Worten der Gesetze, und nicht in der Willkühr des Richters“ liege – so Karl Theodor von Dalberg in seinem 1792 anonym publizierten Entwurf eines Gesetzbuchs in Criminalsachen.21 Trotz intensiver wissenschaftlicher und öffentlicher Diskussion blieben die meisten Kodifikationsvorhaben jedoch stecken. Auf der Ebene des Reiches besaßen Pläne eines neuen Reichsstrafgesetzbuches (wie es Dalberg projektiert hatte) keine Chance auf Realisierung bzw. Mehrheiten im Reichstag, denn die Landesherren akzeptierten gerade im Bereich des Strafrechts keine Rahmengesetzgebung des Reiches. Reichsverfassung und Reichsgerichte behinderten jedoch durch ihren Bestandsschutz die territorialen Kodifikationsvorhaben. Diese zielten zudem keineswegs allein auf Rechtssicherheit und Humanisierung, sondern primär auf die Rationalisierung, Monopolisierung und Verstaatlichung des Strafrechts.22 Mussten sich doch Regierungen, einzelne Akteure (Beamte, Juristen, Fürsten) und Verwaltungspraktiker im Rechts- und Verwaltungsalltag zunehmend mit Problemen des unsicheren und ungewissen Rechts auseinandersetzen, welches die Normadressaten/Untertanen durchaus für ihre Anliegen und Interessen zu 19

Claudia Schöler, Deutsche Rechtseinheit. Partikulare und nationale Gesetzgebung (1780– 1866) (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 22), Köln u. a. 2004; Gerhard Ammerer, Das Ende für Schwert und Galgen? Legislativer Prozess und öffentlicher Diskurs zur Reduzierung der Todesstrafe im Ordentlichen Verfahren unter Joseph II. (1781–1787) (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs Sonderband 11), Wien 2010. 2 0 Matthäus Pflaum, Entwurf zur neuen Bambergischen peinlichen Gesetzgebung, Bamberg 1792, Vorrede. 2 1 [Karl Theodor von Dalberg] Entwurf eines Gesetzbuchs in Criminalsachen, Frankfurt a. M./ Leipzig 1792; dazu: Bernd Rehbach, Der Entwurf eines Kriminalgesetzbuches von Karl ­Theodor von Dalberg aus dem Jahre 1792 (Schriften zur Rechtsgeschichte 38), Berlin 1986, S. 122. 2 2 Härter, Kontinuität und Reform (wie Anm. 3); ders., Entwicklung des Strafrechts (wie Anm. 12); Karl Härter, Asyl, Auslieferung und politisches Verbrechen in Europa während der „Sattelzeit“: Modernität und Kontinuität im Strafrechtssystem, in: Ute S­ chneider/Lutz Raphael (Hrsg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, F ­ rankfurt a. M. u. a. 2008, S. 481–502.

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nutzen verstanden. Denn die fehlende „Rechtssicherheit“ im materiellen Recht eröffnete auch Handlungsoptionen, ermöglichte unterschiedliche rechtlich begründbare Argumentationen und förderte Aushandlungsprozesse mittels Dispens, Supplikation oder Gnade. Auch die Obrigkeiten präferierten häufig Vielfalt und Flexibilität vor der Rechtssicherheit des kodifizierten Rechts: Ordnungsgesetzgebung und ius commune erlaubten eine flexible anpassungsfähige strafrechtliche Ordnung und ermöglichten juristisch bzw. wissenschaftlich begründbaren Ermessensspielraum, gerade auch für eine utilitaristisch-etatistische Sicherheitsproduktion. Im Hinblick auf sozial konstruierte Sicherheitsgefährdungen (durch Vaganten, Diebsbanden, politische Dissidenten) bedeutete dies Kriminalisierung und Repression; im Hinblick auf die nützlichen Untertanen aber die Chance auf „Einzelfallgerechtigkeit“ und Optionen des Aushandelns. In dieser Hinsicht mag das amorphe vormoderne Strafrecht durchaus auch bei den Untertanen anerkannt gewesen sein und womöglich „Rechtssicherheit“ im Sinne von Nähe und Verfügbarkeit vermittelt haben.23

II. Rechtsklarheit und Erkennbarkeit

Mit Verlässlichkeit und Beständigkeit eng verbunden sind Rechtsklarheit und Erkennbarkeit des Rechts als weitere, wesentliche Elemente von Rechtssicherheit. Im 18. Jahrhundert konzentrierte sich dies vor allem in der Frage der Gesetzespublikation, der Vermittlung und Kenntniserlangung der normativen Inhalte und der sprachlich-inhaltlichen Gestalt der Gesetzestexte. Widerspruchsfreie, klare, knappe, verständliche Gesetze in der Landessprache bildeten eine wesentliche Forderung des aufklärerisch-juristischen Diskurses.24 Auch die Obrigkeiten besaßen ein verstärktes Interesse daran, dass straf- und ordnungsrechtlich relevante Normen die Normadressaten tatsächlich erreichten und verstanden wurden, auch damit niemand Nichtbeachtung und Gesetzesverstöße mit Unkenntnis rechtfertigen konnte. Ein Gesetz musste die Adressaten erreichen können, andernfalls stand seine Geltung in Frage. Im 18. Jahrhundert bemühte sich der vormoderne Staat darum, die tatsächliche Mitteilung und Rechtsbelehrung der Normadressaten durch verschiedene Formen der öffentlichen materiellen Publikation auszubauen und zu intensivieren: Anschlagen, Verlesen durch Lokalbeamte in öffentlichen Versammlungen (in Gerichts- und Gemeindeversammlungen oder durch Kanzelverkündung), verständlichere und einfachere Sprache, zusätzliche Erklärungen, bildliche Darstellungen oder Verhaltensvorschriften, Veröffentli 2 3 24

Vgl. hierzu die in Anm. 17 angeführten Fallstudien. Jürgen Koch, Die Strafrechtsbelehrung des Volkes von der Rezeption bis zur Aufklärung, Diss. Jena 1939.

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chung in Zeitungen und Zeitschriften, gedruckte Gesetzessammlung sowie Wiederholung und Einschärfung formten einen intensiven Kommunikationsprozess über Straf- und Ordnungsnormen, an dem die Normadressaten beteiligt waren. Untertanen, soziale Gemeinschaften und eine Vielzahl beteiligter Gruppen und Institutionen übten einen informellen Einfluss durch Eingaben, Beschwerden oder Supplikationen aus und wirkten im lokalen Rahmen in zahlreichen Funktionen intensiv an der Normenvermittlung und auch der öffentlichen Um- und Durchsetzung von Strafrecht (z. B. im Rahmen des Endlichen Rechtstags) mit.25 Für die Frühe Neuzeit kann von einem verbreiteten, alltäglichen strafrechtlichen Praxiswissen ausgegangen werden, das sich auch in populären Medien wie den illustrierten Einblattdrucken widerspiegelt. Insofern war das vormoderne Strafrecht trotz Verwissenschaftlichung, Pluralität und Heterogenität womöglich unmittelbarer und erkennbarer – und damit sicherer – als in unserem heutigen, durch Massenmedien vermittelten Strafrechtstheater à la Barbara Salesch.26 Aller­ dings änderte sich dies im Lauf des 19. Jahrhunderts: Mit der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols, der Beseitigung des öffentlichen Strafvollzugs, der Mitwirkung sozialer Gemeinschaften und der Durchsetzung des „formellen“ Publikationsprinzips reduzierten sich Rechtsklarheit und Erkennbarkeit, die auch die parlamentarische Mitwirkung an der Strafgesetzgebung kaum vollständig gewährleisten konnten.27

III.  Berechenbarkeit des Rechts

Rechtssicherheit sollte schließlich durch effektive, berechenbare Rechtsdurchsetzung gewährleistet werden, die einerseits die Rechtsbindung staatlich-obrigkeitlichen Handelns, anderseits aber auch die Rechtsbefolgung durch die Normadressaten/Rechtsunterworfenen umfasste. In dieser Hinsicht näherte sich die Sicherheit des Rechts folglich wieder der Gewährleistung von Sicherheit durch Recht an. Als Unsicherheitsfaktoren des vormodernen Strafrechts benannte der aufklärerisch-juristische Diskurs daher arbiträre Entscheidungen, Willkür, ­Kabinettsjustiz, landesherrliche Gnade, das Aushandeln von Normen 2 5

Härter, Policey und Strafjustiz (wie Anm. 17), S. 218–241. Karl Härter/Gerhard Sälter/Eva Wiebel (Hrsg.), Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Studien zur Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt a. M. 2010. 27 Joachim Eibach, Die Bekanntmachung der Gesetze und Verordnungen in den badischen Gemeinden ab 1803, in: ZGO 142 (1994), S. 431–440; Thomas Simon, Vom „materiellen“ zum „formellen“ Publikationsprinzip. Über den Wandel der Geltungsvoraussetzungen von Gesetzen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 30 (2008), S. 201–220; Sylvia Kesper-Biermann, „… die Öffnung, durch welche in die Brust der Gesetzgebung geschaut wird“. Zur parlamentarischen Behandlung von Strafrechtskodifikationen im 19. Jahrhundert, in: ZNR 26 (2004), S. 36–61.

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und Strafen mittels Suppliken, Infrajustiz, arbiträre heterogene Strafen oder das Verbrecherasyl. Gefordert wurden deren Abschaffung sowie exakte rechtliche Festschreibungen, vor allem im Hinblick auf Proportionalität und Gewissheit der Strafe – die möglichst rasch folgen sollte – und eine strikte Gesetzesbindung der Richter: „Eben so wenig kann das Recht, die Strafgesetze auszulegen, den Strafrichtern innewohnen […] Muss oder will der Richter auch nur zwei Syllogismen machen, so ist der Unsicherheit Thür und Thor geöffnet“ – so Cesare Beccaria (in einer Übersetzung von 1851).28 Auch in dieser Beziehung diente Rechtssicherheit der Sicherheitsproduktion: Eine rationale Strafjustiz mit einem gewissen Vollzug der normativ angedrohten Strafen vermittelte „gewisse“ Strafzwecke wie Prävention und Abschreckung sowie staatliche Handlungsfähigkeit und konnte damit Sicherheit – vor allem innere und Staatssicherheit – produzieren. Ein bayerisches Strafgesetz von 1809, „die Bestrafung der Staatsverbrechen betreffend“, bringt die charakteristische Verknüpfung von Rechtssicherheit des Einzelnen im Strafverfahren, Gesetzgebung und innerer Sicherheit exemplarisch zum Ausdruck: In Erwägung der großen Verschiedenheit, welche in Absicht der Kriminalgesetzgebung in den verschiedenen Theilen Unseres Reiches noch statt findet, und in der ferneren Erwägung, wie leicht durch die Unbestimmtheit, mit der sich einige noch bestehende Kriminalgesetze über Staatsverbrechen und deren Bestrafung, ausdrücken, sowohl die unter den gegenwärtigen Umständen auf einigen Punkten bedrohte innere Sicherheit des Staats, als auch die Rechtssicherheit einiger Untertanen, welche die Beschuldigung eines solchen Verbrechens auf sich laden, einem in Willkühr ausartenden richterlichen Ermessen überlassen werden könnten, haben Wir beschlossen, jenen Theil der Gesetzgebung, welcher von den gefährlichsten Staatsverbrechen handelt, für dermal vorläufig, bis zur definitiven gesetzlichen Bestimmung kund machen zu lassen, und dadurch sowohl alle Unterthanen Unsers Reiches in der Behandlung wegen dieser, den ganzen Staat unmittelbar angreifenden Verbrechen gleich zu stellen, als auch durch die Festsetzung deutlicher und umfassender Bestimmungen alle Gefahr einer willlührlichen Verurtheilung von ihnen abzuwenden.29

Die Realisierung von Rechtssicherheit im Sinne der Berechenbarkeit des Rechts stützte insofern die Verstaatlichung des Strafrechts bzw. die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols. Dies beinhaltete die Verdrängung von Laien aus der Justiz, die Ausschaltung konkurrierender Gerichtsbarkeiten (von den Reichs- bis zu den kommunalen, genossenschaftlichen, kirchlichen Gerichten), die Eliminierung der landesherrlichen Gnadengewalt, die Abschaffung des Verbrecherasyls und die Beschränkung der wissenschaftlichen Interpretations- und juridischen 28

Caesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, übersetzt von Dr. Julius Glaser, Wien 1851, S. 9. 2 9 Königlich Baierische Verordnung, die Bestrafung der Staatsverbrechen betreffend, 27. 7. 1809, in: Der Rheinische Bund 12 (1809), S. 352–370, hier S. 352f.

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Auslegungsmöglichkeiten, welche das ius commune geboten hatte.30 So schränkte beispielsweise die von Feuerbach konzipierte bayerische Strafrechtskodifikation von 1813 den Ermessensspielraum der Richter erheblich ein.31 Ob damit allerdings nach 1806 ein Mehr an Rechtssicherheit im Strafverfahren erreicht wurde, bleibt fraglich. Bayern wie auch die anderen Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes behielten den Inquisitionsprozess bei; Schwurgerichte, Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Strafgerichtsbarkeit als wesentliches Element der Berechenbarkeit von Recht wurden erst in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich eingeführt und erst 1877 eine Strafprozessordnung erlassen.32 Auch im Hinblick auf Berechenbarkeit des Rechts folgte Rechtssicherheit eher dem Ziel einer Rationalisierung und Effektivierung des Strafrechts im Hinblick auf die Produktion von (Staats-)Sicherheit und kann damit als ein teilweise problematisches, womöglich ideologisches Konzept verstanden werden, welches der Verstaatlichung und Monopolisierung des Strafens Vorschub leistete bzw. dieses legitimierte.

IV.  Paradoxie und Ambivalenz der Rechtssicherheit

Bot also der Nationalstaat des 19. Jahrhundert mehr Rechtssicherheit als das heterogene, plurale Mehrebenensystem des Alten Reiches? Auch nach 1806 entstanden zunächst keine neuen Strafrechtskodifikationen, sondern normativer Pluralismus, flexible Straf- und Ordnungsgesetzgebung sowie ein durch Recht oder Öffentlichkeit kaum eingehegter Inquisitionsprozess verweisen auf Kontinuität von „Rechtsunsicherheit“. Das Strafrecht befand sich nun aber in der Verfügung der souveränen Einzelstaaten, ohne die schützende Hülle der Reichsverfassung oder des ius commune und ohne eine neue Verfassung, welche die Strafgewalt des Staates hätte begrenzen können. Zentrale Elemente der vor­ modernen „Rechtssicherheit“ waren jedoch abgeschafft worden oder verschwan 3 0

Vgl. Härter, Kontinuität und Reform der Strafjustiz (wie Anm. 3); Härter, Asyl, Auslieferung und politisches Verbrechen (wie Anm. 22); Härter, Grazia ed equità (wie Anm. 16); Karl Härter, Strafen mit und neben der Zentralgewalt: Pluralität und Verstaatlichung des Strafens in der Frühen Neuzeit, in: Günther Schlee/Bertram Turner (Hrsg.), Vergeltung. Eine interdisziplinäre Betrachtung der Rechtfertigung und Regulation von Gewalt, ­Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 105–126. 31 Dagmar Cramer, Umfang und Grenzen richterlicher Entscheidungsfreiheit im bayerischen Strafgesetzbuch von 1813, Augsburg 1969; Clemens Blusch, Das bayerische Strafverfahrensrecht von 1813. Die Reform des bayerischen Strafverfahrensrechts am Anfang des 19. Jahrhunderts unter Paul Johann Anselm von Feuerbachs Mitwirkung, Frankfurt a. M. u. a. 1997. 3 2 Werner Schubert/Jürgen Regge (Hrsg.), Entstehung und Quellen der Strafprozeßordnung von 1877 (Ius commune: Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 39), ­Frankfurt a. M. 1989.

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den allmählich, wobei gerade Sicherheit durch Recht bzw. die Gewährleistung und Produktion von Sicherheit eine zentrale Begründung lieferten, um Supplikenwesen, Gnade, Aushandeln von Strafen, Verbrecherasyl, Mitwirkung sozialer Gemeinschaft, nicht-staatliche Gerichtsbarkeiten und juristische Interpretation aus dem Strafrechtssystem zu entfernen. Beseitigt wurden damit nicht nur Willkür und Unsicherheiten, sondern auch Handlungsoptionen, Aushandlung und das flexible Argumentationsangebot der Jurisprudenz. Die Beseitigung von Pluralität und lokalen Gerichtsbarkeiten bedeutete zudem Verluste an Autonomie, Nähe und unmittelbaren Aushandlungsoptionen nach „Umständen“ bzw. sozialen und lokalen Bedingungen. Auch die göttlich-religiöse Fundierung des Strafrechts, welche den Zeitgenossen im religiösen Sinn Gewissheit, Berechenbarkeit und Sicherheit geboten hatte, verschwand im 19. Jahrhundert endgültig; in dieser Hinsicht bildete „Rechtssicherheit“ den Schlussstein der Säkularisierung des Strafrechts. Als das rechtliche Mehrebenensystem des Alten Reiches mit seinen legal spaces und Optionen 1806 unterging, wurde allerdings einigen wenigen Juristen und Reformern bewusst, dass damit Korrektive wie Höchstgerichtsbarkeit, Reichsrecht und ius commune verschwunden waren und die Frage zunächst ungeklärt blieb, wie „gemeinschaftlich […] die öffentliche Rechtssicherheit Deutschlands“ erhalten werden könne.33 Es ist daher auch kennzeichnend, dass sich eine intensive Diskussion über die moderne Rechtssicherheit erst allmählich nach dem Ende des Alten Reiches und im Gefolge der Reformen und der Verstaatlichung des Strafrechts entfaltete. Diese juristisch-etatistisch konzipierte Rechtssicherheit konnte sich freilich nie völlig aus dem Spannungsverhältnis zur Sicherheitsproduktion mittels Strafrecht lösen; Paradoxie und Ambivalenz von Rechtssicherheit blieben als Strukturmerkmal erhalten. Deutlich wird in der langfristigen Perspektive auch, dass eine allein auf den Nationalstaat begründete Rechtssicherheit ohne soziale, religiöse und überstaatliche Normensysteme kaum auskommt: Mediation, Aushandeln, plea bargaining, court shopping und transnationales soft law mögen als Stichworte für aktuelle Entwicklungen im Strafrecht genügen, die auch unsere aufklärerisch-moderne Vorstellung von Rechtssicherheit in Frage stellen können.

3 3 Gallus Aloys Kleinschrod, Ueber den Einfluß der veränderten Staatsverfassung Deutsch-

lands auf das Criminalrecht, in: Archiv des Criminalrechts 7/3 (1807), S. 355–401, hier S. 355, letztlich beide Bedeutungsebenen von Rechtssicherheit ansprechend.

SEKTION XI · Sichere und unsichere militärische Räume

Achim Landwehr und Ralf Pröve

Sichere und unsichere militärische Räume I. Begriffsklärungen

Im Jahre 1580 besuchte der französische Politiker und Philosoph Michel de ­Montaigne auf seiner Reise nach Italien und der Schweiz die Reichsstadt ­Augsburg. Während seines Aufenthaltes dort wird ihm, dem geschätzten und berühmten Besucher, eine geheime Toranlage in der Stadtmauer gezeigt. Durch dieses Tor, so notierte Montaigne später in seinem Reisetagebuch, würde jeder zu allen Stunden in der Nacht eingelassen, vorausgesetzt, er sagt, wie er heißt, zu wem er will oder in welchem Gasthof er unterzukommen sucht. Die Anlage wird von zwei zuverlässigen Pförtnern bedient, die im Solde der Stadt stehen. Das äußere Tor ist mit Eisen beschlagen. Neben ihm hängt an einer Kette ein ebenfalls eiserner Griff. Wenn man ihn zieht, wird dies durch die Kette über eine ungemein lange Strecke mit vielen Windungen in den hoch oben liegenden Raum eines der Pförtner übertragen und läßt dort eine Glocke ertönen.

Der Pförtner öffnet nun durch eine in beide Richtungen bewegliche Vorrichtung dieses erste Tor. Der so eingelassene Ankömmling betritt eine überdachte Brücke von etwa vierzig Schritt, die über den Stadtgraben führt. An ihr entlang verläuft in einer hölzernen Führung die Kette, die das erste Tor geöffnet hat und jetzt hinter dem Ankömmling schnell wieder schließt. Hat man die Brücke überschritten, befindet man sich auf einem kleinen Hof. Von dort aus sagt man Namen und Ziel zu jenem ersten Pförtner hoch. Hierauf verständigt dieser mit einem Glockenzeichen den zweiten Pförtner, der ein Stockwerk darunter seinen Platz hat. Der nun öffnet mit einer federgetriebenen Vorrichtung, die sich in einem Nebenraum zu seinem Gelaß befindet, zunächst eine kleine Eisenschranke und dann über ein großes Rad die Zugbrücke, ohne daß man von den Bewegungen der Maschinerie auch nur das geringste sähe, denn alles spielt sich im Innern der mächtigen Mauern und Tore ab. Hinter der Zugbrücke geht wieder ein ungemein wuchtiges, mit Eisenplatten armiertes Holztor auf. Der Fremde betritt jetzt eine Halle, die er, während das Tor hinter ihm zugeht, bis zu einem andern Tor gleicher Art durchschreitet. Nachdem sich ihm auch dieses Tor geöffnet hat, setzt er seinen Weg in eine zweite, diesmal aber beleuchtete Halle fort. Dort hängt an einer Kette eine bronzene Schale, in die er sein Einlaßgeld wirft. Das letzte Tor wird daraufhin geöffnet und endlich ist er in der Stadt.1 1 Michel de Montaigne, Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland

von 1580 bis 1581, übers. v. Hans Stilett, Frankfurt a. M. 2002, S. 82f.

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150 Jahre später und in einer weiter nördlich gelegenen, landesherrlich untertänigen Stadt scheint der Vorgang des Betretens des urbanen Raums noch komplizierter geworden zu sein. Wer sich als Reisender, zum Beispiel als wandernder Tischlergeselle, im 18. Jahrhundert dem im Süden Kurhannovers gelegenen Göttingen näherte, erblickte schon von weitem den räumlich-funktionalen Doppelcharakter der Stadt. Einerseits waren am städtischen Horizont deutlich die fünf markanten Kirchtürme und einige repräsentative Bauten wie das Rathaus oder das Amtshaus der Kaufmannsgilde auszumachen – Gebäude und Bezirke also, die für die Zeitgenossen den städtischen Raum signalisierten und symbolisierten. Andererseits konnte unser Geselle aber auch kaum die militärischen Räume übersehen. Je näher er einem der vier Stadttore kam, umso deutlicher gerieten mächtige Außenwerke, Ravelins, Gräben und Wälle, auf denen Soldaten des Landesherrn patrouillierten und Kanonen standen, in sein Blickfeld. War diese Vermengung städtischer und militärischer Architektur und damit die Gemengelage vertraut und unvertraut wirkender Areale bereits auffällig, so geriet der Eintritt in die Stadt für den Zeitgenossen vollends zu einer verwirrenden und geradezu abenteuerlichen Melange unterschiedlicher räumlicher Zuordnungen. Insgesamt drei verschiedene Übergänge waren jeweils zu passieren, jeder dieser Transferpunkte markierte eigene räumliche Zuordnungen, hatte eigene Sicherungstechniken, wies eine spezifische Funktion auf. Zu überwinden waren eine rein militärische Sperre, an denen Soldaten das Gepäck der Reisenden kontrollierten und nach dem Zweck der Reise fragten, eine Schranke bestehend aus landesherrlichen Steuereinnehmern, die die Akzise erhoben und dabei zusätzlich von Soldaten unterstützt wurden, und schließlich eine letzte Passage, an der städtische Bedienstete standen, Fragen stellten und Auskunft erteilten.2 Verlassen wir unseren wandernden Gesellen, der nun müde vom langen Weg und den vielen Kontrollen und Fragen an den Toren endlich in Göttingen angekommen ist und das Tischlerzunfthaus auf der Suche nach Arbeit betreten hat, und sammeln wir kurz die soeben gewonnenen Eindrücke: Soldaten, Steuerbedienstete, Stadtknechte, Schreiber, Zugbrücken, Schlagbäume, Wall und Graben, das Wechselspiel von Sicherheit und Unsicherheit, von scheinbar gesicherten Räumen und Arealen sowie die dabei zutage tretenden vielfältigen Versuche einer Ausklammerung von Unsicherheiten. Zwar sind die Schlüsselworte und einige Themenfelder in Bezug zum übergreifenden Thema dieses Sammelbandes somit gefallen, gleichwohl hat unsere Sektion mit ihrem Zugang gleich mehrere Parameter zu klären; neben dem 2

Vgl. Ralf Pröve, Stehendes Heer und städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Göttingen und seine Militärbevölkerung 1713–1756 (Beiträge zur Militärgeschichte 47), München 1995, bes. S. 187–202.

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Kernthema des Bandes, Sicherheit, sind dies noch Raum und frühneuzeitliches Militär. Wie Christian Mathieu und Christoph Kampmann in ihrem Artikel über „Sicherheit“ in der Enzyklopädie der Neuzeit betonen, fällt die Semantik des Quellenbegriffs „Sicherheit“ für die Frühe Neuzeit eher dürftig aus. 3 Lediglich im Kontext von Staatsrecht und Diplomatie, mit Wendungen wie securitas interna und securitas externa und dem eng geführten völkerrechtlichen Konnex von Krieg und Frieden wurde das Lexem von den gebildeten Zeitgenossen genutzt. Demgegenüber eröffnet die Forschungsperspektive über die analytische Annäherung „Reduktion sozialer Komplexität“ und „Bewältigung der Kontingenz von Zukunft“ und den davon abgeleiteten Segmenten Risiko, Versicherung, Wahrscheinlichkeit oder Glücksspiel zwar einen großen interpretatorischen Spielraum. Freilich erfolgt dieser Schritt in der forscherlichen Nachschau und nicht ohne Reibungsverluste. Denn gerade um Alltag und Lebenswelt der Menschen der Frühen Neuzeit über diesen thematischen Zugang aufzuschlüsseln und damit sowohl der prozesshaften Komplementarität Sicherheit versus Unsicherheit als auch dem spezifischen Wahrnehmungshorizont und den subjektiven Bedürfnissen der Zeitgenossen Rechnung zu tragen, ergibt sich eine Reihe von Problemen. Wir benennen hier nur zwei: Erstens basiert die Vorstellung von Sicherheit/ Unsicherheit, verstanden als Lebensgefühl, als Sentiment, auf kulturanthropologischen Fundamenten, zunächst ausgerichtet auf persönliches Überleben und Reproduktion, als Folgerung orientiert auf die Sicherstellung zentraler materieller und sozialer Ressourcen, was sich zum Beispiel in Nahrungsstellen und Sozialkapital niederschlägt, und schließlich – weiter abstrahierend – auf die Einrichtung von Regeln für Herrschaft und Gesellschaft. Diese mehrschichtige Komplexität spiegelt sich zweitens beim methodischen Zugang. Bereits ein erster Blick in die Quellen, zum Beispiel in frühneuzeitliche Selbstzeugnisse, offenbart ja nicht nur, dass der Sicherheitsbegriff selten bis gar nicht vorkommt, sondern auch, dass die von uns vermuteten analogen Begriffe bzw. vermeintlichen Indikatoren für ein Empfinden, ein Dasein von Sicherheit/Unsicherheit stets erst zu überprüfen und in das Koordinatensystem auf dem Weg vom Individuum zur Gesellschaft einzuordnen sind. Was bedeuten Angst und Furcht vor Dunkelheit? Ein individuelles Problem? Ein diskursiver Kontext? Ein Indiz für Räuberbanden oder Gottesferne? Ein gangbarer Ausweg aus diesem methodischen und erkenntnistheoretischen Dilemma scheint die Operationalisierung von Sicherheit/Unsicherheit mittels Ordnung/Unordnung zu sein. Ordnung fungiert somit als tool, als Indikator, um das Phänomen quellenmäßig besser zu fassen und in einen argumentativen 3

Christian Mathieu/Christoph Kampmann, Sicherheit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 11, Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 1143–1150.

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Rahmen zu bringen. Das Begriffspaar Ordnung/Unordnung befindet sich dabei in diskursiver Nähe zu Sicherheit/Unsicherheit. Ordnung ist somit nicht die Alter­ native zur Sicherheit, sondern die sichtbare und greifbare Seite von Sicherheit. In ethnologischer und soziologischer, aber auch rechtsphilosophischer Perspektive erlaubt der Ordnungsbegriff die Unterscheidung zwischen einer empirischen, gleichsam gelebten Ordnung und einer nur gedachten Ordnung.4 Dabei ist eine scharfe Trennlinie zwischen diesen Grundtypen nicht zu ziehen, „so kann sich jede gedachte Ordnung auf äußerst spürbare Weise bemerkbar machen und jede empirische Ordnung ist immer auch gedachte Ordnung, da sie ja zugleich in der Vorstellungswelt der Handelnden existiert“.5 Auch gibt es Ordnung im Kleinen und im Großen, individuell oder kollektiv, im gedachten wie im empirischen Sinn; göttliche Ordnung, Naturordnung, ständische Gesellschaftsordnung, aber eben auch die Brunnenordnung oder die Heiratsordnung bis hin zu informellen, nur symbolisch-kommunikativ vermittelten Ordnungen einer Stadt, einer Zunft, eines Hauses, einer zwischenmenschlichen Beziehung.6 Diese Ordnungen regeln das soziale und ökonomische Miteinander von Menschen, weisen dem Individuum einen festen Platz in der Gemeinschaft zu, legen die Kriterien für akzeptiertes Verhalten fest und fixieren bei Übertretungen von Regeln spezifische Sanktionsparameter. Mit anderen Worten, eine akzeptierte Ordnung schafft Sicherheit für diejenigen, die die Ordnung betrifft. Liegen konkurrierende Ordnungen vor, werden Ordnungen nicht akzeptiert, als ungerecht empfunden, entsteht in der Perspektive der Betroffenen Unordnung, also Unsicherheit.7 Betrachtet man die verschiedenen Systeme der Ordnungswahrung in der Frühen Neuzeit, so stößt man auf parallel aufgestellte und miteinander konkurrierende Konzepte. Im Groben können wir vor dem Hintergrund des Staatsbildungsprozesses zwei Basisversionen erkennen. Zum einen liegen im Kontext 4

Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, 2. Aufl. Tübingen 2007, S. 23. 5 Ebd., S. 24. 6 Vgl. hierzu Paul Münch, Grundwerte der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft? Aufriß einer vernachlässigten Thematik, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 12), München 1988, S. 53–72; vgl. außerdem die Indizien und Perspektiven von „Ordnung“ innerhalb der Zunftgemeinschaften, die Patrick Schmidt, untersucht hat; vgl. hier etwa Patrick Schmidt, Die symbolische Konstituierung sozialer Ordnung in den Erinnerungskulturen frühneuzeitlicher Zünfte, in: ders. (Hrsg.), Stadtgemeinde und Ständegesellschaft. Formen der Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt, Berlin 2007, S. 106–139. 7 Vgl. dazu auch Wolfgang Bonß, Die gesellschaftliche Konstruktion von Sicherheit, in: Ekkehard Lippert/Andreas Prüfert/Günther Wachtler (Hrsg.), Sicherheit in der unsicheren Gesellschaft, Opladen 1997, S. 21–41.

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von Gewohnheitsrecht, von traditionellen Ordnungsvorstellungen, bestimmte, zumeist nicht schriftlich fixierte, jedoch über Generationen hinweg eingeübte Muster vor, die jedem Individuum Sicherheit gewährten (Statussicherung, Zugang zu Marktchancen, politische Partizipation, Miteinander in Zunft, Nachbarschaft und Familie usw.). Darüber schiebt sich zum anderen eine neue Ordnungsvorstellung, die sich ihre Anleihen aus der Rezeption des Römischen Rechts verschafft, auf Schriftlichkeit basiert und mit Verwaltung und Instanzenzug einen neuen Herrschaftstypus begründet. Als Ausdruck und im Zuge einer allgemeinen Herrschaftsmonopolisierung erging eine unübersehbare Flut von Verordnungen. Neuartige Steuern und Abgaben wurden erhoben, es erfolgte eine schleichende Abschleifung der ständischen Unterschiede, die die Menschen zu Untertanen des jeweiligen Landesherrn nivellierte, es fanden Eingriffe in die Zunfthoheit statt, die Behandlung von Armut wurde neu geregelt und mit dem Stehenden Heer trat ein neuer Typus von Exekutivkraft auf den Plan. Einen besonderen Stellenwert erhielten die mit Legitimationsformeln vom gemeinen Nutzen und öffentlichen Wohl versehenen Policeyordnungen.8 Wenn auch in vielen Fällen der Übergang vom traditionellen zum bürokratischen Ordnungssystem reibungslos verlief, wenn auch viele althergebrachte Rechtsvorstellungen bewahrt werden konnten, wenn auch manch neue Regelungen von den Betroffenen selbst begrüßt wurden, so resultierte doch aus der Konkurrenz der Ordnungen eine gefühlte Unordnung, also Unsicherheit. Die lange Kette von Unruhen und Aufständen vor allem im 17. Jahrhundert stellt hier ein deutlich sichtbares Indiz dar; viel häufiger, aber eben leider nur bedingt messbar, sind die alltäglichen Reaktionen unterhalb der obrigkeitlichen ReizReaktions-Schwelle. Dem Stehenden Heer kommt in diesen Prozessen eine zentrale Rolle zu. Es soll der Ordnungswahrung nach innen wie nach außen dienen; auf den ersten Blick ist es Instrument, Ausdruck und Ergebnis der neuen Ordnungskonzeption. Bei Lichte betrachtet fällt der Sachverhalt allerdings weitaus komplizierter aus. Sicherlich, unser eingangs erwähnter Tischlergeselle wird mit offensichtlichen Ordnungsmustern konfrontiert; zugleich aber konnotieren sich mit den Soldaten auch Formen von Unsicherheit, Unordnung. Diese doppelten, sich scheinbar widersprechenden Wirkungsmechanismen wurden bisher, nicht zuletzt aufgrund der historiographischen Entwicklung, weitgehend verkannt. Denn noch immer wird „Militär“ im Grunde formal und idealtypisch gefasst und nicht in einen Quellen- und einen Forschungsbegriff „Militär“ getrennt. Viele Forscher haben letztlich stets die Ideenwelt des 19. Jahrhunderts im Hinterkopf und aktuelle Vorstellungen vom Militär im Arbeitsspei 8

Andrea Iseli, Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2009.

Sichere und unsicherere militärische Räume 679

cher, die unbewusst oder auch bewusst reflektiert auf das 17. und 18. Jahrhundert übertragen werden.9 Sicherlich wird diese Schlagfokussierung noch verstärkt durch methodische Hürden und ein Quellenproblem. Denn die (administrativobrigkeitlichen) Quellen sind stets in der Logik von Herrschaft und Staat verfasst, scheinen also den Anspruch auf Lenkung und Kontrolle auf den ersten Blick zu bestätigen, scheinen in den Museen Uniformen und Kriegsgerät, in den Archiven Beförderungslisten, Schlachtenaufstellungen oder Materialübersichten solche normativen Vorstellungen zu bestätigen; hier liegen jedoch ganze Kompanien hermeneutischer Fallstricke versteckt. Nach wie vor fehlt es an einer brauchbaren analytischen Zuschreibung von „Militär“. Nehmen wir die gängige Vorstellung, als Militär bezeichne man die bewaffneten Verbände eines Staates oder eines Bündnisses, die dieser zur Verteidigung gegen einen Angriff von außen aufstelle, dann wird der rein beschreibende Fokus auf die phänomenologische, funktionale Dimension deutlich. Diese Einschränkung ist mit Blick auf die Frühe Neuzeit besonders problematisch, da einerseits die Konfigurationen bewaffneter Verbände stets fluktuierten und es andererseits mangels klarer Abgrenzungen vielfältige Übergänge zu anderen nichtmilitärischen Bereichen gegeben hat. Es sollte das frühneuzeitliche Militär viel intensiver als Teilmilieu begriffen werden, das sich mit anderen Teilmilieus überlappte. Denn selbst wenn das frühneuzeitliche Militär als genuine Lebenswelt10 gedeutet werden soll, bleibt die Frage nach deren Abgrenzung. Schließlich prallen verschiedene alteuropäische Konzepte aufeinander, vermengen sich auch in der Akteursperspektive zu einer neuen Schnittmenge. So ist etwa zu fragen, ob ein adliger Offizier sich primär als Militär oder als Adliger begriffen hat, oder wie sehr sich der einfache Soldat seinen nichtmilitärischen Wurzeln verpflichtet gefühlt hat, oder wie sehr religiöse und soziale Orientierungen abseits des militärischen Milieus handlungsleitend waren. Insofern können Soldaten in verschiedenen Funktionen auftreten, das Mili­ tär von den Zeitgenossen, auch in ein und derselben Situation, zeitgleich als Faktor von Ordnung und Sicherheit sowie als Ausdruck von Unordnung und Unsicherheit wahrgenommen werden.

9

Vgl. etwa Ralf Pröve, Die frühneuzeitliche Militärgeschichte in den letzten zwanzig Jahren (1990–2010): Konzepte, Methoden und Arbeitsfelder, in: Hitotsubashi Journal of Law and Politics 39 (2011), S. 31–41. 10 Edmund Husserl fasst Lebenswelt als die natürliche, soziale und politische Umgebung für eine Gruppe von Menschen auf. Diese beinhaltet deren Wahrnehmung, Interpretation, Bewertung und Darstellung. Vgl. dazu jetzt auch Rochus Sowa (Hrsg.), Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution, Dordrecht 2008. Vgl. dazu auch Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003; sowie Richard Grathoff, Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung, Frankfurt a. M. 1989.

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Nachdem wir nun für unsere Sektion neben der Operationalisierung von Sicherheit durch Ordnung auch ein erweitertes „Militär“-Verständnis angesprochen haben, gilt es noch einige Worte zum Raumkonzept zu verlieren. Wie Doris Bachmann-Medick so prägnant formuliert hat, bietet die „Raumperspektive die Möglichkeit, das inkommensurable Nebeneinander des Alltagslebens, das Ineinanderwirken von Strukturen und individuellen Entscheidungen, das bisher eher getrennt voneinander untersucht worden ist, nun in der Zusammenschau zu analysieren“.11 Räume stellen dabei relationale Anordnungen von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten dar. Unter Spacing wird die konkrete Organisation und damit auch Bedeutungsaufladung von Räumen gefasst.12 Militärische Räume wären demnach solche Orte, wo sich Soldaten aufhalten, Orte, die militärische Funktionen übernehmen, Orte, die als „militärisch“ kommuniziert werden, Abbildungen militärischer Lebenswelten und jene Orte, an denen sich ein Herrschaftsanspruch ablesen lässt.

II. Fragestellung

Im Zentrum unserer Sektion stehen Räume in der Frühen Neuzeit, in denen das Militär agiert und in denen dadurch der Alltag der Menschen beeinflusst wird. Potentiell kommt hierbei eine Reihe von Raumsituationen in Frage: physisch fassbare Räume wie Festungsbauten, Stadttore oder Übungsplätze, aber auch spontan gebildete Räume, etwa anlässlich von Durchmärschen, bei Passkontrollen, Durchsuchungen oder Sanitärkordons. Neben der Frage der Gestaltung dieser Räume ist von Interesse, wie die Beteiligten und Betroffenen mit diesen Räumen umgehen, welche Sicherheitskonzepte das Militär bedient, wie die Zeitgenossen Sicherheit oder Unsicherheit im Zusammenhang mit der militärischen Präsenz wahrnehmen, welche Legitimationsstrategien es gibt und wie die Abgrenzung zu anderen „zivil“ organisierten Sicherheitsräumen erfolgt. Dies ist insofern auch von besonderer Bedeutung, da das frühneuzeitliche Militär keinen abgeschlossenen Bereich bildet, sondern ein Teilmilieu in der Lebenswelt der Frühen Neuzeit darstellt. Dies gilt sowohl für die Räume der Soldaten als auch für die Funktionsbauten des Militärs, zu denen sich vielfältige Überlappungen mit zivilen Zuordnungen ergeben. Über das Raumkonzept wollen wir das Austarieren und Aushandeln von Zonen der Sicherheit und Ordnung von denen der Unordnung und Unsicherheit unterscheiden. Wie werden solche Räume markiert? Gibt es überhaupt eindeutig separierte militärische Räume? Wie werden diese angezeigt und symbolisch in Szene gesetzt? 11

Doris Bachmann-Medick, Spatial turn, in: dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3. Auflage Reinbek bei Hamburg 2009, S. 284–326. 1 2 Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001.

Sichere und unsicherere militärische Räume 681

Wir identifizieren und interpretieren solche militärischen Räume als besondere Zonen, die den jeweiligen Grad der Wahrnehmung von Ordnung/Unordnung ermessen lassen. Unterliegen diese Räume temporären Entwicklungen? Sind sie physisch fassbar oder diskursiv?

III.  Die Beiträge

Auf mindestens zwei Ebenen verfolgt Stefan Kroll die Konstitution sicherer und unsicherer militärischer Räume in der Frühen Neuzeit, wenn er die weniger bekannten Veduten der sächsischen Festungen Königstein und Sonnenstein von Canaletto (Bernardo Bellotto) in den Blick nimmt. Auf einer ersten Ebene kann Kroll nämlich im Vergleich mit der historischen Quellenüberlieferung zeigen, dass die von Canaletto wiedergegebenen Zustände der Festungen, die in militärischer Hinsicht als nicht besonders vorteilhaft zu bezeichnen sind, durchaus den Umständen der Zeit entsprachen, wir es also nicht mit idealisierten, sondern mit realitätsgesättigten Bildern zu tun haben. Auf der anderen Seite, und darauf kommt es wesentlich mehr an, stellt Kroll sich und uns die Frage, weshalb der gut bestallte Maler ausgerechnet dieses Sujet wählte, das zu seinen wesentlich bekannteren Stadtansichten Venedigs oder Dresdens nicht so recht zu passen scheint. Auch wenn zu einer umfassenden Beantwortung mehrere Aspekte genannt werden müssten, so betont Kroll doch vornehmlich das Interesse des Malers an der Verbindung von architektonischen Gegebenheiten, landschaftlicher Umgebung und Alltagsleben, das sich bei diesen Festungsdarstellungen gut verwirklichen ließ. Kroll macht deutlich, dass wir damit keine Wiedergabe vergangener Realität vor Augen haben – die Bilder zeigen jedoch eine Möglichkeit, wie in der Frühen Neuzeit militärischen Räume fernab normativer Standards auch konstituiert werden konnten, nämlich durch vielfältige soziale Praktiken, die das Militärische nicht zum Verschwinden bringen, aber an den Rand drängen konnten. Wie sehr spezifische Modelle von Ordnung und Raumkonstitution im Zusammenhang mit militärischen Lebensweisen von den jeweiligen sozialen Normen und Werten abhingen, zeigt der Dorothea Nolde in ihrem Beitrag über adlige Reisen in Kriegsgebieten. Entgegen einer anders gestimmten Erwartung, die man zu Beginn des 21. Jahrhunderts pflegen mag, wurden solche Reisen von Adligen nämlich häufig nicht nur als nicht gefährlich eingestuft, sondern nicht selten geradezu gesucht. Dies hängt eng mit dem adligen Selbstverständnis zusammen, das ein Leben in und mit dem Krieg als standesgemäß und daher „normal“ einordnete. Gebiete, die durch militärische Konflikte geprägt waren, wurden von den Reisenden daher tendenziell nicht als gefährlich beschrieben. Dieser Befund trifft aber nicht generell zu, sondern findet seine Grenze, wenn bei der Bewegung durch Kriegsgebiet die Gefahr der Gefangennahme oder der

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Begegnung mit marodierenden Soldaten drohte. Zusätzlich konnten sich andere, gänzlich unmilitärische Räume als Herde der Unsicherheit erweisen, wenn ein Reisender beispielsweise in einem Gasthaus mit den Fastenbräuchen anderer Konfessionen konfrontiert wurde, die nicht nur befremdlich anmuteten, sondern ihn sogar um sein Leben fürchten ließen, weil er nichtsahnend diese Regeln brach. Der medialen Ebene der Symbolisierung militärischer Räume widmet sich Tobias Winnerling. Computerspiele mit geschichtlichen Inhalten sind dabei insofern ein lohnender Gegenstand der Betrachtung, als sie zu den wichtigsten, weil populärsten Vermittlern historischen Wissens gehören. Im Gegensatz zu den Ergebnissen einer wissenschaftlich betriebenen Geschichtsschreibung wird hier ein weltweites Millionenpublikum erreicht – gerade mit Themen zum Spätmittelalter und zur Frühen Neuzeit. Dass diese Spiele zu einem erheblichen Grad militärisch aufgeladen sind, versteht sich fast von selbst. Winnerling stellt sich allerdings die Frage, welche Bedeutung den Räumen dabei zukommt. Das Ergebnis ist eher ernüchternd, insofern beispielsweise Berge, auf die sich Winnerling exemplarisch bezieht, entweder zu einer reinen und nicht begehbaren Kulisse oder zu einer planbaren und damit sicheren Fläche reduziert werden. Unsicherheit wird hingegen durch den Feind im Computerspiel repräsentiert – der daher auch konsequenter Weise vernichtet werden muss, will man den Zustand der Sicherheit erreichen. Winnerling identifiziert in diesen Spielen Narrative des 19. Jahrhunderts. Zugleich benennt er diese Spiele jedoch – mit der Hilfe Nietzsches – als einen Raum der Unsicherheit für die gegenwärtige Geschichtswissenschaft, die noch kein adäquates Mittel gefunden hat, damit umzugehen.

Stefan Kroll

Frühneuzeitliche Festungsräume als sicheres Terrain? Die kursächsischen Festungen Königstein und Sonnenstein im Spiegel der Veduten Bernardo Bellottos I. Einleitung

Ende des 18. Jahrhunderts konnte man in Johann Georg Krünitz Oekonomischtechnologischer Enzyklopädie über den Nutzen von Festungen lesen, dass „sie mit weniger Beschwerde die Beschirmung des Landes verschaffen, einem geschwinden Einbruche des Feindes wehren, den Einwohnern eine sichere Zuflucht darstellen und durch ihren Widerstand den Feind aufhalten, bis die Hilfe zu seiner Wiederabtreibung wieder herbey gebracht werden könne“.1 Hier wird vor allem der militärisch-strategische Nutzen von Festungen betont. In der Tat ist es vor allem der frühneuzeitliche Staat, der Festungen baut, unterhält und verändert. Festungen dienen der Sicherheit des Landesherrn, sie tragen dazu bei, die Herrschaft über das eigene Territorium gegenüber äußeren Feinden zu sichern. Während der gesamten Frühen Neuzeit besaßen Festungen einen hohen Wert für die Kriegführung, oftmals waren sie in ein territorialpolitisches Gesamtkonzept integriert.2 Innovationen im Festungsbau waren vor allem im 17. und 18. Jahrhundert in ganz Europa ein wichtiges, viel diskutiertes Thema. Festungen besaßen über ihren militärisch-strategischen Nutzen hinaus noch eine Vielzahl weiterer Funktionen, die oft in Verbindung standen mit dem Faktor „Sicherheit“. So boten sie den eigenen Truppen körperlichen Schutz vor dem Feind. In den Zeughäusern, Arsenalen und Magazinen wurde den Soldaten Waffen, Ausrüstung und Verpflegung bereitgestellt. Da Festungen oftmals mit Städten verbunden waren, genossen im Kriegsfall auch deren Bewohner den militärischen Schutz. Die Bevölkerung der näheren und weiteren Umgebung nutzte Festungen häufig als sicheren Zufluchtsort in Kriegszeiten. Festungen entwickelten für ihren Besitzer aber auch eine Wirkung nach innen. Zumindest dem Anspruch nach konnte die Abgrenzung durch Mauern, Gräben und Außenwerke gezielt einen eigenen sozialen Raum schaffen. Die eigenen Soldaten konnten in diesem wesentlich leichter eingegrenzt und diszipliniert werden. Insbesondere versprach sich der Landesherr durch den kontrollierten Einlass und Ausgang eine größere Sicherheit gegenüber der verbreiteten De 1

Johann Georg Krünitz, Oekonomisch-technologische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Land-Wirthschaft, und der Kunst-Geschichte: in alphabetischer Ordnung, Bd. 12, Berlin 1777, S. 650. 2 Vgl. dazu im Überblick: Jürgen Luh, Kriegskunst in Europa 1650–1800, Köln u. a. 2004, S. 81–128.

684 Stefan Kroll

sertion.3 Ebenso wurden vor allem in Festungsstädten regelmäßig unliebsame Personengruppen wie etwa Bettler oder fremde Werber ausgeschlossen. Hinzu kam, dass im Bereich von Festungen die militärische Jurisdiktion üblich war und somit auch ein besonderer rechtlicher Raum geschaffen wurde. Im Folgenden möchte ich an zwei konkreten Beispielen die Außen- und Binnenwirkung von frühneuzeitlichen Festungen untersuchen und dabei auch der Frage nachgehen, wie die Betroffenen mit den militärischen Räumen umgingen und wie diese auch symbolisch in Szene gesetzt wurden. Für die beiden kursächsischen Festungen Sonnenstein und Königstein existieren aus der Mitte des 18. Jahrhunderts einige besonders aussagekräftige bildliche Darstellungen. Es ist vergleichsweise wenig bekannt, dass der italienische Maler Bernardo Bellotto, auch Canaletto genannt, neben seinen berühmten Veduten der Städte Venedig, Turin, Rom, Wien, Dresden und Warschau kurz vor und im Siebenjährigen Krieg auch mehrere großformatige Bilder dieser beiden Festungen schuf.4 Für unsere Zwecke besonders interessant ist dabei die Tatsache, dass er neben der üblichen Perspektive von außen auch den weitaus selteneren Blick nach innen anbietet. Für meine Interpretation dieser mehrdimensionalen Beschreibung der Festungsräume nutze ich vorrangig die methodischen Instrumentarien der Historischen Bildkunde, die – besonders auch für frühneuzeitliche militärische Objekte – unter Rückgriff auf kunsthistorische Ansätze (insbesondere Aby ­Warburgs und Erwin Panofskys) wesentlich von Rainer Wohlfeil beeinflusst worden ist.5

3

Vgl. dazu ausführlich am Beispiel der Festung Göttingen im 18. Jahrhundert: Ralf Pröve, Herrschaftssicherung nach „innen“ und „außen“. Funktionalität und Reichweite obrigkeitlichen Ordnungsstrebens am Beispiel der Festung Göttingen, in: MGM 51 (1992), S. 297–315. 4 Angelo Walther, Bernardo Bellotto genannt Canaletto. Ein Venezianer malte Dresden, Pirna und den Königstein, Dresden 1998; Werner Schmidt (Hrsg.), Bernardo Bellotto genannt Canaletto in Pirna und auf der Festung Königstein, 2. Aufl. Pirna 2000. 5 Rainer Wohlfeil, Das Landsknechts-Bild als geschichtliche Quelle. Überlegungen zur Historischen Bildkunde, in: Militärgeschichte. Probleme – Thesen – Wege. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes aus Anlaß seines 25jährigen Bestehens ausgewählt und zusammengestellt von Manfred Messerschmidt u. a. (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd. 25), Stuttgart 1982, S. 81–99; Rainer Wohlfeil, Das Bild als Geschichtsquelle, in: HZ 243 (1986), S. 91–100; ders., Methodische Reflexionen zur Historischen Bildkunde, in: Brigitte Tolkemitt/Rainer Wohlfeil (Hrsg.), Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (ZHF Beihefte 12), Berlin 1991, S. 17–35. Vgl. darüber hinaus Bernd Roeck, Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen 2004.

Frühneuzeitliche Festungsräume als sicheres Terrain? 685

II.  Der Maler und seine Motive Der Plan vom Lager der kursächsischen Armee vom September 1756 (Abb. 3) zeigt die strategische Bedeutung der beiden Festungen Königstein und Sonnenstein als wichtige Eckpfeiler einer großräumigen militärischen Verteidigungsstellung.6 Südöstlich von Dresden an der Elbe gelegen, schloss die Festung Sonnenstein räumlich direkt an die Stadt Pirna an, während der Königstein weiter elbaufwärts in Richtung böhmischer Grenze lag. Hier hatte sich die sächsische ­Armee planmäßig verschanzt, nachdem die preußische Armee unter Friedrich II.

Abb. 3 Gottfried

August Gründler, Plan Von dem Lager der Saechsischen Armée zwischen Pirna und Koenigstein: so den 2. September 1756 von der selben bezogen wurde und wie selbiges von der Koeniglichen Preussischen Armée den 10. September 1756 eingeschlossen, Halle (nach 1756).

6 Gottfried August Gründler, Plan Von dem Lager der Saechsischen Armée zwischen Pirna

und Koenigstein: so den 2. September 1756 von der selben bezogen wurde und wie selbiges von der Koeniglichen Preussischen Armée den 10. September 1756 eingeschlossen, Halle [nach 1756].

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zum Auftakt des Siebenjährigen Krieges Ende August 1756 in das Kurfürstentum Sachsen einmarschiert war.7 Die Karte verdeutlicht die Positionierung der einzelnen sächsischen Regimenter und der preußischen Gegenseite, der sie sich am 16. Oktober aus Mangel an Nahrungsmitteln ergeben musste. Deutlich erkennbar ist die herausragende Stellung der Bergfestung Königstein, die bereits im 16. Jahrhundert 361 Meter über dem Meeresspiegel und etwa 242 Meter über der Elbe auf einem Sandsteinfelsen errichtet worden war. Schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Elbe, ist der Lilienstein zu sehen – ebenfalls ein hoch aufragender Tafelberg und gleichfalls von großer strategischer Bedeutung. Auf dem Sonnenstein hatte bereits im Mittelalter eine Burganlage gestanden, die im Verlauf des 16. Jahrhunderts nach und nach zur zeitweise wichtigsten sächsischen Landesfestung ausgebaut worden war. Allerdings verlor sie bereits im 17. Jahrhundert ihre Funktion als Hauptfestung an Königstein. Die letzte Belagerung hatte die Festung Sonnenstein 1639 erlebt, als eine schwedische Armee unter Banér vergeblich ihre Eroberung versuchte. Während Königstein auch nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges Festung blieb und bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein militärisch genutzt wurde, kam für den Sonnenstein nach 1763 das Ende als sächsische Landesfestung.8 Bernardo Bellotto wurde am 30. Januar 1721 in Venedig geboren.9 Um 1735 begann er dort bei seinem Onkel Antonio Canal, der selbst ein berühmter Künstler seiner Zeit war, seine Ausbildung. Von diesem übernahm er auch den Künstlernamen „Canaletto“, unter dem er bis heute fast bekannter ist als unter seinem eigentlichen Namen. In den Jahren nach 1740 unternahm Bellotto eine Reihe von Studien- und Auftragsreisen, bevor er im Sommer 1747 einem Ruf des sächsischen Kurfürsten und polnischen Königs nach Dresden folgte, um für August III. zu malen. Bereits ein Jahr später wurde Bellotto in den Rang eines kursächsisch-königlich polnischen Hofmalers erhoben. Er erhielt das höchste Jahresgehalt eines Malers am Dresdner Hof. Bis 1753 entstanden im Auftrag des Königs 14 Veduten der kursächsischen Hauptstadt. Für den sächsischen Premierminister, Graf Brühl, fertigte der Künstler selbst Repliken an. In den drei Jahren von 1753 bis 1756 malte Bellotto elf Ansichten der Stadt Pirna und der Festung Sonnenstein.10 Zwischen März 1756 und Dezember 1758 folgten schließlich fünf Darstellungen der Festung Königstein. Nachdem der Siebenjährige Krieg für Kursachsen einen schlechten Verlauf genommen hatte 7

Vgl. dazu zuletzt umfassend Marcus von Salisch, Treue Deserteure. Die kursächsische Armee und der Siebenjährige Krieg, München 2009. 8 Boris Böhm, Die Festung Sonnenstein um 1750, in: Schmidt (Hrsg.), Bellotto (wie Anm. 4), S. 27–29. 9 Die biographischen Informationen nach Alberto Rizzi, Bernardo Bellotto, genannt ­Canaletto: Dresden, Wien, München (1747–1766), Venedig 1996. 10 Schmidt (Hrsg.), Bellotto (wie Anm. 4).

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und der König und Graf Brühl nach Warschau geflohen waren, wirkte Bellotto noch in Wien, München, nochmals Dresden und schließlich Warschau, wo er 1780 auch starb. Bernardo Bellotto war ein Spezialist für Veduten, topographisch getreuen Wiedergaben von Landschaften, vor allem aber von Städten. Eine ihrer Wurzeln hatte die Vedutenmalerei in Venedig, wo bereits bei einzelnen Künstlern des 15. Jahrhunderts eine erstaunliche Objekttreue feststellbar ist. Im 18. Jahrhundert förderte das Verlangen der zahlreichen Venedig-Reisenden nach Erinnerungsbildern diese künstlerische Richtung außerordentlich. Bellottos Veduten von Dresden genossen bei den beiden mächtigsten Männern Sachsen-Polens höchstes Ansehen. Die Förderung der Vedutenmalerei ordnet sich am Dresdner Hof ein in Jahrzehnte außerordentlich intensiver und großzügiger Förderung der bildenden Künste.11 Auf allen Gebieten der Malerei waren herausragende Spezialisten tätig, darunter zahlreiche Italiener. König August III. widmete sich – unterstützt von fähigen Fachleuten – mit großem Engagement und Sachverstand der Gemäldegalerie. Wie aber ordnet sich in diesem Zusammenhang der Motivwechsel B ­ ellottos in den Jahren ab 1753 ein? Warum malte er das kleine, beschauliche Pirna, das zu dieser Zeit kaum mehr als 3 000 Einwohner hatte und selbst innerhalb des Kurfürstentums Sachsen nur einen ganz untergeordneten Rang einnahm, und was führte ihn dazu, sich auch den Festungen Sonnenstein und Königstein zuzuwenden? Es ist sehr unwahrscheinlich, dass August III. und Graf Brühl die Motive vorgaben, um damit in propagandistischer Absicht militärische Stärke zu demonstrieren.12 Dagegen sprechen gleich mehrere Argumente. Zum einen waren beide Mäzene anders als vor ihnen August der Starke an militärischen Dingen weitgehend desinteressiert. Zum anderen hatte gerade erst 1734 J­ohann Georg Pinz zwölf Kupferstiche von der Festung Königstein hergestellt, die e­ inem solchen Anspruch viel eher hätten gerecht werden können.13 Drittens waren alle Bilder für den rein privaten Gebrauch und nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.14 Darüber hinaus besaß der Hauptauftraggeber, August III., auch keine besonderen Beziehungen zu Pirna, das er – soweit bekannt – während seiner Regentschaft nur ein einziges Mal, nämlich ausgerechnet im Jahre 1753, besuchte.15 Vielmehr hat es den Anschein, als ob Bellotto selbst aus rein künstlerischen Gründen Pirna/Sonnenstein und anschließend die Festung Königstein für s­ eine zweite Vedutenfolge auswählte und der König aus Kunstsinn und in Wertschätzung seines Hofmalers diesem Vorschlag nur zugestimmt hat. In jedem Fall ließ er einmal 11 12

13

14

15

Werner Schmidt, Canaletto malt Pirna und die Festung Königstein für König August III., in: Schmidt (Hrsg.), Bellotto (wie Anm. 4), S. 43–56, hier S. 43–46. Schmidt, Canaletto (wie Anm. 11), S. 47. Schmidt, Canaletto (wie Anm. 11), S. 54. Walther, Bellotto (wie Anm. 4), S. 13f.; Schmidt, Canaletto (wie Anm. 11), S. 47f. Schmidt, Canaletto (wie Anm. 15), S. 47.

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am 26. April 1753 (für Pirna/Sonnenstein) und einmal am 30. März 1756 (für Königstein) Dekrete ausstellen, die von allen betroffenen Untertanen mit Nachdruck die Unterstützung der künstlerischen Projekte Bellottos einforderten.16

III.  Bellottos Veduten vom Königstein

Fünf Veduten des Festungsraumes Königstein hat Bellotto in den Jahren 1756 bis 1758 gemalt. Davon beschränken sich drei Darstellungen auf die äußere, landschaftliche Erscheinung der Festung auf dem Tafelberg, gemalt aus jeweils unterschiedlichen Himmelsrichtungen. Zwei von ihnen sollen kurz vorgestellt werden:

Abb. 4 

Bernardo Bellotto: Die Festung Königstein von Nordwesten. Zwischen 1756 und 1758 (Öl auf Leinwand, 132 × 234 cm, Original: Sammlung des Earl of Derby in Knowsley in Lancashire).

Die Festung Königstein von Nordwesten (Abb. 4): Während die Felsen und die darauf errichteten Gebäude noch vom abendlichen Licht erreicht werden, befindet sich der weite Vordergrund bereits im Schatten. Die dramatische Beleuchtung betont die Wehrhaftigkeit der Festungsanlage. Ihre Funktion als sichere Schutzburg wird hier besonders deutlich. Dies wird dadurch noch untermauert, dass Zugänge nicht zu erkennen sind.17

16

Schmidt (Hrsg.), Bellotto (wie Anm. 4), S. 39f.

17 Ebd., S. 142–145.

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Die Festung Königstein von Westen mit dem Lilienstein (Abb. 5): Der Standort des Malers befindet sich an der so genannten „Neuen Schänke“.18 Hier rasten auf einer Anhöhe Landleute und hüten ihre Herde. Aus der Tiefe nähert sich ein Reiter im roten Umhang, vermutlich ist es ein Offizier. Das Bild hat ein eindeutiges inneres Thema – die Umgestaltung der Natur durch den Menschen zu seinem Nutzen. Signal und Symbol dafür ist der verdorrte Baum im Vordergrund. Das Gelände zur Südseite der Festung hin ist kahl geschlagen. Kein Busch und kein Strauch konnten im Schussfeld einer Festung geduldet werden. Bewaldung wurde nur auf dem nach Norden gerichteten Abhang zugelassen, der so steil war, das von dort kein direkter Angriff zu befürchten war. Im Gegensatz dazu erhebt sich der – nicht als Festung genutzte – Lilienstein am linken Bildrand aus einem grünen Kranz von Bäumen. Die räumliche Umgebung der im Mittelpunkt stehenden Festung Königstein wirkt auf diese Weise sehr geordnet. Tatsächlich war die Festung um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Kriegszeiten Zufluchtsort der Kurfürsten.19 Hierher ließ der Landesherr in Notzeiten nicht nur den Staatsschatz, Dresdener Kunstschätze und geheime Archivbestände bringen, sondern es wurden auch Staatsgefangene auf der Festung eingekerkert. Hinzu kamen die so genannten Festungsbaugefangenen, verurteilte Straftäter, die zu

Abb. 5 

Bernardo Bellotto: Die Festung Königstein von Westen mit dem Lilienstein. Zwischen 1756 und 1758 (Öl auf Leinwand, 133 × 236 cm, Original: National Gallery of Art in Washington).

18 Ebd., S. 146. 19

Andrej Pawluschkow, Die Festung Königstein um 1750, in: Schmidt (Hrsg.), Bellotto (wie Anm. 4), S. 33–37.

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Bauarbeiten an landesherrlichen Festungen herangezogen wurden.20 Sie hatten Tag und Nacht schwere Beineisen sowie eine besonders gekennzeichnete Kleidung zu tragen, um eine Flucht zu verhindern. Neben Zivilisten wurden auch Angehörige des Militärs durch die Kriegsgerichte zu dieser Strafe verurteilt. Der Großteil der mit wenigen Ausnahmen männlichen Gefangenen wurde in der Festung Dresden untergebracht und dort auch zur Zwangsarbeit herangezogen. Insbesondere bei Überfüllung oder wenn Personen als besonders gefährlich eingestuft wurden, erfolgten Verlegungen auf die Festung Königstein. So befanden sich dort Ende Juni 1754 100 von 221 Festungsbaugefangenen. Auf die Festung ließen Untertanen „distinguirten Standes und andere honorable Persohnen“ auch Söhne bringen, die gegen bestehende Normen ihres Standes verstoßen hatten.21 Sie mussten für eine begrenzte Zeit als Musketier dienen, um ihnen damit eine „Conservation ihrer Reputation“ zu ermöglichen. Die väterliche Vorstellung von Ordnung und Disziplinierung in einem sicheren Umfeld war auf diese Weise eng mit der zentralen Landesfestung Königstein verbunden.

Abb. 6 

Bernardo Bellotto: Magdalenburg, Brunnenhaus und Johannissaal auf der Festung Königstein. Zwischen 1756 und 1758 (Öl auf Leinwand, 132 × 236 cm, Original: City Art Gallery in Manchester).

2 0

Stefan Kroll, Soldaten im 18. Jahrhundert zwischen Friedensalltag und Kriegserfahrung. Lebenswelten und Kultur in der kursächsischen Armee 1728–1796 (Krieg in der Geschichte, Bd. 26), Paderborn 2006, S. 310f. 21 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, KA (D), Nr. 7827.

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Zwei Bilder hat Bellotto auf der Festung selbst gemalt. Während er auf e­ inem Gemälde Kommandantengarten und Brunnenhaus in den Mittelpunkt rückt,22 wählt er beim zweiten mit Magdalenenburg, Brunnenhaus und Johannissaal repräsentative Bauten mit überwiegend höfischen Funktionen aus, die sich in der Mitte des weitläufigen Festungsareals befanden.23 Während Bellotto damit den schlossartigen Teil der Festung betont, werden die im Rücken des Malers befindlichen fortifikatorischen Bauten vernachlässigt. Auf diesem Gemälde verzichtet Bellotto bewusst auf eine Hervorhebung militärischer Aspekte. Der Standort des Betrachters ist die alte Kaserne, von wo aus der Blick in die Morgensonne auf der Rückseite der Magdalenenburg gelenkt wird. Rechts davon befindet sich der Turm der Garnisonskirche, während sich links in die Bildmitte ein Platz mit der Schmalseite des Brunnenhauses erstreckt. Dahinter rechts ist der Johannissaal zu erkennen. Die Vergrößerung zeigt auf dem Rasen zwischen Magdalenenburg und alter Kaserne drei Frauen und ein kleines Mädchen beim Wäscheaufhängen. Große Stücke liegen zum Bleichen. Bellotto verstärkt mit dem seit der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts eingebürgerten Motiv den friedlichen Eindruck vom Alltagsleben auf der Festung. Auch auf verschiedenen anderen seiner Veduten hat er es verwendet.24

Abb. 7 

Bernardo Bellotto: Magdalenburg, Brunnenhaus und Johannissaal auf der Festung Königstein (vergrößerter Ausschnitt aus Abb. 6).

2 2

Vgl. dazu Schmidt (Hrsg.), Bellotto (wie Anm. 4), S. 162ff. Schmidt (Hrsg.), Bellotto (wie Anm. 4), S. 156–160. 2 4 Ebd., S. 160.

2 3

692 Stefan Kroll

IV.  Das Motiv Festung Sonnenstein

Abb. 8 

Bernardo Bellotto: Die Festung Sonnenstein über Pirna vom Hausberg. Zwischen 1753 und 1755 (Öl auf Leinwand, 132 × 235 cm, Original: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Galerie-Nr. 620).

Die folgenden Bilder hat Bellotto auf dem Sonnenstein gemalt. Abbildung 8 zeigt eine Gesamtansicht der Festung Sonnenstein vom Hausberg aus.25 Auch hier arbeitet der Maler intensiv mit den Lichtverhältnissen: Während die Festung auf der Höhe noch hell von der Abendsonne angeleuchtet wird, befinden sich die Dächer der Stadt bereits im Schatten. Die Stadt wird überragt von dem um 1670 errichteten Kommandantenhaus. In den beiden schmalen, turmartig wirkenden Trakten sind Geschützluken eingelassen, von wo aus die besonders gefährdete Südseite des Geländes am Hausberg bestrichen werden konnte. Die sich rechts anschließenden beiden Türme der Festung stammen aus dem Spätmittelalter. Ihnen schließt sich ein Rundgebäude an. Vor den Festungsgebäuden erheben sich die ausgedehnten Erdaußenwerke, die von Palisaden verstärkt sind. Die Staffage rechts im Vordergrund – ein Hirte mit einer Begleiterin, mehreren Schafen und Ziegen sowie einem Rind – tragen dazu bei, dass auch bei diesem Bild der Eindruck friedfertiger Idylle überwiegt. Das nächste Gemälde wird von der Alten Kemenate beherrscht, dem ältesten Gebäude der Festung an deren Nordwestecke über Stadt und Fluss.26 Auch hier werden die Festungsgebäude dadurch besonders hervorgehoben, dass sie sich

2 5 Ebd., S. 120f. 2 6 Ebd., S. 134.

Frühneuzeitliche Festungsräume als sicheres Terrain? 693

Abb. 9 

Bernardo Bellotto: Die Alte Kemenate der Festung Sonnenstein und Pirna. Zwi­schen 1753 und 1756 (Öl auf Leinwand, 132 × 234 cm, Original: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Galerie-Nr. 625).

noch voll in der Abendsonne befinden, während die Häuser der Stadt Pirna bereits im Schatten liegen. Hinter ihnen fließt die Elbe. Der vergrößerte Ausschnitt aus dem vorherigen Bild vermittelt ein hohes Maß an unkriegerischer Harmlosigkeit: die Mutter mit ihren Kindern ebenso wie der

Abb. 10 

Bernardo Bellotto: Die Alte Keme­ nate der Festung Sonnenstein und Pirna. Zwischen 1753 und 1756 (vergrößerter Ausschnitt aus Abb. 9).

694 Stefan Kroll

Abb. 11 

Bernardo Bellotto: Die Festung Sonnenstein und Pirna vom Hohen Werk. Zwischen 1753 und 1756. (Öl auf Leinwand, 204 × 331 cm, Original: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Galerie-Nr. 628).

Uniformierte, der durchs Fenster in die Schlossschenke hineinschaut, oder der andere, etwas verwahrlost aussehende Soldat bei dem Geschütz vorn, das ebenso wie die beiden anderen hinten nicht so aussieht, als ob man mit ihm noch einen wirkungsvollen Schuss abgeben könnte.27 Das zivile Element dominiert eindeutig gegenüber einer von militärischen Notwendigkeiten bestimmten Ordnung, die man auf einer kursächsischen Festung kurz vor Ausbruch des Siebenjährigen Krieges wohl eher erwartet hätte.

Abb. 12 

Bernardo Bellotto: Die Festung Son­ nenstein und Pirna vom Hohen Werk. Zwischen 1753 und 1756 (vergrößerter Ausschnitt aus Abb. 11).

27 Ebd., S. 136.

Frühneuzeitliche Festungsräume als sicheres Terrain? 695

Die letzte, hier ausgewählte Vedute zeigt die Festung Sonnenstein und die Stadt Pirna vom Hohen Werk aus. Sie ist zwischen 1753 und 1756, also kurz vor Ausbruch des Siebenjährigen Krieges entstanden und soll einer genaueren Bildanalyse unterzogen werden. Nach Wohlfeil werden drei Stufen der Interpretation unterschieden: 1. Die vorikonographische Beschreibung, 2. die ikonographischhistorische Analyse und 3. das Erschließen des historischen Dokumentensinns. Die vorikonographische Beschreibung soll eine Inhaltsangabe des bildnerischen Werks leisten, sowohl tatsachen- als auch ausdruckhaft. Es handelt sich um ein Ölgemälde auf Leinwand, das heute den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gehört und Bestandteil der Gemäldegalerie Alte Meister ist.28 Mit einem Format von 204 mal 311 Zentimetern und einer Bildfläche von 6,75 Quadratmetern übertrifft es die großformatigen Dresdener Veduten Bellottos um mehr als das Doppelte. Auch später hat der Künstler kein größeres Gemälde gemalt. Das Bild weist alle vier Hauptmotive auf, die Bellotto für seinen Bilderzyklus von Pirna und dem Sonnenstein ausgewählt hat. Das fortifikatorische Element wird durch die Eckbastion der Festung Sonnenstein mit Batterieturm, Rundflügel und Neuer Kaserne neben dem Hohen Werk vertreten. Das zweite Element ist die Stadt, auf diesem Bild in Form einer geschlossenen Dachlandschaft, aus der die Stadtkirche hervorragt. Hinzu kommt die Elbaue, hinter der am Horizont die Türme Dresdens hervorragen. Schließlich ist auf diesem Bild die Staffage besonders betont: die Figuren sind im Original dreimal so groß wie auf seinen vorangegangenen Bildern.29 Der linke Teil wird von einzelnen Gebäuden und einigen militärischen Anlagen der Festung Sonnenstein eingenommen. Ganz links ist ein runder Bau erkennbar, daneben ein weiß gestrichener Turm, der im Mauerwerk unübersehbare Risse aufweist. Hinter ihm befindet sich ein größeres, längliches Gebäude mit zahlreichen Festern, Dachreitern und relativ vielen Schornsteinen. Im Vordergrund hat Bellotto eine Reihe von Personen dargestellt, darunter am linken Bildrand einen Soldaten in rotem Rock mit geschultertem Gewehr. Rechts davon blickt ein Mann mit braunem Umhang über blauem Rock und Schlapphut und lose auf den Rücken fallendem Haar über eine Steinmauer offenbar in einen Hof, wo relativ klein und zum Teil verdeckt, drei weitere Personen zu sehen sind. Im Vordergrund ist eine Festungskanone erkennbar. Die Vergrößerung zeigt in der Bildmitte ebenfalls eine Kanone, an die sich ein Mann mit blauer Mütze, weißem Hemd und brauner Jacke sowie einem Ladestock lehnt.30 Auf der hohen Brüstung sitzt ein vielleicht sechs oder sieben Jahre 28 Ebd., S. 126f.; Walther, Bellotto (wie Anm. 4), S. 78f.

2 9

Dachlandschaft und Elbaue spielen für meine weitere Bildanalyse keine besondere Rolle und bleiben daher hier unberücksichtigt. 3 0 Schmidt (Hrsg.), Bellotto (wie Anm. 4), S. 128; Walther, Bellotto (wie Anm. 4), S. 80f.

696 Stefan Kroll

alter Junge, der mit seinem linken Arm in Richtung Elbe zeigt. Am Tisch hat ein Pfeife rauchender Soldat mit grünem Rock und roten Aufschlägen sowie einem braunen Dreispitz Platz genommen. Links neben ihm steht ein mit einer Haube gekleidetes Mädchen, rechts von ihm ein etwas älterer Junge, der sich offenbar mit einem weiteren Mann unterhält. Dieser sitzt ebenfalls am Tisch, hat einen Dreispitz mit goldgelber Borte auf dem Kopf und trägt zu seinem blauen Rock weiße Strümpfe. Auf dem Tisch befinden sich ein Degen und ein Bierkrug. Im Hintergrund säubert eine Soldatenfrau, begleitet von einem neugierigen Hahn, ein Kleidungsstück. Die Vergrößerung lässt erkennen, dass sich auch in den Fenstern des großen Gebäudes im Hintergrund Blumenkästen befinden. Alles in allem spiegelt die Szene idyllische Gemütlichkeit und Harmlosigkeit wider. Ich komme damit zum zweiten Schritt der Bildinterpretation, der ikonographisch-historischen Analyse, die mit der Ermittlung des Bildinhalts aus der Bildungs- und Gedankenwelt sowie dem Erfahrungshorizont ihres Schöpfers mit Hilfe schriftlicher Überlieferung beginnt. Bernardo Bellotto schätzte in ­allen seinen Darstellungen das Zufällige, Spontane, Lebendige, Menschliche mit kleinen Unzulänglichkeiten und hob dies hervor. Sein ganzer Malstil zielte auf möglichst detailgetreue Wiedergabe ab. Dies muss auch für das hier analysierte Werk gelten. Aus schriftlichen und anderen bildlichen Quellen lässt sich eine ganze Menge über die Abbildhaftigkeit des Dargestellten herausfinden. Besonders auf dem parallelen Bild Bellottos von der Festung Sonnenstein (Abb. 8) deutet sich eine erhebliche Verwahrlosung an – und diese wird auch bestätigt durch schriftliche Quellen.31 Seit dem Ende des Zweiten Schlesischen Krieges 1745 war es zu großen Einsparungen im kursächsischen Militäretat gekommen. Viele der Festungskanonen waren 1753 nicht mehr einsatzfähig. In diesem Jahr konnten gerade zehn von ihnen repariert werden, weil die Armeeführung in Dresden außer der Reihe den Erlös von Sonnensteiner Palisadenholz zur Verfügung stellte, während die notwendige Instandsetzung der übrigen wegen fehlender finanzieller Mittel zurückgestellt werden musste. Insgesamt konnten an der Festung nur die allernotwendigsten Instandhaltungsmaßnahmen und Reparaturen durchgeführt werden. Größere Baumaßnahmen waren seit der Fertigstellung der Großen Elbkaserne 1740/41 komplett eingestellt worden. Dieses große Gebäude ist mit seinen vielen Fenstern auf dem Bild dargestellt. Hier war Platz für rund 1 000 Soldaten. Die Festung befand sich in der ersten Hälfte der 1750er-Jahre nicht mehr in einem den Erfordernissen der Zeit entsprechenden Zustand. Sie war räumlich zu stark begrenzt, verfügte über zu wenige bombensichere Räume und war verwundbar durch gegnerische Artillerie. Dennoch war sie weiterhin eine der fünf kursächsischen Landesfestungen. Ihre hauptsächliche Funktion bestand in der Kontrolle und Sicherung des Verkehrs auf der Elbe, des Pirnaer Stromübergangs und der 31

Böhm, Festung (wie Anm. 8).

Frühneuzeitliche Festungsräume als sicheres Terrain? 697

nach Böhmen führenden Straßen. Bei einem Rückzug der Armee sollte sie – wie bereits erwähnt – als Eckpfeiler eines uneinnehmbaren Lagers zwischen ­Pirna und der großen Elbschleife dienen. Die Sollstärke der Garnison betrug um 1750 nur 114 Mann, einschließlich neun Artilleristen. Die Soldaten bildeten seit 1736 als Garnisonskompanie der sächsischen Armee die beständige Besatzung der Festung. Diese bestand ausschließlich aus so genannten „Halbinvaliden“, in der Regel lang gedienten, älteren Soldaten, die zum Dienst im Feld nicht mehr tüchtig waren.32 Die von Bellotto gezeichneten Soldaten tragen Uniformen, die mit den Angaben in anderen schriftlichen und bildlichen Quellen bis ins Detail präzise übereinstimmen.33 Dass Bellottos Soldaten nicht besonders kriegerisch, diensteifrig und um korrektes Äußeres bemüht erscheinen, sondern vielmehr eher gelangweilt und zum Teil heruntergekommen wirken, dürfte vor diesem Hintergrund weitestgehend als ein Abbild der Wirklichkeit anzunehmen sein. Auch sind die Kinder und die Frauen auf den beiden Bildern vom Innenleben der Festung Sonnenstein nichts Außergewöhnliches, denn rund die Hälfte ­aller Festungssoldaten war um die Mitte des 18. Jahrhunderts verheiratet.34 Die nächsten Familienangehörigen aber lebten mit auf der Festung und gaben dem dortigen Alltag einen deutlich zivilen Anstrich. Dazu trug auch bei, dass abends und am Sonntag Bier und Wein ausgeschenkt wurde, Kartenspielen, Plaudern, Singen und Tanzen alltäglich waren. Die Wohnbedingungen müssen – im Vergleich zum zeitgenössischen Standard – als gut eingestuft werden, seitdem 1741 das neue große Kasernengebäude fertig geworden war.35 Dennoch stand für die Soldaten der militärische Dienst im Vordergrund. Das überlieferte Dienst- und Wachreglement des Sonnensteiner Festungskommandanten ermöglicht dazu nähere Aufschlüsse. Am Tag bestand der Wachdienst neben dem Wachestehen auf den Außenwerken unter anderem in der Kontrolle der Kutschen und Händler am äußeren Tor sowie der Fußgänger am so genannten Klappentor, dem Ausfallstufenweg zur Stadt. Berücksichtigt man, dass nach einer Aufstellung vom Sommer 1756 immer nur etwas weniger als die Hälfte der Soldaten für ein 24-stündiges Wachkommando benötigt wurde, so wird deutlich, dass es daneben auch eine Menge freier Zeit gegeben hat. In der Regel wurde diese für Nebentätigkeiten genutzt, denn der geringe monatliche Sold reichte zur Bestreitung des Lebensunterhalts keinesfalls aus. Aus diesem Grund mussten auch die Soldatenfrauen und die älteren Kinder mit eigener Erwerbsarbeit (z. B. dem Waschen der Dienstbekleidung oder Spinnen) zum Familieneinkommen beitragen. Wenn 3 2

Kroll, Soldaten (wie Anm. 20), S. 169f. Müller/Dieter M. Vetters, Im Dienste Sachsens. Zur Geschichte der Uniform und reglementierender Dienstbekleidung sächsischer Institutionen, Dresden 2001. 3 4 Böhm, Festung (wie Anm. 8), S. 28. 3 5 Ebd., S. 27f. 3 3 Reinhold

698 Stefan Kroll

ein Festungssoldat dazu körperlich nicht mehr in der Lage war – manch einer war weit über 70 Jahre alt – waren Mußestunden sicher keine Seltenheit. Im Übrigen wurde auf der Festung auch gebacken, geschlachtet und Branntwein destilliert. Die Produkte wurden – sehr zum Ärger der zünftigen Handwerker in Pirna – auch den Bürgern der Stadt angeboten. Eine gewisse Abwechslung der täglichen Monotonie boten die wiederholt vorkommenden Dienste außerhalb der Festung, so wie etwa 1753 die Teilnahme an der Bekämpfung von Räuberbanden oder die Übernahme von Wachdiensten in königlichen Schlössern, z. B. Moritzburg oder Pillnitz. Damit bin ich beim zweiten, ungleich kürzeren Teil der ikonographischhistorischen Analyse. Die Interpretation im engeren Sinne bemüht sich um die Aufschlüsselung des Sinnes, den der Künstler seinem Werk mitgegeben haben kann. Wie bereits mehrfach betont, bevorzugte Bellotto in allen seinen Werken eine Verbindung aus der Darstellung von Architektur und Landschaft mit dem täglichen Leben. Drill, Exerzieren, allgemein soldatische Zucht waren Bellottos Sache nicht. Auch auf den Dresdener Veduten passen sich die dort vorkommenden Soldaten, selbst wenn sie in Gruppen oder Verbänden auftreten, unaufdringlich dem pulsierenden Leben der Stadt an und dominieren es nicht etwa. Gleichwohl ist aus anderen Quellen sehr wohl bekannt, dass es zu dieser Zeit auch eine andere Seite des militärischen Alltags gegeben hat. Besonders das regelmäßige Exerzieren gehörte in allen Garnisonsstädten und ebenso auf den Landesfestungen zum alltäglichen, allen Stadtbewohnten vertrauten Erscheinungsbild. Es ist also eine bewusste Entscheidung Bellottos, diesen Teil des soldatischen Lebens im Frieden nicht abgebildet zu haben. Seine beiden Bilder von der Festung Sonnenstein betonen in besonderer Weise, dass sich auch im militärischen Regelwerk individuelle Spielräume erhalten und entfalten konnten. Dass die Staffage eine so dominierende Rolle einnimmt, kann als künstlerische Weiterentwicklung seiner Veduten bewertet werden. Fast schon ist man geneigt, das Bild mit seiner – bezogen auf die Figuren – unvergleichlichen physischen und psychologischen Aussagekraft als eine Genreszene und nicht mehr als eine Vedute anzusehen. Bei der Ermittlung der historisch-gesellschaftlichen Einbindung der Gemälde ist insbesondere nochmals auf den Entstehungszusammenhang zu verweisen. Der Auftraggeber, August III., ist ein an militärischen Dingen zutiefst desinteressierter, dafür aber schöngeistigen und künstlerischen Dingen umso mehr zugänglicher Monarch gewesen. Seine Vorlieben und Intentionen sowie die des Künstlers Bellotto scheinen sich weitgehend in Übereinstimmung befunden zu haben. Nach dem großen Erfolg, den Bellotto mit seinen vorangegangenen Veduten bei seinem Förderer erreicht hatte, darf davon ausgegangen werden, dass dieser keine freien Kompositionen, sondern überprüfbare, typographisch exakte Ansichten erwartete. Eine Demonstration militärischer Stärke hätte sicherlich anders ausgesehen und wäre auch nur durch Beauftragung eines anderen Künstlers möglich geworden. Die Wiedergabe militärisch relevanter Details war auch

Frühneuzeitliche Festungsräume als sicheres Terrain? 699

nur deshalb möglich – und dies betrifft schon den Teil der Dresdner Veduten, auf dem dortige Festungsbestandteile einbezogen sind –, weil die Bilder nicht für die Öffentlichkeit, sondern ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt waren. Ganz zum Schluss möchte ich noch einige Bemerkungen zum historischen Quellenwert von Bellottos Veduten machen. Ohne jeden Zweifel sind die so ungewöhnlich detailgetreuen Gemälde für die Bau- und Alltagsgeschichte des Militärs von außergewöhnlichem Wert. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die bildlichen Darstellungen nicht unkritisch mit der – für uns allenfalls noch partiell erschließbaren – vergangenen Realität verwechselt werden dürfen. Insbesondere Bellottos künstlerischer Anspruch und sein Malstil, daneben aber auch die Intentionen seiner Auftraggeber bestimmten, was und wie etwas dargestellt wurde. In jüngster Zeit hat die Bellotto-Forschung dazu bezeichnende neue Erkenntnisse herausgearbeitet. So fiel es Gregor Weber auf, dass Bellotto gerade auf den Pirnaer und Königsteiner Veduten ganze Tiergruppen quasi identisch dargestellt hat.36 Er konnte konkrete Verbindungen zu anderen Künstlern, bis hin zu dem niederländischen Maler Nicolaes Berchem nachweisen, der bereits Mitte des 17. Jahrhunderts Italien bereist hatte. Dessen Zeichnungen von Rindern und Schafen verwendete der berühmte Verleger und Künstler Joseph Wagner, der von 1706 bis 1780 lebte und lange Jahre in Venedig verbrachte. Dass Bellotto wiederum diese fremden Vorlagen für seine eigenen Werke verwendete und verarbeitete, war damals gängige Atelierpraxis und wurde nicht als verwerflich angesehen. Die Übernahme war Teil eines künstlerischen Darstellungsmodus, dem auch andere Gestaltungsmittel, etwa die Wahl des Bildausschnitts, seine Komposition und Rahmung unterworfen waren. Der hohen Wahrhaftigkeit der Veduten zum Trotz darf nicht vergessen werden, dass sie selbst innerhalb einer Maltradition stehen, das Material der Kunstgeschichte voraussetzen und nach bestimmten Formen erdacht und ausgeführt sind.37

V. Schluss

Bellottos Veduten zeigen die beiden wichtigen kursächsischen Festungen im Zustand der Harmlosigkeit. Nichts deutet auf besondere Anstrengungen hin, den Drohgebärden des nördlichen Nachbarn Preußen durch Aufrüstung oder 3 6 Gregor

J. M. Weber, Bernardo Bellotto, Nicolas Berchem und das pastorale Pirna, in: Dresdner Kunstblätter 42 (1998) Nr. 2, S. 46–53. 37 Auf die Notwendigkeit, bei der Interpretation von Bellottos Veduten immer auch ästhetische Instrumentalisierungsstrategien zu berücksichtigen, hat unlängst am Beispiel des Gemäldes „Die Trümmer der Kreuzkirche“ Horst Carl aufmerksam gemacht. Horst Carl, „Brüssel 1695“ – Kriegszerstörungen und ihre Visualisierung im späten 17. und 18. Jahrhundert, in: Birgit Emich/Gabriela Signori (Hrsg.), Kriegs/Bilder in Mittelalter und Früher Neuzeit (ZHF, Beiheft 42), Berlin 2009, S. 295–315, hier S. 299ff.

700 Stefan Kroll

auch nur erhöhte Wachsamkeit entgegen zu treten. Dies korrespondiert mit der tatsächlichen militärischen Lage, denn Kursachsen war wirklich a­ lles andere als gut vorbereitet auf den wenig später ausbrechenden Krieg. Die maßgeblich vom Premierminister Graf Brühl bestimmte Konzentration der sächsischen Außen­ politik auf den Einsatz der Diplomatie scheiterte, und das Land und seine Bewohner erlebten schwere Kriegsjahre.38 Sowohl politisch als auch wirtschaftlich wirkten die Folgen noch lange nach. Der Beginn des Siebenjährigen Krieges war praktisch gleichbedeutend mit dem Ende des so genannten „Augusteischen Zeitalters“, dessen wesentliches Kennzeichen die großzügige staatliche Förderung von Kunst war. Dies bekam auch Bellotto zu spüren, der sich nach 1763 andernorts neue Auftraggeber suchen musste. Ohne eine den Umständen der Zeit angepasste Rüstungs- und Heerespolitik verloren die kursächsischen Landes­festungen weitgehend ihre strategisch-militärische Funktion. Hilflos musste der sächsisch-polnische König 1756 vom Königstein aus mit ansehen, wie seine ­Armee zu Füßen des Liliensteins kapitulierte. Und auch die nach innen gerichtete Sicherungsfunktion der Festung verlor ihre Bindungskraft, wie das Beispiel der königlichen Leibgrenadiergarde zeigt. Bis 1763 desertierte ein erheblicher Teil dieser auf der neutralisierten Festung Königstein stationierten Eliteeinheit, die mit Zustimmung der siegreichen Gegner den Schutz des Königs gewährleisten sollte.39 Wie nahe Sicherheit und Unsicherheit im Allgemeinen beieinander liegen konnten, war besonders der zivilen Bevölkerung bewusst, denn Festungsstädte zogen oftmals geradezu magnetisch feindliche Militäraktionen auf sich. Belagerungen und die damit häufig einher gehenden militärischen Aktionen wie Bombardieren, Aushungern oder Erstürmen verwandelten vermeintlich geschützte Festungsräume in ein höchst unsicheres Terrain. Auch der frühneuzeitliche Festungsraum war letztlich ein soziales Konstrukt, das sich erst durch menschliches Handeln konstituierte.

3 8

Vgl. u. a. Jürgen Luh, Sachsens Bedeutung für Preußens Kriegsführung, in: Dresdner Hefte 19 (2001) Heft 4: Sachsen und Dresden im Siebenjährigen Krieg, S. 28–34. 3 9 Kroll, Soldaten (wie Anm. 20), S. 533–538.

Dorothea Nolde

Zusammenstöße und ihre Vermeidung: Reisen in Kriegs- und Konfliktgebieten in der Frühen Neuzeit Das Thema Sicherheit spielte für Reisende der Frühen Neuzeit eine zentrale Rolle und wurde dementsprechend vor, während und nach einer Reise viel diskutiert. So wichtig den Reisenden ihre Sicherheit auch war, thematisiert wurde sie nahezu ausschließlich auf dem Umweg über befürchtete oder erlebte Unsicherheit. In der Tat waren Reisende in der Frühen Neuzeit vielerlei Gefahren ausgesetzt.1 Genau genommen konnten sie bei Antritt der Reise nie sicher sein, lebend wieder nach Hause zurückzukehren. Wie ausgeprägt das Bewusstsein für Gefährdungen aller Art war, zeigt sich in entsprechenden Warnungen in apodemischen Schriften zur Reisevorbereitung ebenso wie in guten Wünschen und Gebeten bei Abschiedsgottesdiensten, oder auch in Gedichten und Festschriften, die Aufbruch und Wiederkehr von Reisenden begleiteten. Die von Christian Friedrich Witt komponierte Tafelmusik, mit der im Jahre 1693 die Rückkehr der sächsischen Herzöge Friedrich II. und Johann Wilhelm gefeiert wurde, die „[n]ach glücklich vollbrachter fast jähriger Reise […] auf dero Fürstl. Residenz Friedenstein Unter dem Schutz des Allerhöchsten wieder angelanget“, ist eine von vielen Quellen, die den glücklichen Ausgang einer Reise betonte, der keineswegs für selbstverständlich gehalten wurde und daher immer wieder zu Bekundungen der Erleichterung und Dankbarkeit Anlass gab.2 Dass die befürchteten Gefährdungen von Leib und Leben durchaus einen realen Hintergrund hatten, können wir unter anderem Leichenpredigten für unterwegs verstorbene Reisende entnehmen, so etwa der von Felix Roschmann verfassten Leichenpredigt auf den im Mai 1592 in Gisors in der Normandie verstorbenen Ludwig Georg zu Limburg.3 Während der Reise 1

Zu den Gefahren des Reisens allgemein siehe Holger T. Gräf/Ralf Pröve, Wege ins Ungewisse. Reisen in der Frühen Neuzeit 1500–1800, Frankfurt a. M. 1997, S. 193–241; Antoni Maczak, Travel in Early Modern Europe, Cambridge 1995, S. 158–182; Dieter Richter, Die Angst des Reisenden, die Gefahren der Reise, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyres/­Gottfried Korff (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 100–108. 2 Unterthänigster Glück-Wunsch/ Womit/ als Die Durchlauchtigsten Fürsten und Herren/ Herr Friedrich/ und Herr Johann Wilhelm/ Gebrüdere/ Hertzoge zu Sachsen […] Nach glücklich vollbrachter fast jähriger Reise Den Augusti auf dero Fürstl. Residenz Friedenstein Unter dem Schutz des Allerhöchsten wieder angelanget/ Ihre unterthänigste Freude in einer Tafel-Music nach geringer Composition Christian Friedrich Wittens […] mit ihm bezeugen solten Sämmtliche Capell-Verwandte, Gotha: Reyher [1693]. 3 Christliche Leichpredigt/Von dem toedtlichen |abgang/des Wolgebornen Herrn/ Herrn Ludwig Georgen/ Herrn zu Limpurg/ […] welcher den 14. Maij dieses 92. Jars/ zu Gisors in Franckreich/ […] entschlaffen/ vnd daselbsten begraben/ Gehalten […] zu Gailndorff

702 Dorothea Nolde

verfasste Briefe oder nachträglich zusammengestellte Reiseberichte berichten ebenfalls von vielerlei überstandenen Gefahren. Die geschilderten Bedrohungen lassen sich in zwei Gruppen einteilen, von denen hier nur die zweite von Interesse ist. Neben naturbedingten Gefahren etwa durch Unwetter, Hochwasser, Erdrutsche oder durch Krankheiten, bestand stets die Gefahr, von Mitmenschen angegriffen, ausgeraubt oder gar getötet zu werden. Zu diesen potentiell gefährlichen Zeitgenossen zählten ohne Zweifel Soldaten, die bewaffnet, mobil und nicht selten unbemittelt waren, und überdies meist in Gruppen umherzogen.4 Zu unterscheiden ist dabei eine mögliche Bedrohung durch kriegführende militärische Verbände einerseits und durch marodierende entlassene Soldaten andererseits. Wir werden noch sehen, wie rasch sich die eine Situation in die andere verwandeln konnte. Zu unterscheiden ist aber auch zwischen der konkreten Bedrohungssituation und dem Sicherheitsoder Unsicherheitsgefühl der Reisenden, die keineswegs immer miteinander korrelieren mussten. An Kriegen herrschte bekanntlich in der Frühen Neuzeit kein Mangel, Reisende sahen sich folglich regelmäßig damit konfrontiert, dass ihre Reiseroute durch militärische Konfliktgebiete führte. Am Beispiel von deutschen und französischen Adligen, die von der Mitte des 16. bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts verschiedene europäische Länder besuchten, soll aufgezeigt werden, wie diese auf militärische Präsenz in den von ihnen bereisten Gebieten reagierten.5 Zu berücksichtigen ist dabei, dass sich das Verhältnis adliger Reisender zum Militär deutlich von dem anderer Reisender unterschied. Für männliche Angehörige des Adels – und bis zu einem gewissen Grad auch für adlige Frauen – gehörte der Kontakt zum Militär ganz selbstverständlich zu ihrer Sozialisation und zu ihrem Lebensumfeld dazu, stellte also den Normal- und nicht den Ausnahmefall dar. Das galt zu Hause ebenso wie auf Reisen, für eigene und verbündete Verbände ebenso wie für feindliche. Vor diesem Hintergrund war ihre Wahrnehmung militärischer Präsenz als Faktor von Sicherheit oder Unsicherheit nicht nur der jeweiligen Situation geschuldet, sondern erwies sich als in besonders hohem Maße von sozialen Normen beeinflusst.

den| 1. Augusti .[..] Durch| Felicem Roschmannum, Limpurgischen Superintendenten vnd Pfarrern zu Gailndorff. […] Tübingen: Georg Gruppenbach 1592. 4 Für das 18. und 19. Jahrhundert siehe die Beiträge in Alain Ruiz (Hrsg.), Les voyageurs européens sur les chemins de la guerre et de la paix du temps des Lumières au début du XIXe siècle, Pessac 2006. 5 Das zugrunde liegende Sample umfasst rund einhundert Reisezeugnisse deutscher und französischer Provenienz. Vgl. Dorothea Nolde, Fremdheitserfahrung und Kulturtransfer – deutsche und französische Europareisende, ca. 1525–1750, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Universität Basel 2011.

Reisen in Kriegs- und Konfliktgebieten in der Frühen Neuzeit 703

I. Militärische Präsenz aus der Beobachterperspektive

Die weitaus meisten der hier untersuchten Reisenden durchquerten eines oder mehrere Konfliktgebiete, angefangen von den Auseinandersetzungen der französischen Religionskriege über die Kämpfe des Dreißigjährigen Krieges bis hin zum Pfälzischen und zum Spanischen Erbfolgekrieg. Als eine Konstante lässt sich ausmachen, dass militärische Präsenz in der Regel nicht als raumbeherrschend, sondern stets als punktuelle und lokalisierbare Einheit wahrgenommen wurde. Wenn in Reisezeugnissen von Militäreinheiten die Rede war, befanden sich diese entweder in Festungen, in Feldlagern oder aber in einer ebenfalls räumlich und zeitlich begrenzten Kriegskampagne. Die Besichtigung von Zeughäusern und den darin gelagerten Waffen gehörte ohnehin zum festen Bestandteil nahezu jeder Reisebeschreibung, nicht nur im Adel.6 Dies Interesse bestand unabhängig davon, wie die jeweiligen Reisenden zu der solcherart ausgestatteten Stadt oder Herrschaft standen. So zeigte sich der einundzwanzigjährige Henri de ­Rohan, der bereits umfangreiche militärische Erfahrungen im Dienste des französischen Königs gesammelt hatte, bevor er im Mai 1600 zu einer fast zweijährigen Europa­ reise aufbrach, ausgesprochen kritisch gegenüber der „bürgerlichen“ Regierungsform der Stadt Straßburg, lobte jedoch dessen ungeachtet das Waffenarsenal im dortigen Zeughaus in den höchsten Tönen: L’arsenal autant admirable qu’il est possible, pour la quantité d’artilleries & autres armes, & grand nombre de munitions pour les mettre en oeuvre : si bien entretenuës, si nettes & si bien ordonnées (comme celles à mon advis qui n’ont encore point veu le jour ) qu’il ne se peut rien voir au monde de plus beau.7

Das Interesse adliger Reisender galt darüber hinaus besonders den Festungsbauten, deren Architektur in der Regel bereits Bestandteil ihrer Ausbildung gewesen war und die sie ebenso unter taktischen wie unter ästhetischen Grundsätzen beurteilten. Über das reine Besichtigungsinteresse hinaus gingen dagegen Besuche bei Truppen, die man dem eigenen oder einem freundlich gesonnenen Lager zurechnete. So stellte der sächsische Prinz Friedrich August, bzw. dessen Hofmeister, im Jahr 1688 erfreut fest, dass die an der französisch-spanischen Grenze gelegene Stadt Perpignan mit starken deutschen Regimentern besetzt sei:

6

Christine Lustenberger, Orte der eidgenössischen Geschichtsrepräsentation. Perspektiven ausländischer Reisender im 18. Jahrhundert, in: SZG 54/3 (2004), S. 265–274. 7 [Henri de Rohan], Voyage du Duc de Rohan, Faict en l’an 1600, En Italie, Allemaigne, Pays-bas Unis, Angleterre & Escosse, Amsterdam: Louys Elzevier 1646, S. 9–10.

704 Dorothea Nolde Perpignam ist die erste und gräntzvestung in Franckreich, und ziemlich wohl befestigtet, sonderlich die citadelle, so nahe bey der stadt auf der ebene lieget, undt funde ihre Durchlaucht p. starcke besatzung, undt alles teutzsche regiementer.8

Zu diesem Zeitpunkt war der letzte französisch-spanische Krieg bereits seit vier Jahren beendet, bevor die fortdauernden Spannungen 1701 erneut in den Spanischen Erbfolgekrieg münden sollten. Die Prekarität des Friedens erklärt den Rückgriff auf deutsche Regimenter zur Sicherung der französischen Pyrenäengrenze. In dieser wie auch in anderen Reisebeschreibungen weisen die enthaltenen Attribute der Anwesenheit eigener oder befreundeter Truppen eine positive, Sicherheit verheißende Konnotation auf: Gelobt wurden die Stärke der Befestigungen, die Anzahl der zur Verfügung stehenden Waffen und nicht zuletzt die Stärke und Qualität der stationierten Truppen, insbesondere dann, wenn Reisende Gelegenheit bekamen, militärischen Exerzitien beizuwohnen, wie jener französische Reisende der in Neapel die Geschicklichkeit der Reiterei und Infanterie bewunderte: […] les troupes que j’y vis étoient tres-bonnes; je pris plaisir à voir monter leurs Gardes de Cavalerie & d’infanterie, où ils font beaucoup de ceremonies que l’on ne pratique pas dans nos troupes de France, & que nous trouverions burlesques.9

Das besondere Interesse an Militäreinheiten, deren Ausrüstung und Ausbildung erklärt sich nicht zuletzt aus dem Militärdienst als Bestandteil adligen Selbstverständnisses. Die meisten adligen Reisenden waren selbst bereits militärisch aktiv gewesen oder bereiteten sich darauf vor, es im Laufe ihres weiteren Lebens noch zu werden.

II. Militärische Präsenz aus der Binnenperspektive

Aus dem gleichen Grund begnügten sich adlige Reisende keineswegs immer damit, das Militär gewissermaßen von außen zu betrachten. Es war durchaus keine Seltenheit, dass Reisen mit militärischen Aktivitäten durchsetzt waren bzw. umgekehrt militärische Kampagnen als Reisen betrachtet und genutzt wurden. So reiste der französische Adlige Henri-Charles de la Trémoilles 1648 nach Kassel, 8 Reisediarium Friedrich August von Sachsen, 27. 04. 1688, in: Katrin Keller (Hrsg.), „Mein

Herr befindet sich gottlob gesund und wohl“. Sächsische Prinzen auf Reisen, Leipzig 1994, S. 289. 9 Memoires et plans geographiques des principales places de France, Italie, Allemagne, Hollande, et Flandre Espagnole; Avec ce qu’il y a de plus curieux & de plus remarquable. Presentez à son Altesse Serenissime Monseigneur le Comte de Toulouze Grand Amiral de France, par un ancien Officier Gentilhomme Breton. A Paris, chez Charles de Sercy 1698, S. 125.

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um dort Emilie von Hessen-Kassel zu heiraten. Im Anschluss an die Hochzeit begleitete er dann, gemeinsam mit seiner Frau, seine erkrankte Schwiegermutter auf eine Badereise, um sofort darauf das Kommando eines Regiments in der Nähe von Wesel zu übernehmen.10 Der aus der Nähe von Stettin stammende Lupold von Wedel trennte in seiner tagebuchartigen Beschreibung grundsätzlich nicht zwischen seinen Reisen und Kriegserlebnissen, die sich Ende des 16. Jahrhunderts über mehr als vierzig Jahre erstreckten.11 Ganz ähnlich verfuhr der katholische Militärführer Philippe Emmanuel von Lothringen, Herzog von Mercoeur, der sich 1599 mit Erlaubnis des französischen Königs in kaiserliche Dienste begab, um in Ungarn gegen die Osmanen zu kämpfen. Auf dem Weg dorthin machte er an zahlreichen Höfen, darunter auch dem Wiener Kaiserhof, Station und verfasste darüber einen detaillierten Reisebericht, der nahtlos in die Schilderung seiner Teilnahme an militärischen Konfrontationen übergeht.12 Umgekehrt bildet die Teilnahme an einer Militärkampagne im Rahmen des Pfälzischen Erbfolgekrieges den Auftakt für Jean Dumonts „Levante-Reise“, die ihn durch Deutschland, Italien und Malta bis in die Türkei führte.13 Auch das Reisejournal des ostfriesischen Landadligen Ulrich von Werdum, der von 1670 an sieben Jahre lang im Dienste verschiedener Herren durch Deutschland, Polen, Frankreich, England, die Niederlande, Dänemark, Schweden und Österreich zog, enthält wie selbstverständlich seine Teilnahme an verschiedenen Feldzügen.14 Wenngleich Werdum in der Regel als Söldner unterwegs war, handelte es sich in seiner Wahrnehmung ganz offensichtlich um Reisen, denn bei seinen Aufzeichnungen tritt – von einem Feldzug in die Ukraine abgesehen – der militärische Aspekt weitgehend in den Hintergrund. Es handelt sich eindeutig um einen Reisebericht, der Sitten und Gebräuche der besuchten Länder ebenso thematisiert wie landschaftliche und städtebauliche Besonderheiten. Es ließen sich noch zahlreiche weitere Beispiele für die Verschmelzung von Reisen und militärischen Aktivitäten anführen. Interessant sind diese Beispiele in unserem Zusammenhang vor allem deshalb, weil etliche Reisende offenbar militärischen Konfrontationen gerade nicht aus dem Weg gingen, sondern sich an diesen aktiv beteiligten, wohlgemerkt ohne 10 11 12 13

14

Archives Nationales de France, 1 AP 441 Archives La Trémoille – 1620–1672. Mémoires de Henry-Charles de La Trémoïlle, prince de Tarente, f. 37r.–41r. [Lupold von Wedel], Lupold von Wedels Beschreibung seiner Reisen und Kriegserlebnisse 1561–1606 (Baltische Studien 45), hrsg. v. Max Bär, Lötzen 1895. Bibliothèque Nationale de France, Ms fr. 24717, Voiage De Mr de Marca [= Mercoeur] en allemagne, en 1599. Jean Dumont, Nouveau voyage du Levant, Par le sieur D.M., Contenant ce qu’il a vû de plus remarquable en Allemagne, France, Italie, Malthe & Turquie, Den Haag: Etienne Foulque 1694. [Ulrich von Werdum], Das Reisejournal des Ulrich von Werdum (1670–1677), hrsg. v. ­Silke Cramer, Frankfurt a. M. 1990.

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dabei ihr Selbstverständnis als Reisende aufzugeben. Lupold von Wedel etwa begründet sein wiederholtes Anheuern als Söldner explizit mit seiner Neugier auf fremde Länder: „Ob nun wol mein Gemut anders nicht gerichtet, den daß ich Lant und Leute zu schowen Lust […].“15 Die Schilderungen militärischer Aktivitäten fügen sich bei ihm wie bei anderen Verfassern nahtlos in die Schilderung von Reiseerlebnissen an.

III. Sicherheit und Unsicherheit

Auffällig an diesen Darstellungen von Kämpfen und Feldzügen in Reiseberichten ist vor allem, was diese nicht thematisieren. Anzeichen von Furcht oder auch nur Verunsicherung lassen sich dort so gut wie nie finden. Im Zusammenhang adligen Selbst- und Ehrverständnisses mag dies zunächst einmal wenig verwundern, zählte doch Tapferkeit zum Kern des adligen Habitus. Bemerkenswert ist freilich der Kontrast mit anderen Aspekten ein und derselben Reiseberichte. Es ist nämlich keineswegs so, dass adlige Reisende niemals Ängste oder Bedrohungen thematisierten. Sie taten dies beispielsweise angesichts der Begegnung mit fremden Religionspraktiken. Dabei handelte es sich zwar meist um imaginierte Bedrohungen, die jedoch nichtsdestoweniger zu Befürchtungen für Leib und Leben Anlass gaben. Nun ist das Bedrohungspotential, das von einem militärischen Kampf ausgeht, fraglos ungleich größer als das der Begegnung mit fremden Religionsbräuchen. Dennoch ist nur im zweiten Fall von Ängsten, bis hin zu Todesängsten, die Rede, im ersten dagegen nicht, wie folgendes Beispiel verdeutlichen mag. Der bereits zitierte Ulrich Werdum, ein Lutheraner, der in Polen im Dienst eines französischen Abtes stand, berichtet, wie er und sein Herr in einem Dorf bei Warschau von ihren Wirtsleuten beschimpft worden seien, weil sie an einem Freitag, also einem Fastentag, Käse aßen.16 Ulrich von Werdum fühlte sich sofort an die Geschichte des brandenburgischen Statthalters zu Königsberg erinnert, der – so Werdum – zusammen mit dreißig seiner Leute nur knapp der Ermordung durch die orthodoxen „Masuren“ entgangen wäre, die ihn umbringen wollten, weil er als Protestant an einem Fastentag Fleisch gegessen hätte. Ulrich von Werdum befürchtete das Schlimmste, und erst als sein Herr mit Hilfe eines Dolmetschers den Gastgebern versicherte, dass er als Geistlicher um nichts in der Welt das Fasten brechen würde, dass aber in Deutschland Milchspeisen an Fastentagen nicht verboten seien, rettete sie dies aus ihrer misslichen Lage. Der Abt, der in geheimer Mission in Polen unterwegs war, gab sich hier als Deutscher aus, um nicht als Franzose enttarnt zu werden. Das hatte in dieser Situation freilich 15 16

[Lupold von Wedel], Lupold von Wedels Beschreibung (wie Anm. 11), S. 47. [Ulrich von Werdum], Das Reisejournal (wie Anm. 14), S. 100–101.

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zugleich den Vorteil, dass die weniger strengen deutschen Fastengebote zwar in einem polnischen Sprichwort, das von Werdum ebenfalls zitierte, als läppisch und halbherzig verspottet wurden, dadurch aber immerhin bekannt waren, so dass sich die Wirte mit dieser Erklärung schließlich zufrieden gaben. Letztlich wurde den Reisenden – von verbalen Beschimpfungen abgesehen – offenbar kein Haar gekrümmt, doch suggerierte der Verweis auf die Beinahe-Ermordung des brandenburgischen Statthalters, dass auch Ulrich von Werdum und sein Reisegefährte in Todesgefahr schwebten. Wie auch andere Schilderungen überstandener Gefahren auf Reisen folgte diese Geschichte dem gleichen Muster wie beispielsweise die Darstellung der Bedrohung durch Raubüberfälle.17 Von tatsächlich erfahrenen Repressalien war selten die Rede, dafür wurden jedoch die vermeintlich ausgestandenen Gefahren umso mehr ausgeschmückt und die eigene Geschichte eines (beinahe eingetretenen) Unglücks mit den (beinahe eingetretenen) Unglücken anderer Reisender beglaubigt. Nichts dergleichen findet sich in Schilderungen militärischer Konfrontationen. Selbst dann, wenn von getöteten Anführern oder Regimentskameraden die Rede ist, kommt es nicht zum Ausdruck von Sorge um das eigene Leben, so etwa wenn Lupold von Wedel auflistet, wie viele Mitglieder seines jeweiligen Verbandes im Kampf „beschädigt“ wurden.18 Die in diesen Fällen tatsächlich gegebene Lebensgefahr führte nicht zur Wahrnehmung oder – vorsichtiger ausgedrückt – zum Eingeständnis von Furcht und Verunsicherung. Äußere Gefahr und die Wahrnehmung von Bedrohung erscheinen hier vollkommen dissoziiert. Ein Grund hierfür liegt sicherlich im adligen Ehrverständnis, das Mut und Tapferkeit verlangte und Furcht vor dem Gegner nicht zuließ. Als alleinige Erklärung erscheint mir dies jedoch unzureichend, denn in anderen Zusammenhängen wurden Furcht und Unsicherheit – wenn auch nicht immer explizit, so doch indirekt – etwa vermittels Geschichten von überstandenen Gefahren oder mit Hilfe entsprechend konnotierter Begriffe thematisiert, beispielsweise wenn es um Unfälle oder Raubüberfälle ging. Vielmehr dürfte die Vertrautheit adliger Reisender mit dem Militär, einschließlich militärischer Konflikte, ein wesentlicher Faktor dafür sein, dass sie in diesem Bereich selbst in akuten Gefahrensituationen keine Verunsicherung erkennen ließen. Eine gefährliche Situation wurde offenbar nicht zwangsläufig auch als unsichere Situation eingestuft, jedenfalls dann nicht, wenn alles in vertrautem und geordnetem Rahmen ablief und sich sowohl die „Reisenden“ als auch die Gegenseite in militärischen Formationen befanden. Dieser Befund liefert ein weiteres, starkes Indiz für die dieser Sektion zugrundeliegende Hypothese, dass Ordnung nicht nur einen zentralen Faktor frühneuzeitlichen Sicherheitsempfindens darstellte, sondern auch stark von den 17

18

Dieter Richter, Die Angst des Reisenden (wie Anm. 1). [Lupold von Wedel], Lupold von Wedels Beschreibung (wie Anm. 11), passim.

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Normen und Werten des jeweiligen sozialen Kontextes – in diesem Fall des Adels – abhängig war.

IV. Militär als Bedrohung

Von einigen Kavalierstouren, den Ausbildungsreisen junger Adliger, ist überliefert, dass diese auf Anweisung der Eltern die Reiseroute ändern mussten, um militärische Konfliktgebiete zu umgehen. So vermieden deutsche Kavaliere, vor allem aus dem Hochadel, im 17. Jahrhundert zeitweise Reisen nach Frankreich.19 Dabei ging es jedoch oft nicht um die Umgehung militärischer Kämpfe als solcher, da wegen der lokal begrenzten Form der Kriegskampagnen meist ohnehin nicht zu befürchten war, dass Reisende unversehens zwischen die Fronten geraten würden. Gemieden wurden vielmehr Regionen, in denen die Reisenden – beispielsweise aufgrund der Bündnispolitik ihres Hauses – gewissermaßen Partei waren und Gefahr liefen, auf Truppen zu stoßen, die sie zu ihren Feinden zählen und möglicherweise gefangen setzen könnten. Dass eine solche Festsetzung nicht an Kampfhandlungen gebunden war, sondern generell auf „feindlichem“ Territorium erfolgen konnte, zeigt beispielsweise die Gefangennahme des jungen Pfalzgrafen Karl Ludwig im Oktober 1639.20 Die Sorge galt dabei in solchen Fällen möglichen politischen oder monetären Zugeständnissen, vor allem aber dem damit verbundenen Statusverlust, wie das Beispiel Friedrich Augusts von Sachsen zeigt. Dessen Hofmeister Christian August von Haxthausen erfuhr im September 1688 vom Beginn des pfälzischen Erbfolgekrieges und von der Festsetzung ausländischer Adliger in Paris, woraufhin er sich unverzüglich bei Hofe darum bemühte, dass seinem Herrn „dergleichen schimpff nicht begegnen möchte“ und vor der Abreise noch eine ehrenvolle Abschiedsaudienz aushandelte.21 Der einzige mir bekannte Bericht, in dem die Begegnung mit regulären Truppen als bedrohlich geschildert wird, ist derjenige Ulrich von Werdums, der in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Ausnahme darstellt. Dies hängt damit zusammen, dass Ulrich von Werdum und sein Herr, der Abt von Paulmiers, innerhalb der polnischen Armee eine Art geheimdienstliche Mission erfüllten. In Polen war nach der Abdankung Johann-Kasimirs, sehr zur Überraschung und zum Ärger des französischen Königshauses, statt des französischen Kandidaten, dem Fürsten von Condé, der Pole Michael Wiśniowiecki zum neuen König gewählt worden. Dessen Sturz sollte der Abt von Paulmiers nun vorbereiten und an seiner Stelle dem neuen französischen Wunschkandidaten, dem Herzog von

19

Antje Stannek, Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2001, S. 160. 2 0 Ebd., S. 76. 21 Katrin Keller (Hrsg.), „Mein Herr […]“ (wie Anm. 8), S. 327- 347.

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Longueville, auf den Thron verhelfen, ein Vorhaben, das schließlich im Juni 1672 mit dem Tod des Herzogs von Longueville endgültig scheiterte. Als der Abt von Paulmiers im Mai 1671 seine Verhandlungen mit den polnischen Großadligen weitgehend abgeschlossen und die Militärführer größtenteils auf seine Seite gebracht hatte, so Werdum, stellte er fest, dass die Militärangehörigen, die dem niederen Adel entstammten – die sogenannten Towarzisz – nach wie vor durchweg auf Seiten des Königs Michael Wiśniowiecki standen. Zusammen mit seinen polnischen Ratgebern beschloss der Abt von Paulmiers, sich für eine gewisse Zeit in die Armee zu begeben, um gemeinsam mit den Frankreich treuen Militärführern nach Wegen zu suchen, „wie man die gantze Armee ferner gewinnen, undt vor [für] den Herzog von Longueville, gegen den Koenig Michael confoederieren möchte“.22 Ulrich von Werdum und sein Herr waren sich der Gefahr dieser Vorgehensweise bewusst. „Weil aber solche gegenwart in der Armee über alle massen gefährlich war, undt wir die allergrausamste begegnungen zu erwarten hatten, wenn die Towarzisz zu der zeit unser kündig würden“, wie Werdum berichtet, griffen sie zu einer List.23 Der Abt von Paulmiers gab sich als Ingenieur aus, der aus der Schlacht von Candia zurückgekehrt sei, und bot dem polnischen König seine Dienste im Kampf gegen die Türken an. Werdum seinerseits wurde zu einem abgedankten Militärkapitän im Dienste des angeblichen Ingenieurs. Dort, wo Werdum an späterer Stelle von tatsächlichen Feldzügen berichtet, an denen er im Dienst anderer Herren teilgenommen hat, folgt er dann wieder dem allgemeinen Muster in Reiseberichten des Adels, das heißt er erwähnt keinerlei Furcht oder Verunsicherung. Ganz anders sah es dagegen aus, wenn sich Reisende ausgemusterten Soldaten gegenübersahen, die nun außerhalb ihres Regiments umher- oder nach Hause zogen. In militärischen Konfliktgebieten waren umherziehende Soldaten zwischen und nach Beendigung der Militärkampagnen stets präsent. Wie schnell eine geordnete Militärkampagne in ungeordnetes Marodieren umschlagen konnte, zeigt sich bei Lupold von Wedel. Nachdem der Kaiser im Winter 1566 die ­Ungarn-Kampagne, an der Wedel teilgenommen hatte, beendete und die Soldaten seines Regiments ohne Bezahlung entlassen wurden, schlug er sich weitgehend mittellos gemeinsam mit zwei Gefährten nach Hause durch. Wedel berichtet, wie das Trio Städte mied, in Dörfern aß und übernachtete und frühmorgens ohne zu bezahlen weiterzog. „Kan uns keiner in sulchen Noten verdenken“ befindet er.24 Von Plünderungen oder Überfällen ist hier nicht die Rede – das wäre auch in einem adligen Selbstzeugnis nicht zu erwarten –, doch wird deutlich, wie klein der Schritt dorthin gewesen sein muss. 2 2

[Ulrich von Werdum], Das Reisejournal (wie Anm. 14), S. 155.

24

[Lupold von Wedel], Lupold von Wedels Beschreibung (wie Anm. 11), S. 47.

2 3 Ebd., S. 155–156.

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Wenn es um den Kontakt mit ausgemusterten oder ehemaligen Militärs außerhalb fester militärischer Einheiten geht, zeigt sich in den Reaktion der Reisenden ein deutliches Standesgefälle – nicht nur zwischen adligen und nichtadligen Reisenden, sondern auch innerhalb des Adels. Je höher der Rang eines Reisenden, desto unwahrscheinlicher war die Auseinandersetzung mit oder auch nur die Erwähnung von Zusammenstößen mit umherziehenden Soldaten. Je niedriger der Rang, umso größer die Furcht vor solchen Zusammenstößen und umso ausgeprägter das Bemühen ihnen aus dem Weg zu gehen oder sie zu vermeiden. In Berichten von Fürstenreisen oder von Kavalierstouren finden Soldaten außerhalb der Armee kaum einmal Erwähnung. Angehörige des Hochadels reisten in der Regel selbst dann, wenn sie inkognito unterwegs waren, mit einem relativ großen Gefolge, das mindestens teilweise bewaffnet war und ausreichenden Schutz vor Überfällen bot. Anders dagegen Reisende, die allein oder in kleinen und mitunter wechselnden Gruppen unterwegs waren. In dieser Hinsicht ist einmal mehr der Bericht Ulrich von Werdums aufschlussreich, der sich im Laufe seines Lebens bei verschiedenen Herren verdingte und sowohl Reisen und Feldzüge in größeren Adels- und Militärverbänden als auch Reisen als einziger Begleiter eines Herrn beschreibt. Der Kontrast ist auffällig. So erwähnt er wiederholt die Gewaltbereitschaft ehemaliger Armeeangehöriger in Polen, wo er allein mit seinem damaligen Herrn unterwegs war. Er berichtet beispielsweise von dem Eindringen einer Gruppe Militärangehöriger bei einer Adligen, bei dem der Frau ein Arm durchschossen wurde.25 Im Kontext einer hohen Gewaltbereitschaft und der Häufigkeit von Totschlägen, die Werdum ganz allgemein meint in Polen konstatieren zu können, schließt auch seine Bemerkung über die Verwandlung ehemaliger Militärs in Mönche vermutlich einen Verweis auf deren Gewaltbereitschaft und die von ihnen ausgehende Bedrohung ein. Über ein Bernardiner-Kloster in Lemberg schreibt er: Die Mönche darinn sindt von den vornehmsten famillen deß Polnischen Adelß, welche mehrentheilß alle in ihrer jugendt zu Kriege gedient, undt wenn sie der Welt […] endtlich überdrüssig worden, sich hierein zur ruhe begeben : undt doch alßdan auch bißweilen noch daß sauberste Leben nicht führen.26

Im Zusammenhang mit seinen Diensten innerhalb eines größeren Gefolges spielen ehemalige Militärangehörige keine Rolle, erst recht nicht als potentielle Bedrohung.

2 5

[Werdum, Ulrich von], Das Reisejournal (wie Anm. 14), S. 73.

2 6 Ebd., S. 87.

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V. Reisen durch militärische Konfliktgebiete

Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts führten Adelsreisen also wie selbstverständlich auch durch militärische Konfliktgebiete, ohne dass dies als Sicherheitsrisiko empfunden wurde. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, mieden adlige Reisende den Kontakt mit Militärverbänden – sogar mit kämpfenden Militärverbänden – nicht, sondern suchten ihn teilweise sogar. Die Verwandlung vom Reisenden zum Militärangehörigen war häufig und wurde oft nicht einmal als solche wahrgenommen, so sehr gingen beide Rollen ineinander über. Das entscheidende Kriterium zwischen Sicherheits- und Unsicherheitsempfinden bestand ganz ­offensichtlich weder in militärischer Präsenz an sich noch in Kampfhandlungen, sondern richtete sich danach, ob die militärische Präsenz den in dieser sozialen Gruppe gültigen Ordnungskategorien entsprach. Ein Kriegstourismus, wie ihn Ralf Pröve und Ingrid Kuczinsky für den weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts ausmachen27, lässt sich dagegen für den Beginn der Frühen Neuzeit selbst für den Adel als einer Gruppe von Reisenden, die Kriegshandlungen auf ihrer Route eher nicht aus dem Weg gingen, noch nicht ausmachen.

27 Ingrid Kuzcynski, Entre distance et implication. Des touristes britanniques face aux guerres

du XVIIIe siècle, in: Ruiz (Hrsg.), Les voyageurs (wie Anm. 4), S. 115–124; Ralf Pröve, Le tourisme de guerre au XVIIIe siècle. Typologie des modes de perception de l’armée et de la guerre dans les témoignages de contemporains, in: Ruiz (Hrsg.), Les voyageurs (wie Anm. 4), S. 157–165.

Tobias Winnerling

Sicherer Berg, gefährlicher Feind. Natürlicher und militärischer Raum im Computerspiel zur Frühen Neuzeit Warum Computerspiele in einer Diskussion über historische Sicher- und Unsicherheiten thematisieren? Ist doch mehr als sicher, dass in der Frühen Neuzeit niemand auch nur von diesem Medium träumte – oder alpträumte. Wie jeder Diskussion medienvermittelter Bilder von Vergangenheiten lässt sich auch dieser der Vorwurf machen, sie bewege sich zu weit entfernt vom eigentlichen Gegenstand in den Untiefen des Populären – und dennoch scheint mir, dass eine entsprechende Fragestellung anhand filmischen oder literarischen Materials auf weniger Unverständnis stoßen dürfte. Warum ist es aber notwendig, die zumindest mit imaginierten Komponenten durchsetzte Darstellung frühneuzeitlicher Inhalte im Medium des Computerspiels zu thematisieren, abseits von den aus literatur- und filmhistorischen Debatten bereits sattsam bekannten Argumenten? Notwendig vor allem, weil Computerspiele, wie im Folgenden noch ausgeführt wird, diesen Medien mittlerweile an Popularität nicht nur gleichkommen, sondern weil sie durch ihre spezifischen Eigenschaften eine unterbewusste Vermittlung ihrer Inhalte realisieren. Und weil sie zudem mit bislang medienüblichen Strukturen brechen und damit langfristig eine Veränderung des Geschichtsbewusstseins ihrer SpielerInnen vorzeichnen können, für die die Geschichtswissenschaft noch keine Instrumente bereithält.

I. Spielerisches

History provides the setting; from there, you make your own story.1

Es handelt sich bei „Age of Empires“, dessen viertem Teil „Age of Empires Online“ das obige Zitat entstammt, um eine der meistverkauften und höchstgelobten Serien von Computerspielen überhaupt seit der Veröffentlichung des ersten Titels „Age of Empires“ im Jahr 1997. Dieser Erfolg beruht dabei nicht unwesentlich auf der geschickten Nutzung und Inszenierung historischer Hintergründe. Es geht mir im Folgenden um die kommerziell produzierten Spieletitel, die das Computerspiel zu einem Massenmedium gemacht haben und die deutliche historische Bezüge aufweisen: 2009 hatten 25 % aller Computerspieltitel mit Verkaufszahlen oberhalb einer Million Exemplare einen historischen Hintergrund2, und am 1

Age of Empires Online. FAQs, unter: http://www.ageofempiresonline.com/faq/?lang=en#q20 (30. 06. 2011). 2 Kevin Kee, Towards a Theory of Good History Through Gaming, in: CanHRev 90, 2 (2009) S. 303–326, hier S. 305.

Natürlicher und militärischer Raum im Computerspiel zur Frühen Neuzeit 713

Phänomen an sich partizipieren mittlerweile wohl hunderte Millionen Menschen.3 Diese Titel inszenieren Historie und produzieren damit massenwirksame Geschichtsbilder4, die noch lange nicht genügend ausgeleuchtet wurden. Ich betrachte hier die Erweiterung des zweiten Teils der „Age of Empires“-Reihe, „Age of Empires II: The Conquerors“ sowie die Titel der im deutschen Raum sehr populären „Anno“-Reihe, „Anno 1602“, „Anno 1503“, „Anno 1701“ und „Anno 1404“. Alle gehören dem Genre der Strategiespiele an. Der/die Spieler/in muss durch geschickte Steuerung militärischer, wirtschaftlicher und sozialer Faktoren und Einheiten den Sieg über die gegnerische Partei, verkörpert durch einen vom Programm simulierten oder menschlichen Spieler, erringen. Die Gewichtung der Faktoren kann durchaus unterschiedlich sein. „Age of Empires“-Titel sind dezidiert militärisch orientierte Spiele, bei denen die übrigen Bestandteile diesem Aspekt dienend untergeordnet sind, während die „Anno“-Titel das Schwergewicht auf ökonomische Faktoren legen und den Krieg zur Durchsetzung des Handels mit anderen Mitteln nutzen. „The Conquerors“ verfügt dabei über eine eigene Conquista-Kampagne aus der Perspektive der Azteken.5 Alle „Anno“-Teile befassen sich mit der europäischen Expansion. In „1602“, „1503“ und „1701“ expandiert der/die Spieler/in in eine nicht näher spezifizierte atlantische Inselwelt, die in „1701“ durch asiatische Elemente erweitert wird, in „1404“ entlang der vorderund mittelasiatischen Küsten des „Orients“. Alle gewählten Titel zeichnen sich nicht nur durch kommerziellen Erfolg –Verkaufszahlen im Millionenbereich –, sondern auch durch einschlägige Auszeichnungen der Branche aus und werden von vielen Spieler/innen hoch geschätzt. Alle Titel konstruieren trotz der Nutzung des Steuerungsmodus der „God Games“ – der/die Spieler/in beherrscht seine Einheiten wie ein (nahezu) allwissendes und allmächtiges Wesen – einen imaginären Avatar des Spielers/der Spielerin, eine personalisierte Rolle, die diese/r ausfüllt. In „The Conquerors“ wird die erste Mission der „Montezuma“Kampagne durch den Bericht des „Cuauhtemoc, Adlerkrieger von Tenochtitlan“6 eingeführt, in dessen Rolle der/die Spieler/in fortan Befehle erteilt. In den ersten drei „Anno“-Teilen wird durch die jeweiligen Intro-Sequenzen das Bild eines Tom Chatfield, Fun Inc. Why Games are the 21st century’s most serious business, London 2010, S. 5. 4 Rainer Pöppinghege, Pedanterie im Cyberspace. Zum Geschichtsbewusstsein von Computerspielern, in: GWU 52 (2001), S. 459–468, hier S. 459. 5 Im dritten Teil der Serie, „Age of Empires III“, gibt es in der Erweiterung „The War Chiefs“ (2006) eine ebensolche Azteken-Kampagne, die aufgrund der großen Ähnlichkeit hier aber nicht näher behandelt wird. 6 Ensemble Studios/Microsoft, Age of Empires II: The Conquerors, in: Ubisoft/Microsoft Game Studios, Age of Empires. Collector’s Edition, Montreuil-sous-Bois/Redmond ­(Washington) 2003, Eroberer-Kampagne 3: Montezuma, Mission 1: Einige Herrschaft, Intro. 3

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anonymen – also von dem/der Spieler/in gedanklich individuell besetzbaren – jungen, dynamischen Entdeckers gezeichnet, der fortan als imaginatives Alter Ego fungiert.7 „Anno 1404“ verzichtet zwar darauf, dieses Motiv im Intro für das Gesamtspiel aufzugreifen, expliziert es aber in der Kampagneneinführung: Niemand hätte ahnen können, dass ausgerechnet die Person, die anno 1404 ihr Lehen in einer unbedeutenden Provinz des Kaiserreichs antrat [=Spieler/in], schon bald in einem Atemzug mit den größten Helden unserer Zeit genannt werden würde.8

Das dient der Einbindung der Spielenden ins Spiel und führt zu einer Wahrnehmung der so gemachten Erfahrungen als personalisiert, als Elemente eines persönlich beeinflussbaren Prozessgeschehens und nicht als einer statischen Beschreibung, ‚wie es eigentlich gewesen‘. Eine solche Art und Weise, Geschichte zu erzählen, lässt sich mit Friedrich Nietzsches Konzeption historischer Vorgänge aus „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, bei der ich für das Folgende theoretisch anknüpfen möchte, durchaus übereinbringen.9 Nietzsche ist hier von besonderem Nutzen, als seine Kritik an der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ein Modell bereitstellt, das sich auf die Schwierigkeiten der akademischen Geschichtswissenschaft, das Medium Computerspiel zu integrieren, übertragen lässt. Problematisch bleibt die Analyse dennoch: Da Computerspiele ein non-lineares Medium darstellen, ist es außerordentlich schwierig, das, was sie prozessual abbilden, quellenkritisch zu handhaben.10 Daher will ich zunächst klären, wie ein historisches Computerspiel hier verstanden werden kann.

II. (Un)Zeitgemäßes

In solchen Wirkungen ist die Historie der Kunst entgegengesetzt; und nur wenn die Historie es erträgt, zum Kunstwerk umgebildet, also reines Kunstgebilde zu werden, kann sie vielleicht Instincte erhalten oder sogar wecken. Eine solche Ge­schichtsschreibung würde

7 Max

Design/Sunflowers, Anno 1602, Schladming/Heusenstamm 1998, Vorspann; Max Design/Sunflowers, Anno 1503, Schladming/Heusenstamm 2002 (2003), Vorspann; ­Related Designs/KochMedia/Sunflowers, Anno 1701, Mainz/Planegg/Heusenstamm 2006, Vorspann. Hier besteht zwar ein Unterschied zum beständig auf dem Schirm verfügbaren Avatar des Spielers, der eine solche Verknüpfung viel direkter herstellt, funktional aber eine Parallelität. 8 Related Designs/Blue Byte/Ubisoft, Anno 1404, Mainz/Düsseldorf/Montreuil-sous-Bois 2009, Kampagne, Kapitel I: Ein Manifest des Glaubens, Intro. 9 Vasti Roodt, Amor fati, amor mundi. History, Action and Worldliness in Nietzsche and Arendt, in: Tijdschrift voor Filosofie 63 (2001), S. 319–348, hier S. 346. 10 Gunnar Sandkühler, Der Historiker und Silent Hill. Prospektive Quellenarbeit, in: Britta Neitzel/Matthias Bopp/Rolf F. Nohr (Hrsg.), „See? I’m real…“ Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von ‚Silent Hill‘, Münster u. a. 2005, S. 213–226, hier S. 214.

Natürlicher und militärischer Raum im Computerspiel zur Frühen Neuzeit 715 aber durchaus dem analytischen und unkünstlerischen Zuge unserer Zeit widersprechen, ja von ihr als Fälschung empfunden werden.11

So Friedrich Nietzsche 1874 in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung. Er beschrieb damit seine Vorstellung der Lösung des von ihm für die Geschichtswissenschaft seiner Zeit postulierten Problems: Dass die Geschichte der Historiker, die „Historie“, einen kritischen Punkt erreicht habe, an dem sie schädlich für die Gesellschaft werde. Damit verbindet sich keine Fundamentalkritik an der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern eine Warnung vor den potentiell destruktiven Auswirkungen eines ansonsten durchaus begrüßenswerten Massenphänomens; Geschichte kann nach Nietzsche nur Bestandteil von und Vorstufe zur Kultur sein, aber nicht deren Ziel.12 Ich verwende Nietzsches Gedanken hier allerdings nach einer in seiner Terminologie „unhistorischen“13 Methode, nämlich „zum Leben und zur That“14: Ohne den Kontext des Gesamtwerks, so, wie sie mir heute noch zu denken geben. Gerade für moderne digitale Massenmedien bietet sich das an, denn momentan manifestiert sich in der vorherrschenden Weise, von Historikerseite aus Computerspiele zu analysieren, der Alptraum des jungen Nietzsche von der entfesselten historischkritischen Methode: „Der historische Sinn, wenn er ungebändigt waltet und alle seine Consequenzen zieht, entwurzelt die Zukunft, weil er die Illusionen zerstört und den bestehenden Dingen ihre Atmosphäre nimmt, in der sie allein leben können.“15 Was folgt? [D]as kann man an allem, was Leben hat, studiren: dass es aufhört zu leben, wenn es zu Ende secirt ist und schmerzlich krankhaft lebt, wenn man anfängt an ihm die historischen Secierübungen zu machen.16

Und auch die geschichtswissenschaftliche Dekonstruktion der in den Spielen manifesten Geschichtsbilder lässt sich so fassen: ‚Wille zur Wahrheit‘ heißt ihr’s, ihr Weisesten, was euch treibt und brünstig macht? Wille zur Denkbarkeit alles Seienden: also heiße ich euren Willen! Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit gutem Mißtrauen, ob es schon denkbar ist. Aber es soll sich euch fügen und biegen! So will’s euer Wille. Glatt soll es werden und dem 11

Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, 3. Abteilung, Bd. 1, Berlin/New York 1972, S. 239–330, hier S. 292. 12 Thomas H. Brobjer, Nietzsche’s relation to historical methods and nineteenth-century German historiography, in: H & T 46 (2007), S. 155–179, hier S. 164. 13 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil (wie Anm. 11), S. 251. 14 Ebd., S. 239. 15 Ebd., S. 291. 16 Ebd., S. 293.

716 Tobias Winnerling Geiste untertan, als sein Spiegel und Widerbild. Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht; und auch wenn ihr vom Guten und Bösen redet und von den Wertschätzungen. Schaffen wollt ihr noch die Welt, vor der ihr knien könnt: so ist es eure letzte Hoffnung und Trunkenheit.17

Die Übereinstimmung ist kein Zufall: Schließlich geht es für die akademische Geschichtswissenschaft des 21. Jahrhunderts darum, die in ihren Bereich eingerissene Unordnung neuer, populärer Medien, die sich historische Inhalte aneignen, wieder zur Räson zu bringen. Durch die Wiederherstellung der gewohnten Ordnung soll die Sicherheit, die mit der alleinigen Deutungshoheit über den Gegenstand einhergeht, zurückgewonnen werden. So kann man Geschichtswissenschaft als „der Kunst entgegengesetzt“, nicht in der Lage, „Instincte [zu] erhalten oder [zu] wecken“, beschreiben, was sich auch an der steten Ausdifferenzierung verschiedener Formen populärer Geschichtsdarstellung und -nutzung ablesen lässt.18 Hier bestehen offensichtlich Bedürfnisse, die von Historikern nicht befriedigt werden19, was auch schon das Feuilleton thematisiert.20 Die Analyseinstrumente, mit denen die akademische Geschichte an diese Phänomene herangeht, sind überholungsbedürftig.21 Das gilt gerade für Computerspiele22, und das kann durchaus an deren noch nicht befriedigend geklärtem Charakter liegen. Mit einer retrograden Anwendung von Nietzsches obigem Ansatz lässt sich festhalten: Computerspiele sind ein hochgradig immersives Medium, das seine Spieler/innen über verschiedenste Wahrnehmungsstimuli emotional affiziert und damit die Möglichkeit hat, sie in eigene Vorstellungswelten zu versetzen.23 17

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen, Zürich 2000, S. 156. 18 Jerome de Groot, Empathy and enfranchisement: Popular histories, in: Rethinking History 10 (2006), S. 391–413, hier S. 392; Francisco Fernández Izquierdo, Investigar, escribir y enseñar historia en la era de internet. Presentación, in: Hispania. Revista Española de Historia 66, 222 (2006), S. 11–30, hier S. 17. 19 Vgl. Peter Rietbergen, Verbeeldingen van het verleden in woord, beeld en spel. Een complex cultureel continuüm voorbij de wetenschappelijke tekst, in: TG 117 (2004), S. 187–206, siehe S. 190f. 2 0 Maik Nolte, Das Mittelalter als Wille und Vorstellung. Und der Mediävist als Experte für Requisiten: Zur populären Aneignung einer Epoche, in: FAZ, 30. 12. 2009, S. N4. 2 1 Leonard A. Annetta, The “I’s” Have It: A Framework for Serious Educational Game D ­ esign, in: Review of General Psychology 14 (2010), S. 105–112. hier S. 107; Kee, Towards a Theory (wie Anm. 2), S. 307; Anaclet Pons, La historia maleable. A propósito de internet, in: Hispania. Revista Española de Historia, 66, 222 (2006), S. 109–130, hier S. 122. 2 2 Mertens’ mittlerweile einige Jahre alte Feststellung, es gäbe keinen bibliographischen Standard für Computerspiele, gilt etwa unverändert. Michael Mertens, Computerspiele sind nicht interaktiv, in: Christoph Bieber/Claus Leggewie (Hrsg.), Interaktivität. Ein transdisziplinärer Schlüsselbegriff, Frankfurt a. M./New York 2004, S. 272–288, hier S. 277. 2 3 Für diese Merkmale siehe: Julian Kücklich, Auf der Suche nach dem verlorenen Text: Literaturwissenschaften und Computerspiele, in: Philologie im Netz 15 (2001), S. 25–42,

Natürlicher und militärischer Raum im Computerspiel zur Frühen Neuzeit 717

Sie sind ein Kreativprodukt, das eine Teilhabe des Spielenden notwendig voraussetzt24 und in nichtlinearen Prozessen Vorstellungen (re)produziert, die mit denen der akademischen Geschichtswissenschaft weit genug kollidieren, um den Ruf „Geschichtsfälschung!“ zu provozieren.25 Sie entsprechen damit den Kriterien, die Nietzsche für die Wirkungen einer zum Kunstwerk umgebildeten Geschichte aufstellt. Aber heißt das auch, sie sind Kunst?

III. Kunst-Werke

Le dispositif [du jeu vidéo] plonge le ‚spectateur joueur‘ dans un monde virtuel et son rapport à l’œuvre va au-delà de la simple relation, il engendre un événement spectaculaire qui pourrait être comparé à une véritable performance, d’où on entre et on sort d’un coup de clic.26

Margherita Balzerani vergleicht Computerspiele hier mit Performance Art und sieht sie in einer Linie mit der Videokunst, die gleichzeitig mit ihnen in den 1960ern entsteht und eine andere Art des Zugangs zum selben Kunstterrain darstellt, der Aneignung virtuell erzeugter Welten.27 Gerade die aktive Einladung zur Immersion sei maßgeblich dafür, dass durch Spielende und Spiel künstlerische Aktivität erzeugt werde. Allerdings bezieht Balzerani sich nur auf mit einer künstlerischen Intention produzierte Spiele28, und diese sind definitiv ein Nischenprodukt. Die hier untersuchten, für den Massenmarkt produzierten Titel haben dagegen außer der kommerziellen Intention des Produkts keinen extrinsi-

unter: http://web.fu-berlin.de/phin/phin15/p15t2.htm (14. 01. 2010), hier S. 33f.; Annetta, The „I’s“ Have It (wie Anm. 21), S. 108.; Randi Gunzenhäuser, Die amerikanischen digitalen Medien – Cybertheorien und Computerspiele, in: Christof Decker (Hrsg.), Visuelle Kulturen der USA. Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika, Bielefeld 2010, S. 301–358, hier S. 308.; Michael Bywater, Fair Game, in: New Humanist 01 (2010), unter: http://www.eurozine.com/articles/2010-02-04-­bywater-en. html (21. 02. 2010), hier Abs. 21. 24 John Alberti, The Game of Reading and Writing. How Video Games Reframe Our Understanding of Literacy, in: Computers and Composition 25 (2008), S. 258–269, hier S. 261; Margherita Balzerani, Déjouer le jeu. Réappropriation et détournement de l’univers de jeux vidéo dans la création contemporaine, in: L’évolution psychiatrique 71 (2006), S. 559–571, hier S. 562; Jakob Krameritsch, Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2009), unter: http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208958/default.aspx (28. 05. 2010), S. 1–18, hier S. 9. 2 5 Baur, Historie in Computerspielen (wie Anm. 24), S. 88, S. 91; de Groot, Empathy and enfranchisement (wie Anm. 18), S. 408f. 2 6 Balzerani, Déjouer le jeu (wie Anm. 24), S. 562. 27 Ebd., S. 561f. 28 Ebd., S. 565–567.

718 Tobias Winnerling

schen Nutzen und keine Intention, außer, „dass sie Spaß machen sollen“.29 Kurz, „Games are made for fun“30, und wenn auch das Feld möglicher Kunstdefinitionen weit ist, so scheint „Spaß“ als Ziel des Werks darin nicht vorzukommen.31 Wie aber das englische „fun“ der Computerspiele auszulegen ist, um dem Phänomen gerecht zu werden, ist schwierig. Das Vergnügen, das sie erzeugen, ist vielfältig und erschließt sich nicht aus einem reinen Unterhaltungseffekt.32 Es entsteht aus der Konvergenz sensueller, reaktioneller und intellektueller Forderungen durch das Programm, was durch das Zusammenfließen verschiedener – visueller, auditiver, textueller – Darstellungsmöglichkeiten in einer interaktiven Umgebung erst möglich wird. In diesem Sinne sind Computerspiele wagnerianische Gesamtkunstwerke33, mithin das, was der junge Nietzsche sich unter einem Kunstwerk vorstellte. So fasse ich Computerspiele als borderline cases des Kunstbereichs, als massenmediale Ausformung der Gebrauchskunst, die kommerzielle und kunsthafte Aspekte vereint34, aber primär unter ästhetischen Kriterien rezipiert wird – deren Performance (auch) Kunstgenuss darstellt. Sie haben kein Erkenntnisinteresse, sondern produzieren Vorstellungen, im Falle historischer Computerspiele Geschichts-Bilder. Also ist zu fragen, welche Geschichtsbilder hier produziert werden, und ob es einerseits notwendig und andererseits wünschenswert ist, dass es diese sind.

IV.   (Un)Ordnungen

Die Berge und Hügel wären das größte Muster der Unordnung und eines wüsten Wesens; sie hätten weder Gestalt noch Schönheit, weder Ordnung noch Geschicke, so wenig als die Wolcken in der Lufft; da wäre auch nicht die geringste Proportion derer Theile, woraus sie bestünden, daß man sagen könnte, sie wären aus dieser oder jener Absicht so gemacht, da sey nicht die geringste Weisheit oder Kunst zu spüren.35

2 9 Marc Hassenzahl, Attraktive Software – Was Gestalter von Computerspielen lernen können,

in: Joachim Machate/Michael Burmester (Hrsg.), User Interface Tuning: Benutzungsschnittstellen menschlich gestalten, Frankfurt a. M. 2003, S. 27–46, hier S. 29. 3 0 Dennis Charsky/William Ressler, „Games are made for fun“: Lessons on the effects of concept maps in the classroom use of computer games, in: Computers & Education 56 (2011), S. 604–615. 31 Thomas Adajan, The Definition of Art, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2007, unter: http://plato.stanford.edu/entries/art-definition/ (02. 05. 2011), hier Abschn. 1, Abschn. 4.2–4.4. 3 2 Chatfield, Fun Inc. (wie Anm. 3), S. 8–10, 181, 184f. 3 3 Balzerani, Déjouer le jeu (wie Anm. 24), S. 570. 3 4 Gunzenhäuser, Die amerikanischen digitalen Medien (wie Anm. 23), S. 303. 3 5 O. A., Berg heisset ein Theil der Erden, so über den Erdboden in einer ziemlichen Höhe erhaben ist, in: Johann Heinrich Zedlers Grosses Vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 3 (B-Bi), Halle/Leipzig 1733, Sp. 1227–1230, unter: http:// mdz10.bib-bvb.de/~zedler/zedler2007/index.html (25. 05. 2011), hier Sp. 1228.

Natürlicher und militärischer Raum im Computerspiel zur Frühen Neuzeit 719

Hier zeigt sich die begriffliche Verknüpfung von Sicherheit und Ordnung, Unsicherheit und Unordnung, deren Klarstellung im konkreten zeitgenössischen Kontext für die Diskussion, was nun an Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen in den untersuchten Spieletiteln (re)produziert wird, unerlässlich ist. Dabei ist zu beachten, dass Ordnungsvorstellungen zwei Ebenen aufweisen, eine absolute und eine dynamische. Auf der absoluten Ebene stehen sich Ordnung und Unordnung diametral gegenüber: Man denkt Bereiche, die eine intrinsische Ordnung aufweisen, und solche, die – aus menschlicher Sicht – in sich chaotisch sind. Dieser metaphysischen Ebene gegenübergestellt ist die dynamische der konkreten Ausformung dieser Bereiche, die nicht von vornherein mit deren interner Struktur übereinstimmt, eine Ebene, die sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts konkretisiert.36 Nicht alles, was eine intrinsische Ordnung aufweist, ist in seinen darauf bezogenen menschlichen Praktiken auch geordnet. Wohl aber wird es als möglich zu ordnen gedacht, als Bereich, in dem der Mensch Ordnung schaffen und stabil erhalten kann – während intrinsisch chaotische Bereiche zwar geordnete Strukturen der auf sie bezogenen menschlichen Praktiken aufweisen können, diese aufgrund der volatilen Struktur ihres Objekts aber nie stabil sein können; diese Ordnungen können jederzeit gestört werden. [M]an muß auch etwan zuoberst auff den bergen ghen/ da man nit allein eins schlechten faals/ sondern eins hinab stürtzens besorgen muß/ es seind auch etwan die Künig nit sicher.37

Wer zur See fährt, kann untergehen38; wer einen Berg besteigt, mag abstürzen; wer in den wilden Wald geht, der wird vielleicht vom Bären gefressen. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Militärische Handlungsfelder bezeichnen einen Bereich, der in diesem Sinn instabil und sicherungsbedürftig ist. Im militärischen Kontext wird Sicherheit durch Frieden hergestellt, durch das Ende des Austauschs organisierter Gewalttätigkeiten. Da hier potentiell zu ordnende menschliche Interaktivität den Rahmen bildet, in dem Sicherheit hergestellt werden soll, ist eine Lösung möglich, und zwar, Frieden herzustellen, so dass alle Parteien fortan sicher sein können.39 3 6 Ulrich Dierse, Ordnung. III. Neuzeit, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), His-

torisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6 (Mo-O), Basel/Stuttgart 1984, Sp. 1280–1303, hier Sp. 1284. 37 Geronimo Cardano/Heinrich Pantaleon (Übers.), Offenbarung der Natur unnd Natürlicher dingen auch mancherley subtiler würckungen, Basel 1559, unter: http://echo.mpiwg-berlin. mpg.de/ECHOdocuViewfull?tocMode=thumbs&url=/mpiwg/online/permanent/library/ PV9KKXFG/ (01. 06. 2011), S. 534. 3 8 Vgl. ebd., S. 471, S. 475. 3 9 Werner Conze, Sicherheit, Schutz, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart K ­ oselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, 2. Aufl. Stuttgart 2004, S. 831–862, hier S. 838.

720 Tobias Winnerling

Die Wahrnehmung der Struktur einzelner Bereiche menschlichen Lebens und Handelns ist nicht festgefügt, sondern wandelbar, und in der Wandlung dieser Vorstellungen liegt ein Schlüssel zur Wandlung von Sicherheitskonzepten verborgen. Eine solche Wandlung vollzieht sich ab der Mitte des 17. Jahrhunderts im öffentlich-politischen Sicherheitsbegriff40, ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch was die Gebirge anbelangt.

V. Sichere und unsichere Räume – konkretisiert

Es ist das Zuhause des Hungers; da ist der Hungertod. Alle sterben an der Kälte; es gibt dort eine Eiseskälte, es gibt dort ein Zittern; es gibt dort das Rasseln, das Klappern von Zähnen. […] Da ist Furcht, ständige Furcht. Man wird verschlungen; man wird heimlich getötet; man wird mißbraucht; man wird grausam zu Tode gebracht; man wird gefoltert. Elend gibt es im Überfluß.41

Die Vorstellung der Azteken des 16. Jahrhunderts vom Gebirge, die hier vermittelt wird, beschreibt dagegen einen gleich in doppelter Hinsicht unsicheren Raum: Sowohl die natürlichen Gegebenheiten als auch das menschliche Agieren in diesen sind gefährlich, gewalttätig und führen zum Tod. Dabei konstituierte das Gebirge gerade in Zentralmexiko nicht nur einen natürlichen, sondern einen primär militärischen Raum: Die Pässe über die bis 5 000 Meter hoch aufragenden Gebirge waren von enormer strategischer Bedeutung.42 Zudem waren die Befestigungsanlagen der Azteken oftmals auf den Städten benachbarten Hügeln angelegt.43 Berge – und die über sie führenden Pässe – bilden folglich das einzige naturräumliche Element, dem Hernán Cortés in seinen Briefen an Karl V. über die Eroberung Mexikos besondere Bedeutung beilegt, das er mehrfach sowohl als militärisch bedeutsam wie natürlich gefährlich erwähnt.44 Die längste Schilderung in dieser Hinsicht betrifft eine mehrtägige Schlacht bei Chimaluacan, in der die indigenen Verteidiger sich auf zwei derartigen Festungshügeln verschanzt hielten. Ich machte eine Rekognoszierung um den Hügel herum, und er zeigte sich als so fest, daß es als Tollkühnheit erschien, ihn im Sturm nehmen zu wollen. […] Ich beschloß deshalb, den Felsen von drei Seiten anzugreifen […]. Wenn sie [Cortés’ Offiziere] den ersten Büchsenschuß hören würden, sollten alle zugleich den Sturm mit dem Entschluß beginnen, zu 4 0 Michael Makropoulos, Sicherheit, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches

Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9 (Se-Sp), Darmstadt 1995, Sp. 745–750, hier Sp. 747. Bernardino de Sahagún, Aus der Welt der Azteken. Die Chronik des Fray Bernardino de Sahagún, hrsg. v. Claus Litterscheid, Frankfurt a. M. 1989, S. 213f. 42 Ross Hassig, Aztec Warfare, in: History Today 40, 2 (1990), S. 17–24, hier S. 19, 23. 4 3 Ebd., S. 19. 4 4 Hernán Cortés, Die Eroberung Mexikos. Eigenhändige Berichte an Kaiser Karl V. 1520–1524, hrsg. v. Hermann Homann, Tübingen/Basel 1975, S. 48, S. 49, S. 65, S. 82, S. 129, S. 135, S. 145, S. 161–163, S. 232, S. 261. 41

Natürlicher und militärischer Raum im Computerspiel zur Frühen Neuzeit 721 siegen oder zu sterben. Sofort nach dem Signalschuß begannen sie ihre Kletterei, und sie gewannen zwei Absätze des Felsens, aber höher vermochten sie nicht zu kommen, denn sie konnten sich an den rauhen und steilen Felsen nicht halten.45

Dennoch lässt sich dieser Raum nicht darauf reduzieren; sowohl in militärischer Hinsicht wie auch in der Betrachtung als Naturraum waren andere Zugänge möglich. Nachdem Cortés bei Chimaluacan keinen militärischen Erfolg erringen konnte46, gelang es ihm, mit den Verteidigern nach Verhandlungen eine friedliche Übergabe zu erreichen; nichts Ungewöhnliches, denn die Hügelfestungen dienten weniger der Sicherung des Terrains als derjenigen der Verteidiger während der anschließenden Verhandlungen.47 Selbst dem Naturraum ließen sich andere Perspektiven abgewinnen. Die Azteken verorteten dort den Wohnsitz der Regengötter, der Tlalocs, und betrachteten die auf die Berge führenden Straßen deshalb als geheiligte Wege.48 Die Berge wurden in religiösen Festlichkeiten mit den Gottheiten rituell gleichgesetzt.49 Welche Bilder zeichnen hier nun die untersuchten Spieletitel? Ich be­ginne auf der steilen Höhe der Gebirge, deren unsicherste Mitglieder die Vul­kane sein dürften. Die kegelförmige, flammengekrönte Erscheinung des ­Vulkans ist im abendländischen Bildfundus durch Tradition belegt, nicht durch Empirie, da die meisten Künstler kaum je einen Vulkanausbruch er- bzw. überlebten.50 Offensichtlich ist diese Ikonographie im Kontext der Spiele weiter vermittelbar (vgl. Abb. 13)51, und auch bei Betrachtung aztekischer Bildwerke anschlussfähig (Abb. 14 ).52 Ähnliches gilt für die Darstellung „des Berges“ als solchem. Während der Berg aus „The Conquerors“ (Abb. 15)53 sowohl mit dem Vulkan (Abb. 14) wie auch mit der eines direkten Bezuges völlig unverdächtigen Darstellung eines Schweizer Berges aus dem 17. Jahrhundert (Abb. 16)54 deutliche Ähnlichkeiten -1

4 5

Cortés, Die Eroberung Mexikos (wie Anm. 44), S.162. Einfügung von mir. Bernal Díaz del Castillo, Historia verdadera de la conquista de la Nueva España (Manuscrito Guatemala), hrsg. v. José A. B. Rodríguez, México 2005, S. 428–430. 47 Hassig, Aztec Warfare (wie Anm. 42), S. 19. 4 8 Bernardino de Sahagún, Primeros Memoriales. Paleography of Nahuatl Text and English Translation, hrsg. v. Thelma D. Sullivan, Norman 1997, S. 55, S. 201. 49 Ebd., S. 113f. 5 0 Susanne Keller, Naturgewalt im Bild. Strategien visueller Naturaneignung in Kunst und Wissenschaft 1750–1830, Weimar 2006, S. 180f. 51 Mileymessistorm, Anno 1701 Screenshots, unter: http://www.youtube.com/watch?v= wFTIiKCpbV0 (20. 05. 2011). 5 2 O. A., Lienzo de Quauquechollan, San Martín Huaquechula 1530, unter: http://webmaplienzo. ufm.edu/lienzo/ (19. 05. 2011). 5 3 The Conquerors (wie Anm. 6), Eroberer-Kampagne 3: Montezuma, Mission 1: Einige Herrschaft. 5 4 Matthäus Merian, Topographia Helvetiæ, Rhætiæ, et Valesiæ […], 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1654, hrsg. v. Lucas H. Wütrich, Kassel/Basel 1960, S. 78[a] (unpaginiert, folgt auf S. 78).

4 6

722 Tobias Winnerling

Abb. 13 

Anno 1701, Vulkan. Abdruck mit Genehmigung der Ubisoft GmbH, Düsseldorf.

Abb. 14: Lienzo de Quauquechollan, Vulkan. Digital restoration Universidad Francisco Mar­ roquín, Guatemala. Sponsored by Banco G & T Continental, Guatemala © 2007 Universidad Francisco Marroquín. All images are available under the Creative Commons license Attribution-Noncommercial-Share Alike.

aufweist, so deswegen, weil alle diese Darstellungen stilisiert sind, nur eine topo­ graphische Analogie wiedergeben und nicht realen Raum. All ­diese Berge sind unbetretbar; für den Computerspieler, weil die Programme es nicht zulassen, für die Azteken aus sakralen Gründen, und in der „Topographia Helvetiæ“, weil die Formation (Abb. 4) in der zugehörigen Textpassage gar nicht auftaucht.55

Abb. 15 

Age of Empires II, Berg. Diese Abbildung wurde gemäß den Verwendungsregeln für Spielinhalte von Microsoft unter Verwendung von Inhalten aus Age of Empires II: The Conquerors, © Microsoft Corporation, erstellt.

5 5

Vgl. ebd., S. 79–82.

Abb. 16 Matthäus

Merian, Topographia Hel­­vetiæ Rhætiæ, et Valesiæ […], 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1654, hrsg. v. Lucas H. Wütrich, Kassel/Basel 1960, S. 78[a] (unpaginiert, folgt auf S. 78).

Natürlicher und militärischer Raum im Computerspiel zur Frühen Neuzeit 723

Bis auf eine gewisse Barrierefunktion kann dieser Raum keiner militärischen Nutzung zugeführt werden. Interessant ist allerdings, dass sich sowohl die aztekischen wie auch die „The Conquerors“-Illustratoren eines sehr ähnlichen Maßstabs bedienen, was ein Vergleich des Reiters (Abb. 14) mit den Palmen (Abb. 15) deutlich macht: Selbst großzügig geschätzt ist die montane Formation des Spiels höchstens zwanzig Meter hoch. Das ist primär ein optischer Kniff, vermittelt aber in Kombination mit der absoluten Unzugänglichkeit des Terrains die Bedeutungsebene dieses landschaftlichen Elements: Es ist sicher – da von ihm keinerlei Gefahr ausgeht – und zugleich bis zur Vernachlässigbarkeit reduziert. Der natürliche Raum ist aus den Sicherheitsvorstellungen vollständig entfernt, die Berge können zwar ästhetisch präsentiert werden, haben aber keine darüber hinausgehende Bedeutung. Dass trotz dieses illustrativen Zugriffs Pässe nicht einfach ausgeklammert werden können, wenn es um militärische Operationen geht, löst „The Conquerors“ mit simplen Mitteln (Abb. 5).56 Zwischen mehrfach gestuften Abhängen, der zweiten Visualisierungsmöglichkeit gebirgigen Terrains in diesem Spiel, führt ein Passweg hindurch – und dieser ist nichts als ein problemlos nutzbares, naturräumlich sicheres Stück Ebene (und genau so flach!), das von den absolut unzugänglichen Felsstürzen rechts und links nur dekorativ eingehegt wird. Gleiches gilt für die Bergdarstellungen der Anno-Reihe. Die Illustrationen gehorchen der gleichen Topik (vgl. Abb. 1, 657, 758, 859), die Funktionalisierung ebenfalls. Auch wenn die Darstellung in Einzelheiten variiert und jeweils dem Stand der Technik angepasst wird, ist das Resultat eine topische Abbildung, die einen Berg visualisiert, ihn in diesem Visualisierungsprozess aber, zusammenwirkend mit der Spielmechanik, zum rein illustrativen, ungefährlichen, sicheren Element degradiert. Selbst bei Vulkanausbrüchen sind die Schäden stets handhabbar, nicht katastrophal, sondern lediglich ärgerlich. Wie in „The Conquerors“ sind auch in „Anno“ alle hier gezeigten Berge unbesteigbar. Sie sind dort zwar als Rohstofflieferanten nutzbar, können aber nicht anders operationalisiert werden, und militärisch nur als Hindernis von Bedeutung. Weit davon entfernt, Unsicherheit zu repräsentieren, stellen sie einen zwar sicheren, aber auch marginalen Faktor der Spielwelt dar. Während sich die Gebirge als Flächen militärischer Interaktion in den „Anno“Titeln vollständig streichen ließen und in „Age of Empires II“ durch die Reduktion auf eine letztendlich ebene Oberflächentextur nur noch militärisch relevant scheinen, so wäre das Ignorieren gewaltsamer Interaktion in allen untersuchten 5 6

The Conquerors (wie Anm. 6), Eroberer-Kampagne 3: Montezuma, Mission 1: Einige Herrschaft. http://www.abandonware-france.org/images_abandonware/jeux/15703snap455.jpg (08. 06. 2011). 5 8 http://www.annozone.net/screenshots/farmen/Farmen_07.jpg (08. 06. 2011). 59 http://www.jeuxvideo.com/screenshots/images/00026/00026274_037.htm (09. 06. 2011). 57

724 Tobias Winnerling

Abb. 17 

Age of Empires II, Pass. Diese Abbildung wurde gemäß den Verwendungsregeln für Spielinhalte von Microsoft unter Verwendung von Inhalten aus Age of Empires II: The Conquerors, © Microsoft Corporation, erstellt.

Abb. 18 

Anno 1602, Berg. Abdruck mit Genehmigung der Ubisoft GmbH, Düsseldorf.

­ iteln gar nicht sinnvoll möglich. Die militärischen Räume sind inhärent unsiT cher, wobei diese Unsicherheit aus dem reinen Vorhandensein von Kontrahenten resultiert und nur aufgehoben werden kann, wenn diese eliminiert werden. Die Unordnung, die aus konfligierenden Ansprüchen, über denselben Raum zu verfügen, entsteht, kann nur in der monolithischen Etablierung der Ordnung einer der Parteien geordnet werden. Militärische Sicherheit ist die Sicherheit des Friedhofs. Frieden ist der Frieden des Überlebenden, der seinen Feind vernichtet hat. Das ist ein konstitutives Merkmal aller hier herangezogenen Titel. Jeder Friede zwischen den Parteien kann nur aufschiebend sein, im totalen Sieg oder der totalen Niederlage aufzuheben: „Die Spanier sollen nie

Abb. 19 

Anno 1503, Berg. Abdruck mit Ge­ nehmigung der Ubisoft GmbH, Düsseldorf.

Abb. 20 

Anno 1404, Berg. Abdruck mit Genehmigung der Ubisoft GmbH, Düsseldorf.

Natürlicher und militärischer Raum im Computerspiel zur Frühen Neuzeit 725

wieder ihren Fuß auf Tenochtitlan setzen! Keiner soll unseren Schwertern entkommen!“60 Mag dabei die Modellierung noch quellenmäßig fundierbar sein, so ist die Generalisierung auf alle frühneuzeitlichen Kampfszenarien historisch nicht zu halten. Zugestanden ist diese Form des Sieges aber eine in der Programmierung einfach zu realisierende: Ist noch eine Partei vorhanden, hat diese gesiegt. Einen Kompromiss auszuhandeln ist schwerer zu modellieren und würde der etablierten Genrekonvention der Echtzeitstrategiespiele – unter dieses Subgenre fallen alle genannten Titel – nicht genügen. Selbstverständlich gibt es auch Missionsziele, die andere Siegvorgaben ermöglichen, als alle Gegner zu töten.61 Diese haben aber nur vorbereitenden Charakter, sie leiten weitere Missionen ein, die mit der Herstellung ultimativer Sicherheit enden. Das gilt in beide Richtungen: Der/ die SpielerIn erfährt im Fall der Niederlage keine mit den Auflagen des Siegers verbundene Weiterexistenz, sondern die völlige Vernichtung (verbunden mit der Möglichkeit, neu zu starten und diesmal das Blatt zu wenden). Claudio Fogu erdachte 2009 das fiktive historische Computerspiel „­ Holo­caust II: Survivor“, ein Gedankenexperiment, aus dem er den Vollzug des Völkermordes moralisch korrekt ausklammerte.62 Anscheinend war ihm nicht klar, dass auf den Bildschirmschlachtfeldern der Pixelgenozid seit Jahren blutige Realität ist. Was sich in Computerspielen ereignet, ist natürlich keine virtuelle Shoa, aber totale Kriegsführung und ethnische Säuberung: Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht. Sowohl die „Age of Empires“- wie die „Anno“-Reihe inkorporieren genrespezifische Konventionen wie die des totalen Krieges, wie anachronistisch das auch im Einzelfall sein mag.

VI. Ausblick

Hier wird deutlich, dass die Sicherheitsnarrative, die in den untersuchten ­Titeln wiedergegeben werden, keine frühneuzeitlichen Hintergründe haben. Die beständige Bedrohung der SpielerInnen durch menschengenerierte Gefahren, die nur durch eine totale militärische Herangehensweise neutralisiert werden können, um Sicherheit wiederherzustellen, spiegelt die Erfahrungen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts wieder, in dem der Mensch tatsächlich homini lupus geworden zu sein scheint. Computerspiele mit historischem Hintergrund inkorporieren also diverse Anachronismen auf verschiedenen Ebenen – und fahren gut damit. Weder die Spielbarkeit noch das 6 0

The Conquerors (wie Anm. 6), Eroberer-Kampagne 3: Montezuma, Mission 5: Der brodelnde See, Einleitungsmitteilung. 61 Vgl. The Conquerors (wie Anm. 6), Eroberer-Kampagne 3: Montezuma, Mission 1: Einige Herrschaft. 6 2 Claudio Fogu, Digitalizing Historical Consciousness, in: H & T 47 (2009), S. 103–121, hier S. 103f.

726 Tobias Winnerling

damit verbundene Vergnügen der Spieler scheinen Abbruch dadurch zu nehmen, und damit aus der Perspektive der Spieler auch nicht die Sinnhaftigkeit des historischen Hintergrundes, was die Verkaufszahlen deutlich belegen. Es gibt bereits Ansätze, die dieses Phänomen aus fachwissenschaftlicher Sicht als Defizit beschreiben63 oder versuchen, unter Verweis auf die strukturellen Bedingungen des Mediums eine Dominanz von Form über Inhalt zu postulieren, die solche Verzerrungen der historischen Darstellung notwendig produziere.64 Diese Feststellungen entsprechen zwar dem Beobachtbaren, erzeugen aber keine übergreifende Deutung. Mit ihnen kann das Auftreten der beobachteten Phänomene erklärt werden, aber nicht, warum sie kein Problem darstellen. Fragt man jedoch nach der strukturellen Funktionalität dieses Abweichens von der uns geläufigen Chronologie, lässt sich ein Muster erkennen: Computerspiele verwenden chronographische Daten anders, als sich das in anderen Medien beobachten lässt. Sie operieren nicht chrono-logisch, sondern chron-alogisch. In chronologisch operierenden Medien strukturiert die chronographische Datenreihe das Material, indem sie es in eine übergreifende Ordnung einfügt; in chronalogisch operierenden besteht die übergreifende Ordnung aus dem Material selbst, das sich die chronographischen Daten unterwirft und ihnen seine Ordnung aufzwingt. Zeit wird von einem starren Raster zu einem modellierbaren Element.65 Die betrachteten Beispiele zeigen das in ihrer Darstellung und Inkorporation von Sicherheitsvorstellungen deutlich. Es kommt nicht darauf an, dass eine Deutung der Sicherheitskonzepte entlang der Zeitlinie vorgenommen wird – also die 1520er oder die Jahre 1404, 1503, 1602, 1701 aus der chronologischen Reihe herausgesucht und mit Vorgeschichte und Nachwirkung analysiert wird –, sondern darauf, dass bestimmte Vorstellungen eingesetzt werden und von diesen aus eine Überblendung mit chronographischen Indikatoren vorgenommen wird, an die eine bestimmte (und nicht willkürliche) Illustrationsmöglichkeit geknüpft ist.66 6 3

Bereits klassisch: Peter Wolf, Freibeuter der Chronologie. Geschichtsbilder des Historismus im Computerspiel „Der Patrizier“, in: GWU 44 (1993), S. 665–670, hier S. 670; vgl. auch: Aaron Hess, „You Don’t Play, You Volunteer“: Narrative Public Memory Construction in Medal of Honour: Rising Sun, in: Critical Studies in Media Communication 24 (2007), S. 339–356, hier S. 347f., S. 353. 6 4 Baur, Historie in Computerspielen (wie Anm. 24), S. 85; de Groot, Empathy and enfranchisement (wie Anm. 18), S. 405f.; Hassenzahl, Attraktive Software (wie Anm. 29), S. 29; Jan Pasternak, 500 000 Jahre an einem Tag. Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Geschichte in epochenübergreifenden Echtzeitstrategiespielen, in: Angela Schwarz (Hrsg.), „Wollten Sie auch immer schon einmal pestverseuchte Kühe auf Ihre Gegner werfen?“. Eine fachwissenschaftliche Annäherung an Geschichte im Computerspiel, Münster 2010, S. 29–60, hier S. 32, S. 46. Vgl. auch Kücklich, Auf der Suche nach dem verlorenen Text (wie Anm. 23), S. 26. 6 5 Gunzenhäuser, Die amerikanischen digitalen Medien (wie Anm. 23), S. 345, S. 347. 6 6 Vgl. Isabell Koch, Simulanten, Spieler und Strategen. Das Kriegsspiel und der Zweite Weltkrieg in Computerspielen, in: Das Archiv. Magazin für Kommunikationsgeschichte 4 (2009), S. 29–35, hier S. 35.

Natürlicher und militärischer Raum im Computerspiel zur Frühen Neuzeit 727

Weshalb die Reihung der „Anno“-Daten aus unserer chronologisch operierenden Perspektive eigentlich 1602, 1503, 1701, 1404 lauten muss67 und für „Age of Empires II“ schon festgehalten wurde, dass „[t]hat world is not based on any kind of geographic reality, and despite the game’s beginnings in the ‚Dark Age‘, the subsequent periods bear no resemblance to historical periodization“.68 Das lässt auf eine andere Konzeption von Zeitlichkeitsebenen schließen69, die sich in nonlinearen Medien verwirklicht, und die aus einer chronologischen operierenden Perspektive abschließend beurteilen zu wollen einen Kategorienfehler darstellt: Weil unsere Standardmedien (noch) chronologisch operieren, müsse das auch für andere Medialitäten normativ Gültigkeit beanspruchen können. Wir werden uns aber auf eine formbare, chronaloge Geschichte einstellen müssen. Für die in den hier behandelten Titeln abgebildeten Sicherheitsvorstellungen gilt das bereits: Die naturräumlichen Gegebenheiten werden nach modernen Maßstäben behandelt, was bedeutet, dass sie ihre Bedeutung verlieren und zu planbaren, sicheren Flächen werden, die menschlich kaum genutzt werden können oder völlig vernachlässigbar werden. Die menschengemachten Interaktionsebenen werden dagegen zu Flächen unbarmherziger Konfrontation stilisiert. Der Mensch (oder sein programmgesteuertes Analog) ist das einzige ernsthafte Gefahrenpotential dieser Welten, eines, das nur durch völlige Elimination in den Griff bekommen werden kann. Friede durch Recht, Verhandlung oder Kompromiss kommt in keinem der Titel vor, ganz zu schweigen von der Vorstellung des Friedens als einem wiederherzustellenden Normalzustand. Für die in den hier herausgegriffenen Spielen behandelten Jahrhunderte zwischen 1400 und 1700 ist eine solche Gewichtung natürlicher und menschlicher Sicherheitsfaktoren anachronistisch; in einem chronalogisch operierenden Medium wird damit aber eine funktionale Illustration erreicht. Die neuen Zugänge zum Sicherheitsproblem in Gegenwart wie Geschichte, die hier eröffnet werden könnten, sind der groben Verflachung und letztlichen Verfälschung der Zusammenhänge wegen in den betrachteten Titeln aber nicht ertragreich. Umso weniger, als alle Titel Konzepte des Fortschritts, der europäischen Expansion und der Herrschaft des Menschen über die Natur inkorporieren, die dem 19. Jahrhundert entstammen und durch gerade die Geschichtswissenschaft popularisiert wurden, gegen die der junge Nietzsche in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ so heftig polemisierte. Sie werden nun im Medium des Computerspiels ins 21. Jahrhundert weitergetragen – mit noch unbekanntem Ausgang. 6 7 In der Reihenfolge des Erscheinens – „Anno 1602“: 1998, „1503“: 2002, „1701“: 2006, „1404“:

2009. Andrew McMichael, PC Games and the Teaching of History, in: The History Teacher 40 (2007), S. 203–218, hier S. 208. 6 9 Ein Verweis auf die Möglichkeit solcher Entwicklungen: Pons, La historia malleable (wie Anm. 21), S. 126.

6 8

SEKTION XII · Bauliche Repräsentation von Sicherheit

Ulrich Schütte

Die bauliche Repräsentation von Sicherheit Wenn Sicherheitsüberlegungen und Sicherheitsmaßnahmen, wenn eine Politik der Sicherheit letztlich auf eine Unversehrtheit der menschlichen Körper und die Aufrechterhaltung sozialer Ordnungen zielt, so umfasst dies immer auch die Konkretheit der Lebensräume in ihren jeweiligen architektonischen Ausformungen. Das, was in den verschiedenen Gesellschaftsformationen zur Etablierung und Gewährleistung von Schutz und Sicherheit eingerichtet wurde, bediente sich seit den frühen Hochkulturen der Eigenschaften von Bauwerken. Es war die Stadt, die Schutz für die in ihr lebende Gemeinschaft durch die Errichtung von Mauern, es war das Haus, das Sicherheit für die Familie und ihre Angehörigen gewährleisten sollte. Sicherheit und Sicherheitserwartungen hatten in diesem Sinne mit konkreten, materiellen Gegebenheiten zu tun. Schon in den mythologischen Konstruktionen der frühen Hochkulturen wurden diese elementaren Sachverhalte deutlich, etwa in den Erzählungen von der „Urhütte“, die Schutz vor Witterungseinflüssen, wilden Tieren und menschlichen Feinden bot, ebenso auch in den zahlreichen legendenhaften Berichten von den frühen Stadtgründungen, die mit der Setzung der ersten Mauer und der Bestimmung der ersten Stadttore zwei grundlegende Elemente vormoderner Stadtarchitektur hervorhoben. Mauer und Tor rückten immer wieder in das Zentrum von Sicherheitsüberlegungen und -planungen, sie konnten aber auch zu Zeichen von Lebensformen und Zukunftserwartungen werden, wie sie die literarischen und bildkünstlerischen Werke verarbeiteten. Diese Muster reichten bis in die Frühe Neuzeit, markierten allerdings auch ihr Ende. Unter städtebaulichen Gesichtspunkten kann die Aufgabe des über Jahrhunderte gültigen Prinzips der Stadtmauer als ein Krisenphänomen und zugleich als Beginn der modernen Stadt verstanden werden, die sich nicht mehr auf die Notwendigkeit einer nach außen hin gewendeten Begrenzung einstellen musste und ihre äußeren Siedlungsbereiche ‚unbegrenzt‘ erweitern konnte. Die Aufgabe der Stadt als Festung, die „Entfestigung“, blieb im 17. und 18. Jahrhundert zunächst auf einzelne, allerdings prominente europäische Städte beschränkt (Paris ab ca. 1675, Berlin ab 1734), bis sie dann gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einem Epochenphänomen wurde.

Die bauliche Repräsentation von Sicherheit 729

Abb. 21  Die befestige und geordnete Stadt. Stadtgrundriß von Mannheim aus; Merian, Matthäus: Topographia palatinatus Rheni, 1645. Bildnachweis: Merian, Matthäus: Topographia palatinatus Rheni, 1645. Reprint. Kassel 1963.

Die Beiträge dieser Sektion konzentrieren sich auf städtische Architekturen und Einrichtungen in den frühneuzeitlichen Städten, in denen die jeweils aktuellen Vorstellungen und Maßnahmen zur Herstellung von sicheren Lebensverhältnissen deutlich werden. Im Zentrum steht dabei eine Architektur der Stadt und der sicheren Orte, die gleichermaßen auf eine Sicherheit nach außen hin ausgerichtet ist wie auf eine innere Sicherheit, die innerhalb der Stadtmauern Stabilität und Frieden des öffentlichen Raumes gewährleisten soll. Wenn es um die zeichenhaft-symbolische wie auch praktische Bedeutung von Architekturen im Kontext sicherheitspolitischer Überlegungen in der Frühen Neuzeit geht, so sind hinsichtlich der architektonischen Repräsentationsleistungen dieser Epoche verschiedene ‚Konfliktträger‘ relevant: das Land und seine Herrscher (Fürstenstaat, Reichsstadt, Republik), die sich gegen externe Kontrahenten behaupten wollten, der Stadtherr, dem das städtische Gemeinwesen oder auch nur einzelne städtische Gruppen gegenüberstehen konnten, sowie innerstädtische Konfliktparteien und einzelne Personen oder Gruppen mit einem sozial abweichenden Verhalten, das wir heute als ‚kriminell‘ bezeichnen. Der Zusammenhang zwischen einer durch Fortifikationsarchitektur vermittelten militärischen Sicherheit und der das Stadtinnere prägenden zivilen Ordnung

730 Ulrich Schütte

wurde in den frühneuzeitlichen Bildern in unterschiedlicher Weise dargestellt. Es waren vor allem die Grundrisse und Vogelschaubilder geplanter oder neu angelegter Festungsstädte, die ein hohes Interesse daran hatten, die geometrisch bestimmten fortifikatorischen Strukturen als Teil einer urbanen Rationalität zu sehen, die auch die Anlage der inneren städtischen Quartiere mit ihren Straßenverläufen, Plätzen und Wohnarealen auf geometrische Prinzipien verpflichtete. So zeigt etwa der Grundriss von Mannheim aus dem Jahre 1645 divergierende Planungsmuster, die sich gleichwohl zusammenfügten, da sie in der Geometrie ihre gemeinsame Basis besaßen (Abb. 21). Der äußere Festungsgürtel und das vorgelagerte Hornwerk blieben der Logik des Bastionärsystems verpflichtet. Im Stadtinneren folgten die zivilen Bereiche der Systematik des rechtwinkligen Schachbrettmusters, während die militärisch ausgerichtete Zitadelle „Friedrichsburg“ mit ihrer polygonalen Grundform und den sternförmig angelegten Straßen militärischen Funktionsabläufen entgegenkam. In beiden Fällen stand die Überschaubarkeit und Konsequenz der baulichen Strukturen auch für die zivile Ordnung einer militärisch gesicherten Stadt, die ihre komplexen Aufgaben ja nicht nur in Kriegszeiten, sondern gerade auch in Zeiten des Friedens zu erfüllen hatte.

Abb. 22 

Plünderung von Oudewater 1575, Stich aus: Willem Baudart: Les Guerres de N ­ assau. Amsterdam 1616, 1. Teil S. 173. Bildnachweis: Duffy, Christofer: Siege warfare. 1. Bd. The fortress in the early modern world 1494-1660. London 1979, Abb. 33, S. 59.

Die bauliche Repräsentation von Sicherheit 731

Die Gegenbilder zu solchen visuell vermittelten, geordneten Städten finden wir in den Darstellungen von eroberten und geplünderten Orten (Abb. 2). Diese Bilder sollten zunächst, in quasidokumentarischer Absicht, die Grausamkeit, die Zerstörungswut und die Übergriffe feindlicher Soldaten nach der Eroberung einer Stadt schildern. Sie konnten aber immer auch als Zeichen des Zusammenbruchs einer zivilen Ordnung in Kriegszeiten gelesen werden.1 Eine solche Unsicherheit und Unordnung der zivilen Welt in Kriegszeiten konnte als Mahnung begriffen werden, durch politisches Handeln und durch die Errichtung von städtischen Architekturen Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Bereitschaft zum Kriege, um einen sicheren Frieden zu garantieren, wurde auf diese Weise integraler Bestandteil einer Ikonographie städtischer Herrschaftsformen. Es konnte ein mythologischer Held der Vorzeit sein oder auch der aktuell herrschende Fürst, dessen bildliche Darstellung als oberster Kriegsherr immer auch auf die Sicherung und Sicherheit des städtischen Gemeinwesens verwies (Abb. 23, Abb. 24). Die Allegorisierungen, historischen Legitimationsstrategien und fürstlichen Tugendlehren, die diese Bilder vorführten, verwiesen häufig genug auf die aktuellen Gegebenheiten städtischer Topographien mit ihren äußeren Festungsgürteln und ihren rational geplanten neuen Stadtgrundrissen, um auf diese Weise die enge Verknüpfung zwischen äußerer und innerer Sicherheit herauszustellen.2 1

Die meisten Darstellungen von frühneuzeitlichen Belagerungen zeigen das Geschehen unter militärischen Gesichtspunkten und aus der Perspektive der Sieger; s. Martha D. Pollak, Representations of the city in siege views of the seventeenth century. The war of military images and their production, in: James D. Tracy (Hrsg.), City walls. The urban enceinte in global perspective, Cambridge 2000, S. 605–646. Eine Analyse der Bilder zu den Plünderungen eroberter Städte fehlt. 2 Die Forschung hat sich bislang darauf beschränkt, die Ikonographie der frühneuzeitlichen Fortifikation zu thematisieren; s. dazu Stanislaus von Moos, Turm und Bollwerk. Beiträge zu einer politischen Ikonographie der italienischen Renaissancearchitektur, Zürich 1974 und Simon Pepper, Siege law, siege ritual, and the symbolism of city walls in renaissance Europe, in: Tracy (Hrsg.), City walls (wie Anm. 1), S. 573–604 jeweils mit weiterführender Literatur. Zur Architektur, Funktion und Ikonographie der Stadttore s. Stefan Schweizer, Zwischen Repräsentation und Funktion. Die Stadttore der Renaissance in Italien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 184), Göttingen 2003; und Marion Hilliges, Das Stadt- und Festungstor. Fortezza und sicurezza. Semantische Aufrüstung im 16. Jahrhundert, Berlin 2011. Hinweise zum Verhältnis zwischen äußerer Befestigung und innerstädtischer Struktur und zu einem „militärischen Urbanismus“ bei Horst de la Croix, Military considerations in city planning (Planning and cities), New York 1972; Martha D. Pollak, Turin 1564–1680. Urban design, military culture, and the creation of the absolutist capital, Chicago/London 1991; und dies., Cities at war in early modern Europe, Cambridge 2010, S. 155–231 wie auch bei Karl-Klaus Weber, Stadt und Befestigung. Zur Frage der räumlichen Wachstumsbeschränkungen durch bastionäre Befestigungen im 17. und 18. Jahrhundert. in: Festungsforschung international. DGF-Jahrbuch 1991/2000,

732 Ulrich Schütte

Abb. 23 Ludwig

XIV. mit dem Stadtgrundriß von Luxemburg; Radierung Pierre Lepautre, 1684. Bildnachweis: Pollak: Cities at war. 2010, Fig. 3.29, S. 147.

Abb. 24 

Der legendäre König ­Eridanus hält einen aktuellen Plan der Stadt ­Turin mit der im 17. Jahrhundert angelegten Contrada Nuova zwischen Palaz­zo ­Reale und Porta Nuova aus: Emanuele Tesauro: Historia della augusta città di Torino. Turin 1679. Bildnachweis: Pollak, Martha: Turin 15764–1680, Abb. 132.

Zu bedenken sind jene Mittel, die eingesetzt wurden, um den unterschiedlichen Konfliktformen zu begegnen. Vieles ist dabei typisch für vormoderne Kulturen mit ihrem besonderen Interesse daran, Mittel, die in einem primären Sinne der Gewaltausübung dienten, in einem hohen Maße und jenseits ihres aktuellen Gebrauchs symbolisch-zeichenhaft zu verstehen und sie in diesem Sinne zu unterschiedlichen Zwecken einzusetzen. Sicherheitsarchitekturen und technische Instrumente, die der Sicherheit öffentlicher Räume dienen sollten, vereinigten demnach beides: den unmittelbaren Einsatz zur Behauptung und Durchsetzung von Sicherheit wie auch deren bildhafte Repräsentation. ‚Bildhafte Repräsentation‘ meint dabei nicht allein die Wiedergabe eines architektonischen oder städtebaulichen Sachverhaltes in einem anderen Medium, wie der Malerei oder S. 67–100 und Henning Eichberg, Festung, Zentralmacht und Sozialgeometrie. Kriegsingenieurwesen des 17. Jahrhunderts in den Herzogtümern Bremen und Verden, Köln 1989.

Die bauliche Repräsentation von Sicherheit 733

der Druckgraphik. Die ursächlich zur Sicherheit geschaffenen und eingesetzten Werke und Instrumente konnten selbst mit einer Repräsentationsleistung ausgestattet werden. Welche Bedeutung dann einzelnen Architekturen oder auch Sicherheitsinstallationen zugesprochen wurde, war abhängig vom Kontext, in dem diese Werke standen. Da die Kontexte zumeist nur begrenzte Zeit stabil blieben, änderte sich mit dem Kontext häufig auch die Bedeutung dieser Werke. Dass architektonische Repräsentationen eine relativ dauerhaft fixierte Semantik besaßen, hatte seinen Grund in sozialen und politischen Formationen von ‚langer Dauer‘. Die Forschung hat sich dem bislang kaum zugewandt. Die folgenden Beiträge konzentrieren sich auf Fragen, die sich aus der Sicherstellung öffentlicher, städtischer Räume und damit für die Sicherheit des Gemeinwohls ergaben. Sie wollen damit an ausgewählten Beispielen und an unterschiedlichen Objektgruppen auf die Bedeutung der Sicherheitsthematik für das frühneuzeitliche städtische Gemeinwesen hinweisen. Dies betrifft nicht allein die Fortifikationsarchitekturen, auch städtische Beleuchtungskörper, die den Gefahren der dunklen Nächte begegnen sollten, wie auch die uns überhaupt nicht mehr geläufigen eisernen Ketten, die der Absperrung von Straßen und der Einschränkung von Zugänglichkeiten, Aufruhr und Kommunikation dienten, stehen für spezifische Vorstellungen einer Sicherheitspolitik, die Bedrohungen von öffentlichen Räumen fernhalten wollte und die dazu spezifische Maßnahmen ergriff. Hierbei verbanden sich nicht selten Konzepte eines wohlgeordneten Gemeinwohls (im Sinne der „Policey“) mit einer Semantik, die eine Sicherungsmaßnahme als Repräsentationsleistung eines fürstlichen Stadtherrn oder einer patrizischen Stadtherrschaft verstanden wissen wollte. Mediale Vermittlungen durch Bilder und Texte spielten dabei eine besondere Rolle und markierten eine wichtige Differenz zu den vorangegangenen Jahrhunderten. Bei der ‚außenpolitischen‘ Wirksamkeit eines städtischen Gemeinwesens war die frühneuzeitliche Fortifikationsarchitektur von entscheidender Bedeutung. Sie übernahm nicht allein eine erhebliche Funktion innerhalb der damaligen Kriegsführung; sie besaß darüber hinaus gerade in Friedenszeiten ein eminentes Potential, um ein deutliches Sicherheitsversprechen zu thematisieren, wie es gerade auch in den unterschiedlichen bildkünstlerischen Medien der Zeit aufgenommen und in demonstrativer Absicht dargestellt wurde (in Stadtveduten, auf Medaillen und Herrscherporträts etc.). Dabei spielten sowohl aktuellste Formen bastionärer Fortifikatonssysteme eine Rolle wie auch die Tradierung alter, zumeist dem Mittelalter entstammender Wehrelemente. Das Sicherheitsversprechen verdichtete sich in der Realität und im Bild eines das gesamte Gemeinwesen umgebenden Festungsgürtels. Häufig konzentrierte es sich an den so wichtigen Passagensituationen bei den Stadteingängen und -ausgängen (Toranlagen mit ihren Wehrformen und einer deutlichen militärisch-politischen Ikonographie). Nicht immer war es die mit entsprechenden Zeichenwerten versehene Architek-

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tur allein. Zur Semantik der Gebäude trat auch – als aktiver sozialer Part – das militärisch-polizeiliche Personal, das man zur Bewachung, Kontrolle und militärischen Bereitschaft einsetzte. Durch Kleidung und Bewaffnung wurde es Teil einer umfassenden militärischen Ikonographie einer Stadt. Die solchermaßen artikulierten Sicherheitsansprüche und -behauptungen konzentrierten sich auf einzelne Orte innerhalb eines Territoriums. Sie konnten aber auch in ein Netz ‚fester Orte‘ eingebunden sein, das sich bildlich in der Karte eines Territoriums fixierte. Unter innenpolitischen Gesichtspunkten konnten diese Architekturen unterschiedliche Zwecke verfolgen. Sie waren integraler Teil einer symbolischen Kommunikation zwischen städtischer Bevölkerung und Stadtherrn, wie sie sich im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit bei den Herrschereinzügen zeigte und die auf eine Machtdemonstration ebenso angelegt sein konnte wie auf den Ausgleich wechselseitiger Ansprüche (Abb. 25).3 Andererseits wendeten sich die baulichen Gegebenheiten und ein entsprechendes militärisches Personal (Schlosswache, Leibgarde) gegen Bedrohungen (‚Unruhen‘) durch städtische Gruppen. Und auch hier konnten die Sicherheitsüberlegungen zeichenhaft herausgestellt werden; durch das gesamte Erscheinungsbild einer Schlossanlage oder auch nur durch einzelne Elemente. Unter ‚innenpolitischen‘ Gesichtspunkten waren es architektonisch-militärische Zeichen, die sich vor allem auf das Schloss des Fürsten als Zitadelle am Rande der Stadt bezogen und in denen sich immer wieder der Herrschaftsanspruch des Stadtherrn verdichtete, wie etwa durch das alte Motiv des Schlossgrabens, der unter militärischen Gesichtspunkten vollständig funktionslos geworden war. Seit Niccolò Machiavellis „Der Fürst (Il Principe)“ (um 1513, 1. Druck 1532) reflektierten die Politica-Traktate die Vorund Nachteile, die sich mit der Beherrschung einer Stadt mittels einer Zitadelle verbanden (Abb. 21). In ihrer baulichen Erscheinung war sie immer ein Zeichen fürstlicher Superiorität, gegen das sich in einem Akt der Befreiung die städtische Bevölkerung durch Zerstörung wenden konnte.4 3

Zur militärischen Semantik s. Pollak, Turin 1564–1680 (wie Anm. 2), S. 232–289. Dass auch die Anbringung und Beseitigung von Wappen Teil einer politischen Ordnungsdemonstration sein und auf innerstädtische Konfliktzonen verweisen konnten, ist bislang nur für das Mittelalter systematisch verfolgt worden; s. dazu Christoph Friedrich Weber, Zeichen der Ordnung und des Aufruhrs. Heraldische Symbolik in italienischen Stadtkommunen des Mittelalters (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne: Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Köln u. a. 2011. 4 So in der zeitgenössischen Bildpropaganda zu der von den Spaniern errichteten Zitadelle von Antwerpen; s. auch Janna Woods-Marsden, Images of castles in the renaissance. Symbols of Signoria. Symbols of tyranny, in: Art Journal 48 (1989), S. 130–137. Generell zur Frage der Gewaltausübung durch die Träger städtischer Herrschaft s. Douglass C. North/ John J. Wallis/Barry R. Weingast, Violence and social orders. A conceptual framework for interpreting recorded human history, Cambridge u. a. 2009.

Die bauliche Repräsentation von Sicherheit 735

Abb. 25 

„Oblatio der Thorschlüßel“ an Kaiser Leopold I. 1658, am Nürnberger Spittlertor Aquarell. Bildnachweis: Gold, Renate: Ehrenpforten. 1990, S. 179.

In der Stadt selbst waren vor allem die Straßen und Türme in Sicherheitsüberlegungen einbezogen. Eisenketten zur Absperrung einzelner Passagen (gegen Aufstände), Beleuchtung der Straßen (seit dem späten 17. Jahrhundert im Sinne öffentlicher Ordnung/‚Policey‘) und die mit Wächtern besetzten Türme (zum Brandschutz) formulierten zwar gegenüber der Fortifikation von Stadt und Schloss geringere Ansprüche bildlich-zeichenhafter Repräsentation, bestimmten gleichwohl den Alltag der stadtbürgerlichen Bevölkerung in erheblicher Weise.5 Häufig haben wir es in der Frühen Neuzeit mit Weiterführungen und mit Aktualisierungen von architektonischen Mustern zu tun, die aus früheren Zei 5

Zur Feuergefahr und ihrer Eindämmung s. Cornel Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne (Umwelt und Gesellschaft 3), Göttingen 2011; sowie Jörg J. Berns, Feuerwehr und Feuerwerk. Techniken der Domestikation und Inszenierung von Großbränden in der Frühen Neuzeit, in: Vera F. Koppenleitner/ Hole Rössler/Michael Thimann (Hrsg.), Urbs incesa. Ästhetische Transformationen der brennenden Stadt in der Frühen Neuzeit, Berlin/München 2011, S. 211–234.

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ten stammten. Daneben trat mit dem Herausstellen von Innovationen gerade auf dem Gebiet der Architekturen und Technologien ein Epochenphänomen, das diese Zeit mit der Moderne verbindet. Immer trugen die Maßnahmen und Gestaltungen dazu bei, die Sicherheits-Semantik durch die jeweiligen SicherheitsDiskurse neu zu bestimmen. Fortifikationsarchitekturen wurden in der Frühen Neuzeit von intensiven Debatten begleitet, die innerhalb der fachlich ausgerichteten Architekturtraktate die immanente Logik dieser neuen Bauwerke plausibel machen wollten. In der Sphäre des Politischen reflektierten andere normative Texte die Verfügungsmöglichkeiten und Verfügungsberechtigungen durch unterschiedliche soziale Gruppen.6 Dabei erwiesen sich die technischen Innovationen als Triebkräfte, die immer wieder zu Anpassungsleistungen zwangen. So war es seit dem 15. Jahrhundert die Kriegstechnologie, die bei vorhandenen, in ihrem strukturellen Gefüge seit der Antike kaum veränderten Stadtbefestigungen partielle oder gänzliche Erneuerungen erzwangen. Entsprechendes galt für die Beleuchtungskörper, die vor allem für die Sicherheit der innerstädtischen Räume in den Nachtstunden sorgen sollten. Die Geschichte der Verwendung von den Öl- und Pechleuchten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis hin zu den Gasleuchten des 19. Jahrhunderts und den elektrischen Lampen des 20. und 21. Jahrhunderts zeigt, dass ihre technisch bedingte Entwicklung bis in unsere Gegenwart hinein nicht abgeschlossen ist. Die für diese Sektion ausgewählten Vorträge beschreiben damit ein weites thematisches Feld, mit dem sich das Verhältnis von Sicherheitsvorstellungen und Sicherheitsstrategien einerseits und städtebaulichen und stadtorganisatorischen Maßnahmen andererseits bestimmen lässt. Sie fragen unmittelbar nach dem, was die Semantik der Bauwerke, der städtischen Strukturen und der im Stadtraum eingesetzten Sicherheitsapparaturen bestimmte, wenn es darum ging, innere und äußere Sicherheit zu behaupten und zu gewährleisten.

6

S. dazu Moos, Turm und Bollwerk (wie Anm. 2), zu den Fortifikationstraktaten der Frühen Neuzeit s. Horst de la Croix, Military architecture and the radial city plan in sixteenthcentury Italy, in: Art Bulletin 42 (1960), S. 263–290; Amelio Fara, Il sitema della città. ­Architettura fortificata dell‘ Europa moderna dai trattati alle realizzazioni 1464–1794, Genua 1989; Hartwig Neumann, Bücher zur Architectura militaris, in: Architekt und Ingenieur. Ausstellungskatalog, Wolfenbüttel 1984, S. 349–392 und Tobias W. L. Büchi, Die Fortifikationsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. Traktate in deutscher Sprache, Diss. Zürich 2009.

Marion Hilliges

Sicherheitsversprechen und herrscherliche Bildpolitik: Der Festungsstern im Bildmedium I. SECURITAS POPULI und die Festung in Ferrara

Als Papst Paul V. zum Festtag am 29. Juni 1610 die Medaille der Zitadelle F ­ erraras in 450-facher Ausführung prägen ließ, war die päpstliche Festung noch keineswegs fertig gestellt (Abb. 26).1 Dennoch wird das heilige Fest zum Anlass genommen das gigantische, 1608 begonnene Bauwerk an der Nordgrenze des Kirchenstaates zu zelebrieren. Das Avers der Medaille ziert das Bildnis des Gönners und obersten Bauherren, des Borghese-Papstes, auf dem Revers prangt die pentagonale Zitadelle in einer

Abb. 26 Gedenkmedaille (37,5 mm Silber) zum Fest am 29. Juni 1610, Avers: Porträt Papst Paul V., Revers: SECURITAS POPULI, Vogelperspektive der Fortezza di Ferrara, Museo Nazionale del Bargello, Florenz, aus: Modesti, La medaglia (wie Anm. 1), S. 137, Nr. 76. 1 Modesti führt als Anlass für die Prägung der Münze von 1610 fälschlicherweise die Voll-

endung der Zitadelle an. Die Bauarbeiten gingen allerdings bis weit in die 1610er Jahre. Endgültig fertig gestellt war die Festung mit der Aufstellung der Papsstatue im Zentrum des Alarmplatzes 1621, die höchsten Ausgaben für die Festung waren allerdings zwischen 1608 und 1612 zu verzeichnen. In diesem Zeitraum werden wohl die kostenintensivsten Arbeiten an den Bollwerken und den Kurtinen ausgeführt worden sein, um den Corpus der Anlage weitgehend verteidigungsbereit zu halten. Adolfo Modesti, La medaglia annuale dei Romani Pontefici da Giulio III a Clemente, 2 Bde., Rom 2007, S. 137, Nr. 76. Zu den Ausgaben für den Bau der Festung s. Birgit Emich, Territoriale Integration in der Frühen Neuzeit, Ferrara und der Kirchenstaat, Köln u. a. 2005, S. 459–464.

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leicht verzerrten Vogelperspektive. Paolo Sanquirico prägt das von ihm selbst nur ein Jahr zuvor für die Gründungsmedaille entworfene Motiv hier erneut, verzichtet allerdings auf das Spruchband mit dem Namen Ferrario.2 Mit der schlichten Legende SECURITAS POPULI wird dagegen die Korrelation zwischen dem Bauwerk und der Sicherheit des Volkes deutlich formuliert. Sicherheit wird am Ende des 16. Jahrhunderts vermehrt mit modernen Stadtbefestigungen verknüpft, bis mit der Medaille Pauls V. erstmals der geometrisch konstruierte Festungsstern in seiner formalen Abstraktheit mit dem herrscherlichen Sicherheitsversprechen gleichgesetzt wird. Wie bedeutsam Bastion und Festungsstern als Versprechen von Sicherheit im Kontext der ­RES ­GESTAE Darstellungen sind, ist in zahlreichen Freskenzyklen und gemalten Herrscherporträts zu sehen, aber vor allem auf Medaillen, Münzen und Kupferstichen, die als reproduzierbare Bildmedien die herrscherliche Bildpolitik der Frühen Neuzeit bestimmen. In Ferrara, das 1598 als ehemaliges Lehen zurückerobert (recuperata) und in den Kirchenstaat integriert wurde, beginnt bereits Papst Clemens VIII. 1599 mit dem Bau einer modernen Zitadelle, um die Grenzen zum unberechenbaren und wohl mächtigsten Konkurrenten auf italienischem Boden, der Republik Venedig, zu sichern.3 Schon unter Alfonso II. d’Este gab es seit den frühen 80er Jahren erste Pläne das schlecht gesicherte Gebiet im Süd-Westen der Stadt durch neue, moderne Befestigungsanlagen zu schützen und dabei zugleich die Versandungsprobleme des wichtigsten Flusses in diesem Gebiet, dem Po di Ferrara, zu beseitigen. Durch das Umleiten des aus der Emilia kommenden Reno sollte der Po di Ferrara seinen alten Flusslauf erneut aufnehmen und durch ferrareser Gebiet in die Adria münden. Dann hätte nur noch das Flussbett vertieft werden müssen, um die Schiffbarkeit des Po di Ferrara wieder herzustellen. Seit der Veränderung des Verlaufs durch die Einleitung der Apenninflüsse führte der schiffbare Poarm durch venezianisches Gebiet ins Meer, was die Handelsschifffahrt und vor ­allem den Export der überschüssigen Kornernten erschwerte.4 Giovan Battista ­Aleotti, der verantwortliche Festungs- und Wasserbauingenieur in Ferrara, hat 2

Von dieser Medaille von Paolo Sanquirico gibt es zwei Ausführungen, eine mit dem zusätzlichen Spruchband Ferrario, die von Steven S. Ostrow als Gründungsmedaille bezeichnet wird und die geprägte annulae des Jahres 1610. Bei der zweiten Prägung verzichtet Sanquirico auf das Spruchband am unteren Rand, um das Motiv der pentagonalen Zitadelle leicht vergrößert ins Bild setzen zu können. Zur Medaille von 1609, London, British Museum (Warburg Institute) s. Steven S. Ostrow, Paolo Sanquirico: A forgotten Virtuoso of Seicento Rome, in: Storia dell’arte 92 (1998), S. 27–59, hier S. 30. 3 1598 ließ Papst Clemens VIII. eine Medaille prägen, die auf dem Revers eine Stadtansicht Ferraras und die Münzlegende „Ferrara recuperata“ zeigt. Modesti, La medaglia (wie Anm. 1), S. 118, Nr. 60. 4 Emich, Ferrara (wie Anm. 1), S. 186–195.

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für das Regulierungsvorhaben verschiedene Entwürfe vorgelegt.5 Aber erst unter Clemens VIII. zeitigten die Bemühungen der ferrareser Bevölkerung für die Schiffbarmachung des Po Erfolge und die Pläne Aleottis für die Umleitung des Po und den Bau der hexagonalen Festung nahmen jene Formen an, die auf dem berühmten Plan von Ferrara, den Aleotti am 25. Dezember 1605 an Francesco Borghese zur Begutachtung schickte, verzeichnet sind.6 Diese Entwürfe A ­ leottis wurden jedoch unter Paul V. gänzlich verworfen, die Bauarbeiten wurden 1606 ausgesetzt und erst 1608 nach neuen Plänen wieder aufgenommen.7 Die Planungen für die Zitadelle übernahm nun der römische Architekt Pompeo Targone, der das unregelmäßige Hexagon Aleottis zu einem regelmäßigen Pentagon veränderte.8 Nicht ohne Grund entschieden sich Papst Paul V. und Mario Farnese, der als General der Artillerie in Ferrara die Oberaufsicht über den Festungsbau innehatte, Pompeo Targone zu verpflichten. Als Schüler Francesco Paciottos, der die Zitadellen in Turin und unter den Farnese in Parma und Antwerpen plante, gehörte er zu den gefragtesten Festungsbaumeistern seiner Zeit.9 Als pentagonale „Fortezza Reale“, nach dem Vorbild der genannten Zitadellen entworfen, sollte der Neubau den Anschluss des Verteidigungsapparates des Kirchenstaates an die modernsten Befestigungsmethoden demonstrieren.10 Die geometrische 5 Gregor Scherf, Giovanni Battista Aleotti (1546–1636), „Architetto mathematico“ der Este

und der Päpste in Ferrara, Marburg 1998, S. 41–47. Auf dem Plan Aleottis sind zwei verschiedene Versionen der Umleitung des Po und der Festung zu sehen. Im Falle der weiteren Versandung des Po sollte der Fluss lediglich in den umlaufenden Wassergraben geführt werden. Die Aufschrift über der Festung lautet: „Pianta come andrà la Fortezza se il Po no[n] ritorna“. In der oberen rechten Ecke des Plans befindet sich ein Alternativentwurf, der zwei Flussbetten für den Po zeigt, „se si ritornasse il Po navigabile“. Vgl. zu den Wasserproblemen Ferraras und den von Clemens VIII. diesbezüglich getroffenen Entscheidungen Emich, Ferrara (wie Anm. 1), S. 181–194, sowie Rossana Torlontano, Il sistema Fortificato di Ferrara prima della costruzione della Fortezza del Papa e il ruolo di Giovan Battista Aleotti, in: Opus 6.1999 (2002), S. 207–230; Silvano Ghironi, La „spianata“, i progetti e la costruzione della Fortezza di Ferrara, in: Commune di Ferrara (Hrsg.), La Fortezza del Papa, Ferrara 1598–1859, Ferrara 1990, S. 39–57. 7 Emich, Ferrara (wie Anm. 1), S. 461–462. 8 In der Bayerischen Staatsbibliothek in München liegt das persönliche Tagebuch des „generale in Capo pontificio“ Mario Farnese (Cod. Ital. 223), der die Errichtung der Zitadelle in Ferrara in den Jahren 1608–1611 beaufsichtigte. In diesem Manuskript sind die „ricordi quotidiani“ des Pompeo Targone verzeichnet. Unter der Direktion Mario Farneses leitete Targone auch die Rekonstruktionen der Festungen in Ancona, Fano, Rimini, Cervia und Ravenna. Antonio Samaritani, Papa Paolo V e la Fortezza, in: La Fortezza del Papa (wie Anm. 6), S. 15–23, Tommaso Scalesse, Lettere di Mario Farnese sulla costruzione della Fortezza di Ferrara (1608–1610), in: Opus 6.1999 (2000), S. 231–296, hier S. 279. 9 Scalesse, Mario Farnese (wie Anm. 8), S. 283. 10 „Reale Fortezza nel modello, ed ordine d’altra in Torino, e del Castello d’Anversa“, G. Mussi, Storie o sieno memorie della fortezza di Ferrara […], B.C.A., ms., I, 281, 18. Jahrhundert, c. 6

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Abb. 27  Antonio Matteo Lancisi, „Pianta della Fortezza die Ferrara“, ca. 1730, (Inv. XVI/69) Bibliotheca Comunale Ariostea, Ferrara, aus: Gino Pavan (Hrsg.), Palmanova, fortezza d’Europa 1593-1993, Venedig 1993, S. 494, Abb. 16.

Perfektion des Festungssterns Ferraras, zeigt der Plan Antonio Matteo Lancisis aus dem 17. Jahrhundert (Abb. 27). Durch die spitzen vorgelagerten Ravelins und das gezackte Glacis erhält die päpstliche Festung ihre faszinierende kristalline Struktur. Einem wertvollen Schmuckstück gleich wurde die Fortezza an der südwestlichen Ecke in den Befestigungsring Ferraras integriert. Im Zentrum der Anlage, auf der ausgedehnten Piazza d’armi ließ sich endlich der Pontifex selbst in einer überlebensgroßen Figur thronend in vollem Ornat verewigen.11 Freistehend in der Platzmitte auf einem marmornen Sockel erhöht, vermag sie sich allein durch den Ort der Aufstellung über die Denkmäler der EsteFürsten zu erheben. Nur Ercole II. d’Este plante zuvor sein Reiterdenkmal in der Platzmitte der gigantischen, ovalen Piazza Nuova. Das auf einem hohen

1–2, zitiert nach Silvano Ghironi, La „spianata“, i progettisti e la costruzione della Fortezza di Ferrara, in: La Fortezza del Papa (wie Anm. 6), S. 50. 1 1 Zu der Frage des Bildhauers s. Lucio Scardino, Il monumento a Paolo V nella fortezza, un’intricata vicende „critica“, in: La Fortezza del Papa (wie Anm. 6), S. 25–30.

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antikisierenden Säulenpostament projektierte Monument wurde jedoch niemals ausgeführt.12 Die Inschrift auf dem Sockel der päpstlichen Sitzstatue rechtfertigte den kostspieligen Bau der Festung mit folgenden Versen: „Paulus Quintus Pnt. Max./Ne recedente hinc Pado/Ferrariae tutela recederet/Hic arcem construendo/Martem Neptuno substituit“. Sie ist das Zeichen für militärische Stärke (Fortitudo) und für Sicherheit (Securitas) in diesem Gebiet. Den natürlichen Schutz des Flusses (Neptun) ersetzend, steht die Festung im Namen des Mars nun für den Schutz Ferraras. Ferner repräsentiert sie die Regulierungsmaßnahmen des Po di Ferrara. Die erneute Schiffbarmachung des Po mit Schaffung eines Zugangs zur Adria war politisches Kalkül, um Venedigs Vormacht zur See zu schwächen.13 Die Zitadelle Ferraras gehörte zu einem komplexen Repräsentationskonzept der RES GESTAE Pauls V., das nicht nur in Medaillen, Medaillenspiegeln und Freskenzyklen in römischen Palästen präsent, sondern auch in der Kapellenausstattung des Papstes in der Kirche Santa Maria Maggiore in Rom heute noch gegenwärtig ist. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Reliefs des Grabmals Paul V. (1615) in der Capella Paolina. Im zentralen Register des römischen Triumphbogengrabmals sind neben der in eine Rundbogennische gestellten Papststatue zwei hochrechteckige Reliefplatten eingelassen. Die Reliefs Unterstützung Rudolfs II. im Türkenkrieg und Errichtung der Festung zu Ferrara korrespondieren mit den Reliefs des gegenüberliegenden Grabmals Clemens VIII. Mit den Themen Sieg der päpstlichen Armeen gegen die Este-Rebellen in Ferrara und die Schlacht bei Gran zeigen sie zusammen einen RES GESTAE-Zyklus, der die Potestas Imperialis des Papstamtes demonstriert. Inschriftentafeln in den Sockelzonen erläutern die figurenreichen Darstellungen. Das Programm im Hauptregister, hat im Sinne der ‚ecclesia militans‘ zwei wesentliche Bedeutungsstränge, zum einen die Niederschlagung der Ungläubigen und zum anderen die Ausdehnung des päpstlichen Territoriums durch die Eroberung bzw. die Integration exterritorialer Gebiete in den Kirchenstaat, wie im Falle Ferraras.14 Dementsprechend zeigt das zeitlich nach dem Sieg der päpstlichen Armeen […] unter Clemens VIII. folgende Relief Errichtung der Festung zu Ferrara die Bauarbeiten an der Zitadelle (Abb. 28). Vor dem Hintergrund der Stadtansicht mit 12

Zur dem Entwurf des Monuments Ercole II. d’Estes s. Charles M. Rosenberg, The Este Monument and Urban Development in Renaissance Ferrara, Cambridge 1997, S. 153–172. 13 Emich, Ferrara (wie Anm. 1), S. 192–194. 14 Zu dem Grabmal Pauls V. in der Capella Paolina s. Michael Chatzidakis, „Imagines Pietatis Burghesianae“: Die Papstgrabmäler Pauls V. und Clemens’ VIII. in der Capella Paolina in S. Maria Maggiore, in: Horst Bredekamp/Volker Reinhardt, Totenkult und der Wille zur Macht, Darmstadt 2004, S. 159–178, hier besonders S. 166; Alexandra Herz, The Sixtine and Pauline tombs in Sta. Maria Maggiore. An iconographical study, in: Marsyas New York University, Institute of Fine Arts 17 (1974/75), S. 1–122.

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Abb. 28 Relief

der Errichtung der Zitadelle Ferraras in der Capella Paolina in Santa Maria Maggiore, Rom (1615) Foto: Requiem-Projekt-Datenbank.

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dem Castel Vecchio und der bereits als bastionierte Befestigung ausgebauten Stadtmauer üben Arbeiter verschiedene Tätigkeiten aus. Im Vordergrund, links der Mittelachse, steht Paul V., der sich vom Ingenieur Pompeo Targone den perfekten pentagonalen Grundrissplan der Zitadelle vorführen lässt. Die Aussage der Reliefs ist eindeutig: Durch die Vollendung der Zitadelle soll das unter Clemens VIII. zurückeroberte Territorium Ferraras am nördlichsten Rand des Kirchenstaates gesichert und der Anspruch auf das Gebiet gefestigt werden. Während Clemens VIII. hier als Eroberer und Befreier zelebriert wurde, stellte sich Paul V. als Erbauer der Zitadelle und damit als Beschützer des Kirchenstaates dar. Die Beziehungen des Papstes zur Lagunenstadt blieben weiterhin schwierig und die militärische Sicherung der nördlichen Peripherie hatte auch nach 1606, als der Konflikt mit Venedig zu eskalieren drohte, einen außerordentlich hohen Stellenwert.15 Je spannungsreicher das Verhältnis zu Venedig war, desto wichtiger war die Treue und Ergebenheit der Bevölkerung Ferraras. Dass der Papst für den inneren Frieden und die Loyalität der Ferrareser mit Zugeständnissen auch und gerade in der Wasserpolitik zahlen musste, konnte Birgit Emich in ihrer Habilitation deutlich herausarbeiten.16 So ist es sicher kein Zufall, dass die Ansicht der Zitadelle auf der Münze die strömenden Wasserzuläufe in den Festungsgraben zeigen. Durch die 1610 geprägte Medaille sollten nun die Barmherzigkeit des Papstes in der Wasserfrage und seine Bemühungen für den Frieden an der Nordgrenze visualisiert und untermauert werden.17 Die SECURITAS-Medaille ist demnach als ideelle Gabe im Sinne einer „sozialen Währung“ geprägt worden.18 Wenngleich die tugendhafte Selbstdarstellung im Vordergrund steht, sind die Medaillen auch als politische Geschenke zur Bindung der Ferrareser Nobili an den Kirchenstaat zu betrachten. Zumal die Bevölkerung Ferraras den Bau der Festung, der die Zerstörung prominenter Kirchen und Paläste vor der Porta degli Angeli zur Folge hatte, als Demütigung und Unterdrückung empfand.19 15

16 17 18

19

Aus den handschriftlichen Kommentaren Paul V., die sich vor allem auf den Meldungen über den Fortschritt des Baus der Festung und über Konflikte im Grenzgebiet befinden, lässt sich die Bedeutung der Sicherung der Nordgrenze nachvollziehen. Emich, Ferrara (wie Anm. 1), S. 237, Anmerkung 153. „La nostra parte ci pare la fede e la devozione“, Emich, Ferrara (wie Anm. 1), S. 236–237. Zur Medaille s. Modesti, La medaglia (wie Anm. 1), S. 137. Zu den Medaillen als Gaben und Geschenke sowie als „soziale Währung“ s. Ulrich Pfisterer, Lysippus und seine Freunde, Liebesgaben und Gedächtnis im Rom der Renaissance, oder: Das erste Jahrhundert der Medaille, Berlin 2008, hier vor allem S. 221–257. Birgit Emich, Papstmemoria in der Provinz. Politik und Patronage post mortem pontificis, in: Arne Karsten/Philipp Zitzlsperger (Hrsg.), Tod und Verklärung. Grabmalskultur in der Frühen Neuzeit, Köln u. a. 2004, S. 15–30, hier S. 21, Anm. 25; Scherf, Aleotti (wie Anm. 5), S. 31.

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Das Motiv der Securitas Medaille wurde in aufwendige, gestochene Medaillenspiegel aufgenommen, um durch das Medium der Druckgraphik eine weite Verbreitung zu gewährleisten und so den Ruhm und die ‚memoria‘ des Papstes zu mehren. Eine zusätzliche Bezeichnung einzelner Leistungen oder Bauten sollten keinen Zweifel an den tugendhaften Taten des Papstes aufkommen lassen. So ist die abgebildete SECURITAS-Münze auf dem Stich Chacons und Vitorellos (1630) zusätzlich mit der Aufschrift „arx ferrarien“ versehen.20 Das Motiv des Festungssterns für die Darstellung der SECURITAS war im 16. Jahrhundert noch keineswegs üblich. Noch unter Gregor XIII. und Sixtus V., die als die großen Urbanisten des 16. Jahrhunderts gelten, wird die S­ ECURITAS ­POPULI durch allegorische Figuren nach antikem Vorbild veranschaulicht (Abb. 29). Die Medaille Papst Gregors XIII., die 1572 zu Beginn seines Pontifikats geprägt wurde, zeigt auf dem Revers die SECURITAS POPULI ROMANI eben als jene weibliche Allegorie.21 Angelehnt an antike Darstellungsmodi ruht die nackte ­SECURITAS gelassen, fast träge auf einem Lehnstuhl. Mit ihrer Rechten stützt sie den Kopf, während sie mit der linken einen Speer umfasst. Antike Münzen als Referenzbeispiele, wie die Münzen des Augustus, des Titus oder auch die Bronze­

Abb. 29 Gedenkmedaille

(31,6 mm, Gold), zum Fest am 29. Juni 1573, , Avers: Porträt Greogor XIII, Revers: wibliche Allegorie der Securitas, Civiche Raccolte Numismatiche, Mailand, aus: Adolfo Modesti, La medaglia annuale di Romani Pontefici da Giulio III a Clemente, 2 Bde., Rom 2007, S. 74, Nr. 28.

2 0 21

Die Abbildung des Medaillenspiegels s. bei Modesti, La medaglia (wie Anm. 1), S. 128. Zur Medaille s. Modesti, La medaglia (wie Anm. 1), S. 73 Nr. 27.

Der Festungsstern im Bildmedium 745

münze des Vitellus waren im 16. Jahrhundert bereits hinreichend bekannt.22 In diesem traditionellen Darstellungsmodus für die ­SECURITAS ­POPULI versprach also noch Gregor XIII., für die Sicherheit des römischen Volkes Sorge zu tragen. Die Medaillen der Hafenstadt Civittavecchia oder der Engelsburg der Vorgänger wie Julius II. oder Pius IV. intendieren bereits einen neuen Darstellungsmodus für die SECURITAS, indem sie neu errichtete Festungsanlagen in der Vogelperspektive veranschaulichen.23 Aber erst mit Paul V. treten res gestae-Darstellungen als „Inszenierung einer Erfolgsbilanz“ gegenüber der bisher üblichen Lobpreisung einer Herrscherpersönlichkeit durch Tugendallegorien in den Vordergrund der herrscherlichen Bildpolitik.24

II. SECURITAS PUBLICA und die Festung bei Bologna

In diese Tradition stellt sich auch Kardinal Bernardino Spada, der sich 1630 von dem Maler Il Guercino mit einer Zeichnung eines Festungssterns in den Händen porträtieren ließ. Mit dem Gemälde, das in der Galleria Spada in Rom präsentiert wurde, zelebrierte er seinen Einsatz für die Sicherheit des Kirchenstaates und der Bevölkerung Bolognas (Abb. 30). Im leuchtend roten Kardinalsornat ist Bernardino Spada vor dunklem Hintergrund in der Bildmitte arrangiert. Aufrecht sitzend und leicht nach rechts gedreht ist sein Blick dem Betrachter zugewandt. Er hat die Arme angewinkelt und in den Händen hält er die Grundrisszeichnung, in der heute wohl nur der Experte sogleich die Fortezza Urbana erkennt. Jene Festung, die im Auftrag Papst Urban VIII. ab 1628 nördlich von Bologna an der Grenze des Kirchenstaates zum Ducato di Modena errichtet wurde. Der sternförmige Grundriss, der mit feinen Linien konstruiert wurde, ist am unteren rechten Bildrand prägnant in Szene gesetzt.25 Deutlich hebt sich das Weiß des Papiers vor dem roten Mantel 2 2

Die 29 mm große Bronzemünze (Dupondis) des Vitellus zeigt auf dem Revers eben jenes Motiv einer lagernden weiblichen Figur, das mit der Münzlegende „SECURITAS P ­ROMANI/SC“ umschrieben ist. Census Datenbank Census ID 10057918, C. H.V. Sutherland (Hrsg.),The Roman Imperial Coinage, Bd. 1, London 1984, 175. 2 3 Georg Satzinger, Baumedaillen: Formen, Funktionen. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, in: Georg Satzinger (Hrsg.), Die Renaissance-Medaille in Italien und Deutschland, Münster 2004 S. 96–138, hier S. 116–17. 24 Dies zeigt sich insbesondere im Bereich der Papstgrabmäler, wie Arne Karsten dies erst kürzlich wieder in einem Aufsatz herausstellte; Arne Karsten, Klientel und Reform – Zur Ikonographie religiösen Wandels im nachtridentinischen Rom am Beispiel von Papst- und Kardinalsgrabmälern, in: Ronald G. Asch/Birgit Emich u. a. (Hrsg.), Integration, Legitimation, Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne, Frankfurt a. M. 2011, S. 165–186, hier S. 177–181. 2 5 Es handelt sich um eine leicht veränderte Zeichnung des Entwurfs Giulio Burattis und dessen Vermessers Girolamo Pennas (BAV, Barb. lat. 9290, f. 25). Eine genauere Übereinstimmung ist bei den erhaltenen und publizierten Plänen oder Zeichnungen nicht zu

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Abb. 30 G.F.

Barbieri, genannt Il Guercino, Porträt des Kardinals Bernardino Spada, um 1630, Galleria Spada Rom, aus: Arne Karsten, Kardinal Bernardino Spada. Eine Karriere im barocken Rom, Göttingen 2001. finden. Der Plan ist publiziert bei Minna Heimbürger-Ravalli, Architettura, scultura e arti minori nel barocco italiano: ricerche nell’Archivio Spada, Florenz 1977, Abb. 135.

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des Kardinals ab und die Hände, die den Plan halten, lenken den Blick auf die feinen Konstruktionslinien des Grundrisses. Das Bildnis gab Bernardino Spada 1630 kurz vor seiner Rückkehr nach Rom in Auftrag, um seine Leistungen als Gesandter des Heiligen Stuhls in Bologna dem römischen Publikum zu präsentieren. Mit der Zeichnung der Fortezza Urbana in seinen Händen, spielte der Auftraggeber hier auf sein Verdienst für die Verteidigung des Kirchenstaates an. Denn der Bau der Festung und damit die Sicherheit der Grenze und der Bevölkerung Bolognas lagen buchstäblich in seinen Händen. Spada regelte als päpstlicher Legat in den Jahren 1627–31 in Bologna die Belange des Kirchenstaates, wozu auch die Oberaufsicht über den neuen Festungsbau zählte – das wohl wichtigste Bauprojekt jener Jahre, das er überaus ambitioniert leitete.26 Den 1628 ausbrechenden Mantuaner Erbfolgekrieg vorausahnend, gab ­Urban VIII. bereits im September 1627 den Befehl für den Bau der Zitadelle, deren Ausführung Bernardino Spada trotz widriger Umstände mit beharrlichem Einsatz stetig vorantrieb. In seinem Eifer ging er sogar soweit, das regimento der Stadt Bologna davon zu überzeugen, die immensen Kosten des Festungsbaus selbst zu übernehmen und nicht der Camera Apostolica zu überlassen.27 Dabei half ihm wohl die Angst der Bolognesen vor den einfallenden Alemannen, den kaiserlichen Truppen, die 1629 schon vor Mantua standen.28 Um zusätzliche finanzielle Mittel für den Bau einzuwerben, ließ der Kardinallegat im Januar diesen Jahres einen Holzschnitt von der Grenzsituation mit der neuen, in der Grafik bereits armierten Festung anfertigen, um diesen als eine Art Spendenaufruf zu verteilen (Abb. 31). Dem Kardinal Francesco Barberini schreibt er diesbezüglich am 13. ­Januar 1629 nach Rom: „È stato stampato con intaglio di legno un preteso disegno del forte Urbano, ma però senza misure, senza regole, e senz’altro giud.o, che di cavar denari dal Popolaccio curioso […]“.29 Der Holzschnitt macht die Bedrohung der Grenzen des Kirchenstaates durch ein kleines Fortino, zwei Zelte und einen aufgerichteten Galgen auf der Seite Modenas deutlich. Demgegenüber steht die mit zahlreichen Kanonen bestückte moderne

2 6

Arne Karsten, Kardinal Bernardino Spada. Eine Karriere im barocken Rom, Göttingen 2001, S. 108; Heimbürger-Ravalli, Spada (wie Anm. 25), S. 164. 27 „[…] si lasciano persuadere che così fatta sorte di spesa tocchi per propia natura a la borsa de la Città, e non à quella de la Camera Apostolica, […]“. Zitiert nach Karsten, Spada (wie Anm. 26), S. 110, Anm. 155. 2 8 Schreiben Sachettis vom 29. Oktober 1629 an Bernardino Spada: „[…] e fra tanto sollecitare i ripari e difese di cotesta Città, che piacia a Dio siano in tempo potendosi dubitare che restando gli Alemanni vittoriosi ricevino molto allettamento dalle richezze di Bologna e da la facilità dell’impresa.“ Zitiert nach Karsten, Spada (wie Anm. 26), S. 106f., Anm. 147. 2 9 Brief von B. Spada an Kardinal Fr. Barberini, 13. 1. 1629, (Leg. Di Bologna, vol. 5, p. 2), zitiert nach Heimbüger-Ravalli, Spada (wie Anm. 25), S. 167, Anm. 45.

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Abb. 31 

Ansicht des Grenzterritoriums zwischen dem Kirchenstaat und dem Ducato di Modena, Holzschnitt, (ASV, Leg. Bologna, Bd. 5, S. 11), aus: Minna Heimbürger-Ravalli, Architettura, scultura e arti minori nel barocco italiano: ricerche nell’Archivio Spada, Florenz 1977, Abb. 134.

Fortezza bei Castelfranco, die die Verteidigung der Grenze gewährleisten sollte und Sicherheit versprach.

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Ende Oktober spitzte sich der Krieg um die Erbfolge in Mantua zu. Sacchetti berichtete von den Erfolgen der kaiserlichen Truppen in Mantua und rät in einem Brief die Mauern Bolognas besser zu befestigen, um den Einfall der kaiserlichen Truppen zu verhindern.30 Bereits wenige Wochen zuvor wurde Spada aus Rom um einen Bericht über den aktuellen Zustand der Fortezza gebeten. Er versicherte die Verteidigungsbereitschaft der Festung, gab allerdings zu bedenken, dass sie einer langen Belagerung nicht standhalten würde.31 Etwa zeitgleich, gab Papst ­Urban VIII. die Prägung von Medaillen in Auftrag, die die Fortezza ­Urbana zeigen.32 Gaspare Mola erhielt 112 Scudi für 140 Medaillen, „fatte da esso stampa nova con il Forte Urbano per servizio come di ­sopra“, um, wie der Papst anordnete, diese nach Bologna zu schicken (Abb. 32).33 Das Avers einer erhaltenen Medaille von 1630 zeigt das Porträt des Papstes. Auf dem Revers der Medaille nimmt die annähernd quadratische „Fortezza Urbana“ mit den vorgelagerten Ravelins die untere Bildhälfte ein. In einer sche-

Abb. 32 Gedenkmedaille (40 mm, Gold) zum Fest am 29. Juni 1630, Avers: Porträt Urban VIII, Revers: SECURITAS PUBLICA, Vogelperspektive des Forte Urbano mit dem Heiligen San Petronio, Kunsthistorisches Museum Wien, aus: Adolfo Modesti, La medaglia annuale di Romani Pontefici da Giulio III a Clemente, 2 Bde., Rom 2007, S. 167, Nr. 97. 3 0

S. Anm. 28. Heimbürger-Ravalli, Spada (wie Anm. 25), S. 176. 3 2 Zur Medaille s. Modesti, La medaglia (wie Anm. 1), S. 167 und Lucia Simonato, „Impronta di Sua Santità“ Urbano VIII e le medaglie, Scuola Normale superiore Pisa 2008, S. 277–280. 3 3 „[…] io infrascritto ho consegnato numero centoquaranta medaglie di metal corinto fatte d’ordine di su santità, per mandarle a Bologna, questo dì ultimo ottobre 1629. Io Gaspare Mola, mano propria […]“, zitiert nach Simonato, Urbano VIII (wie Anm. 32), S. 278. Gasparo Mola fertigte im darauf folgenden Jahr zusätzlich 31 Gold- und 46 Silbermünzen an, die er am 8. Juni 1630 nach Bologna schickt; ebd. 31

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matisierten Vogelperspektive kommt der sternförmige Grundriss der Anlage besonders gut zur Geltung. Wie ein strahlender Kranz umgeben Graben, Contescarpe und Glacis den quadratischen Hauptwall. Über der Anlage schwebt San Petronio auf einer Wolke mit einem Stadtmodell Bolognas in der rechten Hand. Gerahmt ist das Motiv von einem Lorbeerkranz, dem Symbol des Sieges und des Friedens. Die Legende lautet hier S­ ECURITAS P ­ UBLICA, und nicht ­SECURITAS ­POPULI wie auf der Medaille Pauls V. Die sehr römische Konnotation S­ ECURITAS P ­ OPULI, die die Erweiterung um ­ROMANI intendiert, wird hier wohl bewusst vermieden. Denn diese Medaillen wurden sehr wahrscheinlich von Antonio Barberini und Don Carlo Barberini, die Ende November 1629 nach Bologna reisten, unter den Vasallen verteilt, um diese von der Bedeutung des Bauwerks für die Sicherheit der Stadt zu überzeugen.34 Es sollte also bewusst ein nichtrömisches, nämlich das Bologneser Publikum angesprochen werden. Bestärkt wird diese Deutung durch den Stadtpatron San Petronio, der über der Festung schwebt. Bei der Bildaufteilung und dem schwebenden Heiligen handelt es sich bekanntlich um ein bewusstes Zitat einer Medaille aus der Bologneser Münze, die den Stadtpatron über dem Stadtwappen Bolognas zeigt.35 Die Medaille ist als ein politisches Geschenk zu verstehen, das die Verbundenheit zum Papst bekunden sollte. Als Gegenleistung für eines dieser „Gnaden-Geschenke“ wurden wohl Geld- oder Sachspenden sowie die Bereitstellung von Arbeitskräften erwartet, um den Bau der Festung voranzutreiben. In einer Zeit, in der die Pest in Bologna grassierte, kündigte sich die Stagnation der Bauarbeiten 1629 bereits an.36 Für den Papst und die römische Kirche hatte der Bau der Festung allerdings weiterhin oberste Priorität und die Zeit drängte. Die Prägung der Medaille zum Heiligen Festtag diente demnach der Bekräftigung und der Unterstützung des gigantischen Unternehmens und damit als Versprechen die Sicherheit des Kirchenstaates und des Volkes gegen alle Widrigkeiten zu gewährleisten. Mit den Münzlegenden ­SECURITAS ­POPOLI und ­SECURITAS ­PUBLICA stellen sich Paul V. und Urban VIII. deutlich in eine Reihe mit antiken Kaisern und weltlichen Herrschern, die ihre Leistungen für die öffentliche Wohlfahrt, die 3 4

Simonato, Urbano VIII (wie Anm. 32), S. 280. Simonato, Urbano VIII (wie Anm. 32), S. 421, 19.3. 3 6 Die Zeit der Pest und des Krieges beutelte die Provinzen im Norden, die Bevölkerung war stark dezimiert und die Hungersnot war groß. Umstände, die den Weiterbau der Festung stark behinderten und teilweise zum Erliegen brachten. Bernardino Spada hielt jedoch die Stellung in Bologna und hielt alles daran den Bau voranzutreiben. Karsten, Spada (wie Anm. 26), S. 102–116; Heimbürger-Ravalli, Spada (wie Anm. 25), S. 175–178. Buratti äußert in einem Brief vom 12. September 1629: „E lavorandosi anco in molti altri luogi dentro, e fuori della fortezza, vado facendo tutto quello che humanamente può farsi in questo servitio.“ Zitiert nach Heimbürger-Ravalli, Spada (wie Anm. 25), S. 175.

3 5

Der Festungsstern im Bildmedium 751

Pflege des Kultes bzw. der Religion und nicht zuletzt der Sicherheit des Staates auf Münzen verewigen. Ein Verfahren antiker Münzpolitik, das bereits unter seinen Vorgängern wiederbelebt wurde.37 Für die Sicherheit des Volkes bzw. die öffentliche Sicherheit wurden nun allerdings im Bau befindliche Festungen abgebildet. Die geometrische Perfektion und die dynamisch vorspringende Stern-Struktur stehen hierbei zusätzlich für die Festigkeit und Stabilität der modernen Festungen. Die päpstliche Bildpolitik übernehmend lässt auch der Kardinal Bernardino Spada sich nicht nur mit der Zeichnung der Fortezza Urbana porträtieren, sondern sein Bruder Virgilio Spada plante zudem eine Übernahme dieses Motivs für die projektierte Kapellenausstattung der Familie Spada in St. ­Andrea della Valle in Rom. Für die Basreliefs am Grabmal in der Kapelle schlug ­Virgilio Spada ein Programm vor, das in der Ausstattung der Capella Paolina in St. ­Maria Maggiore sein Vorbild hat. Auf den Reliefs wären nämlich jene Dinge darzustellen, die Seiner Heiligkeit am meisten Gefallen werden, inderselben Weise, wie man in den Kapellen von Sixtus V. und Paul V. in S. Maria Maggiore die Taten der Päpste sieht, von denen sie zu Kardinälen kreiert wurden, wie in jener von Sixtus die Erinnerung an Pius V., und in jener Pauls V. die Erinnerung an Clemens VIII.; und mehr noch, dass in einigen der zu schaffenden Reliefs […] Euer Gnaden [Kardinal Bernardino Spada] als handelnde Person auftritt; etwa könnte man parallel zur Darstellung Pauls V. als Bauherr der Festung Ferrara im Falle Urbans VIII. die Festung Castelfranco [bei Bologna] zeigen, die begonnen und ausgeführt wurde unter Eurer [Bernardino Spadas] Leitung, […]38

Die Zeichnung Virgillio Spadas progetto per parete die capella lässt zwar nur schemenhaft ein Relief mit Festung erkennen.39 Allerdings ist eine Inszenierung des Baus als sternförmige Anlage, wie auch im Gemälde Spadas und in dem Referenzrelief der Capella Paolina in Santa Maria Maggiore äußerst wahrscheinlich. Der Festungsstern wäre also auch hier ein gezielt eingesetztes Motiv für die SECURITAS unter der Ägide Bernardino Spadas gewesen.

III. IN HOC SIGNO TUTA – Sicherheitsversprechen in der Republik Venedig

Dass nicht nur die Päpste und Kardinäle sich dieses Motivs als Sicherheitsversprechen bedienten, bezeugt das Votivbild des Dogen Giovanni Bembos, das er zu Beginn seines Dogats 1615–1618 stiftete (Abb. 33).40

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Satzinger, Baumedaillen (wie Anm. 23), S. 115. Zitiert nach Karsten, Klientel und Reform (wie Anm. 24), S. 181. 3 9 Die Zeichnung ist abgebildet in Karsten, Klientel und Reform (wie Anm. 24), S. 182, Abb. 11. 4 0 Zu den Pflichten eines neugewählten Dogen gehörte es, zu Beginn seines Dogats ein Bild für einen der Ratssäle des Palazzo zu stiften. Es handelte sich dabei für gewöhnlich um ein Porträt des knieenden Dogen mit weiteren Figuren, die als Personifikationen auf die Taten des dargestellten verweisen. Wolfgang Wolters, Der Bilderschmuck des Dogenpa 3 8

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Abb. 33 

Domenico Tintoretto, Votivbild des Dogen Giovanni Bembo (1615–1618), Dogen­ palast in Venedig, aus: Gino Pavan (Hrsg.), Palmanova, fortezza d’Europa 1593–1993, V ­ enedig 1993, S. 88, Nr. 1.

Giovanni Bembos Devotionsbild, Domenico Tintoretto zugeschrieben, nimmt im Andito der Sala del Maggior Consilio die östliche Längswand ein. Es ist um die beiden Eingänge in den Saal des Sitzes der Justizbehörde, und die Sala dell’Armamento, einem Waffensaal, angeordnet und gehört zu den ikonographisch aufwendigsten und bisher kaum entschlüsselten Dogenvotivbildern.41 Das Gemälde ist zwar durch Rahmungen dreigeteilt, dennoch nehmen die einzelnen Bildfelder inhaltlich und auch formal Bezug aufeinander. Die rechte Leinwand nimmt den weitaus größten Raum ein. Es zeigt das eigentliche Votivbild mit der Figur des Dogen, die vor der reich gewandeten und gekrönten Venezia kniet. Zu deren Füßen sitzt der Markuslöwe. Verschiedene Allegorische Figuren mit Kommandostäben in den Händen verweisen auf die Schlachten, die der erfolgreiche Marineoffizier im Dienst der Serenissima führte.42 In jungen Jahren nahm dieser

lastes. Untersuchungen zur Selbstdarstellung der Republik Venedig im 16. Jahrhundert, Wiesbaden 1983, S. 92. 41 „Die Transfiguration zwischen und über den Türen gehört ebenso wie eine in Teilen noch ungedeutete Allegorie links zu dieser ungewöhnlich ausgedehnten Fassade. Giovanni Bembo kniet auf einem Kissen und wird mit dem ‚Cornu Ducale‘, dem Dogenhut, gekrönt. Ein Engel weist ihn auf Christus, ein weiterer auf Venetia, denen beiden er Loyalität schuldet. Die erheblichen künstlerischen Defizite dieser Bilder rechtfertigen eine nur knappe Erwähnung“; Wolters Wolfgang, Der Dogenpalast in Venedig, Ein Rundgang durch Kunst und Geschichte, Berlin/München 2010, S. 131. 42 „[…] con figure simboliche che tengono due bastoni generalizi, a ricordo dei comandi da lui sostenuti […]“, Andrea da Mosto, I Dogi di Venezia, Florenz 2003, S. 340.

Der Festungsstern im Bildmedium 753

bereits an der Schlacht bei Lepanto teil und eroberte dabei drei türkische ­Schiffe.43 Auf dieses zentrale Ereignis für das Selbstverständnis der Serenissima wird im linken Bilddrittel genauer eingegangen. Verknüpft sind die beiden Bildteile durch eine Verkündigung und eine Darstellung Christi als Erlöser. Hauptthema des linken Bildfeldes ist die S­ ECURITAS der Republik Venedig. Doch nicht Venedig selbst tritt hier auf, sondern jene Allegorien und Personifikationen, die die Verteidigungsbereitschaft und den Schutz des Territoriums vertreten. Eines immer wieder von außen bedrohten Gebietes, das die Terraferma auf dem italienischen Festland, die zahlreichen Inseln in der Adria und der Levante bis nach Kreta sowie die Lagunenstadt selbst umfasste. Von einer Säulenarchitektur hinterfangen stehen zwei weibliche Figuren auf einer von Wasser umspülten Mole – links die gekrönte Kreta, die durch das kretische Labyrinth neben ihrem Kopf zu identifizieren ist. Rechts neben ihr, im Zentrum des Bildteils steht die Personifikation Palmanovas, die linke Hand in abwehrender Geste erhoben und in der Rechten ein Schild haltend. Sie ist gerüstet, wie sonst Minerva, die Göttin des Krieges, die auch als Schutzpatronin fungiert und hier die Wehrhaftigkeit und die Verteidigungsbereitschaft Venedigs auf dem Festland verkörpert. Ihre Blicke sind auf St. Giustina gerichtet, die mit einem Palmenzweig in der Hand und dem Dolch in der Brust, über den venezianischen Galeeren schwebt. Sie symbolisiert den Sieg der heiligen Liga über die Türken in der Seeschlacht bei Lepanto – ein historischer Sieg, der allerdings nur kurz den erhofften Frieden brachte. Im Vordergrund trägt ein aus dem Meer steigender, nur mit drappiertem Tuch bekleideter Jüngling eine Galeere und hält an einem Tau eines der Schiffe. Schon die Bildaufteilung spiegelt das Selbstverständnis der Republik Venedig als stato di Terra und stato del mar in ostentativer Weise wider. Die Herrschaft über das Festland und die Inseln repräsentieren die Personifikationen links: Kreta als südlichster Stützpunkt und Palmanova als nördlichste Festung. Die Herrschaft über die Meere wird durch die Galeeren selbst, aber auch durch St. Giustina repräsentiert. Dieses Selbstverständnis der Serenissima als bedeutende Seemacht, als Herrscherin über die Terraferma und Verteidigerin des christlichen Glaubens wird in zahlreichen Bildern und auf Münzen thematisiert.44 Der halb auf dem Land und halb auf dem Wasser stehende Löwe dominierte schon im 15. Jahrhundert die Bildpolitik der Serenissima und verweist auf den Herrschaftsanspruch „über Land und Meer“, der auch außerhalb Venedigs durchschaut wurde, wie ein Zitat Kaiser Maximilians zeigt „Die Venezianer malen ihren Löwen mit zwei Füßen im 4 3 Ebd., S. 337f.

4 4

Wolters, Bilderschmuck des Dogenpalastes (wie Anm. 40), S. 234; David Rosand, Myths of Venice. The Figuration of a State, Chapel Hill 2001, S. 47–51.

754 Marion Hilliges

Meer, den dritten auf dem platten Lande, den vierten im Gebirge. Wir haben den Fuß im Gebirge beinahe ganz gewonnen, es fehlt nur noch an einer Klaue […]; dann denken wir den Fuß auf dem platten Lande auch zu erobern.“45 Auch die Gründungsmedaille Palmanovas zeigt auf dem Avers den Markuslöwen, der mit der linken Vorderpranke auf der Terraferma und mit den Hintertatzen auf dem Meer steht: Verteidigungsbereit hält er das Schwert in seiner Rechten (Abb. 34). Der geflügelte Löwe ist also nicht mit dem Buch dargestellt, wie sonst üblich, sondern mit dem Schwert. Auf die hier demonstrierte neue Verteidigungsbereitschaft Venedigs spielte schon 1509 Niccolo Machiavelli zu Beginn des Krieges gegen die Liga von Cambrai in einem Brief an die Florentiner Regierung an: Man hört, dass die Venezianer in allen Orten, deren sie sich bemächtigen, einen heiligen Markus malen lassen, der statt des Buches ein Schwert in der Hand hält. Es scheint, sie sind durch Schaden so klug geworden, einzusehen, dass zur Behauptung der Staaten Gelehrsamkeit und Bücher nicht hinreichen.46

Und tatsächlich hat Venedig in den folgenden Jahrzehnten mit einem überaus kostspieligen und modernen Festungsbauprogramm erheblich aufgerüstet, die Verteidigung ausgebaut und veraltete Anlagen modernisiert.47 Den Höhepunkt dieses Festungsbauprogramms stellt die wohl berühmteste venezianische Neugründung Palmanova dar, die 1593 zu Beginn des dreizehnjährigen Türkenkrieges in Ungarn (1593–1606) errichtet wurde: „um in dieser Gegend den Staat, und die Gebiete Italiens zu sichern: dieser Art, dass der Feind in keinem Fall passieren kann.“ wie Vincenzo Scamozzi in seiner L’idea della Architettura Universale näher erläutert.48

4 5

Brief Kaiser Maximilians vom 1. 3. 1507 an den Kurfürsten von Sachsen. Zitiert nach ­Wolters, Bilderschmuck des Dogenpalastes (wie Anm. 40), S. 234. 4 6 Niccolo Machiavelli, Gesammelte Schriften in 5 Bänden, hrsg. von Hanns Floerke, Bd. 2, München 1925, S. 470. 47 Marion Hilliges, Das Stadt- und Festungstor. Fortezza und Sicurezza – Die semantische Aufrüstung im 16. Jahrhundert, Berlin 2011, S. 135–142; zur Aufrüstung der Verteidigung s. auch Stefan Schweizer, Städtische Repräsentation und Dogen-Ikonographie. Die Selbstdarstellung der Republik Venedig in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadttoren Trevisos, Paduas und Veronas, in: Concilium medii aevi 6 (2003) und Ennio Concinna, La macchina territoriale. La progettazione della difesa nel Cinquecento veneto, Rom/Bari 1983. 4 8 „Onde à questo effetto la Serenissima Signoria di Venetia, concluse di fare la nuoua fortezza di Palma, trà Vdine, & i Paludi verso il mare, nello spacio di 26. miglia, e dieci verso i monti d’Vdine, per gli eminenti pericoli, che soprastauano delle guerre d’Hungaria, e per assicurare in quella parte lo Stato, e le parti d’Italia: di modo, che in ogni occasione il nemico non potrebbe passare, se non con l’assalire, ouero esser assalito, e forsi ributtato

Der Festungsstern im Bildmedium 755

Abb. 34 Gründungsmedaille

Palmanovas (44,3 mm, versilbertes Kupfer), 1593, Markuslöwe, Revers: Emblem Palmanovas, Museo Bottacin, Padua, aus: Gino Pavan (Hrsg.), Palmanova, fortezza d’Europa 1593-1993, Venedig 1993, S. 152, Nr. 33.

Als Schutzwehr an der Nordgrenze des Veneto, aber auch als Bollwerk der Christenheit gegen die ungläubigen Türken, wurde die Festungsstadt unter ungeheuerlichen Anstrengungen errichtet und prägte seitdem in ganz besonderer Weise die Bildpolitik der Republik. Erstmals wird das Signum Palmanovas auf die Gründungsmedaille von 1593 geprägt. Das Revers zeigt den neunzackigen Festungsstern mit einem hoch aufragenden Kreuz im Zentrum der Anlage. Darun­ter steht der Name der neuen Gründungsstadt Palma – die Palme als Symbol des Sieges und des Friedens im Namen des Glaubens. Die Münzlegende Foriiulii Italiae et Christianae Fidei Propugnaculum (Schutzwall des italienischen Friaul und des christlichen Glaubens) und darunter: In hoc signo tuta (schütze uns in diesem Zeichen) lässt keinen Zweifel an der Funktion und der Bestimmung Palmanovas aufkommen. Die Festung ist die „macchina bellica“, die in der Lage ist die Christenheit gegen die Ungläubigen zu schützen. Die deutliche Anspielung auf In hoc signo vinces und das Kreuz im Zentrum des Festungssterns beschwören geradezu die Sicherheit, den Schutz, die die neue Glaubensfestung zu gewähren vermochte. In dem besprochenen Bildteil des Dogenvotivbildes ist die Festung Palmanova äußerst präsent inszeniert. Das Schild, das die Personifikation Palmanovas in der rechten Hand hält, zeigt den sternförmigen Grundriss der Fesall’indietro.“ Vincenzo Scamozzi, L’ Idea Della Architettvra Vniversale. Diuisa in X. Libri (Bd. 1), Venedig 1615 [Cicognara Nr. 651], S. 160.

756 Marion Hilliges

Abb. 35 

Zeichnung eines geplanten Freudenfeuerwerks zum erwarteten Einzug Phillips II. 1551 in Nürnberg, Bildsammlung Nr. 35.2, aus: Anna Steins, Gespielte Ernstfälle. Wehrbauten als Feuerwerksarchitekturen im 16.–18. Jahrhundert, in: Günter Bers/Conrad Doose (Hrsg.), „Italienische“ Renaissancebaukunst an Schelde, Maas und Niederrhein, Tagungshandbuch des II. Jülicher Pasqualini-Symposiums 1998, Jülich 1999, S. 249–269, hier S. 258, Abb. 3.

tungsstadt. Als neunzackiger Stern mit einem feinmaschigen Netz aus geraden Achsen und Radialen Verbindungsstraßen prangt dieses Symbol städtebaulicher und militärischer Perfektion auf dem Schild der Palmanova. Im Zentrum des Netzes, auf das alle Achsen zulaufen steht das Kreuz der Christenheit. Der Festungsstern Palmanovas ist hier aber nicht nur als rein militärisches Bollwerk, als Kriegsmaschine zu verstehen, sondern er ist das moderne Sicherheitsversprechen. Er ist das Symbol für den Schutz der Christenheit vor den Osmanen. Der Symbolwert der pfeilförmigen Bastion als christliches Zeichen ist bisher kaum untersucht, auffällig ist allerdings, dass die Osmanen ihre Städte weiterhin mit Rondellen befestigten, während die Bastion sich in weiten Teilen Europas bereits in der Mitte des 17. Jahrhundert annähernd flächendeckend durchgesetzt hatte. Überaus aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang die Gegenüberstellung von zwei Festungsmodellen in einem Freudenfeuerwerk, das 1551 zum erwarteten Einzug des spanischen Königs Phillip II., dem Sohn und Nachfolger Karls V., in

Der Festungsstern im Bildmedium 757

Nürnberg abgefeuert werden sollte (Abb. 35).49 Geplant war ein heftiges Feuergefecht zwischen einer kaiserlich-christlichen Festung mit fünf Bastionen und einer osmanischen Burganlage, die mit Rondellen bewehrt war. Durch das Kaiserliche Banner mit Reichsadler und die Sichelmondflagge wurden die Festungen eindeutig zugeordnet. Eine symbolische Auseinandersetzung zwischen Christentum und ,muslimischem Irrglauben‘, aus der der wahre Glauben repräsentiert durch eine bastionierte sternförmige Festung siegreich hervorgehen würde. Da Phillip II. Nürnberg zu diesem Anlass dann doch nicht besuchte, wurde das beschriebene Feuerwerksensemble erst 20 Jahre später für den Besuch Kaiser Maximilians II. aus dem Depot hervorgeholt, diesmal tatsächlich aufgebaut und die Feuerwerksschlacht wurde mit lautem Getöse durchgeführt.50 Der mit dem Zirkel, nach euklidischen Axiomen konstruierte Festungsstern hat, wie an den Beispielen Ferraras, Bolognas und Palmanovas gezeigt werden konnte, die Tugendallegorie und Personifikation der SECURITAS in der herrscherlichen Bildpolitik des frühen 17. Jahrhundert weitgehend abgelöst. Die geometrische Perfektion der Befestigungsanlagen war weit besser geeignet das mathematische Kalkül der modernen Kriegsführung zu inszenieren.51 Der Festungsstern avancierte so zum Zeichen des militärischen Triumphes aber auch zum Inbegriff für Schutz und Sicherheit in der Frühen Neuzeit.

4 9

Anna Steins, Gespielte Ernstfälle. Wehrbauten als Feuerwerksarchitekturen im 16. – 18. Jahrhundert, in: Günter Bers/Conrad Doose (Hrsg.), „Italienische“ Renaissancebaukunst an Schelde, Maas und Niederrhein, Tagungshandbuch des II. Jülicher Pasqualini-Symposiums 1998, Jülich 1999, S. 249–269, hier S. 257–259. 5 0 Steins, Feuerwerksarchitekturen (wie Anm. 49), S. 258. 51 S. hierzu auch Wolfgang Schäffner, Diagramme der Macht: Festungsbau im 16. und 17. Jahrhundert, in: Cornelia Jöchner (Hrsg.), Politische Räume. Stadt und Land in der Frühneuzeit, Berlin 2003, S. 133–144; Steins, Feuerwerksarchitekturen (wie Anm. 49), S. 269.

Thomas Küntzel

Verfallende Zeichen innerer Wehrhaftigkeit: Mittelalterliche Sperrketten in der (frühen) Neuzeit Obwohl das Thema Sperrketten in der neueren stadtgeschichtlichen Literatur kaum Beachtung findet, spielte diese Einrichtung bei der Verteidigung und für die innere Sicherheit der mittelalterlichen und neuzeitlichen Städte eine wichtige Rolle.1 Natürlich boten die Ketten nicht allein wirksamen Schutz, sondern erst zusammen mit Wachtruppen, die von den Bürgern selbst gestellt wurden. Diese Bürgerwehren bildeten das Rückgrat städtischer Wehrhaftigkeit. Gestaffelt nach ihrem Vermögen mussten die Bürger sich mit Angriffs- und Schutzwaffen ausstatten und selbst aktiv an den Wachdiensten teilnehmen (nur die Reichen konnten es sich leisten, Stellvertreter zu schicken).2 Sollte der Feind erst in die Stadt eingedrungen sein, dienten die Sperrketten als innerstädtisches Hindernis, um sein rasches Vordringen zu verhindern. Neben der Abwehr äußerer Gefahr sollten die Ketten aber auch Zunftunruhen gegen die Ratsherrschaft ausbremsen, die im späten Mittelalter eine häufige Erscheinung waren. Zur Abgrenzung gegen die „mittellose Unterklasse“ der Städte im eigentlichen Sinn – eine Funktion, die Ernst Schubert in den Vordergrund stellte3 – dienten die Ketten eher in zweiter Linie; zumindest gibt es kaum Belege hierfür. Sie waren jedoch, und dies ist wiederum meist übersehen worden, ein Symbol der städtischen Freiheit gegenüber dem Stadtherren, dessen Zugriff auf die Stadt durch die Ketten zum Teil erheblich eingeschränkt wurde – dementsprechend vehement gingen die Stadtherren gegen die Ketten in den Städten vor. 1

Als seltene Ausnahme sei Hartmut Boockmann, Die Stadt im späten Mittelalter, 3. Aufl. München 1994, Abb. 58, genannt. 2 Vgl. etwa Brigitte Wübbeke-Pflüger, Stadtbefestigung und Stadtbewachung. Grundstrukturen der städtischen Sicherheitsorganisation im späten Mittelalter, in: ­Gabriele Isenberg/ Barbara Scholkmann (Hrsg.), Die Befestigung der mittelalterlichen Stadt (Städteforschung, Reihe A, 45), Köln/Weimar/Wien 1997, S. 45–58; Joachim Ehlers, Die Wehrverfassung der Stadt Hamburg im 17. und 18. Jahrhundert (Wehrwissenschaftliche Forschungen. Abteilung Militärgeschichtliche Studien 1), Boppard 1966; Jürgen Kraus, Das Militärwesen der Reichsstadt Augsburg 1548–1806. Vergleichende Untersuchungen über städtische Militäreinrichtungen in Deutschland vom 16.-18. Jahrhundert (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 26), Augsburg 1980, S. 74; Joseph Biergans, Die Wohlfahrtspflege der Stadt Aachen, Aachen 1909, S. 115. Die Idee zu diesem Vortrag geht auf eine Erfassung der Kettenhaken in Lüneburg zurück, die der Verfasser zusammen mit Dr. Carola Dietze 2003 durchführte. Ihr sei an dieser Stelle für die begeisterte Mitsuche herzlich gedankt! 3 Ernst Schubert, Erscheinungsformen der Armut in der spätmittelalterlichen deutschen Stadt, in: Helmut Bräuer/Elke Schlenkrich (Hrsg.), Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag, Leipzig 2001, S. 659–697, bes. S. 689.

Mittelalterliche Sperrketten in der (frühen) Neuzeit 759

Der Titel „Verfallende Zeichen innerer Wehrhaftigkeit“ ist im Hinblick auf den zeitlichen Schwerpunkt der Tagung, die Neuzeit, durchaus mehrdeutig gemeint: Er bezieht sich auf die schwindende Bedeutung der Bürgerwehr seit dem Dreißigjährigen Krieg, in deren Zuge auch die Ketten vielerorts abgebaut wurden, aber auch auf die Relikte dieser Ketten, nämlich die Haken und Ösen, die in den Hauswänden befestigt waren und nurmehr in wenigen Städten noch existieren.4 Wenn ihre letzten Spuren nicht bald erfasst und unter Schutz gestellt werden, ist es um sie geschehen, noch bevor sie hinreichend untersucht wurden. Im Folgenden werden sowohl mittelalterliche wie neuzeitliche Quellenbeispiele gebracht, um das Phänomen in seiner Gesamtheit angemessen zu würdigen. Die Ketten sind primär eine mittelalterliche Einrichtung und aus dieser Epoche liegen zahlreiche Hinweise zu ihrem Gebrauch vor. Es gibt nur wenige Darstellungen, die die Ketten oder die zugehörigen Pfosten in den Städten wiedergeben.5 Auf einer Darstellung des Perlachplatzes in Augsburg von 1711 ist rechts neben dem Rathaus in der Gasse „Eisenberg“ eine Kette zu erkennen, die auf einer Seite an einem Eckhaus befestigt ist, am anderen Ende 4

So waren 2003 in Lüneburg noch Reste von acht Sperren erhalten, Hans Dumrese, Die mittelalterlichen Straßensperren in Lüneburg, in: Lüneburger Blätter 9 (1958), S. 9–20, Nr. 31: Lüner Straße 1/2; Nr. 32: Lüner Straße 5/6; Nr. 26: Auf dem Kauf 9 – Ecke Lüner Straße; Nr. 23: Stintmarkt 7 – Ecke Lüner Straße/ Salzstraße am Wasser 2; Nr. 71: Papenstraße – am Berge – Glockengießerstraße; Nr. 3: Reitende Dienerstraße 7 bzw. Hinter der Bardowicker Mauer; Nr. 44: Techt – Ecke Görgesstraße – Johann-Sebastian-Bach-Platz 3; Nr. 36: Große Bäckerstraße 9; vgl. Edgar Ring, Die Befestigung der Stadt Lüneburg, in: Manfred Gläser (Hrsg.), Die Befestigungen (Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum VII), Lübeck 2010, S. 479–492, bes. S. 489. Nicht mehr vorhanden waren die Nummern 33 und 72, die im Plan von Dumrese, Straßensperren (wie Anm. 4) noch als vorhanden verzeichnet sind. In Lübeck sollen nach freundlicher Mitteilung von Rolf ­Hammel-Kiesow, Lübeck, vom 24. März 2010 noch fünf Haken in situ zu sehen sein (an den Pastorenhäusern von St. Jacobi, an der Nordwand der St.-Katharinen-Kirche, an der Schiffergesellschaft und an den Nordwestecken der Straßen Alfstraße und Kleine Göpelgrube; letztere konnten jedoch vom Verfasser bei einer Ortsbesichtigung am 29. August 2010 nicht aufgefunden werden). Für Regensburg verzeichnete Karl Theodor Pohlig zu Beginn des 20. Jahrhunderts 17–18 Haken und Ringe, die noch erhalten waren (Karl Theodor Pohlig, Kulturgeschichtliches aus Alt-Regensburg: Straßenabsperrungen, in: Verhandlungen des historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 68 (1918), S. 155–170, bes. S. 163ff.); für sechs bis sieben weitere Haken lässt sich die Position rekonstruieren. Gunnar Möller, „… und erbauten die überaus reiche und stark befestigte Stadt Stralsund …“. Stadtbefestigungen und Adelshöfe im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stralsund, in: Gläser, Die Befestigungen (wie Anm. 4), S. 385–405, bes. S. 393f., nennt für Stralsund einen Haken an der Ecke Frankenstraße/Jakobiturmstraße. 5 Vgl. etwa zu Nürnberg Ernst Mummenhoff, Die Kettenstöcke und andere Sicherheitsmaßnahmen im alten Nürnberg, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 13 (1899), S. 1–52, bes. S. 28.

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Abb. 36 

Augsburg. Rathaus mit Sperrkette in der Gasse Eisenberg auf einem Kupferstich von Heinrich Jonas Ostertag, aus: Friedrich Blendinger u. a., Augsburg. Geschichte in Bilddokumenten, München 1976, Abb. 207.

Mittelalterliche Sperrketten in der (frühen) Neuzeit 761

aber an einem sogenannten Kettenstock hängt (Abb. 36).6 Neben diesem Pfosten bleibt ein Zwischenraum zum Rathaus frei, der Einzelpersonen das Passieren der Sperre gestattet. Zum Teil waren die Ketten auch an zwei Pfosten oder beidseits an den Häusern angebracht; in Nürnberg standen angeblich bis zu sechs Pfosten nebeneinander.7 Zum besseren Schutz sind überdies zwei oder, selten, sogar drei Ketten hintereinander angebracht worden. Der seitliche Durchlass auf der Augsburger Darstellung belegt, dass es vor allem darum ging, größere Menschengruppen, Reiter und Wagen aufzuhalten, und weniger um eine absolute Absperrung der Straße.8 Die meiste Zeit waren die Ketten überdies nicht über die Straße gespannt, sondern hingen in einem Haken an dem Haus, an welchem sie befestigt waren. Schlüssel und Schloss zu der Kette wurden von dem Bewohner dieses Hauses verwahrt, der durch den Rat auf diese Aufgabe vereidigt war.9 Dies zeigt, wie eng die Straßensperrketten mit der typisch mittelalterlichen Bürgerwehr verknüpft waren: Nicht nur die Wachdienste, sondern auch die Kontrolle der Straßensperren war dezentral über die Bürgerschaft als Ganzes organisiert. Allerdings stand dem Rat der Stadt üblicherweise die Entscheidung zu, wie lange die Ketten gespannt blieben. Auf einer weiteren Darstellung aus Augsburg ist ein Pfosten am Domkreuzgang vor dem Frauentor zu erkennen (Abb. 37). Er befindet sich an der Einfahrt zu einer Nebenstraße, was als typische Position für die Sperrketten betrachtet werden kann.10 Auch auf einer Ansicht des Marktplatzes von Nürnberg ist ein Kettenstock abgebildet (Abb. 38).11 Die Pfosten waren dort ursprünglich 1 Fuß dick (ca. 30 cm), wurden aber 1504 durch doppelt so dicke Pfosten aus Eichenholz ersetzt, weil die alten Pfosten relativ rasch verfaulten. Die neuen Pfosten sollten immerhin 20–30 Jahre halten.12 Die geringe Haltbarkeit hölzerner Sperren war wohl auch der Anlass, weshalb in Lüneburg seit dem 15. Jahrhundert etliche Schlagbäume durch Ketten ersetzt wurden.13

6 Friedrich

Blendinger u. a., Augsburg. Geschichte in Bilddokumenten, München 1976, Abb. 207. 7 Mummenhoff, Kettenstöcke (wie Anm. 5), S. 28. 8 Vgl. zu Lüneburg Dumrese, Straßensperren (wie Anm. 4), S. 9. 9 Rolf Rosenbohm, Die Straßensperren in den niederdeutschen Städten. Ein Beitrag zum Befestigungswesen der mittelalterlichen Stadt, in: Lüneburger Blätter 9 (1958), S. 21–37, bes. S. 34. 10 Blendinger u. a., Augsburg (wie Anm. 6), Abb. 259. 11 Gerhard Pfeiffer/Wilhelm Schwemmer, Geschichte Nürnbergs in Bilddokumenten (Textband: Nürnberg, Geschichte einer europäischen Stadt), München 1970, Abb. 25. 12 Karl Hegel, Die Chroniken der fränkischen Städte: Nürnberg, Bd. 5 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 11), Leipzig 1874, S. 670; vgl. Mummenhoff, Kettenstöcke (wie Anm. 5), S. 18f. 13 Dumrese, Straßensperren (wie Anm. 4), S. 19.

762 Thomas Küntzel

Abb. 37 

Augsburg. Frauentor mit Kettenstock in der Kornhausgasse am Domkreuzgang (links), Kupferstich von Simon Grimm um 1680, aus: Friedrich Blendinger u. a., Augsburg. Geschichte in Bilddokumenten, München 1976, Abb. 259.

Eine Kette selbst hat sich meines Wissens überhaupt nur im städtischen ­Museum Göttingen erhalten.14 Die Göttinger Kette besitzt eine Länge von 5,6 m, wobei sich nur an einem Ende der Einhängehaken erhalten hat. Sie kann also ursprünglich länger gewesen sein. Die 40 Kettenglieder sind achtförmig mit je zwei Ösen ausgeschmiedet. Für Augsburg ist überliefert, dass man 1488 zum Schmieden von 20 Ketten 10 Zentner und 9 Mark Eisen benötigte, das sind etwa 493 kg oder knapp 25 kg für je eine Kette.15 In einigen Städten existieren noch einige Haken und Ösen (oder Krampen) zum Aufhängen der Ketten, etwa in Lübeck und Lüneburg.16 Es handelt sich in Lüneburg um rechteckige Eisenhaken, in welche

14

Sven Schütte, Kat. Nr. 120: Kette. Göttingen, in: Cord Meckseper (Hrsg.), Stadt im Wandel. Ausstellungskatalog Braunschweig 1, Stuttgart 1985, S. 184. 15 Die Chroniken der schwäbischen Städte: Augsburg, Bd. 4 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 23), Leipzig 1894, S. 47 Anm. 2. 16 Bei der Aufnahme der verbliebenen Kettenhaken war mir Dr. Carola Dietze, Gießen, behilflich.

Mittelalterliche Sperrketten in der (frühen) Neuzeit 763

Abb. 38 

Nürnberg. Kettenstock am Hauptmarkt, um 1600/1605 (links), Kupferstich von Simon Grimm um 1680, aus: Friedrich Blendinger u.a., Augsburg. Geschichte in Bilddokumenten, München 1976, Abb. 259.

die Ketten normalerweise (also in Friedenszeiten) eingehängt waren, sowie um Ösen, die die gespannten Ketten hielten (Abb. 39). Die Haken und Ösen waren in einer Höhe von 1–1,8 m in den Hauswänden vermauert. Mehrere Ösen sind auch in Lübeck zu besichtigen, zum Beispiel am St.-Jacobi-Pastorenhaus, an der Schiffergesellschaft und an der Katharinenkirche (Abb. 40). Sie tragen das Zeichen des städtischen Bauhofes, was wohl für ihre „Echtheit“ und Unantastbarkeit bürgen soll.17 Anders als in Lüneburg handelt es sich bei den Ösen um L-förmig gebogene Schlingen, in welche zugleich die Ketten angeschlossen und übergehängt werden konnten. Die Form der Ösen und Ketten, aber auch die Qualität des Eisens wurde offenbar auch in anderen Städten so hoch bewertet, dass die Stadt Basel etwa 1433/34 extra fünf Ketten aus Nürnberg kommen ließ – obwohl sie selbst schon mindestens seit 1375 eigene Kettensperren besaß.18 Anlass zum Schließen der Ketten boten Unruhen, Feuer und andere Gefahren. Das Aufspannen musste nach dem Schlag der Sturmglocke oder dem Hornsignal des Turmwächters erfolgen.19 In einigen Städten, etwa in Aachen,

17 Inv. Lübeck 1.1: Die Bau- und Kunstdenkmäler der Hansestadt Lübeck, 1.1: Hugo Rahtgens/

Friedrich Bruns, Stadtpläne und -Ansichten, Stadtbefestigung, Wasserkünste und Mühlen, Lübeck 1939, S. 280; in Lüneburg trugen auch Schlagbäume die Marke des Rates, Dumrese, Straßensperren (wie Anm. 4), S. 20; vgl. zu Regensburg Pohlig, Kulturgeschichtliches (wie Anm. 4), S. 161f. 18 Bernhard Harms, Der Stadthaushalt Basels im ausgehenden Mittelalter, 1. Abteilung: Die Jahresrechnungen 1360–1535, 2: Die Ausgaben 1360–1490, Tübingen 1910, S. 190; Daniel Albert Fechter, Topographie mit Berücksichtigung der Cultur- und Sittengeschichte, in: Basel im vierzehnten Jahrhundert. Geschichtliche Darstellungen zur fünften Säcularfeier des Erdbebens am S. Lucastage 1356, Basel 1856, S. 1–146, bes. S. 121 Anm. 2; vgl. zu den Ketten in Basel August Bernoulli, Basels Stadtbewachung und Verteidigung im Mittelalter, in: BaslerZ 17 (1918), S. 316–343, bes. S. 323f. 19 Rolf H. Rosenbohm, Die Straßensperrketten in Hamburg. Ein Beitrag zum mittelalterlichen städtischen Wehrwesen, in: Hamburgische Geschichts- und Heimatblätter 17, 2 (1958), S. 134–142, bes. S. 135.

764 Thomas Küntzel

Abb. 39 

Kettenhaken in Lüneburg

Abb. 40 

Kettenhaken in Lübeck

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Braunschweig und Köln, waren besoldete und dem Rat vereidigte Stadtwächter mit dem Schließen der Ketten beauftragt. Das vorzeitige oder verspätete Schließen wurde in Köln Ende des 17. Jahrhunderts mit Bußgeldern geahndet.20 Während des sogenannten „Prälatenkrieges“ in Lüneburg, einer Auseinandersetzung um die Besteuerung der Sülzprälaten, übergab der Rat 1454 die Schlüssel zu den Ketten und Stadttürmen einem bürgerlichen Ausschuss, der während der Krise mit den Prälaten verhandelte. Symbolisch und faktisch übertrug er damit die Kontrolle der Stadt diesem Gremium.21 Die Zahl der Kettensperren in den Städten variiert erheblich. An der Spitze steht Nürnberg mit zeitweise 420 Sperrketten sowie 424 Schlössern (um 1462–75).22 In Hamburg existierten 133 Sperren (angeblich sollen es 203 gewesen sein; die Zahl der Ringe an den Häusern belief sich aber im Jahre 1740 auf 152, die Zahl der Pfähle auf 119), in Stralsund 128 Ketten (1678), in Lübeck 116 (1614), in Braunschweig 78 Sperrketten und 35 Schlagbäume (um 1420), in Lüneburg 73 Sperren (1666) und in Trier 34 Sperrketten und acht Schlagbäume (1572).23 Da diese Werte meist auf späteren Visitationsprotokollen beruhen, als viele Ketten und Sperren bereits verschwunden waren, mag die ursprüngliche Zahl der Kettensperren jeweils noch höher gewesen sein.24 Im Mittelalter achtete der Rat darauf, dass beim Umbau eines Hauses der Haken wieder an seine passende Stelle kam oder dass ersatzweise ein Pfahl gesetzt wurde. Dies veranschaulicht ein entsprechendes Gesuch des Göttinger Ratsherren Hans von Oldendorp aus dem Jahre 1456.25 Seit dem 17. Jahrhundert 20

Hans-Peter Korsch, Das materielle Stadtrecht der Stadt Köln vom Ausgang des Mittelalters bis in die Neuzeit, Köln 1958, S. 32; Rosenbohm, Straßensperren (wie Anm. 9), S. 34; Ludwig Haenselmann, Die Chroniken der niedersächsischen Städte: Braunschweig, Bd. 1 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 6), Leipzig/Göttingen 1868, Nachdruck 1962, S. 244 mit Anm. 1; Biergans, Wohlfahrtspflege (wie Anm. 2), S. 114f. 21 Wilhelm Reinecke, Die Chroniken der niedersächsischen Städte: Lüneburg (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 36), Stuttgart 1931, S. 352 (Chronik vom Prälatenkrieg); vgl. Dumrese, Straßensperren (wie Anm. 4), S. 17; zur Bildung und Stellung des 60er-Ausschusses Heiko Droste, Schreiben über Lüneburg. Wandel von Funktion und Gebrauchssituation der Lüneburger Historiographie (1350 bis 1639) (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 195), Hannover 2000, S. 88, S. 150f. 22 Mummenhoff, Kettenstöcke (wie Anm. 5), S. 18. 23 Rosenbohm, Straßensperren (wie Anm. 9), S. 34; Rosenbohm, Straßensperrketten (wie Anm. 19), S. 139; W. Brehmer, Beiträge zu einer Baugeschichte Lübecks. 5. Die Befestigungswerke Lübecks, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 7 (1898), S. 341–498, bes. S. 476; Möller, Stadtbefestigungen (wie Anm. 4), S. 394; Dumrese, Straßensperren (wie Anm. 4), S. 9. 24 Dumrese, Straßensperren (wie Anm. 4), S. 18. 25 Hartmut Boockmann, Leben und Sterben im mittelalterlichen Göttingen. Über ein Testa­ ment des 15. Jahrhunderts, in: Göttinger Jahrbuch 31 (1983), S. 73–94, bes. S. 87.

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kam es immer häufiger vor, dass die Ösen und Haken bei Neubauten verschwanden, wie neuzeitliche Visitationsprotokolle belegen. Diese Protokolle wurden etwa in Hamburg, Lüneburg und Lübeck erstellt, bevor man die Sperrketten schließlich ganz abschaffte.26 Zu ihrer „Blütezeit“ im späten Mittelalter bzw. der frühen Neuzeit waren häufig die Wachführer der einzelnen Stadtviertel für die Funktionsfähigkeit der Sperrketten verantwortlich, etwa in Augsburg oder Hamburg. In Köln hatten die Rentmeister Mitte des 15. Jahrhunderts vierteljährlich die „Schlüssigkeit“ der Ketten zu prüfen.27 Die Stabilität der Ketten wurde in Nürnberg durch Schwingen kontrolliert.28 Da sich die Haken und Ösen nur ausnahmsweise erhalten haben, sind die wichtigsten Quellen zur Erforschung der Kettensperren vor allem Kämmereiregister, in denen Ausgaben für Ketten erwähnt sind (wie aus Aachen, Braunschweig, Göttingen, Hamburg, Köln, Nijmegen, Trier) sowie die erwähnten Visitationsprotokolle, die insbesondere aus dem 18. Jahrhundert erhalten sind, ausnahmsweise aber schon um 1400 angefertigt wurden, etwa in Köln.29 26

Dumrese, Straßensperren (wie Anm. 4), S. 10ff.; Rosenbohm, Straßensperrketten (wie Anm. 19), S. 139f. 27 Walther Stein, Akten zur Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 10), Bd. 2, Bonn 1893–1895, Ndr. Bonn 1993, S. 368. 28 Mummenhoff, Kettenstöcke (wie Anm. 5), S. 21. 29 Rosenbohm, Straßensperren (wie Anm. 9), S. 22ff.; zu Aachen Johannes Theodor Laurent, Aachener Zustände im 14. Jahrhundert, auf Grund von Stadtrechnungen, nach den Stadtarchiv-Urkunden. Mit Einleitung, Registern und Glossar, Aachen 1876, S. 127 Z. 38f., S. 245 Z. 36, S. 223 Z. 11–14; vgl. auch Biergans, Wohlfahrtspflege (wie Anm. 2), S. 114; Kraus, Militärwesen (wie Anm. 2), Nr. 26, 451, 452; zu Basel Harms, Stadthaushalt Basels (wie Anm. 18), S. 190f.; Garzmann, Manfred R. (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Braunschweig, Bd. 5: 1351–1360 mit Nachträgen (Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter 17; Braunschweiger Werkstücke 88; Braunschweiger Werkstücke, Reihe A: Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek 36), Hannover 1994, Nr. 166; Josef Dolle (Bearb.), Urkundenbuch der Stadt Braunschweig, Bd. 7: 1375–1387 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 215), Hannover 2003, Nr. 246 S. 231, Nr. 805 S. 697, Nr. 856 S. 753; zu Göttingen im Stadtarchiv etwa das Kämmereiregister, Ka 1, 86, zu 1485/86 (freundlicher Hinweis D. Neitzert, Göttingen); zu Hamburg Karl Koppmann, Kämmereirechnungen der Stadt Hamburg, 1: 1350–1400, Hamburg 1869, S. 111, 464; ders., Kämmereirechnungen der Stadt Hamburg, 3: 1471–1500, Hamburg 1878, S. 270; dazu Rosenbohm, Straßensperrketten (wie Anm. 19), S. 137; zu Köln Richard Knipping, Die Kölner Stadtrechnungen des Mittelalters mit einer Darstellung der Finanzverwaltung, Bd. 2, Bonn 1898, S. 19, 20, 50; Stein, Akten (wie Anm. 27), Bd. 2, S. 72ff., Nr. 63, S. 95ff., Nr. 79; Rosenbohm, Straßensperrketten (wie Anm. 19), S. 138ff.; zu Lübeck Brehmer, Beiträge zu einer Baugeschichte (wie Anm. 23), S. 474ff.; zu Nijmegen Herman Diederik Johan van Schevichaven/Jean Chrétien Joseph Kleijntjens, 1382–1427, in: Stadsrekenboeken van der Stad Nijmegen 1352–1543, Bd. 1, Nijmegen 1910, S. 31; zu Trier Gottfried Kentenich, Trierer Stadtrechnungen des Mittelalters, Heft 1: Rechnungen

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Augsburg gehört zu den Städten, die als letztes nachweislich Sperrketten einführten: Im August 1488 wurden in der Stadt nach einer chronikalischen Notiz die Ketten in den Straßen angebracht.30 Aus den Kämmereiregistern geht hervor, dass es sich zunächst am 9. August um 24 Schlösser und am 23. August um 20 Ketten handelte.31 Zu dieser Zeit hatte die Stadt unbestreitbar den Status einer freien Reichsstadt erlangt; kurz zuvor, 1486, verlegte der Augsburger Bischof Friedrich von Zollern endgültig seine bevorzugte Residenz nach Dillingen.32 In anderen Städten reicht die Einrichtung der Sperrketten meist weiter in das 14. Jahrhundert, teilweise sogar in das 13. Jahrhundert zurück. In Parma wurden 1248 zwei wichtige Brücken mit Ketten versperrt, nachdem die Bürger einen Angriff Kaiser Friedrichs II. abgeschlagen hatten. Die Ketten in den Straßen der Stadt selbst wurden allerdings erst 1317/18 angebracht. Bereits 1331 mussten sie auf Verlangen König Johanns von Böhmen wieder abmontiert werden.33 Relativ alte Belege für bürgerliche Sperrketten stammen aus Köln, wo auch die lebendigsten Quellenzeugnisse vorliegen. Schon 1263 und 1287 werden hier in den Schreinsbüchern Häuser erwähnt, in denen Ketten aufbewahrt wurden bzw. bei denen Ketten hingen (Abb. 41, Nr. 12, 24).34 In der um 1271 abgeschlossenen Reimchronik der Stadt Köln werden die Kämpfe zwischen den Geschlechtern und den Handwerksbruderschaften geschildert, darunter zwei Gefechte an Sperrketten, die sich wohl 1265 in der Weißbüttengasse und 1268 in der Nähe der Kornpforte

des 14. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Gesellschaft für trierische Geschichte und Denkmalpflege 1), Trier 1908, S. 69, 76, 89. 30 Chroniken der schwäbischen Städte: Augsburg, Bd. 4 (wie Anm. 15), S. 47; Die Maßnahme erfolgte unter dem Vorzeichen des drohenden Konflikts mit den bayerischen Herzögen, Jörg Rogge, Für den Gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikverständnis von Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter (Studia Augustana 6), Tübingen 1996, S. 99; vgl. allgemein Kraus, Militärwesen (wie Anm. 2), S. 117. 31 Chroniken der schwäbischen Städte: Augsburg, Bd. 4 (wie Anm. 15), S. 47 Anm. 2. 32 Rolf Kießling, Augsburg zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Gunther Gottlieb u. a. (Hrsg.), Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984, S. 241–251, bes. S. 241. 33 Rerum Italicarum Scriptores. Raccolta degli storici italiani dal cinquecento al millecinquecento. Nuova edizione riveduta ampliata e corretta, hrsg. v. L. A. Muratori/ G. ­Carducci/V. ­Fiorini, IX. 9: Giuliano Bonazzi, Chronicon Parmense ab anno MXXXVIII usque ad annum MCCCXXXVIII, Città di Castello 1902, S. 18, 154, 156, 213. 34 Vgl. Hermann Keussen, Topographie der Stadt Köln im Mittelalter (Preisschriften der Mevissen-Stiftung 2), Ndr. Düsseldorf 1986 (zuerst 1918), S. 18 (Follerstraße III, a24), S. 24 (Holzmarkt V, b4); die Stadt Köln erlangte in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Wehrhoheit, eine wichtige Voraussetzung für das Aufspannen der Ketten, vgl. Edith Ennen, Erzbischof und Stadtgemeinde in Köln bis zur Schlacht von Worringen (1288), in: Franz Petri (Hrsg.), Bischofs- und Kathedralstädte des Mittelalters und der Neuzeit (Städteforschung, Reihe A, 1), Köln/Wien 1976, S. 24–46, bes. S. 38.

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abgespielt haben (beides im südlichen Stadtteil Airsburg, Abb. 41, Nr. 1, 83).35 Die Weißbüttengasse soll von 1 000 Mann der „Gemeine“ besetzt gewesen sein, aber die anreitenden Anführer der Geschlechter (deren Truppe nur 200 Mann zählte) hauten mit „Manneskraft“ die Kette entzwei, die vor die Gasse gelegt worden war.36 Eine weitere Kette am anderen Ende der Gasse wurde durch Waltem van der Aducht in wildem Galopp gesprengt.37 Bei einem weiteren Zusammenstoß der Overstolzen mit den „Weisen“ 1268 wurde der Kampf mit dem Zerbrechen der Kette am Haus des Greven Hermann von der Kornpforte eingeleitet.38 In diesen Textstellen spielen Kettensperren eine zentrale Rolle bei innerstädtischen Kämpfen. Dass sie jeweils gleich zu Anfang zerhauen werden, darf man wohl als besondere Demonstration der ritterlichen Kraft und Kampfesstärke deuten. Im Normalfall werden die Ketten ein recht wirksames Verteidigungsmittel gewesen sein. Ein Pferd wird eher stolpern oder sich die Beine brechen, ehe es im Galopp die Kette sprengt, wie noch 1843 in Lübeck geschehen.39 Dass die Ketten von Kriegsgegnern durchaus als Risiko beim Betreten einer Stadt betrachtet wurden, zeigt ein weiteres Beispiel aus der gleichen Zeit. 1265 mussten sich die Londoner dem König Henry III. ergeben, nachdem sie sich im „Baron’s War“ auf die Seite der Aufständischen um den Earl of Leicester, Simon de Montfort, geschlagen hatten. Der königliche Unterhändler forderte als erste Maßnahme, dass die Sperrketten in den Straßen entfernt und die Pfosten, an denen die Ketten aufgespannt waren, herausgerissen werden.40 Es ist zwar nicht 35

Vgl. Manfred Groten, Köln im 13. Jahrhundert. Gesellschaftlicher Wandel und Verfassungsentwicklung (Städteforschung: Reihe A, Darstellungen 36), Köln/Weimar/Wien 1995, S. 274ff.; Wolfgang Herborn, Die politische Führungsschicht der Stadt Köln im Spätmittelalter (Rheinisches Archiv 100), Bonn 1977, S. 73. 36 Gottfried Hagen, Reimchronik der Stadt Köln. Historischer Kommentar von Thomas Bohn (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 74), hrsg. von Kurt Gärtner u. a., Düsseldorf 2008, S. 139, Z. 3551f. sowie S. XXV. 37 Hagen, Reimchronik (wie Anm. 36), S. 141, Z. 3603–3605. 38 Hagen, Reimchronik (wie Anm. 36), S. 184, Z. 4752 mit S. 343. 39 Rosenbohm, Straßensperrketten (wie Anm. 19), S. 136. Eine lebendige Schilderung mittelalterlicher Straßenkämpfe bieten die Quellen zur Ursulanacht in Lüneburg, in denen aber keine Kettensperren erwähnt werden, Günter Will, Die Ursula-Nacht in Lüneburg am 21. Oktober 1371, in: Lüneburger Blätter 21/22 (1970/71), S. 7–20; vgl. Dumrese, Straßen­ sperren (wie Anm. 4), S. 17; Rosenbohm, Straßensperren (wie Anm. 9), S. 28. 40 Henry Thomas Riley, Chronicles of the Mayors and Sheriffs of London, A.D. 1188 to A.D. 1274. Translated from the Original Latin and Anglo-Norman „Liber de Antiquis Legibus“, Attributed to Arnald Fitz-Thedmar/The French Chronicle of London, A.D. 1259 to A.D. 1343, London 1863, S. 82; Thomas Stapleton, De antiquis legibus liber. Chronica maiorum et vicecomitum londoniarum et quaedam, que contingebant temporibus illis ab anno MCLXXVIIIo ad annum MCCLXXIVm, London 1846, S. 78; William Stubbs, Annales Londonienses and Annales Paulini (Chronicles of the reigns of Edward I. and Edward II. 1), London 1882, S. 70; vgl. John Sadler, The Second Baron’s War. Simon de Montfort and

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ganz klar, ob die Ketten während des Baron’s War aufgespannt wurden, aber es ist durchaus wahrscheinlich: Die Städte, allen voran London, erlangten damals ein großes Maß an Unabhängigkeit und wurden sogar erstmals in das Parlament berufen, dass sich damals aus dem Hofrat als eigenständige Institution emanzipierte.41 Mit den Sperrketten übergab die Stadt auch die Symbole der eigenen Wehrhoheit an den Tower.42 Der böhmische König Přzemysl Ottokar II. flüchtete 1266 „mit großer Furcht“ aus der Stadt Regensburg, als er sah, dass alle Gassen versperrt und verbarrikadiert waren.43 Eigentlich sollte es ein triumphaler Einzug werden, nachdem Ottokar die Klöster und Kirchen besucht hatte. Eine feindliche, dem Bischof und dem bayerischen Herzog ergebene Partei signalisierte ihm jedoch durch das Aufziehen der Ketten, dass er in der Stadt nichts zu melden hatte. Wann die Ketten in Regensburg eingeführt wurden, ist unbekannt. Ein angeblicher Beleg für die Mitte des 12. Jahrhunderts lässt sich nicht erhärten, sondern dürfte, wie eine ‚Erwähnung‘ im 10. Jahrhundert, in der retrospektiven spätmittelalterlichen Chronistik entsprechend ausgeschmückt worden sein.44 Von den Regensburger the Battle of Lewes and Evesham, Barnsley 2008, S. 114; John Edward Jolliffe, The Constitutional History of Medieval England from the English Settlement to 1485, London 1948, S. 287ff.; Bertie Wilkinson, The Development of the Constitution 1216–1399 (Constitutional History of Medieval England 1216–1399, Bd. 3), 2. Aufl. London 1961, S. 200. Ganz ähnlich verlangte Herzog Moritz von Sachsen bei den Übergabeverhandlungen mit der Stadt Halle im Schmalkaldischen Krieg im November 1546, dass die Kettensperren beseitigt werden sollten, G. Schmidt, Gleichzeitige Berichte über Naumburg und Halle im Schmalkalder Kriege, in: Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen 11 (1867), S. 477–501, bes. S. 493. 41 Sadler, The Second Baron’s War (wie Anm. 40), S. 39, 77; Wilkinson, Development (wie Anm. 40), S. 272; Maurice Powicke, The Thirteenth Century, 1216–1307 (The Oxford History of England 4), Oxford 1953, S. 193; Bryce Lyon, A Constitutional and Legal History of Medieval England, 2. Aufl. New York/London 1980, S. 344, 412ff.; Gwyn A. Williams, Medieval London. From Commune to Capital (University of London Historical Studies 11), London 1963, S. 231; Reginald Francis Treharne, Why the battle of Lewis matters in English history, in: ders., Simon de Montfort and the Baronial Reform. Thirteenth-Century Essays, hrsg. v. Edmund B. Fryde, London 1986, S. 76–170, bes. S. 167ff. 42 Henry Richards Luard, Flores Historiarum III: A.D. 1265 to A.D. 1326, London 1890, S. 7; vgl. Caroline M. Barron, London in the Later Middle Ages. Government and People, 1200–1500, Oxford u. a. 2004, S. 242. 43 Wilhelm Wattenbach (Hrsg.), Annales Austriae, in: MGH Scriptores (in folio) 9, Hannover 1851, S. 479–843, bes. S. 650 Z. 31–38; vgl. Codex diplomaticus et epistolaris Regni Bohemiae, bearb. v. Gustav Friedrich, hrsg. v. Jindřich Sebánek/Sáša Dušková/Josef Žemlička, Bd. 5: Inde ab a. 1253 usque ad a. 1266, Prag 1974, S. 1, Nr. 479; Jörg K. Hoensch, Přemysl Otakar II. von Böhmen. Der goldene König, Graz/Wien/Köln 1989, S. 144f. 44 Vgl. Wilhelm Wattenbach (Hrsg.), Vincentii et Gerlachi Annales, in: MGH Scriptores (in folio) 17: Annales aevi Suevici, Hannover 1861, S. 654–710, bes. S. 668 Z. 38ff.; Carl Theodor Gemeiner, Regensburgische Chronik, Bd. 1, hrsg. v. Heinz Angermeier, Ndr. München 1971

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Abb. 41  Kettensperren in Köln. Grundlage: Hans Planitz, Die deutsche Stadt im Mittelalter von der Römerzeit bis zu den Zunftkämpfen, Ndr. Wiesbaden 1996, S. 7. Schwarze Punkte/ Linien: Sperren nach dem Register von ca. 1390 (Linie/schraffierter Kreis: genaue Lage unklar); leere Punkte/Linien/Schraffur: Sperren nach dem Register von ca. 1400; Punkte mit Innenpunkt/Linien mit Innenlinie: Sperren, die in beiden Registern genannt werden; graue Punkte: Sperren aus anderen Quellen. Norden ist rechts

Ketten hatten sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch etliche Haken erhalten, die aber nur ein unvollständiges Bild des einstigen Systems bieten (Abb. 42). Karl Theodor Pohlig deutete sie als Sperren der Seitengassen, um durchziehende Truppen oder den Fernverkehr von den Wohnbereichen der Stadt abhalten zu können – also ganz im Sinne der Situation von 1266.45 Ähnlich wie König Johann von der Stadt Parma, so verlangte auch der Bamberger Bischof 1333 in seiner Metropole das Entfernen der Ketten durch die Bürger der Stadt.46 Diese blieb sogar das ganze Mittelalter über ohne umfassende Befestigung. Nur zwischen den einzelnen Stadtvierteln wurde jeweils nachts eine (zuerst 1800), S. 257, 387; Pohlig, Kulturgeschichtliches (wie Anm. 4), S. 166; Christian Gottlieb Gumpelzhaimer, Vom Ursprunge Regensburgs bis 1486¸ Regensburg’s Geschichte, Sagen und Merkwürdigkeiten von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten in einem Abriß aus den besten Chroniken, Geschichtsbüchern und Urkunden-Sammlungen, Bd. 1, Regensburg 1830, S. 273. 45 Pohlig, Kulturgeschichtliches (wie Anm. 4), S. 163ff. 46 MGH Const. VI, 2: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, VI: Dokumente zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Verfassung 1331–1335, Teil 2, Hannover/ Weimar 1989–2003, Nr. 446; vgl. Peter Moser, Bamberg. Geschichte einer Stadt, Bamberg 1998, S. 51.

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Abb. 42 

Kettensperren in Regensburg nach Theodor Pohlig. . Grundlage: Die Kunstdenkmäler von Bayern, 2: Regierungsbezirk Oberpfalz, 22: Felix Mader, Stadt Regensburg. III. Profanierte Sakralbauten und Profangebäude, München 1933.

Kette aufgezogen.47 Eine solche eher symbolische Sperre ist auch für Paderborn bezeugt. Sie war dort vermutlich schon um 1200 an der Stelle des vormaligen Tores zur Domburg zwischen der „Kohlgrube“ und dem Rathaus angebracht worden.48 Allerdings wurde sie hier von den Bürgern immer wieder heimlich 47 Isolde

Maierhöfer, Bambergs verfassungstopographische Entwicklung vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in: Petri (Hrsg.), Bischofs- und Kathedralstädte (wie Anm. 34), S. 146–162, bes. S. 152, 155; vgl. auch Johann Georg Sichler, Die Bamberger Bauverwaltung (1441–1481) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 41), Stuttgart 1990, S. 279, 288. 48 UB Westf. IV: Westfälisches Urkundenbuch, 4: Roger Wilmans/Heinrich Finke, Die Urkunden des Bistums Paderborn (1201–1300), Münster 1874–94, Nr. 268, 1645; Wilhelm Richter, Bis zum Ausgange des 16. Jahrhunderts (Geschichte der Stadt Paderborn 1), Paderborn 1899, Nr. 14, 26; Konrad Hofmann, Die engere Immunität in den deutschen Bischofsstädten im Mittelalter (Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Sozialwissenschaft/GörresGesellschaft zur Pflege der Wissenschaften im katholischen Deutschland 20), Paderborn 1914, S. 38; zum Abriss der Domburgmauer Matthias Becher, Zwischen Reichspolitik und regionaler Orientierung. Paderborn im Hochmittelalter (1050–1200), in: Jörg Jarnut (Hrsg.), Paderborn. Geschichte der Stadt in ihrer Region, Bd. 1: Das Mittelalter. Bischofsherrschaft und Stadtgemeinde, Paderborn 1999, S. 120–196, bes. S. 156; Heinrich Schoppmeyer, Die spätmittelalterliche Bürgerstadt (1200–1600), in: ebd., S. 198–473, bes. S. 215; ­Anton ­Hübinger, Die Verfassung der Stadt Paderborn im Mittelalter, Münster 1899, S. 21ff.

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entfernt und der Bischof musste sich mehrfach um die Wiederherstellung bemühen. Das Klauen der Ketten war auch in anderen Städten ein Problem49, aber hier dürfte sie als Symbol der Immunität des Dombezirkes ein besonderer Stein des Anstoßes gewesen sein. Wer sie berührte, genoss kirchliches Asyl, konnte sich also dem städtischen Gericht entziehen. In ähnlicher Weise diente eine Kette am Tor des Klosters auf der Petersstirn bei Schweinfurt als symbolische Absperrung der Klosterimmunität. Sie wird schon Anfang des 11. Jahrhunderts erwähnt.50 Das Sperren von Flüssen mit Ketten ist ebenfalls um 1200 belegt, so 1184/85 in der Swine zwischen Usedom und Wollin (die immerhin 300–400 m breit ist), 1203 in Konstantinopel (eine Kette über den Bosporus von 940 m Spannweite und eine Kette über das Goldene Horn, ca. 370 m weit), 1218 über den Nil bei Damiette oder, wenn auch aus einer späteren Quelle, 1221 in Bremen (zusammen mit einer Pfahlsperre, das heißt nur das Fahrwasser selbst wurde mit einer Kette verriegelt).51 1234 blockierte der dänische König die Trave bei Lübeck mit „starken Ketten“; der Fluss ist dort immerhin etwa 50 m breit.52 Alle diese Ketten sollen schon bald wieder gesprengt und beseitigt worden sein, wobei aber eine gewisse 49

Vgl. Mummenhoff, Kettenstöcke (wie Anm. 5), S. 22. Bertold Bretholz/Wilhelm Weinberger (Hrsg.), Cosmae Pragensis Chronica Boemorum. Die Chronik des Cosmas von Prag (MGH Scriptores rerum Germanicarum N.F. 2), Berlin 1923, 1. Buch, Kap. 40: „catena molendinari fune grossiori praestrictam“. 51 MGH Script. rer. Germ. 14, Chronica Slavorum (1868): MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi, 14: Johann Martin Lappenberg, Arnoldi Chronica Slavorum, München 1868, 3. Buch, 7. Kapitel; Georg Waitz, Chronica regia Coloniensis (Annales maximi Colonienses). MGH Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi, 18, Hannover 1880, ad 1203, 1218; Hermann Meinert, Die Chroniken der niedersächsischen Städte: Bremen (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 37), Bremen 1968, S. 75; Wilhelm von Bippen, Bremen im Mittelalter. Geschichte der Stadt Bremen, Bd. 1, Bremen 1892, S. 128; kritisch dazu Paul Hasse, Der Kampf zwischen Lübeck und Dänemark vom Jahre 1234 in Sage und Geschichte, in: Hansische Geschichtsblätter 4 (1874), S. 119–148, bes. S. 142; weitere Seesperren bei Karen Løkkegaard Poulsen, Die slawische Ostseeküste im Spannungsfeld der Nachbarmächte (bis 1227/1239), in: Ole Harck (Hrsg.), Zwischen Reric und Bornhöved. Die Beziehungen zwischen den Dänen und ihren slawischen Nachbarn vom 9. bis ins 13. Jahrhundert. Beiträge einer internationalen Konferenz Leipzig, 4.–6. Dezember 1997, Stuttgart 2001, S. 79–106, bes. S. 102; Ole Crumlin-Pedersen, The middle ages and more recent times. Ships and barriers, in: Steen Hvass/Birger Storgaard (Hrsg.), Digging into the Past. 25 Years of Archaeology in Denmark (Jutland Archaeological Society Publications), Aarhus 1993, S. 254–259, bes. S. 259; im selben Band: Flemming Rieck/Steen W. Andersen/Else Roesdahl, The Late Germanic and Viking Period. Territorial defence, S. 210–214, bes. S. 211f.; zu den Kämpfen an der Odermündung Oskar Eggert, Dänisch-wendische Kämpfe in Pommern und Mecklenburg (1157–1200), in: Baltische Studien N.F. 30, 2 (1928), S. 1–74, bes. S. 65. 52 Die Chroniken der Niedersächsischen Städte. Lübeck Bd 1 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 19), Leipzig 1884 (Detmar-Chronik), S. 79; kritisch Hasse, Kampf (wie Anm. 51), S. 129. 50

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legendäre Ausschmückung in Rechnung zu stellen ist.53 Immerhin schleppten die Osmanen vor der Eroberung Konstantinopels 1453 wegen der Kettensperre im Bosporus einen Teil ihrer Kriegsflotte über Land in das Goldene Horn.54 Ebenfalls als wirkungsvoll erwiesen sich die Kettensperren, die die Trierer Bürger 1377 auf dem Treidelpfad längs der Donau anbrachten: Sie konnten so ihre Zollforderungen gegenüber dem Bischof durchsetzen.55 Dagegen beseitigten die Bürger von Parma 1335 die „catene antique“ im Fluss Parma, weil sie den Feinden bei einer Überwindung dieser Barriere, nämlich des Flusses selbst, dienlich sein konnten.56 Im späten Mittelalter war es in größeren Städten üblich, wenn ein Fürst mit seinem Gefolge die Stadt passierte, die Sperrketten auszuspannen und alle städtischen Wachen in Alarmbereitschaft zu versetzen, etwa in Lübeck 1462 beim Durchzug König Christian I. von Dänemark auf der Pilgerreise nach Wilsnack.57 In Paris spannten die Bürger 1356 auf den Straßen und Kreuzungen Ketten und gruben einen Graben rings um die Stadtmauern, weil sie einen Überfall des „schwarzen Prinzen“, Edward of Woodstock, Prince of Wales, fürchteten, der den Norden Frankreichs verwüstete.58 Der Chronist Jean de Venette betont, dass diese Maßnahmen aus mangelndem Vertrauen gegenüber der Verteidigungskraft des französischen Adels erfolgten. Der Zusammenhang zwischen einer drohenden Fehde und den Anordnungen zum Aufspannen der Ketten lässt sich auch in

53

Vgl. Hasse, Kampf (wie Anm. 51), S. 121, 130ff. Neslihan Asutay-Effenberger, Mehmet II. – Die Eroberung Konstantinopels und das byzantinische Erbe, in: Jutta Frings (Hrsg.), Byzanz. Pracht und Alltag. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 26. Februar bis 13. Juni 2010, München 2010, S. 118–123, bes. S. 118. 55 Gottfried Kentenich, Geschichte der Stadt Trier von ihrer Gründung bis zur Gegenwart. Denkschrift zum 100jährigen Jubiläum der Zugehörigkeit der Stadt zum preussischen Staat, hrsg. im Auftr. d. Stadt Trier v. Gottfried Kentenich, Trier 1915, S. 220. 56 Chronica Parmense (wie Anm. 33), S. 243. 57 Pohlig, Kulturgeschichtliches (wie Anm. 4), S. 158, 162f.; Lübeckisches Urkundenbuch. Codex Diplomaticus Lubecensis, 10: 1461–1465, Lübeck 1898, Nr. 155; in diesem Sinne auch A. Dengler, Ueber mittelalterliche Straßenabsperrungen durch Ketten, in: Korrespondenzblatt des Gesammtvereins der deutschen Geschichts- und Alterthumsvereine 45, 1 (1897), S. 11–12, bes. S. 12; vgl. auch Johann Georg Battonn, Örtliche Beschreibung der Stadt Frankfurt am Main, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1861, S. 159, zu Frankfurt; Rosenbohm, Straßensperren (wie Anm. 9), S. 35. 58 Jean Favier, Frankreich im Zeitalter der Lehnsherrschaft, 1000–1500 (Geschichte Frankreichs 2), Stuttgart 1984, S. 325; Richard A. Newhall, The Chronicle of Jean de Venette, übersetzt von Jean Birdsall (Records of Civilisation 50), New York 1953, S. 66; Raymond Cazelles, Société politique, noblesse et couronne sous Jean le Bon et Charles V. (Mémoires et Documents 28), Genf/Paris 1982, S. 276; vgl. zum Kontext Robin Neillands, The Hundred Year’s War, 2. Aufl. London 2001, S. 123. 54

774 Thomas Küntzel

anderen Städten herstellen, etwa in Göttingen 1485/86.59 Vielleicht wurden die Ketten in vielen Städten nicht zufällig im Laufe des 14. Jahrhunderts erstmals erwähnt, als im Rahmen der spätmittelalterlichen Landfriedensbemühungen auch die Landwehren angelegt wurden.60 Große Feste, Turniere, Prozessionen, Reichstage, fürstliche Hochzeiten und Karnevalsfeiern führten regelmäßig zu Tumulten und Handgreiflichkeiten zwischen Fremden und Bürgern, die bisweilen blutig endeten, wie bei der „bösen Fasnacht“ in Basel 1376, der Wahl König Sigismunds in Frankfurt am Main 1410 oder der Zurschaustellung der Reichsinsignien in Nürnberg.61 Der städtische Rat, auf die Erhaltung von Ordnung und Ruhe bedacht, bemühte sich deshalb, mit der Anordnung von Wachdiensten und dem Schließen der Ketten solche Ereignisse zu verhindern.62 In Siena sollte die Kette an der „Croce del Travaglio“ wohl auch die Tumulte begrenzen, die regelmäßig nach den traditionellen Faust-, Stein- und Lanzenkämpfen auf dem benachbarten Marktplatz ausbrachen.63 Überdies dienten die Sperrketten der „Bändigung“ der unruhigen Handwerkerschaft, die sich im 14./15. Jahrhundert mehr und mehr vom Patriziat emanzipierte und Teilhabe an der Macht forderte. Da die Handwerker durchaus bewaffnet waren (wenn auch nicht durchgehend beritten wie die Patrizier und reichen Bürger), stellten sie eine ernstzunehmende Gefahr für den Rat dar. In Augsburg wurden die Gassenketten wenige Jahre nach der Hinrichtung des zünftischen 59

Dieter Neitzert, Die Stadt Göttingen führt eine Fehde 1485/86. Untersuchung zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von Stadt und Umland (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 30), Göttingen 1992, S. 99; Stadtarchiv Göttingen, Kämmereiregister KA 1, 86a. Das Aufspannen während der Reformationswirren wird z. B. in Trier beschrieben, Kentenich, Geschichte der Stadt Trier (wie Anm. 55), S. 371. 60 Zur Entstehung der Landwehren Thomas Küntzel, Grüne Grenzen, dornige Sperren. Landwehren im nördlichen Deutschland, in: Archäologische Berichte des Landkreises Rotenburg/Wümme 15 (2009), S. 209–247 mit Literatur; Cornelia Kneppe, Die Stadtlandwehren des östlichen Münsterlandes (Veröffentlichungen der Altertumskommission für Westfalen 14), Münster 2004. 61 Johann Christian Siebenkees, Materialien zur Nürnbergischen Geschichte, Bd. 2, Nürnberg 1792, S. 675; Rosenbohm, Straßensperren (wie Anm. 9), S. 35; Eugen A. Meier, Die Fasnacht im alten Basel, in: ders. (Hrsg.), Die Basler Fasnacht. Geschichte und Gegenwart einer lebendigen Tradition, Basel 1985, S. 23–80, bes. S. 24f.; Pohlig, Kulturgeschichtliches (wie Anm. 4), S. 107ff.; vgl. zu Frankfurt Battonn, Örtliche Beschreibung (wie Anm. 57), S. 157, 159; zu Köln Manfred Huiskes, Die Ratsmemoriale und ergänzende Überlieferung, 1320 – 1543 (Beschlüsse des Rates der Stadt Köln 1320–1550 1), Düsseldorf 1990, Nr. 59, S. 388; Ratsprotokolle Köln V: Beschlüsse des Rates der Stadt Köln 1320–1550, 5: Manfred Groten, 1541–1550, Düsseldorf 1990, Nr. 340, S. 805, Nr. 358, S. 809. 62 Mummenhoff , Kettenstöcke (wie Anm. 5), S. 8. 63 Vgl. Anna-Kathrin Warner, Die Contraden von Siena. Lokale Traditionen und globaler Wandel (Transkulturelle Studien 1), Frankfurt a. M./New York 2004, S. 80.

Mittelalterliche Sperrketten in der (frühen) Neuzeit 775

Bürgermeisters Ulrich Schwarz aufgespannt, als das Patriziat und die höheren Zünfte eine Politik der Restauration betrieben. Große Versammlungen wurden verboten und die einzelnen Zünfte nach Möglichkeit isoliert.64 Die Weberzunft in Köln konnte während der Weberherrschaft 1370/71 weitgehende Reformen gegen die mächtige Richerzeche durchsetzen (wurde allerdings nach einer Niederlage ihrerseits verboten und die Zunftmitglieder mussten ihre Harnische abliefern).65 1396 wurden die Geschlechter vollends gestürzt und eine neue Verfassung ausgearbeitet.66 Der Rat wurde nunmehr von den „Gaffeln“, das heißt zünftisch dominierten Gremien, gewählt. Aus der Zeit vor und nach dem Umsturz sind zwei Verzeichnisse der Bürger erhalten, die die Schlösser zu den Sperrketten verwahrten. Nach dem Umsturz sind deutlich mehr Handwerker in der Liste zu finden (Abb. 41).67 Topographisch gibt es ebenfalls eine Verschiebung: Der Südwesten der Stadt wird bis auf wenige Ausnahmen in dem jüngeren Verzeichnis gar nicht mehr aufgeführt, statt dessen aber Straßen in der Kernstadt und vor allem im Norden, von wo am ehesten ein Überfall des Erzbischofs drohte (mit welchem sich die patrizischen Schöffen verbündet hatten).68 Möglicherweise waren die Ketten samt den Schlössern umverteilt worden.69 In Braunschweig ist die Sperrung der Straßen während der „Schicht ­Ludeke Hollands“ nachweisbar, einer Erhebung, die 1488 durch eine Münzreform verursacht wurde.70 Als die Sperrketten eines Nachts teilweise wieder aufgeschlossen 64 Rogge, Für den Gemeinen Nutzen (wie Anm. 30), S. 48ff., 171ff.; Karl Schnith, Die Reichs-

stadt Augsburg im Spätmittelalter (1368–1493), in: Gottlieb u. a. (Hrsg.), Geschichte der Stadt Augsburg (wie Anm. 32), S. 153–165, bes. S. 162f. 65 Klaus Militzer, Führungsschicht und Gemeinde in Köln im 14. Jahrhundert, in: Wilfried Ehbrecht (Hrsg.), Städtische Führungsgruppen und Gemeinde in der werdenden Neuzeit (Städteforschung, Reihe A, 9), Köln/Wien 1980, S. 1–24, bes. S. 22ff.; Herborn, Die politische Führungsschicht (wie Anm. 35), S. 91ff., 301ff.; Reinhard Barth, Argumentation und Selbstverständnis der Bürgeropposition in städtischen Auseinandersetzungen des Spätmittelalters. Lübeck 1403–1408 – Braunschweig 1374–1376 – Mainz 1444–1446 – Köln 1396–1400 (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter 3), Köln 1974, S. 233. 66 Herborn, Die politische Führungsschicht (wie Anm. 35), S. 127ff.; Barth, Argumentation (wie Anm. 65), S. 233ff. 67 Stein, Akten zur Geschichte (wie Anm. 27), Bd. 2, Nr. 63, 79. 68 Vgl. Herborn, Die politische Führungsschicht (wie Anm. 35), S. 357ff. 69 Allerdings sind etliche Ketten ohne konkrete Lokalität aufgelistet, weshalb diese Aussage mit einer gewissen Unsicherheit behaftet bleibt. Wir wissen zudem nicht, in wie weit die beiden Listen wirklich vollständig sind. Doppelte Nennungen einzelner Personen sprechen eher für eine unsystematische Erfassung. Dennoch bleibt der Befund auffällig. 70 Die Chroniken der niedersächsischen Städte: Braunschweig, Bd. 2 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 16), Leipzig 1880, S. 167 Z. 2018ff.; Die Chroniken der niedersächsischen Städte: Braunschweig, Bd. 3, Teil 1 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 35, 1), Stuttgart/ Gotha 1928, S. 55; vgl. Hans

776 Thomas Küntzel

wurden, kam Panik auf, dass ein Umsturz drohe. Die Schilderung des Sieges über die Anhänger Ludeke Hollands wird ebenfalls damit eingeleitet, dass die Meinheit des Weichbilds Altstadt die Ketten öffnen lässt (um besser durch die Straßen ziehen zu können) und Pferde vor die Geschützwagen spannt.71 Daraufhin verschanzen sich die Anhänger Hollands ihrerseits mit Wagen und einer Kammerbüchse „vor de keden up hupen ort“ in der Neustadt, geben ihren Widerstand aber schließlich kampflos auf. Noch 1615 ist in Frankfurt bezeugt, dass bei einem drohenden Umsturz die Ketten aufgespannt wurden.72 Auch in Parma wurden, als der vom Papst nicht anerkannte König Ludwig der Bayer zum Italien­zug rüstete, die Ketten in allen Straßen außer in den Hauptdurchfahrtsstraßen hängen gelassen. Ein päpstlicher Legat kontrollierte während dieser Zeit die städtische Verwaltung.73 Dagegen verhinderte der Rat der Stadt Aachen 1429, als Unruhen drohten, durch das Zerstören der Ketten, dass die Bürgerschaft diese vorspannte und damit den raschen Einmarsch von Hilfstruppen in die Stadt unterband.74 In Oxford sollte eine Kette möglicherweise die ständigen Kämpfe zwischen den Stadtbürgern und den Universitätsangehörigen, den „clerks“, kanalisieren. Es kam in der Stadt seit dem frühen 13. Jahrhundert immer wieder zu Straßenschlachten, die meist auf der High Street ausgetragen wurden.75 Eine Nebenstraße, die St. Mildred’s Lane, hatte man durch eine Kette versperrt, weshalb sie auch den Namen Chayne Lane trug.76 Denkbar wäre allerdings auch, dass die Kette bei der St. Mildred’s Kirche den Verkehr der lauten Wagen während des GotLeo Reimann, Unruhe und Aufruhr im mittelalterlichen Braunschweig (Braunschweiger Werkstücke 28), Braunschweig 1962, S. 98ff.; Richard Moderhack, Braunschweiger Stadtgeschichte mit Zeittafel und Bibliographie, Braunschweig 1997, S. 78; Hermann Dürre, Geschichte der Stadt Braunschweig, Braunschweig 1861, S. 651. 71 Chroniken der niedersächsischen Städte: Braunschweig (wie Anm. 70), S. 55 (Paraphrase des Schichtspiels in der Wolfenbütteler Handschrift Helmstad. 652). 72 Battonn, Örtliche Beschreibung (wie Anm. 57), S. 158. 73 Rer. Italic. Script., Chroniken Parma (wie Anm. 33), S. 185. 74 Biergans, Wohlfahrtspflege (wie Anm. 2), S. 114. Der Rat ließ so viele Kettenglieder entfernen, dass die Ketten nicht mehr bis zum gegenüber liegenden Haken reichten. 75 Ruth Fasnacht, A History of the City of Oxford, Oxford 1954, S. 51ff.; Janet Cooper/Alan Crossley, Medieval Oxford, in: Alan Crossley (Hrsg.),The City of Oxford (The Victoria History of the Counties of England 4: A History of the County of Oxford), Oxford 1979, S. 3–73, bes. S. 15, 18, 53ff. 76 Anthony Wood, The Antient and Present State of the City of Oxford, Containing an Account of its Foundation, Antiquity, Situation, Suburbs, Division by Wards, Walls, Castle, Fairs, Religious Houses, Abbeys, St. Frideswede’s, Churches as well those Destroyed as the Present, with their Monumental Inscriptions; Mayors, Members of Parliament &c., London 1773, S. 33; „Survey of the Antiquities of the City of Oxford“, Composed in 1661–6 by Anthony Wood, Vol. 1: The City and the Suburbs, hrsg. v. Andrew Clark, Oxford 1889, S. 71; Herbert Edward Salter, The Historic Names of Streets and Lanes of Oxford, infra Muros, Oxford 1921, S. 14; der älteste Nachweis für die Kette stammt aus der Zeit um 1330, Janet Cooper,

Mittelalterliche Sperrketten in der (frühen) Neuzeit 777

tesdienstes unterbinden sollte – was ähnlich auch für Nürnberg überliefert ist: Dort wurde der Verkehr am Rathaus während der Sitzungen unterbunden, damit die Beratungen nicht zu sehr durch das Getöse von draußen gestört wurden.77 Einen stark symbolischen Charakter besaßen die Kettensperren um Marktplätze herum. In Halberstadt bestimmte die ursprüngliche Fassung der Statuten um 1370–1400, niemand solle „korn kopen buten der kedene“.78 Dies erinnert an die Ketten, die die Börsenplätze im Mittelalter abgrenzten. „Catena“ steht hier gleichbedeutend neben französisch „Beurse“ für den Handelsplatz schlechthin.79 In Lübeck wurden die Ketten am Marktplatz noch bis 1844 während der Börsenzeiten geschlossen.80 In Braunschweig bildeten 1363 zwei Ketten in der Breiten und der Güldenstraße eine Gebührengrenze für die Wasserfahrer.81 Betrachtet man die Verteilung der Ketten in einer Stadt, lassen sich aus dem Kartenbild unterschiedliche Funktionen der Sperrketten ablesen, wie bei dem oben geschilderten Beispiel Köln. Auch für Lübeck lässt sich aus der Position der Sperrketten deren wichtige Funktion für die Stadtverteidigung ableiten (Abb. 43). Besonders augenfällig ist der Umstand, dass die Gassen zum Traveufer weitgehend durch Sperrketten abgeriegelt sind (teilweise sogar die Kreuzungen in zweiter Reihe), während die Gassen an der Wakenitz nahezu ungeschützt blieben. Der Fluss war hier um 1290 zu einem breiten Teich aufgestaut worden und es gab eine starke Stadtmauer.82 Die Trave war demgegenüber vergleichsweise schmal und gut über See erreichbar; die Hafenkais boten gute Anlegemöglichkeiten für feindliche Schiffe.

Street-Names, in: Crossley (Hrsg.), City of Oxford (wie Anm. 75), S. 475–477, bes. S. 476; vgl. auch Herbert E. Salter, Cartulary of Oseney Abbey, Bd. 1, Oxford 1929, S. 44, Nr. 35. 77 Mummenhoff, Kettenstöcke (wie Anm. 5), S. 25ff., 31; vgl. auch Jacob Grimm/Karl Weigand/ Rudolf Hildebrand, Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, Ndr. München/Leipzig 1984 (zuerst 1878), Sp. 1451. 78 Gustav Schmidt, Urkundenbuch der Stadt Halberstadt, 1. Theil. Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete, Bd. 7, Halle 1878, Nr. 686. Die Verordnung ist in Handschrift A durchgestrichen, in Handschrift B fehlt sie. Möglicherweise besaßen die Schlingen in Quedlinburg eine ähnliche Funktion. Sie werden im Stadtbuch erwähnt, Thomas Wozniak, Quedlinburg im 14. und 16. Jahrhundert – ein sozialtopographischer Vergleich, Diss. Köln 2009, S. 370, 374, 381, 425. 79 Ch. Du Fresne Sieur Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, bearb. v. ­Léopold Favre, 5. Aufl. Niort 1883–1887, S. 300. 80 Brehmer, Beiträge zu einer Baugeschichte (wie Anm. 23), S. 476. 81 Manfred R. Garzmann (Hrsg.), Urkundenbuch der Stadt Braunschweig, Bd. 6: 1361–1374 samt Nachträgen (Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter 23), Hannover 1998, Nr. 142. 82 Inv. Lübeck I, 1, (wie Anm. 17), S. 67, 71; vgl. zur frühen Entwicklung der Stadtmauer an der Trave Manfred Gläser-Mührenberg, Burgen und Stadtmauern auf dem Lübecker Stadthügel, in: Castella Maris Baltici 2 (1996), S. 59–67; Manfred Gläser, Die Lübecker Befestigungen (Burgen und Stadtmauern) im Mittelalter und in der Neuzeit, in: Manfred Gläser (Hrsg.),

778 Thomas Küntzel

Abb. 43 

Kettensperren in Lübeck. Grundlage: Archäologie in Lübeck. Erkenntnisse von Archäologie und Bauforschung zur Geschichte und Vorgeschichte der Hansestadt, Lübeck 1980, S. 8. Grauer Punkt: Haken 2010 noch vorhanden

Westlich des Flusses wurde zwar seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein vorgelagerter Wall aufgeworfen, der aber erst 1573–1580 bis auf Höhe des Die Befestigungen (Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum 7), Lübeck 2010, S. 273–292.

Mittelalterliche Sperrketten in der (frühen) Neuzeit 779

Burgtores verlängert wurde.83 Bis dahin blieb diese Seite der Stadt besonders gefährdet. Die übrigen Ketten innerhalb der Stadt sicherten vor allem die Durchfahrtsstraßen, wenn, wie erwähnt, fremde Fürsten die Stadt durchquerten. Ein Problem ergibt sich dabei aus den ungenauen Quellenangaben zur Position der Ketten: Riegelten sie die Hauptdurchgangsstraßen (Breite und die König­­straße) jeweils quer ab oder sicherten sie die Seitengassen? Letzteres scheint nach der Analyse der Listen wahrscheinlicher84, aber die Position eines Kettenringes bei der Jacobikirche spricht für zumindest eine Quersperre. In Lüneburg waren oft alle vier Straßeneinmündungen an den Kreuzungen zu verriegeln.85 Die bei den Lübecker Sperrketten beschriebenen Interpretationsprobleme ergeben sich auch bei der Lokalisierung der Sperren in Hamburg, zumal Straßennetz und Parzellengefüge seit dem 19. Jahrhundert durch tiefgreifende Umbauprojekte, partielle Stadtbrände und nicht zuletzt die Vernichtung der Altstadt 1945 völlig umgekrempelt worden sind (Abb. 44). Glücklicherweise erlauben verschiedene Arbeiten zur historischen Topographie der Stadt, das Kettensystem ungefähr zu rekonstruieren.86 Man kann demnach mit einiger Wahrscheinlichkeit für die Neustadt (Kirchspiel St. Michael) eine ähnliche Situation wie beim Lübecker Hafen annehmen: Jeweils die Gassenenden zum Festungswall hin waren vermutlich durch Ketten gesichert, darüber hinaus die Zugänge zu den Plätzen (Großneumarkt, Scharmarkt).87 Dies ist insofern interessant, als dass die Neustadt erst um 1620 befestigt und die Bebauung danach allmählich verdichtet wurde.88 Die Kettensperren sind hier also erst im Laufe des 83 Inv. Lübeck I, 1 (wie Anm. 17), S. 72f., 76. 84 In

dem Verzeichnis der Ketten in Lüneburg von 1666 ist glücklicherweise meist angegeben, zwischen welchen Eckhäusern die Ketten gespannt waren, Dumrese, Straßensperren (wie Anm. 4), S. 10ff.; die Behauptung bei Dengler, Straßenabsperrungen (wie Anm. 57), S. 12, in Regensburg seien die Gassen in der Mitte abgesperrt worden, wird durch die Darstellung bei Pohlig, Kulturgeschichtliches (wie Anm. 4), S. 163ff., widerlegt. Vielmehr wurden die Gassenenden zu den Hauptdurchfahrtsstraßen blockiert, z. B. zur Keplerstraße, Fischmarkt und Goldenbärenstraße, zu „Unter den Schwibbogen“ oder zur Schererstraße/ Schwarzebärengasse/ Dreikronengasse. 85 Dumrese, Straßensperren (wie Anm. 4), S. 17. 86 Cipriano Francisco Gaedechens, Historische Topographie der Freien und Hansestadt Hamburg und ihrer nächsten Umgebung von der Entstehung bis auf die Gegenwart, 2. Aufl. Hamburg 1880; Wilhelm Melhop, Historische Topographie der Freien und Hansestadt Hamburg von 1895–1920 mit Nachträgen bis 1923, Hamburg 1923–25; Erwin Volckmann, Unerklärte Niederdeutsche Straßennamen in Hamburg und anderswo. Ein Beitrag zum alten Deutschen Städtewesen, Hamburg 1917; Elke Först, Befestigungen des Mittelalters und der Neuzeit in der Hamburger Innenstadt, in: Gläser (Hrsg.), Befestigungen (wie Anm. 82), S. 255–272, bes. S. 268. 87 Staatsarchiv Hamburg, 111–1 Senat Cl. VII Lit. Fd. Nr. 25, S. 13f. 88 Eckart Klessmann, Geschichte der Stadt Hamburg, 3 Bde., Hamburg 1981, S. 140; HansDieter Loose, Das Zeitalter der Bürgerunruhen und der großen europäischen Kriege

780 Thomas Küntzel

Abb. 44:  Kettensperren in Hamburg Grundlage: Karte von Hamburg, C. Fritzsch 1722 im Verlag Strumper & Co, www.christian-terstegge.de/hamburg/karten_hamburg/files/1722_ fritzsch_strumper_300dpi.jpeg.

17. Jahrhunderts eingerichtet worden. In der Kernstadt, die besonders dicht mit Ketten versehen war, existierten diese schon seit dem 14. Jahrhundert.89 Nach der Kriegs- und Feuerordnung von 1626 oblag die Aufsicht über die Ketten den Colonellherren und Colonellbürgern, das heißt Mitgliedern des Rates und der Bürgerschaft, die der Bürgerwehr vorstanden. Sie hatten ein- bis zweimal im Jahr alle Ketten, Schlagbäume, Pforten usw. zu visitieren.90 Für jede Kette wur1618–1712, in: ders./Werner Jochmann (Hrsg.), Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Band 1: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, Hamburg 1982, S. 259–350, bes. S. 260ff. 89 Koppmann, Kämmereirechnungen (wie Anm. 29), S. 111, 464; vgl. Rosenbohm, Straßensperrketten (wie Anm. 19), S. 139. 90 Ehlers, Wehrverfassung (wie Anm. 2), S. 97; Johann Klefeker, Kriegs- und Sicherheits-Staat (Sammlung der Hamburgischen Gesetze und Verfassungen in Bürger- und Kirchlichen, auch Cammer-, Handlungs- und übrigen Policey-Angelegenheiten und Geschäften samt

Mittelalterliche Sperrketten in der (frühen) Neuzeit 781

den zwei bis drei Kettenwächter eingesetzt, die in Notfällen an der Kette Wache stehen sollten.91 Bei Feuersnot hatten sie gegebenenfalls die Ketten zu öffnen, um Wasserträger durchzulassen. Die Entscheidung über das Schließen der Ketten lag offenbar beim Rat.92 1534, als der Stadt im Zuge der Reformation ein Einmarsch des dänischen Königs Christian III. drohte, bat die Bürgerschaft um die Schließung der Ketten und das Aufbieten der Wachen – offenbar bemühte sich der Rat, die Bedrohung „tief zu hängen“ und abzuwarten, während die stärker revolutionärprotestantisch gesonnene Bürgerschaft Stärke demonstrieren wollte.93 Seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts, vor allem aber im 18. Jahrhundert, erlangte die fest angestellte Garnisonstruppe der Stadt gegenüber der Bürgerwehr eine immer wichtigere Position; auch politisch trat die Bürgerschaft seit dem Hauptrezess von 1712 hinter den Senat zurück.94 Es überrascht daher nicht, dass die Kettensperren, die ja eine ausnehmend bürgerliche Angelegenheit waren, 1748 ganz abgeschafft wurden und man die noch verbliebenen Ketten zum städtischen Bauhof brachte.95 Bei den Visitationen in der Stadt Lüneburg fehlten schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts viele Schlösser und Ketten, zumindest aber einzelne Kettenglieder (wodurch das Aufspannen unmöglich war). Eine Reparatur wurde zwar ins Auge gefasst, aber nicht realisiert.96 In Augsburg waren die Ketten nach der Feuerordnung von 1653 bereits abgenommen und eingelagert worden.97 Frankfurt musste seine Ketten 1692 nach Mainz abliefern; danach gibt es nur noch vereinzelt Quellen dazu (etwa 1784).98 In Nürnberg beschloss der Rat 1747, dass die Ketten abgenommen und verschwundene Haken nicht mehr ersetzt werden sollten.99 Relikte der Gassenketten dienten 1792 nurmehr dazu, Straßen bei Bauarbeiten zu sperren.100 Die letzten Pfähle verschwanden 1807. historischen Einleitungen 9), Hamburg 1771, S. 128ff.; ähnlich in Augsburg, Rogge, Für den Gemeinen Nutzen (wie Anm. 30), S. 142ff., nach dem Vorbild der Stadt Nürnberg.   91 Klefeker, Kriegs- und Sicherheits-Staat (wie Anm. 90), S. 131.   92 Ebd., S. 177.   93 Johann Martin Lappenberg, Hamburgische Chroniken, Hamburg 1861, S. 95; zur Situation Rainer Postel, Reformation und Gegenreformation, 1517–1618, in: Jochmann/Loose (Hrsg.), Hamburg (wie Anm. 88), S. 191–258, bes. S. 223f. 94 Ehlers, Wehrverfassung (wie Anm. 2), S. 6f.; Franklin Kopitzsch, Zwischen Hauptrezess und Franzosenzeit, in: Jochmann/Losse (Hrsg.), Hamburg (wie Anm. 88),S. 286. 95 Rosenbohm, Straßensperrketten (wie Anm. 19), S. 139; Ehlers, Wehrverfassung (wie Anm. 2), S. 70; der Kettendienst wurde allerdings auch von den Bürgern als lästig empfunden und nachlässig ausgeübt, weshalb die Bürgerkapitäne 1698 Strafmaßnahmen durchführten, Rosenbohm, Straßensperrketten (wie Anm. 19), S. 138. 96 Dumrese, Straßensperren (wie Anm. 4), S. 9, 18, 20. 97 Kraus, Militärwesen (wie Anm. 2), S. 117. 98 Battonn, Örtliche Beschreibung (wie Anm. 57), S. 160. 99 Mummenhoff, Kettenstöcke (wie Anm. 5), S. 27. 100 Siebenkees, Materialien (wie Anm. 61), S. 672.

782 Thomas Küntzel

Andere Städte folgten diesem Beispiel, so Regensburg 1779/80 und Lübeck 1814 (wenn auch zwangsweise unter Napoleon, nur einzelne Sperren um den Markt und das Rathaus wurden bis 1844 wieder aufgehängt).101 Betrachtet man die zahlreichen Quellen zu den Sperrketten in den mittel­ nalterlichen und frühneuzeitlichen Städten in der Gesamtheit, erhält man einen lebendigen Eindruck von der repräsentativen und zeichenhaften Bedeutung dieser Einrichtung, die weitaus präsenter im alltäglichen Leben der Vormoderne war, als wir heute meinen. Die Einrichtung verschwand im 18. und 19. Jahrhundert nicht nur optisch aus den Städten, sondern sie geriet auch rasch in Vergessenheit. Diese Ausführungen mögen dazu beitragen, dem Vergessen ein wenig entgegenzuwirken.

101 Rosenbohm,

Straßensperren (wie Anm. 9), S. 33, 36; Brehmer, Beiträge zu einer Baugeschichte (wie Anm. 23), S. 476; Pohlig, Kulturgeschichtliches (wie Anm. 4), S. 170.

Christian Ottersbach

Wehrhafte Zeichen und innere Sicherheit: Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts Heidelberg entwickelte sich seit dem 13. Jahrhundert zum bevorzugten Sitz der wittelsbachischen Pfalzgrafen bei Rhein und wurde schließlich deren Residenz. Die Befestigung der Stadt zu Füßen der Burg mit einer Mauer ist erstmals 1235 belegt.1 Die Ummauerung einer Stadt diente nicht allein der Verteidigung, sondern vor allem auch dazu, den Rechtsbezirk Stadt sichtbar zu markieren und nach außen abzugrenzen. Insofern kam Stadtmauern ein hoher Zeichenwert zu. Mit ihren Türmen und Toren prägten sie ganz wesentlich das Fernbild der Stadt. In Heidelberg mag der repräsentative Charakter der Stadtbefestigung im Brückentor besonders zum Ausdruck kommen, das als Doppelturmtor angelegt ist und im Kern noch aus dem 13. Jahrhundert stammt.2 Es bildet bis heute einen der wesentlichen Fixpunkte im Neckarpanorama der Stadt.3 Die Heidelberger Befestigungen erfuhren mehrfach Erweiterungen und Veränderungen. So wurde im Laufe des 15. Jahrhunderts die westlich anschließende Vorstadt teilweise ummauert, die Befestigung allerdings erst im frühen 17. Jahrhundert auf der Südseite geschlossen, während die Neckarfront offen blieb.4 Wenig später führte der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges nicht nur zu einer Sicherung der Höhen südlich und östlich des Schlosses, sondern auch zu einer Verstärkung der Stadtbefestigung mit Wall und Bastionen nach altniederländischer Manier gegen Westen zur Oberrheinebene hin.5 Heidelberg wandelte sich zur frühneuzeitlichen Festung, ein Faktum, das aber nicht sonderlich erstaunt, waren doch viele Residenzstädte seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zu Festungen ausgebaut worden. In den Fortifikationen spiegelte sich weniger städtisches Schutzbedürfnis als vielmehr die Darstellung landesherrlicher Militärhoheit über das Territorium, das gesichert sein wollte.

1

Wolfgang Seidenspinner/Manfred Benner, Heidelberg (Archäologischer Stadtkataster Baden-Württemberg 32), Stuttgart 2006, S. 191f. 2 Ebd., S. 198f. 3 Vgl. hierzu Hans-Martin Mumm, Tore, Türme, Tiere, Tafeln. Gestaltungen und Zeichen städtischer Selbstdarstellung. Zur Vor- und Frühgeschichte des Stadtmarketings, in: Heidel­ berg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 12 (2008), S. 183–195, hier S. 185. 4 Seidenspinner/Benner, Heidelberg (wie Anm. 1), S. 194. Zur Heidelberger Stadtbefestigung siehe auch Einhart Kemmet, Neues zur Heidelberger Stadtbefestigung. Fundbeobachtungen der Archäologischen Abteilung des Kurpfälzischen Museums Heidelberg 1976–1998, in: Heidelberg. Jahrbuch zur Geschichte der Stadt 4 (1998), S. 177–192. 5 Seidenspinner/Benner, Heidelberg (wie Anm. 1), S. 195.

784 Christian Ottersbach

Abb. 45 

Plan der Festung Heidelberg mit Schnitten durch die Befestigungen im Jahr 1693, kurz vor der Eroberung durch die Franzosen. Foto: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Slg. Nicolai 137, fol. 10.

Heidelberg wurde in der Folge zu einem heftig umkämpften Platz, und auch nach dem Dreißigjährigen Krieg blieb die Stadt Festung, wie Ausbau- und Moderni­ sierungspläne aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Pfälzischen Erbfolgekrieg zeigen (Abb. 45). Die starken Befestigungen nützten allerdings wenig, als die Franzosen 1689 und 1693 Heidelberg eroberten und schließlich einäscherten.6 Nach der weitgehenden 6

Vgl. hierzu Thomas Flum/Carmen Flum, Der Wiederaufbau Heidelbergs nach der Zerstörung im Pfälzischen Erbfolgekrieg, in: Frieder Hepp/Hans-Martin Mumm (Hrsg.), Heidelberg im Barock. Der Wiederaufbau der Stadt nach den Zerstörungen von 1689 und 1693. Begleitband zur Ausstellung im Kurpfälzischen Museum der Stadt Heidelberg, Heidelberg 2009, S. 84–163, hier S. 90–92. Der dort auf S. 90, Abb. 3 abgebildete Grundriss der Stadt Heidelberg vom Dezember 1692 im Generallandesarchiv Karlsruhe, G Heidelberg 67, hat eine bisher unbekannte Entsprechung in der Sammlung Nicolai der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart (Slg. Nic. Bd. 137, fol. 10), die hier erstmals publiziert wird. Sie ist bezeichnet mit „Statt und Schloß Heydelberg sampt denen projectirten und zum theil vor seiner Übergab angefangenen Wercken ao. 1693“. Wie der Karlsruher Plan zeigt das Blatt Schnitte durch die Stadtmauer, diese allerdings im historischen Zustand und nicht mit der 1692 vorgesehenen Erhöhung durch Hurden zum Abwerfen von Granaten, wie sie das Karlsruher Blatt aufweist. Auch präsentiert das Stuttgarter Blatt einen vollständigen

Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts 785

Zerstörung der alten Pfälzer Residenz kam es zwar zu einer Wiederherstellung der Stadtmauer, nicht aber zum Wiederaufbau der geschleiften Festungswerke. Die Stadtmauer hatte nun vorwiegend nur noch die Funktion, den Rechtsbezirk Stadt vom Umland abzugrenzen und den Zutritt zu selbigem über Tore zu kanalisieren und zu kontrollieren. An den Eingängen in die Stadt wurden Pflastergeld und Zoll erhoben.7 Zedlers „Universal-Lexicon“ vermerkt 1744 nicht umsonst, dass ältere Stadtmauern unterhalten wurden, „weil sie für einen Anlauff “, also einen Überfall, „und zu besserer Ordnung in Beobachtung der einund ausgehenden Personen und Güter dienen; zu dem Ende die Stadt-Thore iederzeit wohl verwahret, und mit nöthigen Wachten und andern Bedienten besetzt gehalten werden.“8 Die Kurfürsten residierten nach 1693 überwiegend im unzerstörten Düsseldorf und verlegten schließlich 1720 die Residenz nach Mannheim, das mit seinem dem zeittypischen Ideal der Regularité folgenden Grundriss und den starken, sternförmig angelegten Fortifikationen eher dem Idealbild einer modernen Residenzstadt entsprach, als das altväterisch wirkende, so schwer in Mitleidenschaft gezogene Heidelberg. In Mannheim entstand ein monumentaler, repräsentativer Palast, der den aktuellen zeremoniellen Anforderungen und dem Prestige des Kurfürsten entsprach. Heidelberg erlebte zwar einen Wiederaufbau9 und blieb auch „die zweite Hauptstadt“10 des Kurfürstentums, doch gegenüber Mannheim verlor es sichtlich an Gewicht und Bedeutung. Erst unter Kurfürst Karl Theodor, der bis zum verheerenden Blitzschlag von 1764 vorhatte, das ruinöse Heidelberger Schloss als Sommersitz wieder herrichten zu lassen, änderte sich dies.11 Heidelberg erlebte „einen ökonomischen Entwicklungsschub, der es ne-

7

8 9

10 11

Schnitt durch die Werke der Westseite, hingegen das Karlsruher nur die Kontereskarpe vor dem Speyerer Tor zeigt. Die Südfront erscheint auf dem Stuttgarter Plan zwischen Klingentor und Schloss mit einer bastionierten Mauer befestigt, für die offene Neckarfront der Vorstadt sind, allerdings nur gepunktet, ebenfalls Bastionen eingezeichnet, die offenbar geplant waren, aber nicht mehr ausgeführt werden konnten. Karlstor 200 Jahre alt. Theodors Tor: Heidelberger Torheit. Prachtbau zu Ehren eines Förderers Heidelbergs – Baukostenexplosion schon im 18. Jahrhundert, in: Ruperto Carola. Heidelberger Universitätshefte 34 (1962), Heft 67/68, S. 208–209, hier S. 209. Johann Heinrich Zedler, Grosses Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Bd. 39, Spif-Sth., Leipzig/Halle 1744, Sp. 814. Vgl. hierzu Flum/Flum, Wiederaufbau (wie Anm. 6). Johann Goswin Widder, Versuch einer vollständigen Geographisch-Historischen Beschreibung der Kurfürstlichen Pfalz am Rheine, Erster Theil, Frankfurt a. M./Leipzig 1786, S. 125. Arnold Scheuerbrandt, Heidelbergs Aufstieg und Niedergang in kurpfälzischer Zeit. Gründung und Entwicklung von der „churfürstlichen Residenzstatt“ zur „zweiten Haupt- und ehemaligen Residenzstadt“, in: Elmar Mittler (Hrsg.), Heidelberg. Geschichte und Gestalt, Heidelberg 1996, S. 48–87, hier S. 78–80; Andreas Cser, Kleine Geschichte der Stadt und Universität Heidelberg, Leinfelden-Echterdingen 2007, S. 130f.

786 Christian Ottersbach

ben Kaiserslautern und Frankenthal zur größten kurpfälzischen Gewerbe- und Industriestadt werden ließ“.12 Ausdruck dessen scheinen die drei wichtigsten Stadteingänge im Norden, Westen und Osten zu sein, die alle unter Karl Theodor eine neue Fassung erhielten. Das steht offenbar auch in engem Zusammenhang mit den kurfürstlichen Bestrebungen zur Schaffung eines verbesserten und dichteren Straßennetzes. Unter Karl Theodor wurde Heidelberg zu einem Knotenpunkt der modernisierten Verkehrswege. Als Ost-West-Verbindung führte von Frankenthal über Mannheim und Heidelberg die Via Carola nach Heilbronn und in den Kraichgau.13 Und nicht nur in Heidelberg entstanden neue Stadttore, sondern als moderne Fassungen der Stadteingänge auch in Frankenthal und Neckargemünd, die zugleich mit plastischem Schmuck und Inschriftentafeln als moderne Triumphbögen vom Ruhme Karl Theodors als Landesvater kündeten.14 Das erste der drei Heidelberger Tore, das eine Erneuerung erfuhr, war das alte Speyerer Tor im Westen der Stadt, der Hauptzugang von Mannheim und der Oberrheinebene. Das Speyerer Tor war 1693 schwer beschädigt und danach nur teilweise wieder aufgebaut worden.15 1744 hatte man das erhaltene Torgewölbe abgetragen und den vormaligen Standort planiert. Etwas weiter westlich davon entstand dann 1750 bis 1752 das neue Tor, das zu Ehren des Kurfürsten und seiner neuen Residenz den programmatischen Namen „Mannheimer Tor“ erhielt und so auf die Straßenverbindung zwischen der neuen und der alten Residenzstadt verwies.16 Den Entwurf fertigte der kurpfälzische Oberbaudirektor Nicolas de Pigage. Er wurde unter leichten Abänderungen durch den kurpfälzischen Bauintendanten Francesco Rabaliatti verwirklicht. Ursprünglich auf den Ecken des Tores als Aufsätze vorgesehene steinerne Bomben als martialischer Schmuck wurden vom Kurfürsten abgelehnt, wohl nicht wegen des ikonographischen Inhalts, der für ein Tor durchaus angemessen war, sondern eher um Kosten einzusparen. Der Neubau des Tores erfolgte, und dies ist wesentlich, auf aus 12

Cser, Kleine Geschichte (wie Anm. 11), S. 130. Karlstor (wie Anm. 7) S. 208. 14 In Neckargemünd wurde 1784–1788 ein bescheideneres Karlstor nach Entwurf von F ­ riedrich ­Christoph Dyckerhoff erbaut. Dagmar Zimdars u. a. (Bearb.), Baden-Württemberg I. Die Regierungsbezirke Stuttgart und Karlsruhe (Georg Dehio, Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler), München/Berlin 1993, S. 565. Der Bau wirkt wie der Auftakt zu einer via triumphalis im Neckartal, deren End- und Höhepunktpunkt das Heidelberger Karlstor darstellt. 15 Zu den älteren Torbauten an dieser Stelle vgl. Ludwig Merz, Vor dem Speyerer Tor. Die sieben Wandlungen des westlichen Vorfeldes, in: Ruperto-Carola. Mitteilungen der Freunde der Studentenschaft der Universität Heidelberg e. V. XIV (1962), Bd. 32, S.170–178, hier S. 174. 16 Seidenspinner/Benner, Heidelberg (wie Anm. 1), S. 203. 13

Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts 787

drücklichen Wunsch des Landesherrn, er wurde allerdings aus eigenen Mitteln der Bürgerschaft finanziert. Das heißt, die Stadt kam für den Bau auf.17 Das Mannheimer Tor bestand aus einem Torhaus und seitlich angesetzten, viertelkreisförmigen, eingeschossigen Wachtgebäuden (Abb. 46, 47). Sie schlossen vermittels einer Mauer an die ältere Stadtmauer an. Neben der Wachstube und dem Lokal des Torschreibers erhielt der Bau neun Gefängnisse und eine Verhörstube.18 Flankiert wurde das Tor von zwei polygonalen Postenhäuschen, von denen heute noch eines, allerdings an andere Stelle versetzt, erhalten ist (Abb. 48). 1851 wurden die beiden Wachbauten abgebrochen, das Tor selbst 1856 abgetragen. Es ist aber in einer Zeichnung im Thesaurus Palatinus19 und in ­einer sehr frühen Fotografie überliefert (Abb. 46, 47). Letztere zeigt die Feldseite des Gebäudes.20 Die Fassade war durch eine Rustikabänderung gegliedert, das Tor mit angedeutetem Fallgatter auf der Feldseite von doppelten toskanischen Vollsäulen gerahmt, die den Giebel trugen. Er zeigte das kurpfälzische Wappen mit Ordenskleinodien und Kurhut, seitlich Löwen als Wappenhalter. Zum Tor gehörten auch

Abb. 46  Das Mannheimer Tor. Zeichnung aus dem Thesaurus Palatinus. Foto: Regierungspräsidium Karlsruhe, Landesamt für Denkmalpflege. 17

Karl Lohmeyer, Pfälzische Torbauten Nicolaus von Pigage’s und verwandte Bauwerke, in: Neues Archiv für die Geschichte der Stadt Heidelberg und der rheinischen Pfalz XII (1920), S. 133–187, hier S. 135–143. 18 Adolf von Oechelhäuser, Die Kunstdenkmäler des Großherzogthum Baden, Bd. 8: Kreis Heidelberg, Tübingen 1913, S. 107–108. 19 Johann Franz Capellini, Reichsfreiherr von Wickenburg, gen. Stechinelli, Thesaurus Palatinus. Handschrift 1747–1752, München, Geheimes Hausarchiv, Handschriften 317. 2 0 Oechelhäuser, Kunstdenkmäler (wie Anm. 18), S. 107.

788 Christian Ottersbach

Abb. 47  Das Mannheimer Tor kurz vor seinem Abbruch. Foto: Regierungspräsidium Karlsruhe, Landesamt für Denkmalpflege.

zwei steinerne Schilderhäuschen, die vom Kurhut bekrönt wurden. Interessant ist das „Fallgatter“, das sich in beiden Bögen der Einfahrt feld- und stadtseitig fand. Es ließ sich nicht hochziehen, das ist offensichtlich, sondern war lediglich zur Schau angebracht, ein wehrhaftes Zeichen, das mit der Außenarchitektur korrespondierte, die mit der Rustika und den schlichten Säulen deutlich auf den martialischen Charakter des Tores verwies. Damit wird der Stadteingang als wehrhafter Bau gekennzeichnet, auch wenn er realiter nicht zu verteidigen war,

Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts 789

Abb. 48 Ehemaliges

Postenhäuschen vom Mannheimer Tor. Foto: Melanie ­Mertens, Regierungspräsidium Karlsruhe, Landesamt für Denkmalpflege.

denn es fehlen Schießscharten oder eine Geschützplattform über der Durchfahrt. Sinnfällig wird hier aber das Thema Sicherheit inszeniert, die ein Stadttor ja zu garantieren hatte, indem hier durch die Wachen alle ein- und ausgehenden Personen kontrolliert wurden. In diesem Zusammenhang sind auch die Gefängnisse und das Verhörzimmer zu sehen. Sie dienten der Polizey, der öffentlichen Ordnung. Noch deutlicher und sinnfälliger wird dieser Zusammenhang in dem ungleich aufwändigeren Karlstor als östlichem Stadteingang (Abb. 49). Es war ursprünglich

790 Christian Ottersbach

Abb. 49 

Karlstor, Feldseite. Foto: Christian Ottersbach.

als Ersatz des „gäntzlich zerfallenen so genannten obern thores“ gedacht. Der Neubau erfolgte dann aber nicht genau am Standort des alten Tores, sondern etwas weiter östlich an einer Engstelle zwischen dem Neckarufer und dem Massiv des Königstuhls. Die Pläne für den Neubau reichen bis ins Jahr 1760 zurück.21 Wieder war es Kurfürst Karl Theodor, der den Neubau durch Reskript anordnete, und dies unter Anweisung einiger Kameraleinkünfte als Finanzierungshilfen für die Stadt. Das heißt, die Stadt musste auf Anweisung ihres Landesherrn den Torneubau ausführen lassen. Teure Straßenbaumaßnahmen verzögerten den Baubeginn allerdings um ein ganzes Jahrzehnt, bis Karl Theodor 1770 erneut Baugelder für acht Jahre bewilligte. Erst drei Jahre später, 1773, sah sich der Heidel­berger Stadtrat in der Lage, den Torbau in Angriff zu nehmen und erklärte, ein wirkliches Monument für die Stadt errichten zu wollen, „theils um dem allhiesighen alten Siz deren durchlauchtigsten Chur Vorfahren eine neue Zierde zu verschaffen, theils um den spätesten Nachkommen ein ewiges Denkmal der Gnaden unseres mildesten Beherrschers zu stiften“.22

21 Lohmeyer, Torbauten (wie Anm. 17), S. 143.

2 2 Ebd.

Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts 791

Abb. 50 

Karlstor, Seitenansicht mit apsidenförmigem Anbau. Foto: Christian Ottersbach.

Wieder wurde Pigage mit dem Entwurf beauftragt, der schon 1772 in Frankenthal mit dem Speyerer Tor einen ähnlich triumphalen Stadtzugang geschaffen hatte.23 Am 2. Oktober 1775 erfolgte unter Teilnahme des kurfürstlichen Auftraggebers die feierliche Grundsteinlegung. Das Tor sollte, wie die Zeitung vermeldete, „nach Römischem Geschmack und Bauarth“ errichtet werden.24 1784 war es

2 3

Wiltrud Heber, Pigages Leben und Werk, in: Nicoals de Pigage (1723–1796). Architekt des Kurfürsten Carl Theodor. Zum 200. Todestag, hrsg. v. Stadtmuseum Düsseldorf, Düsseldorf/Köln 1996, S. 16–80, hier S. 22. 2 4 Lohmeyer, Torbauten (wie Anm. 17), S. 148.

792 Christian Ottersbach

fertig. Den Skulpturenschmuck hatten der Hofbildhauer Peter S. Lamine, ein Schüler Verschaffelts, und sein Gehilfe Johann Künstler geschaffen.25 Der Neubau kam nahe am Felsen des Königstuhls und hart am Neckarufer zu stehen, dort gestützt durch massive Substruktionen. Heute sind diese nicht mehr sichtbar, weil später das Neckarufer verbreitert und das Tor mit Straßen umgeben wurde und somit heute als denkmalhafter Solitär steht. Ursprünglich muss das Tor, das wohl durch Gitterflügel geschlossen wurde, für die aus dem Neckartal Ankommenden äußerst eindrucksvoll und monumental gewirkt haben, fast wie eine wehrhafte Klause im Gebirge. Um das Tor besser wahrnehmen zu können, wurde eigens die bisher recht schmale Uferstraße verbreitert und ausgebaut.26 Das neue östliche Stadttor wurde zu einem Denkmal für den Landesherrn, was sich schon in seiner zeitgenössischen Namengebung spiegelt. Es sollte ein Monument der Ergebenheit der Bürgerschaft gegenüber ihrem Landesherrn sein, dem Heidelberg so viel verdankte. Daher stellt das Karlstor letztendlich zuerst einmal nichts anderes als eine in dauerhaftem Material erstellte Ehrenpforte für den Kurfürsten dar, und so erklärt sich auch die Anlehnung des Baus einerseits an einen antiken Triumphbogen. Nicht umsonst hatte die Zeitung bei der Grundsteinlegung im Angesicht des dabei aufgestellten Modells von römischer Bauart gesprochen. An den Schmalseiten bildet der Bau Apsiden mit kleinen Anbauten aus (Abb. 50). Im Gegensatz zu den glatten Wandflächen des Mittelteils setzen sich diese durch eine starke Rustizierung ab. Über dem Gebälk sitzen halbrunde Zinnen. Das verleiht diesen Anbauten den Charakter von flankierenden Türmen, sie erscheinen fast als Zitat eines Doppelturmtores, wie es das Brückentor darstellt. Der große Torbogen wird wie das Mannheimer Tor und das Speyerer Tor in Frankenthal von Vollsäulen gerahmt, und zwar auf der Feld- wie auf der Stadtseite. Sie stehen auf hohen Postamenten und gehören der dorischen Ordnung an. Leonhard Christoph Sturm hatte 1719 in seiner „Architectura civili-militaris“ über die korrekte architektonische Ordnung für Stadttore festgehalten, dass diese „aus der Dorischen Ordnung gezeichnet werden“ sollten. „Im Fall aber Mauren um eine Stadt stehen, und aussen denselben besondere Wälle geführet sind, stehet es sehr prächtig, wann […] die Thore aber durch die Stadt-Mauren als Ehren-Pforten außgezieret/ und gantz offen gelassen werden.“27 Den Charakter als Ehrenpforte unterstreicht der Schmuck der Attika auf der Vorder- und Rückseite. Hier erscheinen auf der Stadtseite in einem vom Kurhut

2 5 Ebd., S. 150f. 2 6 Ebd., S. 152.

27 Leonhard Christoph Sturm, Architectura civili-martialis, Augsburg 1719, S. 4.

Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts 793

Abb. 51 

Karlstor, Medaillon über der Stadtseite mit Darstellung Kurfürst Karl Theodors und Kurfürstin Elisabeth Auguste. Foto: Christian Ottersbach.

bekrönten Medaillon Karl Theodor und seine Gemahlin im Profil (Abb. 51). Links und rechts liegen wie am Speyerer Tor in Frankenthal die kurpfälzischen Löwen. Der Löwe als Wappentier erscheint außerdem mit seinem Haupt als Schlussstein der beiden Torbogen und, stehend, in den kleinen Hochovalmedaillons als Bekrönungen der Tafeln zwischen den Fensteröffnungen der seitlichen Apsidenbauten (Abb. 52). Es handelt sich in diesem Fall um das Heidelberger Stadtwappen, das hier untergeordnet dem landesherrlichen Wappen erscheint. Besonders martialisch gibt sich der Bauschmuck auf der Feldseite, denn hier findet sich das kurpfälzische Wappen zwischen Trophäen aus Waffen und Harnischen. Auch hier ruhen zu beiden Seiten Löwen. Eine lateinische Inschrift verweist auf die Funktion des Bauwerks als eine Art Triumphbogen zum Ruhme Karl Theodors, den ihm die Stadt Heidelberg errichtet hat: „Carolo Theodoro/ S.R.I. Archidapferio Electori Patriae Patri/ Pacis Artibus Providentia Clementia vere magno Heidelberga/ Comitum Palatinorum ad Rhenum et Electorum Antiquu sedes/ Doctrinae et literarum natrix/ monumentum hoc devoted: dedicat: MDCCLXXXI“. Dorika, Rustikamauerwerk und Zinnen verleihen dem als Ehrenpforte aufgefassten Bauwerk aber in seiner Funktion als Stadttor wieder einen wehrhaften

794 Christian Ottersbach

Abb. 52 

Karlstor, Heidelberger Stadtwappen mit aufrecht schreitendem Löwen zwischen den geschützschartenartigen Fenstern. Foto: Christian Ottersbach.

Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts 795

Abb. 53 

Johann Rudolph Fäsch: Karlstor, Wasserspeier in Form von Kanonenrohren. Foto: Christian Ottersbach.

Charakter.28 Dieser wird noch betont durch die Fensteröffnungen der Wachstuben in den Apsiden, die mit ihren sich nach außen trichterförmig weitenden Gewänden wie Geschützscharten erscheinen. Tatsächlich aber handelt es sich lediglich um vergitterte Fenster. Über diesen Fenstern ragen aus dem umlaufenden Gebälk Wasserspeier zur Entwässerung der Dachflächen hinter den Zinnenaufbauten. Sie sind als Mündungsrohre von Geschützen gestaltet, was unmittelbar an die Anbringung von steinernen Kanonenrohren in Säulenform zur Rahmung von Festungstoren wie am Werk Teutschland auf dem Würzburger Marienberg denken lässt (Abb. 53, 54). Die ganze Architektur erinnert augenscheinlich an barockzeitliche Festungsportale, die sich der Stilmittel der Rustika und der dorischen Ordnung zur Charakterisierung als Bauwerke der militärischen Festigkeit bedienten. Sehr ähnlich gestaltet war zum Beispiel das 1725 erbaute Rheintor in der Umwallung der Residenzstadt Mannheim, das architektonisch aufwändigste der Tore. Auch hier flankierten doppelte Vollsäulen, in diesem Fall der toskanischen Ordnung, 28

Die Heidelberger Tore geben sich damit weitaus wehrhafter in ihrem Erscheinungsbild als die beiden Tore in Frankenthal, die unter Carl Theodor entstanden.

796 Christian Ottersbach

Abb. 54 

Würzburg, Festung Marienberg. Portal am Werk „Teutschland“. Foto: Christian ­Ottersbach.

einen Bogen, der sich in einer rustizierten Wandfläche öffnete. Das ganze wurde von zwei Sklaven bekrönt, welche den pfälzischen Kurhut präsentierten.29 2 9

Hans Huth (Bearb.), Die Kunstdenkmäler des Stadtkreises Mannheim (Die Kunstdenkmäler in Baden-Württemberg, hrsg. v. Landesdenkmalamt Baden-Württemberg), München 1982, S. 112.

Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts 797

Abb. 55  Johann Rudolph Fäsch: Entwurf zu einem Blockhaus auf einer Brücke. Foto: Würt­tembergische Landesbibliothek Stuttgart, Slg. Nicolai 16, fol. 31.

Das Heidelberger Karlstor sollte mit seinen militärischen Details offensichtlich einen martialischen, Ehrfurcht gebietenden und Sicherheit vermittelnden Eindruck erwecken. Man fühlt sich fast an Johann Rudolph Fäschs Entwurf zu einem „Blockhaus“ erinnert, das zur Sicherung einer Brücke, also einer Engstelle, gedacht war (Abb. 55). Es wird durch eine Rustikabänderung charakterisiert, in der Fassade sitzen Geschützscharten, deren Gestaltung an das Karlstor denken lässt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Pigage diesen Idealentwurf, der als Teil eines Werkes zur Fortifikationsarchitektur 1725 in Kupfer gestochen ist und sich als Einzelblatt in der Sammlung Nicolai in der Stuttgarter Landesbibliothek befindet30, kannte und durch ihn zu seiner Gestaltung angeregt wurde. Fest steht aber, dass das Karlstor nicht nur den Ruhm des Landesherrn vorführt, sondern ebenso das Thema der Sicherheit. Das Tor erscheint als wehrhafter Bau innerer Sicherheit, der Polizey, und hierzu passt nun wieder, dass in den Untergeschossen der beiden Apsiden sich drei, bedingt durch die unmittelbare Lage am Neckar, ziemlich feuchte Gefängnisse befanden. In ihnen

3 0

Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Slg. Nicolai Bd. 16, fol. 31.

798 Christian Ottersbach

Abb. 56 

Brückentor, Feldseite. Foto: Regierungspräsidium Karlsruhe, Landesamt für Denkmalpflege.

Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts 799

Abb. 57 

Brückentor, Stadtseite. Foto: Christian Ottersbach.

800 Christian Ottersbach

warteten übrigens 1811 auch Mitglieder der berühmt-berüchtigten HölzerlipsBande auf ihre Hinrichtung.31 Da war Heidelberg schon großherzoglich-badisch. Als letztes der drei Heidelberger Haupttore erfuhr das Brückentor eine Neugestaltung (Abb. 56, 57). Anlass hierzu gab die Zerstörung der alten, hölzernen überdachten Neckarbrücke durch Eisgang 1784. Der Neubau erfolgte nun in Stein bis 1788. Der ursprünglich in Fachwerk errichtete Oberbau des Torhauses zwischen den beiden schlanken Rundtürmen wurde nun in Stein ausgeführt.32 Die Fassade zeigt eine Rustikabänderung ähnlich dem Mannheimer Tor, und auch die beiden begleitenden Türme mit ihren maulschartenartigen Öffnungen umziehen Bänder. Wie das Mannheimer Tor zeigt das Brückentor ein Scheinfallgatter, das nicht beweglich, sondern fest installiert ist. Wieder wird der Torbau also in seiner Festigkeit herausgestellt. Er erhielt auf der Feldseite einen flachen Giebel als Abschluss. Die Torbogen sitzen in rechteckigen Blenden, die an Anschläge für Zugbrücken erinnern, die es aber nicht gab. Während am Karlstor der Kurfürst durch ein Porträtmedaillon gemeinsam mit seiner Gemahlin in Erscheinung tritt, wurde er hier nicht direkt am Tor bildhaft in Szene gesetzt, sondern statt dessen ein ganzfiguriges Standbild auf der Brücke errichtet (Abb. 58). Die Räume in den Türmen zu beiden Seiten des Tores dienten als Arrestzellen33, waren also wieder Bestandteil der Polizey, der inneren Sicherheit. Das Brückentor zeigt auf der Stadtseite über der Durchfahrt eine Tafel, die vermeldet, dass das Tor am 16. Oktober 1799 durch das österreichische Ulanen­ regiment Fürst Schwarzburg erfolgreich gegen den Ansturm der Franzosen gehalten wurde. Noch 1913 waren Einschusslöcher am Torbau sichtbar.34 Der Vorfall zeigt, dass auch in der Zeit um 1800 veraltete Befestigungen noch einen gewissen Wert besaßen, wie ja schon oben kurz angerissen wurde. Beim Brückentor reichte der wehrhafte Charakter also noch über die zeichenhafte Bedeutung hinaus, das Tor funktionierte auch im Ernstfall. Die drei vorgestellten Heidelberger Stadttore zeigen deutlich, dass innere und äußere Sicherheit, in diesem Fall vor allem die Kontrolle der Stadteingänge, ihren bildhaften Ausdruck in den wehrhaften Formen der architectura militaris fanden: Rustiziertes Mauerwerk, die toskanische und dorische Säulenordnung, Scheinschießscharten und Wasserspeier in Form von Kanonen signalisierten zeichenhaft Verteidigungsbereitschaft. Die Heidelberger Tore fungierten in 31

Karlstor (wie Anm. 7), S. 209. Oechelhäuser, Kunstdenkmäler (wie Anm. 18), S. 96; Seidenspinner/Benner, Heidelberg (wie Anm. 1), S. 199. 3 3 Oechelhäuser, Kunstdenkmäler (wie Anm. 18), S. 97. 3 4 Ebd., S. 96. 3 2

Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts 801

Abb. 58 

Neckarbrücke, Standbild Kurfürst Karl Theodor. Foto: Christian Ottersbach.

doppelter Hinsicht als Zeichen der Herrschaft und Polizey. Zum einen waren sie Zeichen der Landesherrschaft, denn Karl Theodor trat als ihr Bauherr auf und machte dies in Form des kurpfälzischen Wappens deutlich, unterstützte aber die Stadt bei der Finanzierung „ihrer“ Stadttore. Zedler schreibt 1744: „Das

802 Christian Ottersbach

Abb. 59 Innsbruck, Triumphpforte, 1765. Foto: Christian Ottersbach.

Eigenthum derer Stadt-Mauern betreffend; so ist solches unstreitig niemand anders, als dem Landes-Herrn, oder demjenigen Fürsten zuzueignen, dessen Wappen an dieselbe gemahlet, oder sonst angemachet ist.“35 Die Stadtmauern, und somit auch die Tore, fielen also unter das hoheitliche Befestigungsprivileg. Daher diese auch nicht „ohne Wissen und Willen des Landes-Herrn so wenig von neuem aufgeführet, als nur ausgebessert oder erweitert, noch auch

3 5

Zedler, Universal-Lexicon (wie Anm. 8), Sp. 814.

Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts 803

an oder auf dieselben etwas gebauet, oder von iemandem bewohnet, und sonderlich zur Nacht-Zeit überstiegen, oder sonst versehret werden dürffen“.36 Die Stadt konnte also gar nicht als Bauherrin ihrer Befestigung auftreten, war aber verpflichtet die Tore zu errichten. So wurde es auch in der Residenzstadt Mannheim gehalten.37 Am Karlstor allerdings verwies die Stadt auf ihre hoheitlichen Ordnungsfunktionen durch die dezente Anbringung ihres Wappens just an jenen Bauteilen, welche die Gefängnisse beinhalteten, in denen jene inhaftiert wurden, die eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellten. Durch die Nutzung aller drei Torbauten als Gefängnisse, wobei das Mannheimer Tor sogar über ein Verhörzimmer verfügte, wurden sie nicht nur zu Bauten der äußeren, sondern auch der inneren Sicherheit. Die inszenierte Wehrhaftigkeit der Heidelberger Tore fällt hierbei auf, denn es handelte sich ja nicht mehr um echte Festungstore. In anderen landesherrlichen Städten wie Berlin, Potsdam oder Ludwigsburg, die nicht durch Festungswerke geschützt wurden, sondern lediglich von Akzise­ mauern umgeben waren, die unter anderem der Verhinderung der Desertion der in der jeweiligen landesherrlichen Garnison stationierten Soldaten dienen sollten, wurde auf solch wehrhafte Wirkung verzichtet. Im württembergischen Ludwigsburg beschränkte man sich auf Wachhäuser, die jeweils auf einer Seite der Toranlage standen, und auf rustizierte Pfeiler als Fassungen, welche von Trophäen mit dem landesherrlichen Wappen bekrönt wurden.38 In Potsdam und Innsbruck entstanden hingegen äußerst prachtvolle Torbauten, die – vergleichbar dem Heidelberger Karlstor – als dauerhafte Ehrenpforten gestaltet wurden, so das Brandenburger Tor in Potsdam, das die Verbindung zu den Gärten und Palastbauten von Sanssouci darstellte39, oder in Innsbruck die Triumphpforte, die anlässlich eines Besuches Kaiserin Maria Theresias und ihres Gemahls Franz Stephan zur Hochzeit des Erzherzogs Leopold mit der spanischen Infantin Maria Ludovica 1765 in aller Eile errichtet und zu einem Denkmal der Kaiserin und ihres während der Feierlichkeiten plötzlich verstorbenen Gemahls wurde (Abb. 59). Es markierte einen der alten Hauptzugänge nach Innsbruck und diente wie das Heidelberger Karlstor als repräsentativer Stadteingang.40 3 6 Ebd., Sp. 815. 37

Huth, Kunstdenkmäler (wie Anm. 28), S. 110. Vgl. hierzu Günther Bergan, „Die Kriegsmacht zu stützen, die Bürger zu schützen …“. Torhäuser, Tore und Stadtmauer von Ludwigsburg, in: Ludwigsburger Geschichtsblätter 58 (2004), S. 1–42. 3 9 Vgl. hierzu Friedrich Mielke, Potsdamer Baukunst. Das klassische Potsdam, Frankfurt a. M./ Berlin/Wien 1981, S. 357. 4 0 Zur Innsbrucker Triumphpforte vgl. Markus Neuwirth, Architektur um 1800, in: Paul Naredi-Rainer/Lukas Madersbacher (Hrsg.), Kunst in Tirol, Bd. 2: Vom Barock bis in die Gegenwart, Innsbruck/Wien 2007, S. 187–199, hier S. 192–193. 3 8

804 Christian Ottersbach

Abb. 61 

Wesel, Berliner Tor, Feldseite. Foto: Christian Ottersbach.

Sowohl das Brandenburger Tor in Potsdam als auch die Triumphpforte in Innsbruck rekurrierten weit mehr auf die klassische Architektur römischer Triumphbögen mit einer zentralen hohen und zwei seitlichen kleineren Durchfahrten als das Karlstor in Heidelberg, das sich im Gegensatz zu diesen wie ein Festungseingang ausnimmt und in dieser Form eher an das bereits erwähnte Rheintor in Mannheim oder – ein erhaltenes Beispiel – das Berliner Tor in W ­ esel (Abb. 60, 61) denken lässt, ein richtiges Festungstor des 18. Jahrhunderts. Die Form des Triumphbogens entsprach dabei zeitgenössischen Forderungen nach besonders aufwändig gestalteten Stadteingängen, welche sowohl der Stadt zur Zierde gereichen wie auch ihrem Herrn zum Ruhme dienen sollten. Darauf verwies unter anderem 1753 der Jesuitenpater Marc-Antoine Laugier in seinem „Essai sur l’architecture“.41 In Heidelberg wie in Wesel oder Mannheim finden sich die doppelte Säulenstellung dorischer Ordnung und die Rustikabänderung. Die Dorika aber war nach Auffassung der Architekturtheorie mit Berufung auf die antike Charakterlehre

41

Vgl. hierzu Stefan Schweizer, Zwischen Repräsentation und Funktion. Die Stadttore der Renaissance in Italien (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 184), Göttingen 2002, S. 13f.

Die Heidelberger Stadttore des 18. Jahrhunderts 805

Abb. 60 

Heidelberg, Karlstor, Stadtseite. Foto: Christian Ottersbach.

der Säulenordnungen die männliche Ordnung, des Kriegers würdig, weshalb zum Beispiel Wendel Dietterlin in seiner Architectura 1598 die dorische Säule mit einem römischen Krieger gleichsetzte.42 Damit war sie die ideale Ordnung zur Charakterisierung von Festungseingängen, und so erscheint sie auch als Zeichen vermeintlicher Wehrhaftigkeit und Verteidigungsbereitschaft am Karlstor in Heidelberg als dem aufwändigsten der drei neuen bzw. erneuerten Stadttore. Die Wehrhaftigkeit einer Stadt aber erschien noch „in der Neuzeit als Schmuck, als ornatus“. Strenge und abweisende Formen des decorum vermittelten dabei die Wehrhaftigkeit der Befestigungen.43 So werden die Tore, charakterisiert als Bauwerke der Verteidigung und der Sicherheitsgarantie, zu Zeichen der inneren Sicherheit, die sich gegen jene richtet,

42

Wendel Dietterlin, Architectura, Ndr. der Ausgabe von 1598, Braunschweig/Wiesbaden 1983, S. 62. Zu den Genera der Säulen und ihrer richtigen, angemessenen Anwendung vgl. Ulrich Schütte, Ordnung und Verzierung, Untersuchungen zur deutschsprachigen Architekturtheorie des 18. Jahrhunderts (Schriften des Deutschen Architekturmuseums zur Architekturgeschichte und Architekturtheorie), Braunschweig/Wiesbaden 1986, S. 89–108, hier bes. S. 95f. u. S. 104. 4 3 Schweizer, Repräsentation und Funktion (wie Anm. 40), S. 20 u. 24.

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welche die öffentliche Ordnung, die Polizey, gefährden. Die potentiellen Gefährder dieser Ordnung werden in diesen „Festungen“ weggeschlossen und sicher verwahrt. Das Thema Sicherheit, die sichere Verwahrung drückt sich also hier in Fortifikationsarchitektur aus. Im 19. Jahrhundert wird sich das zum Teil in regelrechten Gefängnisburgen wie dem Zuchthaus in Bruchsal niederschlagen44, die mit der Inszenierung wehrhafter Architekturen den so oft als Staatsgefängnis genutzten landesherrlichen Festungen entsprechen, man denke hier nur an den württembergischen Hohenasperg.

4 4

Vgl. hierzu Andreas Bienert, Gefängnis als Bedeutungsträger. Ikonologische Studie zur Geschichte der Strafarchitektur (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXXVII Architektur 20), Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 192.

Ulrich Rosseaux

Sicherheit durch Licht? Zur Entwicklung von öffentlichen Straßenbeleuchtungen in frühneuzeitlichen Städten Die nächtens beleuchtete, ja erleuchtete Stadt ist eine der Ikonen der Moderne. In der künstlichen Helligkeit manifestiert sich der Triumph über natürliche Zeitrhythmen, zugleich steht sie zeichenhaft für die niemals schlafende, immer vor Aktivität vibrierende Metropole.1 Die Strahlkraft dieser Metapher städtischer Modernität überdeckt freilich, dass die Geschichte der öffentlichen Beleuchtung kommunaler Straßen und Plätze deutlich älter als die Moderne ist. Vielmehr reichen die Wurzeln dieses Phänomens bis weit in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts zurück. Vorreiter waren die beiden großen Metropolen London und Paris, wo 1662 bzw. 1667 in großem Maßstab Laternen zur Beleuchtung des öffentlichen Raumes aufgestellt wurden.2 Andere europäische städtische Zentren folgten rasch.3 Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation war Hamburg 1673 die erste Stadt, die sich eine Straßenbeleuchtung leistete, gefolgt von Berlin 1679, Wien 1687, Hannover 1696, Leipzig 1702 und Dresden 1705.4 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts avancierte die Straßenbeleuchtung dann zumindest in den größeren Kommunen des deutschen Sprachraums zur urbanen Standardausstattung und in der Zeit um 1800 begannen dann auch immer mehr Städte mittlerer Größe öffentliche Laternen aufzustellen.5 1

2

3 4

5

Vgl. Lynda Nead, Victorian Babylon. People, streets, and images in nineteenth-century London, New Haven (Conn.) u. a. 2000; John A. Jakle, City Lights. Illuminating the American Night, Baltimore/London 2001; Wolfgang W. Schivelbusch, Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München/Wien 1983; Mark J. Bouman, Luxury and Control. The Urbanity of Street Lighting in Nineteenth-Century Cities, in: Journal of Urban History 14 (1987), S. 7–37; Peter R. Gleichmann, Nacht und Zivilisation, in: Martin Baethge/Wolfgang Eßbach (Hrsg.), Soziologie. Entdeckungen im Alltäglichen. Hans Paul Bahrdt, Festschrift zu seinem 65. Geburtstag, Frankfurt a. M./New York 1983, S. 174–195. Außerdem immer noch lesenswert ist Schivelbusch, Lichtblicke (wie Anm. 1). Vgl. Eugène Defrance, Histoire de l’éclairage des Rues de Paris, Paris 1904; Boris Barth, Leichen, Röhren und die Straßenbeleuchtung von Paris, in: Christian Kleinschmidt (Hrsg.), Kuriosa der Wirtschafts-, Unternehmens- und Technikgeschichte. Miniaturen einer „fröhlichen Wissenschaft“, Essen 2008, S. 12–14. Vgl. Enrico Guidoni, L’illuminazione a Roma nell’Ottocento, Rom 1986. Vgl. Erik Verg, Licht für Hamburg. 600 Jahre öffentliche Beleuchtung, 100 Jahre elektrische Straßenbeleuchtung, Hamburg 1982; 300 Jahre Straßenbeleuchtung in Berlin. [Katalog zur] Ausstellung im Berlin-Pavillon 18. 9.–18. 11. 1979, Berlin 1988; Herbert Liman, Mehr Licht. Geschichte der Berliner Straßenbeleuchtung, Berlin 2000; P. G. Müller, Die Einführung der künstlichen Straßenbeleuchtung in den sächsischen Städten, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 30 (1909), S. 144–151. Vgl. (in Auswahl): Wie das Licht in die Stadt kommt. 275 Jahre Straßenbeleuchtung in München, hrsg. v. der Landeshauptstadt München, München 2004; Jens Geiling/Doreen

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Bei diesen Straßenbeleuchtungen kamen in der Regel Laternen zum Einsatz, die mit pflanzlichem Öl betrieben wurden, seltener solche, in denen Pech, Tran oder Kerzen für Helligkeit sorgten.6 Aufgestellt wurden Laternen teils auf ­eigens dafür errichteten Pfählen, häufig jedoch wurden die Häuserwände zur Anbringung der Lampen genutzt. Entweder wurden die Leuchten mit festen Halterungen dort angebracht oder es kamen Seilzugsysteme zum Einsatz, wie beispielsweise in Paris. Die Halteseile waren an den Hauswänden befestigt und man konnte die Laternen zum Anzünden herunterlassen. Technisch veränderten sich die vormodernen Straßenbeleuchtungen des 17. und 18. Jahrhunderts von einer Ausnahme abgesehen kaum: Diese Ausnahme war die sogenannte Reverbere, eine Öllampe mit Docht, deren Licht durch einen Reflektorspiegel verstärkt wurde. Diese Innovation kam 1769 in Paris erstmals im großen Stil zum Einsatz, andere Kommunen wie beispielsweise Frankfurt am Main oder Nürnberg folgten im ausgehenden 18. Jahrhundert.7 Zwar lagen auch die mit diesen Laternen erreichbaren Lichtstärken unterhalb der Leuchtkraft von Gaslaternen oder elektrischen Lampen. Dennoch stellte die Einführung von Straßenbeleuchtungen eine bedeutsame qualitative Veränderung im europäischen Städtewesen der Frühen Neuzeit dar. Durch die nächtliche Erleuchtung wurde der öffentliche urbane Raum auch in solchen Zeiträumen nutzbar, in denen dies bislang in dieser Form nicht möglich gewesen war. Zwar hatte man sich auch zuvor zu behelfen gewusst oder genauer: aufgrund der in Europa gegebenen jahreszeitlichen Veränderungen der natürlichen Helligkeit behelfen müssen. Wer immer in den dunklen Monaten zwischen Oktober und März in den Abendstunden in einer Stadt unterwegs war bzw. sein musste, konnte Pöschl, Der Fürst, dem kein Licht aufging. Die Dessauer Straßenbeleuchtung um 1800, in: Heinrich Dilly/Holger Zaunstöck (Hrsg.), Fürst Franz. Beiträge zu seiner Lebenswelt in Anhalt-Dessau 1740–1817, Halle a. d. S. 2005, S. 116–125; Über die Straßenbeleuchtung in Eisleben um 1800: im Stadtarchiv gefunden, in: Amtsblatt. Amtliches Mitteilungsblatt der Lutherstadt Eisleben mit den Ortschaften Bischofrode, Burgsdorf, Hedersleben, Osterhausen, Polleben, Rothenschirmbach, Schmalzerode, Unterrißdorf, Volkstedt und Wolferode 11 (2001), Heft 8, S. 4–5; Peter Lange, Zur Entwicklung der städtischen Straßenbeleuchtung in Mitteldeutschland, in: Helmuth Albrecht (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte von Bergbau, Geologie und Denkmalschutz. Festschrift zum 70. Geburtstag von Otfried Wagenbreth, Freiberg 1998, S. 106–114; Wilhelm Streve, Zur Geschichte der Straßenbeleuchtung der Stadt Jena (nach Akten des Universitäts- und Stadtarchivs), Jena [1933]; Magdeburgs Straßenbeleuchtung im Jahre 1786, in: Montagsblatt. Das Heimatblatt Mitteldeutschlands 71 (1929), Nr. 52, S. 422–423. 6 Zur Geschichte und Technik der Öllampen siehe Jutta Matz/Heinrich Mehl (Hrsg.), Vom Kienspan zum Laserstrahl. Zur Geschichte der Beleuchtung von der Antike bis heute, Husum 2000. 7 Vgl. http://www.strassenlicht.de/index.php?option=com_content&view=article&id=45:­ geschichte-und-bedeutung&catid=34:grundlagen-der-strassenbeleuchtung&Itemid=53 (28. 04. 2012).

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eine eigene Handlaterne oder einen Kienspan mitführen, um seine Umgebung notdürftig zu erhellen. Diese individuelle Form der Straßenbeleuchtung hatte aber zwei gravierende Nachteile: Zum einen konnten Handlaternen und Kienspäne bei der Lichtausbeute kaum mit den öffentlichen Laternen des 17. und 18. Jahrhunderts mithalten. Und zum anderen waren sie für weite Teile der frühneuzeitlichen Stadtbevölkerung schlicht zu teuer. Die öffentlichen Straßenlaternen hingegen leuchteten prinzipiell für jedermann. Allerdings strahlten auch sie keineswegs gratis. Vielmehr waren sowohl die Einrichtung als auch der Betrieb einer öffentlichen Beleuchtung mit erheblichen Unkosten verbunden. Denn: Selbst wenn nur die wichtigsten Straßen und Plätze einer Kommune mit Laternen versehen wurden, stieg deren Zahl rasch in respektable Größenordnungen. Die Hamburger Straßenbeleuchtung beispielsweise startete 1673 mit rund 400 Laternen, in Dresden waren 1705 anfangs 750 Laternen geplant, von denen zunächst aber nur 651 tatsächlich errichtet wurden.8 Am Ende des 18. Jahrhundert verbreiteten dann mehr als 1 200 Straßenleuchten ihr Licht in der kursächsischen Residenz. Noch größere Dimensionen hatte mit 1 325 Laternen im gleichen Zeitraum die Straßenbeleuchtung im ostpreußischen Königsberg.9 Zu deren Betrieb und Unterhalt mussten jährlich mehr als 4 000 Reichstaler aufgebracht werden. In Würzburg fielen im Rechnungsjahr 1792/93 für die gerade neu eingerichtete Straßenbeleuchtung Gesamtausgaben von 5 934 Gulden an.10 Den größten Einzelposten machte dabei hier – wie andernorts auch – das Lampenöl aus, für das rund 4 200Gulden aufzubringen waren. Hinzu kamen die Ausgaben für das Personal, das für das Anzünden und die Überwachung der Laternen erforderlich war. Die genannten Beispiele illustrieren einen allgemeinen Befund: Für den Betrieb einer Straßenbeleuchtung in einer Stadt des 18. Jahrhunderts waren einige tausend Taler pro Jahr aufzuwenden. Deshalb war man in den frühneuzeitlichen Kommunen um einen möglichst effektiven Ressourceneinsatz bemüht. Dazu dienten Brennkalender oder Laternen­ordnungen, mit denen geregelt wurde, wann die Laternen anzuzünden seien und wie lange sie leuchten sollten.11 Diese Bestimmungen orientierten sich sowohl an den jahreszeitlichen Veränderungen des Tageslichts als auch an den Mondphasen. Dies lässt sich exemplarisch an einer aus dem Jahr 1689 überlieferten und wahrscheinlich aus Hamburg stammende Laternenordnung 8

Vgl. Ulrich Rosseaux, Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden (1694–1830) (Norm und Struktur 27), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 64f. 9 Vgl. Ueber die öffentliche Gassenbeleuchtung in Königsberg. (mit Tabelle), in: Blätter für Polizei und Kultur 2 (1803), S. 1073–1079. 10 Vgl. Rechnungsauszug über die nächtliche Beleuchtung der Hochfürstl. Residenzstadt Wirzburg vom ersten März 1791 bis dahin 1792. (mit Tabellen), in: Journal von und für Deutschland 9 (1792) 11. Stück, S. 953–956. 11 Vgl. Rosseaux, Freiräume (wie Anm. 8), S. 65.

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zeigen.12 Für den Monat Januar war dort eine Gesamtbrenndauer der Laternen von insgesamt 247  ½ Stunden vorgesehen, im Februar sank dieser Wert auf 189  ½ Stunden und bis zur sommerlichen Tag-und-Nacht-Gleiche nahmen die monatlichen Leuchtzeiten dann immer weiter ab. Danach stiegen sie wieder an und erreichten im Dezember wieder das Niveau des Januar. Analog dazu ging auch die maximale nächtliche Brennzeit zurück. Zwischen dem 6. und 14. Januar waren Leuchtzeiten von 13  ½ Stunden pro Nacht vorgesehen, im Februar wurden dagegen höchstens noch zwölf Stunden erreicht. In den Sommermonaten waren es dann nur noch wenige Stunden. Typisch ist auch das Anpassen der nächtlichen Beleuchtungszeiten an die Mondphasen. Besonders lange sollten die Laternen zur Zeit des Neumonds leuchten. Mit zunehmendem Mond sank dann die nächtliche Beleuchtungsdauer und während des Vollmonds wurde auf das Anzünden der Laternen gänzlich verzichtet. Der Brennkalender verzeichnet für diese Zeit ein lakonisches „alles rein machen“, was auf die Sauberkeits- und Instandhaltungspflichten der Laternenwächter verweist. Die Rücksichtnahme auf die Mondphasen ist zudem ein Indiz für die Lichtstärke der ölbefeuerten Straßenbeleuchtung. Angestrebt und erreicht wurde demnach ein Helligkeitsniveau, das dem einer klaren Vollmondnacht entsprach. Angesichts des finanziellen und organisatorischen Aufwands für die Einführung und den Betrieb von öffentlichen Straßenbeleuchtungen stellt sich zwangsläufig die Frage nach den Motiven, die zu ihrer Errichtung führten. Die durchaus nennenswerte Zahl an Residenzstädten wie Paris, Wien, Berlin, Hannover oder Dresden unter den Kommunen, die bereits früh eine öffentliche Straßenbeleuchtung erhielten, legt die Idee nahe, dass diese urbane Innovation fürstlichem Repräsentationsbedürfnis entsprungen sei. Und tatsächlich lässt sich diese Vermutung nicht ganz von der Hand weisen. Bei allen Haupt- und Residenzstädten war die Initiative zur Errichtung der öffentlichen Laternen von den Monarchen und Fürsten ausgegangen und hatten diese die finanziellen Lasten übernommen. Aus dieser hof- und fürstenzentrierten Perspektive wären dann die Straßenbeleuchtungen so etwas wie eine permanente Fortschreibung jener Illuminationen des städtischen Raumes, wie sie bei höfischen Festen gang und gäbe war. Allerdings zeigen die Nicht-Residenzen unter den Pionierstädten in Sachen öffentlicher Beleuchtung, dass das Phänomen mit dem fürstlichen Repräsentationsbedürfnis und dem Nachahmungszwang in der Konkurrenz der europäischen Höfe nicht abschließend erklärt werden kann. Es war die Stadtrepublik Hamburg, die als erste deutsche Stadt ihre Straßen systematisch beleuchtete, und im Kurfürstentum Sachsen hatte die Handels- und Messestadt 12

Vgl. hierzu und zum folgenden Tabella der Zeit und Stunden/ In welchen die Laternen anzuzünden und wieder zu löschen sind […], o. O. 1689.

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Leipzig im Wettstreit um die erste Straßenbeleuchtung chronologisch die Nase vor der Residenz Dresden.13 Als entscheidend für die Einführung und Verbreitung von Straßenbeleuchtungen erwies sich denn auch nicht das Repräsentationsverlangen frühneuzeitlicher Fürstenhöfe, sondern vielmehr das Bedürfnis nach größerer Sicherheit im öffentlichen Raum. Die Nacht als Zeit der Dunkelheit galt seit jeher als bedrohlicher und gefährlicher Zeitraum. Rechtschaffene Bürger schliefen des Nachts, um sich für den kommenden Tag zu erholen. Nachts aktiv waren hingegen solche Gestalten wie Räuber, Diebe, Mörder, Prostituierte und anderes nota bene: lichtscheues Gesindel. Auch jenseits krimineller Bedrohungen konnte die Nacht in einer frühneuzeitlichen Stadt ein nicht ungefährliches Pflaster darstellen.14 In so gut wie jeder städtischen Chronik der Epoche finden sich Geschichten von Menschen, die nachts in der Dunkelheit auf den Straßen auf zum Teil tragische Weise verunglückt waren. Die Spanne reichte hier vom Ausrutschen mit und ohne Verletzungsfolgen bis hin zu Stürzen mit tödlichem Ausgang. Dass dabei nicht selten Alkohol mit im Spiel war, soll nicht verschwiegen werden. Allen diesen nächtlichen Gefahren sollte mit der Beleuchtung der Straßen und Plätze entgegen gewirkt werden. In exemplarischer Prägnanz brachte der französische König Ludwig XIV. dieses Leitmotiv zum Ausdruck als er die erfolgreiche Einführung der Straßenbeleuchtung in Paris durch eine Gedenkmedaille würdigte: Sie zeigt auf der einen Seite ein Porträt des Königs und auf der anderen eine weibliche Verkörperung der Stadt Paris, die in der linken Hand eine strahlende Laterne und in der rechten Hand eine gefüllte Geldbörse hält. Ob man diese nun als Hinweis auf die gesteigerte nächtliche Sicherheit oder als Symbol für die Kosten der Einführung der Straßenbeleuchtung nehmen will, sei einmal dahin gestellt. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Umschrift „urbis securitas et nitor“ – zu Deutsch: Sicherheit und Eleganz der Stadt. Damit hatte der französische Monarch jenes Argument auf den Punkt gebracht, dass auch in der Folgezeit stets bemüht wurde, wenn es darum ging, die Einrichtung einer öffentlichen Straßenbeleuchtung zu fordern bzw. zu legitimieren. Dass die erhellten Straßen schöner und sicherer seien als die nicht beleuchteten, galt als Tatsache, die keiner Diskussion mehr bedurfte. Gestritten wurde im Zusammen-

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Vgl. Craig Koslofsky, The Establishment of Street Lightning in Eighteenth-Century Leipzig. From Society to the Public Sphere?, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 4 (2000), S. 378–387. 1 4 Vgl. exemplarisch Joachim Eibach, Die Straßen von Frankfurt am Main: Ein gefährliches Pflaster? Sicherheit und Unsicherheit in Großstädten des 18. Jahrhunderts, in: Martin Dinges/Fritz Sack (Hrsg.), Unsichere Großstädte? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne (Konflikte und Kultur – historische Perspektiven 3), Konstanz 2000, S. 157–173.

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hang mit öffentlichen Straßenbeleuchtungen – und dies gerne und ausgiebig15 – immer nur über die Frage, wer welchen Anteil der Kosten zu übernehmen hatte. Die Sicherheit, die durch die Straßenlaternen verbessert werden sollte, war jedoch ambivalenter Natur. Einerseits bedeutete sie Sicherheit für die städtischen Einwohner. Die Straßenbeleuchtung vereinfachte oder ermöglichte überhaupt erst die abendliche und nächtliche Benutzung von Straßen und Gassen. Wie die allmähliche Veränderung der Zeitrhythmen des urbanen Lebens im 18. und frühen 19. Jahrhundert mit der Ausdehnung des Tages in den Abend und die frühen Nachtstunden hinein zeigt, wurde diese Chance von einem stetig wachsenden Teil der städtischen Bevölkerung auch gerne ergriffen.16 Die Besucher von Theater und Oper wussten die Vorzüge einer funktionierenden öffentlichen Straßenbeleuchtung ebenso zu schätzen wie die Konsumenten einfacherer Formen der Unterhaltung. Andererseits jedoch konnten die öffentlichen Straßenbeleuchtungen durchaus auch als Instrument der Sicherung vor den Einwohnern fungieren. Die nächtlich erhellten Straßen verbesserten nicht nur die Sicherheit der Einwohner, sie erleichterten auch die obrigkeitliche Kontrolle des öffentlichen Raums. In diesem Sinne wurden die Straßenbeleuchtungen des 17. und 18. Jahrhunderts denn auch ganz selbstverständlich als Instrumente der frühneuzeitlichen Policey verstanden. Die öffentlichen Laternen standen in einer Reihe mit Maßnahmen zur Pflasterung und Sauberhaltung von Straßen oder dem Ergreifen und Wegschaffen von Bettlern und anderen unliebsamen Personen. Diese dialektische Spannung zwischen einer Sicherheit, die Freiräume eröffnet und Chancen bietet, auf der einen und einer Sicherheit, die einen obrigkeitlich repressiven Charakter besitzt, auf der anderen Seite ist freilich kein Alleinstellungsmerkmal frühneuzeitlicher Straßenbeleuchtungen. Vielmehr ist der ambivalente Sicherheitsbegriff ein grundlegendes Kennzeichen aller Maßnahmen, deren Ziel eine bessere Kontrolle des öffentlichen Raums darstellt. Insofern führt ein gerader Weg von den Straßenlaternen des 17. und 18. Jahrhunderts zur Video­ überwachung von Straßen und Plätzen in der Gegenwart.

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Vgl. Rosseaux, Freiräume (wie Anm. 8), S. 62. Vgl. ebd., S. 48–71; Joan DeJean, The Essence of Style. How the French invented High ­Fashion, Fine Food, Chic Cafés, Style, Sophistication and Glamour, New York 2005, S. 201– 217; Wolfgang Nahrstedt, Die Entstehung der Freizeit. Dargestellt am Beispiel Hamburgs. Ein Beitrag zur Strukturgeschichte und zur strukturgeschichtlichen Grundlegung der Freizeitpädagogik, Göttingen 1972.