Metaphysik der Neuzeit
 9783486757651, 9783486757644

Table of contents :
Einleitung
I. NIKOLAUS VON KUES
II. DEUTSCHE UND ITALIENISCHE METAPHYSIK DES 16. JAHRHUNDERTS
III. DIE KONSTRUKTIVEN SYSTEME DES RATIONALISMUS
IV. DIE METAPHYSIK IN ENGLAND
V. KANT UND DIE DEUTSCHE SCHULMETAPHYSIK DES 18. JAHRHUNDERTS
VI. DIE SPEKULATIVEN SYSTEME DES DEUTSCHEN IDEALISMUS
VII. BEGLEITER UND AUSLÄUFER DER IDEALISTISCHEN BEWEGUNG
VIII. DIE METAPHYSIK IM 19. JAHRHUNDERT UND IN DER GEGENWART

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ür die Ausbildung der Metaphysik sind die Jahrhunderte, welche F wir unter dem Namen „Neuzeit" zusammenzufassen pflegen, von unermeßlicher Bedeutung gewesen. Nichts ist verkehrter als die Meinung,

wonach mit dem neuen Reifen des wissenschaftlich kritischen Bewußtseins und mit der großen Entfaltung der einzelnen Natur- und Geisteswissenschaften in diesem Zeitraum eine zunehmende Auflösung der metaphysischen Denkweise verbunden wäre. In jedem größeren Abschnitte der Philosophiegeschichte gibt es Perioden, in denen Kraft, Mut, Begabung und Interesse für die Arbeit an den metaphysischen Fragen nachlassen, und wo dann die Philosophie selbst nur noch in ihren Einzeldisziplinen und in deren Systematik lebt. Weite Strecken der hellenistischen Antike sind von dieser Art, weite Strecken auch des frühen Mittelalters; die spezialistische und positivistische Abkehr von der Metaphysik, wie sie besonders das 18. Jahrhundert (in gewissen Strömungen) und wieder dann die zweite Hälfte des 19. gebracht hat, ist durchaus nichts Ungewohntes. Auch diese Zeiten sind nur Zwischenperioden; die großen Leitgedanken der Philosophie bilden sich in der Neuzeit, wie je, auf den Wegen der metaphysischen Systembildung heraus. Die wahrhaft fruchtbaren und schöpferischen Zeiten der neueren Philosophie sind Blütezeiten der Metaphysik. Zwei große Blütezeiten erlebt die Metaphysik in diesen Jahrhunderten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart — jede von beiden ebenbürtig den klassischen Zeiten der Metaphysik in der Philosophiegeschichte des Altertums und Mittelalters. Wie damals, so ist auch jetzt die eigentliche Blüte jedesmal jäh und kurz: in wenigen Jahrzehnten schießt eine Vielheit gewaltiger Systembildungen auf, die dann für lange Strecken den Forschungen der Epigonen, dem Ausarbeiten oder Ausgleichen, der Aufteilung und der Zersetzung, den Lebensstoff geben. Zwischen der frühen Mitte des 17. Jahrhunderts und den ersten zwei Jahrzehnten des 18. drängen sich die Werke von D e s c a r t e s , Maleb r a n c h e , S p i n o z a , L e i b n i z , H o b b e s , B e r k e l e y in die geistige Wirklichkeit hinein; vom vorletzten und besonders letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts dann bis in die zwei ersten des 19. die Schöpfungen des späten K a n t und die Systeme F i c h t e s , S c h e l l i n g s , H e g e l s , S c h o p e n h a u e r s . In jeder dieser Zeiten arbeitet eine ganze Schar von Metaphysikern mittlerer Größe in analoger Richtung, vorbereitend, begleitend und bestreitend, mit — zu schweigen von dem tätigen InterFl«

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esse einer geistigen Umwelt; und jedesmal geht ferner manches von dem Tiefsten, das nun in das Licht der neuen Systematik tritt, zurück auf Konzeptionen früherer Denker in der Neuzeit — auf Denker, deren Bedeutung für die Erarbeitung des metaphysischen Gedankengutes dadurch nicht geschmälert wird, daß sie in weniger glanzvoller Umgebung und auf weniger einheitlichem Boden ihre Werke schufen. Kein tieferes Durchforschen der metaphysischen Fragenkomplexe, die dem menschlichen Geiste immer neu und unentrinnbar sich auftun und auftun werden, ist heute und in Zukunft möglich ohne Vertiefung in den spezifischen Problemreichtum und die besondere spekulative Einungskraft dieser Systeme der Neuzeit mit all ihren Schroffheiten und Paradoxien. An ihnen, die zugleich so viel auch von dem metaphysischen Erbe der Antike und des Mittelalters in sich bergen, wird immer wieder ein matt gewordenes und in spezialistischer Abschnürung verknöchertes Philosophieren sich den Blick für die großen Gesamtfragen und ihr verborgenes Ineinandergreifen neu entzünden müssen. Die metaphysischen Probleme werden dargestellt von einem Lebensboden aus und in der Perspektive, die noch die unmittelbaren Grundlagen unserer Gegenwart sind. Die Unterschiede der Jahrhunderte, der Wcchsel der Zeitströmungen bedeuten, aufs große Ganze angesehen, wenig gegenüber der Einheit der letzten Fragen und Voraussetzungen, der leitenden Begriffe und der Denkmethoden. In einem anderen Sinne noch als Piaton oder Augustin sind für uns diese Metaphysiker der Neuzeit „aktuell" und immer gegenwärtig — Leibolz und Berkeley, Descartes und Malebranche nicht minder als Fichte und Hegel. Sie sprechen alle unsere Sprache (oder vielmehr wir sprechen die ihre); in die Denkweise der Antike und des Mittelalters müssen wir uns erst „hineindenken", wieviel wir auch im übrigen von ihrem Gute zehren mögen. Ob wir es wissen und es wollen oder nicht: lebendig-fruchtbar wird auch dieses Gut uns durchweg nur auf Grund der großen Arbeit der Umformung und Assimilierung, die in den metaphysischen Systemen der Neuzeit ihre klassische Ausprägung gefunden hat. — Für das inhaltliche Verständnis und die volle Auswertung der neuzeitlichen Metaphysik ist es von ganz entscheidender Wichtigkeit, sich klar zu machen, wie tief ihre Systeme nicht nur tatsächlich, sondern ausdrücklich und bewußt im Zusammenhang leben mit den religiösen Grundlagen und Überzeugungen ihrer Umwelt, des christlichen Abendlandes. Was sie vom Mittelalter abhebt, das ist, daß sie frei sind und frei sein wollen von einem kirchlich-theologischen System und seinen autoritativen Traditionen. Die autonome wissenschaftliche Vernunft, der freie konstruktive Geist der einzelnen Persönlichkeit will das System errichten. Aber das allgemeine Ziel der freien Arbeit ist bei den großen schöpferischen Metaphysikern der Neuzeit dieses: „den Glauben mit dem Wissen zu versöhnen, die christliche Philosophie zu bauen, die großen Wahrheiten

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d e r Religion d u r c h m e t a p h y s i s c h e Spekulation zu heben in die klare F o r m des philosophischen Begriffes." Selbst f ü r die wenigen großen D e n k e r , die d e m christlichen Daseinsgedanken ferner stehen (Spinoza) oder a u c h b e w u ß t dagegen s t r e i t e n ( E . v . H a r t m a n n ) gilt noch, d a ß i h r e G e d a n k e n in der s t e t e n A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t den S y s t e m e n christlicher M e t a p h y s i k h e r a u s g e a r b e i t e t w u r d e n u n d eben doch in vielem a u c h tiefer deren S p u r e n zeigen. Wie m a n a u c h d e n k e n m a g ü b e r das Verhältnis v o n M e t a p h y s i k u n d Religion ü b e r h a u p t u n d in besond e r e m ü b e r die weltanschauliche u n d m e t a p h y s i s c h e T r a g w e i t e der christlichen Lebensstellung — gewiß ist, d a ß die großen Gedankenbild u n g e n der Neuzeit aus j e n e m Z u s a m m e n h a n g die entscheidenden Antriebe s c h ö p f t e n u n d in der A u f r o l l u n g u n d A k z e n t u i e r u n g der P r o b l e m e tief d a d u r c h b e s t i m m t worden sind. Die ü b e r r a g e n d e Rolle e t w a , welche in der neuzeitlichen M e t a p h y s i k bis in die Gegenwart die P r o b l e m a t i k des Willens u n d der Willensfreiheit spielt (ein f ü r das A l t e r t u m , w e n n ü b e r h a u p t b e m e r k t , n u r nebensächlicher P r o b l e m k o m p l e x ) m u ß aus zuletzt religiöser Lebensstellung u n d - e r f a h r u n g v e r s t a n d e n u n d in ihrer ganzen W u c h t g e w ü r d i g t w e r d e n . U n d ebenso ist die z u n e h m e n d e H e r a u s a r b e i t u n g einer idealistischen W e l t a n s i c h t i m neuzeitlichen (der A n t i k e völlig f r e m d e n ) Sinne als m e t a p h y s i s c h e Seinsthese m i t allen den d a d u r c h gegebenen P a r a d o x i e n n u r zu erfassen u n d r e c h t zu verw e r t e n , w e n n m a n die religiösen U n t e r g r ü n d e unserer abendländischen K u l t u r u n d Lebensstellung in d e r m e t a p h y s i s c h e n P r o b l e m a u f r o l l u n g ganz zu W o r t e k o m m e n l ä ß t . D a m i t ist d a n n zugleich gegeben, d a ß der Z u s a m m e n h a n g der neuzeitlichen M e t a p h y s i k m i t der M e t a p h y s i k des Mittelalters tiefer begriffen w e r d e n m u ß , als das gemeinhin üblich ist. F ü r die besonderen, v o m m e t a physischen Z u s a m m e n h a n g weithin ablösbaren Disziplinen der Philosophie — E r k e n n t n i s t h e o r i e z. B., Logik, Rechtsphilosophie, Psychologie, a u c h E t h i k — b e d e u t e t der neue A u f s c h w u n g im Z u s a m m e n h a n g der neuzeitlichen L e b e n s f o r m u n d W i s s e n s c h a f t vielfach vollkommene Ä n d e r u n g der F r a g e s t e l l u n g u n d Gehalte. Die M e t a p h y s i k dagegen, zufolge ihrer grundsätzlichen E i n s t e l l u n g auf das L e t z t e u n d Ganze der Welt- u n d Daseinsfragen, bleibt im Z u s a m m e n h a n g der religiösen K o n t i n u i t ä t , die, u n g e a c h t e t allen Wechsels a u c h der religiösen L e b e n s f o r m e n , die Einheit u n s e r e r a b e n d l ä n d i s c h e n K u l t u r d u r c h die J a h r t a u s e n d e b e w a h r t . Wie Gotik u n d B a r o c k gewaltige Ausdrucks- u n d F o r m w a n d l u n g e n n u r v o n L e b e n s k r ä f t e n zeigen, die selbst in tiefer E i n h e i t u n d K o n t i n u i t ä t die wechselnden J a h r h u n d e r t e d u r c h d a u e r n , so f ü h r e n die klassischen S y s t e m e der neuzeitlichen M e t a p h y s i k im 17. J a h r h u n d e r t die P r o b l e m e u n d T e n d e n z e n weiter, die B o n a v e n t u r a , T h o m a s u n d D u n s Scotus auf der H ö h e des Mittelalters zu ihren so a n d e r s k o n s t r u i e r t e n m e t a physischen G e b ä u d e n getrieben h a t t e n . H ö c h s t charakteristisch f ü r diese E i n h e i t der Lebensstellung u n d d a m i t der m e t a p h y s i s c h e n Frage-

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z u s a m m e n h ä n g e ist a u c h dieses: d a ß die f ü r die geschichtliche E n t w i c k l u n g in der Neuzeit sonst so folgenreiche K i r c h e n s p a l t u n g i m Metaphysischen keine entscheidende B e d e u t u n g h a t , t r o t z aller t i e f e n Verwurzeltheit der großen D e n k e r in ihrer Religion u n d aller Z e n t r a l s t e l l u n gen der m e t a p h y s i s c h e n Begriffe v o n G o t t u n d v o n der Seele in i h r e r Philosophie. W e r die Systeme des Descartes u n d M a l e b r a n c h e d e n e n des Geulincx, Leibniz u n d Berkeley als katholische d e n p r o t e s t a n t i s c h e n entgegensetzen wollte, m ü ß t e allenthalben s e k u n d ä r e F o r m m o m e n t e u n d S o n d e r m o t i v e a n die Stelle wirklicher U r s p r u n g s g e d a n k e n s e t z e n ; u n d selbst f ü r K a n t u n d die d e u t s c h e n Idealisten (immer i m M e t a p h y s i s c h e n ! ) ist die E i n h e i t m i t der großen T r a d i t i o n seit A u g u s t i n ganz unvergleichlich wichtiger, als das, was sie als D e n k e r p r o t e s t a n t i s c h e r Religiosität e r k e n n e n l ä ß t . So greift die M e t a p h y s i k der Neuzeit in i h r e r i n n e r e n B e d e u t s a m k e i t f ü r die P r o b l e m e unseres Daseins weit h i n a u s ü b e r d e n zeitlichen S o n d e r a b s c h n i t t einiger J a h r h u n d e r t e . Das alles ist in seinen Konsequenzen ebenso sehr von sachlicher wie von historischer Bedeutung; die hiermit aufgeworfenen Fragen sind für uns heute von aktueller Wichtigkeit. Nur wer die metaphysischen Probleme nicht sehen oder nicht behandeln will (um ihrer offensichtlichen „TJnlösbarkeit" willen), oder wer sich ganz auf spezielle Perspektiven bei der Arbeit an ihnen beschr&nkt, kann diesen Dingen gegenüber gleichgültig sein und sie als nur-historische auf Seite stellen. Ein reiner Neo-Thomismus ist für eine lebendig forschende Metaphysik eine ebensolche Unmöglichkeit, wie eine Fortsetzung der Metaphysik Schellings oder Hegels ohne Verständnis für das mittelalterliche Gut, das darin lebt, und ohne prüfende Berücksichtigung dessen, was hier verlassen oder auch vergessen worden war. Die sachliche wie die historische Auswertung der leitenden Gedanken uns zeitlich und stilistisch nahestehender Denker, wie Hegel oder Hart mann oder Lotze oder Kant, setzt notwendig voraus, daß immer auch bis auf die Wurzeln ihrer metaphysischen Begriffe in der Seinslehre des 17. und 18. Jahrhunderts durchgestoßen wird; und damit sind dann ohne weiteres auch die großen Fragen nach den Zusammenhängen mit den mittelalterlichen Seinsprinzipien gestellt.

W a s n u n wiederum die neuzeitliche M e t a p h y s i k einheitlich a b h e b t gegen die Systeme ihrer Vorzeit, das ist zu o f t b e h a n d e l t w o r d e n , u m hier ausführliche E r w ä h n u n g zu verlangen. N u r drei der wichtigsten M o m e n t e heben wir h e r v o r . Das e r s t e : die Herauslösung der M e t a p h y s i k aus der T r a d i t i o n u n d der ausgleichenden A r c h i t e k t o n i k der theologischen u n d philosophischen „ S u m m e n " ; die m e t a p h y s i s c h e P r o d u k t i o n u n d die F o r m ihrer A u s p r ä g u n g fällt ganz den großen I n d i v i d u e n u n d i h r e n originären, a u t o n o m e n K o n z e p t i o n e n zu. Das zweite: die Wirklichkeit — N a t u r , das U n i v e r s u m , Mensch u n d Gesellschaft, die Geschichte — t r i t t gänzlich in den M i t t e l p u n k t des philosophischen Interesses. Die theozentrische Spekulation wird der Theologie überlassen, v o n der die Philosophie gelöst ist. Mensch u n d W e l t sind n i c h t d a s S p r u n g b r e t t des G e d a n k e n s f ü r die philosophisch-theologische E r k e n n t n i s des göttlichen Seins, sondern die Spekulation ü b e r das Wesen Gottes will der Durchk l ä r u n g u n d V e r t i e f u n g des Weltbegriffes dienen. Die allgemeine weltanschauliche W e n d u n g zum „Diesseits" u n d zur n e u e n A u f g a b e der

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t ä t i g e n D u r c h d r i n g u n g der g e s a m t e n Wirklichkeit m i t Geistig-Ideellem d r ü c k t sich hier i n d e m A n s p r u c h aus, die göttlich ideelle u n d s i n n h a f t v e r n ü n f t i g e B e s t i m m t h e i t v o n Mensch u n d U n i v e r s u m allenthalben a u f z u d e c k e n d u r c h m e t a p h y s i s c h e s D u r c h d e n k e n . U n d endlich: der n e u e n Z u w e n d u n g z u m Wirklichen u n d Natürlichen e n t s p r i e ß t ein anderes W i s s e n : die n e u e n W i s s e n s c h a f t e n , die f o r t s c h r e i t e n d sich ablösen v o n M e t a p h y s i k u n d Philosophie ü b e r h a u p t u n d n u n m i t ihrer u n m i t t e l b a r e n E r f a h r u n g s - u n d A n s c h a u u n g s k r a f t sowie d u r c h die selbständige H e r a u s b i l d u n g i h r e r eigenen Methodik den offensichtlichsten Beweis geben f ü r die D u r c h k l ä r b a r k e i t d e r Dinge a u c h in aller Besonderheit u n d scheinbaren Zufälligkeit i h r e r Existenz. Sie ersetzen nicht die philosophische Spekulation, d e n n sie bleiben i m m e r im Besonderen, T a t s ä c h l i c h e n u n d A u f g e t e i l t e n ; u n d d a r u m f o r d e r n sie vielmehr n u n a u c h v o n sich a u s die E r f o r s c h u n g des allgemeinen Wesens u n d der h ö h e r e n E i n h e i t . Neuer A n s p o r n u n d eine unermeßliche F ü l l e v o n n e u e n P r o b l e m e n f ü r das m e t a p h y s i s c h e D e n k e n erwachsen aus ihrer A r b e i t . Vor allem zwingt die K o n s t i t u i e r u n g der n e u e n q u a n t i t a t i v m a t h e m a t i s c h e n N a t u r w i s s e n s c h a f t zu einer N e u a u f r o l l u n g des m e t a physischen N a t u r p r o b l e m s u n d d a m i t der Weltbegriffe ü b e r h a u p t . I n der s p ä t e r e n E n t w i c k l u n g t r i t t d a n n die geschichtliche R e a l i t ä t , verm i t t e l t d u r c h ein neues Wissen u n d Wissenschaften neuer P r ä g u n g , m i t i h r e m eigenen A n s p r u c h a n die M e t a p h y s i k h e r a n . So wirken I n h a l t e u n d Vorbild selbständig gewordener Wissensformen a n t r e i b e n d u n d b e f r u c h t e n d auf die A r b e i t der Metaphysik ein. D a s besondere Verhältnis u n d die i m m e r wieder anders sich gestaltende Auseinanders e t z u n g zwischen M e t a p h y s i k u n d Einzelwissenschaften ist ein spezifischer G r u n d z u g der M e t a p h y s i k der Neuzeit geworden. Eine noch wenig geklärte und nicht nur historisch wichtige Frage ist die nach der zeitlichen Abgrenzung der neueren Philosophie gegen das Mittelalter, also nach dem eigentlichen Beginn der Metaphysik der Neuzeit. Das Vorgehen J . E . E r d m a n n s , mit der Reihe der klassischen Systeme im 17. J a h r h u n d e r t seiher zu beginnen, h a t heute keine Nachfolge mehr. Zuviel von den entscheidenden Prinzipien jener großen Denker sind in den J a h r h u n d e r t e n vorher schon vorbereitet, geplant, erstmalig formuliert worden. Daß aber gleichzeitig noch so viel Scholastisches in der Philosophie des 15. und 16. Jahrhunderts fortdauert, kann nicht als Grund für ihre Abtrennung von der Neuzeit genommen werden, zumal die Wirksamkeit scholastischer Begriffe in den klassischen Systemen des 17. Jahrhunderts selber noch eine sehr erhebliche ist. Eine breite „Übergangszeit" zwischen mittelalterlicher u n d neuzeitlicher Metaphysik muß also angesetzt und in ihren großen zukunftweisenden Erscheinungen der Neuzeit zugerechnet werden. Nur darf man allerdings diese Zeit nicht durch die allgemein-historischen Begriffe der „Renaissance und R e f o r m a t i o n " charakterisieren; denn fOr die Metaphysik haben diese Begriffe so gut wie keine Bedeutung g e h a b t . Die Auffrischung antiker Denksysteme durch die Humanisten, wie die Einbeziehung der Philosophie ins protestantische Lehrsystem sind keine Ereignisse von ausschlaggebender Bedeutung gewesen noch geworden; und so wenig man etwas Wesentliches von dem metaphysischen Gedankenwerk des Paracelsus oder Bruno sagt, wenn man sie f ü r „Philosophen der Renaissance" erklärt, so wenig werden die Weigel und Böhme herausgerissen aus der einheitlichen Tradition der deutschen Mystik seit E c k h a r t dadurch, d a ß sie nun Protestanten sind.

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Sacht man die wirklich großen inneren Motive der Wandlung n n d des Neueinsetzens, so wird man unabweislich noch Qber jene zwei J a h r h u n d e r t e hinaus zurückgewiesen auf die Spätzeit der Scholastik selber; so dal} die Frage entstehen m u ß , ob nicht schon hier die eigentlichen Anfinge der neueren Metaphysik zu suchen sind. (Daß die ersten Grundlegungen der f ü r die Philosophie der Neuzeit so wichtigen neuen Naturwissenschaft schon in der Spätscholastik des 14. Jahrhunderts vollzogen worden sind, haben neuere Forschungen erwiesen.) Der bis Hegel und H a r t m a n n so entscheidend wichtige Gedanke eines entwicklungsgeschichtlichen Panentheismus etwa ist in großem Stile von Meister Eckhart schon konzipiert; das in fast allen Systemen der Neuzeit so bedeutend wirksame und f ü r sie höchst bezeichnende Motiv der Individualität h a t Dnns Scotus gegen den Formbegriff der Hochscholastik durchgekämpft; auf W . v . O c k h a m und die nominalistische Strömung geht ein gut Teil von der Grundlegungsarbeit f ü r den neuen Begriff des Psychischen zurück; und der in der späteren Neuzeit so reich sich entfaltende metaphysische Voluntarismus h a t gleichfalls seine Wurzeln im Scotismus und Ockhamismus der Spätscholastik. Indessen ist die gegenwärtige Geschichtsforschung diesen Zusammenhängen noch zu wenig nachgegangen, als d a ß eine wirkliche Neuanordnung in der Darstellung des Beginn« der Neuzeit gewagt werden könnte. I m R a h m e n dieses Handbuches interessiert j a auch die Ordnung des Historischen nur insoweit, als dadurch sachliche Akzente f ü r die Systeme selber mitgegeben sind. Wir folgen deshalb d e m besonders seit H . Ritter eingeführten guten Gebrauch, den Eingang in die neuere Metaphysik mit N i k o l a u s v o n K u e s zu nehmen, diesem größten Denker der Übergangszeit i m 15. Jahrhundert (auch er h a t mit „Frührenaissance" so gut wie nichts zu tun), der bei aller Zugehörigkeit zur ausgehenden Scholastik und ihrer engen Aneinanderschmelzung von kirchlicher Theologie und Philosophie zugleich der größte Wegbereiter f ü r die Weltauffassung der kommenden Systeme, f ü r Leibniz und selbst noch f ü r Hegel gewesen ist. Literatur. Von bleibender Bedeutung sind gerade f ü r die Metaphysik der Neuzeit die großen älteren Geschichtswerke, deren Verfasser selbst noch im Zusammenhang einer großen metaphysischen Systemtradition standen: H . R i t t e r , Geschichte der Philosophie (12 Bde.), H a m b u r g 1829—53, Bd. 9—12; kurz zusammengefaßt und weiter hinaufgeführt dann auch zu K a n t , dem deutschen Idealismus und bis in die Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s in Ritters W e r k : Die christliche Philosophie . . . in ihrer Geschichte bis in die neuesten Zeiten. (Göttingen 1859, 2 Bde.) Bd. 2. J . E . E r d m a n n , Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie. Riga und Leipzig. 1834—1853. Kürzer in E r d m a n n s Grundriß der Geschichte der Philosophie (2 Bde.), Berlin 1866. Neue Aufl. bes. v. B. Erdmann, Bd. 2. K . F i s c h e r , Geschichte der neueren Philosophie. 10 Bde.; vorzugsweise die neuen Auflagen seit der Jubil.-Ausg. (seit 1897). I m engen Zusammenhange mit den Denkern dieser Tradition s t e h t : E . v . H a r t m a n n , Geschichte der Metaphysik. 2 Bde. 1899/00; bis heute die beste Darstellung der Philosophiegeschichte in ihren metaphysischen Kernfragen. (Allerdings ohne eigentliche Abgrenzung der spezifisch-metaphysischen Gedanken von den philosophischen Problemen überhaupt, z. B. den erkenntnistheoretischen.) — Daneben verwertbar natürlich auch die bekannten Werke zur Geschichtc der neueren Philosophie ü b e r h a u p t : z . B . W. W i n d e l b a n d , Geschichte der neueren Philosophie; und Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Die Einheit der großen Leitgedanken neuzeitlicher Metaphysik m i t bestimmenden Grundtendenzen der mittelalterlichen Systeme wird herausgehoben und in einer Reihe von Längsschnitten durch die Metaphysikgeschichte dargetan in:

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H . H e i m s o e t h , Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters. 1922 (Verlag Reichl). Dir folgende Darstellung laßt gemäß ihrer besonderen Aufgabe im R a h m e n des Handbuches alle Philosophen der Neuzeit unberücksichtigt, die nicht f ü r die Metaphysik von produktiver Bedeutung gewesen sind. Insbesondere werden Denker von rein erkenntnistheoretischer Tendenz, wie z. B. Locke und Hume, oder die Skeptiker oder die Positivisten der verschiedenen Zeiten, oder rein ethisch und kultnr-philosophisch gerichtete Philosophen wie Rousseau oder Nietzsche ganz beiseite gelassen. Auch sie sind immer irgendwie durch metaphysische Grundauffassungen bestimmt, und eine vollständige Geschichte der Metaphysik m ü ß t e auch die verborgenen Seinsannahmen bei allen diesen Denkern herausarbeiten. Hier k o m m t das nicht in Frage; wie denn überhaupt nur das Wesentlichste der metaphysischen Gedanken in der Neuzeit herausgehoben werden soll.

I. NIKOLAUS VON KUES. A. D E R B E G R I F F D E S A B S O L U T E N . Die S p e k u l a t i o n e n des Cusaners ü b e r das Wesen G o t t e s oder des A b s o l u t e n h a b e n i h r e n zentralen A u s d r u c k g e f u n d e n in d e m Begriff der coincidentia oppositorum. Die G r u n d l a g e dieses G e d a n k e n s ist u r alter H e r k u n f t : d a ß alle Vielheit, Unterschiedenheit u n d Gegensätzlichkeit der Dinge z u r ü c k w e i s t a u f ein ursprttnglich-eines u n d einfaches, aller S p a l t u n g e n t h o b e n e s Sein, ist G r u n d v o r a u s s e t z u n g d e r M e t a p h y s i k seit A n a x i m a n d e r u n d bildet die Basis besonders f ü r alle n e u p l a t o n i s c h e n L e h r e n v o m E i n e n u n d U n e n d l i c h e n . Die neue W e n d u n g , die Nikolaus b r i n g t , b e s t e h t d a r i n , d a ß er f ü r diesen meist n u r m y s t i s c h oder theologisch g e f a ß t e n oder eingekleideten G e d a n k e n rationalen Z u g a n g u n d V e r a n s c h a u l i c h u n g gewinnt. A n geometrischen Gebilden l ä ß t sich e x a k t aufweisen, wie d a s Verschiedene u n d Gegensätzliche, sobald es ins Voll-Unendliche gesteigert w i r d , in einfache I d e n t i t ä t z u s a m m e n g e h t . (Kreis u n d Gerade, G e r a d e u n d Dreieck, Z e n t r u m u n d Peripherie des Kreises). W a s i m E n d l i c h e n sich widerspricht u n d ausschließt, wird in der Seinsweise der U n e n d l i c h k e i t Eines. A u c h v o n a n d e r e n Wirklichkeitsgegebenheiten l ä ß t sich d a s zeigen (z. B. R u h e u n d Bewegung). — D a m i t ist das — a m t i e f s t e n u n d a u s f ü h r l i c h s t e n s p ä t e r v o n Hegel d u r c h g e f ü h r t e — P r o g r a m m f ü r die M e t a p h y s i k gegeben: das Endlich-Einzelne a l l e n t h a l b e n u n t e r d e r P e r s p e k t i v e des Unendlichen zu b e t r a c h t e n , in begrifflicher U n t e r s u c h u n g die A u f h e b u n g der f u n d a m e n t a l e n Wirklichkeitsgegensätze i m Ü b e r g a n g z u m Unendlichen aufzuzeigen u n d so bis zu gewissem G r a d e die E i n h e i t aller Dinge i m A b s o l u t e n (als i h r e m G r u n d u n d U r s p r u n g ) zu „ b e g r e i f e n " . Die R i c h t u n g wenigstens k a n n klar u n d deutlich aufgewiesen w e r d e n ; u n d die ontologische Notwendigkeit der Koinzidenz erweist sich u n s e r m D e n k e n , w e n n a u c h das Wie u n d Wesen j e n e r E i n h e i t aller Dinge i m Absoluten d e m endlichen V e r s t ä n d e unbegreiflich bleiben m u ß . — D e r A u s d r u c k des „ U n e n d l i c h e n " selbst (immer j a schon g e b r a u c h t in der Metaphysik der ausgehenden A n t i k e

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und des Mittelalters für das absolute göttliche Sein) erhält jetzt, über seine begrifflich höchst unbestimmten Kernmomente innerlich-qualitativer und axiologischer Art hinaus, eine Beziehung auf klare und selbst anschaulich noch faßbare Übergänge im Gebiete des Quantitativ-Mathematischen. Die alte Fundamentalthese bleibt bestehen: daß das Unendliche in keiner Proportion zum Endlichen stehe, sondern grundsätzlich eine andere und schlechthin unvergleichliche Seinsweise bedeute; aber doch liegt nun für Nikolaus im Begriffe jedes Endlichen die unausweichliche Tendenz auf jenes Absolut-Unendliche. Nicht erst in einem alle Dinge und Begriffe überspringenden ekstatisch-mystischen Erlebnis, sondern auch in der begrifflichen Durchdringung aller endlichen Gegebenheiten kann uns das Absolute (das Unendliche und Eine) zugänglich werden. Der mathematische Begriff gibt nur das Vorbild; von den rationes der ins Unendliche gesteigerten Figuren muß die Metaphysik übergehen ad infinitum simplex absolutissimum etiam ab omni figura. B. DAS V E R H Ä L T N I S D E S ABSOLUTEN ZUR WELTWIRKLICHKEIT. Die Spekulation über das Absolute hat bei Nikolaus überall die Tendenz auf gleichzeitige Neufassung des Weltbegriffes. I n ihm beginnt die Verschiebung des metaphysischen Interesses vom Theozentrischen auf die Wirklichkeitsdurchdringung. Eine neue weltanschauliche Tendenz — die „Welt" nicht so sehr im Gegensatz und Abstand vom Göttlichen, sondern als unmittelbares Zeugnis seiner Allmacht und Allwirksamkeit anzusehen — f ü h r t auch hier zu einer Neuauswertung alter Begriffe der neuplatonisch-christlichen Metaphysik. Das Universum ist, so sagt der Cusaner, die explicatio (auch apparitio) Dei. Was im Unendlichen in höchster Einheit komplikativ gebunden ist, tritt hier in ausgebreiteter Darstellung auseinander. Deus ergo est omnia complicans in hoc quod omnia in eo, est omnia explicans in hoc quia ipse in omnibus. Die Welt also unterscheidet sich vom Einen und Vollkommenen nicht durch das Hineinmischen einer anderen Instanz, einer unvollkommenen, wert- und geistfremden Materie etwa (die Metaphysik des Altertums war diesen Gedanken nie ganz losgeworden und das Mittelalter hatte ihn sich assimilieren müssen), sondern sie ist gleichsam nur eine andere D a s e i n s w e i s e desselben ewigen Gehaltes! Das religiöse Motiv von der Schöpfung aus Nichts, wonach die Welt nicht etwa nur ein sinndurchwaltetes Gebilde geistigen Ursprungs ist, dessen Vergänglichkeit und Unvollkommenheit von dem Stoffe herrührt, in dem der Weltbaumeister formen mußte, sondern ein ganz und gar, mit a l l e n Wirklichkeitsfaktoren aus dem vollkommenen Geistwillen entsprungenes Sein — dieses Motiv bekommt in dieser Lehre von der explicatio Dei eine höchst bedeutsame begrifflich-metaphysische Ausprägung. Welt, in Natur und

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Geist, ist Selbstdarstellung des Absoluten in der Form der Andersheit, der Trennung und des Gegensatzes. In allem, schlechthin allem, was da ist, erscheint ein ewiges, unendliches, vollkommenes und einheitliches Sein. Jedes einzelne Ding und Wesen ist quasi infinitas finita aut deus creatus; ihre Allheit, die Welt ist gleichsam Deus sensibüis, Gott wie er sichtbar wird. Es ist klar, wie m i t der Statuierung solchen Weaenazusammenliangea von Gott und Welt oder des Absolut-Vollkommnen m i t dem Wirklichen, m i t dieser Abstreifung jedes Wert- und Ursprung sdualismus im Welthegriff die Spannung sich vermindern m u ß , die 10 fQr den religiösen und philosophischen T h e i s m u s Grundvoraussetzung ist. H i n t e r der Einheit des Explikationszusammenhanges k a n n die D u a l i t ä t von Gott u n d Welt oder die Welt-Transzendenz des Absoluten zu verschwinden scheinen. Ein doppelter Weg eröffnet sich bei ungehemmtem Weiterführen des Gedankens: der P a n t h e i s m u s (das Göttliche geht auf im Weltzusammenhang) u n d der A k o s m i s m u s (keine W e l t „ a u ß e r " Gott; n u r Gott ist, alles andere ist Schein). I n der T a t wird jede begrifflich-metaphysische Ausprägung eines in d i e s e m Sinne (des Gottesursprungs und Vollkommenheitssinnes alles Wirklichen) „monistischen" Weltgedankens immer zwischen diesen E x t r e m e n u n d ihren Konsequenzlockungen stehen. Bruno, Spinoza, Fichte, Hegel sind Beispiele d a f ü r ; besonders bei Spinoza u n d Fichte ist die F r a g e : Pantheismus oder Akosmismus höchst 20 a k u t geworden in dem von ihrer Umwelt erhobnen Vorwurfe des „ A t h e i s m u s " . — Allgemein m u ß gesagt werden, daß j e d e begrifflich-metaphysische Spekulation über das Verhältnis eines Göttlich-Absoluten zur Weltwirklichkeit Tendenzen m i t sich bringt, die einem rein religiös orientierten Interesse sich als Auswirkungen eines mehr oder minder versteckten Pantheismus darstellen müssen. E s ist kein Zufall, d a ß so viele Metaphysiker der Neuzeit — entgegen ihrer eignen Überzeugung v o m Sinn ihres Seinsgedankens — mit dem Stempel des P a n t h e i s m u s versehen worden sind, und daß pantheistische Deutungen sich auch bei vielen von ihnen immer wieder aufdrängen. Es wäre sicherlich verkehrt, mit S c h m a l e n b a c h („Leibniz") zu glauben, d a ß die „originäre Schau" des Philosophen wesenhaft auf einen pantheistischen Weltbegriff hinauskomme 30 und d a m i t in u n a u f h e b b a r e n Konflikt m i t dem religiösen Theismus führen m ü ß t e . Die Arbeit der Metaphysik ist nicht bloße Begriffsausprägung einer ursprünglichen Einheitsschau, sondern ebensosehr immer ein Bestreben u n d Versuchen, m i t immer neuen Begriffsbildungen und Begriffszusammenhängen sich heranzutasten an die erfahrenen oder geahnten oder geglaubten Seinsgegebenheiten. Wenn d a n n im Wesen der Begriffe (bedingt vielfach durch deren H e r k u n f t , o f t aber offensichtlich auch durch Grundbestimmtheiten u n d -begrenztheiten der menschlichen Ratio überhaupt!) eine vielfach unaufhebliche Sprödigkeit sich zeigt gegenüber gewissen v o m Denker intendierten Seinsgehalten, so muß das nicht bedeuten, d a ß hier philosophische „ S c h a u " u n d religiöses Erlebnis in ausschließendem Gegensätze stehen. Die Überzeugung J a c o b i s , d a ß der 40 menschliche Verstand, wenn er ganz konsequent ist, unentrinnbar in den Determinismus treiben muß, h a t F i c h t e nicht verhindert, ein neues Begriffssystem zu ersinnen, u m die metaphysische Realität der Freiheit philosophisch ans Licht zu heben, allen Widerständen des dogmatischen Verstandes zum T r o t z ! Die meisten Metaphysiker der Neuzeit ringen nach neuem Begriffsausdruck f ü r Überzeugungen, die über die Tragweite der gewöhnlichen, an Außenwelt-Erfahrungen u n d Wissenschafts-Methoden herausgebildeten Begriffe eben hinausliegen. — Die f ü r Nikolaus von Kues und seine großen Nachfolger so charakteristische Abstreifung jedes fundamentalen Dualismus von Form (Vollkommenheitssinn) und Materie im Weltbegriff m u ß zunächst keineswegs eine Aufhebung der D u a l i t ä t von Gott und Welt 50 einschließen; und eine nachdrückliche Betonung der I m m a n e n z göttlichen Seins und Wesens in allen Dingen ( „ i n ihm leben, weben und sind wir") m u ß selbst noch keineswegs dem Theismus Abbruch t u n . Nikolaus selbst jedenfalls h a t gegen den schnell bereiten

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Vorwurf von Zeitgenossen (Wenck), wonach seine Lehre von der explicatio Dei den P a n t h e i s m u s in sich berge, scharf protestiert, wie er denn anch den religiösen Begriff der Schöpfung in keiner Weise dadurch beseitigt oder herabgemindert glaubte, d a ß seine philosophische Spekulation neuen Begriffsausdruck gefunden h a t t e f ü r den Wesenssinn eines Hervorgangs endlicher Dinge aus dem Unendlich-Einen. E s k o m m t eben durchaus darauf an, in welchen Kategorien der Metaphysiker diesen „Hervorgang" zu denken sucht und aus welcher T e n d e n z seine Begriffe stammen; in den Begriffen selbst d a n n Verschleifnngen von gewohnten Unterscheidungen (Gottesvollkommenheit und niedere Weltwirklichkeit), Anklänge an Naturprozesse (Emanation, Ausfaltung) oder R a u m beziehungen (Ganzes und Teile) zu finden und das Ganze deshalb unter ein Ismus-Schema (Pantheismus, Naturalismus) einzuordnen, ist freilich nicht schwer; — ebensowenig wie das Festnageln auf den Wortsinn absichtlich zur Paradoxie zugespitzter Termini (Deut

ereatus, Deus humanatus).

Man m u ß sich das ganze Gewicht der Frage — Weltursprung n u r im Absolut-Vollkommenen und -Unbedflrftigen (Schöpfung aus Nichts) einerseits, Weltwirklichkeit aber anderseits bestehend in Trennungen und Spaltungen, in Wert- und Wesensgegensätzen — klarzumachen suchen, um die Weltspekulationen des Cusaners und seiner Nachfolger in der Neuzeit richtig einzuschätzen. Mit dem Festnageln auf eine „Konsequenz" und der Einreihung unter einen Ismus ist den großen metaphysischen Systemen gegenüber meist sehr wenig getan, — Die Grundlagen zu seiner Weltlehre h a t Nikolaus in der ersten Hauptschrift De d o c t a ignorantia gegeben; bezeichnend für seine innere Tendenz ist, daß er ganz ähnlich wie der spätere F i c h t e in seinen weiteren Schriften unablässig und in immer neuen Ansätzen darauf hingearbeitet hat, die Momente theistischer Transzendenz im reinen Gottesbegriff zu steigern, ohne den neuen Weltgedanken und die damit gegebene Immanenz göttlichen Wesenssinnes in allen Wirklichkeiten abzuschwächen und ohne in die bloßreligiöse Ausdrucksweise (Schöpfung, Person usw.) im Rahmen metaphysischer Begriffe zurückzufallen.

C. D E R N E U E W E L T B E G R I F F . Die Lehre von der Gottesentfaltung in der Welt hat nun bei Nikolaus gewaltige spekulative Konsequenzen für die Kosmologie. Seinsprädikate, die sonst nur für das Wesen Gottes Geltung haben sollten, übertragen sich nun, wenn auch in modifizierter Form, auf das Weltganze. Vor allem die Momente des Besten (Vollkommensten), der Unendlichkeit und gar selbst des Zusammenfalls der Gegensätze. a) Die Welt ist die beste Welt; sie bleibt ihrem Einheitsursprung so nahe als möglich, d. h. als es im Wesen einer Vielheiten-Entfaltung, eines Daseins im Auseinander und Gegensatz überhaupt nur liegen kann. Überall ist Sinn, Ordnung, Zusammenstimmung; alles Wirkliche ist vernünftig, zweckbestimmt, harmonisch. Damit wird nicht nur jede Stimmung abgewehrt, in welcher die Welt als die „untere" empfunden wird, deren Berührung befleckt, sondern jede Spur des antiken (PlatonischAristotelischen) Dualismus von Ordnung und Unordnung, Formsinn und Zufall soll beseitigt werden. Auch die Gegensätze, welche dem antiken Denken am sinnfälligsten die Unvollkommenheit des Wirklichen beweisen wollten: der ständige Wechsel von Erzeugen und Zerstören, Geburt und Tod erhalten göttlichen Sinn; sie sind für Nikolaus Entfaltungen

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des einen A b s o l u t e n , das j a I d e n t i t ä t u n d complicatio der Gegensätze ist. „ A u c h alle Zeugung, Z e r s t ö r u n g , Andersbildung k o m m t d a h e r , weil G o t t i m m e r d a s Selbige verselbigt (idem identificat). D e n n i n d e m das idem sich i n g r ö ß t e m Gegensatz der K r ä f t e m a n i f e s t i e r t , so e n t s t e h t , i n d e m j e d e s das sich Gleiche u n d d e m a n d e r e n E n t g e g e n g e s e t z t e w i r k t , ein K a m p f d e r K r ä f t e u n d aus diesem neue Z e u g u n g und Z e r s t ö r u n g . " E s gibt a u c h n i c h t A b s t u f u n g e n d e r Dinge in wachsende U n v o l l k o m m e n heit h i n a b ( N e u p l a t o n i s m u s ) , sondern in j e d e r Seinsart, j e d e r Wirklichk e i t s s t u f e ist G o t t in seiner ganzen Fülle gegenwärtig, sie ist auf ihre A r t g a n z e V o l l k o m m e n h e i t . Keine S t u f e a u c h k a n n ohne die a n d e r e sein; sie alle stellen, j e d e auf ihre A r t u n d w i e d e r u m alle in i h r e r Z u s a m m e n o r d n u n g , d e n i n n e r e n R e i c h t u m des Gottesseins e n t f a l t e t d a r . Dieser Weltoptimismus beherrscht die meisten Systeme der neueren Metaphysik; am nachdrücklichsten die des Bruno, Spinoza, Leibniz, des jungen K a n t und Hegels. Welche großen Schwierigkeiten solcher Ordnungs- und Wertmonismus der Wirklichkeit (Leugnung jeder realen und positiv wirksamen Unordnung und Unwertigkeit) in der Durchführung mit sich bringen muß, ist klar; ein Teil davon ist immer u n t e r dem Titel des „Theodizee"-ProbIems behandelt worden.

b) Das U n i v e r s u m ist unendlich in R a u m u n d Zeit. Die innere (qualit a t i v e ) U n e n d l i c h k e i t des A b s o l u t e n e n t f a l t e t sich i m Wirklichen als u n e n d l i c h e A u s b r e i t u n g . Nicht d u r c h den Gegensatz des Endlichen u n d U n e n d l i c h e n k ö n n e n Welt u n d G o t t gegeneinander a b g e h o b e n w e r d e n . Z w a r ist die Welt-Unendlichkeit eine a n d e r e Unendlichkeit als die infinitudo G o t t e s ; sie ist n i c h t das absolut Größte, s o n d e r n n u r das „ K o n k r e t G r ö ß t e " : das Unendliche e n t h ä l t hier Vielheit u n d Z u s a m m e n s e t z u n g , Mehr u n d Weniger, also Endliches. N i c h t ewig ist die Welt, sondern von u n e n d l i c h e r D a u e r , grenzenlos (indeterminatum) in der Zeitdimension. U n d die U n e n d l i c h k e i t i m R ä u m e h a t a u c h diesen C h a r a k t e r q u a n t i t a t i v e r Grenzenlosigkeit. A b e r dieses Fehlen der Grenzen ist n i c h t ein Mangel wie i m F i n i t i s m u s der a n t i k e n Metaphysik, sondern die „ g r ö ß t mögliche N a c h a h m u n g " des Göttlich-Infiniten. Der auf religiöstheologischem Gebiete schon im Mittelalter d u r c h g e f ü h r t e P r i m a t des U n e n d l i c h e n gegenüber allem E n d l i c h e n greift bei Nikolaus von K u e s auf das m a t h e m a t i s c h e u n d kosmologische Gebiet über. Auch in diesem P u n k t e sind die meisten Systeme der neueren Metaphysik Fortsetzungen der Intentionen des Cusaners. Der Infinitismus beherrscht die Systeme des Bruno, Descartes, Spinoza, Malebranche, Leibniz, des vorkritischen K a n t und der Führer des deutschen Idealismus. Für die Entscheidung zwischen Theismus und Pantheismus bringt diese Wendung natürlich auch eine neue Sachlage; an einem wirklich-unendlichen Sein auBer Gott h a t der Theismus vielfach Anstoß genommen, wie denn auch der Weltinfinitismus einer der Hauptmotive f ü r den Pantheismus S p i n o z a s geworden ist. Besonders im Problem der Weltunendlichkeit im Räume werden diese Fragen immer wieder aktuell. (Zeit bleibt von „Ewigkeit" leicht unterscheidbar, auch wenn sie als unendlicher Verlauf genommen wird.) Die Tendenz der großen Systeme geht meist dahin, die Weltunendlichkeit begrifflich und terminologisch abzuheben von der Unendlichkeit Gottes, ohne ihr den Charakter einer aktualen Unendlichkeit zu verkürzen.

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c) A u c h i m U n i v e r s u m als G a n z e m fallen die (kosmologischen) Gegensätze z u s a m m e n . Die unendliche W e l t e n t f a l t u n g d e r göttlichen Koinzidenz d u l d e t keine absolute Verschiedenheit v o n W e l t m i t t e l p u n k t u n d Weltperipherie, v o n R u h e u n d Bewegung. E s gibt kein absolutes O b e n u n d U n t e n im W e l t a l l ; es gibt v o r allem n i c h t den W e r t - u n d Wesensgegensatz ( „ W e l t u n t e r d e m M o n d e " gegenüber d e n G e s t i r n s p h ä r e n ) , der m i t dieser Vorstellung v e r b u n d e n w a r . Die E r d e ist n u n n i c h t m e h r „ d e r geringste u n d u n t e r s t e Teil der W e l t " ; sie ist n i c h t schlechter als die „ h i m m l i s c h e n " W e l t k ö r p e r , s o n d e r n ein „edler S t e r n " u n t e r den a n d e r e n . A u c h r u h t sie ebensowenig s t a r r i m R ä u m e wie jene. Allüberall i m U n i v e r s u m , in aller Unendlichkeit desselben h e r r s c h t gleiches W e s e n , gleiche O r d n u n g , gleiche Lebensfülle. Eine neue kosmologische Grundanschanung und ein ganz neues Weltpathos geht von hier aus bis in die Gegenwart; mit allen Folgen f ü r Wissenschaft und Leben. Den unmittelbarsten und begeistertsten Ausdruck h a t dieses Pathos, verbunden mit der Überzeugung von der Weltunendlichkeit, gefunden in G . B r u n o s Dialogen De l'infiiiito, universo e mondi und in K a n t s Frflhschrift „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels".

D. I N D I V I D U U M U N D

UNIVERSUM.

I m Weltbegriff des Cusaners gewinnt n u n weiterhin das P r i n z i p des I n d i v i d u u m s eine ganz neue B e d e u t s a m k e i t . Das individualistische Motiv in den christlichen G e d a n k e n v o n der Seele, v o n d e m P f u n d e , d a m i t sie w u c h e r n soll u n d v o n der Vorsehung Gottes, die jedes H a a r a u f j e d e m H a u p t e z ä h l t — e r h ä l t in dieser M e t a p h y s i k kosmische Ausbreit u n g . F ü r die E n t f a l t u n g des E i n e n Absoluten in der Welt der T r e n n u n gen u n d Gegensätze ist n i c h t allein die bisher so sehr h e r v o r g e h o b e n e Unterschiedenheit der allgemeinen Wirklichkeitsstufen (von d e r Materie ü b e r die F o r m e n der lebendigen N a t u r hinauf z u m Menschenwesen u n d weiter z u m rein Geistigen) charakteristisch, sondern n i c h t m i n d e r die Vervielfältigung (multiplicatio) der göttlichen Monas in individuellen K r e a t u r e n , deren j e d e eine besondere „ K o n t r a k t i o n " der a b s o l u t e n E i n f a c h h e i t u n d Unendlichkeitsfülle darstellt. E i n pluralistisches Motiv gewinnt d a m i t energische B e t o n u n g : „ W e l t " ist ein Inbegriff v o n in sich selbständigen E i n h e i t e n , Individualwesen. ( E i n energisches G e g e n m o t i v a u c h dieses wieder gegen pantheistische Tendenzen.) A u ß e r der absol u t e n E i n h e i t ist alles Seiende z u s a m m e n g e s e t z t . D e r w a h r e n E i n h e i t in der Ursache (dem Schöpfer) s t e h t gegenüber eine w a h r e Vielheit in der W i r k u n g ! J e d e , a u c h die scheinbar „zufällige" u n d nebensächliche Verschiedenheit der Dinge h a t ihre B e d e u t u n g f ü r die A u s b r e i t u n g der göttlichen Einheitsfülle. „ N i c h t s ist i m U n i v e r s u m , das sich n i c h t eines gewissen singulären Seins erfreute, das sich in keinem a n d e r e n Wesen f i n d e t . " E s k a n n schlechterdings keine Gleichheit u n d vollkommene Ü b e r e i n s t i m m u n g zweier Dinge oder Vorgänge in der k o n k r e t e n W i r k lichkeit g e b e n ; zwei wirklich gleiche Dinge m ü ß t e n als identisch d a n n zu-

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s a m m e n f a l l e n ; reine I d e n t i t ä t u n d absolute Gleichheit k o m m e n n u r d e r Gotteseinheit z u . J e d e singulare K r e a t u r ist eine K o n t r a k t i o n der G o t t e s m o n a s , u n d G o t t wiederholt sich n i c h t in seinen W e r k e n ; so k ö n n e n „ d i e individualisierenden Prinzipien in keinem I n d i v i d u u m in derselben h a r monischen P r o p o r t i o n wie i m a n d e r e n z u s a m m e n t r e f f e n . " Die äußerlich a b g r e n z e n d e n P r i n z i p i e n v o n R a u m u n d Zeit weisen selbst z u r ü c k auf i n n e r e Wesensverschiedenheiten i n d e n Einzeldingen. — So ist individuelle D i f f e r e n z i e r t h e i t ein G r u n d s a t z der W e l t als Dei explicatio; u n d I n d i v i d u a l i t ä t ist, ü b e r allen Unterschieden der W i r k l i c h k e i t s s t u f e n , höchste W e r t a u s z e i c h n u n g u n d Lebenssinn jedes Einzeldinges. „ J e d e s erschaffene Sein r u h t in der Vollkommenheit, die es . . . e r h a l t e n h a t u n d b e g e h r t kein a n d e r e s Geschöpf zu sein, als wäre es d a n n v o l l k o m m e n e r ; sondern es h a t eine Vorliebe zu d e m Sein, das es v o n G o t t h a t , als zu einem göttlichen Geschenk, das es unzerstörlich zu e r h a l t e n u n d zu vervollk o m m n e n Bucht." F ü r j e d e n individualistischen Pluralismus liegt die Krisis in der u n a u s weichlichen F r a g e n a c h d e r E i n h e i t s f o r m der so als Inbegriff v o n Einzelwesen, als Vielheits-Aggregat g e d a c h t e n Wirklichkeit. Bei Nikolaus f ü h r t der neue I n d i v i d u a l i s m u s einen n e u e n Begriff der Welteinheit, des Univ e r s u m s m i t sich. N i c h t in der U m f a s s u n g d u r c h den E i n e n R a u m , a u c h n i c h t in einer allseitigen W i r k u n g s g e m e i n s c h a f t s u c h t er p r i m ä r die Einheit der Dinge a u ß e r G o t t . E r sieht sie vielmehr in der sinnvoll-ideellen Z u s a m m e n s t i m m u n g ihrer unendlichen Verschiedenheiten, sofern diese eben alle e n t f a l t e t e r A u s d r u c k der göttlichen Einheitsfülle sind. „ D e r gütige G o t t h a t alles so erschaffen, d a ß jedes Wesen, i n d e m es sein Sein wie einen göttlichen Beruf zu e r h a l t e n s t r e b t , dies in G e m e i n s c h a f t m i t d e n a n d e r e n v o l l z i e h t . " F u n k t i o n u n d Daseinsrolle jedes Einzelwesens ist sinnvoll a b g e s t i m m t auf die eines j e d e n a n d e r n ; sofern es n u r dem eigenen E i n z i g k e i t s b e r u f e lebt, erfüllt es zugleich die a n d e r e F u n k t i o n : m i t allen übrigen z u s a m m e n die unendliche Fülle selber a u s z u b r e i t e n . Omnia ad se invicem quandam nobis tarnen occultam et incomprehensibUem habent proportionem, ut ex omnibus unum exurgat universum. Die Sinnbeziehung der „ H a r m o n i e " mit der ideellen V e r f l e c h t u n g v o n Relationen des Z u s a m m e n s t i m m e n s u n d Sichergänzens i m gleichen großen Lebenssinn der explicatio m a c h t die eigentliche W e l t e i n h e i t aus. I n solcher E i n h e i t bleibt die Selbstheit des Einzelnen g e w a h r t , nie wird es bloßer „ T e i l " eines t e i l b a r e n Ganzen. S o n d e r n gerade sofern die Dinge alle eigen in sich u n d u n t e r s c h i e d e n v o n e i n a n d e r sind, sind sie v e r b u n d e n . „ D i e I d e n t i t ä t des U n i v e r s u m s b e s t e h t in der Verschiedenheit, wie seine Einheit in d e r V i e l h e i t . " Als „ H a r m o n i e " ist das U n i v e r s u m die größtmögliche V e r ä h n l i c h u n g m i t dem A b s o l u t e n , dem u n e r r e i c h b a r Selbigen. Das h e i ß t zugleich, d a ß jedes Ding in j e d e m P u n k t e seines Seins bezogen ist auf alle a n d e r e n , d a ß es auf seine A r t das U n i v e r s u m „ s p i e g e l t " , individuelle „ K o n t r a k t i o n " des Weltganzen ist. Der alte Mikrokosmos-

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g e d a n k e erhält d a d u r c h seine besondere individualistische F a s s u n g . I n j e d e m W e s e n , so insbesondere a u c h in j e d e m Menschen, sind h a r m o n i s c h e R e l a t i o n e n zu allem W i r k l i c h e n ; das All spiegelt sich in i h m in eigenartiger V e r k ü r z u n g . Die Menschen gleichen verschieden g e k r ü m m t e n Hohlspiegeln, welche dieselbe U m w e l t verschieden u n d doch j e d e r volls t ä n d i g a u s sich l e u c h t e n lassen. Die E r f ü l l u n g a b e r dieser göttlichewigen A u f g a b e d e r Vielheitsdarstellung des überweltlichen Einheitssinnes in der H a r m o n i e der Weltwesen h a t f ü r Nikolaus v o n K u e s n i c h t die statische F o r m f r ü h e r e r L e h r e n v o n der W e l t u n d i h r e n Daseinss t u f e n , sondern sie ist w e s e n h a f t ein W e r d e n , wirkliche s t ä n d i g e a u f steigende Bewegung. Der Begriff der E n t w i c k l u n g e r h ä l t eine ganz neue, f ü r den A u f b a u der neueren M e t a p h y s i k ü b e r a u s b e d e u t u n g s v o l l e A u s p r ä g u n g . N i c h t das vollendete Sein, die ausgebildete erfüllte F o r m ist die eigentliche u n d höchste Seinsweise der Weltdinge, in der sie den C o t t e s s i n n ausbreiten, sondern das W a c h s e n , das f o r t s c h r e i t e n d e E n t f a l t e n des in ihnen angelegten göttlichen G e d a n k e n s . Z u m W e s e n j e d e r K r e a t u r gehört, d a ß sie n i c h t n u r ihr Eigensein zu „ e r h a l t e n " , sondern zugleich d a ß sie, ohne Ü b e r s p r u n g in eine a n d e r e Wirklichkeitsstufe, es zu „ v e r v o l l k o m m n e n " s t r e b t . E n t w i c k l u n g , j e t z t n i c h t i m Sinn der, gleichsam herniedersteigenden, explicatio des E i n e n in die Vielheit, sondern im Sinne der a u f s t r e b e n d e n allmählichen E n t f a l t u n g innerer Lebensmöglichkeiten ist G r u n d k a t e g o r i e u n d Selbstwert in allen Wirklichkeitswescn. U n d wie das Einzelwesen in j e d e m Augenblicke seiner E x i s t e n z als G o t t e s k o n t r a k t i o n u n d Spiegel des U n i v e r s u m s „gleichsam eine endliche U n e n d l i c h k e i t " darstellt, so gehört a u c h die Unendlichkeit in d e r Dimension des Werdens u n d Strebens zu d e m K e r n s i n n e seiner Endlichkeit. So ist i m Menschen die W i r k l i c h k e i t s e r k e n n t n i s (diese besonders „ l e u c h t e n d e " A r t , das U n i v e r s u m in einem Mikrokosmos abzuspiegeln) w e s e n h a f t allmähliche E n t f a l t u n g , nicht-endende A n n ä h e r u n g , u n e n d liches S t r e b e n ; nie aber ein vollendet-ruhendes Ergreifen des Ansich der Dinge selbst. Ausgaben: Paris 1514, 3 Bde., und Basel 1565, 3 Bde. Wichtigste Schriften: De docta ignorantia, De conjecturis, De viBione Dei, De potest. Die erste Schrift ist neu herausgegeben von P. R o t t a , Bari 1913; neu übersetzt von A. S c h m i d , Hellerau 1919. — Die einzige umfassendere Übersetzung CusaniBcher Schriften von F. A. S c h a r p f f (Freiburg i. B. 1862) ist nur sehr bedingt brauchbar. Darstellungen: J . Ü b i n g e r , Die Gotteslehre des N. C. Paderborn 1888; R . F a l c k e n b e r g , Grundzüge der Philosophie des N. C.; Breslau 1880; R . E u c k e n in den „Philos. Monatsheften" Bd. 14; R . Z i m m e r m a n n , N. C. als Vorgänger Leibnizens. Sitz.-Ber. der Wiener Akademie 1852; O. K ä s t n e r , Der Begriff der Entwicklung bei N. C. Bern 1896.

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II. DEUTSCHE UND ITALIENISCHE METAPHYSIK DES 16. JAHRHUNDERTS. D e r ü b e r r a g e n d e n K r a f t des Cusaners k o m m t in der Zeit des „ Ü b e r g a n g s " n i c h t s gleich, a u c h n i c h t im folgenden J a h r h u n d e r t . E r s t die m e t a p h y s i s c h e n S y s t e m e des 17. J a h r h u n d e r t s sind wieder S c h ö p f u n g e n v o n gleicher U r s p r ü n g l i c h k e i t u n d B e d e u t u n g . Wohl h a t die Zwischenzeit eine reiche Fülle philosophischer Persönlichkeiten, R i c h t u n g e n , P r o g r a m m e u n d F o r s c h u n g e n h e r v o r g e b r a c h t u n d , rein historisch bet r a c h t e t , eine große, f ü r die E n t f a l t u n g der neueren Philosophie notwendige A r b e i t geleistet. A b e r die durchschlagenden Gedanken liegen z u m größten Teile n i c h t auf m e t a p h y s i s c h e m Gebiete, sondern auf dem der philosophischen Sonderdisziplinen — in Logik u n d Methodenlehre, A n t h r o p o logie, Rechtsphilosophie oder in u n m i t t e l b a r e r Lebensreflexion. So ist z. B . der w e i t a u s g r ö ß t e Teil dessen, was i m Bereich der eigentlichen „ R e n a i s s a n c e " , i m Umkreis der H u m a n i s t e n philosophisch hervorgeb r a c h t w o r d e n ist, m e t a p h y s i s c h von relativ geringem Belang. N u r einige wenige D e n k e r in D e u t s c h l a n d u n d Italien ragen in ihren Leitg e d a n k e n ü b e r die v e r w i r r e n d e Fülle der Philosophen als Metaphysiker größeren Stiles h i n a u s u n d gewinnen, sei es als Vermittler der f r ü h e r e n , besonders der Cusanischen G e d a n k e n , sei es d u r c h eine neue originale K o n z e p t i o n , wirkliche B e d e u t u n g f ü r die Ausbildung der Metaphysik in der Neuzeit. 1. A G R I P P A V O N N E T T E S H E I M U N D T H E O P H R A S T U S P A R A CELSUS. Von eigentümlicher B e d e u t u n g wird besonders i m Umkreis der d e u t schen Philosophie (wie j a schon beim Cusaner) die A u s w i r k u n g einer in der Mystik g e g r ü n d e t e n Lebensstellung auf die F r a g e n a c h d e m Wesen u n d den K r ä f t e n d e r äußeren N a t u r . A. AGRIPPAS N A T U R B E G R I F F . Das U n i v e r s u m in allen seinen Teilen soll als ein schlechthin einheitlicher W i r k u n g s z u s a m m e n h a n g begriffen werden. Die alte Unterscheid u n g der W e l t s p h ä r e n (himmlisch u n d s u b l u n a r ; elementare, himmlische u n d ideelle Welt) w i r d nicht fallen gelassen, u n d die qualitates occultae werden als G r u n d p r i n z i p i e n der N a t u r e r k l ä r u n g b e i b e h a l t e n ; aber alles wird zur I m m a n e n z u n d Gleichartigkeit im Einen Weltganzen umgebildet. Die W i r k u n g s k r ä f t e u n d -gesetze sind in allen „ W e l t e n " dieselben; u n d was i m Wirklichen geschieht, ist aus i h n e n u n d nicht aus höheren Eingriffen siderischer Intelligenzen oder des göttlichen Willens zu erklären. Alle Dinge u n d K r ä f t e bilden miteinander einen in sich geschlossenen N a t u r z u s a m m e n h a n g , auf den der Mensch in allen seinen H u d b . d. Phil. I .

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Teilen seinen E i n f l u ß ü b e n k a n n in d e m Maße, als er d e r v e r w a n d t e n K r ä f t e sich b e w u ß t wird. Die N a t u r k r ä f t e selber werden als seelische Lebensagentien g e d a c h t ; w e n n Agrippa alles Einwirken transzendent-geistiger Bewegungsprinzipien ausschließt, so t r i t t i h m d a f ü r als das i m m a n e n t e Tätigkeitsprinzip in allen Weltgeschehnissen die ,,Weltseele" ein. E n t s c h e i d e n d f ü r seine V e r w e n d u n g dieses alten G e d a n k e n s , wie ü b e r h a u p t f ü r seinen Vitalspiritualismus, der alles Geschehen ü b e r h a u p t aus seelischen L e b e n s k r ä f t e n verstehen will, ist das P r o b l e m der t r a n s i e n t e n W i r k u n g (das d a n n s p ä t e r wieder im Okkasionalismus u n d bei Leibniz besonders wichtig geworden ist). Materie als solche ist w e s e n h a f t i n a k t i v , inefficax ad motum. Der reine K ö r p e r ist t r ä g e , mit sich u n d seinem Z u s t a n d e zufrieden. I n W a h r h e i t aber zeigt kein wirkliches D i n g diese Zufriedenheit u n d S t a r r e ; kein Ding auch i6t so isoliert i m eigenen Sein, sondern ein jedes geht ü b e r sich hinaus, greift auf ein anderes ü b e r u n d vollzieht W i r k u n g e n in i h m . I m bloß Materiellen bleibt das ganz u n v e r s t ä n d l i c h . Alle D y n a m i k , alle ursächliche V e r b i n d u n g u n d also a u c h aller wirkliche Z u s a m m e n h a n g u n t e r den Dingen der W e l t k a n n n u r a u f immateriellen K r ä f t e n b e r u h e n . U n d das heißt f ü r Agrippa e b e n : aus K r ä f t e n , wie wir sie im selbsteigenen Wesen in u n m i t t e l b a r e r W i r k s a m k e i t erleben. A k t i v i t ä t k a n n n u r d e m Geistigen (spiritus) z u k o m m e n ; n u r der Seele k o m m t es zu, sich gleichsam von einem P u n k t e aus in die a n d e r e n Dinge w i r k s a m auszubreiten. U n d so wird d e n n der W e l t z u s a m m e n h a n g gedacht als ein I n e i n a n d e r w i r k e n der Dinge d u r c h S y m p a t h i e u n d Antip a t h i e . I n allen Dingen wirken die Lebensgeister, die zuletzt Ausflüsse des E i n e n Weltgeistes sind. — Der Gegensatz zur s p ä t e r e n A u f f a s s u n g des N a t u r z u s a m m e n h a n g e s als eines Mechanismus, dessen K r ä f t e d e r Anziehung u n d A b s t o ß u n g rein noch im Wesen des Materiellen b e g r ü n d e t sein sollen, ist u n ü b e r b r ü c k b a r . A b e r die Idee des h o m o g e n e n d y n a mischen N a t u r z u s a m m e n h a n g e s selber ist in beiden A u f f a s s u n g e n dieselbe. B. DAS GEGENSATZPRINZIP, D E R ENTWICKLUNGSGEDANKE UND DAS I N D I V I D U A L P R I N Z I P B E I PARACELSUS. Nikolaus f a ß t e den H e r v o r g a n g der Wirklichkeit aus d e m Absoluten als ein H e r a u s t r e t e n v o n Vielheit u n d Gegensatz aus der Koinzidenz. Bei P a r a c e l s u s (dessen N a t u r p h i l o s o p h i e einen u n e r m e ß l i c h e n E i n f l u ß ausgeübt h a t in allen europäischen L ä n d e r n , n o c h bis auf Goethe) schießen naturphilosophische G e d a n k e n über das W e s e n chemischer u n d organischer Zersetzung u n d V e r b i n d u n g in diese Denkweise hinein. Das „ B u c h der N a t u r " ist diejenige O f f e n b a r u n g G o t t e s , die dem forschenden Menschengeiste offen d a r l i e g t ; E r k e n n t n i s d e r N a t u r ist die uns mögliche E r k e n n t n i s Gottes, u n d Philosophie ist n i c h t s anderes als e r k a n n t e N a t u r . Die N a t u r aber zeigt es so recht, d a ß alles O f f e n b a r -

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w e r d e n , alles H e r a u s t r e t e n u n d alle Selbständigkeit der Dinge n u r möglich ist, wo G e g e n s a t z w a l t e t . Alles Geschehen der N a t u r vollzieht sich in Scheidungs- oder Zersetzungsprozessen, u n d gerade das positive W e r d e n , das E n t s t e h e n v o n V e r b i n d u n g e n oder organischen E n t w i c k l u n g e n ist d a d u r c h b e d i n g t (Beispiele: die Zersetzung des k e i m t r a g e n d e n S a m e n s in d e r E r d e , oder d e r Zuwachs gebenden N a h r u n g in der V e r d a u u n g ) . Alle A n e i g n u n g u n d S e l b s t b e h a u p t u n g ist w e s e n h a f t Zersetzung u n d A b s c h e i d u n g . So d e n n a u c h in d e m j e n i g e n O f f e n b a r w e r d e n , das in uns g e s c h i e h t : G e s u n d h e i t h a t ihr Wesen n u r im Gegensatz zur K r a n k h e i t , F r e u d e ihr L i c h t n u r i m Gegensatz z u m Leiden, u n d selbst das G u t e k a n n n u r d e r e r k e n n e n , d e m es sich a b h e b t v o m Bösen. Man k a n n n i c h t G o t t e r k e n n e n , w e n n m a n n i c h t v o m Teufel weiß. G o t t will, d a ß nichts heimlich-verborgen bleibe. So ist G o t t selbst d e r Ursacher a u c h des Gegensätzlichen; er h a t geschaffen, was uns feindlich ist, u n d n i c h t n u r was u n s n ü t z t ; K r a n k h e i t u n d Gift so g u t wie Gesundheit u n d N a h r u n g . Alle Dinge h a b e n einen Alchimisten in sich, welcher das Nützliche f i n d e t u n d es v o m Schädlichen scheidet. D u r c h solche E n t g e g e n s e t z u n g erh ä l t jegliches D i n g sein besonderes u n d eigenkräftiges Dasein. So ist d e n n alles Geschehen in der N a t u r d u r c h Scheidungsprozesse b e d i n g t . J a , der N a t u r l a u f i m Großen ist ein f o r t w i r k e n d e r Prozeß der i m m e r schärferen H e r a u s b i l d u n g der Gegensätze. Das G e g e n s a t z m o t i v v e r b i n d e t sich hier mit einem n e u e n E n t w i c k l u n g s g e d a n k e n . Paracelsus gehört zu den wenigen M e t a p h y s i k e r n v o r F i c h t e u n d Hegel, welche die K a t e g o r i e n eines geschichtlichen Prozesses auf die g e s a m t e Weltwirklichkeit a n g e w e n d e t h a b e n . I n einem einheitlichen Zeitwerden, das v o m A n f a n g aller Dinge bis a n den J ü n g s t e n T a g reicht, sind alle Prozesse der N a t u r als T e i l m o m e n t e eingeordnet. Wie der Mensch, so h a t die Welt ihre A n f a n g s s t a d i e n u n d i h r e w a c h s e n d e Vollendung. Das E n d z i e l ist die absolute Scheidung der G u t e n u n d Bösen, das letzte Gericht. D e r erste H a u p t a n s t i e g aber gilt der f o r t s c h r e i t e n d e n H e r a u s b i l d u n g der Einzeldinge in ihrer Fülle u n d Verschiedenheit. „ M i t der Zeit h a t G o t t die Dinge geschärft, gebessert u n d z u m H ö c h s t e n g e b r a c h t ; je länger j e m e h r . " Alles Geschehen ist E n t w i c k l u n g d u r c h H e r a u s a r b e i t e n der Gegensätze, d u r c h sie der Besonderheiten, des Individuellen. U n d dies ist das d r i t t e K e r n m o t i v , d u r c h welches Paracelsus b e d e u t s a m geworden ist f ü r die Metaphysik der Neuzeit: das energische Aufgreifen des I n d i v i d u a l i t ä t s m o t i v s . G o t t h a t in alle Dinge seine ganze Weisheit gelegt; a b e r in jedes Ding auf einzigartige Weise. D e r Lebenssinn j e d e r K r e a t u r b e s t e h t in der D u r c h k l ä r u n g u n d E n t w i c k l u n g des k e i m h a f t in i h r angelegten Eigenwesens. Das b e r ü h m t e Archeus-Prinzijt des Paracelsus b e d e u t e t vor allem dieses: die U m w e n d u n g des a l t e n E n t w i c k l u n g s b e g r i f f s der Entelechie von der Allgemeinheit der F o r m ins s t r e n g Individuelle. I n j e d e m Einzelwesen w i r k t , streng i m m a n e n t ,

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sein eigener Lebensgeist, die bildende K r a f t , d u r c h welche alles i n i h m Angelegte aus dem S a m e n zur E n t f a l t u n g k o m m t . Überall, wo Besonderheit sich zeigt (keine K r a n k h e i t z. B. ist d u r c h a u s „dieselbe" bei verschiedenen Menschen), l e b t ein innerlich-wirksames I n d i v i d u a l p r i n z i p . Alles Geschehen in der N a t u r ist seinem d y n a m i s c h e n Wesen wie seinem Sinn n a c h H e r a u s b i l d u n g von i n n e n h e r in I n d i v i d u e n , die sich gegeneinander a b h e b e n , einander erregen u n d v o r w ä r t s t r e i b e n u n d d a m i t zugleich h a r m o n i s c h in ihren F u n k t i o n e n z u m U n i v e r s u m sich ergänzen. Wichtigste Schriften: A g r i p p a , De occultaphiloaophia, Colon. 1510; De incertitudine et vanitate scientiarum, Colon. 1527 etc. (in Übers. herag. v. Mauthner, München 1913). — P a r a c e l s n s , Paragranum, Frankf. 1565; Vol. Paramirum, Straßburg 1575. Neuausgaben v o » F r . Strunz, Jena 1903f. — Darstellungen: M. C a r r i è r e , Die philos. Weltansch. d. Reform.-Zeit, 2. Aufl., I, S. 90—121; K. L a ß w i t z , Gesch. d. Atomistik I, S. 290—294; 298—306. K. J o e l , Der Urspr. d. Naturphilos. aus d. Geiste der Mystik, Jena 1906. R. E u c k e n , Des Paracelsus Lehren von der Entwicklung, Philos. Monatshefte, 1880, S. 321—338.

2. V A L E N T I N W E I G E L U N D J A K O B B Ö H M E . A. W E I G E L S METAPHYSIK D E R E R K E N N T N I S . Zugleich m i t diesem H e r v o r g a n g einer n e u e n N a t u r p h i l o s o p h i e „ a u s dem Geiste der M y s t i k " a r b e i t e t sich in den s p e k u l a t i v e n B e t r a c h t u n g e n der deutschen Mystiker n a c h der R e f o r m a t i o n ein v e r t i e f t e r Begriff v o m Menschen u n d v o m Wesen des Geistes ü b e r h a u p t heraus. V. Weigel, der philosophisch b e d e u t e n d s t e u n t e r den Mystikern zwischen E c k h a r t u n d B ö h m e , h a t n i c h t n u r d e m letzteren entscheidend v o r g e a r b e i t e t d u r c h seinen V o l u n t a r i s m u s u n d seine v e r s c h ä r f t e F a s s u n g des Gegensatzgedankens, sondern a u c h eine eigenartige m e t a p h y s i s c h e A u f f a s s u n g v o m Wesen des E r k e n n e n s herausgebildet, die in m a n c h e n P u n k t e n überraschende Anklänge a n die spätere E r k e n n t n i s - M e t a p h y s i k v o n Leibniz aufweist. — U r t y p u s u n d Urerlebnis des E r k e n n e n s ist d e m Mystiker nicht, wie dem praktisch-sinnlichen Menschen oder d e m philosophischen N a t u r a l i s t e n , das W a h r n e h m e n ä u ß e r e r Dinge durch die Mittel sinnlichen E m p f a n g e n s , sondern die geistige E r k e n n t n i s Gottes. Von dieser a b e r gilt i h m : d a ß n i e m a n d sie „ v o n a u ß e n " e m p f a n g e n u n d sich geben lassen k a n n d u r c h B u c h s t a b e n u n d L e h r e n , sondern d a ß n u r d u r c h s p o n t a n e innere Z u w e n d u n g u n d A n e i g n u n g der ewige Sinn u n s a u f g e h t . Z u m Göttlichen in der eigenen Seele durchzudringen, die ganz u n d gar ein E b e n b i l d Gottes ist u n d ungesehen i m m e r die ganze Fülle Gottes in sich b i r g t , das ist der W e g des Mystikers zur E r k e n n t n i s der W a h r h e i t . E r k e n n t n i s ist S e l b s t e n t f a l t u n g der Seele in u n d aus sich selbst; sie h a t , als ihr eigenes tieferes Sein, die ganze W a h r h e i t u n d Seinsfülle in sich. W e r sich selbst e r k e n n t , e r k e n n t G o t t ; denn der Mensch ist n i c h t sein selbst, sondern Gottes. Weigel v e r s t e h t alle E r k e n n t n i s ü b e r h a u p t (soweit sie „ n a t ü r l i c h e " E r k e n n t n i s ist, n i c h t Eingießung der Gnade!) n a c h diesem T y p u s . Man k a n n n u r wissen u n d v e r s t e h e n , was

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m a n in sich t r ä g t . W i r müssen innerlich schon alles das sein, w a s wir bei der E n t f a l t u n g der E r k e n n t n i s w e r d e n wollen. Nichts f l i e ß t v o n a u ß e n in u n s hinein. D e r Mensch ist Mikrokosmos (Paracelsus). E r e r k e n n t die W e l t , sofern er sie ist. I n sich t r ä g t er, verborgen meist, zugleich m i t G o t t auch dessen O f f e n b a r u n g , das All; v e r s t e h t er sich selbst, so h a t e r a u c h das All begriffen. W e n n die E r k e n n t n i s der Dinge eine Aneign u n g ihres inneren Wesens sein soll, u n d n i c h t n u r ein äußeres B e r ü h r t w e r d e n v o n ihren W i r k u n g e n , als gleichsam v o n B u c h s t a b e n , so k a n n sie i h r e m m e t a p h y s i s c h e n Wesen n a c h a u c h n u r innere S e l b s t e n t f a l t u n g u n d S e l b s t d u r c h d r i n g u n g der Seele sein, darin diese w a h r h a f t zu d e m wird, was sie e r f a ß t . Alle E r k e n n t n i s ist auf diesem Wege Wesensverw a n d l u n g in das E r k a n n t e . — So ist E r k e n n t n i s reine A k t i v i t ä t des Geistes. Selbst in der sinnlichen W a h r n e h m u n g ist das E r k e n n t n i s gebende die erfassende K r a f t in u n s ; n i c h t i m „Gegenwurf , i m O b j e k t ist das F ü h l e n , sondern es wird n u r erweckt von diesem Ä u ß e r e n . E s ist j a offensichtlich, „ d a ß das Urteil n i c h t fließe v o m Gegenwurf in das Auge, sondern d a ß es v o m Auge fließe in den G e g e n w u r f . " Alle W a h r h e i t der Dinge liegt „ z u v o r in u n s v e r b o r g e n " ; durch ä u ß e r e E i n w i r k u n g e n (darin uns v o n den Dingen i m m e r bloß ihre S c h a t t e n gleichsam k o m m e n ) , werden wir in Wirklichkeit n u r zur S e l b s t e n t f a l t u n g dieses inneren Besitzes erregt. Alle E r k e n n t n i s ist Selbsterkenntnis u n d d a m i t Selbsterweiterung, Selbstentwicklung der Seele. U n d n u r die Reflexion a u f unser Selbst f ü h r t u n s a u c h wirklich in das Wesen der Dinge selbst (Dinge a n sich) hinein. B. BÖHMES VOLUNTARISTISCHER

SPIRITUALISMUS.

Bei aller P h a n t a s t i k der übersinnlichen E r z ä h l u n g e n u n d aller Wirrnis der sinnlichen Bildersprache e n t h a l t e n die Schriften Böhmes d e n n o c h einen echt philosophischen K e r n von Metaphysik, in welchem entscheid e n d e Seinsfragen des christlichen Abendlandes z u m Begriffsausdruck sich durchringen. Viele v o n den leitenden D e n k m o t i v e n der s p ä t e r e n deutschen Spekulation n a c h K a n t , v o n F i c h t e oder Hegel, u n d ganz besonders noch von Schelling, B a a d e r , Schopenhauer, sind hier b e d e u t s a m v o r g e b i l d e t ; — wie J a k o b B ö h m e d e n n j a a u c h n i c h t n u r als Mystiker eine große u n d weite E i n w i r k u n g in den meisten europäischen L ä n d e r n g e h a b t h a t , sondern eben a u c h , n a c h m e h r als zwei J a h r h u n d e r t e n , von S y s t e m a t i k e r n der M e t a p h y s i k — besonders von Schelling u n d Hegel — begierig aufgegriffen u n d als Philosoph gefeiert w o r d e n ist. — Zwei große F r a g e n beschäftigen Böhmes Suchen u n d G r ü b e l n : Der H e r v o r g a n g der Dinge in ihrer n a t u r h a f t e n materiellen Eigenrealität aus d e m als Geist u n d Wille v e r s t a n d e n e n Absoluten, u n d : die Vereinbarkeit des moralisch-religiösen F u n d a m e n t a l g e g e n s a t z e s v o n G u t u n d Böse, Heil u n d V e r d a m m n i s m i t d e m E i n h e i t s u r s p r u n g aller Dinge aus d e m vollk o m m e n s t e n Wesen.

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a) D a s A b s o l u t e a l s G e i s t u n d W i l l e . Wie schon in der spekul a t i v e n Mystik des Meisters E c k h a r t , so wird a u c h bei diesem seinem g r ö ß t e n Nachfolger die F r a g e des H e r v o r g a n g e s d e r Dinge a u s d e m Absoluten f u n d i e r t u n d v o r b e r e i t e t d u r c h eine genetische oder a k t u a listische A u f f a s s u n g des Absoluten selber. Das Sein d e r G o t t h e i t ist Leben. I h r e A s e i t ä t b e d e u t e t i h m n i c h t bloß etwas N e g a t i v e s ( = n i c h t v o n a n d e r e m gesetzt, getragen), sondern h a t vielmehr den h ö c h s t positiv e n C h a r a k t e r einer wirklichen causa sui, eines Sichschaffens. G o t t ist, v o r aller S c h ö p f u n g , schon in sich selbst D y n a m i k , zeugendes Vermögen, T a t u n d A k t u a l i t ä t . D e r S c h ö p f u n g u n d E n t s t e h u n g aller D i n g e liegt v o r a u s die Selbstgeburt u n d Selbstentwicklung G o t t e s ; — dies n i c h t g e d a c h t als eine m y t h i s c h - n a t u r a l i s t i s c h e E v o l u t i o n des V o l l k o m m e n e n aus dem u r a n f ä n g l i c h e n Chaos, sondern als ein ewiger P r o z e ß der Selbstd u r c h l e u c h t u n g im Absolut-Vollkommenen selber. I n diesem ewigen Geschehen o f f e n b a r t sich das Absolute in sich selbst als Geist. D a s Sein des Geistes ist sein Leben, ein ewiges Sichmachen, S i c h - d u r c h s t r ö m e n . W e n n d e m n a c h bei B ö h m e die m e t a p h y s i s c h e F r a g e s t e l l u n g aus der a n t i k e n (insbesondere Aristotelischen) u n d teilweis a u c h n o c h mittelalterlichen F a s s u n g des Seins in f e s t e n S t u f e n , F o r m e n u n d Essenzen ü b e r g e h t auf den P r o z e ß , die Genesis — so ist das n i c h t etwa n u r ein R ü c k f a l l aus begrifflich-philosophischer S y s t e m a t i k in mythologische E r z ä h l u n g e n v o n Geschichten. (Auch f ü r die ganze Seinsauffassung u n d Methodik des n a c h k a n t i s c h e n Idealismus ist j a diese genetische Fragestellung charakteristisch geworden!) Sondern eine m e t a p h y s i s c h e G r u n d ü b e r z e u g u n g dringt d a r i n ans L i c h t : d a ß das L e t z t e u n d Absolute in allem Seienden n i c h t r u h e n d e s Sein, dingliche S u b s t a n z oder ewige F o r m u n d I d e e ( „ G e i s t " im o b j e k t i v e n Sinne) sei, s o n d e r n ein L e b e n ; u n d zwar ein Leben v o n der A r t , wie es sich u n m i t t e l b a r u n d auf d e m S p r u n g gleichsam erlebbar in unserer Innerlichkeit u n d S u b j e k t i v i t ä t vollzieht! Die W e n d u n g v o n P i a t o n u n d Plotin zu A u g u s t i n u s s e t z t sich hier in n e u e m A n s t u r m f o r t : Nicht das Intelligible ist das H ö h e r e u n d E r s t e , v o n d e m d a n n Intelligenz u n d Geist im s u b j e k t i v e n Sinn a b h ä n g t , sondern u m g e k e h r t : alle Ideen u n d Intelligibilia sind n u r Einzelgestalten, j a E i n z e l a k t e in der unendlichen Intelligenz, im Geiste u n d V e r s t ä n d e G o t t e s . Vom Selbstbewußtsein der menschlichen S u b j e k t i v i t ä t aus soll Sein u n d Leben des Geist-Absoluten v e r s t a n d e n werden. D e m Mystiker B ö h m e ist (wie E c k h a r t ) dies gleichsam die methodische G r u n d ü b e r zeugung aller seiner S p e k u l a t i o n e n : d a ß d e m Menschen als G o t t e s E b e n bilde in der V e r t i e f u n g auf den eigenen inneren Wesenskern das Geheimnis des Absoluten o f f e n b a r werden m u ß . Die Seele gewinnt die geistige (intellektuale) A n s c h a u u n g des absoluten Lebens, w e n n sie sich m i t d e m A k t der reflexiven S e l b s t k o n z e n t r a t i o n hineinwirft in den im eigenen I n n e r n sich vollziehenden göttlichen Prozeß. So projiziert d e r Mystiker die innerlich erlebte A k t u a l i t ä t u n d Selbstgeburt des geistigen Lebens

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(die G e b u r t G o t t e s in der Seele) z u r ü c k u n d hinauf in das u n b e k a n n t e u n d in seinem U r g r u n d schlechthin u n s a g b a r e Wesen des Absoluten. B ö h m e s b e s o n d e r e W e n d u n g a b e r ist n u n , d a ß er m i t eindeutiger E n t s c h i e d e n h e i t W e s e n u n d K e r n des geistigen Lebens i m W i l l e n sieht. Allen I d e e n , allem Spiegeln u n d Abbilden des Bewußtseins gegenüber ist i h m das D r ä n g e n u n d „ W a l l e n " des Willens das eigentliche Realprinzip, das d e n n a u c h n u r als Leben u n d D y n a m i k zu fassen ist. Der Wille ist die schöpferisch freie, unendlich f r u c h t b a r e , in keiner ihrer Ä u ß e r u n g e n a u f g e h e n d e u n d sich erschöpfende K r a f t , aus deren S p a n n u n gen u n d A k t i o n e n n i c h t n u r die Realisationen v o n I d e e n , sondern a u c h diese selber i m m e r f o r t e n t s p r i n g e n ! U n d so ist i h m d e n n die Selbstgeburt Gottes ein Willensprozeß, eine ewige unendliche S e l b s t e n t f a l t u n g u n d innere E n t w i c k l u n g des Absoluten als Wille. „ D i e Einheit, als das Gute, f l e u ß e t selber a u s sich aus, u n d f ü h r e t sich m i t d e m Ausflusse in Wollen u n d Bewegnisse . . . " ; „ d a s A u f t u n ist die E i n h e i t , als ein ewig Leben u n d Wollen, ein l a u t e r Wille, welcher nichts h a t , das er wollen k a n n , als sich selber." E r s t a u f G r u n d u n d i n n e r h a l b dieses Willenslebens e n t s p r i n g t (durch eine A r t S e l b s t s p a l t u n g oder Reflexion des Willens auf sich selber) die „ewige I d e e " , als die „ E m p f i n d l i c h k e i t " oder Sich-Sichtbarkeit des Absoluten, die „ g ö t t l i c h e I m a g i n a t i o n " ( p r o d u k t i v e E i n b i l d u n g s k r a f t ) , darin alle I d e e n u n d Urbilder gelegen sind! Die Idea ist der „ G e g e n w u r f des ewigen Willens in der Liebe, d a r i n n e n sich die Liebe selber will u n d e m p f i n d e t " , „eine Imaginierung des göttlichen Willens, d a sich der Wille des U n g r u n d e s h a t in eine F o r m gebildet," K a t e g o r i e n des geistigen Willens sind es, durch welche der E n t w i c k e l u n g s g e d a n k e bei B ö h m e in das A b s o l u t e selber h i n e i n d r i n g t ; aller H i n e i n t r a g u n g v o n N a t u r b e g r i f f e n in das höchste Sein s t e h t dieser E v o l u t i o n i s m u s fern. Die religiöse Ü b e r z e u g u n g des C h r i s t e n t u m s v o m schöpferischen Geiste oder d e m lebendigen T a t - u n d Liebeswillen Gottes f i n d e t hier eine m e t a physische A u s d e u t u n g . Das wird besonders klar, wenn man das ewige Z i e l dieses Prozesses ins Auge f a ß t . Auch in dieser Sache ist B ö h m e , bei aller Gebundenheit in seine theosophische und mystische Vorstellungsweise, doch auch ein Vorkünder der tiefsinnigen Spekulation F i c h t es und seiner Genossen. Was der Willensprozeß im Absoluten schafft und gleichsam a u f b a u t , in zeitlosen E t a p p e n oder Stufen der Spaltung und Vereinigung, das ist das S e l b s t b e w u ß t s e i n d e r P e r s ö n l i c h k e i t . Die offenbarte, gleichsam sichtbarlich und durchsichtig gewordene Form des Geistes ist die Personalität! Wie für die Welt der Wirklichkeit und Endlichkeit das Endziel und das Höchste der Naturgebilde nach Böhme der selbstbewußte freie Mensch ist, — so leuchtet in der ewigen Selbstgeburt der Gottheit das Leben Gottes als Person (bzw. in der Dreiheit der Personen) auf; Gott wird zu dem, als was ihn das persönliche Erleben des Christenmenschen f a ß t : freier allwissender und selbstbewußter Schöpfer aller Dinge und Vater des unendlich mannigfaltigen corpus mysticum persönlicher Wesen. Die Aktualität des Absoluten ist ewiger Willensprozeß der Selbstdifferenzierung und Selbstdurchleuchtung zur Aktualität der selbstbewußten Freiheit und Persönlichkeit. — Vom immanenten Leben des Absoluten aus soll nun auch der Prozeß verständlich werden, in welchem Wirklichkeit und Welt als eigene Existenz aus Gott hervorgehen.

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Und damit stehen nun vor B ö h m e jene beiden Fragen: die eine erwachsend aus dem (christlichen) Spiritualismus, die andere aus dem (gleichfalls christlichen) Monismus des Ursprungsprinzips: Wie kann aus dem Geist-Absoluten, dem keine Materie und kein Prinzip des Nichtseins als eigene, in sich geistfremde, gleich ewige Potenz entgegensteht, unsere Wirklichkeit entstehen, als etwas eigenes, n a t u r h a f t Reales, die Welt des Auseinander in R a u m und Zeit, die Welt des Körperlichen und Sinnlichen? Zweitens: Wie kann in dieser, aus reiner Einheit der Willensgüte (d. h . allein aus der Idee des Guten, nunmehr gefaßt als Akt des absoluten geistigen Willens) hervorgegangenen Welt eine fundamentale Dualität regieren — eine Entgegensetzung und Zerspaltung, deren zerreißende K r a f t jeder endliche Wille erlebt in der Gewissensspannung zwischen Gut und Böse, und deren Unaufheblichkeit die religiöse Lehre vom E n d e aller Dinge n n d der Scheidung in Gottesstaat und Reich der ewigen Verdammnis fordert ? F ü r beide Fragen sieht B ö h m e den Lösungsweg in jener Überzeugung, die auch P a r a c e l s u s und W e i g e l immerwährend ausgesprochen haben u n d die auch als entscheidender Antrieb im Weltbegriffe des Cusaners lebt, die aber niemand doch so prinzipiell und schroff als metaphysisches Gesetz gleichsam verkündet und zugleich durch die Zuspitzung auf die innere Dynamik des als Wille verstandenen Geistes so eindringlich gemacht h a t als er: d a ß alle Selbstoffenbarung und alles Sichdarlegen wesenhaft Spaltung und Entgegensetzung mit sich bringt.

b) G e i s t u n d N a t u r a l s G e g e n s a t z i m A b s o l u t e n s e l b s t . D e n Sinn der Wirklichkeit als eines I n - u n d Gegeneinander realer N a t u r g e walten u n d idealer F o r m e n oder T e n d e n z e n des Geistes v e r s t e h t m a n n a c h J a k o b B ö h m e n u r , w e n n m a n die d a m i t a n g e d e u t e t e D u a l i t ä t zurückverfolgt in den Prozeß des A b s o l u t e n selber. N i c h t n u r im K a m p f u n d L e b e n alles E n d l i c h e n herrscht w e s e n h a f t e r Gegensatz von J a u n d Nein (Erzeugung u n d Zerstörung, T r e n n e n u n d E i n e n ) , der f ü r d e n Menschen in der S p a n n u n g zwischen G u t u n d Böse seine höchste A k t u a l i t ä t b e k o m m t , — sondern die Basis u n d der Ursinn aller dieser Gegensätze liegt schon in W e s e n s f o r m e n des göttlichen Willens. „ D e r Leser soll wissen, d a ß in J a u n d N e i n alle Dinge bestehen, es sei Göttlich, Teuflisch, Irdisch, oder was g e n a n n t m a g werden. Das E i n e , als das J a , ist . . . die W a h r h e i t Gottes oder G o t t selber. Dieser w ä r e in sich selber u n e r k e n n t l i c h , u n d wäre d a r i n n e n keine F r e u d e oder E r h e b l i c h k e i t , noch E m p f i n d l i c h k e i t ohne das Nein. Das Nein ist ein Gegenwurf des J a oder der W a h r h e i t , auf d a ß die W a h r h e i t o f f e n b a r u n d etwas sei, d a r i n n e n ein C o n t r a r i u m sei, d a r i n n e n die ewige Liebe wirkend, e m p f i n d l i c h , wollend u n d das zu lieben sei. U n d k ö n n e n doch n i c h t sagen, d a ß das J a v o m Nein a b g e s o n d e r t , u n d zwei Dinge n e b e n e i n a n d e r sind, s o n d e r n sie sind n u r ein Ding, scheiden sich a b e r selbst in zwei A n f ä n g e u n d m a c h e n zwei C e n t r a , d a ein jedes in sich selber wirket u n d will." „ Ü b e r a l l ist Eins gegen das Andere, n i c h t d a ß sich's feinde, sondern d a m i t es dasselbe bewege u n d o f f e n b a r e . " „ K e i n Ding ohne W i d e r w ä r t i g k e i t m a g i h m selber o f f e n b a r w e r d e n ; d e n n so es nichts h a t , das i h m widerstehet, so gehet's i m m e r von sich aus u n d gehet n i c h t wieder in sich ein. So es aber n i c h t wieder in sich eingehet, als in das, d a r a u s es ist u r s p r ü n g l i c h gegangen, so weiß es nichts von seinem U r s t ä n d . W e n n das n a t ü r l i c h e Leben keine Widerwärtigkeit h ä t t e u n d wäre ohne ein Ziel, so f r a g t e es

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niemals nach seinem Grunde, woraus es sei herkommen: so bliebe der verborgene Gott dem natürlichen Leben unerkannt. Auch so keine Widerwärtigkeit im Leben wäre, so wäre auch keine Empfindlichkeit, noch Wollen, noch Wirken, auch weder Verstand noch Wissenschaft darinnen; denn ein Ding, das nur Einen Willen hat, das hat keine Schiedlichkeit. So e6 nicht einen Widerwillen empfindet, der es zum Streben der Bewegiiis ursachet, so stehet's still; denn ein Einig Ding weiß nichts mehr als Eines; und ob es gleich in sich gut ist, so kennet's doch weder Böses noch Gutes, denn es hat in sich nichts, das es empfindlich mache." „Also auch können wir v o n dem Einigen guten Willen Gottes philosophieren und sagen, daß er nichts in sich selber könne begehren, denn er hat nichts in oder vor sich, das ihm etwas könnte geben: und führet sich darum aus sich aus in eine Schiedlichkeit, in Centra . . . " (VI, 597; 454 f.) Wenn damit die positive K r a f t und Sinnotwendigkeit des Negativen (Gegensätzlichen) zum Fundamentalprinzip aller Spekulation gemacht und alle Dualität als notwendige Lebensform eines ursprünglich Einen verstanden wird, so zeigt B ö h m e s nähere Schilderung der S p a l t u n g s - [und Wiederversöhnungs-] P r o z e s s e im ewigen Leben Gottes, wie sehr seine ganze Anschauung auch hierin vom Urbilde persönlich-geistigen Willenslebens ausgeht. In „ S u c h t " und „Willen", und, auf weiterer Stufe, in Zornfeuer (Neinwille) u n d Liebesfeuer (Jawille) spaltet sich das Absolute, um jeweils wieder die Spaltung zu versöhnen durch Rückwendung des zweiten Momentes auf das erste und erhöhende Durchdringung desselben. Solche Zweiheit und Wiedereinung ist ihm Bedingung der Persönlichkeit (also gerade auch der wirklichen Person, des personalen Lebens im Absoluten selber); Person aber wird eben hier nicht intellektualistisch gefaßt als ein Sein, das sich spiegelnd auf sich zurückwendet, — sondern voluntaristisch-ethisch: als ein bestimmter einheitlicher und lichtvoll-durchdringender Geistwille, der sich formend und veredelnd rückwendet auf die dunklen Mächte des Trieblebens, auf die leidenschaftlichfeurige K r a f t des unbestimmten Drangs. Das Dunkel-Dumpfe und das Geistig-Lichte, die verzehrende K r a f t des Zornes und die versöhnende Einung der Liebe gehören wesenhaft zusammen; ihr Ineinanderspielen und Verschmelzen erst ist Bewegnis und Leben. Die lebendige Einheit der Person ist f ü r Böhme wesenhaft Synthese und Versöhnung von Gegensätzlichem: von realer N a t u r k r a f t des Lebens- und Willensdranges mit idealem Wollen des Geistes und der Liebe. Die Dialektik des Lebens, wie er sie, oft nur stammelnd und bildlich, schildert, ist Willensdialektik; die Reflexion des absoluten Geistes versteht er vom Selbstbewußtsein des Handelnden, von der Rückbiegung geistiger T a t k r a f t und geistigen Wirkenswillens auf sich selber aus.

Damit aber liegt schon im Absoluten eine ewige Zweiheit der „Centra". Und von da ergibt sich die Antwort auf die Frage nach dem Hervorgang von Natur aus Geist (die Frage der Schöpfung). Die wirkliche unendliche Natur hat ihr Fundament in der ewigen „Natur in Gott", wie sie sich auf der Basis seines Zornwillens, des selbstgesetzten Gegensatzes im Absoluten selbst herauskristallisiert. So ist die Schöpfung einerseits Schöpfung aus Nichts, d. h. aus keiner vorgegebenen Materie (absoluter Monismus des Geistes gegen jeden Dualismus von Form und ewiger Materie oder Dunkelheit des Nichtseins), andererseits aber liegt ihr doch auch ein wirkliches Realprinzip, gleichsam ein Analogon zur Wirklichkeitsmaterie im Absoluten selbst zu Grunde, so daß sie nicht das völlig

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u n v e r s t ä n d l i c h e E n t s p r i n g e n v o n N a t u r h a f t - R e a l e m u n d SinnlichMateriellem aus d e m bloßen M a c h t w o r t eines rein s p i r i t u a l e n u n d ideellen Prinzips b e d e u t e t . Der schöpferische Wille b a u t schon a u f d e m G r u n d e , welchen die o f f e n b a r e n d e S e l b s t s p a l t u n g des a b s o l u t e n Willens in ewige N a t u r u n d ewiges Geistwesen, sowie die innige B e z i e h u n g b e i d e r U r m o m e n t e a u f e i n a n d e r , die geistige D u r c h d r i n g u n g u n d V e r k l ä r u n g des „ N a t ü r l i c h e n " b e r e i t e t h a t . Wie Gottes Liebeswille d e n eigenen N a t u r grund durchlichtend zum offenbarten Ausdruck höchster Güte macht, so s c h a f f t er n u n in n e u e r w e i t e r e r R ü c k w e n d u n g aus j e n e r d u n k l e n Basis seines Wesens die W e l t als neue ä u ß e r e S e l b s t o f f e n b a r u n g . Das heißt aber für B ö h m e nun nicht etwa, daB die Wirklichkeit nichts sei als ein Moment des göttlichen Lebens selber. Gegen alle pantheistische Deutung h a t er scharf protestiert, und auch der Akosmismus liegt ihm fern. Wenn das Leben des Absoluten ein Selbstgebären ist in Stufen ewiger Entwicklung, so liegt das Heraussetzen der endlichen Realität doch selbst nicht mehr auf diesem Wege; nicht, damit Gottes Offenbarung selbst vollkommener werde, m u ß t e die Welt entstehen, sondern der ewige Liebeswille ließ in absoluter schöpferischer Freiheit das Mögliche wirklich und eigenkräftig werden — ohne sich selbst in diesem Akt der äußeren Offenbarung gleichsam zu verbrauchen oder ins Äußere umzusetzen. Der ewige Wille geht nicht auf in seinem zeitlichen P r o d u k t . Die ewige oder „geistliche N a t u r " in Gott unterscheidet Böhme sehr scharf von unserer sinnlichen und sichtbaren Natur, der Wirklichkeit. Die Welt ist begründet in Gott, aber sie ist nicht Gott selbst, noch Teilmoment seines ewigen Lebens. Sie offenbart an ihrem Teile den göttlichen Willen. Aber diese Offenbarung in der Zeitlichkeit und Endlichkeit ist eine andere als die ewige Offenbarung Gottes in sich selber; der Geist in sich bleibt f ü r die Welt das ewige Mysterium. Und wiederum: die Welt des Vielen und Verschiedenen ist nicht bloße Scheinausstrahlung der göttlichen Ureinheit, sondern wirkliches Eigensein und tatsächliches Auseinander und Gegeneinandertreten von Wesen, deren Urbilder und Essenzen in der göttlichen N a t u r enthalten sind. Die Welt der Kreaturen hat ihre eigene Realität und ihre Art von Selbständigkeit, obgleich die einzige Seinsquelle in Gott gelegen ist.

c) D e r G e g e n s a t z u n d d a s B ö s e . Die Eigenexistenz u n d Selbstheit des geschaffenen Seins h a t i h r e n schärfsten A u s d r u c k in der Wirklichkeit des B ö s e n : der endliche Wille w e n d e t sich v o n seinem U r s p r u n g a b ; die K r e a t u r stellt sich gegen den göttlichen Liebeswillen u n d fällt gleichsam aus i h m h e r a u s . I n diesem P u n k t e e r h e b t sich f ü r j e d e theistische Seinsauffassung die große unausweichliche F r a g e : wie solche r a d i k a l e Gegensätzlichkeit u n d A b t r e n n u n g v e r e i n b a r sein soll m i t d e r E i n h e i t des göttlichen Seinsgrundes. B ö h m e h a t diese F r a g e m i t aller Energie seines s p e k u l a t i v e n Grübelns aufgegriffen. U n g a n g b a r sind f ü r i h n die Lösungswege jener Lehren, in welchen das Böse als bloße P r i v a t i o n u n d relatives Nichtsein v e r s t a n d e n wird, als eine ä u ß e r s t e V e r m i n d e r u n g der göttlichen Vollkommenheit in i h r e m A u s f l u ß u n d Abblassen zu den K r e a t u r e n , — oder in welchen doch wenigstens (wie etwa bei Meister E c k h a r t ) v o m mystischen Erlebnis der göttlichen E i n h e i t u n d h a r m o n i s c h e n Sinnfülle alles Seienden aus der absolute Gegensatz von G u t u n d Böse zu einem verschwindenden T e i l m o m e n t e u n d gleichsam einem Oberflächenschein h e r a b g e d r ü c k t zu werden scheint. D e r harmonisierende Idealismus u n d

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Optimismus ist nicht Böhmes Axt; ihm ist das Böse eine positive furchtbare Macht in der Realität, wie sie nun einmal da ist und von uns durchlebt wird und durchkämpft werden muß, eine wirkliche Gegenkraft gegen das Göttliche in ihr; und das Endziel des ganzen Weltprozesses (der Weltgeschichte) ist die endgültige und ewige Spaltung in die zwei Reiche der Seligen und Verdammten. Es kann also auch für Böhme nicht in Frage kommen, etwa den Gedanken des Cusaners von der implicatio der in der Welt auseinandertretenden Gegensätze in der göttlichen Einheit auch auf diesen Gegensatz von Gut und Böse anzuwenden; so sehr er mit Paracelsus und Weigel betont, daß am Bösen das Gute offenbar werde wie das Licht an der Finsternis, so fern liegt seinem Theismus doch, das Absolute als Indifferenz und vollkommenes Jenseits von Gut und Böse aufzufassen! Gott ist alleiniger Ursprung und Erhalter alles Seienden, und doch liegt in der Realität der Sünde eine positive widergöttliche und darum von der göttlichen Einheit abtrennende Tendenz. Aus welcher Quelle denn aber nimmt es seine K r a f t und Gewalt, in welchen Raum gleichsam außer Gott, in welches seiende Nichtsein strebt es fort ? Böhmes Antwort auf diese Kernfrage seines ganzen Suchens erwächst aus einer Vereinigung seines irrationalistischen Voluntarismus mit jenem metaphysischen Prinzip von der teleologischen Notwendigkeit des Gegensatzes in allem, auch im absoluten Sein. Das Böse stammt nicht aus Gott. Es entspringt seiner (kontingenten) Tatsächlichkeit und seiner Richtung nach rein aus der Selbstheit des freien Willens in der Kreatur. Wie diese Willensabkehr von Gott rein in sich selber möglich ist, oder tiefer angefaßt: wie es möglich ist, daß der absolute Wille oder die göttliche Freiheit gleichsam aus sich selbst heraustretend endliche Willenswesen, reale und selbsteigene Freiheitszentren schafft, den Menschen als Macher seiner selbst, als den, der aus sich machen kann, was er selbst will — das bleibt Mysterium. Die philosophische Spekulation aber greift von dieser absoluten und unauflöslichen Tatsache zurück auf den Ursprung des kreatürlichen Seins in der „geistlichen N a t u r " in Gott. Dort liegt die natürliche Wurzel und gleichsam die materiale Kraft des Bösen. Was in dem ewigen Leben Gottes vereinte und versöhnte Dualität von Sucht und Wille, Zornfeuer und Liebesfeuer ist, das bricht in der vom Ursinn des Lebens in ihrem freien Willen sich abwendenden Kreatur in unversöhnliche Prinzipien auseinander. Der Wille, statt sein wahres Leben in jener Einheit und Versöhnung des Gegensätzlichen zu suchen und zu finden, versteift sich auf ein Glied des Gegensatzes, auf die Materie gleichsam, daraus er entsprungen ist: auf die Natur, die Sucht, die brennenden Kräfte der Begierde. Die „Imagination" des pervertierten, auf sich selbst und den eigenen Naturgrund allein zurückgebogenen Willens wird rein auf Sinnliches und Eigensüchtiges konzentriert. Und damit lebt der böse Wille in der Hölle des bloßen Zornfeuers oder der Finsternis, abgeschnitten von dem verklärenden und vergeistigen-

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den L i c h t der Liebe; er lebt i m reinen Nein, s t a t t in der D i a l e k t i k des Nein u n d J a , u n d i h r e r höheren V e r s ö h n u n g . Der Teil wird z u m G a n z e n a u f g e b l ä h t u n d d a m i t abgespalten, isoliert. Die T r e n n u n g des B ö s e n v o m G u t e n u n d v o n G o t t ist n i c h t zu fassen als ein dingliches H e r a u s fallen in einen außergöttlichen R a u m oder in eine a u ß e r g ö t t l i c h e Materie, sondern als eine innere Selbstisolierung des v e r k e h r t e n Willens v o n d e r E i n h e i t des göttlichen Lebenssinnes. W a s in W a h r h e i t a b s o l u t e E i n h e i t ist ( E i n h e i t der Gegensätze), das stellt sich d e m a b i r r e n d e n Willen d e r K r e a t u r als Zweiheit a b t r e n n b a r e r Glieder dar, deren eines, ihr U r sprungsstoff u n d N a t u r g r u n d , f ü r sich allein den Lebenssinn erfüllen, die Willensziele liefern könne. U n d wo die freie Willkür endlicher Geschöpfe d a n n wirklich den Blick ihrer I m a g i n a t i o n in diese S p h ä r e u n d in sie allein h i n e i n k o n z e n t r i e r t — d a ist d a n n f ü r sie wirklich aus d e r D u a l i t ä t der unlösbare u n d m i t keiner Gotteseinheit v e r e i n b a r e Dualism u s geworden. Wichtigste Schriften: W e i g e l , JViu#» acanóv, Erkenne dich selbst, d a ß der Mensch sei ein Mikrokosmos, Newenstadt 1615. — B ö h m e , Aurora oder Die Morgenröte im Aufgang; Theosophia oder Die hochteure Pforte von göttlicher Beschaulichkeit; TheosophischeFragen oder 177 Fragen von göttlicher Offenbarung; Mysterium magnum. Ausgabe von S c h i e b l e r , Leipzig 1831—1847 (jetzt in anastat. Neudruck). 7 Bde. — Darstellungen: E . B o u t r o u x , Etudesd'histoire de la philosophie Paris 1908, S. 211—288. M. C a r r i è r e , Die philos. Weltansch. der Reformationszeit. 1. Teil, S. 310—419.

3. D I E I T A L I E N I S C H E N A T U R P H I L O S O P H I E U N D G I O R D A N O BRUNO. Der d u r c h die N a m e n Agrippa u n d Paracelsus b e z e i c h n e t e n n a t u r philosophischen B e w e g u n g in D e u t s c h l a n d geht (nicht o h n e A b h ä n g i g keit von ihr) zur Seite eine N e u b e l e b u n g der M e t a p h y s i k d u r c h die N a t u r spekulationen der Italiener. Die G r u n d t e n d e n z bei diesen D e n k e r n ( F r a c a s t r o , Cardano, Telesio, Patrizzi, Campanella, B r u n o ) ist die gleiche wie d o r t : den N a t u r z u s a m m e n h a n g als eine sich selbst g e n ü g s a m e E i n heit, als geschlossenes S y s t e m zu fassen, ihn abzulösen v o n ü b e r n a t ü r lichen Eingriffen u n d Zwecken. A u c h der W e g ist z u n ä c h s t derselbe: dieser N a t u r z u s a m m e n h a n g , als ein wechselseitiges S i c h t r a g e n u n d -bewegen der Dinge wird gleichsam als psychisches A t t r a k t i o n s - u n d R e p u l sionssystem g e d a c h t ; alles Wirkliche ist d u r c h w i r k t v o n K r ä f t e n der S y m p a t h i e u n d A n t i p a t h i e . N o c h ist die Ü b e r z e u g u n g schlechthin v o r h e r r s c h e n d : d a ß alle Bewegung u n d aller Z u s a m m e n h a n g in der N a t u r n u r von seelischen L e b e n s k r ä f t e n h e r r ü h r e n k a n n . J e d e s Weltbild in dieser Zeit h a t seine panpsychistisch-hylozoistische Basis. I m m e r ist es eine „ W e l t s e e l e " , die alles N a t u r g e s c h e h e n als i n n e r e Lebenseinheit beherrscht. W o d u r c h sich aber diese Systeme unterscheiden v o n d e n e n der deutschen D e n k e r , das ist die v e r s t ä r k t e Z u w e n d u n g zur sinnlich-äußeren Gegebenheit der N a t u r . W e n n bei den Deutschen das e n t s c h e i d e n d e W o r t

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im Grunde immer die Unmittelbarkeit des inneren Erlebnisses, die Selbsterfahrung des Menschen behielt, so drängt bei den Italienern das Suchen nach neuen Realprinzipien auf das Gegebene der äußeren Erfahrung und auf die darin zu erfassenden Typen des Seins und Wirkens hin. Natur soll „nach ihren eigenen Prinzipien" erklärt werden; — das heißt hier: nach den Kräften und Substanzen, die sie unmittelbar dem sinnlichen Anschauen darbietet. Nicht in abstrakten Formen noch in rein innerlichen Kräften wird das Reale der Natur gesucht, sondern in wirklichäußerlich gegebenen Sachen und Qualitäten. Selbst die psychischen Kraftprinzipien werden bei Telesio äußerlich-sinnlich, als Wärme, Kälte, Licht gefaßt, und auch die Weltseele erhält diesen Charakter anschaulicher Realität. A. NATURPRINZIPIEN UND NATURALISTISCHE TENDENZEN DER ITALIENISCHEN METAPHYSIK. Ein neuer Begriff von M a t e r i e reift damit heran. Seit dem Cusaner steht dies Problem auf einem neuen Boden. Er bereits hatte den traditionellen Begriff von der Materie als bloßer passiver Potentialität ins Aktuale und Dynamische umgebogen. Bruno folgt ihm darin. Die anderen Italiener suchen für das dynamische Moment eigene Prinzipien (z. B. die erwähnten sinnlich-seelischen von Licht und Wärme), aber selbsteigene Aktualität, volles, wenn auch passives und formlos-unbestimmtes Wirklich-Sein hat für sie alle die Materie. Sie bleibt beständig und erhält sich in allem Untergehen und Entstehen von Dingen, in allem Wechsel der Formen. Diese ihre Konstanz wird geradewegs zu einem Grundausdruck für das in sich geschlossene Sein der Natur. Nichts Neues tritt im Weltall auf oder in es hinein; Vernichtung und Entstehung sind nur Umwandlungen, betreffen nur die Formen. Zugleich gewinnt das Prinzip des R a u m e s eine neue Selbständigkeit. Den Grund dazu hat wieder Nikolaus gelegt: eine neue Wertung des Räumlichen nach seiner Unendlichkeit, Gleichförmigkeit und Rationalität war durch ihn gegeben. Bei den Italienern nun löst sich das Raumprinzip aus der dinglichen Bindung los, die es im Aristotelismus des Mittelalters hatte. Ort und Raum sind nicht nur Grenze und relative Umfassung des Körpers, sondern ein eigenes Sein, eine erste und eigene Art von Substanz, in sich verharrend, bei allem Wechsel der Dinge und Bewegungen in ihm schlechthin unendlich und gleichförmig. Der Raum liegt, als Prinzip und Fundament, der raumerfüllenden Materie und allem äußerlich-wirklichen Sein und Geschehen voraus. Er ist die selbständige Basis alles Wirklichen (und ist denn auch in der Geometrie „vor" aller Wirklichkeitserfahrung aus sich selber zu begreifen!). Im Hervorgang der Dinge aus dem AbsolutEinen und -Unendlichen ist er nicht das Letzte, sondern das Erste. Die ganze Problematik des Raumes tut sich neu auf; seine absolute Einheit und Unendlichkeit erhebt ihn über alle Dinge und scheint ihn dem Gottes-

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prinzip zu nähern, seine sinnliche U n g r e i f b a r k e i t m a c h t ihn d e m Geistigen v e r w a n d t . K e i n e der gewohnten W i r k l i c h k e i t s k a t e g o r i e n p a ß t g a n z a u f i h n : er ist nicht eigentlich S u b s t a n z u n d a u c h nicht A k z i d e n z , n i c h t materiell-undurchdringlich u n d auch n i c h t immateriell-unausgedehnt, nicht I n d i v i d u u m noch G a t t u n g ; er stellt das P a r a d o x o n eines corpus incorporeum et noncorpus corporeum dar ( P a t r i z z i ) . — M i t dieser N e u fassung v o n Materie u n d R a u m als f u n d a m e n t a l e r Realprinzipien des Wirklichen geht ferner H a n d in H a n d eine T e n d e n z , trotz aller p s y c h i stischen F a s s u n g des D y n a m i s c h e n als solchen dennoch die besonderen W i r k u n g s V o r g ä n g e selber als V o r g ä n g e u n m i t t e l b a r e r B e r ü h r u n g v o n K ö r p e r n zu fassen u n d mechanistisch zu begreifen. Indem so die italienische Naturphilosophie auf eine neue Fassung des Naturrealen losging (die extreme Erfüllung davon bringt dann später D e s c a r t e s ) , versuchte sie zugleich von den Naturkategorien aus das Wirkliche ü b e r h a u p t zu verstehen, bis hinauf in das geistige und sittliche Leben des Menschen. Ihre Wirklichkeitstendenz f ü h r t sie zum N a t u r a l i s m u s . I n Reaktion auf die frühere Art, alles Wirkliche teleologisch auf den Menschen zu beziehen und aus dem Menschen zu begreifen, sucht sie n u n ihrerseits den Menschen als Naturwesen unter den anderen in der äußeren N a t u r zu fassen. So treibt z. B. die f ü r die Ausbildung der Wissenschaft vom Menschen als vitalem Wesen sehr wichtige Tendenz, das Wirken der „Lebensgeister" körperlich-physiologisch zu fassen, zu einer Umdeutung auch fast aller psychischen K r ä f t e und Vorgänge (Einbildung, Gedächtnis, selbst Überlegung, Schließen, ja auch Tugenden) zu solchen Wirkungen des körperlichen Lebensgeistes ( T e l e s i o ) . Vor dem vollen Materialismus aber werden diese Denker alle bewahrt durch ihre religiöse Überzeugung von der höheren geistigen Bestimmung der unsterblichen Seele des Menschen. U n d je mehr diese forma superaddita damit in Gegensatz t r i t t gegen eine in sich homogene Natursphäre, um so rätselhafter wird ihre Verbindung mit dem Leiblichen und Leib-Psychischen. Wie k a n n , wenn alle Wirkung in Berührung sich vollziehen muß, Unkörperliches auf Körperliches wirken? Der Dualismus Descartes' kündet sich a n : vermieden nur noch durch Einschiebung unklarer Vermittlungsprinzipien. — Ein anderes Motiv: das vitale Prinzip des S e l b s t e r h a l t u n g s t r i e b e s wird nicht nur als F u n d a m e n t a l k r a f t in allem N a t u r h a f t e n angenommen (Beharrungsvermögen und Undurchdringlichkeit der raumerfiillenden Materie u n d aller materiellen Dinge sind auch nur Äußerungen dieser ihr Eigenwesen ausmachenden metaphysischen Grundkraft), sondern auch alles menschliche T u n und Treiben soll wesenh a f t bestimmt sein durch das Streben nach Erhaltung und Förderung des eigenen Seins; auch die Tugenden sind Weisen der Selbsterhaltung ( T e l e s i o , C a m p a n e l l a ) . Der egozentrische Daseinswille der Einzelwesen ist die Grundform aller Kraft- und Lebenswirklichkeit. — Auch hier allerdings zwingt (bei Campanella) die Bindung an die absolute Geistigkeit des Religiösen zur Statuierung einer f ü r das letzte Sein des Menschen entscheidenden Ausnahme bzw. zu einer Umbiegung des ursprünglich rein naturalistischindividualistischen Gedankens ins Geistig-Universale (SelbsteThaltung der Seele, sofern sie eine Partizipation Gottes ist). Eine besonders zugespitzte Ausprägung h a t diese ganze Haltung noch gefunden in der Seinsauffassung des E r k e n n t n i s v o r g a n g e s (Metaphysik der Erkenntnis). Zu der am mystisch-religiösen Vorgang orientierten Selbstentfaltungs- und Selbstaneignungslehre W e i g e l s gibt es kaum einen extremeren Gegensatz als den naturalistischen Objektivismus eines F r a c a s t r o oder T e l e s i o . Wenn hier jetzt Erkenntnis als Seinsprozeß und Seinsbeziehung betrachtet wird, so wird dabei ganz überwiegend an das Sein der äußeren Erfahrungen, an Dinge und dingliche Vorgänge gedacht. Wie alle Wirkungen in der Natur, so m u ß auch das Entstehen des Erkenntnisbildes auf Vorgängen der Berührung und Berührungsübertragung beruhen. Der Objektivismus der antiken Theorie der Eidola setzt

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sich hier fort. Die Spontaneität des erkennenden Bewußtseins und die spezifische Subjektivität der Erkenntnisintention wird durch die Begriffe des Erleidens äußerer Einwirkungen oder des Eindringens dinglicher Momente in die empfangende Seele weitgehend verdeckt. Für die introspektive Analyse des Erkenntnisaufbaus (Erkenntnist h e o r i e ) h a t daB zur Folge einen sensualistisch-zugespitzten Empirismus, der mit dem ganzen Naturalismus und Physiologismus in der Auffassung des Psychisch-Geistigen gut zusammengeht. Für die Einschätzung der Tragweite der Erkenntnis wiederum führt diese Auffassung (wie das besonders bei C a m p a n e l l a scharf zum Ausdruck kommt) im äußersten Gegensatz zu jenem W e i g e l s c h e n Pathos einer absoluten Zuversicht und Selbstgewißheit der Erkenntnis zu der resignativen Überzeugung, daß wir von den Dingen nie ihr eigenes und eigentliches Wesen erfassen, sondern immer nur die Art, wie wir von ihnen affiziert werden. Der Erkennende bleibt im Grunde immer auf sich selbst und die an ihm geschehenden Wirkungen verhaftet.

B. GIORDANO BRUNO.) Aus d e m Zusammenhang der italienischen Naturphilosophie u n d ihres Naturalismus wächst B r u n o (in großen Stücken übrigens auch Campanella) weit heraus. Die Grundlagen seiner Metaphysik sind die Lehren des Nikolaus v o n Kues, die er mit f l a m m e n d e r Begeisterung v e r k ü n d e t u n d mit der neuen Geistes- u n d Wissenslage in Z u s a m m e n h a n g gebracht h a t . Auf drei Momente konzentriert sich seine Spekulation: I m m a n e n z des Göttlichen, Unendlichkeit der Welt, Selbständigkeit des Individuellen. a) D i e W e l t i m m a n e n z d e r g ö t t l i c h e n K r a f t u n d d e s g ö t t l i c h e n S e l b s t z w e c k s (della causa, principio ed uno). Der zentrale Gegenstand f ü r Brunos auf einen neuen Weltbegriff hindrängende Polemik ist der Aristotelisch-mittelalterliche Gedanke v o m „ersten Beweger". Die wirkenden K r ä f t e , die sinngebenden Formen, der höchste Zweck aller natürlichen Dinge u n d Vorgänge sind i m selbsteigenen Wesen der Welt aufzusuchen, nicht außerhalb. Der theozentrischen Teleologie stellt sich der i m m a n e n t e Zweckbegriff der „ H a r m o n i e " entgegen: das gegenseitige Zusammenstimmen des Vielartigen, die schöpferische Selbstentwicklung aller möglichen Formen, das immer neue Hervortreiben v o n Vielheit und Fülle aus Einheit — das ist Wesen u n d Zwecksinn der Welt. — In diesem Zusammenhang gewinnt der Begriff der M a t e r i e neue K r a f t u n d Selbständigkeit. Sie ist nicht das in sich Bestimmungslose u n d Sinnfremde, wofür m a n sie ausgegeben h a t . Mit der Cusanischen Umwandlung des Potenzbegriffes aus passiver Möglichkeit in aktives Vermögen verbindet Bruno den Gedanken des antiken und Averroistischen Naturalismus. Die F o r m k r ä f t e sind der Materie selber i m m a n e n t ; aus ihrem ewig gleichen und alle Veränderungen überdauernden Schöße treibt sie selbst die verschiedenen und wechselnden Formen hervor. Auch im Realprinzip der Welt (nicht nur in den Idealprinzipien der Formen) waltet göttliche K r a f t u n d Aktualität, der Abglanz jener Einheit von Möglichkeit (Vermögen) u n d Wirklichkeit im Absoluten selber. Dennoch behält (widerspruchsvoll genug) auch bei

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Bruno die Materie den alten Grundcharakter der Passivität; und da sie als Realprinzip ebensowohl des Seelischen wie des Körperlichen gedacht wird, so kommt es auch zu keiner Präzisierung ihres Seins, etwa durch das Fundamentalmoment der Räumlichkeit. — Die eigentliche A k t i v i t ä t und Dynamik kommt den Formen zu, deren Einheitsprinzip nun nicht eine welttranszendente höchste Form als primus motor und causa transiens ist, sondern die W e l t s e e l e , Gott als der , i n n e r e Künstler", als causa immanens. Gott ist in allen Dingen als die lebendige Einheit und Gesetzlichkeit, als Kraft und Ordnung; und er ist ganz und gar in jedem Sein. Was wäre ein Gott, der nur von außen stieße! Diese Identifizierung de» Göttlichen mit der Weltseele f ü h r t nun zu jenen gedanklichen Wendungen und Zusammenhängen, welche die Metaphysik Brunos im Bilde seiner Zeit und der Nachwelt als P a n t h e i s m u s erscheinen lassen. D i l t h e y nennt ihn den großen Begründer des neuzeitlichen Pantheismus. B r u n o s eigene Überzeugung von sich und seiner Lehre stimmt nicht damit zusammen. Die Leugnung eines überweltlichen transzendenten Gottesprinzips lag ihm f e m . Aber dies schlechthin jenseitige und absolute Insichselbstsein Gottes ist ihm rein Gegenstand der religiösen und der sittlichen Verehrung, nicht aber Gegenstand der philosophischen Erkenntnis. Die Theologie (als „negative" Theologie) zielt auf das übervernünftige Eine des göttlichen Geistes; Philosophie dagegen h a t es nur mit Gott zu t u n , sofern er in der Welt sich offenbart — als ihre causa immanens und ihre Harmonie. Für den W e l t b e g r i f f aber bedarf es keines außerweltlichen Prinzips. Bei dieser Trennung der Instanzen bleibt B r u n o stehen, u n d es kann nun nicht wundernehmen, wenn in seinen Schriften der Gottesbegriff faktisch meist ineinsfällt mit dem der Weltseele, zumal die Problematik des Wirklichkeitsgegensatzes von Gut und Böse ihm ganz verschwinden will in der überwältigenden Anschauung von der Fülle und Schönheit des Universums. Und es ist dann wirklich schon ein Vorklang der pantheistischen Identitätsphilosophie S p i n o z a s , wenn in der Fortführung jener Lehre des Cusaners von der Koinzidenz der Gegensätze auch im Universum — die Gegensätze von Form (Weltseele) und Materie als im Ganzen der Welt zusammenfallend, als bloß zwei Seiten derselben Weltsubstanz darstellend von B r u n o gedacht werden. So angesehen ist die materielle und reale Wirklichkeit der Leib zur göttlichen Weltseele; Gott ist die Einheit und das Leben der N a t u r . Der aus dem Averroismus von B r u n o übernommene Begriff der natura naturans, der schaffenden und schöpferischen N a t u r (der göttlichen Weltseele) im Gegensatz zur natura naturata (der Wirklichkeit als Inbegriff der Dinge) p a ß t gut damit zusammen. Der naturalistische Einschlag in dieser ursprünglich vom Cusaner bestimmten und beschwingten Metaphysik des Italieners treibt ihn zu einer Weltauffassung, die dem vollkommenen Pantheismus der alten Stoa o f t nahe genug kommt. Nach dieser Seite h a t sein Zeitgenosse C a m p a n e l l a viel energischer die spiritualistisch-idealistischen Motive der christlichen Weltansicht und ihres Persönlichkeitstheismus in seiner Metaphysik zum Ausdruck gebracht, trotz aller gleichgerichteten Betonung der Immanenz des Göttlichen in aller Wirklichkeit.

b) D i e W e l t u n e n d l i c h k e i t . In den Schriften D e l'infinito, universo e mondi und De immenso et innumerabilibus (letztere eine Neubearbeitung der ersteren) hat Bruno die Unendlichkeitslehre des Cusaners mit hinreißender Begeisterung verkündet und sie durch Beziehungen auf die inzwischen durch Copernicus erfolgte Umwälzung der astronomischen Weltansicht gegen den aristotelisch-mittelalterlichen Finitismus durchgefochten. Auch hier verbindet sich das jener religiösen Unendlichkeitsmetaphysik entsprungene Urmotiv (die Verwirklichung und

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Offenbarung der unendlichen Macht im Weltall fordert dessen räumliche, zeitliche u n d zahlenmäßige Unendlichkeit) bei Bruno mit Vorbildern des antiken N a t u r a l i s m u s : mit der Lehre des Demokrit u n d Lukrez von der Unendlichkeit der aus zahllosen Atomen zusammengesetzten u n d in Ewigkeit bewegten Welten. Während Kopernikus u n d selbst noch Kepler an der Endlichkeit der Welt im R ä u m e festhalten, u n d auch Galilei schwankt, ist B r u n o von ihrer wirklichen Unendlichkeit vollkommen überzeugt. Ein leerer R a u m jenseits einer endlich-abgeschlossenen Welt ist ihm u n d e n k b a r ; die Wirklichkeit des Raumes selber f a ß t er als Ausbreitung unendlicher K r a f t . Der R a u m m u ß eben deshalb unendlich sein, damit die unzähligen Möglichkeiten von Naturen, Körpern, Wesen, Stufen sich in seiner Ausbreitung verwirklichen können. Mit der Zentralstellung der E r d e fallen ihm auch alle Lehren von den abgeschlossenen und im geschlossenen Kreise sich bewegenden Himmelsschalen fort. Und da das Universum gleichartig ist in allen seinen Teilen, ein einheitlicher kontinuierlicher Z u s a m m e n h a n g von schöpferischer Harmonie, so ist auch überall, wohin m a n dringen könnte im unendlichen R ä u m e , auf allen Weltkörpern u n d in allen Weltgegenden u n d Weltsystemen Leben, Formenfülle, Seele u n d Geist. c) D i e M o n a d e n . Auch das individualistische Motiv aus Nikolaus, (und Paracelsus') Metaphysik setzt sich hier fort. Gegenüber dem Maximum des göttlichen Universums wird f ü r Bruno in steigendem Maße das „ M i n i m u m " zum Problem, das unteilbare unveränderliche Einzelelement jeder Zusammensetzung. Atomistische Tendenzen der Naturphilosophie treffen auf die individualistischen Lehren von den Seelen (als selbständigen und jeweils einzigartigen Kontraktionen der nie sich wiederholenden K r a f t der göttlichen Monas) und den „ K r e a t u r e n " ü b e r h a u p t . Mathematisch-philosophische Versuche, auch das Raumkontinuum aus diskreten Einheitsprinzipien konstituiert zu denken (Geometrie der Indivisibilien) treten hinzu. So entsteht Brunos Lehre De triplice minimo, von der erzeugenden K r a f t selbständiger Einsheiten oder Monaden im Geometrischen, Physikalischen und Metaphysischen. Mathematische Genesis aus infinitesimalen Anfängen, physikalischer A t o m d y n a m i s m u s (wobei die K r ä f t e u n d K r a f t z e n t r e n wieder vitalistisch u n d psychistisch verstanden werden, wie bei allen Naturphilosophen der Zeit) u n d das (durch Paracelsus' Vorgang verstärkte) Motiv der lebendigen Entwicklungseinheit der individuellen, unsterblich-unzerstörbaren Seele wollen in dem Begriff der „Monade" als Elem e n t alles Wirklichen zusammenschmelzen. Aus den unendlichen Kombinationen u n d Entwicklungen dieser Monaden entsteht die Fülle und Weltharmonie. I n ihren Wechselwirkungen (Anziehungen und Abstoßungen), in ihren Ordnungen und Überordnungen (Organisation) konstituiert sich alles Geschehen u n d aller Weltzusammenhang. Unteilbar also unzerHandb. e Ursache dafür ebensogut in den Schranken unseres Verstandes wie in der Natur der Sache selbst liegen. So liegt z. B . das Zusammenbestehen von Gottes Präszienz und menschlicher Willensfreiheit über unsre Verstehensmöglichkeiten schlechterdings hinaus. Aber auch von den einzelnen Weltinhalten aus ergibt sich eine ganze Reihe von SeinBgegebenheiten, vor denen unsere Erkenntnis im eigentlichen vollen Sinne des Wortes versagt, oder die gar den gewohnten Kriterien unseres Denkens zuwiderlaufen. — Das entscheidende Beispiel aber für die Kollision unserer Erkenntnisinstanzen gegeneinander ist die Willensfreiheit — als eine unzweifelhafte Gegebenheit unserer Selbsterfahrung, die unserem gewohntesten und in aller Naturerkenntnis bewährtesten Erkenntniskriterium, dem Satz von der bestimmenden Ursache, strikt zuwiderzulaufen scheint. An dieser Frage vor allem wird es offenbar, wie wenig die obersten F 6»

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formallogischen Grundsätze b e f u g t sind, Ober zentrale Realitätsprobleme aus sich allein Entscheidung herzugeben. Der Satz des Widerspruchs ( W o l f i s oberster Grundsatz f ü r alle Urteile schlechthin; Bogar der Satz v o m G r u n d e soll noch aus i h m abgeleitet u n d bewiesen werden!) bleibt f ü r sich allein vollkommen leer u n d „ s t e r i l " ; er reicht nicht zu, u m über reale Möglichkeit oder Unmöglichkeit zu entscheiden. E r bedarf, in allen Wirklichkeitsanliegen wenigstens, der Ergänzung durch eine „ M a t e r i e " der Erkenntnis. D a ß ein Mensch gleichzeitig in zwei verschiedenen Städten sei, ergibt sich als unmöglich aus der besonderen Inhaltlichkeit räumlichen Daseins, nicht aber aus rein begrifflichen Widersprüchen. Inhaltlichere Kriterien der Erkenntnis müssen neben den obersten formalen Grundsätzen ausgezeichnet werden. — Der Satz vom Grunde aber in seiner traditionellen Fassung ist ein Prinzip, das eine ganze Anzahl verschiedener und teilweis durchaus inhaltlicher und auf bestimmte Seinsgebiete zu beschränkender Gesetzlichkeiten in der formalen Allgemeinheit eines logisch-ontologischen Gesetzes versteht. E s gilt zu unterscheiden zwischen Seinsgrund und Erkenntnisgrund, zwischen physisch-kausalen und moralisch-idealen Gründen. Geschieht das, so zeigt sich offen die u n a u f h e b b a r e Kollision, in die jeder w a h r h a f t e Begriff der Willensfreiheit mit dem Grandsatz der K a u s a l i t ä t oder des determinierenden Realgrundes gerät. D a ß die Kollision nicht einfach durch Bestreitung der Willensfreiheit aufgehoben werden darf, ergibt sich f ü r C r u s i u s vor allem daraus, d a ß die letztere wesenhaft und u n a u f h e b l i c h zusammenhängt mit einem „Gesetz der Verbind- 20 lichkeit", mit dem moralischen Sollen. Hier steht aber Gesetz gegen Gesetz. Die Lösung des K o n f l i k t s kann n u r durch eine grundsätzliche „ R e s t r i k t i o n " des Kausalprinzips au& die Begebenheiten der äußeren N a t u r und des bloßen Vorstellungslebens gefunden werden; der Willenskern im geistigen Wesen entzieht sich der Determination von außen. Die f u n d a m e n t a l e geistige Tatsache der Freiheit l ä u f t unseren Erkenntnisforderungen, die eben überall zur eigenen Befriedigung Verkettungen nach eindeutig bestimmenden Gründen aufdecken wollen, zuwider. Aber nichts berechtigt uns d a r u m , das f ü r uns (relativ) Unbegreifliche d a r u m auch f ü r a n sich unmöglich zu erklären -— zumal es uns durch eine andere Gesetzlichkeit als ein Reales garantiert ist. In der Metaphysik ist j a die Frage nicht nach der Einrichtung und bloß-logischen Überein- 30 Stimmung unserer Begriffe, sondern nach dem B e s t a n d der Sachen selbst! — Ganz allgemein gilt aber, d a ß die Wahrheitskriterien nicht anf die logisch-rationalen Prinzipien allein zu reduzieren sind, sondern einen Komplex v o n relativ selbständigen Instanzen darstellen, deren Gewicht gegeneinander jeweils abgewogen werden m u ß . Was den Rationalismus der Leibniz-Wolffischen Schule zum „ F a t a l i s m u s " treibt, das ist die einseitige Überspannung und unberechtigte Verallgemeinerung der ratio determinaru. C r u s i u s stellt sich also i n grundsätzlichen Gegensatz zu den deterministischen Tendenzen des Rationalismus, u n d zwar ebensosehr nach deren religiös-teleologischen, wie nach der naturalistisch-kausalen Motiviertheit hin. Die Lehre von der prästabilierten H a r m o n i e m u ß fallen, und ebenso m u ß der Ausdehnung des kausalmechanischen Er- 40 haltungsprinzips auf die Welt des Geistigen entgegengetreten werden. Auch die Optimismus-These von der „ b e s t e n W e l t " iBt u n h a l t b a r : sie b e r u h t auf einer intellektualistischen u n d rationalistischen Einordnung u n d Auflösung des göttlichen Willens in die Determinationen des Verstandes. In Wirklichkeit ist der K e r n und die herrschende K r a f t in j e d e m geistigen Leben der Wille. Die wahre Pneumatologie m u ß vor allem Thelematologie sein. So setzt mit C r u s i u s ein neues Wiederanschwellen des metaphysischen Voluntarismus ein, das sich d a n n später fortsetzt i n K a n t , F i c h t e , Schelling, Schopenhauer. — Schriften: Entwurf der notwend. V e r n u n f t w a h r h e i t e n usw. (Metaphysik) 1745; Opuscula philos.-theologica 1750; d. Schrift ü b . d. Satz v. Grunde Abs. von Krause, iO Lpz. 1744. — Darstellungen: A. S e i t z , Die Willensfreiheit i. d. Philos. d. Cr., Diss. Wzbg. 1899; M. W u n d t , K a n t als Metaphysiker, 1924, S. 5 2 — 8 1 ; H. H e i m s o e t h , Metaph. u . K r i t i k bei Cr., ein Beitrag z. ontolog. Vorgeschichte d. K r i t . d. r. Vern u n f t im 18. J a h r h . , 1926 (jetzt Halle, Niemeyer). j

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KANT. Das für die weitere Geschichte der neuzeitlichen Metaphysik schlechthin entscheidende Ereignis innerhalb der Philosophie des 18. Jahrhunderts ist also die große Schwenkung geworden, welche die Metaphysik i m Denken v o n I. Kant erfahren hat. Da diese Wendung bei Kant selbst sich ganz allmählich und in einer Reihe sukzessiver Ansätze vollzogen hat, die letzte systematische Ausgestaltung des Ergebnisses aber nicht mehr zustandegekommen ist, wird unsere Darstellung Kants Metaphysik in den Hauptphasen ihrer historischen Entwicklung wiedergeben. 10

Nach einer sehr verbreiteten Auffassung von K a n t (verbreitet besonders in den verschiedenen Schulen des „Neukantianismus") k a n n es überhaupt als abwegig erscheinen, K a n t in der Geschichte der Metaphygik eine Stelle einzuräumen. Nach dieser Auffassung ist nur der „vorkritische" K a n t (bis 1770 oder besser 1781) Metaphysiker gewesen; der Sinn der „kritischen Philosophie" aber soll gerade darin bestehen, die Unmöglichkeit aller Metaphysik aufgewiesen u n d die gesamte Philosophie auf den Boden der Erkenntniskritik und der „transzendentalen" Analyse der gegenständlichen Bewußtseinsfunktionen reduziert zu haben. Metaphysik, als philosophische Wissenschaft vom Sein, sei seit K a n t eine erledigte Sache; n u r die positiven Wissenschaften h ä t t e n es mit den Dingen und der Wirklichkeit zu t u n , Philosophie dagegen könne n u r auf die in diesen Wissenschaften

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arbeitenden Erkenntnisformen reflektieren. K a n t s reife Philosophie sei reine Wissenschaftstheorie u n d reflektive Analyse des theoretischen, ethischen und ästhetischen Bewußtseins; die metaphysischen Gedanken und Überzeugungen des jüngeren K a n t seien d a m i t f ü r ihn selbst hinfällig und bedeutungslos geworden. Höchstens gesteht m a n d a n n noch zu, d a ß K a n t von einer gewissen „ K r y p t o m e t a p h y s i k " sich nicht habe losmachen können. „Dogmatische" Momente seien m i t t e n in den erkenntniskritischen Gedankengängen stehengeblieben (womöglich rechnet m a n dahin, in „idealistischer" Ausdeutung und „Konsequent"-Machung der Kantischen Erkenntnislehre, den zentralen Begriff des Dings an sich) u n d unbemerkt weiter mitgeschleppt worden. Andererseits habe K a n t , der nach seiner eigenen früheren Äußerung das „Schicksal" h a t t e , „ i n die Metaphysik verliebt zu sein", gewisse „ P r i v a t m e i n u n g e n " über das Wesen der Welt, über den Weltgrund u n d das Sein und Schicksal der Seele immer in seinem Herzen beh a l t e n ; doch stünden diese Gedanken nicht im Zusammenhang mit seiner eigentlichen wissenschaftlichen u n d systematischen Philosophie. Das Interesse f ü r dieselben könne n u r ein biographisches, nicht ein eigentlich philosophie-historisches oder gar sachlichphilosophisches sein. Diese Auffassung halten wir f ü r grundverkehrt. Zwei große Tatbestände stellen sich ihr entgegen.— E i n m a l : K a n t s Wendung gegen den metaphysischen „Dogmatismus" sowie seine „kritische" „Allzermalmer"-Tätigkeit gilt nicht der Vernichtung jeglicher Metaphysik, sondern n u r der Metaphysik aus reiner (theoretischer) Vernunft, der rationalistisehen Schulmetaphysik seiner Zeit. E r selbst forderte und plante den Neuaufbau der Metaphysik als „ p r a k t i s c h - d o g m a t i s c h e r M e t a p h y s i k " (dogmatisch im Sinne des Lehraufbaues, ohne tadelnden Beigeschmack!) und er sah in der durch ihn selbst heraufgeführten Epoche dieser Neubegründung der Metaphysik auf dem Boden u n d unter dem P r i m a t der praktischen Vernunft das historische Endstadium und die bleibende Gestalt dieser Wissenschaft, nach Erledigung ihrer bisherigen Irrgänge (s. dazu besonders K a n t s Preisschrift über „die wirklichen Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz' und Wolfis Zeiten , . .", hrsg. v . R i n k , 1804). Zur vollen Ausführung ist diese Metaphysik bei K a n t allerdings nicht mehr gekommen; die allgemeinsten Grundlegungen sind in der Postulatenlehre der K r i t i k der praktischen Vernunft enthalten; immer neue Ansätze zur weiteren,

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vielfach vertieften Ausgestaltung stecken im (bis jetzt immer noch ungedruckten) Opus postumum; der zunehmende Kräfteverfall des alten K a n t h a t die wirkliche Durchführung des immer wieder zugunsten anderer Arbeiten und Vorarbeiten zurückgeschobenen Werkes verhindert. Was aber von dieser Metaphysik des späteren K a n t f ü r uns sichtbar oder aus Andeutungen erschließbar dasteht, zeigt überall den intimsten Zusammenhang mit der Metaphysik des „vorkritischen" K a n t , auch in den P u n k t e n , wo sich K a n t s weltanschauliche und metaphysische Position verschoben h a t . Dieser tatsächlichen (wenn auch nicht in vollendetem Werk erfüllten) Grundintention K a n t s entspricht durchaus seine historische Wirkung; eine neue gewaltige metaphysische Bewegung nimmt unmittelbar von ihm und in ständiger Berufung der führenden Denker auf ihn als den eTSten Schöpfer des neuen Weltgedankens ihren Ausgang. (Daß dabei Begriff und Anspruch der Metaphysik sich wiederum verändert, die inhaltlichen Positionen sich von K a n t weit entfernen und K a n t s „kritische" Zurückhaltung gegenüber vielen von ihm als grundsätzlich unlösbar angesehenen metaphysischen Fragen verlassen wird, ist eine Sache f ü r sich.) Zweitens: Auch für die Grundposition der (propädeutisch-vorbereitenden) kritischen Systematik K a n t s , f ü r das System der Vemunftkritiken selber sind metaphysische Gedankengänge, die tief zusammenhängen m i t den metaphysischen Diskussionen des 17. und 18. Jahrhunderts, von entscheidender Bedeutung; wenn auch in der vollendeten Gestalt der Lehren diese innersten Motive nicht nach ihrem ursprünglichen Gewicht zum Ausdruck kommen. Nicht nur der eben dadurch von der erkenntniskritischen Betrachtung aus so problematisch gewordene Begriff des Dings an sich hat seine vielfachen ontologischen Hintergründe, sondern auch die zentrale Lehre K a n t e von der Idealität des Raumes u n d der Zeit ist in ihrem Entstehen und in ihrer Bedeutung f ü r seine ganze Philosophie nur zu verstehen, wenn man den metaphysischen Schwierigkeiten nachgeht, die K a n t — in Fortspinnung vieler Gedankengänge aus der vorangehenden Metaphysikgeschichte — mit ihrem Sein verbunden sieht (vgl. dazu des Verf. Aufsatz: Metaphysische Motive in der Ausbildung des kritischen Idealismus. Festheft der Kantstudien, 1924, S. 121—159). K a n t ist also, nach unserer Auffassung, ein Metaphysiker gewesen und seine Philosophie nimmt eine wichtige Stelle ein nicht nur in der Geschichte der Erkenntnistheorie oder der Ethik, sondern auch in der der Metaphysik. D a m i t sollen aber keineswegs die tiefgreifenden Unterschiede nivelliert werden, welche die Kantische Form der philosophischen Lehre und Besinnung von der anderer großer Denker vor und nach ihm unterscheiden. Es soll durchaus nicht bestritten werden, daß das eigentliche Schwergewicht des Kantischen Interesses und der Kantischen Produktivität in der Zeit des kritischen Systems auf andere philosophische Aufgaben (erkenntnistheoretische usw.) sich verlagert h a t , und es soll auch denen nicht unbedingt entgegengetreten werden, die auf diesen Gebieten K a n t s eigentliche Originalität und überragende Denkerbedeutung suchen. Der M e t a p h y s i k e r K a n t ist nicht der g a n z e K a n t — und das gilt von ihm in erheblich anderem Sinne als es von D e s c a r t e s oder von L e i b n i z gesagt werden könnte! Auch würde K a n t s Metaphysik allein nicht die heutige Größe seines R u h m s rechtfertigen können: eine geniale, die Gesamtheit der wahrgenommenen Seinsprobleme in einheitlichem Begriffssystem zusammenschauende Urkonzeption vom Stile L e i b n i z e n s oder H e g e l s war ihm nicht gegeben. Er war und blieb in seiner metaphysischen Weltansicht nach wichtigen Hauptlinien abhängig von Traditionen seines J a h r h u n d e r t s . Aber wenn K a n t als Systematiker der Metaphysik nicht in den höchsten R a n g zu stellen ist, so muß doch andererseits der Problematiker der Metaphysik in ihm nach Gebühr gewürdigt werden. Seine Behandlung der Freiheitsfrage z. B. ist vorbildliche klassische Forschungsarbeit an einem der schwersten metaphysischen Probleme, die dem Menschen aufgegeben sind; und ähnlich liegt auch anderen Fragen gegenüber das eigentliche Verdienst K a n t B in der Aufrollung der Problematik und Aporetik, nicht in der „Lösung" im Rahmen eines einheitlich entworfenen Systems (vgl. N. H a r t m a n n , Diesseits von Idealismus und

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Realismus, Festh. d. K a n t - S t . 1924, S. 160ff.). — So gehört es denn auch zu der besonderen Bedeutung gerade der Kantischen Philosophie, d a ß in ihr (in gewissem Sinne erstmalig) vom Boden des neuen an der Naturwissenschaft orientierten Erkenntnis- und Wissenschaftsbegriffs aus die Frage nach der M ö g l i c h k e i t der M e t a p h y s i k überhaupt und nach der Methode und dem Gewißheitsanspruch ihres Erkennens gestellt worden ist, — eine Frage, die von d a zu einer unausweichlichen Grundfrage der wissenschaft9theoretitischen und metaphysischen Besinnung geworden, auch gegenwärtig wieder in ein neues Stadium eingetreten ist. Zur Erforschung der Metaphysik K a n t s , die heute noch — trotz der gewaltigen Arbeit, die durch viele Jahrzehnte an die Kantforschung gewendet worden ist — in ihren Anfängen steht, sind neben und vor den bekannten Hauptwerken die in den früheren Kantdarstellungen meist ganz stiefmütterlich behandelten „ v o r k r i t i s c h e n " S c h r i f t e n sowie die (wegen der Datierungsschwierigkeiten und mancher Unsicherheiten der Überlieferung mit Vorsicht zu gebrauchenden, aber inhaltlich durchweg sehr aufschlußreichen) Nachschriften a u s K a n t s „ V o r l e s u n g e n ü b e r M e t a p h y s i k " , sowie d i e , , R e f l e x i o n e n " K a n t s , eingetragen in B a u m g a r t e n s Handbuch der Metaphysik, das er seinen Vorlesungen zugrunde legte, heranzuziehen. (B. E r d m a n n , Reflexionen Kants, I I . Bd., Lpz. 1884. — Zu der alten Zusammensetzung der Kantischen Metaphysik-Vorlesungen aus Schülernachschriften von P ö l i t z , E r f u r t 1821, Neudruck Roßwein 1924 bei I . H . Pflugbeil, und dem ausführlichen Bericht von M. H e i n z e , Lpz. 1894, ist neuerdings die außerordentlich wertvolle Herausgabe eines neu aufgefundenen offenbar sehr gewissenh a f t nachgeschriebenen Kollegheftes aus dem Beginn der 90. J a h r e durch A. K o w a l e w s k i getreten. München u . Lpz. 1924 bei Rösl.) Ferner müssen die bisher noch allzu wenig beachteten Fragmente d e s O p u s p o s t u m u m , deren Zusammenhänge mit den vorkritischen Schriften und den Metaphysikvorlesungen überall greifbar sind, ganz neu durchforscht werden. (Material dazu ist, bis die geplante Herausgabe des gesamten Kantischen Alterswerkes Tatsache geworden ist, zu entnehmen aus der vorzüglichen Darstellung von E . A d i c k e s , K a n t s Op. post. Bln. 1920, bes. S. 592—847.) — Von diesen Fundamentalquellen f ü r K a n t s metaphysisches Denken aus, die eine große Kontinuität der Überlegungen und teilweise auch der weltanschaulichen und metaphysischen Haltung des Philosophen in seiner ganzen Entwicklung zeigen, sind dann die übrigen Werke auf ihre metaphysischen Gehalte, Hintergründe und Andeutungen hin zu prüfen. Außer den drei Kritiken müssen noch besonders die späteren Aufsätze der Religionsphilosophie und Geschichtsphilosophie, wie überhaupt die Schriften der Neunzigerjahre herangezogen werden.

A. DIE METAPHYSIK DES JUNGEN KANT (DAS SYSTEM DER 50 JAHRE). In den naturphilosophischen und metaphysischen Schriften seiner Frühzeit hat K a n t ein in sich geschlossenes Weltbild zum Ausdruck gebracht, das in wichtigen Zügen für sein ganzes weiteres Denken von Bedeutung geblieben ist, und aus dem andererseits die Spannungen herausgewachsen sind, die ihn in immer neuen Ansätzen zur Revision seiner Ausgangspositionen gedrängt haben. Das Material zu diesem Weltbild wächst dem jungen Denker aus zwei in manchen Punkten heterogenen Cedankensystemen zu: aus der Newtonischen Naturwissenschaft und Kosmologie einerseits, aus der Leibniz-Wolffischen Schulsystematik andererseits. Beide zur Einheit zu verschmelzen, darin sieht Kant seine Aufgabe als Metaphysiker. — Von Newton her (und aus dem allgemeineren Zusammenhang der neuzeitlichen Astronomie und Kosmologie)

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s t a m m t die G r u n d ü b e r z e u g u n g K a n t s v o n der a k t u a l e n U n e n d l i c h k e i t der W e l t im unendlichen R a u m . D e r R a u m ist der „ u n e n d l i c h e U m f a n g der göttlichen Allgegenwart," die W e l t in i h m das „ F e l d d e r O f f e n b a r u n g göttlicher E i g e n s c h a f t e n " ; die w e s e n h a f t unendliche K r a f t des Urwesens aber k a n n j e n e n U m f a n g seiner G e g e n w a r t n i c h t gleichsam u n a u s g e füllt u n d n u r von endlich-eingeschränktem W i r k u n g s f e l d e b e s e t z t lassen, sondern ist ewiger U r s p r u n g einer „ w a h r e n U n e r m e ß l i c h k e i t v o n N a t u r e n u n d W e l t e n " , einer a k t u a l e n , , U n e n d l i c h k e i t von S u b s t a n z e n u n d M a t e r i e " , — die sich a u c h (qualitativ) in unendlich vielen G a t t u n g e n der G r u n d stoffe gliedern. — Mit ganz besonderem N a c h d r u c k ü b e r t r ä g t der j u n g e K a n t seine m i t h o h e m P a t h o s v o r g e t r a g e n e i n f i m t i s t i s c h e U b e r z e u g u n g a u c h auf die Z e i t d i m e n s i o n des Wirklichen. Wie der R a u m , so ist a u c h die Zeit das „unendliche Feld der A l l m a c h t " ; die zeitliche Wirklichkeit des unendlichen W e r d e n s ist gleichsam der s e m p i t e r n e O f f e n b a r u n g s u m f a n g der göttlichen Ewigkeit. D e r Begriff a k t u a l e r U n e n d l i c h k e i t selbst (als „Menge ohne Zahl u n d G r e n z e n " ) scheint K a n t sogar p r i m ä r (und f ü r die Gegner überzeugender) gegeben d u r c h die u n v e r m e i d l i c h e I d e e der „ k ü n f t i g e n Folge der E w i g k e i t " , als einer „ w a h r e n U n e n d l i c h k e i t v o n Mannigfaltigkeiten u n d V e r ä n d e r u n g e n " , — welche unendliche Reihe o f f e n b a r „ a u f einmal schon j e t z t d e m göttlichen V e r s t ä n d e gänzlich g e g e n w ä r t i g " sei. Die Welt ist w e s e n h a f t unendliches W e r d e n in unendlicher Zeitreihe; des n ä h e r e n : unendliche E n t w i c k l u n g , sukzessive Vollendung der S c h ö p f u n g . „Die Schöpfung ist nicht das Werk von einem Augenblicke. Nachdem sie mit d e i Hervorbringung einer Unendlichkeit von Substanzen und Materie den Anfang gemacht hat, so ist sie mit zunehmenden Graden der Fruchtbarkeit die ganze Folge der Ewigkeit hindurch wirksam." „Die Unendlichkeit der kflnftigen Zeitfolge, womit die Ewigkeit unerschöpflich ist, wird alle R ä u m e der Gegenwart Gottes ganz u n d gar beleben und in Regelmäßigkeit.. . versetzen." Die offenbarende Entfaltung der unendlichen K r a f t des Absoluten in der Welt ist eine stetig fortschreitende „Ausbildung der N a t u r " von einem Anfangspunkte aus; die aus dem Urzustand allmählich sich herausbildende Ordnung und systematische Verfassung wird „ n a c h und nach in alle fernere Weiten ausgebreitet, u m den unendlichen R a u m in dem Fortgange der Ewigkeit mit Welten u n d Ordnungen zu erfüllen".

Der aus d e m 18. J a h r h u n d e r t (von Leibniz her) h e r v o r w a c h s e n d e F o r t s c h r i t t s o p t i m i s m u s u n d die genetische, entwicklungsgeschichtliche B e t r a c h t u n g der Wirklichkeit ü b e r h a u p t — beides d a n n K e r n m o t i v e der s p ä t e r e n M e t a p h y s i k des d e u t s c h e n Idealismus, insbesondere seiner M e t a p h y s i k der Geschichte — bilden beim j u n g e n K a n t sich an der astronomischen u n d kosmologischen W e l t b e t r a c h t u n g u n d i m Z u s a m m e n h a n g m i t der von N e w t o n her b e s t i m m t e n Ü b e r z e u g u n g v o n der U n e n d lichkeit des R a u m e s u n d der Zeit h e r a u f . Die W e l t s t r u k t u r wird dabei von K a n t (wie in der Schulphilosophie der Zeit ü b e r h a u p t ) s t r e n g d u a listisch u n d pluralistisch a u f g e f a ß t : zwei grundverschiedene A r t e n selbständiger d y n a m i s c h e r E i n z e l s u b s t a n z e n — die einen in Lebens- u n d

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Vorstellungskräften sich auswirkend, die anderen in Ausdehnung»- u n d Bewegungsfunktionen — bilden in ihrem Miteinander das Ganze der Welt als eines unendlichen compositum substantiale oder totum absolutum substantiarum. Der Pluralismus ist vom jungen K a n t ausführlich dargestellt worden nur nach der Seite des Materiellen (Monadologia p h y s i c a , als Lehre von den unteilbaren dynamischsubstantiellen „Elementen der Materie"), wie er denn Oberhaupt in seinen metaphysischen Interessen und Problemstellungen in dieser FrOhzeit immer ausging von naturphilosophischen Fragen. Aber es wird doch bei Gelegenheit (besonders später) deutlich sichtbar, daß das entscheidende Motiv und die letzte Sicherungsinstanz für seinen Pluralismus ihm in der Voraussetzung der Selbstheit, Selbständigkeit und Selbsttätigkeit der Iche, der seelisch-geistigen Substanzen gelegen ist, nicht anders als bei L e i b n i z . Als der eigentliche Gegenpol seiner Seinsanschauung erscheint ihm der Spinozismus, der die endlichen Einzelwesen in einer Weltsubstanz auflösen und diese dann mit der Einheit der göttlichen Substanz in Eins verschmelzen will. (Diese antispinozistische Tendenz bleibt dauernd bezeichnend und wesentlich für K a n t s metaphysische Daseinsstellung; noch eine Schrift aus den Neunzigerjahren polemisiert mit Nachdruck gegen dieOntologie des alle menschlichen Iche zu bloßen modi der göttlichen cogüatio herabdrückenden Spinozismus: gegen seine Rede „von Gedanken, die doch selbst denken, und also von einem accidens, das doch zugleich für sich als Subjekt existiert".)

Diese Substanzen stehen n u n alle miteinander in dynamischem Realzusammenhange. E r s t der reale nexus, das commercium wirklicher Wechselwirkung m a c h t aus einem Aggregat selbständiger Substanzen ein Weltganzes. Auch zwischen materiellen u n d vorstellenden Substanzen ist unmittelbare Wechselwirkung, ein wechselseitiger inßuxus realis a n z u n e h m e n ; alle Veränderung u n d Entwicklung im Seelischen setzt äußere Einwirkungen u n d Anregungen voraus. — Der Boden der prästabilierten Harmonie ist (wie teilweise schon bei Wolff, ganz d a n n in einer Gegenströmung, deren Abschluß durch K a n t s Lehrer Knutzen gegeben worden war, u n d auch bei Crusius) verlassen; ebenso wie Leibnizens zum Spiritualismus neigender Einheitsbegriff aller Substanzen als vorstellender Monaden. Dennoch bewahrt K a n t den ontologisch-idealistischen Sinn des Harmoniegedankens. Der dynamische Realismus, wirkliche Wirkungsgemeinschaft zwischen Substanzen, also zwischen Dingen „die sich durch ihre Subsistenz isolieren" ist n u r möglich auf d e m Grunde einer ursprünglichen Sinnzuordnung, eines teleologischen aufeinander Abgestimmtseins der Einzelwesen. Das ist es, was der bloße Naturalismus der Wechselwirkung, etwa im atomistischen Materialismus, übersieht. Der wechselseitige I n f l u x u s ist kein „ b l i n d e r " u n d durch das bloße Dasein der endlichen Einzeldinge schon gegebener; sondern er wird ermöglicht durch das urbildliche Zusammenstehen der Dinge im ordnenden Verstände Gottes als dem gemeinsamen Einheitsgrunde ihres Soseins u n d Daseins. Der synthetische Seinszusammenhang der Dinge (die ontologische „ F o r m " der Welt gegenüber der „Materie" der einzelnen Substanzen) b e r u h t auf einem ursprünglichen u n d ideellen Wesenszus a m m e n h a n g im intellectus infinitus. Die Idee oder der urbildliche Be-

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griff Gottes von der Totalität der Dinge als einem Sinn- und Zweckzusammenhang ist konstitutive Seinsvoraussetzung (ontologisches a priori) aller Wirklichkeiten und Wirkungen in Natur und Geisteswelt. In dieselbe Richtung eines teleologischen Hintergrundes und Ursprungs alles Wirklichen, auch schon der bloßen materiellen und kausalen Welt, f ü h r t K a n t s energische Durchführung der mechanischen Naturansicht. Die Forderung seiner astronomiBchnaturphilosophischen Erstlingsschrift galt einer rein mechanistischen Kosmogonie, wie sie N e w t o n selbst nicht gewagt hatte. Aus der Gegebenheit der Urmaterie und ihrer dynamischen Grundeigenschaften allein soll sich die allmähliche Herausbildung der gegenwärtigen „systematischen Verfassung" unseres Weltgebäudes erklären lassen, ohne jede Hinzunahme teleologischer Eingriffe und Nachbesserungen durch den göttlichen Ordnungswillen oder irgendeinen „Weltgeist" sonst. Gerade der durchgeführte Mechanismus aber, so ist nun K a n t s metaphysische Kernthese, f ü h r t erst recht zur Einsicht in den teleologischen Einheitsursprung aller Dinge. Unsinnig ist es, m i t den Naturalisten aus Unvernunft Vernunft (Ordnung, systematische Verfassung) herleiten zu wollen. J e reiner die Weltordnung aus den mechanischen Naturwirkungen von selbst hervorging und u n t e r der Herrschaft „einer einzigen allgemeinen Regel" alle die Größe und Pracht der kosmischen Systeme sich entwickelt — u m so wunderbarer und vollkommener muß die teleologische Urangelegtheit der verschiedenen Weltstoffe, der Grundwesen und Gnindkräfte der Materie sein. Der Mechanismus der Natur wird nicht durch teleologische Agentien durchbrochen oder reguliert, sondern er ist in seiner Ganzheit von einer Wesensteleologie, von einem ideellen Weltplane u m f a ß t , getragen. Alle autonome Entwicklung des Weltgeschehens ist allmähliche Entfaltung der im Grundwesen der Stoffe und K r ä f t e ursprünglich angelegten und aufeinander abgestimmten Ordnungsmöglichkeiten. — So weist die Wirklichkeitsbetrachtung rein auf der Basis der Naturordnungen schon zurück auf ein übersinnlich-geistiges Urprinzip, auf einen einheitlichen zwecksetzenden Weltursprung. Der durchgeführte Mechanismus bringt erst die w a h r e Physikotheologie („nach verbesserter Methode") herauf, die philosophische Lehre vom W e l t B c h ö p f e r , der die Materie so geschaffen hat, daß die „sich selber überlassene N a t u r " zu ihren großen Ordnungsformen sich selbsttätig hinauf entwickelt — entgegen den Halbheiten einer Nachbesserungsteleologie, die nur bis zum Gedanken eines W e l t b a u m e i s t e r s reicht, der seine Ordnungsideen einer gleichsam widerwilligen und ideenfremden Materie aufzuprägen hat. — Grundfalsch wäre es nur, die universale Weltteleologie (nach der Art W o l f f s ) in eine Angelegtheit aller Dinge auf den Nutzen des Menschen zu verkleinern; der „Zweck" in allen Seinsgestalten kann nur die Harmonie des Ganzen, in der Gesamtheit seiner Stufen und Wesen, sein.

Am Ende gipfelt diese teleologisch-idealistische Weltlehre in einem universalen metaphysischen Optimismus. Die Lehre von der „besten aller möglichen Welten" wird v o m jungen Kant noch ausdrücklich gegen die Einwände von Crusius' Seite aufrechterhalten. Alle Mängel der Wirklichkeit sind bloß relativ, bedingt dadurch, daß die Vollkommenheit im Endlichen auf die verschiedenen Einzelwesen aufgeteilt, die Perfektionen des Einzelnen jeweils zugunsten der Mannigfaltigkeit des Ganzen limitiert sind. I m Stufensystem und in der individuellen Mannigfaltigkeit der endlichen Wesen sind alle Mängel (im Einzelnen) i m Grunde nur Zeichen des Überflusses (im Ganzen). Auch das Vergehen ist nur ein Teilmoment in der unbeschränkten Fruchtbarkeit der zeugenden Natur. Selbst die Wertnegativität des Bösen soll sich im Rahmen des vollkommenen Ganzen sinnvoll aufheben. „Die Natur, unerachtet sie

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eine wesentliche B e s t i m m u n g zur Vollkommenheit u n d O r d n u n g h a t , f a ß t in d e m U m f a n g e ihrer Mannigfaltigkeit alle möglichen Abwechselungen sogar bis a u f die Mängel u n d Abweichungen in s i c h " ; u n d diese „ u n b e s c h r ä n k t e F r u c h t b a r k e i t " h a t n e b e n allen a n d e r e n Übeln u n d Unvollk o m m e n h e i t e n „ a u c h die T u g e n d e n u n d L a s t e r h e r v o r g e b r a c h t " ! Tatsachlich neigt der junge K a n t denn auch dazu, die eigentliche Quelle des L a s t e n bloß in der relativen Trägheit der Denkungskraft zu suchen, welche die sinnlichen Reizungen überwiegen l ä ß t ; die Denkungskraft aber wird, naturalistisch genug, von der relativen „Feinigkeit des Stoffes" im jeweiligen leibseelischen Wesen abhängig gemacht. So erscheint der moralische Gegensatz aufgehoben in der ontologischen Stufenschichtung der Wesen; der sittlich gute (durch Vernunft geleitete) Mensch scheint grundsätzlich nicht anders über den schlechten (durch Sinnlichkeit bestimmten) gestellt, wie das Vernunftwesen Mensch als solches über das bloß-sinnliche Tier.

Die Daseinsrolle des Menschen in der W e l t h a r m o n i e aber ist n a c h der A u f f a s s u n g des j u n g e n K a n t b e s t i m m t d u r c h sein e r k e n n e n d e s Vermögen. Als d a s Wesen, welches die Fülle der Dinge u n d O r d n u n g e n , die U n e r m e ß l i c h k e i t des S t e r n e n h i m m e l s e t w a , a n s c h a u e n d u n d rational-erk e n n e n d in sich widerspiegelt, ist er geradezu als „ Z w e c k der N a t u r " anzusehen. D a r i n liegt die E r h a b e n h e i t des unsterblichen Geistes: d a ß er, alle V e r ä n d e r u n g e n der W e l t ü b e r d a u e r n d , in der ganzen Unendlichkeit seiner k ü n f t i g e n E x i s t e n z neue u n d i m m e r n e u e W u n d e r der S c h ö p f u n g e r k e n n e n u n d die v e r b o r g e n e n Anlagen der E r k e n n t n i s in sich selbst völlig entwickeln k a n n . Hauptschriften dieser Zeit: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels 1755; Nova dilucidatio 1755; Monadologie physica 1756; Betrachtungen über den Optimismus 1759.

B. D I E N E U E N SEINSPROBLEME IN DEN S C H R I F T E N D E R 60ER J A H R E . I m folgenden J a h r z e h n t n u n wachsen K a n t allmählich eine R e i h e f u n d a m e n t a l e r Schwierigkeiten aus seinem ersten Seinssystem h e r v o r ; zugleich e r f ä h r t seine g e s a m t e W e l t a n s c h a u u n g (z. T . u n t e r d e m Einf l u ß Rousseaus) eine entscheidende Akzentverlagerung v o m NatürlichKosmologischen ins Geistig-Moralische. — K a n t wird z u n ä c h s t irre a n d e r logisch-rationalen N o t w e n d i g k e i t u n d D e d u z i e r b a r k e i t eines solchen Seinssystems. Die ontologische H a u p t s c h r i f t der 50er J a h r e wollte noch g a n z im W o l f f i s c h e n Sinne die m e t a p h y s i s c h e n E n t s c h e i d u n g e n allein v o n den f o r m a l e n logischen G r u n d s ä t z e n der Ontologie a b h ä n g i g m a c h e n u n d a u c h die n a t u r p h i l o s o p h i s c h e n Prinzipien v o n R a u m u n d Zeit aus i h n e n d e d u z i e r e n ; der S a t z v o m G r u n d e gilt hier (sogar n o c h g e g e n Crusius g e w a n d t ! ) als das schlechthin undurchbrechliche u n d zureichende Z u s a m m e n h a n g s - u n d Ordnungsprinzip, in das sich auch der Begriff menschlicher Willensfreiheit m u ß einfügen lassen. — J e t z t , in den S c h r i f t e n u m 1763/64, wird an verschiedenen P u n k t e n die logistische Ontologie d u r c h b r o c h e n . I n der K r i t i k des ontologischen Gottesbeweises

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ergibt sich das Moment der Existenz, in der Analyse des K a u s a l b e g r i f f s der synthetische Realübergang von Ursache zu Wirkung als metalogischer, nicht durch die Bindungen der logischen, nach Grund und Folge schließenden Ratio allein festlegbarer, materialer Seinsbestand. Die Schrift über die „negativen Größen" aber weist in allen Schichten des Seins, im physikalischen und psychologischen, j a schon im mathematisch-idealen Sein den B e s t a n d einer polaren Gegensätzlichkeit als Grundgesetz und -Spannung auf, die sich keineswegs auf die logische Gegensätzlichkeit des Widerspruchs reduzieren läßt. (Dieser Gedanke der „ R e a l r e p u g n a n z " , der trennenden Entgegensetzung als fundamentaler wirklichkeitsgestaltender Seinsmacht ist später ein Grundmotiv in der dialektischen Metaphysik des absoluten Idealismus geworden.) — Und später (1768) ist dann auch die inhaltliche Eigenart u n d logische Unableitbarkeit des Raumprinzips dem früheren Logismus und Deduktivismus entgegengetreten. Klar ist, wie damit nun die Berechtigung der konstruktiven Metaphysik „ a u s reiner Vernunft" fraglich werden mußte. Die Analogie zum Lehraufbau der Mathematik will nicht mehr einleuchten; die ontologische Zulänglichkeit der analytisch-formalen Kriterien kann nicht mehr zugegeben werden. Synthetische und mehr inhaltliche Seinsgesetzlichkeiten müßten uns zu obersten Grundsätzen unserer Erkenntnis gegeben sein, wenn wir demonstrativ und deduktiv das wahre Seinssystem sollten aufbauen können. E s zeigt Bich aber Oberhaupt, daß unsere Erkenntnis allenthalben mit „unauflöslichen Begriffen" und „unerweislichen Grundsätzen" rechnen muß, wenn sie es mit der Wirklichkeit zu tun hat. Als letzte „Grundkräfte" im Seienden stellen sich uns z. B. sowohl Willensfreiheit wie Naturkausalität dar; das innere Wie des Bewirkens ist unserer Einsicht offenbar in beiden Fällen wesenhaft unzugänglich. Grundwesen und Grundkräfte aller Dinge müssen wir in aller Reduktion und Konstruktion (z. B. auch in naturwissenschaftlich-mechanistischem Ableiten und Erklären) jederzeit in ihrem einfachen unauflöslichen Gegebensein voraussetzen.

Aus der bereits erwähnten Akzentverlagerung ins Geistige ergeben sich inhaltliche Erschütterungen des früheren Weltgedankens. Als letzter Anwendungsfall für den ontologischen Gedanken der Realrepugnanz tritt der Gegensatz von Gut und Böse auf. E r ist der metaphysisch wichtigste und für die künftige F a s s u n g des Weltbildes bedeutungsvollste unter den von K a n t aufgeführten Gegensätzen; in den späteren Vorlesungen ist er allein das entscheidende Anwendungsbeispiel jenes Seinsgesetzes. D a s Böse ist also nicht bloßes Merkmal der Endlichkeit, das Fehlen höherer und vollerer Bestimmungen; sondern es ist ein Positives; nicht Sinnlichkeit und „ L e i d e n " des Menschen, sondern ein Tun. I n der späteren (religionsphilosophischen) Lehre v o m „radikalen B ö s e n " hat sich dieser Gedanke noch einmal vertieft und v e r s t ä r k t ; der K a m p f des Guten mit dem Bösen ist ein letztes Grundgesetz unseres Daseins, für das keinerlei Erklärung möglich ist. Mit dieser aufkommenden Einsicht in die Irrationalität des Bösen geht eine Grundthese von K a n t s Frühmetaphysik in die B r ü c h e : der dogmatische, aus d e m Gottesprinzip durch rationale Deduktion gefolgerte Optimismus. — Der alte

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K a n t h a t d e n n a u c h seine f r ü h e r e n „ B e t r a c h t u n g e n ü b e r den Optimism u s " ganz v e r w o r f e n u n d an i h r e Stelle eine Schrift ü b e r das „Mißlingen aller V e r s u c h e in der T h e o d i z e e " (1791) gesetzt. D a s Miteinanderb e s t e h e n einer universalen Weltteleologie u n d der R e a l i t ä t u n d Positiv i t ä t des Bösen in der Wirklichkeit liegt ü b e r die Grenzen der erkennenden V e r n u n f t h i n a u s . Theodizee ist „ G l a u b e n s s a c h e " . — Mit der zweiten H ä l f t e der 60er J a h r e t r e t e n die F r a g e n n a c h dem W e s e n des Geistes u n d der geistigen W e l t , n a c h der Seele u n d i h r e m Weltschicksal, n a c h Freiheit u n d V o r h e r b e s t i m m u n g noch w e i t e r in den V o r d e r g r u n d v o n K a n t s Interessen. Der W e l t - S i n n des Menschen wird m e h r u n d m e h r in sein s i t t l i c h e s T u n v e r l e g t ; V e r n u n f t ist i h r e m tieferen W e s e n u n d i h r e r eigentlichen „ B e s t i m m u n g " n a c h p r a k t i s c h e V e r n u n f t . E s t a u c h t der G e d a n k e a u f , d a ß eine m e t a p h y s i s c h e E r k e n n t nis der l e t z t e n D i n g e (z. B. des Daseins Gottes) aus reiner theoretischer V e r n u n f t d e m Menschen n i c h t gegeben sein k ö n n e , weil n i c h t d ü r f e ; theoretische Beweissicherheit in diesen Dingen w ü r d e die Ursprünglichkeit u n d R e i n h e i t seiner sittlichen H a l t u n g v e r k ü m m e r n . Der Mensch ist n i c h t bloß ein spiegelndes, erkennendes Glied i m r a u m z e i t l i c h e n Kosm o s , sondern er r a g t n a c h seinem eigentlichen Wesen u n d seinen tieferen K r ä f t e n in eine g a n z a n d e r e O r d n u n g u n d „ W e l t " hinein, deren R e a l i t ä t v o n ihrer e t w a i g e n E r k e n n b a r k e i t f ü r uns ganz u n a b h ä n g i g g e d a c h t w e r d e n m u ß . — Geistige R e a l i t ä t e n aber k ö n n e n wir a u c h ihrer allgem e i n e n Möglichkeit n a c h n i c h t z u s a m m e n d e n k e n m i t gewissen G r u n d prinzipien u n s e r e r n a t ü r l i c h e n , sinnlich e r f a h r b a r e n W i r k l i c h k e i t ; so z. B . n i c h t m i t d e m R ä u m e . Die A r t wie ein Geist i m R ä u m e gegenw ä r t i g sein k a n n , ist n o c h nie gegeben worden. Wie K ö r p e r i m R ä u m e sind u n d w i r k e n , d a s ist uns d u r c h E r f a h r u n g u n d V e r n u n f t d u r c h a u s v e r s t ä n d l i c h ; a b e r „wie ist die Seele in der W e l t gegenwärtig, sowohl den materiellen N a t u r e n , als denen v o n ihrer A r t ? " Die alte F r a g e n a c h dem „ S i t z " der Seele i m Leibe, n a c h i h r e m „ O r t " im R ä u m l i c h - K ö r p e r l i c h e n b i r g t eine o f f e n b a r unlösliche Schwierigkeit in sich. D a r f m a n wirklich (wie zuletzt Crusius) d e m Seelisch-Innerlichen O r t , Bewegung u n d Bew e g u n g s w i r k u n g e n im R ä u m e z u s c h r e i b e n ? I n W a h r h e i t ist sich niem a n d seines b e s o n d e r e n Ortes in seinem K ö r p e r b e w u ß t , sondern n u r desjenigen, den er als Mensch in A n s e h u n g der W e l t u m h e r e i n n i m m t . Soll m a n die geistigen S u b s t a n z e n unterscheiden von den körperlichen als solche, die z w a r R a u m einnehmen, ohne ihn jedoch m i t U n d u r c h dringlichkeit zu erfüllen ? Soll m a n , im R ä u m l i c h e n selbst, unterscheiden zwischen einer wirklich „ l o k a l e n " u n d einer b l o ß „ v i r t u a l e n " Gegenwart ? Ganz f r a g w ü r d i g wird K a n t j e t z t a u c h der alte G e d a n k e von der Allg e g e n w a r t G o t t e s im unendlichen R ä u m e . K a n n dasselbe Wesen an verschiedenen O r t e n des R a u m e s zugleich sein, u n d m i t sich seihst in einem ä u ß e r e n V e r h ä l t n i s s t e h e n ? „ L o k a l e " Allgegenwart (Gegenwart „in allen O r t e n " ) i s t etwas in sich schlechthin Widersprechendes. T a t -

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sächlich treibt diese unmittelbare Ausbreitungsbeziehung der einfachen geistigen Ursubstanz auf den unendlichen realen R a u m zum Pantheismus! Die „Teile der W e l t " werden zu „Teilen der Gottheit". Wenn man den R a u m als absolute einige unendliche Realität, als ein Wesen an sich anerkennt, so wird der „Spinozismus" unvermeidlich und unwiderleglich. In Wahrheit aber können Undurchdringlichkeit, Ausdehnung u. dgl. nach K a n t nicht Eigenschaften von einem Wesen sein, das Verstand und Willen hat. Alle Metaphysiker der Zeit bleiben in diesen Schwierigkeiten stecken, Mendelssohn mit seiner eingeschränkteren Realität des Raumes nicht minder wie Crusius, der in ihm (wie zweitens in der Zeit) die Existenzbedingung überhaupt sah. Auch 6onst erheben sich für K a n t gerade v o m Raumprinzip her unüberwindliche Schwierigkeiten. Die ontologische Struktur des Raumkontinuums widerspricht derjenigen des Weltbegriffs als eines Aggregats selbständiger Substanzen. Der Raum und alles Räumliche ist ins Unendliche teilbar; hier kann es keine letzten Elemente geben, aus denen alles zusammengesetzt ist. Eine wirkliche Antinomie tut sich in unserem Weltdenken auf — von K a n t schon früh bemerkt und als Gegensatz von „Geometrie" und „Metaphysik" (Newton und Wolff) zum Ausgangspunkt von Einigungsversuchen gemacht. Jetzt zeigt sich ihm, daß diese Schwierigkeit nicht einfach dadurch lösbar ist, daß man den R a u m als (objektives) „ P h ä n o m e n " oder dynamische Auswirkung der Kraftmonaden in ihrer wechselseitigen Beziehung a u f f a ß t ; alle dynamische Wechselwirkung, die wir kennen und von der wir uns einen Begriff machen können, setzt vielmehr schon (mit Newton) das Sein des absoluten Raumes voraus. — Was aber soll man unter diesem „ S e i n " des leeren homogenen und unendlichen Raumes sich denken, das allen ontologischen Begriffen von Substanz und Akzidenz, von Wirklichkeit und Wirkungskraft sich schlechthin entzieht ? Und wie soll andererseits ein solches unsubstantielles und unwahrnehmbares Sein für uns erkennbar werden, und zwar, wie der Bestand der geometrischen Wissenschaft zeigt, ursprünglicher und unmittelbarer erkennbar als irgendetwas sonst ? A n d e r e „ A n t i n o m i e n " und A p o r i e n müssen schon d a m a l s sich m i t solchen B e t r a c h tungen K a n t s vereinigt haben, auch w e n n die S c h r i f t e n j e n e r J a h r e v o n i h n e n nicht ausd r ü c k l i c h reden. (Z. B . , w a s den R a u m noch a n l a n g t , der schon v o n C o l l i e r z u m A n l a ß seines idealistischen Spiritualismus genommene Thesengegensatz v o n E n d l i c h k e i t und Unendlichkeit des räumlichen W e l t g a n z e n . ) D e m R a u m stellt sich die Z e i t als ähnlich schwieriges Gebilde zur S e i t e ; m i t i h m gegeben schon durch N e w t o n s Z u s a m m e n o r d n u n g der beiden absoluten und unendlichen Prinzipien. D i e m e t a p h y s i s c h e F r a g e der zeitlichen E n d l i c h k e i t oder U n e n d l i c h k e i t der W e l t a parte ante (die alte S c h ö p f u n g s a p o r i e i m Streite m i t der Lehre v o n d e r „ E w i g k e i t " der W e l t ) und v o r allem d a n n die der V e r e i n b a r k e i t der Freiheit m i t zeitlicher D e t e r m i n a t i o n (sei es die teleologische der „ V o r s e h u n g " oder die kausale des Naturlaufes), d ü r f t e d a m a l s gleicherweise in d e n V o r d e r g r u n d gerückt sein. ( D i e undatierten R e f l e x i o n e n und Vorlesungen lassen d e n inhaltlichen G a n g v o n K a n t s Überlegungen i m m e r h i n erschließen.) A u c h hier ist d a s E r g e b n i s — klar ausgesprochen später in der K r i t . d. p r a k t . V e r n u n f t — dies: d a ß die g e w o h n t e A n e r k e n n u n g

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des Ansichseins der Zeit den „Spinozismus" (als „Fatalismus") notwendig nach sich ziehe. In der Zeit existierende Wesen können nicht selbsttätige Substanzen sein.

Raum und Zeit erscheinen so als unvereinbar mit dem Sein, wie wir es denken müssen von unserem Lebensboden der personalen Geistigkeit und sittlichen Existenz aus. Die höhere geistige Natur in uns, die wir als unser wahres eigentliches Selbst voraussetzen und denken, läßt sich nicht einfügen in den Rahmen des sinnlich-gegebenen Raumzeitzusammenhangs. Und unser sittlich-religiöses Bewußtsein treibt uns unabweislich auf den Gedanken einer übersinnlichen Gemeinschaft der vernünftigen Wesen, „die nicht auf den Bedingungen beruht, wodurch das Verhältnis der Körper eingeschränkt ist, und wo die Entfernung der Örter oder Zeitalter, welche in der sichtbaren Welt die große Kluft ausmacht, die alle Gemeinschaft aufhebt, verschwindet." Hauptschriften der Sechzigerjahre: Beweisgrund zu einer Demonstr. des Daseins Gottes 1763; Versuch d. Begr. d. negativ. Größen in d. Weltweisheit einzufahren 1763; Unters, über d. Deutlichkeit der Grundsätze d. natürl. Theologie u. Moral 1764; Träume eines Geistersehers 1766; Von dem ersten Grunde d. Untersch. d. Gegenden i. Räume 1768.

C. DIE WENDUNG VON 1769-70: DIE IDEALITÄT VON RAUM UND ZEIT; SINNLICHE UND INTELLIGIBLE WELT. Das Dunkel dieser metaphysischen Aporien wird für Kant im Jahre 1769 mit einemmal erhellt durch das „große Licht" eines neuen Seinsgedankens. Die erste geschlossene Darstellung desselben gibt die Inauguraldissertation: Uber die Form und die Prinzipien der sinnlichen und der intelligiblen Welt. Raum und Zeit sind hiernach nicht absolute Wesenheiten, seiende Undinge, ontologische Existenz- und Strukturbedingungen für alles Wirkliche, sondern nur Anschauungsformen des endlichen sinnlichen Menschengeistes. Alles raumzeitlich Gegebene ist, insofern es diesen Formen unterliegt, bloße Erscheinung; — Erscheinung nun im strengen subjektiven Sinn genommen: als bloßes Sein f ü r u n s , im Gegensatz zum Sein an sich und abgesehen von der Art, wie es von endlichen Subjekten aufgefaßt wird. Wenn es für alle Wesen und Substanzen gilt, daß sie ihre spezifische Art des Reagierens auf äußere Einwirkungen haben müssen, so ist speziell die Rezeptivität des m e n s c h l i c h e n Subjekts (nicht etwa notwendig die jedes endlichen Geistes überhaupt) charakterisiert dadurch, daß ihm das Einwirkende, das Sinnlich-Affizierende eben nur in jenen universalen Wesensformen gegenwärtig werden kann. Raum und Zeit, die obersten Prinzipien unserer Naturanschauung und Naturerkenntnis, sind von da gesehen die fundamentalen Zeichen unserer sinnlichen Eingeschränktheit. Der große Fehler der bisherigen Metaphysik (Kant denkt besonders an Crusius; auch an Newton) bestand darin, daß ihre Seinsbegriffe und -kriterien der „Ansteckung" durch diese Sinnlichkeitsbedingungen erlagen. Die Grundaufgabe der neuen Metaphysik muß es sein, von dieser

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A n s t e c k u n g sich frei zu h a l t e n , u n d das b l o ß s u b j e k t i v B e d i n g t e n i c h t zum M a ß s t a b des Seins ü b e r h a u p t zu m a c h e n . Gegen den ü b e r h a n d n e h m e n d e n N a t u r a l i s m u s m u ß die U r s p r ü n g l i c h k e i t des geistigen Seins wieder rein herausgestellt werden. I n d e r T a t v e r s c h w i n d e n alle j e n e U n z u t r ä g l i c h k e i t e n , die d u r c h das I n e i n a n d e r d e n k e n des endlichen wie des unendlichen Geistes m i t R a u m u n d Zeit e n t s t a n d e n w a r e n , sobald die letzteren n u r als F o r m e n menschlichen A u f f a s s e n s b e t r a c h t e t w e r d e n . Der R a u m ist d a n n n i c h t m e h r der U m f a n g der göttlichen Allgegenwart selbst, sondern n u r die s u b j e k t i v e F o r m , in der sich uns das Überallsein des göttlichen Einheits- u n d H a r m o n i e g r u n d e s sinnlich d a r s t e l l t , omnipraesentia phaenomenon. ( „ D a d u r c h , d a ß die Dinge alle da sind d u r c h E i n e n , m a c h e n sie eine E i n h e i t aus. W e n n diese E i n h e i t sinnlich vorgestellt wird, so ist es der R a u m . " ) E b e n s o ist die endlose Zeit n u r die versinnlichte A n s c h a u u n g s f o r m einer übersinnlichen D a u e r : aeternitas phaenomenon. Der Urgeist selber ist n a c h Sein u n d W i r k e n n i c h t a n Zeit geb u n d e n ; er stellt a u c h n i c h t den R a u m u n d R ä u m l i c h e s aus sich h e r a u s . „ M a n sollte eigentlich n i c h t sagen, G o t t h a t die E r s c h e i n u n g e n g e s c h a f f e n , sondern Dinge, die wir n i c h t k e n n e n , d e n e n aber eine Sinnlichkeit in u n s korrespondierend a n g e o r d n e t i s t . " — Desgleichen k l ä r e n sich j e n e Schwierigkeiten i m Verhältnis der endlichen „ G e i s t e r " u n d Freiheitswesen zu den Seinsformen R a u m u n d Zeit. Eine Frage, wie die nach dem Sitz und Ort der Seele, erweist sich als unlösbare, weil falsch gestellte Frage. Die Seele ist wesenhaft gegeben immer nur im Selbstbewußtsein oder im inneren Sinn; so wenig sich ein Auge selbst anschauen kann, so wenig kann sich die Seele äußerlich anschauen. „ W e n n aber die Seele kein Gegenstand der äußeren Sinne ist, so werden ihr auch nicht die Bedingungen äußerer Anschauung zukommen . . s o ist sie auch nicht im R ä u m e . " „ I c h als Intelligenz bin an keinem Orte; denn der Ort ist eine Relation der äußeren Anschauung; als Intelligenz aber bin ich kein äußerer Gegenstand." Auch der Realinfluxus zwischen Leib und Seele darf nicht räumlich-mechanisch vorgestellt werden (wie z. B. bei C r u s i u s ) . Das innere Wie dieses Übergangs m u ß der menschlichen Erkenntnis grundsätzlich unzugänglich bleiben; denn den Körper kennen wir nur als Gegenstand des äußeren Sinnes (dessen Wesensform der R a u m ist), die Seele aber nur als Gegenstand des inneren Sinnes. Es ist aber andererseits n u r die Folge einer falschen Hypostasierung der Dualität unserer Erfahrungsweisen zu einem Dualismus heterogener Seinsarten, wenn man jene Wechselwirkung f ü r an sich unmöglich erklärt. Überall müssen wir unterscheiden die Möglichkeitsbedingungen sinnlich-rezeptiver Erkenntnis (Erfahrung) von den Seinsmöglichkeiten in den Dingen selber. — In analoger Weise wird durch die Absonderung derZeit (als bloßer Form sinnlichen Auffassens der „ i n n e r e n " Geschehnisse) von der Existenz der Dinge (d. h. hier der Intelligenzen) an sich selbst die Willensfreiheit wieder ontologisch möglich.

Ganz allgemein gesprochen: Die F o r m e n u n d Gesetze des N a t u r s e i n s , des raumzeitlichen K o s m o s k ö n n e n v o m n e u e n S t a n d p u n k t a u s n i c h t m e h r Selbstheit u n d Wesenszüge des Geistigen b e d r o h e n . D e n n die gesamte R e a l i t ä t der N a t u r , so wie sie uns erscheint u n d v o n unserer N a t u r w i s s e n s c h a f t erforscht wird, ist ihrerseits a b h ä n g i g v o m Geiste — n i c h t n u r v o m göttlichen sondern a u c h v o m endlichen menschlichen Geiste! D. h. aber n i c h t e t w a , d a ß alles außermenschliche Sein n a c h

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K a n t vom Menschengeiste a b h ä n g i g wäre. Z u m spiritualistischen „ I d e a l i s m u s " eines Berkeley h a t er sich in der ganzen D a u e r seines Lebens feindlich v e r h a l t e n . Sondern n u r j e n e S t r u k t u r f o r m e n des R a u m e s u n d der Zeit, u n d das, was u n s v o m außermenschlichen ( u n d menschlichen) Sein in diesen F o r m e n gegeben ist, die e r s c h e i n e n d e N a t u r also ist a b h ä n g i g von unserem Geiste. Die „ I d e a l i t ä t " von R a u m u n d Zeit e n t k l e i d e t diese ihrer a n g e m a ß t e n ontologischen A b s o l u t h e i t , b e f r e i t die Dinge an sich von ihren B i n d u n g e n ; aber die Dinge selbst, die unermeßlich mannigfaltigen Seinskräfte u n d - s u b s t a n z e n , die der e r f a h r b a r e n N a t u r zu G r u n d e liegen müssen, b e h a l t e n ihre eigene R e a l i t ä t und Unabhängigkeit. A u c h die a n d e r e n F r a g e n klären sich n u n auf. Die ontologische S t r u k t u r des K o n t i n u u m s b e t r i f f t n u r den R a u m u n d die i m R ä u m e u n s erscheinende Materie; f ü r die Erscheinungswelt gilt in der T a t d e r G r u n d s a t z der unendlichen Teilbarkeit, hier k a n n m a n n i c h t auf l e t z t e E l e m e n t e s t o ß e n . Aber die Materie als (dynamisches) K o n t i n u u m , die Materie unserer n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n E r f a h r u n g ist n u r substantia phaenomenonl Die ontologische R e a l s t r u k t u r der Dinge an sich, die unsern räumlich-physikalischen Erscheinungen zu G r u n d e liegen, ist d a v o n u n a b h ä n g i g , — die Welt a n sich ist wirkliches compositum substantiaie. — E n d l i c h : die R ä t s e l des Seins u n d der E r k e n n b a r k e i t v o n R a u m u n d Zeit lösen sich e i n f a c h ; ihr leeres u n d unendliches F o r m sein h a t n i c h t den A n s p r u c h auf eigene Existenz, s o n d e r n h a f t e t dem menschlichen E r k e n n t n i s v e r m ö g e n a n ; u n d in der Reflexion dieses Vermögens auf sich selber e r f a ß t es eben j e n e allen gegebenen I n h a l t e n einzelner E r f a h r u n g e n vorausliegenden F o r m e n u n d S t r u k t u r e n . A u c h die extensive Unendlichkeit von R a u m u n d Zeit e n t s t a m m t im G r u n d e der d y n a m i s c h e n Unendlichkeit des geistigen V e r m ö g e n s ; u n d so stellen sich d e n n a u c h alle j e n e antithetischen Streitigkeiten über Endlichkeit u n d Unendlichkeit der Welt als ein falsches V e r h a f t e t s e i n der Metaphysiker a n sinnliches Erscheinungssein dar. Die „ w a h r e " Unendlichkeit ist nicht auf d e m B o d e n der raumzeitlichen Q u a n t i t ä t u n d E x t e n s i o n zu suchen. Tatsächlich kann der menschliche Geist auch den reinen Begriff der unendlichen Menge nicht wirklich anschaulich ausführen (exaequi): für ihn ist die unendliche Reihe die grundsätzlich unvollendbare; und auch die (gleichzeitige) Raumunendlichkeit ist seinem zeitlichdiskursiv operierenden Verstände nur als unvollendbares Fortgehen über jede Grenze gedanklich vollziehbar. Der metaphysische Infinitismus der Naturphilosophen verfehlt grundsätzlich den wahren Hintergrund und Kern der Weltwirklichkeit, nicht anders als der dogmatische Finitismus der Schulphilosophie, der die Bedingungen endlich-sinnlicher Anschauung zu ontologischen Notwendigkeiten hypostasiert. Die Unendlichkeit des Raumes und der räumlichen Welt kann nicht in Konkurrenz zur Unendlichkeit deB Geistes treten oder mit ihr naturalistisch-pantheistisch sich verschmelzen, weil sie selbst nur Folge und subjektive Ausstrahlung des geistigen Vermögens ist.

So s t e h t der Mensch immer zugleich in zwei Welten, der „sinnlichen" u n d der „intelligiblen". Jene ist die U m w e l t seines sinnlichen E m p f a n Haodb. d. Phil. I. F 7

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gens und Tuns, die Welt auch seiner sinnlichen Erkenntnis, die Natur in Raum und Zeit. Ihr aber liegt zu Grunde in ihm selber und bei allen Wesen und Dingen sonst ein von Bedingungen der Sinnlichkeit und der bloßen Naturgegebenheit unabhängiges Ansichsein der Intelligenzen und Substanzen. Das eigentliche Sein und die wahre Gemeinschaft der geistigen Wesen vor allem müssen wir in dieser Sphäre suchen. Von ihr handelt, unter Ausschaltung sinnlicher Beimischungen aus ihren reinen Begriffen, die Metaphysik. Von welcher Art ihre Erkenntnis sein kann („Realgebrauch" der reinen Verstandsbegriffe, unanschauliche und bloß „symbolische" Erkenntnis) und wie ihren Begriffen die Seinsbedeutung garantiert sein kann, das ist für Kant in diesem Stadium eine noch ungeklärte und in der Folgezeit auf immer neue schwierige Erkenntnisuntersuchungen hinaustreibende Frage. Hauptdokument: Die Schrift De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. — Die obige Darstellung hat aber sehr viel Dahingeh&riges aus anderen, auch spateren Quellen hinzugezogen, um die metaphysische Tragweite und die Hintergründe der Schrift zu verdeutlichen.

D. DIE METAPHYSIK AUF DEM BODEN DES KRITISCHEN IDEALISMUS; GRUNDZÜGE DER „PRAKTISCH-DOGMATISCHEN METAPHYSIK«. Aus diesen Untersuchungen ist die Kritik der reinen Vernunft hervorgegangen, die von dem ursprünglichen Thema (Kritik des metaphysischen Erkennens nach der Methode des logistischen Rationalismus) aus zu einer umfassenden Theorie des apriorisch-rationalen Erkennens in Philosophie und Wissenschaft überhaupt geworden ist. Auf dem damit gewonnenen Boden der kritischen Philosophie aber ergibt sich ein neuer Begriff der Metaphysik und andere Zugänge zu metaphysischen Problemen. Zunächst ist schon Kants eigene Lösung seiner erkenntnistheoretischen Grundfrage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori eine metaphysische Entscheidung. Es soll (über alle bloße analytische Deskription der Erkenntnis und ihrer Faktoren hinaus) e r k l ä r t werden, wie es möglich ist, daß das menschliche Subjekt in den konstruktiven Wissenschaften (mathematische Naturwissenschaft) Axiome und Grundsätze gegenständlich-inhaltlicher Art an die Natur heranbringt mit dem offenbar berechtigten und überall im Fortschritt der Erkenntnis sich bewährenden Anspruch auf ihre notwendige und allgemeine Geltung in der Wirklichkeit — ohne daß doch diese Sätze aus der Wirklichkeit durch sinnliche Erfahrung und Induktion abgelesen sein könnten. Kants Antwort auf die Frage setzt — unter Abweisung anderer metaphysischer Lösungen, wie der der „eingeborenen Ideen" und des „Präformationssystems" — die Betrachtungsweise fort, die mit der „idealistischen" Lehre vom Raum und der Raumerkenntnis als Selbsterkenntnis

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des Geistes eingesetzt hatte. Alle eigentliche Erkenntnis und Einsicht muß nach Kant irgendwie von derselben Art sein, wie die göttliche Erkenntnis, das Wissen des urbildlichen Verstandes vorgestellt wird: ein Sichselbstdurchschauen des Geistes in der eigenen setzenden Tätigkeit. Erkennen kann man im Grunde nur, wovon man selbst der Urheber ist! Sofern der Mensch die allgemeinsten Gesetzeszusammenhänge der Natur wirklich e i n s i e h t , muß sein Verstand selbst der spontane Urheber der eingesehenen Gesetze sein. Wir erkennen a priori von den Dingen nur das, was wir in sie — sofern sie als Erscheinungen uns ins Bewußtsein treten — zuvor „hineingelegt" haben. („Kopernikanische Drehung"). Nicht nur bei den leeren Formen Raum und Zeit, sondern bei allen a priori einsichtigen Strukturen der raumzeitlichen Wirklichkeit geht die gegenständliche Erkenntnis zuletzt auf eine Selbsterkenntnis des Subjekts und der ihm immanenten geistigen Formen zurück. Daß der Mensch in aller Erfahrungserkenntnis und -Wissenschaft stets nur auf eine subjektiv-bedingte Umwelt von „Erscheinungen" treffen kann, das macht seine Endlichkeit und Eingeschränktheit aus; aber diese Umwelt (unsere gesamte „empirische Realität" also) ist dafür auch, nach ihren allgemeinsten Strukturen wenigstens, das ihm unterworfene Feld seiner ursprünglichen spontanen und quasi urbildlichen Tätigkeit, das Feld seiner „transzendentalen Idealität". „Der Mensch ist das principium originarium der Erscheinungen"; „wir machen die Erscheinungen a priori"; sogar sich selbst macht der Mensch, „sofern er sich in Raum und Zeit setzt." Auf dem Gebiete der Erscheinungswelt „sind wir zum Teil Schöpfer." Zum Teil — denn alles Material-Empirische unserer realen Umwelt weist hinaus auf die von uns schlechthin unabhängige transzendente Realität der Dinge an sich, die unsere raumzeitlich eingestellte Subjektivität auf unbekannte Weise „afflzieren". (Dies der realistische Einschlag in Kants Metaphysik der Erkenntnis; entgegen dem reinen Idealismus und Spiritualismus Berkeleys oder dem absoluten Spontanismus der Leibnizischen Monade, wo jedes endliche Subjekt all seine Erkenntnisse und Erfahrungen rein aus sich selbst herausentwickelt.) Die nächste Folge dieser Theorie ist die scharfe Scheidung zwischen der wissenschaftlichen und der metaphysischen Erkenntnis. Die Geltung der über das Logisch-Begriffliche hinansliegenden inhaltlich-gegenstandlichen Grundsitze und Kriterien ist nur für das Gebiet der Wissenschaft garantiert, für die sinnlich erfahrbare Natur als die Gesamtheit der raumzeitlichen Erscheinungen, deren Gesetzlichkeit eben vom menschlichen Geiste selbst abhängig ist. Metaphysik kann sich, sofern sie von den „Dingen überhaupt und an sich selber", vom Intelligiblen und „Übersinnlichen" handeln soll, nicht auf jene uns so vertraut und sicher sich darbietenden Grundsätze stützen. Zwar sind die fundamentalen Kategorien unseres Denkens (z. B. Substanz oder Kausalität) durchaus nicht, wie jene beiden Auffassungsweisen unserer „Rezeptivität", als spezifisch menschliche und nur für menschliche Anschauungsweise gültige Erkenntnisfonnen anzusprechen; die ontologische Bedeutung dieser Grundbegriffe jedes diskursiven Denkens von Gegenständen und Seinszusammenhängen reicht durchaus an sich über das Gebiet bloßer Erscheinungsgegebenheiten hinaus. Aber während die Zusammenfassung dieser Kategorien mit jenen

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sinnlichen Anschauungsfonnen (insbesondere mit dem „Schema" der Zeit) zu wirklich konstitutiven, für konstruktive Erkenntnis der Erscheinungen jederzeit zur Verfügung stehenden „Grundsätzen" führt (z. B. G r u n d s a t z der Kausalität, G r u n d s a t z der Beharrlichkeit der Substanz), wobei die zeitlichen Erfahrungsdaten empirische Kriterien für deren Anwendung liefern (dort regelmäßig wiederholte Aufeinanderfolge, hier bleibende Konstanten in den Veränderungsprozessen) — bleiben dieselben Kategorien ohne diese Anschauungserfüllung leer und unbestimmt, ohne Anwendungskriterien. Die Diskussionen der Metaphysiker Ober die Definition des Substanzbegriffs und ihre Konsequenzen (der Gegensatz S p i n o z a - L e i b n i z ) oder über die Geltung des Satzes vom Grunde (Kausalität und Freiheit) zeigen, wie wenig sich aus bloßen Begriffen, von den reinen Kategorien aus Entscheidendes über das Seiende ausmachen läßt. Aus reiner theoretischer Vernunft und bloßer logischer Anwendung der Kategorien kann niemand deduzieren, ob der einzelne Mensch als selbständige „Substanz" gedacht werden darf; und ob seine Tätigkeit (Kausalität) eine ursprünglich aus sich anhebende (Kausalität durch Freiheit) oder eine im Zusammenhang der Dinge eindeutig determinierte (Kausalität nach Naturgesetzen) ist. Metaphysik aus reiner theoretischer Vernunft ist also unmöglich. Dieses zunächst negative Resultat aber hat nun eminent positive Bedeutung für die wahre metaphysische Erkenntnis. Widerlegt sind damit für K a n t ohne weiteres alle „dogmatischen" Konstruktionen des geistfeindlichen Naturalismus. Die Vernunftkritik ist das beste Bollwerk gegen „Materialismus, Fatalismus, Atheismus", und alle angeblich unausweichlichen Gedankengänge, die in ihre Richtung führen. Selbständiges Sein und überzeitlicher Bestand des Seelisch-Geistigen, Freiheit und schöpferische Kraft des Willens, geistiger Urgrund alles Weltzusammenhanges — das alles sind Entitäten, die gewiß nicht in unserem Erfahrungszusammenhang auftreten können und für welche im System der Naturgesetze allerdings kein Platz ist; aber über ihre Seinsmöglichkeit an sich ist damit noch gar nichts vorentschieden. Die erkenntnistheoretische Lehre der „transzendentalen Deduktion" zeigt, daß in den Einheitszusammenhang unseres Bewußtseins immer nur das eintreten kann, was den synthetischen Funktionen des Denkens im Verein mit denen unserer Anschauung gemäß ist. Aber die Bedingungen unserer Bewußtseinsgegenständlichkeit und Wirklichkeitserfahrung sind doch nicht eo ipso auch Bedingungen für Dinge überhaupt und an sich selbst! Wenn es unbedingte Freiheit, substantielle Seeleneinheit, rein geistige Gemeinschaft (oder, ein anderes Beispiel: schlechthin einfache dynamische Substanzen, die der kontinuierlich-raumerfüllenden Materie zugrunde liegen) gibt, dann sind es eben wesenhafte Realitäten, die keinesfalls Inhalte gegenständlicher Erfahrung werden können! Im Sein an sich sind Wesen möglich, die in keiner Weise je in unseren sinnlichen Erfahrungszusammenhang hineinragen können (Gott, reine Geister und geistige Ordnungen); und andererseits ist es durchaus möglich und naheliegend, daß auch die Dinge, von denen unsere Erfahrung uns Erscheinungskunde gibt, in ihrem inneren Ansichsein Kräfte und Strukturen tragen, die unseren Erfahrungsmöglichkeiten und den auf ihrem Feld berechtigten Naturbegriffen sich entziehen, ja strikt zuwiderlaufen (Willensfreiheit, einfache unteilbare Substantialität etc.). Tatsächlich liegt in den Wesensformen unserer Vernunft ein unabweisliches Hinaustendieren auf derartige Begriffe (die „Ideen" der Vernunft), die ihre Gegenstände zwar d e n k e n können und denken müssen, aber doch nie nach Dasein oder Sosein e r k e n n e n ! In dieser Spannung schwebt des Menschen theoretische Vernunft: sie sucht und fordert unabweislich das Unbedingte und An-sich, und sieht zugleich ein, daß es doch über die Grenzen ihrer Kompetenz hinausliegt. Sie zielt auf das für sie Irrationale. Metaphysik als Wissenschaft ist auf rein theoretischem Boden nicht möglich; aber „Metaphysik a l s N a t u r a n l a g e " ist jederzeit in der Vernunft des Menschen wirklich und wird immer wirklich bleiben.

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In den Mittelpunkt des metaphysischen Interesses tritt zufolge des 50 idealistischen Erkenntnisbegriffes die (menschliche) V e r n u n f t selbst. Sie wird von Kant durchaus als eine Realpotenz behandelt (nicht etwa

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nur als ein freischwebendes logisches System von Wahrheiten); systematische Selbsterkenntnis der Vernunft, in dem Stufenbau ihrer einzelnen „ V e r m ö g e n " , ist ein Seinswissen, ist Metaphysik. V o m göttlichen Verstände und seiner (uns völlig unbekannten) intellektualen Anschauung ist diese endliche Vernunft scharf unterschieden; ihre Stellung zu den einzelnen Subjekten („vernünftigen Wesen") wird vorsichtig in der Schwebe gelassen. (Die nachkantischen Idealisten haben dann, in der konstruktiven Fortsetzung dieser Metaphysik der Vernunft, Subjekte, endliche Vernunft und absolute göttliche Vernunft in ein bestimmtes und durchschaubares Seinsverhältnis zu bringen gesucht.) Allgemeine Grundvoraussetzung ist für K a n t dabei, daß die Vernunft für sich selbst durchsichtig und in der Vollständigkeit ihrer Gliederungen ein für alle Mal übersehbar ist. In wenigen Punkten nur deutet sich eine gewisse Durchbrechung dieses neuen Rationalismus an. — Eine einfache Weiterführung des Vernunftsystems in Richtung auf die Möglichkeiten sinnlicher Erfahrung führt zu einer neuen Naturphilosophie („Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft"). In der transzendentalen Reflexion auf die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrungsgegenstände gelangen wir zu einer rein apriorischen Konstruktion der Materie. Auch hier wächst ein neuer Rationalismus auf — wobei aber die als schlechthin rational und a priori konstruierbar vorausgesetzte Wirklichkeit nur empirische Realität, bloße E r s c h e i n u n g s w i r k l i c h k e i t sein will. In unablässigem Ringen hat der alte K a n t noch an dem Gedanken gearbeitet, die Konstruktion weit ins Konkrete der Natur hinein vorzutreiben (opus post.). — Die spekulative Naturmetaphysik S c h ö l l i n g s und H e g e l s hat, vom Boden des neuen objektiven und absoluten Idealismus aus, die Kantischen Tendenzen und Ansprüche aufgenommen. Das eigentliche Endziel aber der Vernunftkritik ist die Errichtung der „praktisch-dogmatischen Metaphysik", die nicht bloß metempirische Konstruktion der empirischen Realität, sondern erkennender Zugang zum „ Ü b e r s i n n l i c h e n " , zum Sein an sich sein will! Das Unbedingte und Intelligible, dem theoretischen Zugriff grundsätzlich versagt, ragt in der einzigen Gestalt der absoluten sittlichen Forderung in die endliche V e r n u n f t unmittelbar hinein. Von diesem zentralen „ F a k t u m der V e r n u n f t " aus ergibt sich ein neuer Zugang zu den Realitäten, auf welche die „ I d e e n " bloß hinzielen konnten. Vom Praktischen her wächst den auf dem theoretischen Boden anschauungsleeren und keine erkennende Anwendung verstauenden Ideen „objektive Realität" und inhaltliche „ B e d e u t u n g " zu; das Ineinanderwirken von praktischer und theoretischer Vernunft, unter dem bestimmenden Primat der ersteren, ergibt wirkliche metaphysische „Erweiterung" unserer Seinserkenntnis, über den Rahmen jeder möglichen Erfahrung hinaus. Die Erkenntnisse dieser praktischdogmatischen Metaphysik geben nie apodiktische, d. h. das innere Sein und das Wie der übersinnlichen Gegenstände aufhellende Einsicht; sie

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fassen dieselben vielmehr nur in ihrer (intelligiblen) Bezüglich keit auf uns und unsre sittliche Bestimmung; — bloß relativ also, bloß symbolisch; aber ihre „assertorische" Gewißheit soll darum doch hinter keiner anderen Erkenntnis an Sicherheit zurQckstehn. Vor allem legt die neue Metaphysik die fibersinnliche Realitfit der F r e i h e i t , als der ratio essendi des Sollensfaktums fest. Und nicht nur die allgemeine Möglichkeit wahrhafter unbedingter Freiheit wird in ihr erwiesen, sondern „die W i r k l i c h k e i t derselben an Wesen, die dies Gesetz (des Sollens) als für sich verbindlich anerkennen!" Freiheit und Naturkausalität schließen einander nicht aus, sondern wie alle Natur bloß sinnliche Erscheinung von Intelligiblem ist, so muß auch die gesamte zeitliche Determinationsreihe menschlicher Handlungen nur als Erscheinung eines überzeitlichen Freiheitswesens und seiner spontanen Willenskausalität verstanden werden. Dem empirischen (in allen seinen Einzelwegen determinierten) Charakter des Menschen liegt sein „intelligibler Charakter" zu Grunde, — der, als ein Ding an sich, uns nie, auch in der nachdenklichsten Selbstdurchforschung nicht, durchschaubar ist (nur Gott sieht uns ins Herz!), dessen Spontaneität und Willensstellung sich aber in den zeitlichen Taten und Gesinnungsakten äußert. Freiheit kann nie als empirische Tatsache auftreten; nie kann ich auf den einzelnen Willensakt etwa den Finger legen, um ihn zum Unterschied von anderen als frei zu erkennen; denn durch die Maschen der Einheitsbedingungen des erfahrenden (Erscheinungen gestaltenden) Bewußtseins kann ihr intelligibles Wesen nicht in uns hineinscheinen. Aber in der „Intelligenz" an sich, von der auch jene Einheit des denkenden Bewußtseins (transzendentale Apperzeption) nur eine Seite und Funktion darstellt, ist unbedingte Freiheit; ihr (überzeitliches) Wirken ist „Kausalität durch Freiheit." — Zugleich ergibt sich eine neue Erfüllung der im Rahmen des Theoretischen leerbleibenden „Idee" der S e e l e . Das Ichbewußtsein der transzendentalen Apperzeption hat zwar in seiner reinen Spontaneität (zum Unterschied von aller bloßen Gegebenheit der Ich-Erscheinungen im inneren Sinn) eine unzweifelhafte Beziehung auf das „Wesen selbst" in mir, und bedeutet ein „rein intellektuelles Bewußtsein meines Daseins"; aber dieses Bewußtsein des Ich-Subjekts bleibt hier noch völlig unbestimmt und unbestimmbar; es weist nur auf ein „Ich, er oder es", von dem man nicht ausmachen kann, ob es individuell-persönlich ist, oder die Einheit eines universalen übereinzelnen Verstandes. Erst auf dem Boden des Sittengesetzes wird die persönliche Selbstheit und strenge Unabhängigkeit des einzelnen Vernunftwesens garantiert — die Sollensforderung ergeht an die Person und setzt ihr Handeln in Bezug auf alle anderen Personen, die sie (sowie sich selbst) als Zwecke an sich selber anzusehen hat. Die ihrem inneren und absoluten Wesen nach uns unbekannten „Dinge an sich" bekommen hier, sofern es sich um

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geistige Wesen handelt, für die zielsetzende Vernunft eine praktischpositive Bedeutung: als Z w e c k e „an und für sich", als Wesen, welche „inneren und absoluten Wert" haben. — Auch die theoretisch leerbleibende Substanz-Intention in Richtung auf die „Seele" erhält jetzt erfüllende Bedeutung. Das Sittengesetz fordert restlose Erfüllung, die aber für endliche (also wesenhaft sinnlich-bedürftige) Wesen nie Gegenwartsbesitz, sondern grundsätzlich nur in unendlichem Prozeß der Annäherung erreichbar ist. So ergibt sich die Seinsnotwendigkeit einer „ins Unendliche fortdauernden Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens." Die Dauer und Identität der Seele wird als unendliche Fortsetzung ihrer tätigen Entwicklung verstanden. (Die Kategorie der Substanz erhält also in dieser praktischintelligiblen Inhaltserfüllung eine aktualistische Zuspitzung, nicht anders als die Kategorie der Kausalität in der Bedeutung der Kausalität durch Freiheit. — F i c h t e hat das dann ausgebaut.) Der Unendlichkeitsprozeß selbst wird dabei von Kant als unzeitliches Werden gedacht; intelligible „Dauer" ist nicht zeitliche Sukzession (mit ihrer „Trennung der Zeiten"!) aber auch nicht ewige Starre und gleichsam Versteinerung des tätigen Lebens. Was den Veränderungen des empirischen Menschenlebens „in intellectualibus respondiere, wissen wir nicht"; die intelligiblen Dinge sind „weder veränderlich noch unveränderlich." Wir stehen hier an einer absoluten Grenze unserer Erkenntnis. Das sittliche Vernunftgesetz ist endlich ein synthetisches Gesetz: es bindet (ontologisch) seinem Sinn nach das einzelne Vernunft- und Selbstzweckwesen in einen übergreifenden Zusammenhang, das „Reich der Zwecke". Von dieser,, systematischen Verfassung" des Intelligiblen kennen wir nicht die volle Seinsstruktur und Gegenseitigkeit der Wirkungen; aber ihr G e s e t z ist eben unserer Vernunft gegeben. Das Bewußtsein des Sittengesetzes fängt in mir „von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstände spürbar ist, und mit welcher ich mich... in allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne." Vom Sittlichen aus wird uns der teleologische Seins- und Sinnzusammenhang zu einem Teile wenigstens, und rein im Formalen bleibend sichtbar. Die weitere Ausfüllung ist unserem H a n d e l n überlassen; die intelligible Welt ist zugleich Sein und Aufgabe, Zusammenhang, von dem wir Einzelnen getragen sind und der von uns auch wieder jederzeit erst erschaffen und errungen werden muß. Die praktische Idee (mit dem was sie an theoretisch einsehbaren Notwendigkeiten mit sich führt) ist unser einziger unmittelbarer und sicherer Zugang zum mundus intelligibilis. Die Wirklichkeit des Schönen und des Organisch-Zweckvollen, die offenbare Angemessenheit der von den Dingen an sich uns zukommenden Naturgegebenheiten, in ihren „besonderen Gesetzen", für unser Erkenntnisvermögen, sowie endlich auch der uns erschließ-

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bare Sinn der Menschengeschichte — fügen dem vom Moralischen her gegebenen Seinsrahmen weitere teleologische Hinweise ein. (Kritik der Urteilskraft, Geschichtsphilosophische Aufsätze). Die praktisch-dogmatische Metaphysik gipfelt im Gottesgedanken. Nicht vom Kosmos und vom unendlichen R a u m her (wie in der Frühzeit) bricht Kants Metaphysik zum absoluten Ursein durch, sondern von der geistigen Gemeinschaft selbsttätig freier Wesen, und von der Notwendigkeit einer die endliche Dualität von Sittlichkeit und Glück überbrückenden Weltordnung. So bleibt denn auch, bei aller absoluten Überlegenheit des unendlichen Willens, die Selbstheit des Endlichen in diesem neuen 10 Weltschema gewahrt. Gottes Allgegenwart ist nicht von dem das Einzelne auflösenden Raumkontinuum her zu fassen, sondern sie zeigt sich uns in dem Gefühl der Pflicht als dem eigentlichen Grundbewußtsein „der Gegenwart der Gottheit im Menschen": die gebietende Macht des unendlichen Willens als eines uns „innigst gegenwärtigen (omnipraesentissimus)" Wesens vernichtet nicht, sondern sie fordert gerade die Freiheit und Selbstheit der endlichen Willenssubjekte. K a n t zielt auf eine Fassung der göttlichen Welttranszendenz und zugleich -immanenz, die gleich weit entfernt ist von der Äußerlichkeit des deistischen Weltuhrmachers wie von den Verschmelzungsneigungen des Pantheismus. so Literatur: A. D r e w s , K a n t s Naturphilosophie; Berlin 1894; F . P a u l s e n , K a n t , S t u t t g a r t 1905; R. K r o n e r , K ' s W e l t a n s c h a u u n g , Tübingen 1914; Von K a n t bis Hegel I, 35—302, Tübingen 1921; E . A d i c k e s , K a n t u n d das Ding an sich, Berlin 1924; H . H e i m s o e t h , Metaphys. Motive in der Ausbildung des krit. Idealismus; K a n t St. 1924 (Festh.); Derselbe: Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich in der K a n t i s c h e n Philosophie, Festschrift der Alb.-Univers. in Königsberg, Leipzig 1924; M. W u n d t , K a n t als M e t a p h y s i k e r , S t u t t g a r t 1924; F. W e i n h a n d l , Der letzte K a n t , Reichls Philo«. Almanach, D a r m s t a d t 1924. (Vgl. ausserdem die großen erkenntnistheoretisch orientierten K a n t - W e r k e von C o h e n , R i e h l , B a u c h , C a s sirer, Kühnemann.)

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VI. DIE SPEKULATIVEN SYSTEME DES DEUTSCHEN IDEALISMUS. „ D a s Urteil der Geschichte wird sein, nie sei ein größerer äußerer u n d innerer K a m p f um die höchsten Besitztümer des menschlichen Geistes g e k ä m p f t worden, zu keiner Zeit h a b e der wissenschaftliche Geist in seinem Bestreben tiefere u n d a n R e s u l t a t e n reichere E r f a h r u n g e n gemacht, wie seit K a n t " . Schilling, „ Z u r Geschichte der neueren Philosophie".

Mit d e r u n m i t t e l b a r e n A u s w i r k u n g u n d Nachfolge der Kantigehen Philosophie t r i t t die M e t a p h y s i k der Neuzeit in ihre zweite große B l ü t e ein. I m e n g e n Z e i t r a u m v o n zwei, drei J a h r z e h n t e n w ä c h s t eine Fülle m e t a p h y s i s c h e r G e d a n k e n b i l d u n g e n v o n ü b e r r a g e n d e m Stile u n d g r ö ß t e r T r a g w e i t e h e r a n , wie sie in so g e d r ä n g t e r N a c h b a r s c h a f t die Geschichte v o r h e r n i c h t gesehen h a t . E s ist zugleich die l e t z t e Glanzzeit der Metaphysikgeschichte, bis auf den h e u t i g e n Tag, die d a sich vollzieht; ihr folgt ein Niedergang der m e t a p h y s i s c h e n P r o d u k t i o n s k r a f t n i c h t n u r , s o n d e r n d a n n a u c h des m e t a p h y s i s c h e n Interesses u n d E r n s t e s , wie i h n die a b e n d l ä n d i s c h e Geschichte a u c h n i c h t o f t erlebt h a t . — Die Bewegung ist keine intereuropäische, wie die des 17. J a h r h u n d e r t s . Sie wird g e f ü h r t u n d g e t r a g e n v o n d e u t s c h e n D e n k e r n — die eigentliche E r n t e z e i t des d e u t s c h e n Geistes auf d e m Gebiete der Philosophie ist a n g e b r o c h e n ; u n d w ä h r e n d M e t a p h y s i k e r wie N i k o l a u s v o n Kues oder Leibniz einsam i n i h r e m U m k r e i s stehen m i t ihren W e l t g e d a n k e n , sind F i c h t e , Schelling u n d Hegel V e r b ü n d e t e , aus tiefer Lebenseinheit u n d Zeugungsgemeinschaft i m m e r wieder s c h ö p f e n d bei aller Gegensätzlichkeit in d e n besonderen K o n z e p t i o n e n . So ist es, in viel t i e f e r e m u n d i n h a l t l i c h b e s t i m m t e r e m Sinne als b e i m „ R a t i o n a l i s m u s " des 17. J a h r h u n d e r t s , die E i n h e i t einer m e t a p h y s i s c h e n Bewegung, die in d e n einzelnen S y s t e m e n des „ D e u t s c h e n I d e a l i s m u s " zur Aussprache u n d A u s w i r k u n g k o m m t . Unsere D a r s t e l l u n g h a t d a h e r , v o r der differenzierenden B e h a n d l u n g der S y s t e m e , ein zus a m m e n f a s s e n d e s Bild v o n der G e s a m t h a l t u n g u n d - t e n d e n z dieser idealistischen M e t a p h y s i k zu geben. Der T e r m i n u s des „ D e u t s c h e n I d e a l i s m u s " h a t mit der Zeit eine bedenkliche Unb e s t i m m t h e i t angenommen. Auf der einen Seite neigt man j e t z t vielfach dazu, nicht n u r K a n t als den unmittelbaren „ V a t e r " der Bewegung, sondern auch die großen F ü h r e r der Metaphysik vor K a n t (insbesondere Leibniz), j a schließlich schon den Meister Eckeh a r t in richtiger Erkenntnis tiefer Z u s a m m e n h ä n g e mit wichtigen Tendenzen der nachkantischen Systeme einheitlich u n t e r einem erweiterten Begriff der Metaphysik des Deutschen Idealismus zu begreifen. Auf der andern Seite sind geistesgeschichtliche Bet r a c h t u n g e n vielfach dazu übergegangen, die gesamte „deutsche Bewegung" u m 1800 n a c h ihrer weltanschaulichen Überzeugungsbasis durch den gleichen Terminus zu bezeichnen — so, d a ß nicht nur die philosophischen Systembildner, und etwa noch ihnen n a h v e r w a n d t e Denker und Dichterphilosophen der Klassik u n d R o m a n t i k (wie Schiller u n d H u m b o l d t , F r . Schlegel und Novalis), sondern geistige Führer von wiederum sehr anderer Wesensrichtung wie Herder und Goethe ohne weiteres f ü r die inhaltliche ErHandb. d. PhiL I. F i

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füllung des Begriffs vom Deutschen Idealismus und seiner philosophischen Welthaltung bestimmend werden. Beide Aasweitungen erscheinen uns höchst bedenklich: die eine, weil sie den (ohnehin an sich vieldeutigen) metaphysischen Systembegriff des ,,Idealismus", der auf die nachkantischen Denker von Fichte bis Hegel in ganz bestimmtem Sinne zugepaßt ist, verschwimmen lftßt und damit die tiefe Unterschiedlichkeit etwa zu Kants oder Leibnizens „realistischer" Ausgangsbasis verwischt, ganz abgesehen noch von der tiefgreifenden Verschiedenheit der Typen von Metaphysik, — die andere, weil sie die Welthaltung und die philosophischen Intentionen der großen Metaphysiker, anstatt sie rein aus ihren begrifflichen und systematischen Aussagen, ihren spezifischen Problemstelinngen zu entnehmen, unter allgemeine geistesgeschichtliche Bezeichnungen von naturgemäß sehr großer Unbestimmtheit subsumiert. Die Fragwürdigkeit des letzteren Vorgehens scheint uns an dem gegenwärtig so lebhaft diskutierten Problem „Idealismus und Christentum" besonders offensichtlich geworden zu sein: wenn Kant und Herder, Fichte und Goethe, Schelling und Schleiermacher in demselben Topf mit der Etikette „Idealismus" ineinandergerührt werden, so kann damit, scheint uns, wohl ein allgemeines geistesgeschichtliches Stimmungsbild jener Zeit gegeben, aber keine Frage der philosophischen und weltanschaulichen Problematik gründlich geklärt werden. — Nach der Anlage unserer Darstellung haben wir hier nur von den philosophischen Systembildnern des deutschen Idealismus zu handeln. Wir gehen dabei aus von den drei großen Führern, deren spezifische metaphysische Auswertung Kants und deren unmittelbares Hervorgehen auseinander sie allein schon klar abhebt von anderen ihnen weitgehend verwandten und verknüpften Denkern der Zeit, wie Schleiermacher, Krause, Baader. An jenen allein orientieren wir auch zunächst den metaphysikgeschichtlichen Begriff des „Deutschen Idealismus".

1. Die Metaphysik des Deutschen Idealismus nimmt zur Ausgangsbasis und zum bleibenden Fundament aller Wirklichkeitskonstruktionen die „ V e r n u n f t " , auf die Kants Fragestellung sich zugespitzt h a t t e ; und sie verstärkt entscheidend deren Realitätsbedeutung durch Abstoßung jedes Realismus von „Dingen an sich". Vernunft, in allen ihren Vermögen und Bewußtseinsweisen, ist autonome immanente Spontaneität; unmöglich ist es, sie von außen „affiziert" zu denken, oder sie, sei es auch nur i m bloßen Gedanken von Dingen an sich, über sich hinausgreifen zu lassen. Heteronomie, Bestimmung des Vernünftigen von andersher, etwa durch äußeres Sein, kann es für das einzelne Vernunftwesen geben, nie aber für die Vernunft selbst. Sie ist das einzige Ansich; in ihr allein liegt die Einheit des „Übersinnlichen", auf die Kant allenthalben zielte. — So wird Kants systematische Tendenz gegen den Naturalismus der rationalistischen („dogmatischen") Metaphysik jetzt gesteigert zum reinen metaphysischen Idealismus. Alles Reale überhaupt ist Wirklichkeit der Vernunft, in ihren Ausgestaltungen u n d Erscheinungen — d. h. in ihrem S i c h - E r s c h e i n e n : denn ein Hineinscheinen von Dingen an sich in das Bewußtsein gibt es eben nicht. Auch die bei Kant selbständig neben dem Vernunftprinzip bewahrten „Vernunftwesen" (die intelligiblen Subjekte des Ich-Bewußtseins und der Freiheit und Verantwortung) müssen als individuelle Kontraktionen der Einen Freiheit und Vernunft begriffen werden. Nicht die „Intelligenzen" als Wesen an sich haben Vernunft und tragen sie auf ihrer substantiellen Einzelheit, sondern die Vernunft-an-sich bewahrt und trägt und produziert die Ver-

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n u n f t v e s e n . — So ist d e n n alle M e t a p h y s i k i m G r u n d e S e l b s t e r k e n n t n i s der V e r n u n f t , T r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i e . Die allgemeinen u n d n o t w e n digen Wesensformen der V e r n u n f t sind die Gesetze alles W i r k l i c h e n , d e r N a t u r nicht a n d e r s als der Geisteswelt. K a n t s t r a n s z e n d e n t a l e r ApriorUmus v e r b ü n d e t sich, die E i n s c h r ä n k u n g auf „ b l o ß e " E r s c h e i n u n g e n a b streifend a b e r den Ausgang v o m e r k e n n e n d e n S u b j e k t b e w a h r e n d , m i t dem alten objektiv-ontologischen Idealismus der P l a t o n i s c h e n T r a d i t i o n . Von dieser Position des reinen m e t a p h y s i s c h e n I d e a l i s m u s a u s f ä l l t aber auch die absolute S c h r a n k e , die K a n t zwischen d e r e n d l i c h e n 10 (menschlichen) V e r n u n f t u n d d e m göttlichen V e r s t ä n d e a u f g e r i c h t e t h a t t e . W e n n die V e r n u n f t das einzige An-sich ist, so k a n n das g ö t t l i c h e Sein u n d D e n k e n n i c h t als ä u ß e r e T r a n s z e n d e n z u n d U n e r k e n n b a r k e i t v e r s t a n d e n w e r d e n . Das P a t h o s der A u t o n o m i e u n d W ü r d e des Menschen u n d der menschlichen V e r n u n f t soll v e r t i e f t w e r d e n d u r c h d e n A u f w e i s ihres notwendigen Z u s a m m e n h a n g e s , j a ihrer w u r z e l h a f t e n I d e n t i t ä t m i t der a n e n d l i c h e n V e r n u n f t . K a n t ließ es, selber s c h w a n k e n d , in d e r Schwebe: welche B e d e u t u n g d e n Kategorien u n d I d e e n der e n d l i c h e n V e r n u n f t f ü r das Sein an sich u n d f ü r das g ö t t l i c h e D e n k e n z u k o m m e n m ö g e ; der m e t a p h y s i s c h e I d e a l i s m u s entscheidet f ü r i h r e ü b e r g r e i f e n d e J0 Geltung. E r wird z u m absoluten Idealismus, z u m I d e a l i s m u s d e r absol u t e n V e r n u n f t . I n d e m die menschliche V e r n u n f t sich (wie bei K a n t ) ihrer E r k e n n t n i s g r e n z e n w e s e n h a f t b e w u ß t wird, b e w e i s t sie i h r g r u n d sätzliches H i n a u s s e h n über das Bloß-Endlicbe, i h r E i n g e b e t t e t s e i n in d e m unendlichen E r k e n n e n , v o n dessen H i n t e r g r u n d sie sich, in i h r e m Sicherscheinen, a b h e b t . N i c h t anders als f ü r die M e t a p h y s i k e r des 17. J a h r h u n d e r t s ist f ü r d e n I d e a l i s m u s dies f u n d a m e n t a l e Ü b e r z e u g u n g : d a ß wir v o n allen Dingen u n d a u c h v o n u n s selbst n u r wissen, sofern u n s i m m e r schon (wenn a u c h v o n u n s n i c h t reflexiv b e m e r k t ) das A b s o l u t e geistig gegenwärtig ist. so 2. E i n e unermeßliche Steigerung des S e l b s t v e r t r a u e n s d e r e r k e n n e n den, spez. der philosophischen (spekulativen) V e r n u n f t ist h i e r m i t e n g v e r b u n d e n . K a n t stellte gegen d e n alten R a t i o n a l i s m u s seine B e h a u p t u n g von d e r I r r a t i o n a l i t ä t des W e l t z u s a m m e n h a n g s a n s i c h ; a b e r seine Philosophie u n d M e t a p h y s i k der V e r n u n f t h a t t e zur G r u n d v o r a u s s e t z u n g die E i n h e i t u n d die s y s t e m a t i s c h e D u r c h s c h a u b a r k e i t der V e r n u n f t selbst. Von hier erwächst den Idealisten ein n e u e r alles u m g r e i f e n d e r V e r n u n f t g l a u b e . Die Einheit der V e r n u n f t in i h r e m Ansichsein, u n t e r aller Vielheit der „ V e r m ö g e n " u n d der A n w e n d u n g s f o r m e n , d e r Intelligenzen u n d der N a t u r e r s c h e i n u n g e n , wird a b s o l u t v o r a u s g e s e t z t . A b e r 40 es wird a u c h noch, m i t W e g r ä u m u n g der K a n t i s c h e n E i n s c h r ä n k u n g e n u n d A n d e u t u n g e n von vielleicht u n b e k a n n t e n W u r z e l n , v o l l k o m m e n e apriorische u n d also apodiktische E r k e n n b a r k e i t dieses E i n h e i t s z u s a m m e n h a n g s b e h a u p t e t . Die menschliche V e r n u n f t h a t das a b s o l u t e S y s t e m aller V e r n u n f t f o r m e n u n d d a m i t das F o r m e n s y s t e m aller W i r k l i c h k e i t F 8*

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aus sich heraus eindeutig und endgültig zu entwickeln: das ist die nun zu erfüllende Aufgabe der Philosophie seit Kant. Ein neuer Rationalismus (Apriorismus) und Deduktivismiis der M e t a p h y s i k k o m m t so herauf, formal sich ftußernd in dem aufs höchste gesteigerten Einheit«- u n d Totalitätsanspruch des philosophischen Systems. Die Analogie zum alten Seinsrationalismus t r i t t u. a. zutage in der Vorbildbedeutung, die das System Spinozas, bei aller Gegensätzlichkeit der Inhaltsposition, nachEinheitsform u n d Gewißheitsanspruch f ü r die Idealisten alle gehabt h a t . J a in einer Richtung ist die neue Überzeugung noch schärfer (und fragwürdiger!) zugespitzt als die der R a t i o n a l i s t e n : die Metaphysik glaubt n i c h t n u r die Evidenz und Sicherheit der Wissenschaft (der m a t h e m a t i s c h e n N a t u r e r k e n n t n i s ) zu erreichen, sondern sie zu ü b e r t r e f f e n ! „ W i s s e n s c h a f t " im vollen Sinne des W o r t e s heißt den Idealisten n u r ihre Philosophie; n u r die apriorische K o n s t r u k t i o n des spekulativen Denkens bietet die W a h r h e i t in ihrer u n m i t t e l b a r e n Gewißheitsäußerung d a r . Die mit der neuzeitlichen Ausbildung selbständiger Einzelwissenschaften (insbesondere mit der Entwicklung der Naturwissenschaft seit Galilei und Newton) notwendig gewordene Auseinandersetzung zwischen Metaphysik und Wissenschaft t r i t t i n ihr erstes S t a d i u m ein; die Idealisten zuerst haben, auf dem neuen Boden des K a n t i s c h e n Transzendentalismus, nach der Methode der Philosophie zum Unterschiede von den Methoden der Wissenschaften gefragt. Ihre A n t w o r t statuiert die vollkommene Autonomie der Metaphysik. Von den apodiktischen Wesenseinsichten u n d der systematisch abgeschlossenen und durchgegliederten Ganzheitsfiberschau der Metaphysik sind alle a n die Empirie gebundenen und auf sie relativen Einzelwissenschaften abhängig — nicht sie v o n ihnen. Die idealistische Metaphysik der Erkenntnis, die (in F o r t s e t z u n g von Weigels und Leibniz' Intentionen) alle E r k e n n t n i s als reines Aussichschöpfen und Sichentfalten des autonomen Geistes fassen will, gipfelt in diesem ü b e r k ü h n e n Anspruch der philosophischen Erkenntnis, rein aus dem eigenen Vermögen die alle Wirklichkeiten u n d den gesamten Wirklichkeitszusammenhang gestaltenden Grundformen der Vernunft-an-sich f ü r sich nachzuerzeugen.

3. Der neue Vernunftglaube greift aber auch, da doch die menschliche Vernunft mit der absoluten in der (ihr selbst noch zugänglichen) Wurzel identisch sein soll, von der Ganzheit des Erfahrbar-Wirklichen über auf die Ureinheit des Absoluten! Einheit des Absoluten und Heranreichen der philosophischen Erkenntnis an den Begriff des Absoluten ist nie bezweifelte Voraussetzung im Idealismus. Die „wahre Unendlichkeit", die Kant, als über alle quantitative Endlosigkeit zeiträumlicher Bestimmungen erhaben, i m Jenseits des Unerkennbaren unbestimmt schweben ließ, soll jetzt begriffen und mit dem Endlichen und dem Unendlichen sinnlich erfahrbarer Weltwirklichkeit einsichtig verbunden werden. Philosophie wird schließlich geradezu als Wissenschaft v o m Absoluten definiert. Dieser Begriff der philosophischen Erkenntnis ist so sehr die selbstverständliche Voraussetzung der Idealisten, daß ihre Fragestellung nach dem Absoluten geradezu die Wendung nehmen kann: wie m u ß das Absolute gedacht werden, wenn Philosophie als Wissen v o m Absoluten möglich sein soll — wobei das F a k t u m solcher Metaphysik ähnlich vorausgesetzt wird wie bei Kant das Faktum der Wissenschaft. Die Antwort darauf kennen wir: das Absolute muß Vernunft, muß Geist sein. Geistiges Sein und Leben faßt und durchschaut sich selbst und alles Geistige bis auf die Wurzel, es ist zuletzt nichts anderes als Sicherfassen, Sichdurchklären.

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D a m i t t r i t t der Idealismus in Z u s a m m e n h a n g u n d Zielgemeinschaft m i t der Religion, spez. der christlichen Religion, f ü r die Gott Geist ist u n d das Reich Gottes ein Reich der Geister; — vielmehr aus ihrer christlich-religiösen Grundbestimmtheit (die auch in K a n t s Metaphysik tief wirksam war) erwächst den idealistischen Denkern jener Begriff des Absoluten. I h r e Metaphysik will christliche Metaphysik sein, begrifflichphilosophische Durchklärung der absoluten W a h r h e i t , die in dem religiösen Leben des Christentums zur Offenbarung d r ä n g t . Die einheitliche I n t e n t i o n des ganzen Mittelalters u n d f a s t aller metaphysischer Denker der Neuzeit scheint den Idealisten j e t z t endlich ihrer endgültigen Erfüllung entgegenzureifen. Der neue kantische Z u g a n g : v o m Boden der V e r n u n f t selbst, spez. der sittlichen V e r n u n f t , den Weg zum „lebendigen" Gott zu nehmen, a n s t a t t v o m Boden der äußeren Welt—Moraltheologie a n s t a t t der Physikotheologie aller bisherigen Metaphysik, zuletzt des Aufklärungs-Deismus —, soll systematisch ausgebaut u n d ausgewertet werden. Die Gottesbeweise erhalten eine neue Bedeutung. Metaphysik ist die wahre Theo-logie. W a s die Religion n u r in der F o r m des Glaubens, Ahnens, Vorstellens, n u r in der Sprache des Gefühls u n d der Gleichnisse gibt, e r f a ß t Philosophie d u r c h den Begriff, i m Wissen, klärt es zur „ W i s s e n s c h a f t " . Die Metaphysik erhält die letzte u n d höchste Stelle in der Stufenleiter des absoluten Lebens: sie ist, über die religiöse Seinserfahrung u n d -Offenbarung hinaus, das wahre Sichergreifen des Absoluten selber, das Selbsterkennen u n d Sicherscheinen Gottes im Geiste des Menschen, i m Selbstbewußtsein der endlichen V e r n u n f t . So greift der Anspruch dieser spekulativen Metaphysik über die Gerechtsame der Religion nicht weniger hinaus wie über die der Wissenschaften. Niemals in der Geschichte der Philosophie ist mehr von der Metaphysik gefordert u n d erwartet worden.

4. Indem nun die neue Metaphysik sich als System der weltgestaltenden Vernunft den alten Seinssystemen entgegenstellt, tritt in den Mittelpunkt der ontologischen Gesetzlichkeiten jenes Prinzip, das eine breite Strömung der neueren Metaphysik unter dem Einfluß der mathematischen Naturwissenschaft zurückzudrängen, ja schließlich auszuschalten sich bemüht h a t t e : der Z w e c k . Er wird geradezu die oberste konstitutive Kategorie des spekulativen Denkens. Schon Kant ging ja, bei aller kritischen Bedenklichkeit in der Verwendung des Zweckbegriffs für das N a t u r b e g r e i f e n , in seiner ganzen V e r n u n f t k r i t i k aus v o n der metaphysischen Voraussetzung einer zweckvollen inneren Organisation der einheitlichen Vernunft selbst (als einer „für sich bestehenden Einheit, in welcher ein jedes Glied, wie in einem organisierten Körper, u m aller andern und alle u m eines willen da s i n d . . . " ) und ihres Gerichtetseins auf eine letzte, i m Praktischen gelegene „Endabsicht". Aus den metaphysischen Setzungen der Kritik der praktischen Vernunft und den metaphysischen Andeutungen der mit dem Zweckbegriffe ringenden Kritik der Urteilskraft wächst die Metaphysik der Nachkantianer als t e l e o l o g i s c h e r Idealismus hervor; — in ihrem fortgesetzten Ausgehen v o n der inneren Teleologie geistigen Lebens in wichtigen Zügen unterschieden gegen frühere Arten teleologischer Metaphysik (etwa des Aristoteles oder der mittelalterlichen Seinssysteme). Entsprechend will denn auch die „Deduktion", die diese aprioristische Metaphysik allenthalben zu geben beansprucht, nicht etwa ein Ableiten in Syllogismen oder ein kombinierend-konstruktives Folgern aus Axiomen sein, sondern (gemäß Kants neuem Weg der „transzendentalen Deduk-

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t i o n " ) Aufweis u n d nachzeichende Beschreibung eines Bedingungsgefüges, in dessen geistigem E i n h e i t s z u s a m m e n h a n g sich sinnvoll die lebendige Ffille des E r f a h r b a r e n a u s g e s t a l t e t . — Der höchste Begriff, in d e m diese m e t a p h y s i s c h e Teleologie gipfelt, ist die „ I d e e " . Der i m Z u s a m m e n h a n g m i t d e m S u b j e k t s - u n d Bewußtseinsidealismus e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e r P r ä g u n g herausgebildete m e t a p h y s i s c h e V e r n u n f t s p i r i t u a l i s m u s p r ä zisiert sich z u m I d e a l i s m u s d e r I d e e , i n d e m alles Dasein u n d Leben der V e r n u n f t ( u n d d a m i t des Wirklichen ü b e r h a u p t ) einzig b e s t i m m t u n d erfüllt g e d a c h t wird d u r c h das was sein u n d w e r d e n s o l l . Der überweltliche u n d übergeistige „ E n d z w e c k " ist das tiefste Seinsprinzip; alles Wirkliche ist W e r d e n auf i h n hin, lebendige Selbstverwirklichung der ewigen Idee. Das Nicht-Reale, nie d u r c h a u s E r r e i c h t e u n d E r f ü l l t e , in ewiger I d e a l i t ä t ü b e r allen Wirklichkeiten Schwebende gestaltet sich die Wirklichkeiten als die Wege zu sich selbst. A u c h hier wieder e r w e r b e n sich die F o r t f ü h r e r der k a n t i s c h e n Philosophie neu den Z u s a m m e n h a n g m i t der älteren T r a d i t i o n des a n t i k e n Idealismus, den K a n t selbst schon gespürt h a t t e . U n d wie i h r neuer Idealismus, alle R e a l i t ä t v o n Dingen an sich a b s t o ß e n d , z u m Spiritualismus der V e r n u n f t d u r c h s t i e ß , so e r h e b t er n u n a u c h , u n t e r A u s s c h a l t u n g jedes realen Gegenprinzips zur ewigen I d e e diese I d e e zur einzigen u n d a b s o l u t e n M a c h t , die n i c h t n u r alle Gegensätze u n d W i d e r s t ä n d e des Realen fraglos ü b e r w i n d e t , sondern in ihnen selber lebt, als i n den selbstgesetzten D u r c h g a n g s p u n k t e n ihrer Selbstverwirklichung. Alles Wirkliche, wirklich S t a n d h a l t e n d e u n d sich F o r t zeugende ist v e r n ü n f t i g ; u n t e r aller ä u ß e r e n Zufälligkeit u n d Willkür im N a t u r g e s c h e h e n u n d Menschengetriebe w a l t e t die „heilige Notwendigkeit 4 1 des a b s o l u t e n Telos. Der christlich-religiöse Vorsehungsglaube, auf das geistig-geschichtliche W e r d e n der Menschheit philosophisch zugespitzt (von LesBing u n d K a n t her) u n d w i e d e r u m v o n d a auf den ges a m t e n W e l t z u s a m m e n h a n g u n d W e l t p r o z e ß ausgeweitet, wird i m spekulativen D e n k e n d e r Idealisten begrifflich v e r t i e f t zu e i n e m neuen m e t a physischen O p t i m i s m u s v o n n i c h t geringerer K ü h n h e i t u n d Tragweite als d e m der Leibnizischen Theodizee. 5. E i n weiterer G r u n d z u g dieser V e r n u n f t m e t a p h y s i k ergibt sich mit der Besonderheit des v o n K a n t h e r a u f g e f ü h r t e n n e u e n V e r n u n f t b e g r i f f s : sofern nämlich „ V e r n u n f t " j e t z t n i c h t als statisches S y s t e m ewiger W a h r h e i t e n bzw. als eingeborener Besitz derselben in der substantiellb e h a r r e n d e n Menschenseele gedacht wird, sondern identisch sein soll in der Wurzel mit der gesetzgebenden t ä t i g e n F r e i h e i t u n d dem reinen W i l l e n , zu B l ü t e u n d F r u c h t a u f b r e c h e n d i m s e l b s t b e w u ß t e n Ich-Leben e r k e n n e n d e r u n d t ä t i g e r Intelligenzen. Die Idealisten vertiefen diesen Zug in K a n t zu einem radikalen m e t a p h y s i s c h e n A k t u a l i s m u s . Alles Sein ist Leben, A k t , reine T ä t i g k e i t , aus sich quellende schöpferische K r a f t , Freiheit. D e r Gegenpol des w a h r e n Idealismus ist der Dogmatism u s der Dinglichkeit, der alles Wirkliche u n d Überwirkliche, den Men-

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schengeist u n d selbst Gott als S u b s t a n z fassen will, als res cogitans oder als ein être, d a s d a n n a u c h der A k t i o n e n f ä h i g sei. „ L e b e n " wird n u n u m fassende ontologische Kategorie — L e b e n n i c h t i m Sinne des physischen Organismus, s o n d e r n i m Sinne geistigen Sichvollziehens, Sichentfaltens u n d Sichoffenbarens, m i t tiefgehendem (und d a n n a u c h b e w u ß t e m ) Anschluß an die christlich-religiösen Vorstellungen v o m lebendigen G o t t u n d v o m ewigen L e b e n . So s t e h t d e n n a u c h i m M i t t e l p u n k t des Weltgedankens j e t z t n i c h t m e h r die seiende N a t u r (zumal n i c h t — in der S t a r r h e i t der mechanistisch orientierten M e t a p h y s i k — als ein geschlossenes u n d ewig in sich gleiches „ S y s t e m n a c h Gesetzen"), sondern die werdende, zu i m m e r neuen schöpferischen F o r m e n d r ä n g e n d e G e s c h i c h t e . E s gehört zu den obersten auszeichnenden M o m e n t e n dieser M e t a p h y s i k u n d zu ihren höchsten Verdiensten, d a ß sie zuerst s y s t e m a t i s c h u n d in großem Stile Geschichte als m e t a p h y s i s c h e R e a l i t ä t begriffen u n d die geschichtlichen Bildungen des menschlichen Geistes ( R e c h t , S t a a t , sittliche G e m e i n s c h a f t , K u n s t , Religion) n a c h ihrer m e t a p h y s i s c h e n Bed e u t s a m k e i t u n d P r o b l e m a t i k u n t e r s u c h t h a t . Die Idealisten steigern die neue Perspektive d a n n sogleich z u m leitenden Prinzip der W e l t a n s c h a u u n g ü b e r h a u p t — a u c h darin wieder tief b e s t i m m t d u r c h christliche Daseinshaltungen u n d Vorstellungsweisen. Das Weltsein ü b e r h a u p t ist Leben, Prozeß, geschichtlicher F o r t g a n g . Das W e r d e n des Reiches Gottes ist n i c h t n u r Zielthema u n d Seinskern der „ G e i s t e r w e i t " , sondern das Wirkliche schlechthin ist E i n lebendig sich a u f b a u e n d e s „ R e i c h der Z w e c k e " , ein einziges Geschehen der S e l b s t o f f e n b a r u n g u n d Selbstverwirklichung der göttlichen Idee, des absoluten E n d z w e c k s . U n d d a Geschichte hier als E n t w i c k l u n g gedacht wird — E n t w i c k l u n g i m Sinne stetiger F o r t s c h r e i t u n g u n d fortgesetzter Aufgipfelung zu d e n E n d b e s t i m m u n g e n hin —, so e r h ä l t die Teleologie der idealistischen M e t a p h y s i k v o n hier aus einen auf alles Dasein übergreifenden entwicklungsgeschichtlichen Wesenszug, v o n d e m d a n n a u c h jener O p t i m i s m u s der V e r n u n f t u n d der Idee die neue evolutionistische F o r m einer geschichtsmetaphysischenTheodizee a n n i m m t . Das Wirkliche ist die E n t f a l t u n g des Absoluten (explicatio Dei) auf d e m Wege einer einzigen großen zielbestimmten Weltevolution, deren höchste Lebensschicht u n d S e l b s t d u r c h k l ä r u n g die Geschichte des Geistes i m W e r d e n der Menschheit darstellt. 6. Z u m Wesen solcher lebendigen S e l b s t e n t f a l t u n g gehört n u n aber a u c h , n a c h einer weiteren G r u n d ü b e r z e u g u n g der Idealisten, der ständige u n d i m m e r neue D u r c h g a n g d u r c h den Gegensatz, der ü b e r w i n d e n d e K a m p f m i t widerstehenden u n d w i d e r s t r e i t e n d e n G e g e n k r ä f t e n . K a n t s m e t a p h y s i s c h e r G e d a n k e v o m Seinsgesetz der Gegensätzlichkeit (s. o. S. 92) ist ihnen allen tief im Wesen eingewurzelt; u n d die H e r k u n f t ihres V e r n u n f t b e g r i f f s v o m Idealismus der Freiheit u n d des sittlich s t r e b e n d e n r i n g e n d e n Geistes, dessen Leben sich in der s t e t e n S p a n n u n g zwischen N a t u r u n d Freiheit, V e r n u n f t u n d Sinnlichkeit vollzieht, u n d i m m e r vor

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der absoluten Gegensätzlichkeit von G u t u n d Böse s t e h t , — h a t diesem Gegensatzgedanken ein äußerstes Gewicht verliehen. Wirkliches Leben der V e r n u n f t ist Ringen, Auseinandersetzung, K a m p f ; n u r a m Gegenwurf u n d an den W i d e r s t ä n d e n k o m m t der Geist auf seine eigene Tiefe, zu seiner vollen Klarheit u n d B e s t i m m t h e i t ; n u r aus den S p a l t u n g e n u n d T r e n n u n g e n wächst die lebendige erfüllte Einheit d e r V e r s ö h n u n g ; n u r i m D u r c h g a n g durch die Krisen der F e i n d s c h a f t u n d V e r n i c h t u n g reift die geschichtliche E n t w i c k l u n g . U n d w e n n d e n n die V e r n u n f t das einzige Ansich ist, so müssen alle G e g e n k r ä f t e u n d D a s e i n s s p a l t u n g e n aus ihr selber s t a m m e n , als selbstgesetzte Mittel u n d Wege der eigenen E n t f a l t u n g . — Dieser Gedanke, v o n der sittlichen V e r n u n f t sich a u s b r e i t e n d auf den Begriff des Geistes ü b e r h a u p t , n a c h allen seinen Selbstgestalt u n g e n u n d Erscheinungsweisen, von d a zugleich auf alles Erscheinende u n d Wirkliche des Weltseins übergreifend, soll endlich a u c h das Leben des Absoluten selbst d u r c h l e u c h t e n k ö n n e n . Die christliche P a r a d o x i e v o m H i n d u r c h g a n g des Göttlichen d u r c h Leiden u n d T o d im G o t t menschen J e s u s wird m e t a p h y s i s c h a u s g e w e r t e t ; der alte Gedanke von der Notwendigkeit des Negativen zur vollen O f f e n b a r u n g u n d höheren V e r k l ä r u n g des Positiven, Heilvollen, G u t e n (Paracelsus, Weigel, Böhme) t r i t t in den M i t t e l p u n k t des G e d a n k e n s v o m Weltprozesse, v o m H e r v o r g a n g des E n d l i c h e n , Bedingten, in sich Gegensätzlichen aus d e m Unendlichen u n d Absoluten. Die M e t a p h y s i k der a b s o l u t e n V e r n u n f t b r a u c h t die A n t i n o m i e n n i c h t m e h r zu s c h e u e n : sie n i m m t sie als n o t wendige M o m e n t e des absoluten Lebens in sich auf. Die „ D i a l e k t i k " der V e r n u n f t ist n i c h t (wie bei K a n t ) das Zeichen ihrer Grenze gegen unerk e n n b a r e s Ansich, sondern, in ihrer D u r c h f ü h r u n g , die höchste Volle n d u n g ihres Sichverstehens u n d d a m i t des m e t a p h y s i s c h e n Begreifens alles Seins u n d Daseins. Die neue Position spricht sich zugleich in den m e t h o d i s c h e n Besonderheiten der idealistischen Metaphysik aus. 1. I n d e m hier die V e r n u n f t in ihrem tiefsten Grunde in eins gesetzt wird mit der F r e i h e i t , der sittlichen zunächst und von da der produktiven Freiheit des Geistes Oberhaupt und der absoluten Idee, in ihrer ewigen Selbstentwicklung und Schöpfungs-Offenbarung, — wird das Gewebe der idealistischen Metaphysik allenthalben wesenhaft durchzogen von Momenten der I r r a t i o n a l i t ä t . Die neue Vern u n f t m e t a p h y s i k will kein Rationalismus sein; sie n i m m t den Irrationalismus K a n t s in ihre eigene Basis auf. Ihr hoher Anspruch an das spekulative, apriorisch „deduzierende" Denken m a c h t H a l t vor der Besonderheit und Individualität des Faktischen und des Geschichtlich-Unvorhersehbaren. Nur nach den allgemeinen Seinsformen u n d -Stufen, nach den alles umgreifenden Entwicklungszielen und -Gesetzen d u r c h s c h a u t sich die Vernunft im philosophischen Erkennen, nicht aber nach dem Sosein und der konkreten Daseinsfülle der einzelnen Gestaltungen. Das „ L e b e n " behält tiefe Selbständigkeit gegenüber der „ S p e k u l a t i o n " ; seine schöpferische Freiheit m u ß immer weiter ins Unvorhersehbare, nur mit der individuellen T a t des suchenden Menschen Ergreifbare vorstoßen. Die spekulierende Vernunft muß, ihrer Systemkraft und höchsten Selbstgewißheit ungeachtet, nach allen Richtungen doch auch stets an die Grenze kommen, wo sie nur noch a m Seienden und Wirklichen „die Unbegreiflichkeit begreifen" k a n n . — 2. Der neue metaphysische Aktualismus bringt, in seiner engen Verbindung m i t der Zentral-

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stellang des sich-erkennenden, sich selbst durchschauenden Geistes, eine nene Wertung der A n s c h a u u n g für die metaphysische Erkenntnis mit sich — in betontem Gegensatz rar bloß-diskursiven Begrifflichkeit und mittelbar-schließenden Erkenntnis des auf die Welt der Dinge and Substanzen eingestellten Rationalismas. Das Leben, Handeln, Sich-Vollziehen des Geistes ist in kein noch so dichtes Netz statischer Begriffe, abstrakter Definitionen and Schlußzusammenhänge einznfangen. Die „intellektuelle Anschauung" — geistige Selbstanschauung des Geistigen in seiner Spontaneität, in seiner Lebensganzheit und in seinen immanenten Sinnot wendigkeiten, zumUnterschiede von sinnlicher Anschauung der Dinge und Dingzustände durch äußere and innere Wahrnehmung —- ist Basis 10 alles metaphysischen Begreifen». Alle apriorische Erkenntnis und spekulative Deduktion setzt noch das unmittelbare Gewahrwerden des geistigen Lebenszusammenhangs, eine höhere nichtsinnliche „Erfahrung" gleichsam, die Selbsterfahrung der Vernunft voraus. 3. Und endlich führt die neue Auffassung vom geistigen Leben und von da des Seinsprozesses überhaupt, als wesenhaft im Gegensatz und Widerstreit durch Überwindung und erhöhende Synthese sich vollziehend, — zur Herausarbeitung des begrifflichen Verfahrens der d i a l e k t i s c h e n M e t h o d e , die aller bloß klassifizierend schichtenden Begriffsbildung, wie ebenso der rationalistisch konstruierenden Methodik der Zusammensetzung aus analytisch gewonnenen axiomatischen Elementen sich entgegenstellt. Das dialektische Verfahren soll die metaphysische Erkenntnis scharf unterscheiden von 20 allem Vorgehen der empirischen Einzelwissenschaften; in ihr präzisiert sich den Idealisten die Selbständigkeit und Eigenart der Metaphysik. Hier soll der Begriff fähig gemacht werden, die Genesis und die lebendige Entwicklung des Wirklichen in ihren innern Stadien zu durchleuchten, anstatt sich an die starren Dinglichkeiten und erstorbenen Resultate zu verhaften. Überall, nicht nur im sittlichen Selbstvollzng des menschlichen Geistes, ist das Sein in seinem Grande Leben, und Leben wiederum ein immer neues Umschlagen ins Gegensätzliche und wieder Sicherheben aus dem Gegensatz in höhere Einheitsfülle. Die neue metaphysische Position charakterisiert sich von der methodischen Seite her als „dialektischer Idealismus". 30

Literatur (s. auch o. S. 8): C. L. M i c h e l e t , Geschichte der letzten Systeme der Philosophiein Deutschland von Kant bis Hegel; Berlin 1837/38. Fr. H a r m s , Die Philosophie seit Kant; Berlin 1876. A. D r e w s , Die deutsche Spekulation seit Kant. 2. A. 1895. R. K r o n e r , Von Kant bis Hegel; Tübingen 1921—1924. N. H a r t m a n n , Die Philosophie des deutschen Idealismus; Berlin 1923 u. 1929. E. C a s s i r e r , Das Erkenntnisproblem, 3. Bd. Die nachkantischen Systeme; Berlin 1920. E. H i r s c h , Die idealistische Philosophie und das Christentum; Gütersloh 1926. 1. FICHTE.

A. DER IDEALISMUS DER FREIHEIT. Die Wissenschaftslehre von J . G. Fichte tritt auf als Durchführung der Kantischen Vernunftkritik zum vollendeten System der Transzendentalphilosophie. Ihre Unter40 suchungen sind zentriert auf den Begriff des Wissens; und faktisch sind es, auch noch in ihren späteren und spätesten Ausgestaltungen, zu einem großen Teil erkenntnistheoretische und bewußtseinsanalytische Forschungen, an denen Fichtes Denken arbeitet. So hat Fichte denn selbst zeitweise glauben können, sich streng in der daseinsfreien Sphäre einer reinen Wesenswissenschaft (entsprechend etwa der Mathematik) zu bewegen. In Wahrheit aber gilt hier in sehr verstärktem Maße, was schon bei Kant herausgearbeitet werden mußte: daß diese ganze Bewußtseins- und -Vernunftreflexion sich auf dem Boden metaphysischer Voraussetzungen bewegt und im Dienste einer metaphysischen DaBeinserkenntnis steht. Ganz offensichtlich wird das mit dem Moment des Durchbruchs zur „Synthesis der Geisterwelt" und zum Begriff des Absoluten (um 50 1799). Aber schon im Ausgang und Aufbau der ersten WL. steckt eine neue meta-

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physische Weltanschauung u n d eine neue Metaphysik der V e r n u n f t , die, in der Meinung, K a n t s eigentlichste Intentionen zu erfüllen, faktisch doch schon den Boden seiner kritisch zorflckhaltenden und vieles m i t Absicht in der Schwebe haltenden Systems verlaßt, wie sie denn aoch sich in entscheidenden P u n k t e n vom K a n t i s c h e n Weltbegriff und seiner Daseinsposition e n t f e r n t .

F ü r die H e r a u s b i l d u n g des „ I d e a l i s m u s " , als welcher F i cht es Philosophie gleich zu Beginn a u f t r i t t , sind zwei m e t a p h y s i s c h e T e n d e n z e n v o n ausschlaggebender B e d e u t u n g gewesen. E i n m a l : die R e a l i t ä t der Freiheit des Willens (und des Geistes ü b e r h a u p t ) gegen alle A n s p r ü c h e der Seinsd e t e r m i n a t i o n , sei sie n u n teleologischer (Leibniz-Wolff) oder n a t u r kausaler A r t (Spinoza), in einer d e m R a t i o n a l i s m u s a n E i n h e i t s k o n s e q u e n z in nichts n a c h s t e h e n d e r S y s t e m a t i k zu b e h a u p t e n . Z w e i t e n s : die m i t d e r ganzen n e u e r e n M e t a p h y s i k seit Descartes gegebene Schwierigkeit des Übergangs v o n Sein (Natursein, Materialität) in Wissen (Bewußtsein, Vorstellung) u n d v o m Wissen ins Sein (reale A u s w i r k u n g v o n Willensi n t e n t i o n e n i m N a t u r z u s a m m e n h a n g ) endgültig zu beseitigen. I n b e i d e n P u n k t e n d r ä n g t Fichtes Denkweise zur e x t r e m e n , s t r e n g monistischen E n t s c h e i d u n g . Alle Vermittlungsmöglichkeiten u n d ebenso alle kritischen R e s e r v a t i o n e n gegenüber l e t z t e n als i r r a t i o n a l v o r a u s z u s e t z e n d e n D a seinsgegebenheiten w e r d e n verworfen als i n k o n s e q u e n t e , r a t i o n a l u n h a l t b a r e K o m p r o m i s s e oder Ausweichungen. So f ü r das e r s t e : Freiheit u n d „ S e i n " (dingliches Sein, N a t u r r e a l i t ä t ) sind in letzter m e t a p h y s i s c h e r B e t r a c h t u n g u n v e r e i n b a r m i t e i n a n d e r . I s t die Dingwelt real, d a n n ist die einzige Konsequenz der „ F a t a l i s m u s " ; der Mechanismus des W e l t z u s a m m e n h a n g s e r h ä l t absolute Macht ü b e r d e n M e n s c h e n ; wie die Dinge e i n a n d e r n o t w e n d i g b e s t i m m e n , so bes t i m m e n sie a u c h die Vorstellungen u n d d u r c h sie d e n Willen. Aller „ D o g m a t i s m u s " des Seins, j e d e r a u c h noch so e i n g e s c h r ä n k t e u n d v e r hüllte Realismus der N a t u r u n d irgendwelcher an-sich-seiender Dinge f ü h r t unausweichlich den s t r e n g e n D e t e r m i n i s m u s m i t sich. D a s Freiheitsleben u n d die schöpferische H a n d e l n s f ä h i g k e i t des Geistes geht verloren a n die t o t e Dinglichkeit u n d ihre festgelegte O r d n u n g . Der einzig mögliche Ausweg ist n a c h F i c h t e : die schlechthin entgegengesetzte R e a l i t ä t s t h e s e . Die Freiheit (Freiheit des Willens u n d des Geistes ü b e r h a u p t ) ist das einzige Ansich. Auf sie ist alle Wirklichkeit der Dinge „ a u f g e t r a g e n " . Alle vorgeblichen Seins- u n d Naturgesetzlichkeiten müssen als i m m a n e n t e S e l b s t b e s t i m m u n g e n der a u t o n o m e n V e r n u n f t in ihrer reinen absoluten T ä t i g k e i t v e r s t a n d e n w e r d e n ; der u n s als eigenständige R e a l i t ä t erschein e n d e N a t u r z u s a m m e n h a n g ist in W a h r h e i t i m m a n e n t e s P r o d u k t eines tiefer gelegenen u n d wirklich n u n aus sich selbst l e b e n d e n u n d mit der Freiheit innerlichst v e r e i n t e n „Mechanismus des B e w u ß t s e i n s " ! Philosophie als wirkliche F u n d a m e n t a l w i s s e n s c h a f t ist d e m n a c h n i c h t Aufs u c h u n g v o n Substanzprinzipien des ä u ß e r e n W e l t b a u e s , sondern innere D u r c h l e u c h t u n g der L e b e n s f o r m e n u n d F u n k t i o n s n o t w e n d i g k e i t e n der

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Vernunft, des freien Ich, des weltanschauenden Bewußtseins — zuletzt und im ganzen „eine einzige fortlaufende A n a l y s e d e r F r e i h e i t " . An die Stelle der alten Ontologie tritt die neue Wesenlehre und Wissenslehre der durch keine äußere Bewußtseinstranszendenz von irgendwelchen „Dingen" eingeschränkten, rein aus sich seihst und in sich selber tätigen Vernunft. Der reine Idealismus der Freiheit ist der einzig mögliche, in strenger Konsequenz durchzuführende Gegenweg zum „Dogmatismus" des alldeterminierenden Seinszusammenhangs. Zum zweiten: Der Übergang von Materie in Bewußtsein und umgekehrt ist etwas vollkommen Undenkbares. Er wird zwar immerfort behauptet, aber es bleibt bei bloßen Worten ohne erklärenden, ja ohne verständlichen Sinn. Bewußtsein ist keine Wachstafel und kein Spiegel, sondern wissende Tätigkeit, Sehen, lebendiges Auge, Ich! Äußere Einwirkung aber (wenn unter dem Worte nur etwas Bestimmtes gedacht werden soll) ist immer mechanisch-materieller Art. Jeder Realismus bewußtseinstranszendenter und bewußtseinsaffizierender Dinge müßte konsequenterweise bis zum Materialismus durchstoßen, der auch die Vorstellungen und das Vorstellende, alles Wissens- und Willensleben zu räumlichen Dingen und Dingwirkungen umdeutet. Auch hier verlieren sich die Philosophen immer in Kompromisse und Halbheiten. Selbst Berkeleys ausdrücklich immaterialistisch angelegter Idealismus steht, wenn er die Einheit der Weltvorstellungen in allen endlichen Geistern erklären will durch eine äußere Einwirkung Gottes auf dieselben, noch unter der Suggestion des Ding-Naturalismus! Jeder Begriff des Affizierens und des äußeren Ansich vernichtet die autonome Ursprünglichkeit und Selbsttätigkeit des Geistigen. Die einzige konsequent durchführbare Wirklichkeitsauffassung ist auch hier der strenge (wirklich immaterialistische) Idealismus. — Erkennen ist nicht ein rätselhafter Übergang selbständigen Außenseins ins Innere des Bewußtseins; Handeln ist nicht ein unbegreifliches Heraustreten des Ich in eine materielle Sphäre. In letzter metaphysischer Betrachtung vielmehr, die sich über die Gebundenheit empirisch-sinnlichen Wirklichkeitsvorstellens zu erheben weiß, muß alles Wissen als ein immanentes Umsichselberwissen, alles Handeln als Aufsichselberhandeln der in Bewußtsein und Selbstbewußtsein sich durchleuchtenden Vernunft begriffen werden! Die Welt der „Dinge" ist in Wahrheit W e l t - V o r s t e l l u n g , Welt-Anschauung der freien in sich kreisenden und aus sich lebenden Intelligenz. Das Ich sieht in sich selbst die scheinbar eigenständige materielle Umwelt, es schaut sie gleichsam nur aus sich heraus. Das Sein, auf das das Wissen zielt, hat seinen Grund im Sein (bzw. im Vollzug) des Wissens selber. Äußere Wechselwirkung zwischen Geist und Materie gibt es in Wahrheit nicht, sondern nur immanente Wechselwirkung der bedingenden Grundfunktionen des Ichlebens und -Bewußtseins in der Selbstaffektion der tätigen Vernunft.

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So treiben beide Motive vereint zu einem Idealismus der unbedingten Freiheit und des reinen „Wissens", der keinerlei dinglich-naturhafte R e a l i t ä t neben d e m Selbstvollzug des Geistigen bestehen lassen will. Fichte scheut nicht vor der extremen Position zurück. Sein Lebenswille wurzelt tief in dem Pathos der sittlichen Autonomie u n d des im Selbstbewußtsein sich d u r c h k l i r e n d e n Geistes; und sein Denkwille fordert schlechthin durchgreifende Entscheidung. I h m ist der neue S t a n d p u n k t , nachdem er ihn einmal (in plötzlich ihn überfallender Intuition) erfaßt, die sicherste u n d allein mögliche Basis des Philosophierens; und alles hartnackige Sichwehren des gemeinen Menschenverstandes und des philosophischen Realismus gegen die Paradoxie eines solchen Idealismus kann er n u n nur noch als charakterlich bedingtes Verhaftetsein an die Scheinwirklichkeit des Sinnlichen und Materiellen verstehen. Wer wirklich u m die ursprüngliche R e a l i t ä t des Geistes und der Freiheit in sich weiß, und nicht gewillt ist, sie preiszugeben a n die Denkgewohnheiten sinnlicher Weltvorstellungen, der m u ß — will er nur k o n s e q u e n t sein — den reinen Idealismus zur Basis seines ganzen Wirklichkeitsverstehens m a c h e n . Zuletzt h i n g t eben, was f ü r eine Philosophie m a n wähle, davon ab, was f ü r ein Mensch man ist — bzw. worin man in sich l e b t : in der Freiheit des Ich und den Zielen des Geistes, oder aber nur in den Bindungen und Gegebenheiten des Sinnlich-Materiellen.

Die A u f g a b e der Transzendentalphilosophie — dieses höchstgesteigerten Umsichwissens u n d Aufsichhandelns der menschlichen V e r n u n f t — sieht F i c h t e n u n v o m n e u e n S t a n d p u n k t aus h i e r i n : v o m E i n e n obers t e n Prinzip der Freiheit u n d des Ich aus die ganze Fülle der B e w u ß t s e i n s f o r m e n in einheitlicher D e d u k t i o n als inneren INotwendigkeitszusammenh a n g zu fassen. D e r ganze „ M e c h a n i s m u s des B e w u ß t s e i n s " , bis in alle Daseinsgestaltungen der sinnlichen W e l t - A n s c h a u u n g u n d des IchBewußtseins hinein, soll als lebendige Selbstorganisation u n d innere Selbstdifferenzierung der t ä t i g e n V e r n u n f t begriffen w e r d e n . Der l e i t e n d e G e d a n k e dabei ist, d a ß alles Bewußtseinsleben sich z u s a m m e n f a ß t u n d gipfelt i m S e l b s t b e w u ß t s e i n , i m lebendigen Vollzug des „ I c h " — dies n i c h t allein als t h e o r e t i s c h - k o n t e m p l a t i v e s Vonsichwissen u n d Selbsta n s c h a u e n v e r s t a n d e n , sondern ebensosehr j a ursprünglicher als Selbstbesinnung, Selbsteinwirkung, Selbstverwirklichung der p r a k t i s c h e n Intelligenz, im sittlichen Ringen. Dies ist die große T a t der F i c h t e s c h e n Metap h y s i k in i h r e m A u s g a n g : das W u n d e r des I c h - B e w u ß t s e i n s ganz in das Z e n t r u m des philosophischen Interesses gestellt zu h a b e n . (Selbst bei Augustin u n d wieder bei Descartes w a r das Ich schließlich doch D u r c h g a n g s s p h ä r e f ü r andere Seinsintentionen!) Mit F i c h t e t r i t t die in der neueren Philosophie i m m e r dringlicher gewordene A u f g a b e einer P h ä nomenologie u n d M e t a p h y s i k des Ich in ihr entscheidendes S t a d i u m . Das Ich in seinem rätselvollen I n e i n a n d e r von Darleben u n d auf sich Z u r ü c k bezogensein, von t ä t i g e m Sichsetzen (z. B. wollend S i c h b e s t i m m e n ) u n d Sichanschauen in diesem Setzen — dieses Ich soll n u n in allen seinen i m m a n e n t e n A u f b a u f u n k t i o n e n d u r c h l e u c h t e t u n d d a m i t zugleich d a n n alles geistige Sein u n d Leben ü b e r h a u p t v o n diesem S i n n z u s a m m e n h a n g aus einheitlich v e r s t a n d e n w e r d e n . Vom I c h - B e w u ß t s e i n aus werden alle F u n k t i o n e n des e r k e n n e n d e n u n d h a n d e l n d e n Bewußtseins, die schon bei K a n t sich gleichsam ungewollt in eine S t u f e n o r d n u n g gegliedert h a t t e n , von F i c h t e als s t r e n g ein-

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heitlicher, lebendig sich vollziehender S c h i c h t u n g s z u s a m m e n h a n g griffen. Die Transzendentalphilosophie h a t die „ p r a g m a t i s c h e s c h i c h t e d e s S e l b s t b e w u ß t s e i n s " zu beschreiben — d . i. ein stiges Geschehen u n d Sichentwickeln, das w e s e n h a f t verschieden ist psychologisch-zeitlichen Prozessen der inneren E r f a h r u n g .

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Alles Zeitbewußtsein, wie Überhaupt jedes konkrete Seins- und UmweltbewuBtsein gestaltet sich selbst erst heraus in jenem Wesenswerden der Bewußtseinsweisen. Wenn die Seelenlehre des IB. Jahrhunderts in ihrem Streben nach methodischer Grundlegung und Vollendung der Geisteswissenschaften dahin tendierte, das Geistige in einen psychologischen Naturmechanismus aufzulösen, so stellt nun Fichtes neue Metaphysik des Geistes ihre transzendentalen Untersuchungen unter den Titelbegriff einer (unzeitlichen) G e s c h i c h t e des Bewußtseins. Genetisches Verstehen geistiger LebenBZUsammenhange soll in dem neuen Aufbau an die Stelle kausaler (den Wirkungszusammenh&ngen der Dinge analoger) psychischer Abläufe treten.

Des n ä h e r e n v e r s t e h t n u n F i c h t e diesen erzeugenden Z u s a m m e n h a n g des Geistes als eine d i a l e k t i s c h e E n t w i c k l u n g . Von j e d e r S t u f e u n d F u n k t i o n aus t r e i b t ein innerer W i d e r s p r u c h , eine i n t e r n e A n t i n o m i k hinü b e r zur n ä c h s t h ö h e r e n , bis i m vollendeten k o n k r e t e n Selbstbewußtsein die volle S y n t h e s i s erreicht ist. Von d a erscheinen d a n n alle B e w u ß t s e m s gestalten (z. B. der Welt-Anschauung) als bloße Wege u n d Mittel des Selbstbewußtseins, alle S u b j e k t - O b j e k t - B e z i e h u n g e n (z. B. der E r k e n n t n i s ) als notwendige U m w e g e u n d V o r f o r m e n des expliziten U m sichselberwissens u n d Sichzusichentfaltens des Ich. — Die Basis aber dieses S c h i c h t e n b a u e s , in d e m die Gegensätze des S u b j e k t i v e n u n d Obj e k t i v e n oder des Idealen u n d Realen, die Gegensätze v o n W a h r n e h m u n g u n d Ding, von I c h u n d U m w e l t , Freiheit u n d N a t u r (als W i d e r s t a n d s u n d W i r k u n g s s p h ä r e der Freiheit) f o r t s c h r e i t e n d sich h e r a u s g e s t a l t e n bis zu j e n e r i n n e r s t e n S p a n n u n g u n d S p a l t u n g des Ich, wo das selbstb e w u ß t e S u b j e k t explicite sich auf sich selbst als O b j e k t z u r ü c k b e z i e h t , — die Basis bildet die noch ungeschiedene absolute E i n h e i t des „ S u b j e k t O b j e k t " , V e r n u n f t als reine „ I c h h e i t " vor allem I c h - B e w u ß t s e i n , als reine „ T a t h a n d l u n g " vor allen v o r f i n d b a r e n (in W a h r h e i t v o m V e r n u n f t prozesse selbst gesetzten) T a t s a c h e n des Bewußtseins. Diese S u b j e k t O b j e k t - I d e n t i t ä t liegt allem Bewußtsein in i h m selbst z u g r u n d e . Sie ist d e r t ä t i g e , selbst nicht m e h r in ein gegenständliches B e w u ß t s e i n zu erh e b e n d e U r s p r u n g all seiner Selbstentwicklungen. Der Philosoph k a n n hier n u r noch, v o n der „intellektuellen A n s c h a u u n g " der expliziten Icht ä t i g k e i t aus (d. h. von j e n e m geistigen Vollzugserfassen des s p o n t a n e n I c h a u s , das s t r e n g zu unterscheiden ist von j e d e r S e l b s t w a h r n e h m u n g psychischer Z u s t ä n d i g k e i t e n u n d T a t s a c h e n i m inneren Sinn!) rückschließen auf den absoluten inneren E i n h e i t s g r u n d der geistigen F u n k tionen. An diesem Punkte wird es besonders deutlich, wie in Fichtes Denken durch die idealistische Erkenntnistheorie eine spiritualistische Metaphysik durchbricht. Alles Bewußtseinsleben mit seinen Vorstellungen und Strebungen erwächst und spielt sich

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ab anf dem Grande eines v o r b e w u ß t e n geistigen Tatprinzips, das selbst also nicht Bild nnd Vorstellung, sondern reale produktive Kraft ist! Leibniz' Metaphysik des unbewußten Fundaments and Hintergrunds in allen bewußten Akten der Ichmonade findet jetzt, auf dem durchaus veränderten Boden der Transzendentalphilosophie und in der Auswirkung ganz anderer Gedankengange, eine bedeutsame Fortsetzung. Bewußtsein und Selbstbewußtsein zeigen den Geist in seiner Entfaltung und BlQte; aber seine Wurzeleinheit und die all jene Bildungen hervortreibende Realdynamik liegt wesenhaft im Unbewußten. — Zugleich wird der bei Leibniz sich anbahnende A k t u a l i s m u s hier, im Rahmen der reinen, von allen Naturbegriffen sich abwendenden Philosophie des Geistes, aufs Äußerste gesteigert. Diese „Tathandlung" der vorbewußten Ichheit ist reines, allen Substanzen und jeder Art von dinglichem Sein enthobenes und vorausgelegenes T u n (Tun ohne Täter, ohne Tätiges!). Vernunft, Intelligenz ist reines Sichvollziehen, Sichsetzen schlechthin, aus sich fiberquellende nnd auf sich zurückgehende Selbsttätigkeit, absolute in sich selber schwebende Aktualität. Das Handeln liegt dem „Sein" voraus. Geistiges Sein ist nicht Sein, sondern Leben, das sich in Bildungen und durch Gestaltungen hindurch vollzieht, entwickelt; „Sein" und „Substanz" sind immer nur Produkte und Durchgangsphasen solchen Lebens. Daher ist auch das wahrhaft Wirkliche und Ursprüngliche des Geistes nur vom Selbstvollzug des lebendig-tätigen Bewußtseins aus, von der dem Philosophierenden anzumutenden, nie aber durch Beweisgang und Tatsachenaufweis erzwingbaren T a t der „intellektuellen Anschauung" aus zu erfassen.

Von dieser Basis der v o r b e w u ß t e n A k t u a l i t ä t aus lösen sich f ü r F i c h t e d a n n die F r a g e n n a c h Wesen, Genesis u n d R e a l i t ä t s b e d e u t u n g d e r A u ß e n welt, der S p h ä r e der N a t u r , des Räumlich-Materiellen. I h r scheinbares Ansichsein ist idealistisch a u f g e h o b e n w o r d e n . Der Schein aber des A n sichseins — den n u n d o c h keine M a c h t der philosophischen E r k e n n t n i s aus d e m lebendigen B e w u ß t s e i n streichen k a n n u n d auf d e m alles konk r e t e L e b e n unserer V e r n u n f t u n d unseres t ä t i g e n Selbstbewußtseins sich uns a u f b a u t — dieser Schein selbst e r k l ä r t sich j e t z t d u r c h die Verb i n d u n g m i t der u r s p r ü n g l i c h e n U n b e w u ß t h e i t der T a t h a n d l u n g . Die „ p r o d u k t i v e E i n b i l d u n g s k r a f t " , das theoretische F u n d a m e n t a l vermögen der V e r n u n f t , stellt eine gegenständliche U m w e l t v o r uns hin, so d a ß wir die P r o d u k t e a n s c h a u e n , v o m P r o d u z i e r e n selber a b e r kein B e w u ß t s e i n h a b e n . Das h i n a u s s c h a u e n d e Auge sieht sich selber nicht in seinem S c h a u e n ; es ist g e b a n n t ins H i n g e s c h a u t e . E r s t die a b s t r a h i e r e n d e Reflexion des Philosophen s t ö ß t d u r c h diese Schicht d e r gleichsam zu T a t - S a c h e n u n d C e g e n - s t ä n d e n des Bewußtseins g e r o n n e n e n P r o d u k t e h i n d u r c h auf die u n b e w u ß t e P r o d u k t i o n . So ist die räumlich-dingliche Außenwelt bloße E r s c h e i n u n g — u n d eben n i c h t E r s c h e i n u n g von u n b e k a n n t e n ä u ß e r e n Dingen a n sich, s o n d e r n reine Bildwelt d e r p r o d u k t i v e n V e r n u n f t in i h r e m S e l b s t a u f b a u z u m freien s e l b s t b e w u ß t e n Ich. A u c h der Leib, a n den d a s I c h g e b u n d e n sich v o r f i n d e t , ist bloße E r scheinung u n d H i n s c h a u u n g . Das dualistische S c h e m a der n e u e r e n Metap h y s i k (das Schema von Wechselwirkung oder v o n Parallelismus) löst sich hier auf zugunsten einer idealistisch v e r s t a n d e n e n I d e n t i t ä t u n d eines von d a ermöglichten n e u e n Verständnisses f ü r die i n t i m e u n d u n m i t t e l b a r e E i n h e i t des Leibseelischen: das Leibliche ist i m m e r nur er-

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scheinende Außenseite des Geistes f ü r sein eigenes Sicherschauen, d e r Leib ist n i c h t s als Ausdrucksbild, verdinglichte Selbstdarstellung des I n n e r e n im „ ä u ß e r e n S i n n " . W a s aber diese Erscheinungswelt s t r e n g u n t e r s c h e i d e t v o n aller Scheinwirklichkeit der T r ä u m e , das ist der t r a n s z e n d e n t a l e Notwendigk e i t s c h a r a k t e r jener P r o d u k t i o n ! Die „ W e l t " ist n i c h t Vorstellung des willkürlich in E i n b i l d u n g e n spielenden Ich, sondern das I c h - B e w u ß t s e i n seinerseits ist, seinem ganzen B e s t ä n d e n a c h , w e s e n h a f t b e d i n g t d u r c h die in j e n e r W e l t h i n s c h a u u n g konkreszierenden n o t w e n d i g e n S e t z u n g e n der v o r b e w u ß t e n Intelligenz in ihrem t r a n s z e n d e n t a l e n „ M e c h a n i s m u s " . — Der tiefere geistige Sinn a b e r , u n d d a m i t die w a h r h a f t e R e a l - „ B e d e u t u n g " j e n e r A n s c h a u u n g e n u n d Bilder des W e l t b e w u ß t s e i n s liegt in d e r E n d b e s t i m m u n g der V e r n u n f t als p r a k t i s c h e r ! J e n e „ m i t d e m G e f ü h l der N o t w e n d i g k e i t b e g l e i t e t e n " Ding- u n d Seinsvorstellungen bilden die n o t w e n d i g e U m w e l t der sittlichen Freiheit, der t ä t i g e n Selbstbestimm u n g ! Freiheit u n d Freiheitsbewußtsein setzen S c h r a n k e u n d Widers t a n d v o r a u s . Sittliches S t r e b e n ist i m m e r ein Ü b e r w i n d e n v o n Gegens t e h e n d e m ; sittliche Zielideen e n t z ü n d e n sich n u r i m Losreißen v o n gegebenen B i n d u n g e n . Die (hingeschaute) W e l t ist d a s v e r s i n n l i c h t e M a t e r i a l e d e r P f l i c h t e r f ü l l u n g ; d a r i n u n d d a r i n allein liegt i h r e „ R e a l i t ä t " . W i r k l i c h k e i t a n s c h a u u n g e n sind n i c h t leere E i n b i l d u n g e n , s o n d e r n b e d e u t u n g s e r f ü l l t e , d e m Sinn des geistigen Lebens n o t w e n d i g eing e f ü g t e Setzungen der s t u f e n f ö r m i g sich z u m sittlichen F r e i h e i t s b e w u ß t sein h i n a u f o r g a n i s i e r e n d e n V e r n u n f t . I n dieser t e l e o l o g i s c h e n Bes t i m m t h e i t u n d F u n k t i o n h a t die N a t u r , als gegebene Welt der Sinnlichkeit, als Inbegriff fester B e s t i m m t h e i t e n u n d widerständlicher Dinge, ihre spezifische Wirklichkeit i m übergreifenden R a h m e n der geistigen A k t u a l i t ä t . D e r Idealismus d e r Freiheit will, bei aller A b s t o ß u n g d e r D i n g a n s i c h - R e a l i t ä t , d e n n o c h kein Traumillusionismus sein, sondern Realidealismus. Das N a t u r h a f t - W i r k l i c h e wird n i c h t e n t w e r t e t , sondern soll in seiner eigentlichen tieferen B e d e u t s a m k e i t gewürdigt werden. Die aber liegt n a c h F i c h t e e b e n in unserer sittlichen B e s t i m m u n g . — Der K a n t i sche P r i m a t der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t ist so z u m t r a g e n d e n Seinsprinzip der idealistischen M e t a p h y s i k geworden. D a m i t ist n u n a u c h schon auf den v o l u n t a r i s t i s c h e n K e r n in F i c h t e s M e t a p h y s i k des Geistes hingewiesen. Der Idealismus der Freiheit l ä u f t h i n a u s auf eine M e t a p h y s i k des sittlich ringenden Willens. I n u n s e r m Wollensbewußtsein k o m m t jenes I n e i n a n d e r v o n realer u n d idealer T ä t i g k e i t oder v o n T a t u n d Schauen, das in allen Selbstentfalt u n g e n u n d P r o d u k t i o n e n der Ichheit w i r k s a m ist, z u m d e u t l i c h s t e n Ausd r u c k . I m willentlichen Sichbilden, Sichmachen, Sicherheben des sittlichen C h a r a k t e r s zeigt die ursprüngliche T a t h a n d l u n g sich in i h r e r eigensten A u s p r ä g u n g u n d Vollendung; d a ß hier das H a n d e l n vor d e m Sein, die T a t vor der Gestalt s t e h t , wird selbst d e m unphilosophischen

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Bewußtsein spürbar. Die schöpferische Agilität eines zu immer neuen Idealsetzungen und -Verwirklichungen vortreibenden Willens steht hinter aller Realität des Bewußtseins und seiner gegenständlichen Erscheinungen. Die produktive Einbildungskraft der WirklichkeitsanBchauungen ist nur ein Derivat der „produktiven Bildungskraft" des Geistes überhaupt, dessen Freiheit sich tätig immer neu losreißt vom jeweils Gegebenen und auf neue Zwecke des Wollens und Handelns hindrängt. Und so ist denn das letztbestimmende Prinzip alles Seins bzw. alles Lebens (auf dem das „ S e i n " beruht) das Sollen, die ewige I d e e , der sittliche Endzweck als das unendlich ferne Ziel eines nie aufhörenden unendlichen und absoluten Willensstrebens. Der voluntaristische Spiritualismus Fichtes vollendet sich zum metaphysischen Idealismus der ethischen Idee. B. DIE SYNTHESIS DER GEISTERWELT. Die erste Fassung des Systems (die „Grundlage") blieb stehen bei der allgemeinen Deduktion der Grundfunktionen des Bewußtseins überhaupt aus dem Prinzip der Ichheit. Erst die Durchführung treibt hinaus auf den Begriff des wirklichen konkreten Selbstbewußtseins, das doch das eigentliche Resultat der dialektischen Entwicklungen sein soll. Jetzt, mit der Ausbildung der Rechts- und Sittenlehre, tritt das i n d i v i d u e l l e I c h in die Mitte der Betrachtung. Aber damit kommt dann auch schon eine neue Problematik herauf, die Fichte zwingt, tiefer noch als bisher von der immanent-transzendentalen Analyse des Bewußtseins aus rückzufragen nach den metaphysischen Seinsfundamenten des geistigen Lebens. Zum Selbstbewußtsein des individuellen Ich gehört, wie Fichte darlegt, wesensmäßig das Bewußtsein des fremden Ich, das Du. Konkrete Freiheit und Willensbestimmtheit erwächst nur in der unmittelbaren Wechselwirkung und tätigen Auseinandersetzung des individuellen Vernunftwesens mit anderen geistigen Individuen. Nun genügt es aber nicht, vom Standpunkt des einzelnen Ichbewußtseins aus das Wissen um die andern Iche als notwendige Handlung des Bewußtseins zu „deduzieren", so wie vorher ganz allgemein die Gegenstands- und WeltAnschauung aus den notwendigen Selbstentfaltungen der Ichheit abgeleitet wurde. Das fremde Ich, die Vielheit geistiger Wesen außer mir hat eine völlig andere Seinsrealität und Selbstheit mir gegenüber, als sie der materiellen Außenwelt zukommt. Wenn Fichtes Idealismus nicht zurückscheut vor der extremen Auflösung der Naturrealität in eine selbstgesetzte innere Notwendigkeitsfunktion des Geistes — so liegt ihm doch andererseits nichts ferner, als ein Übergang zu der Absurdität des Solipsismus. Das ethische Pathos des Systems ist tief verwurzelt in der metaphysischen Überzeugung von der fundamentalen Realität der „Geisterweit" : jenes Kantischen Reiches vernünftiger Wesen, als eines sittlichen Zusammenhangs von freien, durch Ein übergreifendes Vernunftgesetz

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wechselseitig a u f e i n a n d e r h i n g e o r d n e t e n Intelligenzen! W e n n die dingliche N a t u r b l o ß als das Materiale unserer P f l i c h t e r f ü l l u n g anzusehen u n d zu b e h a n d e l n ist, ihre „ R e a l i t ä t " also n u r teleologisch-relativ ist auf die i m m a n e n t e S e l b s t e n t f a l t u n g der sittlichen V e r n u n f t — so müssen doch, n u n e b e n gerade v o n der ethischen B e d e u t u n g u n d S t r u k t u r des Geistes her, f ü r j e d e s freie I n d i v i d u u m die a n d e r n Freiheitswesen volles selbstzweckliches Eigendasein h a b e n ! Das Ich m u ß die a n d e r n I c h e a u ß e r i h m n i c h t n u r in sich d e n k e n oder a n s c h a u e n (wie die dingliche A u ß e n welt), s o n d e r n es s t e h t auch in lebendigem R e a l k o n t a k t , in sittlichgeistiger W e c h s e l w i r k u n g mit i h n e n . — Also sind die S t u f e n u n d Synt h e s e n des V e r n u n f t s y s t e m s n i c h t schon alle dargelegt mit d e m bisherigen Aufweis der ineinanderspielenden F u n k t i o n e n der V e r n u n f t u n d des B e w u ß t s e i n s ü b e r h a u p t ; die höchste Synthesis, die „ S y n t h e s i s der Geis t e r w e i t " m u ß n o c h vollzogen w e r d e n : der N e x u s oder das geistige „ B a n d " zwischen d e n individuellen Freiheits- u n d Bewußtseinswesen ist als ein „ W e l t " - Z u s a m m e n h a n g von höherer, n i c h t sinnlich-räumlicher, A r t s y n t h e t i s c h zu begreifen. Diese neue „ S y n t h e s i s " des „ S y s t e m s der intelligiblen W e l t " greift weit hinaus über die I m m a n e n z e r k e n n t n i s t h e o r e t i scher R e f l e x i o n e n ; der ontologische Z u s a m m e n h a n g s g e d a n k e , der j a a u c h in K a n t s Synthesisbegriff noch hier u n d d a d u r c h k l i n g t , d r ä n g t wieder in d e n V o r d e r g r u n d . N i c h t u m das Ineinandergreifen gegenstandskons t i t u i e r e n d e r B e w u ß t s e i n s f u n k t i o n e n h a n d e l t es sich hier, sondern u m die ü b e r g r e i f e n d e „ V e r e i n i g u n g u n d u n m i t t e l b a r e Wechselwirkung mehrerer selbständiger u n d u n a b h ä n g i g e r Willen m i t e i n a n d e r " . Die W L . schreitet v o n der t r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i s c h e n Bewußtseinsanalyse f o r t zur ontologischen K o n s t r u k t i o n ; — in K a n t i s c h e r S p r a c h e : von der K r i t i k u n d d e m S y s t e m d e r reinen V e r n u n f t zur p r a k t i s c h - d o g m a t i s c h e n Metap h y s i k . F r a g e n , die K a n t ganz in der Schwebe ließ, t r e t e n n u n in den V o r d e r g r u n d , z. B . diese: welche R e a l i t ä t s a r t der „ V e r n u n f t " ü b e r h a u p t oder der „ I n t e l l i g e n z " z u k o m m t in Hinsicht auf das Dasein der „vern ü n f t i g e n W e s e n " , der „ I n t e l l i g e n z e n " ; oder in welchem Sinne es vers t a n d e n w e r d e n m u ß , d a ß das Gesetz der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t den Einh e i t s z u s a m m e n h a n g der intelligiblen Welt b e g r ü n d e (in Analogie zum A t t r a k t i o n s g e s e t z d e r materiellen Welt). Eine Fülle von Problemen und bisher unangegriffenen Schwierigkeiten steht hier vor Fichte. Da er der erste ist, der das Problem des fremden Ich und des Umeinanderwissens freier Ichwesen erkenntnistheoretisch wirklich aufgerollt h a t (während die Denker der Neuzeit, t r o t z allen Ausgangs vom individuellen Selbstbewußtsein, doch immer beim P r o b l e m der Erkenntnis der „ A u ß e n w e l t " im materiellen Sinne stehen blieben, selbst Berkeley noch!), so steht n u n auch die metaphysische Frage vom geistigen W i r k u n g s z u s a m m e n h a n g mit einer vorher nie erlebten W u c h t vor ihm. Die Schwierigkeiten spitzen sich dabei im R a h m e n des reinen Idealismus und Spiritualismus der Freiheit noch besonders zu: sofern nämlich einerseits alle materielle Vermittlung (Wechselbezug der geistigen Wesen vermittels der Kausalzusammenhänge mit und in ihrer leiblich-naturhaften Existenz) j e t z t ausgeschlossen, andererseits auch der LOsungsweg der prästabilierten Harmonie als freiheitgefährdend verworfen werden m u ß t e . U w d b . d. Phil. I .

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Gesucht wird hier ein Ordnung«- a n d Wirkungs Zusammenhang von völlig a n d e r e r Art, als wir ihn sonst in unseren Natur- und Seinsbegriffen d e n k e n ; er m u ß rein geistig, aber dennoch nicht bloß-ideell, sondern real-dynamisch sein. D a wirkt nicht D i n g auf Ding, sondern Geist auf Geist, Freiheit auf Freiheit. Kein äußeres (determinierendes) Bewirken und von außen „Affizieren" kann in Frage kommen, sondern nur ein Erregen oder Anregen gleichsam von innen her, ein richtungweckendes „ A u f f o r d e r n " an Freiheit zur bestimmteren E n t f a l t u n g der selbsteigenen Tätigkeit, ein Herausfordern antwo rtender Spontaneität. I n der unendlichen Verflechtung solcher Freiheitswirknngen besteht der realdynamische Zusammenhang der geistigen Wirklichkeit (die j a die einzig wahre und ursprüngliche Wirklichkeit sein soll); jedes wirkliche Ichwesen h a t sein konkretes individuelles Dasein nur, sofern es in diesen Wechselbezflgen von Vernehmen u n d Antworten, in diesen Weckungswirkungen von Geist auf Geist lebt und sich gestaltet. Das Einzelich ist keine abgeschlossene Monade ohne T ü r noch Fenster — das gilt n u r gegenüber aller angeblichen Transzendenz von materiellen Dingen und äußeren Einwirkungen —, sondern es steht ununterbrochen in u n m i t t e l b a r e m Wirkungszusammenhang mit den andern Ichen. Der Nexus der intelligiblen Welt k a n n also keine festgegebene prästabilierte Seinsordnung sein, sondern an i h m webt jedes Ich m i t seinen auf die anderen Iche zielenden Freiheitsakten lebendig m i t , so d a ß er immer neu und schöpferisch aus Freiheitstaten sich entwickelt.

Die m e t a p h y s i s c h e E n t s c h e i d u n g Fichtes geht n u n d a r a u f h i n a u s , die ursprüngliche u n d letztlich w e s e n h a f t e R e a l i t ä t alles endlichen Seins der Geister zu verlegen in die E i n h e i t eines ü b e r g r e i f e n d e n Lebens der V e r n u n f t . Die Freiheit ist i m G r u n d e Eine. U n d diese E i n e Freiheit „ s p a l t e t " oder „ k o n t r a h i e r t " sich in ihrer differenzierenden Selbstverwirklichung u n d in ihrer zum vollen S e l b s t b e w u ß t s e i n v o r d r i n g e n d e n reflexiven S e l b s t d u r c h d r i n g u n g zu der Besonderheit u n d Vielheit individueller Freiheitswesen. Sie sind die „ D e k r e t e " des E i n e n V e r n u n f t zwecks — der eben n i c h t ein ü b e r den an-sichseienden Intelligenzen b l o ß i m Ideellen schwebendes a b s t r a k t e s Gesetz ist, s o n d e r n die zeugende Macht, lebendige T a t der Selbstverwirklichung d u r c h die aus i h m hervorgehenden Freiheitsindividuen h i n d u r c h ! Die E i n e ewige A u f g a b e u n d inhaltvolle Urgesetzlichkeit der reinen p r a k t i s c h e n V e r n u n f t konkresziert zu Willensindividuen, deren Sein u n d T u n g e t r a g e n wird von i h r e m Sollsein, ihrer sittlichen B e s t i m m u n g — als i h r e m A n t e i l a n der großen Arbeit der Selbsterfüllung des E n d z w e c k s , des Ideals der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t . Die Iche sind nicht S u b s t a n z e n , s o n d e r n die Selbstdarstellungen, E r s c h e i n u n g e n oder das Sich-Erscheinen des E i n e n unendlichen L e b e n s ; das „ B a n d " der Geisterwelt ist nicht n a c h t r ä g l i c h e Z u s a m m e n o r d n u n g isolierter I c h m o n a d e n , sondern die Wurzeleinheit eines d y n a m i schen U r s p r u n g s u n d einer t r a g e n d e n umschließenden Lebenssphäre, a u s der die Freiheitswesen mit ihrer ganzen Wechselbezüglichkeit in e i n e m (überzeitlichen) actus individuationis originarius h e r v o r g e h e n . Das I n d i v i d u u m „ s c h a u t die Wesen seinesgleichen an in der u n m i t t e l b a r e n A n s c h a u u n g des E i n e n L e b e n s " ; auf dieses Leben (und d a m i t auf die in i h m gebundenen a n d e r n Freiheitswesen) „ f l i e ß e n " seine T a t e n „ e i n " , u n d wiederum e r f ä h r t es i m Gewissensaufruf zur eigenen sittlichen Bestimm u n g unablässig dessen E i n f l u ß , besondert s t ä n d i g u n d differenziert zu

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d e n individuellen Aufforderungen durch die andern Iche. — Ein neuer Begriff des Geistes tritt damit bei Fichte auf: das Geistige wird nicht gestaltet aus der Bewußtseinstätigkeit der Einzelseele, sondern umgekehrt: jedes Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Seele-Sein ist (mit allen andern Bewußtseinszentren) umschlossen v o m überindividuellen Sein des Geistes. Der subjektive Bewußtseinsindividualismus ist hier vollkommen umgeschlagen in einen objektiven Idealismus des aus sich selber quellenden und in den Formen des Bewußtseins tätig sich durchleuchtenden Geistes, in einen metaphysischen Spiritualismus von ganz neuer Prägung. Die Immanenz des Ichbewußtseins ist durchbrochen: nur nicht nach außen, im Übergang zu äußeren „Dingen" an sich, sondern nach innen, im reflexiven Durchbrach auf die tragende und treibende Dynamik der allen Bewußtseinsspaltungen vorausliegenden Einheit des geistigen Lebens. Die Außenwelt im materiellen Sinne bleibt bloße Bewußtseinserscheinung, Gegenstands- und Widerstandsvorstellung in der Ichmonade: was in der äußeren Natur ist, „die physische Kraft usw. bis herunter auf die Materialität, schaut jedes Individuum an in sich selbst". Aber „kein Individuum schaut die Wesen seinesgleichen an in sich selbst und seiner Selbstanschauung, sondern es schaut sie an in der unmittelbaren Anschauung des Einen Lebens"; von der Einheit dieses „unendlichen Willens" und „Wissens" sind alle wollenden und wissenden und ihrer selbst bewußten Freiheitswesen getragen und umschlossen. Mannigfach sind die Begriffe, die Fichte in den verschiedenen Darstellungen f ü r diese neue Einheit des Geistigen einsetzt, mannigfach auch die Auswertungen des neuen Gedankens. Der Terminus des „Wissens" k n ü p f t besonders gern an das Problem der apriorischen Erkenntnis und ihrer das Individuum durchleuchtenden Evidenz a n : nicht ich (als auf sich selbst beruhende Substanz) ergreife die Wissenswahrheit und mache sie, die ebenso auch anderen Ichen zugänglich werden kann, akzidentell mir zu eigen, sondern das überindividuelle u n d selbstursprüngliche Licht des Wissens ergreift mich u n d m a c h t mich insofern mit allen Anderen eins und einig. I m evidenten Wissen ist nicht Verschiedenheit der Dinge noch Subjekte mehr, sondern Einheit der inhaltsvollen Wissensordnung; das Eine Leben bricht durch die selbstgesetzte individuelle Spaltung wieder durch. — Der Ausdruck der „moralischen W e l t o r d n u n g " (als eines unendlich-tätigen ordo ordinans) oder des „unendlichen Willens" geht aus von der Geb u n d e n h e i t aller individuellen Lebensbestimmungen in die Einheit eines geistigen S t r o m s ; auf ihr b e r u h t die Übereinstimmung aller Individuen in ihrer ich-immanenten Welt-Anschauung (miteingeschlossen alle ständigen Änderungen, die das Weltbild durch die Auawirkung der Freiheitstaten in den „ K u n s t p r o d u k t e n " der K u l t u r und Zivilisation e r f ä h r t ) ; b e r u h t fernerhin der tiefere Zusammenklang aller konkreten sittlichen Streb u n g e n u n d gegenseitigen „Aufforderungen" zur Harmonie der menschheitlichen und geschichtlichen Ziele und Zielverwirklichungen. — Der Begriff der „materialen Freih e i t " wiederum bezeichnet die überindividuellen Sinngehalte und Ideenkräfte, die in den Einzelwesen Gestalt gewinnen, sofern sich diese mit der „ f o r m a l e n " Freiheit ihrer individuellen Reflexion und Willensanstrengung in die Sphäre des Geistigen zu erheben wissen. — Die Ausdrücke des „ L e b e n s " und der „ L i e b e " wieder weisen vorwiegend auf religionsphilosophische Zusammenhänge, die des „ B e g r i f f s " (des „ I d e a l s " oder des „ E n d z w e c k s " ) auf den sittlichen Weltsinn usw usw. Alle diese Begriffe zielen gleichermaßen auf die transsubjektive und überichliche Einheit eines geistigen Seinsprinzips, F 9*

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dessen schöpferische reine A k t u a l i t ä t u n d ideelle Inhaltsffllle alle Realität und Lebensentfaltung individueller Freiheitswesen erst aus sich hervorgehen läßt und in sich geborgen halt — bei aller absoluten Selbständigkeit der individuell-persönlichen E n t schließungen.

C. DAS ABSOLUTE. I n den Schriften Fichtes, die den n e u e n Einheits- u n d W e l t g e d a n k e n zuerst z u m A u e d r u c k bringen (1798—1800), erscheint das ü b e r g r e i f e n d e B a n d der intelligiblen Welt als das letzte u n d schlechthin f u n d a m e n t a l e Prinzip des Daseins ü b e r h a u p t . Die „moralische W e l t o r d n u n g " , der „ u n endliche Wille" geben sich als die n e u e n philosophischen F i x i e r u n g e n des Gottesprinzips. Fichtes M e t a p h y s i k scheint d a h i n a u s z u f ü h r e n auf einen n e u e n P a n t h e i s m u s . Auf einen P a n t h e i s m u s n i c h t v o n der g e w o h n t e n A r t einer Ineinssetzung Gottes m i t der s c h a f f e n d e n Fülle der N a t u r ; sondern hier ist es e b e n die reine „ G e i s t e r w e l t " als übersinnlicher Zus a m m e n h a n g , als s c h a f f e n d e E i n h e i t u n d V o r s e h u n g s o r d n u n g alles geistig-persönlichen Lebens ü b e r h a u p t , die m i t d e m Göttlichen i n eins v e r schmelzen will. Der „ P a n t h e i s m u s " , der hier a n k l i n g t , h a t n i c h t Spinoza, sondern Malebranche ( G o t t als der „ O r t der Geister") u n d den s p ä t e n Berkeley zu A h n e n . — Aber F i c h t e h a t (was d a m a l s schon u n d d a n n bis h e u t e i m m e r wieder ü b e r s e h e n u n d m i ß k a n n t w o r d e n ist) mit j e n e n e r s t e n F o r m u l i e r u n g e n , in Schriften, die f ü r weiteren Leserkreis b e s t i m m t u n d ganz aufs Religiöse, n i c h t auf letzte philosophische G r u n d l e g u n g u n d P r i n z i p i e n k l ä r u n g eingestellt w a r e n , — n i c h t sein letztes W o r t gesprochen. Die S y s t e m a t i k der W L . v o n 1801/02 a b g e h t einen a n d e r n Weg. E i n e neue M e t a p h y s i k des A b s o l u t e n als eines schlechthin a n d e r e n u n d in a n d e r e r B e g r ü n d u n g s t i e f e gelegenen Prinzips, als es die E i n h e i t des „ a b s o l u t e n W i s s e n s " sein k a n n , w ä c h s t aus der R e f l e x i o n des Wissens oder des Freiheitslebens auf sich selbst u n d seine in i h m selbst v e r b o r genen Realprinzipien h e r v o r . — Alles Wissen, alle sittliche Ü b e r z e u g u n g f i n d e t sich, gerade in der S p o n t a n e i t ä t u n d Freiheit des A u f s c h w u n g s u n d Vollzugs, tief innerlich g e b u n d e n , ideell gehalten in einer zwingenden N o t wendigkeit u n d in der unbegreiflichen, alles Begreifen erst ermöglichenden Fülle der Sinngehalte. Die tiefste K r a f t in aller Wissensevidenz (theoretischer wie sittlicher A r t ) sagt eine absolute Unwidersprechlichkeit aus, ein So- u n d Nichtanderssein der letzten geistigen N o t w e n d i g keiten in ihrer unerschöpflichen Wesensfülle, das aller Willkür u n d allem Lebensvollzug der Freiheit entzogen ist, weil es g e r a d e sie erst möglich m a c h t . A m zugespitztesten k o m m t das z u m A u s d r u c k in der Gewissensevidenz des individuellen Daseins: eine schlechthin unbegreifliche, v o m Ich n u r in der intellektuellen A n s c h a u u n g des Gewissenslebens hinzun e h m e n d e B e s t i m m t h e i t teilt aus der ewigen Unendlichkeit sittlich-geistiger A u f g a b e n d e m einzelnen seine k o n k r e t e n P f l i c h t e n zu, h ä l t i h n darin gebunden u n d l ä ß t ihn seine Freiheit, sein selbsttätiges L e b e n d a r a n erschaffen. J e reicher s p o n t a n e Einsicht u n d sittliche Freiheit in

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u n s reift, u m so tiefer e r f a h r e n wir uns (ideell) g e b u n d e n . Gerade die u n v o r h e r s e h b a r e n Vorstöße u n d Wagnisse menschlicher Genialität h e b e n die tieferen u n d u n b e k a n n t e n , von uns in ihrer i r r a t i o n a l e n F a k t i z i t ä t n u r h i n z u n e h m e n d e n Notwendigkeiten geistigen Lebenssinns ans L i c h t . I n d e m so das Leben der Freiheit u n d V e r n u n f t w e s e n h a f t in sich allfiberall a n seine eigene Grenze s t ö ß t : auf die unbegreifliche u n d u n e r schöpfliche F a k t i z i t ä t der eigenen tieferen N o t w e n d i g k e i t e n — weist es d e n Philosophen ü b e r die ganze S p h ä r e des „Wissens*' h i n a u s auf d e n R e a l g r u n d dieser ideellen Gehaltfülle u n d - g e b u n d e n h e i t , auf das e c h t e absolute „ S e i n " u n t e r allem erzeugenden hinstellenden h i n s c h a u e n d e n Wissen. Das w a h r h a f t sichverstehende absolute Wissen t r ä g t m i t d e m Wissen u m die eigene Zufälligkeit ( F a k t i z i t ä t ) u n d m i t d e m D e n k e n des eigenen Nichtseins zugleich die Position des a b s o l u t e n Seins in sich. Dies Sein ist n i c h t erstarrtes P r o d u k t geistiger Sehe, das t o t e „ S e i n " d e r Sinnenwelt, sondern es ist der G r u n d u n d H a l t des Lebens selber, esse in mero actu. Als solches aber ist es unbegreiflich in seinem (das Unbegreifliche u n d Unerschöpflich-Unvorhersehbare u n d E w i g - A u f z u d e c k e n d e des Geistes b e g r ü n d e n d e n ) W a s , verborgen i m u n m i t t e l b a r e n Blick des Wissens, das v o n dieser absoluten Fülle l e b t , ohne sie j e v o r sich, z u m G e g e n s t a n d zu h a b e n . Die eine Freiheit, die sich, d u r c h die Selbstentf a l t u n g in den freien selbstbewußten I n d i v i d u e n h i n d u r c h , i m m e r d a r in R e f l e x i o n d u r c h l e u c h t e t u n d begreift, k a n n nie die eigene Ursprünglichkeit begreifen. Das „ S e i n " im w a h r e n a b s o l u t e n Sinne ist d e m „ W i s s e n " t r a n s z e n d e n t — aber dies n i c h t als äußeres „ D i n g " a n sich, sondern als der innere reale Möglichkeitsgrund der Freiheit u n d V e r n u n f t s a m t i h r e n ganzen W e l t e n t f a l t u n g e n . Eine schlechthin u n ü b e r b r ü c k b a r e K l u f t , ein ewiger hiatus irrationalis liegt zwischen d e m Wissen u n d d e m Sein. D a s A b s o l u t e k a n n d a r u m a u c h d u r c h keine P r ä d i k a t e n ä h e r bezeichnet w e r d e n ; jedes zweite W o r t , d u r c h das m a n es u n s e r m V e r s t e h e n n ä h e r b r i n g e n will, ist v o m Übel. Das Absolute k a n n weder intelligiert noch i n t u i e r t w e r d e n ; es ist als schlechthin unbegreiflich zu d e n k e n , sofern sich der Begriff an i h m v e r s u c h t ; u n d diese Unbegreiflichkeit ist seine einzige Q u a l i t ä t . Wir begreifen n u r seine Unbegreiflichkeit. Der Weg zum (ethisch-spiritualen) Pantheismus ¡Bt d a m i t verlassen. Das Einheitaleben a n d die schaffende Ordnung der Geisterwelt setzt Gott voraus, aber ist nicht selbst G o t t . Das Absolute wird nicht hineingezogen in Reflexion, Spaltung, Werden. Die Eine Freiheit ist Freiheit „ a u ß e r G o t t " ! „Die gesamte Geisterwelt, als Ein» gen o m m e n ist frei, darin besteht ihr eigentliches, von dem Leben Gottes verschiedenes L e b e n . " Gott bleibt in ewiger Transzendenz nicht n u r gegenüber j e d e m endlichen Kinselsein individueller Willenswesen, sondern auch gegenüber dem ewigen unendlichen Willen, d e m geistigen „ B a n d " , das „allgegenwärtig" alle Einzelfreiheit umgibt. Aber gerade u m dieser Transzendenz des Göttlich-Absoluten willen müssen nach Fichte nun a u c h die Endlichkeitsmomente abgestoßen werden, die der Theismus gewöhnlicher P r ä g u n g mitschleppt: Selbstbewußtsein und Personalitat. Das sind Prädikate geistigen Lebens, die nur in Verbindung mit der Schranke endlicher Wesen denkbar sind; die Brechungen der Reflexion setzen Widerständlichkeit und selbständiges Gegenüber

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voraus. Das reine Sein Gottes liegt jenseits solcher Reflexion- u n d Konkreszenzformen des Geistes.

Der „ D u a l i s m u s " dieser T r a n s z e n d e n z gibt aber n u r das eine G r u n d m o m e n t der W a h r h e i t . Zugleich gilt, d a ß alles L e b e n der Freiheit u n d des Geistes S e l b s t o f f e n b a r u n g , die s i c h - e n t ä u ß e r n d e ewige Ä u ß e r u n g des Absoluten ist, das „ D a s e i n " dieses Seins, die ewige „ E r s c h e i n u n g " Gottes. „ D a s absolute Sein stellt in diesem seinem Dasein sich gelbst hin als diese absolute Freiheit u n d S e l b s t ä n d i g k e i t . . . u n d als diese U n a b h ä n g i g k e i t v o n seinem eigenen i n n e r e n S e y n ; es e r s c h a f f t n i c h t e t w a eine Freiheit a u ß e r sich, sondern es ist selber, in diesem Teile der F o r m , diese seine eigene Freiheit a u ß e r i h m s e l b e r ; u n d es t r e n n t in dieser R ü c k sicht allerdings sich in seinem D a s e y n — v o n sich in seinem S e y n u n d s t ö ß t sich aus v o n sich selbst, u m lebendig wieder e i n z u k e h r e n in sich selbst." Das Absolute ist das allein w a h r h a f t Reale, die (unbegreifliche) Fülle aller R e a l i t ä t , der ewige H a l t u n d G r u n d ; — alles L e b e n ist seine Erscheinung, erscheinendes „ D a s e i n " , „ B i l d " oder „ S c h e m a " Gottes. Der alte G e d a n k e der christlichen M e t a p h y s i k , d a ß die Absolutheit des göttlichen Wesens in der Freiheit des Menschen ebenbildlich durchb r i c h t m i t t e n i m E n d l i c h e n Bedingten — spitzt sich in Fichtes Spirit u a l i s m u s zu der These zu, d a ß die Freiheit allein die u n m i t t e l b a r e u n d reale E r s c h e i n u n g Gottes, seine direkte O f f e n b a r u n g i m Dasein oder als Dasein i s t ! E r s t in d e m S i c h - E r s c h e i n e n der E i n e n ewigen E r s c h e i n u n g , m i t der R e f l e x i o n s s p a l t u n g des E i n e n Lebens der a b s o l u t e n Freiheit oder des „reinen L i c h t s " des Wissens in die zum Selbstbewußtsein sich durchringenden Freiheitsindividuen e n t s t e h t , was wir sonst z u m Dasein r e c h n e n : die Außenwelt u n d alle sinnlich f a ß b a r e Wirklichkeit. N a t u r ist n u r E r s c h e i n u n g der (im W e r d e n der Geisterwelt differenzierend sich v e r s t e h e n d e n ) E r s c h e i n u n g , n i c h t selbst u n d u n m i t t e l b a r Bild Gottes. — So ist d e n n alles Leben ein Leben aus dem Absoluten, Darstellung, O f f e n b a r u n g , also S i c h t b a r w e r d e n des v e r b o r g e n e n G o t t e s ! Das ewig U n e r k e n n b a r e t r i t t in jeder T a t des Willens- u n d Freiheitslebens heraus in das L i c h t des Geistes. I n s o f e r n ist alles Wissen überh a u p t ein Wissen von G o t t — wir begreifen i m m e r f o r t das unbegreifliche Absolute, u n d nichts als dieses. Alles B e w u ß t s e i n ist i m G r u n d e Gottesb e w u ß t s e i n ; alle erlebten Wirklichkeitssphären sind j a n u r B r e c h u n g e n der göttlichen E r s c h e i n u n g . Fichtes Metaphysik der Erkenntnis, die zu Beginn alles E r k e n n e n in eine reine Produktion der schöpferischen Bildungskraft des Geistes aufzulösen schien, h a t damit auf dem Wege über die selbBteigene innere Gebundenheit u n d unbegreifliche Faktizität den Realgehalt zurückgewonnen (so d a ß man mit Recht von einer neuen — nämlich idealistischen! — Abbildtheorie beim späteren Fichte gesprochen h a t ) ; das Wissen, in aller Freiheit seiner Selbstentfaltung und gerade in dieser, ist Wissen vom Absoluten. Der Kerngedanke ist nur eben: d a ß dieser eigentlichste Gegenstand der Erkenntnis nie als ein Ding an sich uns gegenübersteht, u n d nie, anschauend oder denkend, in seinem Ansich von uns „ e r f a ß t " wird — nie Gegenstand des wissenden Bewußtseins

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wird. Nor d u r c h die freie T a t , in schöpferischen T a t e n des lebendigen Wissens selber wird das Absolute Bild, t r i t t das Verborgene in seine Äußerung.

G o t t bleibt dabei der Ü b e r s c h w e n g l i c h - U n e r f a ß b a r e , er t r i t t nie rein u n d f ü r sich in unser B e w u ß t s e i n , sondern i m m e r n u r als die Absolutheit u n d Fülle, als die schöpferische Freiheit u n d L i c h t g e b u n d e n h e i t des Wissens selber! Selbst in der Philosophie, die doch n a c h F i c h t e die höchste, zur reinen Klarheit des Begriffs gereifte Weise des Sichverstehens i m a b s o l u t e n Wissen ist, das eigentliche Zusichselberkommen der göttlichen E r s c h e i n u n g eben als E r s c h e i n u n g G o t t e s — „ k a n n m a n das Absolute n i c h t a u ß e r sich a n s c h a u e n , welches ein reines Hirngespinst g i b t , s o n d e r n m a n m u ß in eigener P e r s o n das Absolute seyn u n d l e b e n " . I n allem Begreifen, dessen einziger Gehalt zuletzt die Seinsfülle des Absol u t e n ist, bleibt d o c h das Absolute unbegreiflich — wir begreifen i m m e r d a r d a s Unbegreifliche. D. D I E GÖTTLICHE I D E E UND D I E GESCHICHTE. I m M i t t e l p u n k t dieser M e t a p h y s i k der Freiheit u n d des göttlichen L e b e n s in den T a t e n des Geistes s t e h t n i c h t m e h r das Sein der N a t u r , s o n d e r n das W e r d e n d e r G e s c h i c h t e . Z u m ersten Male in der Geschichte der Philosophie wird die spezifische R e a l i t ä t des geschichtlichen Daseins — n i c h t n u r als eigenwüchsige R e a l i t ä t v o n m e t a p h y s i s c h e m R a n g e r f a ß t , sondern sogar als die entscheidende Seinsweise endlichen Daseins ü b e r h a u p t g e d e u t e t . Alte G e d a n k e n christlicher D a s e i n s h a l t u n g wirken sich hier m e t a p h y s i s c h aus. Der W e l t p r o z e ß ist G o t t e s o f f e n b a r u n g in d e r geistigen E n t w i c k l u n g der Menschheit, der Geisterweit; i m W e r d e n des Reiches G o t t e s . D a s neuzeitliche P a t h o s v o m „ B u c h e der N a t u r " schlägt u m in die metaphysisch-religiöse F a s s u n g der Geschichte als der eigentlichen E r s c h e i n u n g s s p h ä r e des A b s o l u t e n oder des göttlichen Geistes. Als Eine unendliche W i r k e n s k e t t e der „ A u f f o r d e r u n g e n " , des f r e i h e i t s w e c k e n d e n u n d geistgestaltenden Ineinandergreifens selbstt ä t i g e r L e b e n s z e n t r e n s t e h t die Welt vor F i c h t e , in schöpferischer Freiheit neue u n d n e u e W e r t e u n d Gesichte wie aus d e m Nichts hervorbringend. „ D i e Weltschöpfung aus Gott ist keineswegs also, wie man sich dies gewöhnlich vorstellt, vollendet und G o t t zur R u h e gebracht, sondern das Erschaffen geht immerwährend f o r t u n d er bleibt der Erschaffende; indem j a auch der unmittelbare Gegenstand seiner Schöpfung nicht ist eine träge und stehende Körperwelt, sondern das freie u n d ewig aus sich selbst quellende Leben. Die eigentliche wahre Welt, f ü r welche allein eine Körperwelt ist, ist die geistige, das Leben und Denken der Menschen, eben als einer W e l t , d. i. als eines Ganzen und einer Gemeinde . . . Diese Welt ist es, welche unmittelbar G o t t stets f o r t s c h a f f t nach seinem Bilde, indem er immer f o r t f ä h r t , sein Bild in ihr zu entwickeln zu neuer K l a r h e i t . " „ D e n n dies eben, und dies allein, ist der Zweck alles Daseins, daB Gott verklärt werde, d a ß sein Bild immerfort in neuer Klarheit heraust r e t e in die sichtbare Welt aus seiner ewigen Unsichtbarkeit. Nur in dieser Verklärung Gottes r ü c k t die Welt weiter und alles eigentlich Neue, was in derselben vorkommen k a n n , ist die Erscheinung des göttlichen Wesens in neuer Klarheit. Ohne diese s t e h t

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die Welt stille und es geschieht nichts Neues u n t e r der Sonne." Der Mensch, sofern er Neues e r k e n n t u n d s c h a f f t a u s seiner Freiheit, wird so in der Geschichte i m m e r f o r t „ d u r c h sein t i t i g gewordenes Wissen zur eigentlichen Lebenskraft in der Welt, u n d zur Triebfeder der F o r t s e t z u n g der S c h ö p f u n g " .

Als ein unendliches F o r t s c h r e i t e n w i r d so die Geschichte g e d a c h t — n i c h t allerdings i m Sinne eines gradlinigen Aufsteigens (die g r o ß e n P e r i o d e n der Geschichte, wie sie F i c h t e e n t w i r f t , zeigen v i e l m e h r d e n n o t w e n d i g e n D u r c h g a n g d u r c h Verfall u n d Z i e l e n t f r e m d u n g ) , s o n d e r n i m S i n n e des D u r c h r e i f e n s zu i m m e r n e u e n u n d a n d e r e n Weisen geistiger G e s t a l t u n g . N i c h t n u r die k u m u l i e r e n d sich e r h ö h e n d e N a t u r b e h e r r s c h u n g d u r c h d e n Geist ( w i r t s c h a f t l i c h e u n d t e c h n i s c h e Zivilisation), s o n d e r n ebensosehr die wechselvolle F ü l l e der in B e s o n d e r u n g e n d e r N a t i o n e n u n d der I n d i v i d u e n e r b l ü h e n d e n K u l t u r g e s t a l t u n g (z. B . a u c h der schönen K ü n s t e ) b e d e u t e t f o r t s c h r e i t e n d e E n t w i c k l u n g des Geistes — e b e n als schöpferische H e r a u s a r b e i t u n g i m m e r wieder neuer u n d a n d e r s a r t i g e r Züge aus d e m E i n e n g r o ß e n u n b e k a n n t e n Bilde Gottes. Das große T h e m a der Geschichte ist das T h e m a d e r Freiheit v o n K a n t h e r : die S i t t l i c h k e i t . A b e r F i c h t e f a ß t n u n seinen Begriff des Sittlichen so weit u n d h o c h , d a ß alle S e l b s t v e r v o l l k o m m n u n g des Menschengeistcs, aller D u r c h b r u c h d u r c h Sinnlich-Wirkliches in Geistig-Ideales d a h i n e i n f ä l l t . E i n e neue Philosophie u n d M e t a p h y s i k d e r K u l t u r wird von d e m B o d e n des e t h i s c h e n I d e a l i s m u s a u s s i c h t b a r . Die „ h ö h e r e S i t t l i c h k e i t " des geistigen Lebens ist m e h r als regulierende e i n s c h r ä n k e n d - o r d n e n d e Moralit ä t ; sie ist selbst s c h a f f e n d e s , sich schöpferisch aufschwingendes u n d d u r c h r i n g e n d e s H a n d e l n des Geistes ü b e r h a u p t . D e r E i n e E n d z w e c k , die E i n e „ g ö t t l i c h e I d e e " in i h r e r u n b e g r e i f l i c h e n Lebensfülle gliedert sich i m realen L e b e n der Geschichte in die „ I d e e n " der K u l t u r ( I d e e n des S t a a t e s , d e r K u n s t , d e r W a h r h e i t s e r k e n n t n i s u s w . ) ; u n d insofern die h a n d e l n d e n I n d i v i d u e n in der a b s o l u t e n Selbstentschließung i h r e r persönlichen f o r m a l e n Freiheit z u r H ö h e dieser lebendigen Geistgestalten sich a u f s c h w i n g e n , ergreift sie die i n h a l t v o l l e „ m a t e r i a l e F r e i h e i t " dieser überi n d i v i d u e l l e n M ä c h t e u n d m a c h t sie zu T r ä g e r n u n d S u b j e k t e n des geschichtlichen Prozesses. Die I r r a t i o n a l i t ä t , die aller rationalen D e d u k t i o n sich entziehende Lebensfülle des göttlichen Seins u n d Daseins d r ü c k t sich in der Geschichtsmetaphysik Fichtes besonders aus in der hervorragenden Stellung, die den großen Persönlichkeiten, den schöpferischen Genien der Geschichte zugesprochen wird. N u r in der geistigen Ursprünglichkeit der grollen Einzelnen bricht n a c h Fichte wirklich u n m i t t e l b a r das Gottesbild in neuer K l a r h e i t durch. Geschichte ist in allem Inhaltlichen ihres Lebens wesenhaft unvorhersehbar, dem vorgreifenden D e n k e n entzogen. N u r inhaltvolle schöpferische Freiheit großen Stiles ist p r i m ä r e Selbstdarstellung des absoluten Lebens, also primäre Realität des geschichtlichen Daseins. „ D i e ursprüngliche göttliche Idee von einem bestimmten S t a n d p u n k t in der Zeit l ä ß t größtenteils sich n i c h t eher angeben, als bis der von Gott begeisterte Mensch k o m m t u n d sie a u s f ü h r t . . . I m allgemeinen ist die ursprüngliche u n d reine göttliche Idee . . . f ü r die Welt der Erscheinung schöpferisch, hervorbringend das neue, u n e r h ö r t e u n d vorher nie dagewesene." „ V o n jeher war es Gesetz der über-

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sinnlichen Welt, d a ß sie n u r in Wenigen Auserwählten . . . ursprünglich herausbrach i n Gesichte; die große Mehrzahl der übrigen sollte erst von diesen wenigen ans . . . gebildet werden." „ I n der Geisterweit ist Jedwedes u m so edler, j e seltener es i s t ; . . . in äußerst Wenigen spricht die G o t t h e i t sich u n m i t t e l b a r a u s . "

D a m i t ist nun der metaphysische Gedanke von jener die Individuen des Geisterreichs umgreifenden Realität des Einen Wissens hineingeführt in die konkrete Lebenssphäre geschichtlicher Ideenmächte. Nicht aus atomen Ichen und in der Wechselwirkung ihrer bewußten Zwecktätigkeiten wächst Geschichtliches zusammen, sondern aus übersubjektiven, allem Bewußtsein der Individuen vorausliegenden geistigen Entwicklungsströmen gliedern sich die besonderen Lebensmöglichkeiten, die Handelnsziele und Daseinswerte der Freiheitssubjekte erst heraus. „Ideen" sind die realen schöpferischen Lebensmächte der Geschichte; die Individuen sind ihre Konkreszionspunkte, die Durchbruchsstellen zu Bewußtsein und Tat. Ob der einzelne sich aufschwingt zu wahrhaft geschichtlichem Dasein, zur lebendigen Teilnahme an den großen Aufgaben des geistigen Werdens, das liegt in seiner Hand, hängt von der absoluten Selbstentschließung seiner formalen Freiheit a b ; aber was er dann wirkt und wird, das quillt aus einer überindividuellen Lebensfülle. Echte geschichtliche Wirksamkeit setzt immer beides zugleich voraus: die materiale schöpferische Freiheit der Idee — und die zu ihr hinaufreichende, sie zum lebendigen Selbstbewußtsein und Tatwillen durchklärende sittliche Gesinnung und Begeisterung des Individuums. E i n neuer Begriff von Geschichte u n d geschichtlichem Schicksal bildet sich so (in der Abwendung v o m A u f k l ä r u n g s a t o m i s m u s wie a u c h v o m s u b j e k t i v e n Idealismus) heraus; der Weg zu Hegels Geschichtsmetaphysik u n d zur Lehre v o m o b j e k t i v e n Geist ist entscheidend eingeschlagen. Zugleich d a m i t wird eine neue F a s s u n g der G e m e i n s c h a f t mOglich, die Anerkennung ihrer metaphysischen E i g e n r e a l i t ä t und Wertursprünglichkeit gegenüber dem Dasein der I n d i v i d u e n . Der t r a g e n d e n u n d alle Einzelwesen in der Freiheit bindenden Einheit der Geisterwelt entsprechen in den Besonderungen des konkreten zeitgeschichtlichen Daseins die Realeinheiten der großen Lebensgemeinschaften : aus ihrer Ganzheitsfülle heraus k o m m t erst das Einzelindividuum, als K o n t r a k t i o n des überindividuellen Lebensstroms, zu sich. So ist d e n n auch nach Fichte alle E r h e b u n g des freien I n d i v i d u u m s zur geistigen R e a l i t ä t , zur materialen Freiheit der Idee notwendig und wesenhaft zugleich Hineinreifen in die Gemeinschaft. „ D a s einzige K r i t e r i u m , a n welchem die E r h e b u n g eines Individui z u m realen Bewußtsein klar wird, ist, wenn es sich als Glied der Gemeinde, Glied eines Ganzen, als dessen integrierender Teil erscheint." Die Geisterweit m u ß , wenn anders sie sich offenbaren soll „als etwas Reales", sich als Gemeinschaft offenbaren. Von da e n t s t e h t Fichte seine neue Fassung der Nation, als einer überpersonalen geistigen R e a l i t ä t , die zugleich I n d i v i d u a l i t ä t , unvergleichlich-unersetzbare Ausprägung des göttlichen Erscheinungslebens ist.

Wenn so der atomistische Seelenindividualismus der Aufklärung durch neue metaphysische Geistprinzipien v o n überindividuell-transpersonaler Artung aufgehoben wird — so liegt doch andererseits jede Vernichtung des Eigenwertes und der unauslöschbaren Eigenrealität des Einzelich Fichte vollkommen fern. Die Individuen der „Geisterwelt" sind ihm

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allerdings n i c h t ursprüngliche Seinssubstanzen ; aber sie sollen ebensowenig bloß v o r ü b e r g e h e n d e E r s c h e i n u n g e n sein. Die K o n t r a k t i o n des E i n e n Freiheitslebens zu den vielen Freiheitsindividuen t r ä g t Ewigkeitsc h a r a k t e r . N i c h t n u r die ideellen I n d i v i d u a l b e s t i m m u n g e n i m Reich der sittlichen A u f g a b e n , sondern die wirklichen lebendig t ä t i g e n I n d i v i d u e n selber, sofern sie n u r zu ihrer höheren B e s t i m m u n g u n d d a m i t zur vollen sich-verstehenden geistigen R e a l i t ä t sich aufgeschwungen h a b e n , sind ewig, sind unsterblich. I h r Leben u n d W i r k e n geht, gerade i n der t ä t i g e n Gliedeingefügtheit in das Ganze der Geisterwelt, zugleich als personale S e l b s t e n t f a l t u n g u n d Selbsterfüllung h i n d u r c h d u r c h d e n unendlichen W e l t p r o z e ß ; sie ü b e r d a u e r n Welten ü b e r Welten v o n A u f g a b e n s p h ä r e n , a n denen sie als ewige D e k r e t e des göttlichen Erscheinungswillens sich bewähren. H a u p t w e r k e : Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre; Grundlage deB N a t u r rechte; System der Sittenlehre; Bestimmung des Menschen; Wissenschaftslehre 1801; Anweisung zum seligen Leben; Tatsachen des Bewußtseins; Vorlesungen Uber die Bestimmung des Gelehrten. — Darstellungen: J . H . L ö w e , Die Philosophie F . s ; S t u t t gart 1862. Xavier L é o n , La philosophie de F . ; Paris 1902. F . M e d i c u s , F . ; Berlin 1905. H . H e i m s o e t h , F . ; München 1923. H . E h r e n b e r g , Disputation I . F . ; Manchen 1923. E . H i r s c h , F.s Gotteslehre 1794—1802 (in: Die idealistische Philosophie und das Christentum; Gütersloh 1927). M. W u n d t , F . ; S t u t t g a r t 1927; F.-Forschungen 1929.

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A. I C H P H I L O S O P H I E UND NATURMETAPHYSIK. Schelling h a t begonnen als A n h ä n g e r u n d Mitstreiter Fichtes. Aber seine G r u n d h a l t u n g u n d die letzten m e t a p h y s i s c h e n I n t e n t i o n e n w a r e n (was a n f a n g s sogar i h m selbst verborgen blieb) auf ein anderes Seinss y s t e m angelegt. Die erste, ganz i h m eigene A u f g a b e , die Schelling sich stellte, ist die Ausbildung einer einheitlichen u n d u m f a s s e n d e n N a t u r p h i l o s o p h i e . Fichtes t r a n s z e n d e n t a l e s S y s t e m der I c h f u n k t i o n e n sollte d a d u r c h ergänzt u n d inhaltlich erweitert werden. I n der A u s f ü h r u n g aber zeigte sich d a n n , d a ß der dabei vorausgesetzte u n d d a r i n entwickelte Naturbegriff i m G r u n d e u n v e r e i n b a r w a r m i t dem Idealismus, so wie ihn F i c h t e d a c h t e . I n d e m Schelling a n Absichten u n d Thesen von K a n t s N a t u r p h i l o s o p h i e a n k n ü p f t , die in Fichtes G e i s t m e t a p h y s i k kein Gewicht b e h a l t e n h a t t e n , n i m m t er zugleich den realistischen Einschlag K a n t s auf in den Idealismus, wie er ihn n u n v e r s t e h t . Vom Ich als Prinzip der Philosophie gehen die ersten Systementwicklungen aus. Aber dies a b s o l u t e I c h Schellings ist ein anderes als das der Fichteschen WL.: Nicht ein letztes Unbedingtheitsmoment auf d e m G r u n d e des endlichen Ichbewußtseins, durch immanent-transzendentale Reflexion zu erschließen — sondern ein reines, über alles endliche Dasein u n d Bewußtsein hinausliegendes Seinsprinzip nach dem Vorbilde d e r Spinozistischen Alleinheitslehre. Das „Dasein der W e l t " soll einheitlich erklärt werden, das war von je die Aufgabe der Philosophie; und nun hat sie im Ich ,,ihr"AV xai llàr gefunden". Das absolute Ich ist das, „in dem und durch welches alles was da ist, zum

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Dasein . . . g e l a n g t " ; „seine Urform ist die des reinen ewigen Seine". Von Anfang an s t e h t Schillings D e n k e n bei der Frage n a c h dem Sein des Absoluten. Die A n t w o r t nur auf diese Frage soll — im Gegensatz z u m „ D o g m a t i s m u s " vorkantischer D i n g m e t a physik — den „ I d e a l i s m u s " konstituieren: letzte Einheit und Ursache alles Daseienden ist nicht das unendliche Ding der Spinozistischen Substanz, sondern die A k t u a l i t ä t des absoluten Ich. W e n n Schelling scheinbar ganz wie Fichte davon ausgeht, d a ß jeder Gedanke eines Dings an sich an seiner eigenen Widersprüchlichkeit sich auflösen müsse — bo wurzelt seine Begründung nicht (wie bei Fichte) in der Überzeugung, d a ß kein B e w u ß t s e i n seine eigene I m m a n e n z überspringen könne, sondern sie hält sich ganz im Ontologischen. D a s „ D i n g " (jedes fertige substantielle Sein) ist seinem Wesen nach be-dingt; das Un-bedingte m u ß ein selbst sich Setzendes, causa sui, absolute Kausalität sein. „ N n n k a n n nichts schlechthin gesetzt seyn, als das, wodurch alles andere erst gesetzt wird, nichts k a n n sich selbst setzen, als was ein schlechthin unabhängiges ursprüngliches Selbst e n t h ä l t , und das gesetzt ist, nicht weil es g e s e t z t ist, sondern weil es selbst das S e t z e n d e i s t . " D a s Absolute ist nicht „ O b j e k t " (ein ObjektivSeiendes ist immer schon P r o d u k t , Ergebnis, „absolutes O b j e k t " ist ein Widersprach), sondern „ S u b j e k t " : d . h. das was schlechthin niemals Objekt werden k a n n , die reine Tätigkeit und P r o d u k t i v i t ä t . Und d a wir uns in uns als reine Tätigkeit der Ichheit kennen — so f a ß t u n d benennt Schelling das absolute Produktionsprinzip als „absolutes I c h " . Dem Ich unseres Selbstbewußtseins ist dieses Ich (von dem, ganz analog der Spinozistischen Substanz, bewiesen wird, d a ß sie n u r Eines sein kann) in W a h r h e i t schlechthin t r a n s z e n d e n t ! Der Idealismus h a t die Reflexionsbasis des endlichen Bewußtsein hier verlassen. E r ist j e t z t , gleich im Ausgang, metaphysische These über das Ansich des letzten Seinsprinzips. Schellings Ontologie will, vom Kantischen Daseinsp r i m a t der Freiheit und Vernunft aus, ein wahreres „ G e g e n s t ü c k " zur Alleinheitsmetaphysik Spinozas liefern; das aber wird erreicht, wenn man die ewige Substanz vielmehr als absolutes I c h begreift. D a ß das endliche Denken fähig ist, das Absolute selber unmittelbar zu erfassen und zu charakterisieren, setzt Schelling ohne weiteres voraus. Der Begriff der „ i n t e l l e k t n e l l e n A n s c h a u u n g " t r i t t bei i h m f ü r dieses Wissen v o m Absoluten ein — in vollk o m m e n e r Abwandlung gegenüber Fichtes immanent-transzendentaler Bedeutung dieses Terminus und seiner Richtung rein auf die tätige Selbstanschauung der eigenen I c b s p o n t a n e i t ä t im endlichen Bewußtsein. Spinozas intuitive Erkenntnis der Alleinheit meldet sich, im R a h m e n dieses neuen metaphysischen Idealismus des absoluten Ich, wieder zum W o r t . D a s absolute Ich ist u n s in unmittelbarer geistiger Anschauung gegeben, vielmehr es gibt sich uns — „ d a s Absolute k a n n nur durch das Absolute selbst gegeben werden". Die Reflexion, die F o r m der Endlichkeit und alles diskursiven Denkens, soll dabei ausgeschaltet sein: kein Begriff erreicht die Einheit des absoluten Ich, n u r der intellektuellen Anschauung ist sie in ihrer Unendlichkeit u n m i t t e l b a r gegenwärtig. So kann denn auch nach Schellings Überzeugung die philosophische Erkenntnis das schaffende Prinzip in seiner P r o d u k t i v i t ä t unmittelbar belauschen und die Genesis der endlichen P r o d u k t e im System rekonstruieren. Die näheren Bestimmungen des absoluten Ich lassen d a n n die v o l u n t a r i s t i s c h e Tendenz dieser Metaphysik ans Licht t r e t e n . Sich selber setzen, schlechthin Handeln, d. h . : Wollen. „ D e r Geist ist nur d a d u r c h , d a ß er will." „ D e r Geist ist ein ursprüngliches Wollen. Dies Wollen m u ß daher so unendlich sein, als er selbst." Intellektuelle Anschauung des Ich ist Selbstanschauung des absoluten Wollens. — Aber indem diese voluntaristische Ichmetaphysik vom endlichen Bewußtsein und der transzendentalen Reflexion sich ablöst, verändert sich der Begriff des Wollens selber. Das sittliche Streben des endlichen Ich, bei K a n t und Fichte (den Urhebern der neuen voluntaristiscben Welle in der Metaphysik der Neuzeit) Kern- und Wesenssinn des Wollens, als d e r praktischen V e r n u n f t — t r i t t an Bedeutung zurück bei Schelling. Das Wollen wird als absolute K r a f t , machtvoll aus sich quellende Tätigkeit gefaßt, als ein unendlichabsolutes schöpferisches T u n ; das spezifische Vernunftwollen und Zielsetzen der sitt-

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liehen Freiheit ist nur besondere Lebensform u n d Aasdruck (keineswegs der höchste oder einzig adäquate) dieser dynamischen A k t u a l i t ä t . Besonders wird dabei, schon f r ü h , auf die Irrationalität des absoluten Wollens hingewiesen: es ist, als die schaffende Macht in allem Dasein, zwar das Evidenteste und Anschauungs-Unmittelbarste von allem was wir wissen, zugleich aber auch „das einzige U n b e g r e i f l i c h e , Unauflösliche — seiner N a t u r nach G r a n d i o s e s t e . . .". Als das letzte u n d eigentliche Ansich in allem Dasein ist das absolute Wollen die Grenze aller begreifenden V e r n u n f t . — So k o m m t bei Schelling, noch m i t t e n im Zusammenhang m i t K a n t s und Fichtes ethischem Voluntarismus und ihrer Lehre von der Ursprfinglichkeit a n d Unbegreiflichkeit der Freiheit, eine ganz neue W e n d u n g der spiritaalistisch orientierten Metaphysik zum ersten Ausdruck — jene Wendung von der V e m n n f t weg zum alogischen Prinzip des absoluten Willens, deren WeiterfQhrong u n d extreme Übersteigerung aus Schopenhauers Willenslehre bekannt ist.

Die N a t u r wie sie Schelling, v o n seinem U r p r i n z i p des a b s o l u t e n Ich aus, d e n k t , ist weit e n t f e r n t d a v o n , b l o ß sinnliche W e l t - H i n s c h a u u n g u n d i m m a n e n t e s W i d e r s t a n d s m a t e r i a l geistiger I c h w e s e n zu sein. I h r Dasein geht keineswegs auf in ihrer teleologischen B e d e u t u n g f ü r sittliche Freiheit. F ü r Schellings W e l t a u f f a s s u n g ist d e r lebendige Kosmos der N a t u r n i c h t weniger real als die „ G e i s t e r w e l t " . D e m einzelnen endlichen I c h s t e h t die N a t u r als ein b e w u ß t s e i n s t r a n s z e n d e n t e s Dasein g e g e n ü b e r ; ihre Wesen u n d K r ä f t e h a b e n die gleiche E i g e n r e a l i t ä t u n d analoge S e l b s t b e d e u t s a m k e i t , wie die e i n a n d e r g e g e n ü b e r s t e h e n d e n Ichwesen. N a t u r ist eigene ursprüngliche O f f e n b a r u n g des A b s o l u t e n ; in ihren sinnlichen E r s c h e i n u n g e n ist Übersinnlich-Ideelles o b j e k t i v gegenwärtig. W e n n die Philosophie auf i h r übersinnliches S u b s t r a t durchstoßen soll, so darf sie dies keineswegs b l o ß in der R i c h t u n g auf das Ich des Menschen u n d auf den sittlich-geistigen Z u s a m m e n h a n g versuchen. E b e n s o g u t wie, in der Selbstgestaltung des B e w u ß t s e i n s , N a t u r (als N a t u r - A n s c h a u u n g ) aus d e m I c h ideell h e r v o r g e h t , w ä c h s t andererseits das Ich des Menschen u n d alle B e w u ß t s e i n s s u b j e k t i v i t ä t real aus der N a t u r u n d ihrer S e l b s t e n t f a l t u n g s t ä t i g k e i t h e r v o r ! Die Wirklichkeit zeigt uns ein universales S i c h - A u f w ä r t s s t u f e n der N a t u r g e b i l d e bis zum Menschen, in welchem, auf der Basis organischen L e b e n s , das höhere L i c h t des Bewußtseins d u r c h b r i c h t . Das O b j e k t i v e e r h e b t sich so z u m S u b j e k t i v e n ! N a t u r ist, v o n hier angesehen, das W e r d e n des Geistes; das i m menschlichen Selbstbewußtsein zu sich k o m m e n d e Ich ist nicht das E r s t e u n d alles a n d e r e erst f ü r sich Setzende des Daseins, sondern ein Seinsbereich, der a n d e r e von allem wirklichen B e w u ß t s e i n ablösbare Daseinsstufen schon v o r a u s s e t z t . Die Wirklichkeit i s t ein F o r t s c h r e i t e n v o m O b j e k t i v e n d u r c h die S t u f e n der N a t u r z u m S u b j e k t i v e n . Naturphilosophie f r a g t also nicht, wie bei K a n t und erst recht bei Fichte, nur nach den apriorischen Erkenntnisformen, die die N a t u r a n s c h a u u n g f ü r u n s formieren, sondern nach den real-gestaltenden Wesensbedingungen des Naturseins selber. Sie geht nicht aus von den Prinzipien und Methoden der Erkenntnis, sondern von der inhaltlichen Wirklichkeitsstruktur der durch natOrliche und wissenschaftliche E r f a h r u n g uns gegebenen Dinge und Zusammenhänge. Die Aufgaben der vorkantischen Kosmologie

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werden, zugleich mit den offengebliebenen Fragen der (auf die Einheit des „übersinnlichen Substrats" und auf die aus sich selbst gegliederte Mannigfaltigkeitsordnung des vom Ansich her uns Gegebenen hinzielenden) Kritik der Urteilskraft, wieder aufgenommen. Hier wird nicht bloß gefragt, wie die N a t u r e r k e n n t n i s und folglich die erfahrene Natur nach Prinzipien apriori möglich sei, sondern wie die Natur selbst, als reales Eigendasein, möglich sei. Die „Kategorien der Physik", nach denen Schelling forscht, sind nicht bloße Erkenntnisformen und „Gegenstands"-Konstituentien, sondern reale Seinsprinzipien. Der Ausdruck der „Kategorie" greift v o m Kantischen Bewußtseinsidealismus wieder zurück auf den alten ontologischen Sinn.

Aber diese real dem Bewußtsein vorausgelegene Natur soll nun vom Umsichwissen des Bewußtseins her neu durchleuchtet und als ideell bestimmter Daseinszusammenhang apriori rekonstruiert werden. Schillings Naturphilosophie will den Idealismus in der Betrachtung des äußeren Realen durchführen, ohne dessen Realität in das Bloß-Ideelle des Ichlebens aufzulösen. Neben dem „Idealismus des I c h " steht ihm der „Idealismus der N a t u r " — selbständig dieser neben jenem, j a ihm, als der „ursprüngliche" dem „abgeleiteten", vorausgelegen. Dieser neue Naturidealismus lehrt: als das Werden des Geistes ist die Natur selbst „werdender Geist". Natur, als Inbegriff der sinnlich wahrnehmbaren Außendinge betrachtet, ist bloße Realität des Materiellen; aber Natur in ihrer alles Einzelne bestimmenden Einheit und Produktivität (natura naturans) ist ideelles Leben, der Immanenz der Ichgestaltung analog. Auch in dem Teile der Metaphysik, den die Naturphilosophie ausfüllt, muß das Alleinheitsdenken Spinozas maßgebend werden; und wiederum: in diesem „Spinozismus der Physik" muß die Substanz beseitigt werden durch ein ideelles Tätigkeitsprinzip. Der metaphysische Ausgangsgedanke vom absoluten Ich muß seine Konsequenzen für die ichlose, untermenschliche, in den „Objekten" sinnlich-körperlich gestalteter Produkte sich ausbreitende Natur bewähren. Auch die Natur, das Sichtbare ist (in sich selbst, als dies Reale!) Geist; Natur ist „sichtbarer Geist"! Ein noch ichloses Ich, ein noch ins Objektive gleichsam gebanntes Subjekt muß in ihren Realgcstaltungen bestimmend wirksam sein — ein „ o b j e k t i v e s Subjekt-Objekt" gegenüber dem subjektiven SubjektObjekt der Fichteschen Bewußtseinslehre. „Idealismus der N a t u r " heißt also nicht, daß diese nur Erscheinung f ü r Bewußtsein und den Bewußtseinsformen unterworfen sei, sondern dies: daß alle Dinge der Natur nicht „Dinge" an sich selbst, sondern Produkte einer im Realen zur Selbstdarstellung oder zur o b j e k t i v e n (bewußtseinsunabhängigen) Erscheinung kommenden ideellen Produktivkraft sind. Die äußere Wirklichkeit zeigt allenthalben ideelle (und daher auch für uns erkennbare) Daseinsstrukturen — nicht weil wir diese von uns aus hineinlegten und ihr „vorschrieben", sondern weil die Naturgebilde in ihrem realen Eigendasein ausgestaltet und einheitlich umschlossen sind von einem schaffenden Prinzip, das letzten Endes (vom „absoluten Ich" her) identisch ist mit dem Subjektiven und Idealen in unserm erkennenden Bewußtsein.

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Das erkennende Bewußtsein ist also, als das subjektive S u b j e k t - O b j e k t , im G r a n d e wesenseinig mit dem objektiven Subjekt-Objekt der N a t u r , u n d eine höhere „ P o t e n z " desselben. Daraus erklärt sich f ü r Schelling, wie apriorische N a t u r e r k e n n t n i s , j a rein apriorisch konstruierende Naturspekulation möglich ist. N a t u r ist „ d a s Rein-Objektive der intellektuellen A n s c h a u u n g " ; sie in ihren Tfitigkeitsgesetzen zu durchschauen, ist im Grunde nichts so sehr anderes, als die apriorische Selbsterkenntnis des Bewußtseins; — man m u ß nur v o m Subjektiv-Anschauenden zu abstrahieren lernen. „ D a s Objektive in seinem ersten E n t s t e h e n zu sehen, ist nur möglich dadurch, d a ß m a n das O b j e k t alles PhiloBOphierens, das in der höchsten Potenz — Ich ist, d e p o t e n z i e r t , u n d mit diesem auf die erste Potenz reducierten O b j e k t von vorne an construiert." Ein „ t r a n s zendentales Gedächtnis" des schaffenden Geistes ü b e r h a u p t ist es, das auf der S t u f e des (organisch bedingten) Bewußtseins uns die erkennende R e p r o d u k t i o n der ursprünglichen Produktionsweisen der N a t u r ermöglicht. „ D a alles Denken zuletzt auf ein Produzieren u n d Reproduzieren z u r ü c k k o m m t , so ist nichts Unmögliches in d e m Gedanken, d a ß dieselbe Tätigkeit, d u r c h welche die N a t u r in j e d e m Moment sich neu reproduziert, im Denken n u r durch das Mittelglied des Organismus reproduktiv sey . . . " „Alles Philosophieren besteht in einem Erinnern des Zustandes, in welchem wir eins waren mit der N a t u r . " — Das ist die Wahrheit in der alten Lehre von der Wiedererinnerung. K a n t s u n d Piatos Erkenntnismetaphysik wird hier im Grundgedanken der Naturphilosophie Schellings vereint: apriorisches E r k e n n e n ist in der reflektierenden Selbstschau des Geistes geschehendes Reproduzieren der ontischen I d e a l f u n k t i o n e n , die — vor dem Werden des Bewußtseins — die Wirklichkeit konstituieren.

F ü r die C h a r a k t e r i s t i k dieses gleichsam ichlosen Ich der s c h a f f e n d e n N a t u r , dieses o b j e k t i v e n u n d realen u n d dennoch ideell-bestimmenden selbsttätigen Prinzips setzt Schelling den A u s d r u c k des U n b e w u ß t e n ein. A u c h das S u b j e k t - O b j e k t der s c h a f f e n d e n N a t u r ist „ I n t e l l i g e n z " ; aber das W i r k e n dieser N a t u r - I n t e l l i g e n z geschieht o h n e B e w u ß t s e i n . „Die Intelligenz ist auf doppelte A r t , e n t w e d e r blind u n d b e w u ß t l o s , oder frei u n d m i t B e w u ß t s e i n p r o d u k t i v . " Ein a n d e r e r Begriff des U n b e w u ß t e n t u t sich d a , in anfänglicher A n k n ü p f u n g a n F i c h t e s b e w u ß t l o s produzierende E i n b i l d u n g s k r a f t , auf — hier u n d v o n hier a n bis zu E . v . H a r t m a n n o f t genug v e r m e n g t m i t d e m ursprünglichen G e d a n k e n . Diese u n b e w u ß t e Intelligenz Schellings ist ein reale Dinge u n d W e s e n setzendes P r o d u k t i o n s p r i n z i p a u ß e r allem B e w u ß t s e i n ; w ä h r e n d F i c h t e das U n b e w u ß t e lediglich als i m m a n e n t e Basis u n d ideelle B i l d u n g s k r a f t i m L e b e n des Bewußtseins d a c h t e . Die p r o d u k t i v e E i n b i l d u n g s k r a f t ist aus einem transzendental-psychologischen Seelenvermögen zu e i n e m ontologischen Realprinzip geworden — das n i c h t so sehr die scheinbare Seinsgegebenheit unserer Weltvorstellungen, als vielmehr die den wirklichen N a t u r gebilden i n n e w o h n e n d e Z w e c k m ä ß i g k e i t erklären soll! Die v o n K a n t her wieder n e u einsetzenden F r a g e n n a c h den v o n u n s e r e m V e r s t ä n d e u n a b hängigen u n d dennoch wieder der zwecksetzenden u n d -suchenden Vern u n f t tief analogen R e a l s t r u k t u r e n der organischen N a t u r p r o d u k t e , wie auch der N a t u r als Ganzheit — sollen v o n h i e r aus sich einheitlich lösen. Alle teleologischen Z u s a m m e n h ä n g e der N a t u r e n t s t a m m e n wirklicher Zweckt ä t i g k e i t ; aber es ist n i c h t die b e w u ß t sich Ziele setzende P r o d u k t i o n des geistigen Wesens, die hier a m W e r k e ist, sondern die b l i n d e u n d bewußtlose A k t i v i t ä t der s c h a f f e n d e n N a t u r selbst. Die I n s t i n k t h a n d l u n g e n

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der Tiere z. B. sind Handlungen einer „ I n t e l l i g e n z " : aber eben nicht einer bewußten (und zur individuellen Selb6theit durchgegliederten) wie im menschlichen Geiste, sondern der Einen u n b e w u ß t e n , in den organischen Funktionen der Tiere und durch sie hindurch sich objektiv auswirkenden Natur-Intelligenz. Das ist ein Einzelbeispiel; im Grunde aber ist nach Schelling alle Naturkausalität von dieser Art. Alle Gesetzlichkeit der N a t u r f u n k t i o n e n u n d -gebilde h a t ihren Ursprung in der „bewußtlosen Intelligenz". Wenn K a n t Naturkausalität u n d Kausalität aus Freiheit als zwei heterogene Wirkungsarten unterschied, von denen die erstere uns i m Bewußtseinsfelde unserer Erscheinungen entgegentritt, während die andere auf das Ansich der Intelligenzen selber weise — so wird daraus f ü r Schelling eine allgemeine ontologische T h e s e : alle Naturkausalität ist in ihrem Grunde Freiheitskausalität, n u r allerdings nicht von der Art bewußter willentlicher Freiheit, sondern als jene in den äußeren N a t u r p r o d u k t e n real u n d objektiv erscheinende Selbsttätigkeit der bewußtlosen Intelligenz. Alles organische Leben insbesondere ist „Autonomie in der Erscheinung, das Schema der Freiheit, insofern sie in der N a t u r sich o f f e n b a r t " . I n d e m Schelling so die N a t u r als Selbstproduktion einer bewußtlosen Intelligenz f a ß t , übertragen sich nun auf den äußeren Wirklichkeitszusammenhang die metaphysischen Kategorien, die Fichte an der Systematik des Bewußtseins herausgearbeitet h a t t e . N a t u r ist erstens — analog dem „Mechanismus des Bewußtseins" — ein einheitlich sich aufbauendes Ganzes von sinnvoll ineinandergreifenden Funktionen, oder ein einziger dynamischer Prozeß der S e l b s t o r g a n i s a t i o n . Der alte Begriff der „Weltseele" ist in seine Rechte wieder einzusetzen, als „eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus". „Die Welt ist eine Organisation, und ein allgemeiner Organismus selbst die Bedingung (und insofern das Positive) des Mechanismus" — mit dieser These stellt Schelling die in der Metaphysik der Neuzeit so dringlich gewordene Frage nach Mechanismus und Teleologie auf einen neuen Boden. Die Wesensunterschiedlichkeit des AnorganischMechanischen und des Organischen im Aufbau der Natur, sowie die Daseinsabhängigkeit des letzteren vom ersten wird anerkannt und festgehalten. Aber indem nun die Natur in ihrer Ganzheit gefaßt wird als ein „Mechanismus" in jenem höheren Sinne der Selbstorganisation, erscheinen die mechanischen Vorgänge des Anorganischen als Glied momente und erste Stufenschichten dieses übergreifenden und aufwärtsstrebenden Gesamtlebens. In der Teleologie dieser idealistischen Naturansicht ist das Niedere und Daseinserste darum nicht auch das eigentlich Bestimmende und Seinspositive. Wie für Fichte die („tote") Außenwelt nur Umweltmaterial des tätigen Ich bedeutete, so ist für Schellings Naturphilosophie das Reich des Anorganischen letztlich nur die vom sichorganisierenden Gesamtleben gesetzte Umwelt für die Organismen! Das Leben t r i t t wieder neu in den Mittelpunkt des Naturbegriffs; auch für Schelling gilt (nur auf anderen Wegen) wie für Leibniz, daß es im Wesenhaften der Natur nirgends Totes und Starr-Materielles gibt. Die Organismen sind nicht — wie in der mechanistisch orientierten Naturphilosophie der Neuzeit von Descartes bis zu Kant hin — unbegreifliche Fremdwesen in einem Kosmo9 von rein mechanischer Grundstruktur, sondern in ihnen

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t r i t t nur a m einzelnen Gebilde selbst sichtbar zutage, was letzten Endes auch den A u f b a u der gesamten Naturwirklichkeit, mit Einschluß der anorganischen Schichten, b e s t i m m t . Der Mechanismus des Anorganischen ist also zwar d u r c h a u s ein anderes Natursein als die Wirklichkeit organischer Lebewesen; aber dieser Mechanismus ist nichts Letztes u n d f ü r sich Bestehendes, sondern selbst n u r „ d a s Negative des (Welt-) Organismus." Die „ t o t e n " Körper sind „mißlungene Versuche" der N a t u r auf ihrem Wege zur eigenen Lebensganzheit.

N a t u r ist ferner w e s e n h a f t ein W e r d e n . Der A k t u a l i s m u s F i c h t e s greift v o n der S p h ä r e des Bewußtseins ü b e r auf die ä u ß e r e Wirklichkeit, u n d vereinigt sich m i t K a n t s d y n a m i s c h e r K o n s t r u k t i o n der Materie. Alles N a t u r s e i n ist vielmehr d y n a m i s c h e r P r o z e ß . Alle Dinge sind n u r P r o d u k t e v o n T ä t i g k e i t e n , alle P r o d u k t e n u r v o r ü b e r g e h e n d e Gleichgewichts- u n d H e m m u n g g p u n k t e unendlichen W e r d e n s , Wirbel i m S t r o m . Das R u h e n u n d Beisichbleiben der P r o d u k t e (z. B . a u c h der Organismen) ist i m G r u n d e n u r E v o l u t i o n m i t unendlich kleiner Geschwindigkeit, beständiges R e p r o d u z i e r t w e r d e n d u r c h die k o n t i n u i e r e n d e Tätigkeit. U n d diese T ä t i g k e i t ist (wieder wie in Fichtes Bewußtseinslehre) ein einheitlich-unendliches S t r e b e n . N a t u r gelangt nie z u m r u h e n d e n Sein, weil sie nie der i h r e m W a l t e n i n n e w o h n e n d e n Idee e n t s p r i c h t . Der „ I d e a l i s m u s der N a t u r " , als der b e w u ß t l o s p r o d u z i e r e n d e n Intelligenz, s t e h t n i c h t a n d e r s u n t e r dem Prinzip der „ I d e e " , als der Idealismus des I c h . Die N a t u r v e r l a n g t n a c h d e m A b s o l u t e n , n a c h d e m „ a b s o l u t e n Prod u k t " der eigenen E i n h e i t u n d Lebensganzheit in voller expliziter Ausg e s t a l t u n g ; sie n ä h e r t sich, in ihren Schichten u n d P r o d u k t e n , allmählich diesem Ideal, ohne es je zu erreichen. D a h e r die tiefe S e i n s v e r w a n d s c h a f t ihrer S t u f e n u n d Gebilde, der G a t t u n g e n u n d A r t e n . D u r c h alle Organis a t i o n e n z u s a m m e n d r ü c k t die N a t u r ein absolutes Urbild oder Original aus, u n d alle Verschiedenheit der Organisationen ist n u r eine Verschiedenheit der A n n ä h e r u n g zu j e n e m Absoluten. Der letzte R e a l g r u n d f ü r die K o n t i n u i t ä t u n d T y p e n v e r w a n d t s c h a f t der N a t u r f o r m e n liegt also n a c h Schellings Idealismus i m Idealprinzip der p r o d u k t i v e n B i l d u n g s k r a f t ; aus d e m K a n t i s c h e n N o u m e n o n der f ü r das Streben d e r E r k e n n t n i s unerreichbaren T o t a l i t ä t u n d aus der Reflexionsidee der inhaltlichen Sys t e m a t i k der besonderen Naturgesetze ist j e t z t ein f u n d a m e n t a l e s Seinsprinzip geworden. So iBt das W e r d e n der N a t u r (analog j e n e m W e r d e n des Bewußtseins) E n t w i c k l u n g , p r o d u k t i v e schöpferische E v o l u t i o n der v o n P r o d u k t e n zu P r o d u k t e n f o r t s c h r e i t e n d e n B i l d u n g s k r a f t der b e w u ß t l o s e n Intelligenz. E i n e S t u f e des Wirklichen geht aus der a n d e r e n h e r v o r , u n d i m m e r n i m m t die jeweils h ö h e r e die Momente des V o r a n g e g a n g e n e n in sich auf, sie zu n e u e r Gesamtgestalt verschmelzend. N a t u r p h i l o s o p h i e h a t (im Gegensatz zur statischen N a t u r b e s c h r e i b u n g ) die — unzeitliche — E n t wicklungsgeschichte des Naturseins genetisch darzustellen. — Was aber Uber jede S t u f e der E n t w i c k l u n g weiter auf die n ä c h s t e t r e i b t , das ist die

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Gegensätzlichkeit der K r ä f t e und Momente, die sich an ihr a u f t u t . Die Dialektik und Gegensätzlichkeit der Tätigkeiten geht bei Schelling vom Ich des Bewußtseins auch auf die Realdynamik des N a t u r h a f t - U n b e w u ß t e n über. Die naturphilosophischen Grundlagen der Kantischen Lehre von der Realrepugnanz in allem Wirklichen treten wieder in den Vordergrund. Die schon von K a n t zur Konstruktion der raumerfüllenden Materie benutzte Gegensätzlichkeit der dynamischen G r u n d k r ä f t e t r i f f t mit der polaren S t r u k t u r des Magnetismus und der Elektrizität zusammen, und diese Grundtendenz der seinsaufbauenden Gegensätze läßt sich nach Schelling hinaufverfolgen bis in die Spaltung der organischen N a t u r p r o d u k t e in die zwei Geschlechter. So wird es f ü r Schelling „erstes Prinzip einer philosophischen Naturlehre, in der ganzen N a t u r auf Polarität und Dualismus auszugehen". „ D a ß in der ganzen N a t u r entzweite, reell-entgegengesetzte Prinzipien wirksam sind, ist a priori gewiß." N a t u r ist ein Schauspiel endlosen Kampfes der Gegensätze und K r ä f t e . Die entgegengesetzten Momente müssen ewig sich fliehen, u m sich ewig zu suchen. Aus ursprünglicher Einheit u n d I d e n t i t ä t der Subjekt-Objekt-Tätigkeit sich herausdifferenzierend, vereinigen sich die gegensätzlichen Tätigkeiten und K r ä f t e immer wieder in der realen Synthesis des höheren Produktes. Der Naturprozeß der Selbstorganisation ist also ein Prozeß fortschreitender Differenzierung — und d a m i t auch fortschreitender Individualisierung. Allenthalben und unaufhörlich geht die N a t u r auf Individualität aus, als der entscheidenden Form in der sie, am einzelnen P r o d u k t , auf endliche Weise sich als Totalität darstellt. Der Kampf der K r ä f t e gipfelt in der Kontraktion des Lebensstroms zum Eigenleben des Individuums. Fortschreitende Organisation ist immer auch gesteigerte Individualisierung. — Aber nie ist das Individuum in der Natur ein Letztes, Bestandhaftes, das eigentliche Ziel. Das Leben ist Eines, durch die vergänglichen Stromwirbel und Kontraktionen seiner selbst hindurchwirkend; das Eigenleben der individuellen Lebewesen ist immer nur ein relatives. So m u ß auch überall und selbst in den höchsten der Naturgebilde daB Individuum nur „Mittel, die Gattung Zweck der Natur scheinen — das Individuelle untergehen und die Gattung bleiben". Die einzelnen Produkte müssen aber doch immer nur „als mißlungene Versuche das Absolute darzustellen angesehen werden". Der Lebenskampf muß, um des Ganzheitsziels der schaffenden Natur willen, das Einzelleben unaufhörlich bedrohen und vernichten. Nicht der pluralistische Individualismus der Leibnizschen Weltkonzeption und Organismenlehre, sondern der Universalismus und Henismus der alten Weltseele- und Alleinheitslehren behält für Schelling — im Gebiete des untermenschlichen und vorbewußten Naturseins — das letzte Wort.

B. DIE STUFENREIHE DER GESAMTWIRKLICHKEIT. Die alte Dualität von N a t u r u n d Geisteswelt ist aufgehoben in der höheren Einheit eines alles Wirkliche umfassenden Entwicklungsaufbaus. Das Weltsystem stellt sich j e t z t dar als eine einzige große Stufenreihe. In der Welt des Geistes setzt sich fort, was die Natur begonnen und bis zu jenem P u n k t e durchgeführt h a t , wo im Menschen das Bewußtsein (zunächst das bloße sinnliche Wirklichkeits- u n d Selbstbewußtsein) durchbricht. Es ist Ein G r u n d t h e m a , an dem die Spannungen und SynH i n d b . d. Phil. I. F 10

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thesen auf allen S t u f e n , von der d y n a m i s c h e n K o n s t i t u t i o n der Materie bis h i n a u f zu den höchsten Bildungen des Menschengeistes w i r k e n : d a s W e r d e n des Bewußtseins, die S e l b s t e n t f a l t u n g u n d S e l b s t d u r c h l e u c h t u n g der Intelligenz. F i c h t e h a t d a s T h e m a der Philosophie richtig f i x i e r t : die p r a g m a t i s c h e Geschichte des Bewußtseins. Aber er h a t den E n t w i c k l u n g s b a u n i c h t wirklich v o n den F u n d a m e n t e n aus b e g o n n e n . Sein ethischer Idealismus, der die N a t u r n u r als Efandlungsmaterial u n d V o r stellungsgehalt des s e l b s t b e w u ß t e n Geistes a n e r k e n n e n will, b e g i n n t die Stufenreihe m i t d e m i m m a n e n t e n I c h p r i n z i p u n d d e m U n b e w u ß t e n i m Bewußtsein selber. Die N a t u r p h i l o s o p h i e erst h a t gelehrt, die i m d u r c h aus bewußtlosen Realen der N a t u r selbsttätig sich gestaltende Vorgeschichte dieser i m Bewußtsein sich e n t f a l t e n d e n Intelligenz von S t u f e zu Stufe, u n d von den ersten Seinsanfängen a n zu verfolgen. „ E i n e verä n d e r t e Ansicht der ganzen Philosophie u n d des I d e a l i s m u s s e l b s t " ist d a m i t g e w o n n e n ; aus d e m Idealismus des B e w u ß t s e i n s u n d der reinen „ G e i s t e r w e i t " ist ein „ R e a l i d e a l i s m u s " geworden, der a u c h das jenseits des Bewußtseins liegende Ansichsein der N a t u r in seiner Selbstheit a n e r k e n n t u n d dennoch m i t u m f a ß t . „ D e r Idealismus wird b l e i b e n ; er wird n u r weiter z u r ü c k u n d in seinen ersten A n f ä n g e n aus der N a t u r selbst, welche bisher der l a u t e s t e W i d e r s p r u c h gegen i h n zu seyn schien, a b g e l e i t e t . " Naturphilosophie als Lehre von den E n t w i c k l u n g s s t u f e n u n d P r o d u k tionsgestaltungen der bewußtlosen Intelligenz u n d Geistesphilosophie ( „ S y s t e m des t r a n s z e n d e n t a l e n I d e a l i s m u s " n a c h F i c h t e s Vorbild) als L e h r e v o m B e w u ß t s e i n s a u f b a u d e r menschlichen V e r n u n f t ergänzen einander zu d e m „ e r s t e n w a h r h a f t universellen S y s t e m " , das „die e n t gegengesetztesten E n d e n des W i s s e n s " — das Ansich der materiellen A u ß e n w e l t u n d das innerste Selbstbewußtsein der f r e i e n Intelligenz — „ a n e i n a n d e r k n ü p f t . " F ü r diesen Realidealismus ist der Geist n i c h t m e h r ein bloß auf sich beruhendes u n d in sich selber kreisendes Bewußtseinsleben, sondern er w ä c h s t u n m i t t e l b a r h e r a u s aus den NaturprozesBen (die i h r e m inneren Wesen n a c h Selbsttätigkeiten einer w e s e n h a f t b e w u ß t losen realgestaltenden Intelligenz sind) u n d ist, i n A n s c h a u u n g u n d H a n d lung, i m m e r f o r t bezogen auf die reale U m w e l t der N a t u r . U n d wiederum N a t u r ist hier „ n i c h t m e h r ein t o d t e s , b l o ß r a u m e r f ü l l e n d e s , sondern vielm e h r ein belebtes, f ü r den in ihr v e r k ö r p e r t e n Geist m e h r u n d m e h r durchsichtiges, endlich d u r c h die h ö c h s t e Vergeistigung in sich selbst zurückkehrendes u n d sich schließendes G a n z e s " . So sind hier n i c h t m e h r zwei Welten v o n N a t u r u n d Geist, sondern n u r Eine Welt, die Welt der in d e n großen Stufenreichen zuerst des „ R e a l e n " u n d d a n n des „ I d e a l e n " sich p r o d u k t i v e n t f a l t e n d e n u n d zu sich selber k o m m e n d e n Intelligenz. Mit dieser A n s c h a u u n g wird „aller Dualismus auf i m m e r v e r n i c h t e t , u n d alles wird absolut E i n s " . I n diesem S t u f e n b a u der d u r c h N a t u r b e r e i c h e u n d Bewußtseinsf o r m e n sich aufgipfelnden Intelligenz wird n u n die h ö c h s t e u n d abschlie-

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ßende Daseinsform dem ä s t h e t i s c h e n B e w u ß t s e i n u n d seinen Produktionen zugesprochen. I n diesem P u n k t e geht Schelling über Fichtes Metaphysik des Geistes, deren S t u f e n a n o r d n u n g er sonst im wesentlichen Obernimmt, hinaus zu einer neuen Position. „ E s ist Eine ununterbrochene Reihe, die v o m Einfachsten in der N a t u r an bis zum Höchsten u n d Zusammengesetztesten, dem Kunstwerk, h e r a u f g e h t . " I m „ S y s t e m der K u n s t " p r ä g t sich der N a t u r u n d Geist umgreifende Realidealismus zu höchster Bewußtseinsklarheit a u s : das Ideale des Bewußtseins ist hier unmittelbar in das Reale des wirklichen Werkes eingeschmolzen u n d leuchtet auch f ü r das gemeine Bewußtsein (nicht erst f ü r das philosophische) u n m i t t e l b a r daraus hervor. Wieder gelingt es Schelling, eine gewichtige Gruppe der Kantischen Systemintentionen, die bei Fichte unausgewertet blieb, in seine neue Metaphysik einzufügen. Zur Naturphilosophie und Organismenlehre, die Fichtes Metaphysik des Geistes ergänzen sollte nach Weisungen von K a n t s Kritik der teleologischen Urteilskraft, gesellt sich j e t z t die P h i l o s o p h i e d e r K u n s t — als höherer Ausbau der Metaphysik des Geistes selbst zu jener obersten harmonischen Synthese der divergenten Geisteskräfte mit sich selber u n d mit der Fülle des Gegebenen, auf die schon K a n t s Analyse des ästhetischen Bewußtseins i m ersten Teile der Kritik der Urteilskraft hinzielte. Der ethische Idealismus macht bei der Freiheit, dem unendlichen Streben, dem ewig unerfüllten Sollen als den Endprinzipien des Geistes H a l t ; Schelling fordert d a r ü b e r hinaus die Selbstrealisation des Geistes in der erfüllten Gegenwart des Idealen, in der unmittelbaren Synthesis von Freiheit u n d Notwendigkeit, in der Ausprägung des Unendlichen selbst im endlichen P r o d u k t . I m künstlerischen Genie u n d seinem Werk erreicht nach i h m die Geschichte des Bewußtseins ihren wahren E n d - und H ö h e p u n k t . Wie die N a t u r v o m Bloß-Objektiven der Materie sich aufs t u f t bis zum D u r c h b r u c b des Subjektiven im menschlichen Bewußtsein, so steigt der Geist aus der Subjektsgebundenheit des wissenden u n d wollenden Bewußtseins ü b e r die Stufen des ethischen u n d des geschichtlichen Daseinsaufbaues e m p o r zur vollen Objektivität u n d Gegenbildlichkeit im Kunstwerk, in der Welt der K u n s t . Noch einmal greift, an wieder neuer Stelle, in Schellings Systematik der Begriff des Unbewußten ein: der schöpferische Genius vereinigt, bis zur vollkommenen I d e n t i t ä t , was bis dahin überall in S p a n n u n g lebte: bewußtlose u n d bewußte Tätigkeit — N a t u r u n d Freiheit. Das „ U r s e l b s t " („jenes Absolute, welches den allgemeinen G r u n d der prästabilierten Harmonie zwischen dem Bewußten u n d dem Bewußtlosen e n t h ä l t " ) bricht hier im endlichen Bewußtsein durch u n d wird auf der Ebene des Bewußtseins selber aus dem Prod u k t e des künstlerischen Geistes reflektiert. Unendliche Daseinsfülle strahlt aus d e m O b j e k t auf das anschauende S u b j e k t zurück; das Gefühl unendlicher Harmonie und das Bewußtsein eines unendlichen, nie völlig zu durchschauenden Sinnzusammenhangs beweist dem E m p f ä n g p 10*

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liehen die G e g e n w a r t des Absoluten. „ S o ist die K u n e t die einzige u n d ewige O f f e n b a r u n g , die es gibt, u n d das W u n d e r , das, w e n n es a u c h n u r E i n m a l existirt h a t t e , uns von der a b s o l u t e n R e a l i t ä t jenes H ö c h s t e n überzeugen m ü ß t e . " Künstlerische I n s p i r a t i o n u n d K o n t e m p l a t i o n , nicht sittliche A k t i v i t ä t , ist die u n m i t t e l b a r s t e u n d höchste A u s p r ä g u n g der Absolutheit u n d R e a l i t ä t des Geistes; i m I n d i f f e r e n z p u n k t der Schönheit des G e m ü t e s u n d des Werkes erreicht die s p a l t e n d e Selbstdifferenzierung des S u b j e k t - O b j e k t s ihre letzte s y n t h e t i s c h e V e r s ö h n u n g . Hier erhalten denn auch die Begriffe der intellektuellen Anschauung und der produktiven Einbildungskraft ausdrücklich jene ästhetische Wendung, die f ü r die philosophischen I n t e n t i o n e n der R o m a n t i k so charakteristisch ist. Die ästhetische Anschauung ist nichts anderes als die objektiv gewordene intellektuelle; sie ist zugleich höchste Potenz aller produktiven Anschauung Oberhaupt. N a t u r ist „ d a s erste Gedicht der göttlichen I m a g i n a t i o n " (Produkt der produktiven Einbildungskraft der bewußtlosen Intelligenz); die Welt des Geistes und insbesondere deren höchste Schicht u n d Selbstdarstellung im System der K u n s t ist das zweite. Die ganze Wirklichkeit in allen ihren Stufen (nicht nur die Wirklichkeitsanschauung des theoretischen Bewußtseins) geht zurück auf die Einbildungskraft, d. h. auf jene absolute , , K r a f t der I n e i n s b i l d u n g " , ,.wodurch ein Ideales zugleich auch ein reales, die Seele Leib ist, die K r a f t der Individuation, welche die eigentlich schöpferische i s t " . „ L e b e n u n d Mannigfaltigkeit . . . ist ursprünglich und an sich nur durch das Prinzip der göttlichen Imagination, oder, in der abgeleiteten Welt, nur durch die Phantasie (des Menschengeistes) möglich, die das Absolute mit der Begrenzung zusammenbringt und in das Besondere die ganze Göttlichkeit des Allgemeinen bildet." — So stehen denn f ü r Schelling Metaphysik und K u n s t in der innigsten Beziehung zueinander: das gleiche schöpferische Bildungsprinzip, das jene hinter allen Wirklichkeitsbereichen aufzudecken und durch den Stufenbau derselben zu verfolgen hat, ist hier f ü r das empfängliche Bewußtsein ohne weiteres, in voller Produktion, zu fassen. Die K u n s t ist „ d a s einzige wahre und ewige Organon zugleich und Document der Philosophie".

C. DAS IDENTITÄTSSYSTEM UND DIE M E T A P H Y S I K D E R KUNST. Die Ausbildung von Schellings M e t a p h y s i k ist, ähnlich wie bei F i c h t e , von den ersten G e s a m t k o n z e p t i o n e n aus f o r t g e s c h r i t t e n zu tieferer Besinnung auf die vorausgesetzten F u n d a m e n t e . N a c h d e m die Einheit des Weltsystems in ihren großen E n t w i c k l u n g s z ü g e n festgelegt war, ging die Frage e r n e u t z u r ü c k auf das in allen Schichten u n d Gebilden gleicherm a ß e n z u m A u s d r u c k k o m m e n d e U r p r i n z i p — auf das absolute E i n e , das allen diesen S p a l t u n g e n u n d Differenzierungen vorausliegt. Das R e s u l t a t der neuen G r u n d l e g u n g s b e m ü h u n g e n ist das „ I d e n t i t ä t s s y s t e m " . Die Ausdrücke des „ a b s o l u t e n I c h " oder des „ U r s e l b s t " werden fallen gelassen; sie stehen noch zu s t a r k u n t e r d e m E i n d r u c k des F i c h t e schen Bewußtseinsidealismus. Der neue Realidealismus f o r d e r t ein Prinzip der S u b j e k t - O b j e k t i v i t ä t , das ganz gleichermaßen dem „ o b j e k t i v e n S u b j e k t - O b j e k t " der N a t u r p h i l o s o p h i e wie dem „ s u b j e k t i v e n Subj e k t - O b j e k t " der Philosophie des Geistes vorausliegt. I m letzten Ansich müssen N a t u r u n d Geist (die j a n u r als E n t w i c k l u n g s f o r m e n zu ihrer Differenz u n d Gegensätzlichkeit sich ausgestalten) identisch sein — n u r d a n n ist es verständlich, wie aus N a t u r der Geist hervorgehen, u n d wie-

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derum der Geist in seiner immanenten Selbstanschauung das Bild der wirklichen Natur noch einmal produzieren kann. Das Absolute ist nicht das absolute Ich (dieses ist vielmehr „der dem Absoluten eingeborene Sohn"), sondern reine I d e n t i t ä t des Seins und Denkens, ewige absolute „Indifferenz".

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Mit dieser W e n d u n g zur Identitätsphilosophie schließt Schelling sein System bew u ß t e an die monistische Metaphysik G. Brunos u n d Spinozas an. Die Konsequenz des P a n t h e i s m u s scheint unvermeidlich; u n d in der T a t s t e h t Schelling in dieser Schicht seines metaphysischen Prinzipiendenkens (die aber nicht die tiefste und letzte geblieben ist) m i t t e n darin. Gott ist das absolute All, die wahre T o t a l i t ä t in ewiger Ungeschiedenheit. „ G o t t u n d Universum sind eins." Der Gewichtsausschlag dieses P a n theismus aber geht eindeutig n a c h d e r S e i t e d e s A k o s m i s m u s . Die Differenzen der Weltwirklichkeit fallen außerhalb des Absoluten — sie sind n i c h t W a h r h e i t u n d Ansichsein, sondern Schein. N u r f ü r das endliche Bewußtsein u n d das unvollkommene E r k e n n e n h a b e n die Wirklichkeiten in ihren Unterschieden u n d Gegensätzen R e a l i t ä t . „ N i c h t s ist, a n sich b e t r a c h t e t , endlich." Sein h a t n u r das Unendliche, die reine abgelöste Einheit. Wie dieser „ S c h e i n " , diese Ansicht des endlichen Erkennens (und also dessen Dasein!) möglich ist, d a v o n sagt der Einheitsenthusiasmus dieser „intellektuellen Ans c h a u u n g " des Absoluten nichts. Der Übergang zur Wirklichkeit der Welt ist erst in späteren B e t r a c h t u n g e n , d u r c h einen neuen wieder tiefer greifenden Ansatz, lebendiges P r o b l e m geworden. Aber in dieser Fassung des Systemprinzips bleibt die idealistische G r u n d f ä r b u n g erhalten. Schellmgs Metaphysik will j a nicht eine Neuauflage, sondern ein (idealistisches) „ G e g e n s t ü c k " zu Spinozas Identitätsphilosophie sein! Das Kantische Vernunftprinzip ist auch hier noch b e s t i m m e n d ; n u r ist die endlich-menschliche V e r n u n f t zur absoluten göttlichen geworden; der subjektive (Bewußtseins-) Idealismus ist zum obj e k t i v e n (Real-) Idealismus der Einheit von N a t u r u n d Geist, u n d n u n von d a zum absoluten Idealismus übergegangen. D a s Eine Absolute ist die Eine über alle Gegensätze v o n S u b j e k t e n u n d Objekten, über alle Differenzen des Idealen u n d Realen erhabene V e r n u n f t , die reine „ W a h r h e i t " , die absolute intellektuelle Anschauung. Das absolute E r k e n n e n oder die unendliche Erkenntnis, die Gott von sich selbst h a t (später heißt es d a n n auch, m i t W i e d e r a u f n a h m e der voluntaristischen Grundtendenz, die absolute Liebe seiner selbst, oder das Sich-Wollen) ist die ewige d e m Absoluten selbst gleiche „ F o r m " des Absoluten. Diese V e r n u n f t u n d E r k e n n t n i s liegt allerdings hinaus über alles Bewußtsein; dieser I d e n t i t ä t des Anschauens u n d Denkens (oder des Subjekts u n d Objekts) gegenüber ist u n s e r e intellektuelle Anschauung n u r ein verworrener Schein.

I m Rahmen des Identitätsprinzips ist dann die neue Mittelstellung des ästhetischen Bewußtseins zu einer umfassenden M e t a p h y s i k d e r 40 K u n s t und des Schönen überhaupt ausgereift. Zum ersten Male in der Geschichte der Philosophie erhält (über alle schon vielfach aufgetretene Färbung der Seinsprinzipien durch dier Ideen des Schönen und der Harmonie hinaus) die Kunst als solche eine schlechthin entscheidende Stellung und Funktion i m "Weltzusammenhang. Der ästhetisch-religiöse Enthusiasmus, in dem Schelling seine Verwandtschaft und Abkunft v o n Plotin und Bruno bekundet, verbindet sich mit jener Überzeugung, daß Kunst und Philosophie die höchsten Offenbarungsweisen des Absoluten sind und damit, unter allen anderen Selbstdurchdringungsformen des Geistes, auf einzige Art einander zugeordnet sind. So richtet Schelling,

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auf dem Boden des idealistischen Identitätssystems und in F o r t f ü h r u n g der ästhetisch-metaphysischen Intentionen des Platonismus u n d der K r i t i k der Urteilskraft, das erste S y s t e m einer Metaphysik der K u n s t auf. (Hegel und Schopenhauer sind i h m dann gefolgt.) Der Kerngedanke war schon im R a h m e n der Metaphysik des Geistes angedeutet worden. Jedes wahre K u n s t w e r k offenbart an seinem Teile das Absolute — in g e g e n b i l d l i c h e r A n s c h a u u n g . K u n s t ist die gegenbildlich angeschaute göttliche Einheitsfülle, eine notwendige, aus d e m Absoluten selbst unmittelbar ausfließende Erscheinung. In ihr ist höchste Freiheit und Absichtlichkeit mit unbedingtester Notwendigkeit u n d Gesetzmäßigkeit vollkommen verschmolzen. Die Gegensätze der Erscheinung entschwinden hier in die reinste Absolutheit, das Endliche erweist sich in seiner absoluten Identität m i t dem Unendlichen. D a s produktive künstlerische Genie ist „sozusagen ein S t ü c k aus der A b s o l u t h e i t G o t t e s " ; G o t t oder das Unendliche ist Quelle und Urbild aller Schönheit und unmittelbare Ursache aller K u n s t . — A n diesen K e r n von Schellingß metaphysischer Ä s t h e t i k gliedern sich dann Gedanken an, die eine Verbindung des Identitätssystems mit der Platonischen Ideenlehre dokumentieren. Der ontologische Idealismus der antiken (und mittelalterlichen) Metaphysik wird auch hier — wieder anders als bei Fichte u n d v o n neuer Seite her — in den zur O b j e k t i v i t ä t und Absolutheit durchgereiften Vernunftidealismus Kantischer A b k u n f t aufgenommen. Die reine Identität des Absoluten, wie es Schelling verstanden haben will, ist nicht abstrakte leere Einheit, sondern, i m Ungeschiedenen, unendliche F ü l l e : in einer ewigen Ideenwelt (noch fern v o n aller Vielheit des Raumzeitlichen und der Bewußtseinsbildungen) f i n d e t das Unendlich-Eine seinen unmittelbaren Seinsausdruck. Dies ewige Universum in der absoluten Vern u n f t selbst ist die wahre, intelligible, urbildliche N a t u r ; unsere W i r k lichkeit, die Natur- und Geisteswelt, ist unvollkommenes Abbild-Sein, ins Zeitliche herabgezogen, Erscheinungswelt. Die ewigen Ideen oder Selbstanschauungen Gottes — aller Gegensätzlichkeit des S u b j e k t i v e n und O b j e k t i v e n , N a t u r h a f t e n und Geistigen vorausgelegen wie die absolute Identität selbst — sind die Urbilder aller in Stufen und Differenzen sich auseinanderlegenden Wirklichkeiten, die Formen der Dinge wie sie im Absoluten sind, die eigentlichen und wahren Dinge an sich! — U n d dies ist nun die große metaphysische F u n k t i o n der K u n s t : diese Ideen gegenbildlich und im endlich-sinnlichen P r o d u k t selbst in concreto darzustellen. Ohne es zu wissen, offenbart der künstlerische Genius „ d a s Innere jener allseligsten N a t u r , in welcher kein Gegensatz i s t " . „ D i e Formen der K u n s t sind die Formen der Dinge an sich und wie sie in den Urbildern sind". „Dieselben Urbilder, v o n w e l c h e n . . . die wirklichen Dinge nur unvollkommene A b d r ü c k e sind, sind es, die in der K u n s t selbst — als U r b i l d e r , demnach in ihrer Vollkommenheit o b j e k t i v werden u n d in der reflektierten W e l t selbst die Intellektualität darstellen." Die v o n

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der Philosophie nur im abstrakten System bedeutbaren Ideen werden „durch die Kunst als Seelen wirklicher Dinge objektiv".

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So ist Ästhetische Anschauung — Anschauung der Dinge an sich. Die Kunst enthüllt die Wahrheit des Seins. Wahrheit und Schönheit sind identisch — sie sind nichts anderes als die beiden höchsten gleichberechtigten Ausdrücke der Indifferenz selbst. K u n s t und Philosophie arbeiten am gleichen Werk der metaphysischen Enthüllung, der schauenden Erhebung des Geistes zur Einheit des Absoluten. Jedes endliche Gebilde kann auf völlig gleiche Weise unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit wie der Schönheit betrachtet werden — in beiden Perspektiven fällt seine Erscheinongsbedingtheit und Scheinwirklichkeit von ihm ab, und die ewige Ideenwelt leuchtet auf. — Damit gewinnen auch die letzten Seinsprinzipien selbst bei Schelling ästhetischen Charakter. Die Indifferenz ist selbst die absolute Schönheit, die Schönheit „ist das Erste, Positive, die Substanz der Dinge"; und so „ v e r h ä l t sich auch das Universum, wie es in Gott ist, als absolutes Kunstwerk, in welchem unendliche Absicht mit unendlicher Notwendigkeit sich durchdringt". Der ideenoffenbarenden „konkreten Schönheit" in K u n s t und N a t u r stellt sich die „Schönheit an sich selbst", die urbildliche Schönheit der Idee selber, der „ewigen Begriffe" als das Höhere und Eigentliche gegenüber. Urbildliche und abbildliche (also unvollkommene) Schönheit werden unterschieden, nicht nur urbildliches u n d abbildliches Sein. Der eigentliche Eigentümer und Inbegriff der Schönheit ist das Absolute. Aus Schellings Metaphysik der Kunst ist besonders bedeutsam noch der Versuch, auf Grund des metaphysischen Systemprinzips ein S y s t e m d e r K ü n s t e aufzurichten. Fflr ihn ist „ K u n s t " nicht ein Sammelname für eine unzusammenhängende, durch Außere Sinnlichkeitsfunktionen (Gesichtssinn, GehOr) oder Zweckfunktionen bedingte Vielheit, sondern eine große in Künste und Kunstgattungen sinnhaft und notwendig sich gliedernde Einheit. „Der ist noch sehr weit zurück, dem die Kunst nicht als ein geschlossenes, organisches und ebenso in allen seinen Theilen notwendiges Ganzes erschienen ist, als es die N a t u r i s t . " In allen Künsten und auch für alle im geschichtlichen Werdegang sich herausarbeitenden Richtungen der einzelnen Künste ist das hervorbringende Prinzip eins und dasselbe, und ebenso ist der Endzweck, die Idee der K u n s t n u r Eine. Wie in der Selbstentwicklnng der Natur (ebenso der Bewufltseinswelt) differenziert sich aber eben diese produktive Einheit in eine Vielheit und Fülle von Formen n n d P r o d u k t e n . So h a t denn jede Kunstart ihre besondere unersetzliche Funktion und weist an ihren Grenzen über sich hinaus auf die andern Gestaltungsweisen. — De« näheren sucht Schelling, von Beinem metaphysischen Weltbegriff aus, dieses System der Künste als eine Entwicklungsreihe aufsteigender Stufen zu fassen. Auch die Kunst durchläuft, in den Arten und Sonderformen der Künste, alle jene „ P o t e n z e n " , welche die Philosophie in der begrifflichen Nachschaffung der Wirklichkeitsordnung zu durchlaufen h a t . Auch in den Künsten gibt es nach Schellings Disposition (entsprechend dem die Seinsart der N a t u r bezeichnenden relativen Überwiegen des Realen über das Ideale) eine „reale Reihe" — die Reihe der bildenden Künste. Über sie hebt sich die „ideale Reihe" der redenden Künste (entsprechend der Geisteswelt in der Gesamtwirklichkeit) zu gesteigerter Auswirkung und Verkörperung des Idealen hinaus. „Auf keine andere Weise, als wie sich in der Sprache das Wissen noch jetzt symbolisch fasset, h a t sich das göttliche Wissen in der Welt symbolisch gefaßt, so daß auch das G a n z e der realen Welt wieder ein ursprüngliches Sprechen ist. Aber die r e a l e Welt ist nicht mehr das lebendige Wort, das Sprechen Gottes selbst, sondern nur das gesprochene — geronnene — Wort. So ist die bildende K u n s t nur das gestorbene Wort . . ." „Alle Kunst ist unmittelbares Nachbild der absoluten Produktion oder der absoluten Selbstaffirmation; die bildende nur läßt sie nicht als ein Ideales e r s c h e i n e n , sondern durch ein anderes, und demnach als ein Reales. Die Poesie dagegen, indem sie dem Wesen nach dasselbe ist, was die bildende K u n s t ist, läßt jenen absoluten Erkenntnisakt unmittelbar als Erkenntnisakt erscheinen, und ist insofern die höhere Potenz der bildenden K u n s t . " Der metaphysische Idealismus dieser Kunstphilosophie (mit seiner H e r k u n f t vom Idealismus des erken-

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nenden Bewußtseins) fordert diese Überordnung der redenden K ü n s t e , deren A u s d r u c k s s p h ä r e nicht die konkrete Sinnlichkeit des Sichtbaren ist, sondern die Sprache, u n d d a m i t das im lebendigen Begriff gefaßte Allgemeine, das Ideale oder das Wesen.

D. F R E I H E I T S P H I L O S O P H I E UND M E T A P H Y S I K D E R PERSÖNLICHKEIT. Das I d e n t i t ä t s s y s t e m der absoluten V e r n u n f t u n d der ästhetische P a n t h e i s m u s sind n i c h t das letzte W o r t in Schellings M e t a p h y s i k . Eine neue Schicht f u n d a m e n t a l e r Seinsprinzipien wächst aus der F r a g e herv o r , die bisher beiseite geschoben w a r : aus der F r a g e n a c h der R e a l i t ä t des E n d l i c h e n u n d Vielen, n a c h der Wirklichkeit der „ W e l t " . Die bloße B e h a u p t u n g ihres Scheincharakters — von der I d e n t i t ä t des Absoluten h e r gesehen — k a n n n i c h t genügen. Die wirkliche D a s e i n s e r f a h r u n g des s u c h e n d e n u n d ringenden Menschen, die a l l e n t h a l b e n auf d e n realen Gegensatz u n d den Krieg in allen Dingen, auf Zufall u n d U n v e r n u n f t i m W i r k l i c h e n , auf die K o n f l i k t e der I n d i v i d u e n , auf das Leiden u n d das Böse s t o ß e n m u ß — t r e i b t den D e n k e r h i n a u s über d e n S t a n d p u n k t einer b l o ß ä s t h e t i s c h e n K o n t e m p l a t i o n der H a r m o n i e des Alls in G o t t . Die Selbstheit u n d Besonderheit des E x i s t i e r e n d e n , der W e l t praeter Deum, dieser W e l t , in der der Mensch sich als individuelle Persönlichkeit, mit d e r a b s o l u t e n Freiheit seiner Willensentscheidungen, v o r f i n d e t , t r i t t in d e n V o r d e r g r u n d des Interesses. Gegenüber der W u c h t der F r a g e n , die hier sich a u f t u n , v e r b l a ß t der Akosmismus. A u c h der G e d a n k e der I d e e n w e l t , der a n d e m E i n e n Absoluten die (unzerteilte) Fülle herausk e h r e n sollte, bleibt hier zurück. N i c h t u m die Vielheitseinheit einer ewigen I d e e n h a r m o n i e , sondern u m die T r e n n u n g e n u n d S p a l t u n g e n der wirklichen r a u m z e i t l i c h e n N a t u r u n d der in F r e i h e i t s k ä m p f e n realer Indiv i d u e n sich e n t w i c k e l n d e n Geisteswelt geht j e t z t die F r a g e . Die d u r c h keinen Begriff v o n Schein oder E r s c h e i n u n g a u f z u h e b e n d e F a k t i z i t ä t dieser W e l t , die in sich selber allenthalben der Sinn u n d E i n h e i t s u c h e n d e n V e r n u n f t den u n a u f h e b l i c h e n irrationalen R e s t entgegenstellt, m u ß philosophisch a n e r k a n n t u n d (im Z u s a m m e n h a n g m i t der E i n h e i t der absoluten I d e n t i t ä t ) a u s g e d e u t e t werden. Der L e i t b e g r i f f , der hier e i n t r i t t , ist der alte mythisch-religiöse Ged a n k e des A b f a l l s . N i c h t aus d e m Absoluten selbst ist der Ü b e r g a n g ins E n d l i c h e u n d Viele zu erklären. E r ist kein stetiges H e r v o r g e h e n (etwa n a c h A r t d e r E m a n a t i o n s l e h r e n ) , sondern ein u n v e r m i t t e l t e s A b b r e c h e n d u r c h eine g r u n d l o s freie T a t — ein zuletzt schlechthin irrationaler Vorg a n g . A m A n f a n g aller Weltrealität s t e h t das willentliche Sichergreifen des S e l b s t ; der Auseinanderfall des ewigen I d e e n k o s m o s in das raumzeitliche A u s e i n a n d e r der N a t u r ist Folge. Ein R i ß e n t s t e h t zwischen d e m A b s o l u t e n u n d d e m E n d l i c h e n ; die D u a l i t ä t von G o t t u n d Welt, von I d e e n u n d Dingen oder Ichindividuen bricht auf.

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In einem neuen Sinne wird hiermit die Freiheit das eigentlich zentrale Thema der Metaphysik. Nicht die Freiheit der absoluten Vernunft, die identisch ist mit deren immanenter „heiliger" Notwendigkeit. Sondern die m e n s c h l i c h e F r e i h e i t . Kant glaubte Sinn und Realität der Freiheit hinreichend bezeichnet zu haben durch die Hervorkehrung der Autonomie der sittlichen Vernunft. Erst im Problem des radikalen Bösen streift er wieder an die Freiheit des Menschen, auch gegen die Vernunft zu handeln. Die Ausweitung aber der Kantischen Freiheitsphilosophie zur Metaphysik des objektiven und absoluten Idealismus bei Fichte und bei Schelling selbst — trug unausweichlich die Tendenz in sich, von der Entschließungsfreiheit des individuellen Subjekts überzugehen zu jener höheren inhaltvollen und konfliktentrückten Freiheit des göttlich-ideellen Lebens, v o n der aus gesehen alle Willkür-Zufälligkeit realer Einzelwesen nichtig und belanglos scheinen mußte. Dagegen verlegt nun der spätere Schelling wieder neu das Schwergewicht des metaphysischen Freiheitsproblems in den Bereich des einzelnen im Konflikt der Willensentscheidung stehenden Menschen. ,,Der Idealismus gibt nämlich einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit. Der reale und lebendige Begriff aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sey." U m dies spezifische Wesen der menschlichen Freiheit zu durchleuchten, dazu „reicht der bloße Idealismus nicht hin". Wieder von einer neuen Seite also d r ä n g t Schelling» Spekulation auf eine Vertiefung des metaphysischen Idealismus zum Realidealismus. Die R e a l i t ä t des wirklichen endlichen Daseins m i t seinen Trennungen, Gegensätzen, Konflikten, bis zu den Möglichkeiten widergöttlicher Entscheidungen, soll von der philosophischen V e r n u n f t in ihrer ganzen B e d e u t s a m k e i t a n e r k a n n t und im Systemzusammenhang eines „ h ö h e r e n R e a l i s m u s " begriffen, nicht aber in einen reinen Vernunftidealismus verflüchtigt werden. Das aber ist n u r möglich, wenn der Idealismus selbst, in seinem eigenen inneren A u f b a u „einen lebendigen Realismus zur Basis e r h ä l t " . — Der Weg d a h i n wird schon d a m i t e r ö f f n e t , d a ß n u n , mit der menschlichen Freiheit, das Willensprinzip wieder ganz in den M i t t e l p u n k t t r i t t . Die Freiheit des Menschen ist unbedingte Freiheit der Willense n t s c h e i d u n g ; der Wille also ist das Unbedingte in der Endlichkeit des Einzelwesens, die „ d e r i v i e r t e Absolutheit oder G ö t t l i c h k e i t " . „ G o t t k a n n nur sich offenbar werden in d e m , was i h m ähnlich ist, in freien aus sich selbst handelnden W e s e n . " I n dieser Perspektive wird d a n n auch das Absolute selbst (die causa sui, nach Spinoza) als aus sich handelnder Urwille gefaßt. „ E s gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu f i n d e n . " Ein neues gewaltiges Anschwellen des metaphysischen Voluntarismus setzt a n diesem P u n k t e ein. U n d diese metaphysische Tendenz geht wiederum mit einer neuen Zuspitzung der Frage n a c h dem Wesen Gottes und der göttlichen Persönlichkeit H a n d in H a n d . Das P r o b l e m des P a n t h e i s m u s wird n u n ausdrücklich aufgerollt. Der Monismus des I d e n t i t ä t s s y s t e m s und des bisherigen Idealismus ü b e r h a u p t — und ebenso n a t ü r l i c h der Monismus der Spinozistischen Alleinheitslehre — läßt nicht nur die Selbstheit des Endlichen und die K l u f t zwischen Gott und Welt verschwimmen, sondern er k a n n auch dem religiösen G r u n d f a k t u m der P e r s ö n l i c h k e i t G o t t e B nicht beikommen. Der Pantheismus —• sofern m i t diesem Ausdruck nichts anderes bezeichnet ist, als die I m m a n e n z aller Dinge in Gott, diese u n a u f h e b b a r e Wahrheit, d a ß Gott Alles in Allem ist, d a ß wir

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und alle Wesen in Gott leben, weben und sind — m n ß mit dem Persönlichkeitstheismna der Offenbarungsreligion und der religiösen E r f a h r u n g in einheitlicher philosophischer Seinsdeutung verbunden werden. Der wahre Monotheismus ist nicht der Gegensatz des Pantheismus, sondern seine Überwindung, seine Überhöhung in einem reicheren und lebendigeren Begriff v o m Wesen des Absoluten, als die a b s t r a k t e Systematik Spinozas oder des Idealismus bisher zu geben vermochte. — Von allen diesen Fragen aus — Realität der Welt, menschliche Freiheit, göttliche Persönlichkeit •— soll also n u n der Idealismus des Identit&tssystems zu tieferen Seinsprinzipien und Wirklichkeitsdeutungen fortgebildet werden.

Das K e r n s t ü c k v o n Schellings n e u e m A n s a t z bildet seine Philosophie der P e r s ö n l i c h k e i t . Freiheit des Menschen ist Freiheit eines persönlichen Wesens — das h e i ß t m e h r a l s : einer „ I n t e l l i g e n z " eines „ S e l b s t b e w u ß t s e i n s " , eines „ v e r n ü n f t i g e n W e s e n s " ! Schon K a n t u n d F i c h t e sehen den wirklichen Menschen als ein Zwei-Schichten-Wesen: seine Vern u n f t s t e h t seiner Sinnlichkeit, die selbsttätige A u t o n o m i e der n a t u r h a f t e n G e b u n d e n h e i t , das Pflichtwollen der Ichbegierde entgegen, u n d m u ß (wenn aus der Person Persönlichkeit im sittlichen Sinne w e r d e n soll) ihr ü b e r g e o r d n e t werden. Aber es k a m o f t genug so h e r a u s i m Idealismus der Freiheit, als ob die „ S i n n l i c h k e i t " ( K a n t sagte w o h l : „ d i e lästigen N e i g u n g e n " ) bloß S c h r a n k e u n d H e m m u n g oder d e n n V o r s t u f e u n d S p r u n g b r e t t f ü r das höhere Leben i m Geiste wäre, als o b V e r n u n f t allein das Sein der w a h r e n sittlichen Persönlichkeit a u s m a c h e n soll. Dagegen richtet sich Schelling. „ S o hoch wir die V e r n u n f t a u c h stellen, glauben wir doch z. B . nicht, d a ß j e m a n d aus reiner V e r n u n f t t u g e n d h a f t , oder ein Held, oder ü b e r h a u p t ein großer Mensch sey . . . N u r in der Persönlichkeit ist L e b e n , u n d alle Persönlichkeit r u h t auf einem d u n k e l n G r u n d e . " I n allem h ö c h s t e n geistigsten Leben des wirklichen lebendigen Menschen ist die wirkende M a c h t des Eigenwillens, der D r a n g sinnlichn a t u r h a f t e r Triebe, die individuelle K o n t r a k t i o n des Lebenswillens höchst positiv vorausgesetzt. J e k r ä f t i g e r u n d reicher diese u n t e r v e r n ü n f t i g e n , i r r a t i o n a l e n Mächte i m Menschen sein L e b e n speisen, u m so m e h r Char a k t e r k a n n die Persönlichkeit gewinnen. I m a b s t r a k t e n Prinzip m a g m a n „ V e r n u n f t " u n d „ S i n n l i c h k e i t " einander bloß entgegenstellen; i m wirklichen Leben des Geistes aber k a n n das Geistige w a h r h a f t n u r „ i m Verh ä l t n i s z u m Ungeistigen" u n d d u r c h k o n k r e t e A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit diesem, in Ü b e r w i n d u n g u n d V e r k l ä r u n g des Bloß-Natürlichen gewonnen w e r d e n ! Der Mensch ist „ G e i s t " n u r als ein selbstisches W e s e n ; n u r die „ w e r k t ä t i g e V e r b i n d u n g beider P r i n z i p i e n " , der Selbstheit u n d d e r Vern u n f t , k a n n s c h a f f e n d u n d erzeugend werden als Persönlichkeit. Persönliche Freiheit ist nicht bloße G e b u n d e n h e i t in der V e r n u n f t u n d bloße Losgelöstheit v o m Selbstisch-Sinnlichen; als G e i s t ist die Selbstheit frei v o n b e i d e n Prinzipien, u n d eben d a d u r c h wirkende K r a f t der Durchd r i n g u n g des N a t u r h a f t - R e a l e n mit der I d e a l i t ä t . „ A u s diesem G r u n d e ist a u c h j e n e R e d e ganz richtig, d a ß , wer keinen Stoff noch K r ä f t e zum Bösen in sich h a t , a u c h z u m G u t e n u n t ü c h t i g sey . . . Die Leidenschaften,

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welchen u n s e r e n e g a t i v e Moral d e n Krieg m a c h t , sind K r ä f t e , deren j e d e m i t der ihr e n t s p r e c h e n d e n T u g e n d eine gemeinsame Wurzel h a t . Die Seele alles H a s s e s ist die Liebe . . . " Die Urtriebe der Selbstheit, die K r ä f t e der (leiblich-seelischen) L e b e n s k o n t r a k t i o n sind es, die das (rein in sich noch unpersönliche) I d e a l p r i n z i p i m Menschen i m m e r f o r t sollizitieren, das Mögliche zur wirklichen A u s ü b u n g v e r a n l a s s e n ; u n d i n d e m d a s d a r i n a k t u a l gewordene u n d vielfältig e n t f a l t e t e V e r n u n f t - oder Liebeswollen die d u n k l e n Triebe ins gehörige Maß u n d organische Gleichgewicht b r i n g t , sie in den Z u s t a n d der P o t e n z z u r ü c k d r ä n g e n d , e n t s t e h t die wirkliche Persönlichkeit. Persönlichkeit „ist lebendige E i n h e i t v o n K r ä f t e n " , V e r b i n d u n g eines Selbständigen ( A u t o n o m e n ! ) m i t einer u n a b h ä n g i g e n Basis, ,,8o d a ß beide sich ganz d u r c h d r i n g e n u n d E i n Wesen sind". E i n allgemeines metaphysisches Prinzip, das überall in der N a t u r a m W e r k e ist, wird v o n hier s i c h t b a r . Alles L e b e n u n d e n t f a l t e t e Dasein h a t dies R e a l p r i n z i p d e r A b s o n d e r u n g zur Selbstheit u n d des irrationalen u n b e s t i m m t e n , in sich willkürlich u n d zufällig spielenden Drangs zur V o r a u s s e t z u n g . Alles Lebendige m u ß sich erst in das besondere Sein einschließen, u m a u s der D u n k e l h e i t desselben d u r c h z u b r e c h e n zur Verk l ä r u n g . „Alle G e b u r t ist G e b u r t aus dem D u n k e l in L i c h t . " „ A u s d e m D u n k e l des V e r s t a n d l o s e n (aus Gefühl, S e h n s u c h t , der herrlichen M u t t e r d e r E r k e n n t n i s ) e r w a c h s e n erst die lichten G e d a n k e n . " Überall wo L u s t u n d Begierde ist, d a ist schon „eine A r t der F r e i h e i t " , der schöpferischen B e s o n d e r u n g , die die n o t w e n d i g e Basis u n d T r i e b k r a f t jedes Aufstiegs z u m Geiste ist. D a s K o n t r a k t i o n s p r i n z i p des „ E i g e n w i l l e n s " ist es, m i t d e r ganzen I r r a t i o n a l i t ä t u n d Zufälligkeit seiner Auswirkungen, das überall d e m L e b e n d e r N a t u r „ d e n l e t z t e n G r a d der Schärfe u n d der Bes t i m m t h e i t " , d e r Mannigfaltigkeit u n d E i g e n a r t gibt. D e m AlleinheitsMonismus Spinozas k a n n jede B e s t i m m t h e i t n u r als n e g a t i v gelten; die R e a l i t ä t des E i n z e l n e n u n d Individuellen wird v e r f l ü c h t i g t . E r s t von der A n e r k e n n u n g einer f u n d a m e n t a l e n Zweiheit der Seinsprinzipien aus, die d a s R e a l p r i n z i p des Eigenwillens als Basis u n d B e d i n g u n g aller lebendigen W i r k s a m k e i t des V e r n u n f t - u n d Idealprinzips (des „Universalwillens") f a ß t , wird es b e g r e i f b a r , d a ß „ d i e B e s t i m m t h e i t der F o r m e n in der N a t u r nie eine V e r n e i n u n g , sondern stets eine B e j a h u n g " ist. Allem Wirklichen w o h n t w e s e n s m ä ß i g eine K r a f t inne, mit der es sich als ein eigenes Ganzes d e m G a n z e n g e g e n ü b e r positiv b e h a u p t e t , u n d alle höchste Selbstgestalt u n g der W i r k l i c h k e i t in N a t u r - u n d Geisteswelt lebt m i t v o n dieser Kraft. Die Zweiheit d e r Prinzipien wird n u n v o n Schelling in das Sein des A b s o l u t e n selbst z u r ü c k v e r f o l g t . Die neu sich wieder a u f d r ä n g e n d e F r a g e n a c h U r s p r u n g , R e a l i t ä t u n d Sinn des Bösen in der Welt v e r b i n d e t sich m i t d e m P r o b l e m d e r göttlichen Persönlichkeit. Die I d e n t i t ä t des Absol u t e n ist n i c h t leere Tautologie, sondern e n t f a l t e t sich, d u r c h eine Wesens-

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t r e n n u n g des Göttlichen in einen d u n k l e n i r r a t i o n a l e n R e a l g r u n d u n d ein verklärendes Idealprinzip h i n d u r c h , zu d e m k o n k r e t e n , innerlich gegliederten L e b e n u n d der dialektischen Synthesis der g ö t t l i c h e n Persönlichkeit. Der D u a l i t ä t s g e d a n k e J . Böhmes wird m i t d e m Monismus des I d e n t i t ä t s g e d a n k e n s vereinigt. Auch in der F r a g e n a c h d e m Wesen des Absoluten geht der absolute Idealismus der V e r n u n f t in einen v o l u n t a ristischen Realidealismus über. G o t t k ö n n t e nicht Persönlichkeit u n d Leben w e r d e n , w e n n er reine V e r n u n f t u n d I d e a l i t ä t w ä r e . Die Basig der göttlichen E x i s t e n z u n d L i e b e s a k t u a l i t ä t m u ß ein selbständiges N a t u r prinzip des ewigen Willens sein: ein schlechthin irrationaler G r u n d der absoluten Freiheit u n d des Urzufalls, noch u n a b h ä n g i g v o n der F o r m u n d heiligen Notwendigkeit des Geistes; der bloße u n b e s t i m m t e u n d bewußtlos-blinde D r a n g der O f f e n b a r u n g s l u s t , die „ S e h n s u c h t des E i n e n , sich selbst zu g e b ä r e n " . „ D e r Gegensatz m u ß sein, weil ein Leben sein m u ß ; denn der Gegensatz selbst ist das Leben u n d die Bewegung in der E i n h e i t . " Der „ U n g r u n d " der absoluten Indifferenz teilt sich „ i n die zwei gleich ewigen Anf&nge, n u r d a m i t die zwei . . . d u r c h Liebe eins werden, d. h. er theilt nur, d a m i t Leben und Liebe sey und persönliche Existenz." „ W i r haben Gott erklärt als lebendige Einheit von K r ä f t e n . Und wenn Persönlichkeit nach unserer früheren Erklärung auf der Verbindung eines Selbständigen mit einer von i h m unabhängigen Basis beruht, so nämlich, d a ß diese beiden sich ganz durchdringen u n d nur Ein Wesen sind, so ist Gott durch die Verbindung des idealen Prinzips in ihm mit dem (relativ auf dieses) unabhängigen Grunde, da Basis und Existierendes in ihm sich notwendig zu Einer absoluten Existenz vereinigen, die höchste Persönlichkeit . . Geist im eminenten und absoluten Verstände." „Alle stimmen überein, d a ß die Gottheit ein Wesen aller Wesen, die reinste Liebe, unendliche Mitteilsamkeit u n d Ausfließlichkeit ist. Doch wollen sie zugleich, d a ß sie als solche existiere. Aber von sich selbst gelangt die Liebe nicht zum Seyn. Seyn ist Seinheit, Eigenheit; ist A b s o n d e r u n g ; die Liebe aber ist das Nichts der Eigenheit, die sucht nicht das Ihre und k a n n d a r u m auch von sich selbst nicht seyend seyn . . . Also sind schon im Notwendigen Gottes zwei Prinzipien; das ausquellende ausbreitsame, sich gebende Wesen, u n d eine eben so ewige K r a f t der Selbstheit, des Zurückgehens auf sich selbst, des In-Sich-Seyns."

Gottes Sein also ist lebendige E n t w i c k l u n g , ewiges W e r d e n der Persönlichkeit; progressive I d e n t i t ä t . U n d v o n hier m u ß n u n der ganze Weltprozeß, m i t seinem A u s e i n a n d e r k l a f f e n der Gegensätze, m i t d e m unendlichen Leiden der T r e n n u n g e n u n d allen A b g r ü n d e n des Daseins als sinnvolles, d e m höchsten Ziele zustrebendes Geschehen begriffen werden. Der Weltprozeß ist S e l b s t o f f e n b a r u n g , das S i c h o f f e n b a r w e r d e n der Gottheit, die d u r c h Stufen f o r t s c h r e i t e n d e Personalisierung des Absoluten. Zur O f f e n b a r u n g ist Zertrennlichkeit u n d Gegensatz n o t w e n d i g ; ein jedes Wesen (auch das Absolute) k a n n seiner eigenen Tiefe n u r i m D u r c h g a n g d u r c h S p a l t u n g u n d Leiden u n d in der liebend-wiedereinenden Verklär u n g des Gegensätzlichen gewahr werden. A u c h das Böse (dessen ontologische Möglichkeit u n d universelle V e r s u c h u n g s m a c h t ein wesensnotwendiges M o m e n t i m O f f e n b a r u n g s w e r d e n Gottes i s t : das Absolute k a n n sich im Endlichen voll u n d unzweideutig o f f e n b a r e n n u r , wenn das

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Weltgeschehen bis zur menschlichen Freiheit als absoluter Selbstbewegungsquelle z u m G u t e n u n d Bösen vordringt) dient zuletzt der ewigen D u r c h k l ä r u n g . D u r c h die v o l l k o m m e n e Scheidung des G u t e n v o m Bösen gewinnt das G u t e erst die höchste A k t u a l i t ä t — w ä h r e n d das Böse, w e n n es v o m G u t e n gänzlich geschieden ist, auch nicht mehr i s t als Böses. Die g r o ß e Absicht des U n i v e r s u m s u n d seines E n t w i c k l u n g s w e r d e n s ist keine a n d e r e , als die vollendete „ V e r s ö h n u n g des A b f a l l s " u n d die Wiedera u f l ö s u n g des E n d l i c h e n in das Absolute. Das Weltgeschehen (und insbesondere die Geschichte der Menschheit, die hier n u n wieder ganz in d e n V o r d e r g r u n d bei Schelling t r i t t ) ist theogonischer Prozeß. Doch wird dieses Zurückgehen in die absolute Einheit n i c h t als vollk o m m e n e W i e d e r v e r n i c h t u n g der d u r c h den „ A b f a l l " e n t s t a n d e n e n Plur a l i t ä t der Wesen v e r s t a n d e n . Der mit d e m Begriff persönlicher F o r t d a u e r u n z e r t r e n n l i c h v e r b u n d e n e G e d a n k e der Geisterwelt — „dieser liebste u n d liebevollste Glaube der M e n s c h h e i t " — bleibt a u c h in der E n d i d e e der R ü c k k e h r ins Absolute u n a n g e t a s t e t . „Die erste Selbstheit der Ideen w a r eine aus der u n m i t t e l b a r e n W i r k u n g Gottes herausf l i e ß e n d e : die Selbstheit u n d Absolutheit aber, in die sie sich d u r c h die Versöhnung e i n f ü h r e n , ist eine s e l b s t g e g e b e n e , so d a ß sie als wahrh a f t selbständige, u n b e s c h a d e t der Absolutheit, in ihr s i n d ; w o d u r c h der Abfall das Mittel der v o l l e n d e t e n O f f e n b a r u n g Gottes w i r d . " W e n n der absolute V e r n u n f t i d e a l i s m u s i m m e r wieder d a h i n d r ä n g t e , das Individ u u m u n d die Persönlichkeit im überindividuellen Leben der Einen Idee u n t e r g e h e n zu lassen, so f o r d e r t der voluntaristische Realidealismus v o n Schellings Philosophie der Freiheit einen E n d b e g r i f f des absoluten Geistes, in d e m die Fülle u n d selbsteigene K r a f t alles w a h r h a f t individuellen u n d persönlichen Lebens voll e r h a l t e n bleibt. H a u p t w e r k e : Vom Ich als dem Prinzip der Philosophie; Ideen zu einer Philosophie der N a t u r ; Von der Weltseele; System des transzendentalen Idealismus; Darstellung meines Systems; B r u n o ; Philosophie der K u n s t ; Über das Wesen der menschlichen Freiheit. — Darstellungen: J . E . E r d m a n n , Über Sch.; Halle 1857. K . F i s c h e r , Sch.s Leben, Werke u n d Lehre; 4. A., Heidelberg 1923. E. v. H a r t m a n n , Sch.s philosophisches S y s t e m ; Leipzig 1897. K . G r o o s , Reine Vernunftwissenschaft; Leipzig 1889. M. S c h r ö t e r , Der Ausgangspunkt der Metaphysik Sch.s; München 1908. H . K n i t t e r m e y e r , Sch. und die romantische Schule; München 1929.

3. H E G E L . A. U R S P R Ü N G E DES SYSTEMS. Das Hegeische S y s t e m , in der ganzen Strenge u n d a b s t r a k t e n Begrifflichkeit seines A u f b a u s , r u h t auf d e m Lebensboden einer religiösen Weltansicht, die Hegel erstmalig im R a h m e n seiner „Theologischen J u g e n d s c h r i f t e n " sich e r a r b e i t e t u n d z u m A u s d r u c k gebracht h a t . Die Überzeugung, d a ß das religiöse Bewußtsein, in seiner Reinheit u n d W a h r h e i t a u f g e f a ß t , der Seinserkenntnis entscheidend ihre Wege weise, j a selbst

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erst in V e r b i n d u n g mit der letzteren die eigene W a h r h e i t s s u b s t a n z ganz in den Griff b e k o m m e , h a t aus dem j u n g e n Theologen den großen M e t a physiker — den letzten M e t a p h y s i k e r ganz großen Stils in der M e t a p h y s i k der Neuzeit — hervorgehen lassen. So k a n n die W e l t a n s i c h t der J u g e n d s c h r i f t e n Hegels den Zugang z u m S y s t e m erschließen helfen. Hegels ganze Gegnerschaft gilt den L e h r e n u n d Vorstellungen, die in eine T r a n s z e n d e n z des Göttlich-Unendlichen h i n a u s l a u f e n , oder d e n e n das Vollkommene ein prinzipiell Jenseitiges ist. Solche A u f f a s s u n g liegt überall d a vor, wo das H e r r s c h a f t s - u n d M a c h t v e r h ä l t n i s letztlich m a ß gebend f ü r die Gottesvorstellung ist. Der P f a h l des a b s o l u t e n Gegensatzes wird d a m i t zwischen d e m E n d l i c h e n u n d d e m U n e n d l i c h e n , zwischen Wirklichkeit u n d I d e a l a u f g e r i c h t e t . Das k o n k r e t e D a s e i n des endlichen Wesens wird e n t w e r t e t , e n t w ü r d i g t u n d zugleich wieder, als Gegenüber zur unendlich-allgemeinen M a c h t des Göttlichen, fälschlich v e r a b s o l u t i e r t . — Nicht n u r i m Gottesbegriff der K a n t i s c h e n P o s t u l a t e n m e t a p h y s i k , sondern a u c h schon in K a n t s F a s s u n g des sittlichen D a seins sieht Hegel solche Denkweise verwirklicht. Die sittliche V e r n u n f t als bloßes Gesetz u n d Befehl g e d a c h t , b e d e u t e t H e r r s c h a f t des a b s t r a k t e n Allgemeinen ü b e r die k o n k r e t e Lebendigkeit des individuellen D a s e i n s ; der Gegensatz v o n Begriff (Gesetz) u n d Wirklichkeit wird zur u n ü b e r windlichen K l u f t ; das Sein des Menschen, d a s endliche Dasein wird in sich zerrissen. Demgegenüber f o r d e r t Hegel die „ V e r s ö h n u n g " des G e g e n s a t z e s ; V e r s ö h n u n g n i c h t n u r als eschatologische H o f f n u n g oder F o r d e r u n g , sondern als i m m e r d a r sich vollbringendes L e b e n in aller W i r k l i c h k e i t . E s m u ß , bei allem Gegensatz der menschlichen N a t u r z u m G ö t t l i c h e n , zugleich a u c h die „ V e r m i t t l u n g " aufgewiesen w e r d e n , die n i c h t als auf ein I n d i v i d u u m (Jesus) b e s c h r ä n k t , sondern als allgemeiner t i e f s t e r Sinn in allem E n d l i c h e n v e r s t a n d e n werden m u ß . Die Welt ist ( f ü r den tieferen religiösen Blick) in sich erlöst u n d geheiligt. Die Menschen sind K i n d e r Gottes, also v o n gleicher N a t u r , ihr Wesen in n i c h t s F r e m d e m , sondern in G o t t f i n d e n d . D a s Heilige der menschlichen N a t u r e r f a ß t n u r , wer das Wirkliche n i c h t u n t e r d e m Zeichen der göttlichen M a c h t u n d H e r r s c h a f t , sondern der göttlichen Liebe sieht. I h m ist d a s V o l l k o m m e n e n i c h t bloße I d e e eines Jenseitigen, das a u ß e r allem menschlichen Bew u ß t s e i n residiert, — s o n d e r n vielmehr die s c h a f f e n d e Idee i m W i r k lichen; i m menschlichen B e w u ß t s e i n selber sich verwirklichend. „ D a s Ideal ist i m Menschen, ein Bewußtsein seiner eigenen ganzen N a t u r " ; das V e r n ü n f t i g e ist n i c h t bloße F o r d e r u n g u n d Befehl, es ist hier selber wirklich. „ D e r Glaube a n d a s Göttliche s t a m m t also aus der Göttlichkeit der eigenen N a t u r ; n u r die Modifikation der G o t t h e i t k a n n sie erk e n n e n . " D a h i n also m u ß K a n t s G e d a n k e v o n der A u t o n o m i e des menschlichen Willens u n d v o n d e m Absolutheitskern in aller p r a k t i s c h e n Vern u n f t fortgebildet w e r d e n .

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Der G o t t e s g e d a n k e schmilzt hier z u s a m m e n m i t d e m Begriff des Reiches G o t t e s . „Diese I d e e eines Reiches Gottes vollendet u n d u m f a ß t d a s Ganze der R e l i g i o n . " „ I m Reiche G o t t e s ist das Gemeinschaftliche, d a ß alle i n G o t t lebendig sind, n i c h t das Gemeinschaftliche in e i n e m Begriff ( a b s t r a k t e Allgemeinheit des Gesetzes), sondern Liebe, ein lebendiges B a n d . . ., E m p f i n d u n g der Einigkeit des Lebens, in der alle E n t gegensetzungen . . . a u f g e h o b e n s i n d . " Dies Reich (absolute „ H a r m o n i e " d e r Wesen bei aller Mannigfaltigkeit) als ganzes Eines ist der Geist G o t t e s — dessen S ö h n e die einzelnen sind. Hier ist das allgemeine Ideelle u n d alles K o n k r e t - P e r s ö n l i c h - W i r k l i c h e zu v o l l k o m m e n e r E i n h e i t u n d Vers ö h n u n g z u s a m m e n g e g a n g e n . Gottes allgemeiner substantieller Wille h a t in den wirklichen S u b j e k t e n , in der freien s e l b s t t ä t i g e n Gesinnung d e r I n d i v i d u e n , i m göttlichen L e b e n eines reinen Menschenbundes, „ d e m freiesten was möglich i s t " , k o n k r e t e R e a l i t ä t . Die P e r s o n a l i t ä t G o t t e s t r i t t in dieser A u f f a s s u n g des göttlichen Seins u n d L e b e n s z u r ü c k . Persönlichkeit ist S p a n n u n g u n d E n t g e g e n s e t z u n g . Die religiös-metaphysische E n d t e n d e n z ist, „ i n einer unpersönlichen lebendigen Schönheit R u h e zu f i n d e n " . Die A u s d r ü c k e der Schönheit, der h a r m o n i s c h e n T o t a l i t ä t (ursprünglich a n d e m Idealbild klassischen G r i e c h e n t u m s u n d seines Daseinsgefühls sich erfüllend) überlagern die religiösen W o r t e d e r V e r s ö h n u n g u n d V e r m i t t l u n g ; die geforderte E i n h e i t v o n allgemeiner I d e e u n d k o n k r e t e r R e a l i t ä t , die E i n h e i t des V e r n ü n f tigen u n d W i r k l i c h e n stellt sich u n t e r das Vorbild der ästhetischen S y n thesis. Die religiös-metaphysische E r f a h r u n g der h ö c h s t e n Seinseinheit u n d L i e b e s h a r m o n i e ist „ A n s c h a u u n g u n d G e n u ß der S c h ö n h e i t " . R e ligiöse H a n d l u n g e n sind „ d a s Geistigste, das S c h ö n s t e " : sie suchen a u c h die d u r c h die E n t w i c k l u n g n o t w e n d i g e n T r e n n u n g e n n o c h zu vereinigen u n d die Vereinigung i m I d e a l als völlig seiend, der Wirklichkeit n i c h t m e h r entgegengesetzt d a r z u s t e l l e n . „ D i e W a h r h e i t ist die Schönheit, mit d e m V e r s t ä n d e vorgestellt, der n e g a t i v e C h a r a k t e r der W a h r h e i t ist F r e i h e i t . " (Von hier wird Hegels D u r c h g a n g d u r c h Schellings ä s t h e t i s c h - p a n t h e i s t i sches I d e n t i t ä t s s y s t e m möglich.) Der hiermit angedeutete Daseinezueammenhang wird vom jungen Hegel näher charakterisiert durch Ausführungen, die um die drei Begriffe des L e b e n s , der L i e b e und des G e i s t e s kreisen. Die Untersuchung des religiösen Bewußtseins treibt in ihrer begrifflichen Auswertung zu einer neuen metaphysischen Betrachtung des Verhältnisses des Endlichen zum Unendlichen; wenn diese beiden für den Verstand ausschließende Gegensätze sind, BO ist das „Geheimnis des Lebens" eben ihr Zusammenhang. Religion ist „Erhebung des Menschen, nicht vom Endlichen zum Unendlichen, denn dieses sind nur Produkte der bloßen Reflexion, und als solcher ist ihre Trennung absolut — sondern vom endlichen Leben zum unendlichen Leben". Das Leben als solches, reines Leben ist das unendliche, Eines, ungeteilt, ein schlechthin Einfaches; und das istdas Sein. Die Vielheit ist nichts Absolutes, sondern Durchgangsprodukt der Selbstentwicklung des Lebens; das Reine ist die Quelle aller vereinzelten Leben; Leben stellt sich für sich selbst als Unendlichkeit der Lebendigen oder als eine Unendlichkeit von Gestalten dar. Ein Mensch ist ein i n d i v i d u e l l e s Leben, insofern er ein anderes ist als die Unendlichkeit

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d e r L e b e n a u ß e r i h m ; er ist n u r i n d i v i d u e l l e s L e b e n , i n s o f e r n er e i n s ist m i t a l l e r U n e n d l i c h k e i t der L e b e n a u ß e r i h m ; e r igt er n u r , i n s o f e r n d a s All d e s L e b e n s g e t e i l t i s t , er d e r eine Teil alles ü b r i g e d e r a n d e r e Teil, er i s t n u r , i n s o f e r n er k e i n Teil i s t u n d n i c h t s v o n i h m a b g e s o n d e r t . V o n d e m einigen u n g e t e i l t e n a b e r u n e n d l i c h g e g l i e d e r t e n L e b e n k a n n ein Glied sich als e i n e n Teil s e t z e n , u n d v o n d e n a n d e r n u n t e r s c h e i d e n ; d i e s e s m o d i f i z i e r t e L e b e n ist als reines L e b e n i n d e m r e i n e n All d e s L e b e n s ; n u r als Modif i k a t i o n s e t z t es sich a n d e r e n e n t g e g e n . So sind i m , , L e b e n " G e t r e n n t h e i t u n d Verb u n d e n h e i t , D i f f e r e n z u n d I d e n t i t ä t w e s e n h a f t v e r e i n t ; L e b e n ist V e r b i n d u n g d e r Verb i n d u n g u n d d e r N i c h t V e r b i n d u n g . N u r v o n O b j e k t e n , v o n T o t e m g i l t es, d a ß d a s G a n z e ein a n d e r e s ist als die T e i l e ; w e n n die b e s o n d e r e n O b j e k t e als S u b s t a n z e n , j e d e s m i t 10 seiner E i g e n s c h a f t als I n d i v i d u u m z u s a m m e n g e f a ß t w e r d e n , so i s t i h r G e m e i n s a m e s , die E i n h e i t , n u r ein Begriff, n i c h t ein W e s e n , ein Seiendes. A b e r die L e b e n d i g e n sind W e s e n als A b g e s o n d e r t e , u n d i h r e E i n h e i t i s t e b e n s o w o h l ein W e s e n . „ W a s i m R e i c h d e s T o t e n W i d e r s p r u c h ist, ist es n i c h t i m R e i c h des L e b e n s . " D a s (religiös-geistige) V e r h ä l t n i s des S o h n e s z u m V a t e r ist n i c h t eine E i n h e i t , die n u r ein G e d a c h t e s i s t , B e g r i f f , s o n d e r n lebendige B e z i e h u n g L e b e n d i g e r ; gleiches L e b e n ; n u r M o d i f i k a t i o n e n d e s s e l b e n L e b e n s , n i c h t E n t g e g e n s e t z u n g d e s W e s e n s , n i c h t eine M e h r h e i t a b s o l u t e r S u b s t a n t i a l i t ä t e n . D e r E i n z e l n e ist n i c h t b l o ß ein Teil d e s G a n z e n , d a s G a n z e also n i c h t e t w a s a u ß e r i h m , s o n d e r n er selbst ist e b e n d a s G a n z e . D a s Sein ist L e b e n ; L e b e n a b e r i s t D a r s t e l l u n g , Ä u ß e r u n g , E n t f a l t u n g i n die u n e n d l i c h e k o n k r e t e V i e l h e i t p e r s ö n l i c h i n d i v i d u e l l e r 20 D a s e i n s z e n t r e n , a u s d e r e n F ü l l e es sich selber d a n n in seiner h ö h e r e n E i n h e i t w i e d e r h e r s t e l l t . , , D a s H e r a u s g e h e n d e s G ö t t l i c h e n ist n u r eine E n t w i c k l u n g , d a ß es, i n d e m es d a s E n t g e g e n g e s e t z t e a u f h e b t , sich selbst i n d e r V e r e i n i g u n g d a r s t e l l t " ; religiöses Bew u ß t s e i n a b e r ist e b e n die e u t s c h e i d e n d e h ö c h s t e V o l l z u g s f o r m dieser W i e d e r h e r s t e l l u n g d e r L e b e n s e i n h e i t a u s d e r e n t w i c k e l t e n Vielheit u n d a u s d e n ä u ß e r s t e n T r e n n u n g e n . Alle S p a l t u n g e n u n d N e g a t i o n e n des D a s e i n s , V e r n i c h t u n g u n d T o d , N o t u n d L e i d e n , V e r b r e c h e n u n d S t r a f e w e r d e n v o n H e g e l als M o m e n t e d e r E n t w i c k l u n g e n d e s E i n e n L e b e n s a u f g e f a ß t , als d a s z u m L e b e n des U n e n d l i c h e n gehörige Schicksal d e s E n d l i c h e n — d a s e b e n i n d e r h ö h e r e n V e r m i t t l u n g u n d V e r s ö h n u n g „ a u f g e h o b e n " w i r d u n d seine volle S i n n e r f ü l l u n g f i n d e t . V e r n i c h t u n g d e s L e b e n s ist n i c h t ein N i c h t s e i n d e s s e l b e n , 30 s o n d e r n n u r seine T r e n n u n g ; d a s L e b e n selber i s t u n s t e r b l i c h , u n d L e b e n ist v o m L e b e n n i c h t v e r s c h i e d e n ; so m u ß d e n n j e d e T r e n n u n g sich z u l e t z t a u f h e b e n i m All d e s L e b e n s (des R e i c h e s G o t t e s ) , in d e m k e i n Teil f ü r sich, s o n d e r n j e d e r n u r d a s L e b e n d e s G a n z e n l e b t . — Die h ö c h s t e L e b e n s f o r m n u n , in d e r die E i n h e i t d e s G e s c h i e d e n e n als selbstt ä t i g e s B e w u ß t s e i n u n d h ö c h s t e F r e i h e i t sich d a r s t e l l t , ist die L i e b e . „ I n d e r Liebe h a t d e r Mensch sich selbst in e i n e m a n d e r e n w i e d e r g e f u n d e n ; weil sie eine V e r e i n i g u n g des L e b e n s ist, setzt sie T r e n n u n g , eine E n t w i c k l u n g , g e b i l d e t e Vielseitigkeit d e s s e l b e n v o r a u s ; u n d i n j e m e h r G e s t a l t e n d a s L e b e n l e b e n d i g ist, in d e s t o m e h r P u n k t e n k a n n es sich verehiigen, u n d f ü h l e n , d e s t o i n n i g e r die Liebe s e i n . " I n d e r Liebe „ f i n d e t sich d a s L e b e n selbst, als eine V e r d o p p e l u n g seiner selbst, u n d E i n i g k e i t d e s s e l b e n ; d a s 40 L e b e n h a t v o n d e r u n e n t w i c k e l t e n E i n i g k e i t a u s , d u r c h die B i l d u n g d e n K r e i s zu einer v o l l e n d e t e n E i n i g k e i t d u r c h l a u f e n " . L i e b e ist v o l l e n d e t e s L e b e n . — Auf dieser S t u f e des L e b e n s a b e r e n t h ü l l t sich n u n d a s u n e n d l i c h e L e b e n d e s G a n z e n als G e i s t . Die a b s o l u t e V e r e i n i g u n g des G e s t a l t e t - U n t e r s c h i e d e n e n , die a b s o l u t e H a r m o n i e d e s Gegens ä t z l i c h e n ist n u r in g e i s t i g e m L e b e n . Die „ K l u f t d e r O b j e k t i v i t ä t " f ä l l t d a h i n z w i s c h e n Geist u n d G e i s t ; einer ist d e m a n d e r n n u r einer u n d ein a n d e r e r d a r i n , d a ß er i h n e r k e n n t . N u r d e r Geist f a ß t u n d s c h l i e ß t d e n Geist in sich e i n . U n d so ist d i e W i r k u n g des G ö t t l i c h e n in allem L e b e n — V e r e i n i g u n g d e r Geister. G o t t ist „ G e i s t i n allen Geis t e r n " ; G o t t als G e s t a l t ist n i c h t s a n d e r e s als die D a r s t e l l u n g d e r d i e G e m e i n e vereinig e n d e n Liebe. „ D a s u n e n d l i c h e L e b e n k a n n m a n einen Geist n e n n e n " , i m G e g e n s a t z SO zu der a b s t r a k t e n Vielheit, d e r Geist ist die l e b e n d i g e E i n i g k e i t d e s M a n n i g f a l t i g e n i m G e g e n s a t z gegen dasselbe als seine G e s t a l t . D e r Geist i s t „ d a s b e l e b e n d e G e s e t z " (im Gegensatz zum toten Gegensatz-Gesetz des transzendenten Gottes oder des kategorischen I m p e r a t i v s ) ; die s c h a f f e n d e I d e e i m W i r k l i c h e n s e l b s t . I m religiösen L e b e n wird es

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bewußt und offenbar, daß das Sein überhaupt Leben und das Leben Geist ist — daß „eine vollständige Synthese, eine vollendete Harmonie, daß Harmonie und das Harmonische eins sei".. Religion erfaßt die Vereinigung im Ideal als völlig seiend, der Wirklichkeit nicht mehr entgegengesetzt. Alle Trennungen und Vielheiten erweisen sich als SelbstentWickelungen und SelbBtgestaltungen des Geistes. — Der metaphysische S p i r i t u a l i s m u s ist damit, vom Religiösen her, ausdrücklich statuiert. „Wenn ein Gott wirkt, so ist es nur von Geist zu Geist"; und das „Herausgehen des Göttlichen'* zur Naturwirklichkeit und zu körperhaft gestaltetem Dasein „ist nur eine Entwicklung, daß es, indem es das Entgegengesetzte aufhebt, sich selbst in der Vereinigung darstellt." Eine Gemeinschaft von Körper und Geist im dualistischen Sinne iBt undenkbar, denn Geist und Körper haben nichts gemein, sie sind absolut Entgegengesetzte. In Wahrheit ist alles Körperliche „gestalteter Geist, dessen Gestalt bloß in Beiner Entgegensetzung betrachtet, als Körper" sich darstellt. Wirkliches erkennen — heißt ebensoviel als: fremden Geist erkennen. Alles Wirkliche, in seiner Entgegensetzung von Geist und Körper, wie in der innigen „Vereinigung, in welcher ihre Entgegensetzung aufhört, ist ein Leben, das ist, gestalteter Geist." Das Göttliche und das Wirkliche, oder Wirklichkeit und Geist sind — in aller Entgegensetzung — absolute Einheit und Vereinigung.

Mit den religiösen Urmotiven von Hegels Seinsanschauung vereinigen sich Gedanken über Sinn und Substanz des staatlichen und geschichtlichen Lebens. Der Daseinssinn des Menschen erschöpft sich nicht in der religiösen Gemeinde, sofern diese (wie im frühen Christentum) abgelöst gedacht wird, vom realen Wirken in der politischen Gemeinschaft. Mit solchem Verhältnis zum Staat würde vielmehr „eine große Seite lebendiger Vereinigung, für die Mitglieder des Reiches Gottes ein wichtiges Band abgeschnitten, ein Teil der Freiheit, des negativen Charakters eines Bundes der Schönheit, eine Menge tätiger Verhältnisse, lebendiger Beziehungen verloren". Andere Formen und Stufen der aus Entgegensetzungen erblühenden Verbindung zwischen den Geistern treten zu jener höchsten religiösen Liebesvereinigung hinzu. Auch der Staat (etwa im vorbildlichen Leben der griechischen Polis) stellt wahrhafte Einheit und Versöhnung des Allgemeinen und des Besonderen (Individuellen) dar. Das Ganze, das (analog dem Göttlich-Wirklichen des Gottesreichs) nicht abstrakte Allgemeinheit eines bloßen Gesetzes ist, sondern konkrete und machthabende Allgemeinheit eines realen substantiellen Lebens, — verwirklicht und vollzieht sich durch das selbständige und freie Leben der Individuen hindurch. Durch die Gesinnungen der Individuen besteht der Staat und wiederum aus der geistigen Substanz des Staates wird die erfüllte Existenz der Einzelnen gespeist. Das Allgemeine geht auf im Besonderen und das Besondere im Allgemeinen. Das ÜberindividuellVernünftige, das Sittliche z. B. ist hier nicht jenseitige Forderung, sondern konkrete Wirklichkeit. Das Ewige, wahrhaft Unsterbliche des Daseins zeigt sich auch hier nicht in der Form einer abstrakten Vielheit individueller Seelen (das ist für Hegel „niedrige Unsterblichkeit"), sondern als einiges und allgemeines Leben. „Den Republikaner überlebte die Republik, und ihm schwebte der Gedanke vor, daß sie, seine Seele, etwas Ewiges sei." — Zugleich wird aber dieses Leben des Menschen im religiösen wie im staatlichen Zusammenhang als wesenhaft g e s c h i c h t l i c h e s Dasein H u d b . d. Phil. I .

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begriffen. Vom A u f k l ä r u n g s g e g e n s a t z der i m m e r gleichen „ m e n s c h l i c h e n N a t u r " gegen das „ P o s i t i v e " religiöser u n d staatlicher S e t z u n g e n in den verschiedenen Zeitaltern geht Hegel ü b e r zu einem n e u e n W a h r h e i t s begriff, w o n a c h es zum Wesen des Menschen u n d des Geistes g e h ö r t , „ E w i g e s " an „ Z u f ä l l i g e s " a n z u k n ü p f e n , oder das Zeitlos-Vernünftige aus d e m Zeilich-Wirklichen selbst zu gewinnen. Das Sein des Geistes ist in der Selbstrealisation der Menschheit historischer P r o z e ß ; u n d die W a h r heit, das Sichaufschließen des Geistes, ist das Ganze dieser geschichtlichen E n t w i c k l u n g . Der wahre und w a h r h a f t allgemeine Begriff der menschlichen N a t u r l ä ß t „ u n e n d liche Modifikationen" zu; die lebendige N a t u r ist ewig ein anderes, als der a b s t r a k t e Begriff derselben, „ u n d d a m i t wird dasjenige, was f ü r den Begriff bloße Modifikation, reine Zufälligkeit, ein Überflüssiges war, zum Notwendigen, zum Lebendigen, vielleicht zum einzig Natürlichen und Schönen". Menschliche N a t u r — das ist ein Ideal, eine ewige Idee, ein unendlicher Totalitätsgedanke; ein Ideal der menschlichen N a t u r „ist aber ganz etwas anders, als allgemeine Begriffe über die menschliche B e s t i m m u n g . . . Das Ideal l ä ß t sehr wohl Besonderheit, Bestimmtheit z u " — eben die unendliche Besonderheit geschichtlicher Ausprägungen. Das Ideelle h a t seine Wirklichkeit im Ganzen des geschichtlichen Prozesses; nur eine falsche a b s t r a k t e Begriffsbildung k a n n glauben, „die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen der menschlichen N a t u r in die Einheit einiger allgemeiner Begriffe zusammengefaßt zu h a b e n " . Verfassungen z. B. oder die religiösen Gebräuche verschiedener Zeitalter sind nicht willkürlich-künstliche Setzungen, sondern lebendige Manifestationen eines Geistes, der in einem Volke oder in der Menschheit l e b t . Der geschichtliche Wandel ist notwendig im Leben der W a h r heit, sofern sie Wirklichkeit wird. „ E s gibt keine Lehre, die nicht unter gewissen Umständen Wahrheit wäre, kein Gebot, das nicht unter gewissen U m s t ä n d e n P f l i c h t wäre." — Die u n b e d i n g t e Wahrheit ist eben nie in der einzelnen Setzung, sondern im geistigen Zusammenhang des Ganzen.

Von der menschlichen u n d geschichtlichen S p h ä r e h a t sich Hegels Daseinsgedanke d a n n auf die gesamte Wirklichkeit ausgeweitet. I m Sinne der Schellingschen Naturphilosophie erlebt er N a t u r als „ d a s W e r k des äv&Qumov (fiDioc, des sich e n t w i c k e l n d e n M e n s c h e n " ; das „ L i c h t " des Geistes ist schon in der u n t e r m e n s c h l i c h e n Welt u n d m a c h t i h r Dasein aus, ohne noch hier zum Bewußtsein zu k o m m e n . Der Mensch ist „ d i e z u m Bewußtsein k o m m e n d e ganze N a t u r " . U n d n u n soll a u c h hier der Gegensatzgedanke der Versöhnung u n d Synthese weichen, gegen die Zerr e i ß u n g des Lebendigen in die a b s t r a k t e Vielheit v o n Dingen u n d Substanzen die E i n h e i t des Lebens wiederhergestellt werden, gegen das Herrs c h a f t s v e r h ä l t n i s des Menschen zur N a t u r (nach A r t des alten J u d e n t u m s oder des Fichteschen N a t u r g e d a n k e n s ) , w o d u r c h N a t u r zum lieb- u n d rechtlosen Stoff h e r a b g e w ü r d i g t wird, die V e r m i t t l u n g der liebenden A n s c h a u u n g a u f t r e t e n , die im O b j e k t i v e n das Gegenbild des S u b j e k t i v e n , i m T o t e n das Lebendige, im Äußeren die gestaltete Ä u ß e r u n g u n d E n t ä u ß e r u n g des Ideellen wiedererkennt. Das lebendige Buch der N a t u r ist Fülle der Wesen, „wie sie u n t e r e i n a n d e r eines v o m a n d e r n l e b e n , jedes lebt, jedes genießt, sie sind v e r m i s c h t " ; unendliche Mannigfaltigkeit v o n Zwecken ist in E i n „ f r e u n d s c h a f t l i c h e s B a n d " verschlungen. A u c h hier

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ist Einheit des Allgemeinen (der Gattung, oder des sich verwirklichenden Begriffe) mit dem Besonderen: dem wirklichen lebendigen I n d i v i d u u m . I m Organismus h a t die Idee, der Zweck, das Allgemeine unmittelbares äußeres Dasein. In der Durchbildung dieser Gedankengänge verbinden sich bei Hegel, auf dem Boden seiner religiös-spiritualen Anschauung v o m universalen, in Gegensätzen sich entwickelnden u n d wieder einenden Leben, die Organismenlehre K a n t s u n d Schellings mit K e r n m o m e n t e n der Aristotelischen Entelechie als des sich selbst in der Entwicklung des Lebendigen verwirklichenden Begriffs. Der Individualismus des Organischen, wie ihn zum E x t r e m Leibniz durchgeführt h a t t e (Unsterblichkeit jeder einzelnen Lebenseinheit) weicht auch bei Hegel dem Universalismus des allgemeinen Lebens: Tod ist nur Trennung f ü r die „ B e f l e x i o n " , das Eine Leben stellt sich aus ihm wieder h e r ; i m lebendigen Prozeß der G a t t u n g geht das Individuum zugrunde am Allgemeinen. — F ü r die N a t u r ü b e r h a u p t aber t r i t t im weiteren Fortgang von Hegels Denken d a n n ein ergänzender Gedanke hinzu, mit dem er den Kantischen Gegensatz von Erscheinung und Ding an sich durch eine neue metaphysische D e u t u n g der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu versöhnen s u c h t : das Wesenhafte, dem Wechsel enthobene Bleibende in den „ D i n g e n " sind die Gesetze; also ist das Gesetz, dies Allgemeine, das Ansich der N a t u r wirklichkeit. Naturerscheinungen sind konkrete Äußerung u n d Verwirklichung der Naturgesetze. Der Wahrheitskern des materiellen Geschehens liegt nicht in transzendenten Kraftsubstanzen ( „ D i n g e n " an sich), sondern in den allgemeinen ideellen S t r u k t u r e n ; daher findet denn auch der erkennend-suchende Geist hinter dem „ V o r h a n g " der Dinge — sich selbst. B. DER ABSOLUTE IDEALISMUS UND DAS SYSTEM DER LOGIK. Das ausgereifte System Hegels kreist, nicht anders als die Metaphysik Schellings, u m den Begriff des Absoluten. Das Absolute ist der einzige u n d höchste Gegenstand, die „wahre Unendlichkeit" der Grundbegriff der Philosophie; — alles Wirkliche und alle Endlichkeiten müssen als Manifestation und Durchgangsmomente in der Selbstentfaltung des Göttlich-Absoluten begriffen werden. Und wiederum f a ß t Hegel, indem er sein Weltbild mit Begriffswerkzeugen der neuen metaphysischen Tradition durchklärt, dies Absolute als unendliche V e r n u n f t oder als absolute I d e e . Wie es den Quellpunkt seiner religiösen Anschauung bildete, d a ß alles menschliche Erleben Gottes die Gegenwart u n d Selbstverwirklichung des Göttlichen im endlichen Bewußtsein darstellt, so k a n n er n u n die menschliche V e r n u n f t , die K a n t in unüberbrückbarer Distanz vom intuitiven Verstände Gottes abheben wollte, nur als Ausschnitt gleichsam und Durchgangsmoment der absoluten und unendlichen Vernunft verstehen. D a m i t , d a ß unsere Vernunft sich selbst begreift u n d selbst u m ihre Schranken weiß, beweist sie schon, daß sie in ihrem Grunde über die Schranke und alle bloße Endlichkeit hinaus ist. „ W e r von der n u r F 11*

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menschlichen V e r n u n f t spricht, der lügt gegen den G e i s t . " Philosophie als Selbsterkenntnis und Selbstkritik des menschlichen Erkennens ist Erhebung der endlichen V e r n u n f t zur absoluten, Durchstoßen des endlichreflektierenden Geistes zur absoluten Idee und V e r n u n f t t o t a l i t ä t . Die V e r n u n f t ist nur E i n e ; die K l u f t zwischen „ u n s e r e r " und d e r V e r n u n f t , zwischen dem Endlichen (unendlich Strebenden) u n d dem w a h r h a f t Unendlichen besteht nicht, sie m u ß als Gliederung i m L e b e n der absoluten V e r n u n f t begriffen werden. E s gibt dann auch kein transzendentes unerkennbares Ansich für die zu ihrem eigenen Grund durchdringende Vern u n f t . Philosophie ist, auf dem Wege der transzendentalen R e f l e x i o n selbst, Metaphysik der V e r n u n f t ; aus der absoluten Idee, als der wahrhaften Einheit und Identität des S u b j e k t i v e n und O b j e k t i v e n ist alles Sein und Wissen, alle Gestaltungen der W e l t wie alle Wesensformen des subjektiven (menschlichen) Erkennens zu begreifen. A u f diesem Boden erhebt sich nun für Hegel eine neue Forderung. W a r die endliche V e r n u n f t bei K a n t ein Inbegriff v o n K a t e g o r i e n u n d Ideen, Systemzusammenhang von gegenstandkonstituierenden u n d totalitätenbildenden Funktionen, — so m u ß j e t z t auch die absolute V e r n u n f t als reale Ganzheit ideeller und kategorialer S t r u k t u r e n verstanden werden. Die bei K a n t offen und unbestimmt gebliebene F r a g e , welche Seinsbedeutung den Kategorien (im Gegensatz zu den sinnlichen Anschauungsformen) über das bloß menschliche Denken hinaus z u k o m m e , wird eindeutig entschieden im Sinne der geschilderten M e t a p h y s i k des a b s o l u t e n I d e a l i s m u s : die Kategorien Bind nicht bloß subjektive F o r m e n des endlichen Erkennens und seiner Erscheinungs-Gegenstände, sondern die Wesensstrukturen des absoluten Erkennens, also der reinen I d e n t i t ä t des S u b j e k t i v e n und O b j e k t i v e n ; — sie sind die Wesensformen des A b s o l u t e n selbst! Das Absolute ist nicht leere Identität, aller B e s t i m m u n g e n und Prädikate bar, sondern konkrete inhaltsvolle Einheit und Unendlichkeit. Weil das Unendlich-Absolute selbst Substanz ist, u n d ebenso K a u s a l i t ä t , Einheit wie Allheit, Sein und Werden, Leben und Z w e c k — so stehen auch die Wirklichkeiten, alle Momente des Endlichen, N a t u r wie Geist, Dinge und Erkenntnisweisen unter der formenden Gesetzlichkeit dieser ideellen (vernünftigen) Strukturen. Die K a t e g o r i e n a l l e s i n d , i n i h r e m U r s i n n , die verschiedenen Definitionen oder Wesensprädikate des A b s o l u t e n selbst. K a n t s „transzendentale L o g i k " (die Lehre von den s u b j e k t i v e n Formen des menschlichen Verstandes) wird nun zur „ W i s s e n s c h a f t d e r L o g i k " , im Sinne eines allem Gegensatz des S u b j e k t i v e n und O b j e k t i v e n vorausliegenden Systems der Wesensformen der absoluten V e r n u n f t umgebildet. Diese neue L o g i k , die das S y s t e m der reinen V e r n u n f t , aufzurichten h a t , ist M e t a p h y s i k ; genauer: sie ist die Grundwissenschaft der Metaphysik, Ontologie. Ihre Begriffe sind ebensosehr Wesensformen des Seienden, die wirklichkeitsbildenden Funktionen, das allgemeine und notwendige „ A n s i c h der Dinge und des Gegenständlichen ü b e r h a u p t " — wie

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sie apriorische Bedingungen des E r k e n n e n s sind. I n d e m unser D e n k e n in der transzendentalen R e f l e x i o n zur absoluten V e r n u n f t durchstößt, e r f a ß t es in den Denkgesetzen u n d Denkkategorien die Seinsgesetze u n d Seinskategorien. Die alte Aristotelisch-mittelalterliche T r a d i t i o n , die noch in W o l f i s Ontotogie lebendig w a r , wird v o n H e g e l , in erklärtem G e g e n s a t z zu den subjektivistischen Tendenzen der K a n t i s c h e n V e r n u n f t k r i t i k wieder a u f g e g r i f f e n u n d in die S y s t e m a t i k des absoluten Idealismus hineingenommen. A u c h die Gesetze der formalen L o g i k (bei der n a c h K a n t der menschliche V e r s t a n d „ n u r mit sich s e l b s t " zu t u n h a t ) sollen n i c h t bloß als Denkgesetze, sondern zugleich als Z u s a m m e n h a n g s f o r m e n des Seienden, als die V e r n ü n f t i g k e i t des W i r k l i c h e n (die Schlußgesetze z. B . als W e i s e n des real-gestaltenden Zusammenschlusses v o n Besonderem u n d A l l g e m e i n e m in der Wirklichkeit) begriffen w e r d e n ; sie werden in die neue Logik-Ontologie hineingegliedert. Hegels idealistische Metaphysik erhält d a m i t die spezifische Form des l o g i s c h e n I d e a l i s m u s . Die Basis aller Wirklichkeitserklärung wie aller Erkenntnistheorie und Bewußtseinslehre bildet die aller Beziehung auf R a u m und Zeit, auf Welt oder Subjekt, N a t u r oder Geist vorausliegende Sphäre der an sich seienden ideellen Wesenheiten. Der ewige „ B e g r i f f " , der Logos ist das wahre Wesen, die letztlich tragende und schaff e n d e Substanz. „Der Begriff ist das w a h r h a f t Erste, und die Dinge sind das was sie sind durch die Thätigkeit des ihnen innewohnenden u n d in ihnen sich offenbarenden Begriffs." Nicht die Subjekte produzieren das ttberindividuelle und zum Sein durchdringende Denken, sondern das substantielle Denken, die Vernunft oder der Begriff, Grund alles Seienden, konkresziert zu Subjekten, setzt sich im einzelnen Bewußtsein d u r c h ! Und wiederum: die objektiven, dem Bewußtsein selbständig gegenüberstehenden Realitäten sind nicht an sich seiende Dinge, Substanzen, K r a f t m o n a d e n — Bondern vielmehr Zusammenfügungen, Verwachsungen ideeller Funktionen, konkretgestaltendes u n d im P r o d u k t gebundenes Walten des Begriffs. — Der roi; regiert die Welt ¡ „ V e r n u n f t ist ihre Seele", wohnt in ihr als ihre „eigenste N a t u r , ihr Allgemeines". „ D a s Denken, wie es die Substanz der äußerlichen Dinge ausmacht, ist auch die allgemeinste Substanz des Geistes." „ S o greift dasselbe über alles dieses über u n d ist die Grundlage von allem." Dieser logische Idealismus der absoluten V e r n u n f t m e t a p h y s i k schließt jedes selbständige Prinzip des Außerlogischen von seiner SeinsauffaBsung wie v o m Erkenntnisbegriff aus, — die Kantische „ M a t e r i e " der E r k e n n t n i s wird ebenso verneint, wie die Materie der aristotelischen Ontologie! Der Stoff ist die gesamte Formheit, u n d nichts s o n s t ; die F o r m e n der Logik bilden selbst allen Gehalt. „ D i e logischen Gedanken sind kein N u r gegen allen anderen I n h a l t , sondern aller andere I n h a l t ist n u r ein N u r gegen dieselben. Sie sind der an und f ü r sich seyende Grund von Allem." „ D e r Begriff ist die unendliche F o r m oder die freye schöpferische Thätigkeit, welche nicht eines außerhalb ihrer vorhandenen Stoffes bedarf, um sich zu realisieren." Der auf dem Boden des religiösen Geistmonismus erwachsene absolute Idealismus der V e r n u n f t weist (übrigens u n t e r ausdrücklichem Bezug auf die Gotteslehre des Christentums) jeden DualismusR e s t aus d e m antiken Idealismus von sich ab. Das Unvernünftige und Zufällige, das Unbegreifliche h a t keine eigene Wirklichkeit. Nur das Vernünftige ist — in vollem Sinne — wirklich. Sofern Reales sich als den Vernunftbegriffen widerstreitend zeigt, m u ß es als das von der Vernunft selber zum Zweck der höheren Überwindung und Synthese gesetzte Gegenteil ihrer selbst begriffen werden. Das Logische ist alles. — Inhaltlich stellt die Hegeische Logik die umfassendste Ontologie und das reichhaltigste KategoriensyBtem dar, das die Geschichte der Metaphysik (nicht nur der Neuzeit) k e n n t . Ihre Errungenschaften und Neuan9ätze sind heute noch weithin unaus-

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gewertet, ein K o m m e n t a r fehlt immer noch. Gegenüber der älteren Ontotogie- und Kategorienlehre ist von besonderer Bedeutung die Zentralstellnng des W e r d e n s als synthetischer Grundkategorie (zugleich als Basis u n d G r u n d f o r m f ü r die höheren kategorialen Stufen des Lebens und des Geistes) und die der neuzeitlichen Problemlage in der Metaphysik nun endlich gerecht werdende Begriffsfassung der aktualen ( „ a f f i r m a t i v e n " ) U n e n d l i c h k e i t . Von den allgemeinen Tendenzen verdient besondere Hervorhebung der Versuch, die Kategorien so universal zu fassen, d a ß sie, nur mit entsprechender Verschiebung der Gewichts Verhältnisse, wirklich ebenso sehr f ü r die niederen Stufen der Wirklichkeit wie f ü r die höchsten zulangen, ebenso f ü r die Naturbereiche, wie f ü r den A u f b a u des Geistes, der Gesellschaft und der Geschichte; — doch ohne die auch in der Neuzeit wieder (zuletzt noch bei K a n t ) so vordringlich gewordene einseitige Orientierung am Dinglich-Äußeren und Sinnlich-Naturhaften.

Die absolute V e r n u n f t als T o t a l i t ä t der s u b j e k t i v - o b j e k t i v e n K a t e gorien wird n u n aber von Hegel n i c h t g e d a c h t als starres S y s t e m logischer F o r m s u b s t a n z e n , z u s a m m e n g e h a l t e n d u r c h ein äußeres A n o r d n u n g s schema, sondern als eine in d u r c h g ä n g i g e n Beziehungen u n d Wechselverhältnissen (deren S c h n i t t p u n k t n u r gleichsam die einzelnen K a t e g o r i e n sind) sich vollziehende A k t u a l i t ä t . Die aktualistisch-dialektische F o r t f ü h r u n g des K a n t i s c h e n A n s p r u c h s einer einheitlichen u n d u m f a s s e n d e n „ D e d u k t i o n " der Kategorien, wie sie F i c h t e b e g o n n e n h a t t e , v e r b i n d e t sich bei Hegel m i t d e m n e u e n Begriff des A b s o l u t e n , der aus der religiösen A n s c h a u u n g v o m „ u n e n d l i c h e n L e b e n " h e r v o r w u c h s . E s k o m m t (nach d e m b e r ü h m t e n G r u n d s a t z der „ P h ä n o m e n o l o g i e des Geistes") „alles d a r a u f an, das W a h r e nicht als S u b s t a n z , s o n d e r n ebenso sehr als S u b j e k t a u f z u f a s s e n " . Soll die absolute I d e n t i t ä t n i c h t leere u n d a b s t r a k t e Einheit sein, aus der die Fülle u n d L e b e n d i g k e i t des Endlichen niemals vers t a n d e n werden k a n n (wie j a d e n n a u c h Spinozas S u b s t a n z l e h r e u n d ebenso Schellings I d e n t i t ä t s s y s t e m auf den A k o s m i s m u s h i n a u s s t r e b e n ) — so m u ß die „ F o r m " des E r k e n n e n s , die differenzierende T ä t i g k e i t u n d Selbstentwicklung in den Begriff ihres „ W e s e n s " h i n e i n g e n o m m e n werd e n ! Das höchste Allgemeine u n d U n e n d l i c h e ist k o n k r e t e , n i c h t abs t r a k t e Allgemeinheit u n d I d e n t i t ä t . Die a b s o l u t e V e r n u n f t ist absolutes Leben, ewige A k t u a l i t ä t des E r k e n n e n s , t ä t i g e Selbstorganisation. Vern u n f t oder Geist (voPc) ohne Leben u n d B e w e g u n g ist ein leeres W o r t ; Sein ist hier vielmehr W e r d e n , Sichvollziehen, Selbstentwicklung der Idee, die im H i n d u r c h g a n g d u r c h das S i c h a n d e r s w e r d e n sich m i t sich verm i t t e l t , sich (als w a h r e causa sui u n d zugleich als der w a h r e E n d z w e c k ) selbst h e r v o r b r i n g t . Das Absolute ist n i c h t n u r Sein des A n f a n g s , sondern ebenso das R e s u l t a t unendlicher E n t w i c k l u n g . — Das alles aber gilt n a c h Hegel nicht erst f ü r das Absolute, sofern es sich (als „ a b s o l u t e I d e e " ) i m Endlichen der Welt manifestiert u n d i m Dasein des menschlichen Geistes ihr selbstbewußt-persönliches Fürsichsein e n t f a l t e t , sondern schon f ü r das Absolute in sich selbst, gleichsam vor allem W i r k l i c h k e i t s d u r c h g a n g u n d aller Daseinserfüllung. Das „ v o r w e l t l i c h e " Absolute rein in sich, n a c h seinem ewigen Wesen u n d Ansich b e t r a c h t e t , i m ,,Äther des reinen Ged a n k e n s " , als der bloße Begriff, die reine „logische I d e e " — ist absolute

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Unruhe, in sich pulsierendes Leben, ewiges Werden, unendlicher Prozeß, Evolution in Stufen immer neuen Sichwiederherstellens der geistigen Einheit aus Unterschied und Gegensatz, ein „elementares Kämpfen und Leben". Und eben dieses Werden ist der Inhalt der Logik. Die Kategorien sind die Organe der absoluten Selbstorganisation, Teilmomente und ideelle Konkreszionspunkte im Leben des Logos. Die Logik zeigt, im einheitlichen Stufenbau der kategorialen Wesensformen, die fortschreitende Selbstentfaltung des Begriffs, wie er sich zur Totalität der logischen Idee, des (ontologisch verstandenen) Ideals der reinen Vernunft, wo die Möglichkeit ihre Wirklichkeit an sich selber hat, vollendet. Die absolute Vernunft wird als ein gleichsam fließendes Kontinuum ideeller Wesenheiten gedacht. Aus Fichtes Dialektik der endlichen Vernunft (als der Geschichte des Bewußtseins und seiner kategorialen Schichten) ist jetzt die Dialektik der absoluten Vernunft geworden, deren Kategorien in aufsteigender Teleologie die Lebensfülle des Absoluten selbst darstellen, und dann erst, sekundär, das ideelle Form- und Vorbild der Weltentwicklung und des Aufbaus im endlichen Bewußtsein. Das d i a l e k t i s c h e V e r f a h r e n wird damit zur umfassenden Methode der Metaphysik überhaupt. Bei Hegel verbindet sich Fichtes Strebens- und Triebdialektik des Bewußtseins und der sittlichen Vernunft mit der antiken Dialektik der Bewegung und des Geschehens überhaupt, gleichzeitig auch mit Schellings Gedanken von der Polarität und Gegensatzspannung in den Naturgesetzlichkeiten; und als ein weiteres Motiv t r i t j eine metaphysische Grundanschauung vom geschichtlichen Prozeß hinzu, nach der dei K a m p f e u n d die großen Wendungen der Weltgeschichte, wie auch die Wirklichkeit dsa Weltprozesses selbst, als notwendige Gegensatzspaltungen zwecks höherer Synthese und „Versöhnung" zu verstehen sind. Alle diese inhaltlich bestimmten Wesensformen eines in Gegensätzen und höheren Einungen sich darlebenden Daseinsvollzugs werden nun einheitlich fundiert in dem Gedanken eines dialektischen Gesamtaufbaus der reinen absoluten Vernunft. Die Intentionen der platonischen Ideendialektik, mit ihrem Aufweis relationaler Gemeinschaft und logischer Selbstbewegung der höchsten Wesenheiten werden hineingeschmolzen in den teleologischen Aktualismus des von K a n t her erwachsenen Vernunft- und Geistbegriffs. Der alte metaphysische Gedanke von der Koinzidenz der Gegensatze im Absoluten gewinnt wieder neue Form und Bedeutung. Vom Absoluten, das keineswegs (im Sinn der „negativen Theologie" oder der Schellingschen „ I n differenz") als schlechthin prädikatlos zu denken ist, gibt die dialektisch-logische Entwicklung — die Determinationen mit den Negationen zusammenspannend und Bestimmung auf Bestimmung durch die Immanenz des Widerspruchs hervortreibend — den wahren Vernunftbegriff. Die allgemeine R e a l i t ä t d e s W i d e r s p r u c h s wird von da Grundsatz der Ontologie; nicht nur an bestimmten dem Denken sich entziehenden Momenten des Wirklichen (z. B. dem zeitlichen Werden, der Bewegung), sondern in aller Wirklichkeit überhaupt, ja schon in den ideellen Wesenheiten und damit im Vernunftprozeß des Absoluten selbst ist der Widerspruch das vorwärtstreibende, entfaltende, alle Erfüllung und Versöhnung bedingende Prinzip. Wenn das gewöhnliche Verstandesdenken, unter dem Gesetz vom Widerspruche stehend, das Widersprechende zum nicht Vorhandenen erklären will, so ist es vielmehr Aufgabe der philosophischen Vernunft, die über das Einzelne, Bedingte, Endliche hinausschaut auf das wahrhaft Allgemeine, Unbedingte und Unendliche, und die auch in der „Logik" die einzelnen Kategorien in die Totalität der unterschiedenen und gegensätzlichen Denkbestimmungen hineinzufügen hat, — die fundamentale Wirklichkeit des Widerspruchs im Seienden überhaupt anzuerkennen und zu begreifen. Vernunft ist selbst nichts anderes als das

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höhere Aufheben fest gewordener Gegensätze, bei voller Anerkennung ihrer GegensatzGespanntheit; sie ist die Überbauung aller das Wirkliche wie schon d.is Logische durchziehenden Antinomien (von denen die kosmologischen Unendlichkeitsantinomien u n d die logische Antinomie des Unendlichkeitsbegriffs selbst Beispiele sind) d u r c h höhere Einsicht in den genetischen Lebenszusammenhang der auseinanderklaffenden M o m e n t e . Die dialektische Methode ist selbst die sich entfaltende V e r n u n f t , oder der sich explizierende, sich selbst bewegende „Begriff*'. Mit dieser Anerkennung des Widerspruchs h a t Hegel, wie in jüngster Zeit besonders betont und herausgearbeitet worden ist (Kroner, N. H a r t m a n n ) , in das Gewebe seines „Panlogismus" doch auch einen bedeutsamen Einschuß von Irrationalismus aufgenommen. Das Logische, als Logik der absoluten (nicht der bloß endlichen) V e r n u n f t gefaßt, birgt in sich selber das Alogische, dem endlichen E r k e n n e n Widerstrebende. Von dem metaphysischen Rationalismus des 17. und 18. J a h r h u n d e r t s ist Hegels Ontotogie, bei allem Anspruch reiner Apriorität des Aufbaus, wesenhaft g e t r e n n t . Die geforderten und beanspruchten synthetischen Lösungen in Hegels dialektischem D e n k e n unterscheiden sich grundsätzlich von aller „ k l a r e n und deutlichen" Einsicht n a c h Art der mathematischen K o n s t r u k t i o n und der Kombinatorik gegebener Begriffselemente. Die Unbegreiflichkeit wird i m Begreifen, das Antinomische in der Synthese b e w a h r t . Die ganze Wahrheit k a n n sich nur in der nie ausschöpfbaren u n d an keiner Stelle zum endlichen Resultat fixer Begriffe zu verdichtenden Selbstbewegung u n d Selbstvertiefung des Denkens enthüllen.

C. DER ÜBERGANG ZUR W I R K L I C H K E I T U N D D E R N A T U R BEGRIFF. Die logische Idee rein als solche liegt allem E n d l i c h e n u n d seiner Gegensätzlichkeit v o n N a t u r u n d Geist v o r a u s ; die a b s o l u t e I d e e in i h r e r vollen Selbstverwirklichung h a t ihre Daseinsweisen in N a t u r u n d Geisteswelt. D u r c h die V e r m i t t l u n g des E n d l i c h e n wird d a s U n e n d l i c h e zur „ W i r k l i c h k e i t " g e b r a c h t . Z u m Wesen der Idee oder z u m L e b e n G o t t e s gehört eben n i c h t n u r das ewige Selbstwerden des Logos, gleichsam „ e i n Spielen der Liebe m i t sich s e l b s t " , sondern ebensosehr das o f f e n b a r e n d e H e r a u s t r e t e n u n d Erscheinen des Ideellen i m Wirklichen, i m ganzen R e i c h t u m der entwickelten F o r m . Das Absolute t r ä g t i m eigenen ungeteilten Wesen zugleich die F o r m t e n d e n z des a u s e i n a n d e r l e g e n d e n e n t f a l t e n d e n E r k e n n e n s ; die absolute V e r n u n f t will i m m e r d a r sich o b j e k t i v werden u n d sich selbst d u r c h d r i n g e n ; das Ansichsein des S y s t e m s der G e d a n k e n f o r m e n will z u m Fürsichsein des b e w u ß t e n Geistes w e r d e n . Die Idee ist Wille zur Welt. Alle K o n t r a k t i o n setzt E x p a n s i o n v o r a u s . I m unendlich e n t f a l t e t e n u n d eben darin wieder doch zur E i n h e i t u n d Tot a l i t ä t des Göttlichen z u r ü c k k e h r e n d e n Leben der Geisteswelt (des Reiches Gottes) vollendet sich der E n d z w e c k , e n t h ü l l t sich die S u b s t a n z ganz als S u b j e k t . Das Eine Leben des ideellen Allgemeinen spezifiziert sich also zur unendlichen Vielheit u n d Mannigfaltigkeit des W i r k l i c h e n . I n u n e n d l i c h vielen T r o p f e n spiegelt die Welt das L e b e n der Idee. N u r in U n t e r s c h i e d lichkeit u n d Gegensatz ist die K o n z e n t r a t i o n u n d K o n k r e t i o n des geistigen Fürsichseins möglich; die wechselseitige T r e n n u n g u n d Ausschließlichkeit ist von i h m u n a b t r e n n l i c h . Zu j e n e m „ S p i e l e n " der Liebe t r i t t

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„ d e r E r n s t , der Schmerz, die Geduld u n d Arbeit des N e g a t i v e n " . „ A n sich ist jenes Leben wohl die u n g e t r ü b t e Gleichheit u n d E i n h e i t m i t sich selbst, der es kein E r n s t mit d e m Andersein u n d der E n t f r e m d u n g sowie m i t d e m Ü b e r w i n d e n dieser E n t f r e m d u n g ist. Aber dies Ansich ist die a b s t r a k t e Allgemeinheit, in welcher v o n seiner N a t u r , f U r s i c h zu sein, u n d d a m i t ü b e r h a u p t von der Selbstbewegung der F o r m abgesehen w i r d . " Die Tiefe u n d Schärfe der Gegensätze, S p a l t u n g e n u n d K ä m p f e ist letzte F o r m b e d i n g u n g f ü r die Verwirklichung u n d S e l b s t v e r t i e f u n g des Geistes z u m ganzen R e i c h t u m seiner unendlichen E n t w i c k l u n g e n . Die Basis aber alles A u s e i n a n d e r t r e t e n s des u n e n d l i c h e n Lebens in Vielheit, Mannigfaltigkeit u n d Gegensatz des E n d l i c h e n ist die N a t u r , die Welt des räumlich-zeitlichen A u ß e r e i n a n d e r . I n ihr z u e r s t gelangt die logische Idee, das u n t r e n n b a r e I n e i n a n d e r absoluter D e n k b e s t i m m u n g e n zur Wirklichkeit eines in Dingen, Vorgängen, Einzelwesen a u f g e s p l i t t e r t e n entzweiten Daseins. Der S t u f e n b a u ist der reale U n t e r g r u n d u n d die reale Vorarbeit f ü r das R i n g e n des Geistes, der sich v o m s i n n l i c h - n a t u r h a f t e n Bewußtsein des einzelnen Ich d u r c h die S t u f e n der B i l d u n g bis zur h ö c h s t e n religiösen u n d m e t a p h y s i s c h e n Gewißheit erh e b t . D e r W e l t b a u , unzeitlich-ewiger P r o z e ß der Selbstverwirklichung d e r Idee, ist Ein großer E n t w i c k l u n g s z u s a m m e n h a n g v o n niederen zu h ö h e r e n S t u f e n ; in j e d e r Wesensform u n d S t u f e des Wirklichen liegt die „ B e s t i m m u n g " , über sich hinauszugehen zu d e m H ö h e r e n , als der „ W a h r heit 4 1 u n d E r f ü l l u n g ihrer selbst. So ist n u n die N a t u r , in der G e s a m t h e i t i h r e r Schichten, dem Geiste gegenüber ein niederes Sein, das aber zur Verwirklichung des Höheren v o r a u s g e s e t z t ist u n d in sich selbst den i n n e r e n D r a n g des Ubergangs z u m Geiste t r ä g t . N a t u r h a t also im R a h m e n des Hegeischen Idealismus ihre eigene R e a l i t ä t dem endlichen Bewußtsein gegenüber, nicht anders als bei K a n t und Schelling, und im Gegensatz zu Fichte. N a t u r ¡Bt das Absolute selbst in bestimmter Existenzweise. N a t u r philosophie ala eigene reale „Wissenschaft der Philosophie" neben und vor der Philosophie des Geistes (aber selber gegründet auf das allgemeine F u n d a m e n t der LogikOntologie!) h a t die im Räumlich-Wirklichen erscheinende V e r n u n f t , h a t das Vorhandensein der Idee in allen Stufen des Naturseins aufzuweisen. Aber zugleich wendet sich Hegel gegen alle Naturvergötterung des Pantheismus. Die Süßere Welt h a t rein f ü r sich genommen kein Verhältnis zu G o t t ; erst vom menschlichen Geiste, der aus der N a t u r hervorwachsend sich über sie zu Gott erhebt, wird sie in die ihr zukommende Beziehung eingesetzt. N a t u r ist Durchgang und Mittel zur Realisation und Ausbreitung des Geistes; der Sinn ihres Daseins geht zuletzt darin auf, d a ß der Geist sie erkennt, in ihr (diesem äußeren Realen) seinen eigenen Reflex erblickt, an ihr die Selbsterkenntnis seines Wesens gewinnt.

N a t u r ist Daseinsweise der Idee. Aber sie ist ihr Gegenbild u n d Widerp a r t , n i c h t ihre eigentliche Verwirklichung. Die f ü r die S e l b s t e n t f a l t u n g des Ideellen notwendige Vielheit u n d A n d e r s h e i t stellt sich in der m a teriellen A u s b r e i t u n g der raumzeitlichen W e l t des O b j e k t i v e n noch als bloßes A u ß e r e i n a n d e r u n d Vereinzelung d a r , als absolute, f ü r sich selbst o h n e S u b j e k t i v i t ä t seiende Äußerlichkeit u n d S u b s t a n t i a l i t ä t — ein

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Wirkliches außer und ohne Gott, gleichsam ein Abfall v o m GöttlichGeistigen. Die Idee ist hier „in der Unangemessenheit ihrer selbst mit sich", „in der Form des Andersseyns", der Negation ihrer selbst. Ein äußerster Abstand zum Ineinander des Ideellen und zur Innerlichkeit des Geistes liegt hier vor. — Aber dieser Abfall und Abstand liegt i m teleologischen Leben der Idee begründet. Die Idee bewährt sich als frei und geistig nur, indem sie sich aus Einschränkung zur Absolutheit wieder herstellt. „Die göttliche Idee ist eben dies, sich zu entschließen, dieses Andere aus sich herauszusetzen und wieder in sich zurückzunehmen, u m Subjektivität und Geist zu sein." Gott kann nur so zum Geiste werden oder als Geist sich manifestieren, „daß er das Verschlossene zum Andern seiner selbst macht 1 ' und wieder „aus dem Abfall als Sieger zurückkehrt". Der Geist bringt sich aus den Voraussetzungen, die er sich macht, hervor; die Voraussetzung aber ist Gegensatz; der Widerstand, der Kampf. Die Selbstbejahung, Selbstentfaltung, Selbstbefreiung des Geistes fordert zuvor die Selbstentfremdung, Selbstverneinung. D a m i t ergibt sich f ü r Hegel die prinzipielle Unvollkommenheit der N a t u r , bei aller H e r k u n f t aus dem Logisch-Idealen u n d aus ihm allein. „ D i e N a t u r ist a n s i c h , in der Idee göttlich; aber wie sie ist, entspricht ihr Seyn ihrem Begriffe n i c h t ; sie ist vielmehr der unaufgelöste Widerspruch." Erst in der Ceisteswelt, im Walten der Geschichte ist vollkommene Versöhnung des Ideellen und Wirklichen, wahre Selbstdarstellung des Begriffs im Individuellen, Synthese des Notwendigen mit dem Zufälligen, die volle Wirklichkeit des allgemeinen unsterblichen Lebens im Fürsichsein. I n der N a t u r dagegen steht die Notwendigkeit im Ganzen und in den Gesetzen einer begrifflosen gleichgültigen Zufälligkeit im Besonderen und Einzelnen entgegen; vergebens sucht unser Erkennen auch im Detail des Naturgeschehens Regel, Wesensbestimmtheit, ZweckzuBammenhang. „ I n der N a t u r h a t das Spiel der Formen nicht n u r seine ungebundene zügellose Zufälligkeit, sondern jede Gestalt f ü r sich entbehrt des Begriffs ihrer Selbst." Diese „ O h n m a c h t " der N a t u r gegenüber der Aufgabe, den Begriff darzustellen und festzuhalten, erweist 9ich besonders in der vollkommenen Abhängigkeit (und also Unfreiheit) ihrer Einzelexistenzen von äuBeren Bedingungen und Einflüssen. „ D i e Zufälligkeit und Bestimmbarkeit von außen hat in der Sphäre der N a t u r ihr R e c h t . " Die Selbständigkeit und das Fürsichsein der einzelnen Körper und Produkte ist nur scheinhaft. Selbst das organische Individuum — an sich bereits ein Übergang zur S u b j e k t i v i t ä t , zur selbständigen Abgeschlossenheit und freien Entwicklung des Lebens, zum Eins- und Ineinandersein bei aller Vielheit der Organe, zur unmittelbaren Existenz der Idee als Zweck, des Begriffs als inneres erzeugendes Wesen — selbst das lebendige I n d i v i d u u m h a t keine w a h r e d a u e r h a f t e Wirklichkeit. Es geht zugrunde an der Gattung, erliegt der gegenseitigen Störung wie die materiellen Dinge sonst; der Weltprozeß geht gleichgültig darüber weg. Nur der Tod löst hier den Widerspruch und die UnangemeBsenheit des Einzelnen zum Allgemeinen (des Individuums zur G a t t u n g ) ; -— aber der Tod ist keine synthetische Versöhnung, kein bewahrendes „ A u f h e b e n " des Gewesenen im Bleibenden. N a t u r h a t keine im Fortschreiten und Hinausgehen selbst bewahrende Geschichte. Selbst im Ganzen und Allgemeinen vermag sie nicht, den Begriff in seiner Ausführung festzuh a l t e n ; allenthalben sind die wesentlichen Grenzen (die vom Begriff bestimmten festen Typen) durch mittlere und schlechte Gebilde vermischt, und ein Gesetz des Fortgangs, der Entwicklung f ü r die Reihen und Stufungen der Körper und der Lebensformen gibt es nicht. Der Widerspruch des Daseins bleibt in der N a t u r unaufgelöst. Und eben d a r u m treibt der Weltprozeß hinaus über diese Sphäre in das Reich des Geistes.

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D. D I E P H I L O S O P H I E D E S G E I S T E S UND DER GESCHICHTE. Der a b s o l u t e W e n d e p u n k t des Weltprozesses liegt im E r w a c h e n des B e w u ß t s e i n s . I n der I n n e r l i c h k e i t des erlebenden e r f a h r e n d e n e r k e n n e n d e n Ich wird das im äußeren Realen ausgebreitete U n i v e r s u m , die „ a u s e i n a n d e r g e w o r f e n e T o t a l i t ä t der Vielheit" wieder z u r ü c k g e n o m m e n ins I n e i n a n d e r - u n d Einsein des Ideellen. Das bloße A u ß e r e i n a n d e r wird vern i c h t e t i m Übergreifen des wissenden Bewußtseins über die A u ß e n w e l t . Zugleich t r i t t die Idee aus der Daseinssphäre ä u ß e r e r Abhängigkeiten in die der i n n e r e n Freiheit, der s e l b s t t ä t i g e n Verwirklichung des Wesens, d e r u m sich wissenden E r f ü l l u n g der „ B e s t i m m u n g " . I n d e m aber so die Vielheit d e r Dinge u n d L e b e n s z e n t r e n zur Vielheit wissender u n d v e r n u n f t h a f t wollender Ichwesen d u r c h r e i f t , b r i c h t in i h n e n u n d aus i h n e n d e r tiefere L e b e n s z u s a m m e n h a n g h e r v o r , der sie zu g e i s t i g e n Wesen, zu freien T e i l h a b e r n u n d persönlichen I n d i v i d u a t i o n e n v o n Übergreifendallgemeinen geistigen Wirklichkeiten m a c h t . N u n erst t r i t t die vollkomm e n e Vereinigung des allgemeinen Wesens u n d der besonderen E r s c h e i n u n g als Wirklichkeit z u t a g e . Das Einzelne e r h e b t sich hier, in seinem Selbstvollzug, hinauf ins Allgemeine u n d m a c h t es d a m i t o f f e n b a r ; d a s Allgemeine stellt sich d a r in der Besonderung des individuellen Lebens, wird aber als dies Geistige u n d Allgemeine n u r g e w u ß t (und also wirkliches „ F ü r s i c h s e i n " des allgemeinen Wesens!), sofern der Einzelne die a b s o n d e r n d e Begrenzung in sich negiert. Mit der E r h e b u n g des Bew u ß t s e i n s zu d e n geistigen Z u s a m m e n h ä n g e n u n d Zielen b e g i n n t die W i e d e r e r h e b u n g des E n d l i c h e n , das wirkliche F ü r s i c h w e r d e n der an sich seienden V e r n u n f t als der unendlichen u n d allgemeinen. So ist der „ G e i s t " das A b s o l u t e in seiner w a h r e n E x i s t e n z — wirkend in seinem Wesense l e m e n t : d e r Freiheit. Des Geistes B e s t i m m u n g ist „ A u f h e b u n g " der N a t u r ; d. h . n i c h t F l u c h t vor ihr, E n t f r e m d u n g , Vernichtung, sondern die s c h a u e n d e u n d h a n d e l n d e E r h ö h u n g u n d V e r k l ä r u n g in den geistigen U r s i n n , V e r m i t t l u n g z u m Göttlichen, W a h r h e i t enthüllendes Idealisieren des Ä u ß e r e n u n d Materiellen. D u r c h den Geist, als die erfüllende Blüte u n d F r u c h t aller Weltwirklichkeit ü b e r h a u p t , wird das Wesen des Absol u t e n als a b s o l u t e S e l b s t a n s c h a u u n g w a h r h a f t offenbar. So ist die Metap h y s i k des Geistes das K e r n g e b i e t aller Weltphilosophie. D a s Dasein des Geistes b a u t sich in Stufen auf — in Entwicklungsbestimmungen, die nicht (wie in der äußeren N a t u r ) als besondere Existenzen gegeneinander zurückbleiben u n d eigene Wirklichkeitsbereiche bilden, sondern die „wesentlich nur als Momente, Z u s t ä n d e , Bestimmungen an den höheren Entwicklungsstufen" leben. Nur in der philosophischen Abstraktion l ä ß t sich die wesenhaft k o n k r e t e N a t u r des Geistes in ihre Schichten auseinanderlegen. Fichtes Ausgangsgedanke vom wirklichen Selbstbewußtsein als einem untrennbaren Ineinander vielfältig sich stufender Funktionen wird von Hegel zum Begriff geistiger Weltwirklichkeit ü b e r h a u p t geweitet. Die Stufen seiner Philosophie des Geistes sind gedacht als dialektisch ineinander verflochtene und in der jeweiligen Überwindung das Überwundene lebendig bewahrende, „ a u f h e b e n d e " Organisationsstationen der Selbsterkenntnis des Geistes — nicht bloß als des persönlich

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individuellen, gondern, darüber weit hinaus, des übergreifend allgemeinen, zuletzt des absoluten Geistes. Das Wahre ist das Ganze des Prozesses, die durchlebte Fülle der Gesichte, nicht bloß das Resultat, der Gipfel. Geist ist Leben, das in sich alle Teilaspekte und Durchgangsstadien erhalt, d u r c h k l ä r t . Alle Gegenstände a n d Daseinsgestaltungen, die der Geist a u f f a ß t , durchlebt, aus sich herausstellt, sind ebensoviele Mittel und Wege seiner Selbstentfaltung, Selbsterfahrung, die Weisen seiner „ B i l d u n g " . Die Begriffe der Erkenntnis und Selbsterkenntnis werden bei Hegel so universal gefaßt, d a ß sie alle Erlebnisweisen und Gegenstandsarten des WillenB a n d des Gemütes (z. B. sittliche, ästhetische, religiöse) ebenso u m s p a n n e n , wie die spezifisch intellektuellen Tätigkeiten! Durch alle Gegenstands- und Welt-Anschauungen hindurch, die auf dem Boden menschlichen Bewußtseins sich vorfinden oder herausgestalten, e r f ä h r t dieses Bewußtsein sich und seine eigenen tieferen Gründe, sein eigenes Ansich. Die Daseinsgründe des Bewußtseins (zuletzt das Absolute selbst), heben sich durch sie hinauf ins Licht des Wissens. Die niederste der Stufe ist die des natürlich-sinnlichen Umweltbewußtseing, auf der das Ich in seiner endlichen Vereinzeltheit sich an die u n f a ß b a r e Mannigfaltigkeit des Gegebenen zu verlieren scheint; die h ö c h s t e : das religiös-metaphysische Sichoffenbaren des Göttlich-Absoluten im Medium des zur höchsten Bewußtheit durchklärten, über alle Endlichkeit hinaus gehobenen Menschengeistes. Der Entwicklungsgang des Geistes — dieser Prozeß der Selbstbefreiung von der Gebundenheit des kreatürliehen Ich bis zum vollendeten, die Welt zu Gott erhebenden Sichspiegeln des Absoluten im einigen Reich der Geister — ist fortschreitende Selbstvertiefung (Re-flexion, beginnend mit der wissenden u n d wollenden Rückbiegung des einzelnen Bewußtseins auf sich selbst u n d seinen Wesenskern, v o m Umwelt- zum theoretischen u n d praktischen Selbstbewußtsein), und eben d a m i t zugleich fortschreitende Ausweitung des EndlichEinzelnen zum Unendlich-Allgemeinen. (Das individuelle Bewußtsein reift zur gesetzerkennenden V e r n u n f t , zum überindividuellen R e c h t , z u m allgemeinen Willen.) Die „Seele", Bewußtsein, Selbstbewußtsein, Freiheit u n d Selbstand des einzelnen Vernunftwesens bezeichnet n u r eine (fundamentale) G r u n d f o r m des Geistes — den „subjektiven G e i s t " ; Uber ihre Vereinzelung und Endlichkeit h i n a a s führen die Daseinsstufen des „ o b j e k t i v e n " und des „ a b s o l u t e n " Geistes; — in ihnen aber k o m m t die substantielle Allgemeinheit und die, geistige Wirklichkeiten schaffende D y n a m i k der Vern u n f t erst eigentlich zutage.

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Das universale Thema der geistlichen Entwicklung iBt die Freiheit — diese verstanden in dem höchst umfassenden und inhaltvollen Sinne der autonomen Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung der Vernunft in allen ihren Anwendungsbereichen! Alle Kultur, alle Herausbildung sozialer, ästhetischer, religiöser Lebensformen und Gestalten bedeutet für Hegel Tat der Freiheit, Autonomie in der Erscheinung. „Die Freiheit hat das Vernünftige überhaupt zu ihrem Gehalt." — In der Mitte dieser 40 umfassenden Philosophie der Freiheit steht auch bei Hegel (wie bei Kant und Fichte) die Metaphysik der Sitten. Der Kerngedanke aber dieser neuen Metaphysik der Sitten ist die Lehre v o m „ o b j e k t i v e n G e i s t " . An den Problemen des rechtlichen und sittlichen Bewußtseins hatte Fichte die für das 18. Jahrhundert maßgebend gebliebene atomhafte Auffassung v o m Einzelich (als in sich abgeschlossener und selbst genügsamer Seelenmonade) überwunden und war, in dem Gedanken der wesensmäßigen Eingefügtheit jedes konkreten Selbstbewußtseins in ein Gewebe wechselseitiger „Anerkennungen" und „Aufforderungen", zu einer neuen Metaphysik des sozialen Geistes vorgestoßen. Diese Tendenz so

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setzt Hegel n u n in g r o ß e m Stile f o r t . I m S t u f e n g a n g des Geistes (wie ihn e r s t m a l i g die „ P h ä n o m e n o l o g i e d . G . " darstellt) werden die Stadien wechselseitiger B e z i e h u n g zwischen den B e w u ß t s e i n s z e n t r e n — v o n der ä u ß e r s t e n E n t f r e m d u n g u n d Gegensätzlichkeit des K a m p f e s auf Leben u n d T o d ü b e r die S o z i a l z u s a m m e n h ä n g e v o n H e r r s c h a f t u n d Dienst, über die F o r m e n r e c h t l i c h e n A n e r k e n n e n s u n d Yertragens, sittlichen Achtens, B e j a h e n s , v e r z e i h e n d e n Yerstehens bis zur h ö c h s t e n V e r b u n d e n h e i t der religiösen Bruderliebe u n d G e m e i n s c h a f t — d u r c h s c h r i t t e n . I n allen diesen L e b e n s f o r m e n g e w i n n t der Geist eine R e a l i t ä t , die ü b e r die S u b j e k t i v i t ä t der I c h e u n d ihrer Bewußtseinserlebnisse weit hinausliegt. E i n e vielgestaltige o b j e k t i v e Welt, die überpersonale Wirklichkeit der Gesellschaft, d e r K u l t u r , der geschichtlichen Mächte t u t sich auf — eine a n d e r e Welt u n d O b j e k t i v i t ä t als die der sinnlich gegebenen N a t u r (denn sie s t e h t d e m B e w u ß t s e i n n i c h t z u n ä c h s t als F r e m d e s gegenüber, sondern l ä ß t in j e d e m Zuge die W i r k s a m k e i t menschlicher G e d a n k e n u n d bew u ß t e r W i l l e n s i n t e n t i o n e n spüren), aber d a r u m n i c h t weniger wirklich u n d o b j e k t i v als jene. J a hier t r i t t erst die eigentliche „ W i r k l i c h k e i t " , die eigentliche S e l b s t d a r s t e l l u n g des W e s e n h a f t e n in E r s c h e i n u n g e n , zut a g e . N u r eine Teilverwirklichung der Freiheit ist die sittliche Moralität des Einzelnen, die sich d e m u n b e d i n g t e n Allgemeinen des Gesetzes gegenü b e r f i n d e t u n d es d a n n s t r e b e n d in den eigenen b e s c h r ä n k t e n Willen a u f z u n e h m e n s u c h t . Die volle Wirklichkeit der Freiheit zeigt sich in den L e b e n s m ä c h t e n der F a m i l i e , des Volks, der Gesellschaft, des S t a a t e s — in diesen ü b e r p e r s o n a l e n Organismen, deren L e b e n s e n t f a l t u n g in höherem e r f ü l l t e r e m Sinne als bei den Organismen der N a t u r selbsttätige Verw i r k l i c h u n g v o n allgemeinen Zwecken u n d I d e e n ist. Hier ist (z. B . in den S i t t e n , A n s c h a u u n g e n , Gesetzen, Idealen, Bildungsformen einer lebendig-geistig sich f o r t z e u g e n d e n G e m e i n s c h a f t ) das Allgemeine m i t d e m E i n z e l n e n innig u n d u n t r e n n b a r v e r e i n i g t : selbsttätige A n t e i l n a h m e u n d v e r t r a u e n d e G e s i n n u n g d e r vielen Einzelnen, ihre freie Mitarbeit u n d ihr Sicheinsfühlen m i t d e m G a n z e n ist der Pulsschlag des G e s a m t h e i t s l e b e n s ! H i e r t r i t t die Zufälligkeit der ä u ß e r e n Bedingungen z u r ü c k ; die innere gehaltvolle N o t w e n d i g k e i t ( k o n k r e t e Allgemeinheit) eines geistigen Lebenssinnes, einer universalen menschlichen, menschheitlichen „ B e s t i m m u n g " w i r k t sich in d e n B e s o n d e r u n g e n des Z u s a m m e n l e b e n s aus, bis in die Einzelheit u n d scheinbare Zufälligkeit persönlich-individueller Ans c h a u u n g e n u n d W o l l u n g e n hinein. Das Ideelle, S i n n h a f t e , V e r n ü n f t i g e l e b t in d e n G a n z h e i t e n des Menschendaseins als k o n k r e t e substantielle W i r k l i c h k e i t ; das Sollen, die Idee, die ewige B e s t i m m u n g ist kein abs t r a k t e s J e n s e i t s , s o n d e r n k o n k r e t e I m m a n e n z , aus deren L e b e n s s u b s t a n z d a s einzelne B e w u ß t s e i n s - u n d Geistindividium sich n ä h r t . Der hiermit gegebene neue Begriff des Geistes t r ä g t ausgesprochen u n i v e r s a l i s t i s c h e n C h a r a k t e r (durchaus konform einer Ontologie, f ü r welche der Begriff das Anrieh alles Realen ist). Die Individuation ist kein zentrales Anliegen und Problem f ü r

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Hegel, u n d wenn er, d e m allgemeinen Gang der neuzeitlichen Metaphysik entsprechend, von der „ M a t e r i e " als eigenem principium individuationis den Ideenformen gegenüber nichts mehr wissen will, so sucht er andererseits doch auch nicht den Formen-Individualismus der Monadenlehre fortzufahren. Das Allgemeine selber will er als „ k o n k r e t " , den allgemeinen Geist als („allgemeines") I n d i v i d u u m fassen. In seiner Auffassung der geistigen u n d geschichtlichen Wirklichkeit erscheint das Individuum meist als das Vergängliche, als Durchgang und Mittel, als funktionierendes Organ des allgemeinen Geistes, das i m F o r t g a n g des Lebens in den FluB des Ganzen wieder eingeschmolzen wird. Seine geistige Leistung lebt fort, nicht es selbst. Das Postulat der Unsterblichkeit der individuellen Seele wird als Ausdruck einer im Endlichen verhafteten und m i t d e m Unendlich-Allgemeinen entzweiten Bewußtseinslage angesehen; der wahre Begriff des „ewigen Lebens" Boll darin verfehlt sein. Auch der Ausdruck der „Seele" oder der „ G e i s t e r " wird durch Hegel vom I n d i v i d u u m ins Allgemeine transponiert — so wenn er die dialektischen Momente und Selbstbewegungen als „Seelen" benennt (sie seien aber „ e t w a s Höheres"), oder wenn er die geistigen Gestaltungen der Philosophie in ihrer geschichtlichen Reihe als das „ w a h r h a f t e Geisterreich" bezeichnet — „ d a s einzige Geisterreich, das es g i b t " . — Aber dieser Universalismus Hegels scheidet sich doch scharf von der Geistesmetaphysik jener alten (meist an Aristoteles sich anschließenden) Lehren von der „ E i n h e i t des Intellekts", in welchen der Geist als solcher, das reine Wesen, nichts m i t Individualitat zu t u n h a t und nur durch die Verbindung m i t der Materie ins Besondere verstrickt wird. Hegel sucht eine höhere Synthese zu den Antithesen eines solchen a b s t r a k t e n Henismus einerseits und des (nach seiner Auffassung) a b s t r a k t e n Pluralismus der Monaden-Seelen andererseits. Das Phänomen des „ o b j e k tiven Geistes" zeigt i h m den W e g : der Geist ist Wesen und Substanz der personalen Individuen, aber er selbst gewinnt seine Wirklichkeit und sein lebendiges Dasein auch n u r d u r c h ihre Freiheit und Selbsttätigkeit! Die S u b j e k t i v i t ä t persönlicher Gesinnung u n d individueller Selbstgestaltung ist wesenhaftes A u f b a u - u n d S t r u k t u r m o m e n t im Sein, d. h. i m Lebensvollzug des Geistes selber! I m Element und auf der Basis des (einzelnen) Bewußtseins reift der Geist zu seinem eigenen Wesen als Fürsichsein aus. Unmöglich, seine ewige substantielle Allgemeinheit von der Besonderheit u n d Individ u a l i t ä t der freien Persönlichkeiten abzutrennen. I n der neuen Metaphysik der übergreifenden sozialen und geschichtlichen Realitäten wird die große Ursprungserrungens c h a f t des Idealismus: die Zentralstellung des Selbstbewußtseins und der selbsttätigen Person nicht preisgegeben.

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Mit der Lehre v o m objektiven Geist tritt die g e s c h i c h t l i c h e W e l t in den Mittelpunkt von Hegels Metaphysik des Geistes und damit der Wirklichkeitsmetaphysik überhaupt. Kein Denker hat vorher so tief Geschichte als eigenes Seinsbereich, ein zweites Universum neben der Natur begriffen. Geschichtliches Werden ist für Hegel die höchste eigentlichste Form des „Lebens"; die wahre Wirklichkeit dessen, was in Natur und 40 individueller Seele sich nur unvollkommen äußern kann. Das dialektische Werdenspathos gipfelt in einer Metaphysik des geschichtlichen Gesamtlebens; der logische Idealismus erfüllt sich im historischen Idealismus. In der metaphysischen Auswertung und Ausdeutung der geschichtlichen Realität steht Hegels Philosophie schlechthin einzig in der Geschichte der Systeme da. Die großen Organismen des Geistes, die staatenbildenden kulturerzeugenden Völker haben ihr Leben, ihr Aufblühen und Sichgestalten und das Erfüllen ihrer ewigen Bestimmung in der Z e i t . Die Völker, ihre Staaten und Kulturen gehen nicht gleichgültig nebeneinander und nacheinander

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her, sondern ihr vielgestaltiges Leben ist Ineinanderwirken durch K a m p f u n d Auseinandersetzung, Gegensatz und höhere Synthese. I n solchem Ringen bilden sich die großen Zeitperioden der Weltgeschichte h e r a u s ; ans zeitlichem Vergehen w ä c h s t fruchtbare versöhnende erhöhende Neubildung u n m i t t e l b a r hervor. — V o n solchen W a h r n e h m u n g e n her gibt Hegel dem ursprünglich streng zeitlos gemeinten Urbegriff des Idealismus von der (teleologisch-dialektischen) „ G e s c h i c h t e " des Bewußtseins u n d des zum Selbstbewußtsein sich durchringenden Geistes ü b e r h a u p t zugleich die W e n d u n g ins Zeitliche. Geschichte im prägnanten Sinne ist an die Zeit entäußerter Geist. A b e r die Zeit ist hier nun nicht mehr (wie in der N a t u r , zusammen mit dem Raum) bloße Form der Ä u ß e r l i c h k e i t , der Trennung, des Vergehens — sondern zugleich die alle geistigen S y n thesen und Wirklichkeitserfüllungen ermöglichende Dimension des A u f bewahrens, lebendigen Hineinbeziehens des Vergangenen ins Gegenwärtige, verklärenden „ A u f h e b e n s " der überwundenen B e s c h r ä n k t h e i t in der umfassenderen Z u k u n f t . In zeitlicher E n t w i c k l u n g s d i a l e k t i k , i m zeitlichen Ringen der Weltgeschichte erfüllt sich die Lebendigkeit des Geistes zur vollen Wirklichkeit. Das geschichtliche Leben jedes Volkes ist Teil- und D u r c h g a n g s moment eines umfassenden Prozesses: der W e l t g e s c h i c h t e ; jene großen überpersonalen S u b j e k t e und T r ä g e r des Geschehens sind Gliedfunktionen im Einen L e b e n des „ W e l t g e i s t e s " , des Geistes der „ M e n s c h h e i t " überh a u p t . D a s T h e m a dieses zeitlichen Gesamtprozesses ist das T h e m a des Geistes ü b e r h a u p t : Freiheit als Beisichselbstsein, als Selbstgestaltung zur Selbstdurchklärung. In dem geschichtlichen K a m p f der Ideen (der zu den geistigen S y s t e m e n von S t a a t e n , K u l t u r e n , religiösen Daseinsfassungen sich durchorganisierenden Volksgeister) vollzieht sich das Wirklichkeitsleben der Einen Idee, als die Geschichte ihres Selbstbewußtseins, als das Fürsichwerden des Ansich. A u c h für diese zeitliche E n t w i c k l u n g gilt, d a ß das W a h r e das Ganze ist — das ganze Leben, in der Fülle seiner in jedes neue Reifen mit hineingenommener Perioden, die ganze Weltgeschichte also als die große geduldige und zähe Arbeit des Weltgeistes in seiner inneren Auseinandersetzung mit sich selbst. Diese geschichtliche Ansicht hat äußerst wichtige Konsequenzen für den Begriff der menschlichen Vernunft und ihrer Kategorialstrukturen. Nach Hegel stellt jedes Zeitalter auf eigene A r t den Organismus der Vernunft heraus. Nicht nur die Leistungen und Werke, sondern die Denkformen und Ideen selbst sind notwendig verschieden in den verschiedenen Etappen der Geschichte, und die ganze Wahrheit liegt in keiner einzelnen Stafe, sondern im Leben des Ganzen. Auch die Vernunft hat ihre E v o l u t i o n ; sie darf nicht (wie in der Aufklärungsmetaphysik oder bei K a n t , j a in aller Vernunftmetaphysik bis dahin!) als ein zeitfremdes, konstantes System vom geschichtlichen Werden des gesamten Menschenwesens abgesondert werden. Was sie ihrer Idee nach von Ewigkeit her ist, das wird sie für sich selbst und wirklich-wirksam erst im Werdegang geschichtlicher Arbeit.

In Hegels geschichtlicher Wirklichkeitsansicht tritt nun auch ganz der

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m e t a p h y s i s c h e O p t i m i s m u s z u t a g e , der i m a b s o l u t e n Idealismus ( „ P a n l o g i s m u s " ) teleologisch-dialektischer P r ä g u n g angelegt w a r . Der •weltgeschichtliche P r o z e ß ist E i n e r , u n d dieser A r b e i t s g a n g des Geistes ist der s i n n h a f t - n o t w e n d i g e W e g seiner S e l b s t v o l l e n d u n g . Geschichte ist in j e d e m P u n k t e , a u c h i m N i e d e r g a n g u n d U n t e r g a n g , a u f s große Ganze a n gesehen — F o r t s c h r i t t . I m K a m p f e d e r Völker u n d K u l t u r e n geht jeweils a u s der n i e d e r e n F r e i h e i t s f o r m die h ö h e r e h e r v o r ; die Weltgeschichte ist d a s W e l t g e r i c h t . D e r Geist geht seinen sicheren G a n g ; auf j e d e r S t u f e seiner S e l b s t e n t w i c k l u n g wird wirklich, was der V o l l k o m m e n h e i t des G a n z e n hier a m b e s t e n d i e n t . I m G e g e n s a t z zur V e r n u n f t - O h n m a c h t d e r N a t u r b r i c h t hier die A l l m a c h t der V e r n u n f t , des sich g e s t a l t e n d e n Begriffs zur vollen W i r k l i c h k e i t d u r c h . Alles geschichtlich Wirkliche ist vern ü n f t i g , alles V e r n ü n f t i g e v e r w i r k l i c h t sich. Die Zufälligkeit der I n d i v i d u e n m i t all i h r e n eigenwilligen T r i e b e n u n d L e i d e n s c h a f t e n ist eingeo r d n e t e i n e m h ö h e r e n P l a n , d e r sich d u r c h sie h i n d u r c h , ohne ihr Wissen m e i s t , v e r w i r k l i c h t . A u c h die g r o ß e n , n a c h eigenen P l ä n e n s t r e b e n d e n u n d f ü h r e n d e n P e r s ö n l i c h k e i t e n d e r Geschichte sind in W a h r h e i t Werkzeuge, G e s c h ä f t s f ü h r e r des Weltgeistes. W a s n i c h t i n diesen Zweck- u n d Sinnz u s a m m e n h a n g sich e i n f ü g t , ist gar n i c h t „wirklich 4 ' (mit der Erschein u n g geeintes, in i h r sich a u s p r ä g e n d e s Wesen), s o n d e r n „ f a u l e E x i s t e n z " , — der „ S c h u t t des D a s e i n s " der v e r g e h t , w ä h r e n d die wirkliche Geschichte alles W e s e n h a f t e b e w a h r t u n d in der f o r t z e u g e n d e n E n t w i c k l u n g des u n s t e r b l i c h e n Geistes f o r t l e b e n l ä ß t . — Alles N e g a t i v e des menschlichen Daseins a b e r , Z e r s t ö r u n g , L e i d e n , das Böse selbst gehört zur dialektischen E n t w i c k l u n g der Geschichte. I n i h r e m W e r d e n s - u n d Lebenssinne f i n d e t Hegel die G r u n d m o t i v e seiner Theodizee. Z u m L e b e n gehört das S t e r b e n ; d a s N e g a t i v e ist i m f o r t w ä h r e n d e n , f o r t s c h r e i t e n d e n Ü b e r g a n g z u m H ö h e r e n n o t w e n d i g e s M o m e n t des P o s i t i v e n . Geschichte ist K a m p f u n d Ü b e r w i n d u n g ; d a s T r a g i s c h e des Daseins g e h ö r t zur Selbstverwirkl i c h u n g des Geistes. I m m e r a b e r ist j a a u c h V e r s ö h n u n g , Selbstvollendung a u f d e m Wege — d e r weltgeschichtliche P r o z e ß n i m m t die b e s c h r ä n k t e n G e g e n s ä t z l i c h k e i t e n in sich a u f , m a c h t d a s geschehene Böse ungeschehen, erweist die S i n n o t w e n d i g k e i t der ü b e r w u n d e n e n E t a p p e n . Die h ö c h s t e n v o l l e n d e n d e n S c h i c h t e n des geistigen Daseins f a ß t Hegel u n t e r den Begriff des „ a b s o l u t e n G e i s t e s " . I n ihrer Mitte s t e h t die Religion, als d a s D u r c h b r e c h e n des u n e n d l i c h e n L e b e n s selbst u n d der v o l l k o m m e n e n V e r s ö h n u n g zur B e w u ß t h e i t in d e n endlichen S u b j e k t e n u n d deren realer geistiger G e m e i n s c h a f t . H i e r g e w i n n t G o t t , als die m i t der Welt v e r s ö h n t e u n d alles endliche Dasein d u r c h die T r e n n u n g e n u n d d e n u n e n d l i c h e n S c h m e r z h i n d u r c h a b s o l u t einende I d e e die Wirklichk e i t des F ü r s i c h s e i n s ; die S u b s t a n z ist ganz u n d gar S u b j e k t , das Absolute a b s o l u t e r Geist geworden, die W a h r h e i t in u n e n d l i c h e Gewißheit a u f g e n o m m e n . I n d e m G o t t d e m endlichen B e w u ß t s e i n sich o f f e n b a r t , wird er sich selber o f f e n b a r . A u c h hier ist beides u n t r e n n b a r ineinander ver-

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flochten: die überpersonale übersubjektive Einheit des Geistes und die selbständige Innerlichkeit persönlichen Erlebens und Gestaltens. „ W a s als m e i n Tun erscheint, ist alsdann Gottes Tun und ebenso auch umgekehrt." Der tiefere Einheitszusammenhang der göttlichen und menschlichen Vernunft, des unendlich-allgemeinen Lebens und der Besonderheit der Freiheitsindividuen reift zur lebendigen Bewußtheit und Gewißheit durch. Gott ist kein transzendentes D i n g u n d Wesen jenseits des Menschen und des menschlichen Bewußtseins, sondern er lebt in diesem als seine eigene höhere Natur und wahre Substanz. In der unendlichen Spiegelung endlicher Geister wird das Absolute Gott und Reich Gottes zugleich. Die A b s t e m p e l u n g dieser seiner L e h r e als „ P a n t h e i s m u s " h a t Hegel schroff z u r ü c k gewiesen. Wie Schelling s u c h t er d e n G e g e n s a t z d e r theistischen T r a n s z e n d e n z u n d des I m m a n e n z - P a n t h e i s m u s in d e m höheren Prinzip eines konkreten Monotheismus aufzuheben. Der Gegensatz W e l t - G o t t m u ß ewig aus d e m Absoluten hervorgehen, ohne z u m Dualismus versteinert zu w e r d e n . W e n n die W e l t , der Inbegriff des E n d l i c h e n in ihrem ewigen u n d n o t w e n d i g e n H e r v o r g a n g aus der göttlichen S e l b s t o f f e n b a r u n g beg r i f f e n w e r d e n soll, so h e i ß t d a s k e i n e s w e g s , d a ß G o t t e s L e b e n s e l b e r i n d e r W e l t a u f gehe u n d d a ß die W e l t als solche g ö t t l i c h sei! Die I d e e i n sich (die I d e e d e r Logik) b l e i b t allem Weltgeschehen t r a n s z e n d e n t u n d überlegen. I h r absolutes S i c h d e n k e n , diese schöpferische S e l b s t b e w e g u n g bis zu d e n k o n k r e t e s t e n u n d s u b j e k t i v s t e n S e i n s f o r m e n ( K a t e g o r i e n ) erweist sich als in sich beschlossene a b s o l u t e P e r s ö n l i c h k e i t , die ihre eigene e w i g e L e b e n s e n t w i c k l u n g i n Bich s e l b s t h a t . S o f e r n a b e r a n d e r e r s e i t s d i e I d e e d o c h a u c h sich in der Welt e n t f a l t e t , in ihr d a s eigene W e s e n ä u ß e r n d u n d o f f e n b a r e n d ( v o n d e r M a t e r i e bis h i n a u f z u m S i c h w i s s e n G o t t e s i m a b s o l u t e n G e i s t ) , i s t sie z w a r ü b e r a l l i n d e r W e l t g e g e n w ä r t i g , a l s i h r e W u r z e l u n d i h r e i g e n t l i c h e s L e b e n — a b e r n i e f ä l l t sie einfach u n d u n m i t t e l b a r m i t der E x i s t e n z des E n d l i c h e n z u s a m m e n . N a t u r wie Geist t r a g e n in ihrer b l o ß e n E x i s t e n z die Z u f ä l l i g k e i t in sich; die E n d l i c h k e i t als solche m u ß a n i h n e n erst negiert u n d d u r c h die N e g a t i o n d a s G ö t t l i c h e h e r a u s e n t w i c k e l t w e r d e n . D a s Nichtsein des E n d l i c h e n ist d a s Sein des Absoluten. Die w a h r e B e j a h u n g des göttlichen Lebens in der W e l t m u ß ihren W e g d u r c h W e l t v e r n e i n u n g n e h m e n . Die W e l t s e l b s t i s t n i c h t G o t t , n i c h t g ö t t l i c h ; sie i s t e r s t d u r c h d i e T a t d e s G e i s t e s z u G o t t z u e r h e b e n , m i t G o t t zu v e r s ö h n e n .

Die Sphäre des absoluten Geistes befaßt neben der Religion im eigentlichen Sinne die Kunst und die Philosophie (Metaphysik) als Wissenschaft des Absoluten. K u n s t ist das Absolute in unmittelbarer sittlich-objektiver Existenz, Idee i m Wirklichen, Unendlichkeit im endlichen Produkte angeschaut. Schellings ästhetisch-religiöser Weltgedanke wird von Hegel in die Selbstverwirklichung des Geistes aufgenommen. Auch Hegels Metaphysik der Kunst entwickelt sich als ein umfassendes und durchgegliedertes Stufensystem der Künste und Kunstgattungen, in welchem jeder einzelnen Kunst ihre besondere und unvergleichliche Funktion für das bildhaft anschauende Erfassen des Weltwesens und Daseinssinns zukommt. — Die höchste Vollendung des absoluten Geistes findet Hegel, über Kunst und Religion hinaus, in der P h i l o s o p h i e . Da das Thema der Weltentwicklung das Selbstbewußtsein oder das Sichwissen des Absoluten ist, so muß die letzte Erfüllung über gegenständlich-ästhetische Anschauung und über subjektive Glaubens- und Gemütsgewißheit v o m UnendHandb. d. Phil. I. F 12

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liehen h i n a u s im selbstgewissen u n d m e t h o d i s c h sich d u r c h k l ä r e n d e n Wissen der V e r n u n f t gesucht werden. Hegels schrankenloser G l a u b e a n die F a s s u n g s k r a f t der menschlichen V e r n u n f t , die n a c h i h m in der reinen dialektischen Spekulation alle W i d e r s p r ü c h e u n d A n t i n o m i e n ü b e r w i n d e n u n d , bei aller Endlichkeit der Basis, des Unendlichen selber fähig w e r d e n k a n n , l ä ß t i h n das philosophisch-systematische Begreifen als das E n d s t a d i u m i m S t u f e n a u f b a u der V e r s ö h n u n g u n d S y n t h e s e fassen. D a s S y s t e m der Philosophie ist die v o l l k o m m e n d u r c h g e k l ä r t e Selbstdarstell u n g des ewigen Organismus u n d Systems der a b s o l u t e n V e r n u n f t . Die Logik ist das Sichbegreifen des Absoluten im Medium des philosophierenden Geistes; u n d das E r k e n n e n der beiden philosophischen Realwissens c h a f t e n b e f r e i t d u r c h ihr allseitiges A u f d e c k e n der V e r n u n f t i m W e r d e n der N a t u r u n d Geisteswelt endgültig die Idee v o n der u n w a h r e n E x i s t e n z u n d Zufälligkeit des E n d l i c h e n . Ü b e r die Religion h i n a u s h e b t Metap h y s i k die Welt zu G o t t e m p o r u n d b r i n g t die sich i m D e n k e n selbst n a c h ihrer inneren Notwendigkeit erfassende, in der Gewißheit strengen Wissens sich ganz besitzende V e r s ö h n u n g . — A u c h diese M e t a p h y s i k des philosophischen E r k e n n e n s wird zugleich i m historischen P r o z e ß g e d a c h t , u n d d a m i t der Geschichte der Philosophie ein völlig n e u e r Sinn gegeben. Die philosophischen S y s t e m e der Geschichte in ihrer zeitlichen Abfolge gehen, in großen Zügen wenigstens, den Weg der dialektischen N o t w e n digkeit. Philosophiegeschichte ist fortschreitende, in Gegensätzen u n d Synthesen sich vollendende Selbsterkenntnis des Absoluten. Die von den Philosophen h e r a u s g e a r b e i t e t e n u n d zu gegensätzlichen Systemen ausgestalteten W e l t a n s c h a u u n g e n der verschiedenen Zeiten u n d Völker sind die (jeweils b e s c h r ä n k t e n u n d f r ü h e r e B e s c h r ä n k t h e i t ü b e r w i n d e n d e n ) A n s c h a u u n g e n des Weltgeistes selbst — ihre K e t t e das „ w a h r e Geisterreich". A u c h hier ist das Vergangene i m Gegenwärtigen als aufgehobenes Moment lebendig u n d jederzeit in seiner eingeschränkten W a h r h e i t u n d Notwendigkeit b e g r e i f b a r . Die W a h r h e i t selber ist das Ganze des Prozesses; das w a h r e philosophische S y s t e m die v o l l k o m m e n e , u m f a s s e n d e , die Widersprüche dialektisch auflösende Synthese j e n e r in der langwierigen geduldigen Arbeit der Geschichte h e r a u s g e t r e t e n e n Systeme. H a u p t w e r k e : Theologische Jugendschriften (hrsg. v. H. Nohl, Tübingen 1907); Phänomenologie des Geistes; Wissenschaft der Logik; Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse; Grundlinien der Philosophie des Rechts. —- Darstellungen: W. D i l t h e y , Die Jugendgeschichte Hegels (Diltheys Schriften, Bd. IV); K. F i s c h e r , Hegels Leben, Werke und Lehre, 2 Bd. 1898—1901 u. ö.; H . F a l k e n h e i m , Hegel (in Große Denker, hrsg. v. Aster, 2. Bd. Leipzig 1911). R . F a l c k e n b e r g , Die Realität des objektiven Geistes bei Hegel; Leipzig 1916. B. H e i m a n n , System und Methode in Hegels Philosophie; Leipzig 1927. N. H a r t m a n n , Hegel; Berlin 1929.

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VII. BEGLEITER UND AUSLÄUFER DER IDEALISTISCHEN BEWEGUNG. D e m metaphysischen Werk der drei großen Führer des deutschen Idealismus k o m m t , nach der Größe der Konzeption wie nach der Fruchtbarkeit der Problemansätze, nichts gleich was zu ihrer Zeit oder in ihrer Nachfolge geschaffen worden ist. Gewiß ist eine Menge wichtigen (und heute allzusehr vernachlässigten!) metaphysischen Gedankenguts enthalten in den Schriften jener Denker, die in den weiteren Begriff des nachkantischen Idealismus noch mithineingehören, sowie der anderen, die von ihm ausgegangen und dann in eine andere Geisteslage und Weltansicht hineingewachsen sind. Aber die schlechthin überragende Bedeutung, die Fichtes, Schellings oder Hegels Werk unmittelbar neben die Systeme des Descartes, Spinoza oder Leibniz stellt, kommt ihnen keineswegs mehr zu. Unsere Darstellung kann daher nun in knapperem Umriß zeichnen. 1. S C H L E I E R M A C H E R , K R A U S E , B A A D E R . A. Keiner der Idealisten hat die neuen Kerngedanken von Vernunft und Selbstbewußtsein so fest verbunden mit dem Spinozismus, wie S c h l e i e r m a c h e r . Auch er sucht, in enger Verwandtschaft mit Schellings Identitätssystem, die höhere Synthese für Idealismus und Realismus. Die „ D e m u t der Religion" läßt ihn „einen andern Realismus ahnen", als den, welchen der Idealismus „mit so vollem Recht sich unterordnete". Die H i n g a b e a n d a s U n i v e r s u m muß die Autonomie des Selbstbewußtseins in sich einschmelzen; — Spinozas Welthaltung wird dabei Vorbild. Der Stufengedanke t r i t t zurück. Reales und Ideales sind zwei gleichberechtigte und parallele Modi des absoluten Seins. Die beiden großen Wirklichkeitsbereiche der N a t u r und der Vernunftwelt (jedes ein Ineinander von Realem und Idealem, Dinglichem und Geistigem, n u r mit entschiedenem Vorwiegen des einen oder andern) stehen einander selbständig gegenüber. D a s erkennende und handelnde Bewußtsein greift über sich hinaus auf das ihm Transzendente. Die Formen der E r k e n n t n i s (Kategorien, R a u m und Zeit, S t r u k t u r e n der formalen Logik) haben ihre genaue Entsprechung in Prinzipien und Verhältnissen der äußeren Wirklichkeit. Wissen ist nicht nur Übereinstimmung des Denkens mit sich selber und wiederum der denkenden Subjekte miteinander, sondern Ubereins t i m m u n g mit dem Sein. — Diese Übereinstimmung stellt sich nun aber nach Schleiermacher her auf G r u n d und Anlaß von realen Einwirkungen, von Affektionen des Geistes (in seinen organischen Funktionen) durch die Außenwirklichkeit, die Welttotalität. Anders als f ü r Spinoza ist ihm die Welt, dies Ganze von N a t u r und Geist, trotz aller Gegensätzlichkeit des Idealen und Realen ein durchgängiger Wirkungszusammenhang. Wie N a t u r auf V e r n u n f t , so wirkt auch wieder Vernunft auf N a t u r ; — der ganze A u f b a u der Geschichte und K u l t u r entsteht doch eben in solchem ins Reale (oder R e a l i d e a l e ) übergehenden Handeln der V e r n u n f t ! So wird der alte Realismus des kausalen u n d dynamischen Seinsgedankens (ans 18. J a h r h u n d e r t u n d a n K a n t deutlich anklingend) mit der V e r n u n f t m e t a p h y s i k verbunden. Vernunft ist einheitliches allgemeines Sein oder Leben, das sich in der Vernunfttätigkeit der IndiF 12*

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viduen äußert, in ihnen — bei aller Verschiedenheit der Organisationen und Anlässe — ihre ideellen Formen übereinstimmend zu Bewußtsein und Begriff bringt und durch sie die Welt umgestaltet. Der Weltzusammenhang, als gegenseitige Bestimmung von Natur und Vernunft, fordert den Rückgang auf den letzten Einheitsgrund des Realen und Idealen. Daß die Begriffe der erkennenden Vernunft den substantiellen Formen und Kausalgesetzlichkeiten der Natur konform sind, und weiter, daß das äußere Sein die Zweckstrukturen des Vernunfthandelns aufzunehmen vermag — das muß verstanden werden aus der ursprünglichen Identität von Sein und Denken. Daß es solche Identität geben muß, erfahren wir (doch noch in relativer Spaltung) im eigenen Selbstbewußtsein. Von da gilt es überzugehen zum Gedanken der absoluten Identität. Wie das l e b als Grund aller Einzeltätigkeiten und Gegensetzungen erfahren wird, so muß Gott als die Ureinheit der Welttotalität gedacht werden. Das alte Motiv vom Einheitsgrund des Harmonie- oder Kausalzusammenhangs der Welt verbindet sich bei Schleiermacher mit dem idealistischen Ausgang vom Ich als dem in uns unmittelbar sich aufschließenden Subjekt-Objekt; — Leibniz und Wolff mit Fichte und Schelling.

Die Welt ist Wirkungszusammenhaiig und allseitiges Ineinander von Idealem und Realem; Gott ist Einheit über allen Gegensätzen und Grund allen Zusammenhangs. Aber diese gegensatzlose Einheit des Absoluten kann nun nach Schleiermacher nie wirklich durch den Gedanken gefaßt, begrifflich oder durch intellektuelle Anschauung erkannt werden. Sie ist für uns bloße, niemals (auch nicht in unendlicher Annäherung) erfüllbare „Idee" — wenn auch notwendige und realitätversichernde Idee und nicht nur ein subjektives Bedürfnis unserer Vernunft! Gott ist real und ideal vorausgesetzt in allem Wissen, und er wirkt in uns als Einheit der Ideen, als Gewissen; — aber er selbst wird nicht gewußt, denn Wissen bewegt sich eben notwendig in Gegensätzen. Alle Zuteilung von Eigenschaften an die Gottheit (so auch die Charakterisierung als persönliches Wesen) ist philosophisch, als verendlichende Hineinziehung des schlechthin Gegensatzlosen in die Gegensätze, zu verwerfen. So erhebt sich schon in Schleiermacher eine bedeutsame Reaktion gegen den idealistischen Gewaltanspruch auf adäquate Erkenntnis des Absoluten durch die philosophische Spekulation. Kants kritische Einschränkung der endlichen Vernunft wird neu vernehmlich; die Selbständigkeit persönlicher und kirchlicher Religionserfahrung (und der darauf sich gründenden Theologie) wird jener unbedingten Überordnung des Wissens über den Glauben, der absoluten Vernunftwissenschaft über die Religion entgegengestellt. Allerdings hat Schleiermacher diese Tendenz keineswegs einheitlich durchgeführt. Insbesondere auch verhindert die so statuierte Erkenntnistranszendenz des Göttlichen bei ihm nicht eine Zusammenspannung von Gott und Welt, die faktisch seine philosophische Lehre näher an den Spinozistischen Pantheismus heranrückt, als irgendeins der idealistischen Systeme, in seiner Ganzheit betrachtet. Was Schleiermacher gegen den Pantheismus (z. B. des Schellingschen Identitätssystems) vorzubringen hat, betrifft mehr den Erkenntnis- und Deduktionsanspruch solcher Philosophien vom AU-Einen, als die inhaltliche Seinsvorstellung. Gott (die „reale Negation aller Gegensätze") und Welt („Totalität der Gegensätze") sind für Schleiermacher Korrelatideen; die eine ist nicht

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ohne die andere z u denken. Wie die Weltvielheit als ein Ganzes und eine Allheit nicht anders gedacht werden kann, denn in Gott, so ist Gott ohne Welt ein „leeres Phant a s m a " . Die göttliche K r a f t wird in der Allheit des Endlichen vollkommen dargestellt; alles in G o t t Mögliche ist auch wirklich. „ W e n n Gott über die Welt hinausragte, so wäre etwas in ihm nicht weltbedingend, nnd wenn die Welt über Gott hinausragte, so wäre etwas in ihr nicht g o t t b e d i n g t . " — Das idealistische Übergewicht des Spiritualen über das Materielle t r i t t in diesem Totalitäts-Monismus zurück. Die wahre Gottesidee denkt Gott nicht als das rein Ideale, sondern als das über dem Gegensatz Stehende. Entsprechend wird denn auch die göttliche Kausalität in der allseitigen Bedingtheit alles Endlichen durch den N a t u r - und WeltzuBammenhang gesucht; die „schlechthinige Abhängigk e i t " jedes Einzelwesens ist gleicherweise Abhängigkeit von Gott wie vom Universum. — So bleibt auch fUr Freiheit und Persönlichkeit (trotz aller Hervorhebung des Individuellen u n d Eigentümlichen im Sittlichen und Religiösen) nicht viel R a u m . W a s frei geschieht, k a n n ebensosehr als Wirkung der äußeren Ursachen im gottgewirkten Weltzusammenhange angesehen werden. Alles geschieht notwendig, oder besser: alles ist ebenso notwendig wie es frei ist; Freiheit heißt nur die innere Notwendigkeit, das Sichentwickeln aus d e m eigenen Keim. Die Einzelwesen, auch die geistigen, sind nur wandelbare Zustände im Leben des Universums; gegen den Fluß des Weltprozesses kann nichts Endliches sich b e h a u p t e n , auch nicht Personen. Der Anspruch ewiger Fortdauer des Individuellen wird abgewiesen; wahre Unsterblichkeit ist das „ewige Leben" im Einswerden mit dem Unendlichen, mitten in Gegenwart u n d Endlichkeit. — Das Ganze aber in dem der Einzelne aufgeht, ist, eben als Totalität der göttlichen Wirksamkeit, vollkommen. Das Schlechte ist. immer nur das im Verhältnis zu höheren Entwicklungsformen Unvollkommenere. Für Schleiermachers E t h i k (als metaphysische Realwissenschaft, welche das H a n d e l n der Vernunft auf die N a t u r darzustellen h a t ) gibt es keinen absoluten Gegensatz von Gut und Böse, sondern nur das Mehr und Weniger in der Vollendung des Organisierens. Auch in diesem P u n k t e ist er Spinozas Haltung nahe genug gekommen.

B. Die Metaphysik von K. Chr. Fr. K r a u s e geht (sehr im Gegensätze zu Schleiermacher und in engster Verwandtschaft zu Schelling und Hegel) ganz v o n der Überzeugung aus, daß das Absolute („Wesen") durch unsere Vernunft erschaut und durch die philosophische Spekulation nach seiner inneren Wesenheit erkannt werden kann. Philosophie ist ihm nicht Weltweisheit, sondern primär Gotteswissen oder Wesen-Lehre. Alles Wissen von Endlichem ist möglich nur auf der Basis eines Vernunftzusammenhangs mit dem Unendlichen; auch die Selbstgewißheit des Ich hat die Idee und Gewißheit des göttlichen Lebens zum Untergrund. Das ursprüngliche Wissen ist das vom Unendlichen, alles Wissen von Endlichem ist sekundär und bedingt; Endlichkeit ist ein negativer Begriff, das Unendliche der positive. „Wesen" ist aber keineswegs identisch mit dem unendlichen Grund oder Inbegriff des Endlichen! Den Pantheismus jeder Form — auch den bei Schelling und Hegel wieder wirksamen — will Krauses Wesenlehre überwinden. Von Gott als „Urwesen" (d. h. als Weltgrund) ist „Wesen" selbst zu unterscheiden. „Wesen-als-Urwesen" ist außer der Welt, aber zugleich als Grund auf sie, als das Begründete, bezogen und in ihr sich offenbarend. „Wesen" an sich dagegen liegt über solche Gegensatzverbundenheit hinaus und ist ein „Höherganzes" jenseits aller Dualität und Relation. Theismus und Pantheismus werden versöhnt und überhöht durch den „ P a n e n t h e i s m u s " (den Terminus hat eben Krause

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METAPHYSIK

DER

NEUZEIT

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geschaffen) oder die ,,All-in-Gott-Lehre". Gott ist nicht selbst die Welt, noch ein außer ihr Seiendes; sondern er faßt, nach seiner Wesenheit über sie hinausreichend und ihre Gegensätzlichkeiten erhaben überragend, die Welt in sich. Gott als Wesen erkennt und will nur sich selbst, ist absolutes Innesein vollkommener Persönlichkeit; erst Gott als Urwesen erkennt, fühlt, will die Welt und ist „in sich, unter sich, und durch sich" Leben der Dinge in der Zeit. Die reine Wesenschauung also f a ß t C o t t vor aller innern Gegenheit u n d Vielheit. Aber das heißt nicht, d a ß das Absolute hier nur negativ als Indifferenz zu fassen wäre. Das eine und ganze Wesen zeigt sich (analog der Icheinheit im Selbstbewußtsein) als „ G l i e d b a u " von Wesenheiten; im Gotteswissen ergeben sich uns die höchsten Kategorien und Grundsätze, und damit die Prinzipien aller Natur- u n d Geisteswissenschaften. Die Wesenswesenheiten sind die Seinskategorien schlechthin. Metaphysik als „ G r u n d wissenschaft" ist (wie bei Hegel!) zugleich philosophische Theologie und allgemeine Ontotogie; in ihrem R a h m e n arbeitet Krause sein neues Kategoriensystem heraus. — Unter den ersten höchsten Wesenheiten steht neben der Einheit die Selbstheit (Unbedingtheit) und die Ganzheit (Unendlichkeit) Gottes. Geht m a n n u n von der f u n d a m e n talen Wesenlehre zur „Urwesenlehre", u n d damit dann weiterhin zum Begreifen der zeitlich-weltlichen Dinge aus der Anschauung Gottes als Urwesen über — so zeigen sich die großen Wirklichkeitsbereiche als offenbarendes Darleben jener höchsten Wesensbestimmungen. Die Grund Wesenheit der N a t u r ist Ganzheit; sie ist u n e n d l i c h e s K o n t i n u u m in R a u m und Zeit, ein Ganzes der K r a f t u n d des Einen Lebens, das alles Besondere, auf allen Stufen des Kosmischen und des Organischen, in sich gebunden hält. — Der N a t u r gegenüber steht, als Offenbarung der göttlichen S e l b s t h e i t , die V e r n u n f t (Autonomie!) oder das Geisterreich — auch dies ein unendliches u n d einziges Zeitwesen, das aber in sich eine unendliche Reihe selbstbewußter Vernunftwesen oder Seelen begründet und enthält. I m persönlichen Selbstbewußtsein u n d freien Wollen des Individuums offenbart die göttliche Selbstheit sich ganz, im Ebenbilde. So h a t denn auch, bei aller tragenden Ganzheit der V e r n u n f t , das Sonderleben der Einzelseele unendliche D a u e r ; in der unendlichen Entwicklung der Einzelwesen schaut G o t t die Geschichte seines Selbstheit-Lebens an. Der Wesenskern des Individuellen liegt über alle Zeitbestimmungen hinaus.

Natur und Vernunft (auch bei Krause gleichwertig und in harmonischer Durchdringung einander gegenüberstehend) haben ihre höchste Einheit im M e n s c h e n . Der Mensch ist Einheit („Verein-Wesen") von Leib und Seele, oder von Natur- und Vernunftwesen; die höchsten Produkte der beiden Göttlichkeitsbereiche: der vollkommenste Organismus und die Aufgipfelung der Vernunft zum Selbstbewußtsein sind hier ineinander verschmolzen. So ist die A n t h r o p o l o g i e („Verein-Wesen-Lehre") neben Vernunftwissenschaft und Naturphilosophie die dritte Grundwissenschaft der aus der Urwesenlehre hervorgehenden Wirklichkeitsphilosophie. Die Menschheit als die Eine Ganzheit — ein großer individualer (in Teilindividuen sich gliedernder) Organismus und ein unendliches Leben der (nicht auf das Erdendasein eingeschränkten) Geschichte — drückt ebensosehr die Selbstheit als Geistwesen wie die Ganzheit als Leibwesen aus. Sie ist, in ihren immer neuen schöpferischen Ineinsbildungen des Sinnlichen und Geistigen, Naturrealen und Idealvernünftigen, höher als Natur und Vernunft, die äußerste Synthese von Freiheit und Notwendigkeit, der Gottesstaat.

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10

SCHLEIERMACHER,

KRAUSE,

BAADER

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Von hier aus wird die P h i l o s o p h i e d e r G e s c h i c h t e zum abschließenden H a u p t teil des Wirklichkeitssystems, zum Gipfel aller Weltwissenschaft. Die Grundkategorie von Krauses Geschichtsphilosophie ist der Begriff des Lebens; und ihre Eigentümlichkeit besteht n u n darin, d a ß die alte Analogie zum Einzelleben (z. B. schon bei Augustin!) n u n einmal metaphysisch durchgeführt wird. Dem reinen Entwicklungs- und Fortschrittsprinzip t r i t t in der Lehre von den Lebensaltern der Gedanke wesenhaften Aufsteigens und Wiederabsteigens jedes Lebensverlaufes entgegen. Eine rückläufige Bewegung m u ß auf den Fortgang v o m Keimleben zur J u g e n d und zur Lebensreife folgen; das gilt nicht nur f ü r das organisch bedingte Individuum, sondern ebensosehr f ü r die interpersonalen u n d überpersonalen Träger des Geschehens, f ü r alle S t ä m m e und Völker, wie schon f ü r E h e n und F r e u n d s c h a f t e n ! D a r u m ist doch das Werden in der Zeit nicht sinn- und ziellos. Der Übergang zu Greisenalter u n d Verfall ist kein absolutes Ende, sondern zugleich die A n n ä h e r u n g zu neuer Geburt und höherem Dasein. I n allen Lebensaltern wie in den Folgen der Lebenszyklen bricht unerschöpflich immer Neues aus der Ewigkeit hinein in die Zeit.

C. Auch F r a n z v o n B a a d e r sucht in der Metaphysik vor allem die spekulative Erkenntnis Gottes. Alle Philosophie ist religiöse Philosophie, alles Denken m u ß mit Gott beginnen. So ist auch ihm die Grundwissenschaft zugleich Logik (Lehre v o m schöpferischen Logos) und Theologie. 10 Aber zugleich fordert er strengere Unterscheidung des menschlichen v o m göttlichen, des geschöpflichen vom schöpferischen Denken, als sie z. B. bei Schelling und Hegel gegeben war. Gegen die subjektive Selbstgewißheit des Bewußtseins und das Pathos der Vernunftautonomie setzt er die Überzeugung, daß unser Wissen immer nur Teilhaftig-Sein am göttlichen Wissen darstellt. Der Mensch ist nicht Selbstwirker und Selbstwisser, sondern sein Wissen ist (wie sein Gewissen) Mit-Wissen mit Gott, seine Vernunft ein Vernehmen. Des Menschen Denken und Wissensgewißheit ist nur möglich auf Grund seines Gedacht- und Gewußt-werdens. Cogitor ergo cogito et sum — das, und nicht Descartes' Grundsatz, ist die höchste, 30 jedem Zweifel entzogene Gewißheit. So ist denn in unserm wirklichen Wissen v o n Gott zuletzt Gott selbst wie der Vernommene, so der Vernehmende.

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I m Gottesbegriffe Baaders h a t der spiritualistische Idealismus (von Fichte her) allein die Oberhand. Gott ist Geist; das Sein des Geistes aber, in seiner eigensten Realität gen o m m e n u n d nicht nur nach modalen Äußerungen, ist Wissen und Selbstbewußtsein! Sein ist Erkennen, E r k e n n e n ist Zeugen, Hervorbringen; — so ist denn alles geschöpfliche Dasein ein Gewußt- und E r k a n n t w e r d e n durch Gott. — Die Auffassung aber, d a ß Gott Selbstbewußtsein u n d Persönlichkeit erst im Sichwissen u n d Von-ihm-Wissen der endlichen Geister erlange, ist zu verwerfen. Der Idealismus m u ß von der pantheistischen VerStockung befreit werden. Die Welt ist kein notwendiger ewiger Durchgang f ü r das Zusichkommen Gottes; sie ist freie Schöpfung, von unserm Wissen nicht mehr genetisch zu begreifen und zu konstruieren, sondern n u r noch faktisch hinzunehmen. Jenseits und vor der Weltbeziehung kreist das Leben Gottes in sich selbst — a h ein sich selbst erzeugendes Selbsterkennen und Sichoffenbaren, als ewige „geformte, sich formierende, d u r c h ihre innere Unterscheidung oder Gliederung sich durchfuhrende und hiermit in sich selber immer wiederkehrende aktuose und pulsierende Einheit". — Ein großer Teil der Spekulationen Baaders gilt n u n der begrifflichen Fassung dieses ewigen Prozesses (die deutsche Mystik und besonders J . Böhme weisen ihm dabei die Wege); von ganz besonderer Bedeutung ist dabei das Durchdringen des voluntaristischen Motivs ( v o r

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METAPHYSIK

DER

NEUZEIT

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Schellings Philosophie der Freiheit). Das Offenbarunga werden in Gott ist Willensprozeß, der unergründliche Wille gebiert rieh in den faßlichen Willen, um von dort als Geist zu sich zurückzukehren. Vor allem ist es das Persönlichkeitsmoment (im Trinitätsgedanken), das auf das voluntative Prinzip des Lebens weist: Selbstheit und Eigenheit entstammen der „Natur" in Gott, als einem desiderium sui, der ewigen Sucht und Begierde zur Offenbarung. — Auch in der Weltphilosophie dann iBt der Wille die schaffende und bildende Macht. Dem spiritualistischen Theismus entspricht bei Baader eine Weltauffassung, die (in schroffem Gegensatz zu Schleiermacher und Krause) dem Geiste den unbedingten Primat vor dem Natürlich-Materiellen zuspricht. Die Welt der Kreaturen ist ihrem ur- to sprünglichen Wesen nach rein immateriell. Die Materie, die Weltausbreitung und -Zersplitterung in Raum und Zeit, ist Folge eines intelligiblen Sündenfalls der Kreatur. Daß unsere Wirklichkeit und Existenz nicht die wahre ist, erhellt vor allem am Wesen der Z e i t , in der wir uns finden: die nicht (wie die „wahre" Zeit) Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist, sondern ein immer Zerfallendes ohne wirkliche Gegenwart, das in ihr Existierende mit Notwendigkeit der Negation, dem Tode entgegenführend. — Gerade die materielle Wirklichkeit und Zeitausdehnung aber gibt wieder auch dem Menschen Gelegenheit und Basis der Wiederaufrichtung. Das Ziel und die Bestimmung seines Lebens ist, sich von der Materie zu befreien, sich und die Kreatur überhaupt wieder zu Gott zu führen und im Zeitleben selbst sich über das Zeitliche zu erheben. 20 S c h l e i e r m a c h e r , Dialektik, hrsg. Jonas 1839; neue Ausgabe v. Halpern, Berlin 1903. K r a u s e , Vorlesungen über das System der Philosophie 1828; 2. Auflage, Prag 1869 und Leipzig 1889; Geist der Geschichte der Menschheit oder Vorlesung über die reine, d. i. allgemeine Lebenslehre und Philosophie der Geschichte; 1843; 2. Auflage, hrsg. v. Hohlfeld u. Wünsche, Leipzig 1904. B a a d e r , Spekulative Entwicklung der ewigen Selbsterzeugung Gottes; aus B.'s Schriften zusammengetragen von Fritz Hoffmann, Amberg 1835. 2. DER S P Ä T E R E S C H E L L I N G , CHR. H. W E I S S E J . H. FICHTE.

UND

Von den Systemen der idealistischen Denker geht schließlich eine neue 30 Bewegung aus, die, immer stärker auf Revision der Prinzipien hindrängend, bei aller tiefen und dauernden Verwurzelung im Idealismus doch eine andere Position und ein anderes Vorgehen h e r a u f f ü h r t : der „ s p e k u l a t i v e T h e i s m u s " . Ein breiter Kreis von Denkern nimmt daran teil, und die Auswirkungen erstrecken sich noch weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die entscheidenden Vorkämpfer und bleibenden Führer sind auf der einen Seite Schelling in der letzten, über Jahrzehnte ausgedehnten Phase seiner Entwicklung, und andererseits, gleichzeitig, Weisse und der jüngere Fichte. Die ernste Bedeutung dieser Bewegung für die Geschichte der Metaphysik ist von dem späteren 19. Jahrhundert vielfach gänzlich verkannt worden, trotz der eindring- 40 liehen Hinweise und Zusammenfassungen durch E. v. Hartmann. In der Gegenwart hat ein neues Interesse dafür eingesetzt; die wichtigste Frucht bisher ist das vor allem Weisse gewidmete Buch von K. Leese über die „Philosophie und Theologie im Spätidealismus**. Schon der mit guten Gründen eingeführte Titelbegriff rückt diese neue Metaphysik nach ihrem sachlichen Gewicht unmittelbar an die Systeme der großen Blütezeit heran. Die gemeinsame Tendenz dieser Denker geht auf eine kritische Umbildung des Idealismus im Sinne einer tieferen Herausarbeitung der personalen Existenz und der persönlichen Freiheit — sowohl in der Sphäre des Absoluten wie in der des endlichen Geistes- und Geschichtszusammenhangs. Die pantheistischen und universalistischen Tendenzen im Identitätssystem und besonders in Hegels Panlogismus werden bekämpft von den Gegebenheiten 50

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DER SPÄTERE

SCHELLING,

CHR. H. WEISSE, J. H. FICHTE

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der religiösen E r f a h r u n g her. Ein neuer Blick auf die konkrete Mannigfaltigkeit des Wirklichen in N a t u r - u n d Menschengeschichte t r i f f t zusammen mit einem Durchschlagen des Leibnizischen Individualismus d u r c h die nachkantischen Traditionen. Der „ k o n k r e t e T h e i s m u s " u n d eine umfassende Philosophie der Persönlichkeit ist n u n das Ziel. — Eine methodische W e n d u n g ist d a m i t unmittelbar verbunden, mit der diese Bewegung zugleich den Anschluß a n die v e r ä n d e r t e Wissenschaftstendenz des Zeitalters f i n d e t : der reine A p r i o r i t a t s a n s p r u c h der metaphysischen Spekulation wird durchbrochen und ergänzt d u r c h die F o r d e r u n g metaphysischer Auswertung der lebendigen E r f a h r u n g u n d konkreten Anschauung des n a t u r h a f t und geschichtlich Gegebenen. Die aus Freiheit der schöpferischen Urpersönlichkeit hervorgegangene Welt, .die in den Freiheitstaten menschlicher Persönlichkeiten sich a u f b a u e n d e Geschichte können nicht in allem ihrem Wesentlichen rein a priori konstruierbar sein. Das Wirkliche ist nicht durch vorgegebene Dialektik zu v e r s t e h e n ; sondern aus den empirisch uns gegebenen Strukturen des Gewordenen u n d W e r d e n d e n ist rückzuschließen auf Sein und Sinn des Ganzen und seines Ursprungs. K a n t s Gegnerschaft gegen den Dogmatismus der rationalistischen Metaphysik und seine Freilegung der E r f a h r u n g wird gegen den neuen Apriorismus der Vern u n f t m e t a p h y s i k ins Feld g e f ü h r t . Fichte (der Sohn) geht darin schließlich noch über Schelling und Weisse weit hinaus.

A. Der erste u n d g r ö ß t e R e p r ä s e n t a n t dieser spätidealistischen Bew e g u n g ist S c h e l l i n g in seiner s p ä t e r e n Lebensentwicklung. D u r c h m e h r als vier J a h r z e h n t e h i n d u r c h a r b e i t e t der mit d e m Vordringen des Hegelianismus aus d e r B e a c h t u n g seiner Zeit g e d r ä n g t e Denker, v e r s t u m m e n d u n d sich i m m e r m e h r verschließend gegen die philosophische U m welt u n d Ö f f e n t l i c h k e i t , an der D u r c h f ü h r u n g u n d Vollendung des d u r c h die Philosophie der Freiheit a u f eine neue Basis gestellten Systems. Die A u s b i l d u n g des philosophischen Theismus (als höhere spekulative Überw i n d u n g des a b s t r a k t e n Deismus u n d des leeren Theismus der Theologen, wie des n a t u r a l i s t i s c h e n u n d a u c h des idealistischen P a n t h e i s m u s ) t r i t t i h m n u n ganz in d e n M i t t e l p u n k t . I m m e r schärfer spitzt sich — im L a u f e der weiteren E n t w i c k l u n g , v o n den „ W e l t a l t e r n " bis zur „Philosophie der O f f e n b a r u n g " — der Zielgedanke der absoluten weit- u n d seinsüberlegen e n Freiheit u n d Selbstheit des Göttlich-Absoluten zu. „ F r e i h e i t ist unser Höchstes, unsere G o t t h e i t ; diese wollen wir als letzte Ursache aller D i n g e . " Freier Schöpfungswille ist diese höchste Ursächlichkeit, nicht ein n o t w e n d i g e r A n f a n g u n d H e r v o r g a n g . Die O f f e n b a r u n g Gottes in Welt u n d Menschheit ist n i c h t notwendige Erscheinung, sondern T a t der Liebe. — I n den M i t t e l p u n k t aber des O f f e n b a r u n g s g e d a n k e n s t r i t t j e t z t das E r l ö s u n g s w e r k . D e m aus der absoluten Willkür menschlicher Freiheit h e r a u s geschehenen „ A b f a l l " der K r e a t u r (diesem u n e r g r ü n d lichen A k t der I c h h e i t , der als ein „ U r z u f ä l l i g e s " allem Begreifen u n d Deduzieren sich e n t z i e h t u n d n u r als F a k t u m a u f z u n e h m e n und n a c h t r ä g lich n a c h d e n d a m i t gegebenen S e i n s z u s a m m e n h ä n g e n zu d u r c h l e u c h t e n ist) t r i t t Gottes Erlösungswille als T a t seiner unergründlichen, über die F a s s u n g s k r a f t aller reinen V e r n u n f t w e s e n h a f t hinausgehenden Freiheit e n t g e g e n . Die philosophische Spekulation s t e h t d a m i t vor der A u f g a b e , das A b s o l u t e als die höchste, ü b e r alle Notwendigkeiten des Seins erhabene F r e i h e i t , G o t t als d e n „ H e r r n des Seins" zu denken.

METAPHYSIK

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DER

NEUZEIT

F

„ J e d e r m a n n erkennt, daß G o t t Wegen außer ihm nicht vermöge einer blinden Notwendigkeit «einer Natur, sondern mit höchster Freiwilligkeit erschaffen. Ja, genauer zu reden, vermöge der bloßen Notwendigkeit Gottes, da sie nur auf sein Daseyn als das Seine geht, wäre keine Kreatnr. Also durch die Freiheit überwindet Gott die Notwendigkeit seiner N a t u r in der Schöpfung . . . " „ G o t t , wenn wir ihn wirklich in Freiheit gegen das Seyn denken, ist zuerst oder primo loco — Herr, das Seyn aus der Grenze zu setzen/* „Dieser A k t der Schöpfung oder Herablassung Gottes ist freiwillig. Es gibt also keinen Erlclärungsgrund der Welt als die Freiheit Gottes. Nur G o t t selbst kann die absolute Identität seines Wesens brechen, und dadurch R a u m zu einer Offenbarung machen . . . V o n einer Handlung der absoluten Freiheit läßt sich kein weiterer Grund angeben; sie ist so, weil sie so ist, d. h. sie ist schlechthin und insofern notwendig." — Diese Erhabenheit der absoluten Freiheit Uber die Seinsnotwendigkeit ist also nicht nur Freiheit v o m und zum endlich-geschöpflichen Sein, sondern Freiheit gegenüber dem Sein überh a u p t , auch dem eigenen ursprünglichen und inneren Sein des Absoluten selbst! ,,Da wir schon im Menschen nur das überschwenglich Freie als sein eigentliches Selbst ansehen, werden wir nicht aus G o t t ein bloß notwendiges Wesen machen, und auch in ihm das unfaßlich Freie als sein eigentliches Selbst betrachten." „ D e r absolute Geist ist der auch v o n sich selbst, von seinem a l s Geist Seyn wieder freie Geist; i h m ist auch dag a l s - G e i s t - S e y n nur wieder eine A r t oder Weise des Seyns; — dies — auch an sich selbgt nicht gebunden zu geyn, gibt ihm erst jene absolute, jene transzendente, überschwengliche Freiheit, deren . . . Gedanke erst alle Gefäße unseres Denkens und Erkennens so ausdehnt, daß wir fühlen, wir s i n d nun bei dem Höchsten, wir haben dasjenige erreicht, worüber nichts Höheres gedacht werden k a n n . " „ D e r vollkommene Geist ist über alle A r t e n des Seyns — er geht über jede, auch die höchste, hinaus. Darin eben besteht seine absolute Transzendenz." — So wächst hier bei Schelling der voluntaristische Absolutheitsbegriff der Freiheitsphilosophie hinaus über das substantielle Seinsprinzip des ontologischen Gottesbeweises und alles reinen Vernunftidealismus. „ N u r durch seinen Willen existiert der Ewige, nur durch freie Entschließung macht er sich zum Seyenden des S e y n s . " D a s substantielle Sein ist in Wahrheit nur das „ S u b - j e k t G o t t e s " ; Gott selber aber ist der Herr des Seins, algo der gegen das Sein Freie! — Alle Offenbarung ist daher nicht Seinsnotwendigkeit, sondern freie T a t des Willens. „ D e n n wenn G o t t eine ewige Freiheit ist zu seyn, sich zu verwirklichen, zu offenbaren, so k a n n mit dem ewigen Seyn- oder sich Verwirklichen-Können doch nicht schon das wirkliche Seyn oder sich-Verwirklichen gesetzt s e y n . " „ D e m Freien muß frei seyn, innerhalb des bloßen Könnens stehen zu bleiben, oder zur T a t überzugehen." „ G o t t seinem höchsten Selbst nach ist nicht offenbar, er offenbart sich; er ist nicht wirklich, er wird wirklich, eben damit er als das allerfreieste Wesen erscheine."

10

20

30

E i n e v o l l k o m m e n neue Disposition des philosophischen S y s t e m s wird damit notwendig. und

T a t liegt

Gott

als das „ Ü b e r s e y e n d e "

der absoluten

über alle rein apriorisch-rationale

Freiheit

Wissenschaft hinaus.

40

E r ist das „ s c h l e c h t e r d i n g s t r a n s z e n d e n t e S e y n " : schlechthin außer d e m Denken.

A l l e V e r n u n f t w i s s e n s c h a f t erscheint v o n diesem höchsten Ziel-

p u n k t der S p e k u l a t i o n aus als bloße „ n e g a t i v e

Philosophie":

vom

höchsten P o s i t i v e n ausgeschlossen, g e b u n d e n an das bloße S u b j e k t (die conditio

sine qua non, die „ n e g a t i v e " B e d i n g u n g ) der absoluten Freiheit,

an das R e i c h des n o t w e n d i g zu D e n k e n d e n , n i c h t v o n sich weg K ö n n e n den, der W e s e n s i d e n t i t ä t v o n D e n k e n u n d Sein.

I n aller Vernunftwissen-

s c h a f t ( K a n t s oder Hegels, oder auch des Aristoteles) wird G o t t immer nur in der Idee b e g r i f f e n , als höchster, unserer E r k e n n t n i s notwendiger A b s c h l u ß der reinen V e r n u n f t s e l b s t ; — nicht aber in seiner W i r k l i c h k e i t und

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DER SPATERE

SCHELLING, CHR. H. WEISSE, J. H. FICHTE

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W a h r h e i t ! Die Grenzen der reinen V e r n u n f t , n a c h d e n e n K a n t f o r s c h t e , t u n sich hier a u f . W a s i m Seienden als M ö g l i c h k e i t liegt, d u r c h s c h a u t V e r n u n f t in seinen i m m a n e n t e n s y s t e m a t i s c h e n N o t w e n d i g k e i t e n ; aber die E x i s t e n z selbst (der wirkliche G o t t u n d die wirkliche Gotteso f f e n b a r u n g in der Welt) bleibt ihr t r a n s z e n d e n t . V e r n u n f t f i n d e t in allem schließlich i m m e r n u r ihr eigenes Gesetz. Das Positive d e r frei gewollten, f a k t i s c h v o r h a n d e n e n u n d sich vollziehenden W i r k l i c h k e i t v o n G o t t u n d Welt m u ß die V e r n u n f t w i s s e n s c h a f t einer a n d e r e n Forschungsweise überg e b e n : der „ p o s i t i v e n P h i l o s o p h i e " ! Deren E r k e n n t n i s b a s i s a b e r ist nicht die I m m a n e n z der k o n s t r u i e r e n d e n , sich selbst d u r c h s c h a u e n d e n V e r n u n f t , s o n d e r n die geschichtliche F a k t i z i t ä t des ewigen u n d zeitlichen Prozesses. E r f a h r u n g (insbesondere die E r f a h r u n g e n des G l a u b e n s lebens in der Menschheit, G e g e b e n h e i t e n der O f f e n b a r u n g ) t r i t t hier als eigene, n i c h t n u r b e s t ä t i g e n d e , s o n d e r n e r w e i s e n d e I n s t a n z d e r W a h r h e i t s f i n d u n g ein. Philosophie t r i t t j e t z t h e r a u s aus d e r (auch in K a n t s Religionslehre u n d bei d e n idealistischen N a c h f o l g e r n n o c h f e s t g e h a l t e n e n ) Sphäre „ i n n e r h a l b der Grenzen der reinen V e r n u n f t " , i h r e r I d e e n u n d P o s t u l a t e ; aus d e n „ U r k u n d e n " der positiven Religion u n d aller Offenb a r u n g in der Menschheitsgeschichte soll der Philosoph — in einer Mitwissenschaft gleichsam der S c h ö p f u n g u n d O f f e n b a r u n g — den positiven Willen Gottes erfassen l e r n e n . Negative Philosophie also bezieht sich, f ü r G o t t u n d Welt, n u r auf das W a s u n d Wesen des Seins (sofern es etwa existiert), auf das Seinkönnende, Seinmfissende, Seinsollende; positive Philosophie dagegen geht auf das D a ß der E x i s t e n z ; ihr Ziel ist das, was „auDer der Idee ist, nicht die Idee, sondern mehr ist als die I d e e " . Die V e r n u n f t wissenschaft (darin will Schelling über K a n t u n d die nachkantische V e r n u n f t m e t a p h y s i k entscheidend hinausgehen) t r e i b t an ihrem Ende, in ihre Krisis e i n t r e t e n d , hinaus über sich selbst, zur vollkommenen U m k e h r , in einen neuen Willen der ( k o n t e m p l a t i v e n , nicht konstruktiven) Spekulation. Die Erfüllung h a t die positive Philosophie zu bringen, deren Vorwurf das Unfaßlich-Freie u n d Durchsichselbst-Wirkliche selber, der H e r r des Seins, das existierende persönliche Selbst Gottes nebst seinen O f f e n b a r u n g e n in Willenstaten ist. Philosophie, in ihrer Ganzheit, stellt sich von n u n a n d a r als ein Doppelsystem von „ n e g a t i v e r " u n d „positiver", als die Vereinigung der „ e r s t e n " mit der „ h ö c h s t e n " Wissenschaft; n u r die Synthese beider, die zwischen der Welt des Gedankens und der Welt der Wirklichkeit, wie zwischen Glauben u n d Wissen alle F r e m d h e i t und T r e n n u n g endgültig beseitigt — m a c h t das Eine Ganze der Philosophie aus u n d vermag ihre höchsten Aufgaben zu erfüllen.

M e t a p h y s i k in dieser n e u e n H a l t u n g ist also n i c h t bloße Philosophie der reinen V e r n u n f t , weder i m v o r k a n t i s c h e n ( „ d o g m a t i s c h e n " ) n o c h i m n a c h k a n t i s c h e n (idealistischen) Sinne, s o n d e r n begreifendes D u r c h d r i n g e n der gegebenen G e s a m t e r f a h r u n g des Menschengeschlechts, E r g r ü n d e n insbesondere des i n n e r e n Gehaltes u n d Z u s a m m e n h a n g s der religiösen O f f e n b a r u n g , als eines in positiven „ U r k u n d e n " u n d G e s t a l t u n g e n sich a u s p r ä g e n d e n , ü b e r alle S e l b s t m a c h e n s - u n d K o n s t r u k t i o n s k r a f t der e n d lichen V e r n u n f t w e s e n h a f t hinausliegenden r e a l e n Verhältnisses des menschlichen Bewußtseins zu G o t t . Eine neue G e m e i n s c h a f t von Metap h y s i k u n d R e l i g i o n wird hier g e s u c h t : der Z u g a n g zur l e t z t e n W a h r -

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heit aller Dinge soll der ersteren erschlossen werden durch die Gegebenheiten und Ergebnisse der Religion in ihrem großen Ringen um Befreiung und Erlösung — und wiederum die Tatsachen und Zeugnisse der Offenbarung sollen nach ihrem innersten Seins- und Geschehenssinn durchleuchtet, also die Religion selbst noch durchklärt werden durch die metaphysische Begrifflichkeit; die positive Philosophie führt zur „philosophischen Religion", die „das letzte Erzeugnis und der höchste Ausdruck der vollendeten Philosophie selbst" 6ein wird. — Da aber hier im Mittelpunkt des Religionsgedankens die christliche Offenbarung steht, mit ihrem Kern und Gipfel in der geschichtlich-tatsächlichen Erscheinung Christi, — so ist diese Religionsmetaphysik des späteren Schelling wesenhaft auf die G e s c h i c h t e orientiert. Die göttliche Selbstoffenbarung im Bewußtsein der Menschheit, als ein durch die ganze Zeit unseres Geschlechts hindurchgehender allmählicher (durch keine Begriffskonstruktionen vorwegzunehmender, durch keine Rätsellösungen gleichsam der Dialektik für die Erkenntnis abzukürzender) Prozeß soll in der positiven Philosophie reell, in wirklichem Nachgehen und Erinnern begriffen werden. Offenbarung darf nicht „in ein bloß a l l g e m e i n e s und rationelles Verhältnis aufgelöst", sondern muß „vielmehr in ihrer strengen G e s c h i c h t l i c h k e i t erhalten werden". Von hier aus stellt sich für Schelling dann auch das ganze Sein und der Zusammenhang von Gott und Welt als eine „Geschichte des Weltalls" dar, ein über unsere Zeitvorstellung hinausgelegener Prozeß, welchen „vom Ersten bis zum Letzten der Dinge zu durchdenken*4 als die höchste Zielaufgabe der Metaphysik nun gelten muß. Nicht ein Teilgebiet bloß der Metaphysik sondern sie selbst, in ihrem höchsten Gipfel, wird Geschichtsphilosophie: positive Philosophie ist „ g e s c h i c h t l i c h e Philosophie", der Metaphysiker wird zum „Historiker". „Hindurchgehen durch Dialektik muß alle Wissenschaft. Eine andere Frage aber ist, ob nie der Punkt kommt, wo sei frei und lebendig wird, wie im Geschichtschreiber das Bild der Zeiten, bei dessen Darstellung er seiner Untersuchungen nicht mehr gedenkt." Im „Gipfel und letzten Verklärungspunkt" des Werkes wächst der Philosoph hinaus über die „vollständige Konstruktion der Idee Gottes"; im Durchbruch zur Wirklichkeit Gottes und der göttlichen Seins- und Menschheitsoffenbarung kehrt er zurück „zur Einfalt der Geschichte".

Die Offenbarung ist das wahre Thema der Menschheitsgeschichte. Ihr tiefer gefaßter Begriff treibt hinaus Uber den Bereich des christlichen Geschehens. Der eigentlichen Offenbarungsreligion (des christlichen Monotheismus) liegen voraus in der Entwicklung der Menschheit und ihres religiösen Bewußtseins die polytheistischen Naturreligionen, die Mythen älterer Zeiten; erst als die Zeit erfüllt ist, tritt der Reichtum religiöser Lebensgestaltungen im menschlichen Bewußtsein ein in den Zusammenhang und in die Einheitsbindung der geschichtlichen Selbstwirklichkeit Gottes. Aufgabe der positiven Philosophie ist also, neben und vor der „Philosophie der Offenbarung" eine „Philosophie der M y t h o l o g i e " . Das menschliche Gottesbewußtsein muß in allen seinen Stadien durchleuchtet werden; der ganze geistige Prozeß, nicht nur die letzte Wirklichkeitserfüllung, enthüllt dem ihn Begreifenden die Wahrheit. Die gesamte Geschichte aller religiösen Erfahrungen und Vorstellungen der Menschheit ist zu verstehen als eine zweite zeitliche Theogonie (neben und nach der

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ewigen im reinen Leben der absoluten Persönlichkeit): das Werden Gottes im Bewußtsein der Menschheit. Die Perioden, Stufen, Wahrheitsschichten dieses gewaltigen „theogonischen Prozesses" in metaphysischem Erkennen des Wesens und der Wirklichkeit Gottes begrifflich zu durchleuchten, das ist die große Aufgabe einer umfassenden „Philosophie der Mythologie und Offenbarung". Ein völlig neues Gebiet wird hier der metaphysischen F o r s c h u n g a u f g e t a n . Die Götterbildungen der Mythologien werden von Schelling nicht als menschliche E r f i n d u n g e n und willkürliche Vorstellungsgebilde, sondern als objektiv erlebte, reell erfahrene Erzeugnisse eines v o m Denken und Wollen unabhängigen geistigen Prozesses im Menschheitswerden a u f g e f a ß t . „ E s sind positive, wirkliche Mächte, die (hier) walten. Auch dieser Prozeß (nicht bloß derjenige der eigentlichen O f f e n b a r u n g ) ist eine Quelle von Eingebungen, u n d n u r aus solchen I n s p i r a t i o n e n lassen sich die zum Theil ungeheuren Hervorbringungen j e n e r Zeit begreifen." Die mythischen Vorstellungen „erzeugen sich dem menschlichen Bewußtsein o h n e s e i n Z u t u n , j a gegen seinen W i l l e n " ; „die Mythologie e n t s t e h t d u r c h e i n e n (in Ansehung des Bewußtseins) n o t w e n d i g e n P r o z e ß , dessen Ursprung ins Übergeschichtliche sich verliert u n d i h m selbst sich v e r b i r g t " . I n allen großen m y t h i s c h e n Gestaltungen ist W a h r h e i t , u n d zwar echte religiöse W a h r h e i t (nur in der Fixierung der b e t r e f f e n d e n Entwicklungsstufe des religiösen Bewußtseins wird falsche Religion daraus), — also a u c h metaphysischer W a h r h e i t s g e h a l t . Wie die N a t u r im I d e n t i t ä t s s y s t e m als werdende Intelligenz begriffen wurde, so soll n u n j e t z t , in der geschichtlichen Metaphysik der „philosophischen Religion", das Ganze der N a t u r religion als notwendige Naturbasis u n d Anfangsbildung, als noch ins Kosmische gebundene Vorerfahrung und Entwicklungsweise f ü r die gereifte christliche Religion der weltüberlegenen, naturdurchgeistigenden Freiheit und Personalität v e r s t a n d e n werden. „ N i m m t m a n Geschichte im weitesten Sinne, so ist die Philosophie der Mythologie selbst der erste, also der nothwcndigste und unumgänglichste Theil einer Philosophie der Geschichte", — die Mythen sind, wenn auch in sich geschichtslos, doch „als einst w i r k l i c h Gewesene u n d E n t s t a n d e n e " der reelle I n h a l t der ältesten Geschichte des religiösmetaphysischen Bewußtseins. Ein leerer u n d a b s t r a k t e r Theismus m u ß alle polytheistischen Bildungen als falsche Vorstellungen einer mißleiteten religiösen P h a n t a s i e ausschließen ; der echte wahre Monotheismus aber, der in der philosophischen Durchleuchtung das göttliche Sein als Lebensfülle u n d Schichtung von ewigen „ P o t e n z e n " der Selbstgestaltung und Selbstoffenbarung begreift, v e r m a g in j e n e n f r ü h e n E r f a h r u n g e n menschlichen Bewußtseins den R e i c h t u m wahrer göttlicher Momente u n d Wesensmächte zu entdecken u n d sich einzugliedern. Von hier a u f b a u e n d k a n n d a n n auch die „Philosophie der O f f e n b a r u n g " eindringlicher als vorher die christlichen E r f a h r u n g e n und Wirklichkeiten als äußerste Vertiefung und Erfüllung der im geschichtlichen P r o z e ß hervorwachsenden religiösen W a h r h e i t v o n G o t t und Schöpfung u n d Versöhnung — im Reichtum ihrer inneren Gliederungen u n d Potenzen — begreifen lehren.

So entwirft Schelling noch einmal aus neuer Fülle das große metaphysische Bild der Selbstgestaltung und Selbstdarstellung des Absoluten im ewigen Prozeß der göttlichen Persönlichkeit, im Werden des Weltzusammenhangs und im theogonischen Bewußtseinsprozeß der Menschheitsgeschichte. Die Wesensmomente des Göttlichen werden jetzt als (drei) Potenzen der ewigen Selbstentwicklung gedacht, über welche nun (als Viertes) die überschwengliche Freiheit als höchste einende Willensmacht existenzsetzend sich erhebt. Diese Entwicklung aber stellt sich nun in vollem Sinne als G e s c h i c h t e eines ewigen Lebens dar, die sich in großen „Perioden" oder „Weltaltern" allmählich vollzieht, vollendet.

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Ewigkeit und Zeit schließen einander nicht aus, sondern müssen in ihrer inneren Ursprungseinheit und Identität in Gott begriffen werden. Die wirkliche und wirkende Ewigkeit ist nicht die leere Beständigkeit eines zeitlosen Nun, sondern schließt den Begriff der Gegenwart nicht anders ein, wie den der Vergangenheit und den der Zukunft. Gottes Leben und offenbarende Entfaltung in Schöpfung und Menschheit ist ewiges Geschehen, wirkliche Folge: fortschreitende, aus Dunkel und Notwendigkeit in Licht und Freiheit verklärende Uberwindung einer ewigen Vergangenheit. Gott ist in einer beständigen Erhebung; sein ewiges Bewußtsein ist (wie alles Bewußtsein) Bewußt-Werden; und es gibt kein Bewußt- 10 Werden, ohne Vergangenes zu setzen. Freiheit ist immerwährende Befreiung, Geist immerwährende Durchgeistung. I n d e m n u n Schelling die F o r m e n und Stadien dieses ewigen Werdens auseinanderlegt, vertieft sich i h m sogleich (— n u r dieses eine G r u n d m o m e n t des Aufbau« kann hier noch a n g e d e u t e t werden) die Anschauung v o m Gegensatz u n d Widerstreit der K r ä f t e , von der E n t z w e i u n g der Wesensmächte, v o m notwendigen D u r c h g a n g alles Lebens durch K a m p f u n d Leiden. Der „ S c h m e r z des allgemeinen D a s e y n s u n d dag große Schicksal des G a n z e n " t u t sich i h m auf, „ d a s viele Schreckliche in N a t u r - u n d Geisterwelt", das uns vor Augen t r i t t , „ u n d das weit Mehrere, das eine wohlwollende H a n d uns zuzudecken scheint". Über einer „ W e l t von Schrecken" t h r o n t die G o t t h e i t , —- Gott selber ist nach d e m , was in i h m u n d d u r c h ihn verborgen ist, im eigentlichen Sinne der Schreckliche, der Fürchterliche. I n der „ N a t u r " in G o t t u n d allem was aus dieser s t a m m t , ringt der ewige H u n g e r u n d die Sucht nach Existenz, die K o n t r a k t i o n der E g o i t ä t , jener Urdrang des Sichwollens, aus dem j a auch die schreckliche R e a l i t ä t des Bösen ihre zerstörenden K r ä f t e zieht. I n allem A u f b a u deB Wirklichen zeigt sich u n s u n v e r k e n n b a r der Miteinfluß eines v e r n u n f t l o s e n Prinzips, das nur b e s c h r ä n k t , nicht überwältigt werden k o n n t e . Das Tiefste der N a t u r , wie unseres G e m ü t s , ist S c h w e r m u t ; Schmerz liegt auf dem Antlitz der ganzen N a t u r , auf dem Angesicht der Tiere; u n d die Geschichte ist als eine große Tragödie anzusehen, die auf der T r a u e r b ü h n e dieser Welt aufgeführt wird. Allem Leben h ä n g t eine unzerstörliche Melancholie an, weil es dies von sich Unabhängige, diese „ V e r g a n g e n h e i t " in i h m stets u n t e r sich h a t ; im Schicksal des Lebens überhaupt ist Leiden. — Aber dies Leiden ist eben der Weg zur Herrlichkeit; der Schmerz des allgemeinen Daseins ist n u r die Dunkelheit, die der Verklärung Quellgrund wird, und die Mächte des Bösen dienen schließlich dazu, alle K r ä f t e des G n t e n ans Licht zu bringen u n d die höchste selige Einigkeit mit G o t t aus höchster Freiwilligkeit selbsttätig hervorblühen zu lassen. „Von A n f a n g an ist alles auf die höchste Freiwilligkeit berechnet. Es s o l l eben nichts mit bloßer Gewalt durchgesetzt werden. E s soll zuletzt alles a u s dem W i d e r s t r e b e n d e n selbst k o m m e n , welches eben d a r u m s e i n e n Willen haben muß bis zur letzten E r s c h ö p f u n g " . Die höchste Freiheit im Einssein alles geschöpflichen Willens mit dem Willen u n d der Freiheit Gottes ist das Erlösungsziel, dem alle Wirklichkeit zustrebt. Der H u n g e r u n d D r a n g , die ewige Sehnsucht nach Existenz ist die BasiB alles Seins; im reinen Willen aber, der nichts will, weil er alles geworden ist und alles zur b e w u ß t e n Wirklichkeit d u r c h k l ä r t h a t , der unbewegliches Leben des Geistes und ewige Freiheit ist, liegt die Erfüllung. „Freiheit oder der Wille, sofern er nicht wirklich will, iBt der b e j a h e n d e Begriff der u n b e d i n g t e n E w i g k e i t . "

B. Chr. H. W e i s s e geht aus v o m idealistischen Identitätssystem in seiner dialektischen Durchbildung durch Hegel. Alle Formen des Seins sind Formen des absoluten Erkennens, alle Weltwirklichkeit ist vom Wesen der ewigen Vernunft. Die dialektische Logik ist die wahre, auf sich

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b e r u h e n d e Ontologie, u n d d e r W e l t p r o z e ß ist eine g r o ß e Geschichte des Geistes (des Reiches Gottes), sein T h e m a die F r e i h e i t . — D e n schweren Mangel aber f i n d e t Weisse e i n m a l in der u n m i t t e l b a r e n Gleichsetzung d e r absoluten I d e e oder I d e n t i t ä t m i t d e m wirklichen e r f ü l l t e n Dasein Gottes, — u n d d a n n i m Ü b e r g a n g v o m Logisch-Ideellen zur r a u m z e i t l i c h e n Wirklichkeit d e r N a t u r u n d Geisteswelt. Die Begrifflichkeit des „ a b s t r a k t e n P a n t h e i s m u s " v e r f e h l t sowohl die u n a u s s c h S p f b a r e Fülle u n d Lebendigkeit des persönlichen G o t t e s , wie die Selbstheit u n d das Eigengewicht des E n d l i c h e n , das logisch U n a b l e i t b a r e u n d n u r aus wirklicher E r f a h r u n g sich E r s c h l i e ß e n d e d e r W e l t u n d der G e s c h i c h t e ! Der G e d a n k e des „ A b f a l l s " , d e r schließlich a u c h bei Hegel i m U m s c h l a g e n des reinen I n e i n a n d e r der I d e e z u m r a u m z e i t l i c h e n N a t u r s e i n seine Rolle spielte, wird s t r e n g abgewiesen; die W i r k l i c h k e i t m u ß a n d e r s in d e m , begrifflich n i c h t v o r h e r zu k o n s t r u i e r e n d e n , „ p o s i t i v e n M e h r " i h r e r D a s e i n s e n t f a l t u n g vers t a n d e n u n d g e w ü r d i g t w e r d e n . F r e i h e i t u n d K o n t i n g e n z des Daseins in d e r Zeit, die reale F r e i h e i t individueller Persönlichkeiten u n d i h r Hineinwirken in eine u n b e k a n n t e u n v o r h e r s e h b a r e Z u k u n f t müssen gegen die bloße logische N o t w e n d i g k e i t der v o n der Zeit n u r äußerlich b e r ü h r t e n dialektischen E n t w i c k l u n g e n gestellt w e r d e n . D a s u n e n d l i c h e , zu i m m e r n e u e m u n d h ö h e r e m W e r d e n f o r t s t r e b e n d e , niemals v o l l e n d e t e Geschehen jener Weltengeschichte des a l t e n F i c h t e s t e h t Weisse n ä h e r , als die zur Kreisvollendung u n d dialektischen „ V e r s ö h n u n g ' * ü b e r g e h e n d e S y s t e m a t i k Hegels; Freiheit schöpferischen p e r s o n a l e n T u n s u n d W e r d e n s , n i c h t überzeitliche N o t w e n d i g k e i t einer alles k o n k r e t e Einzelne in sich a u f h e b e n d e n V e r n u n f t ist Wesen alles D a s e i e n d e n — in der W e l t wie in G o t t selbst. Die Philosophie Schellings wird als entscheidender D u r c h b r u c h zum konkreten Theismus, zur Metaphysik der Freiheit u n d Persönlichkeit b e g r ü ß t . Der Gedanke der Urdualität u n d Schichtung im Absoluten wird a u f g e n o m m e n ; — n u r d a ß der „ G r u n d " in Gott der blinde dunkle Wille, alogische „ N a t u r " sein soll, wird als „naturalistischer Theismus" abgewehrt (während d a r a n gerade Schopenhauer eingesetzt h a t ) . Besonders begrüßt wird auch j e n e W e n d u n g des späten Schelling, die in der A b h e b u n g der gesamten apriorischen V e r n u n f t m e t a p h y s i k als bloß „ n e g a t i v e r Philosophie" von der „positiven" Philosophie der O f f e n b a r u n g und der geschichtlich-religiösen E r f a h r u n g ü b e r h a u p t einen neuen W e g der Verschmelzung v o n Spekulation u n d u n m i t t e l b a r e r DaBeinsgegebenheit eröffnete. Metaphysik ist eben mehr als apriorisch auf der Basis des Identitätsprinzips konstruierende Ontologie u n d angebliche Wirklichkeitsdialektik; erst im Z u s a m m e n h a n g m i t den E r f a h r u n g e n des wirklichen Lebens u n d des Sichoffenbarens Gottes in Welt u n d Geschichte v e r t i e f t sich der a b s t r a k t e Begriff des Absoluten zum wirklichen Erfassen einer „ s p e k u l a t i v e n Theologie".

Weisses G r u n d l e h r e ist n u n , d a ß das A b s o l u t e , so wie es die philosophische S p e k u l a t i o n v o n j e h e r v o r A u g e n g e h a b t h a t , wie es das I d e n t i t ä t s s y s t e m g e d a c h t u n d Hegels Logik u m f a s s e n d dargestellt h a t — d a ß dies Absolute der reinen V e r n u n f t n i c h t der daseiende G o t t selbst ist, s o n d e r n n u r die Basis seiner E x i s t e n z : der „ U n - oder U r g r u n d " in G o t t ! Das Absolute oder die a b s o l u t e Idee ist „ n o c h n i c h t der Begriff der w i r k l i c h e n ,

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s o n d e r n n u r erst d e r Begriff der m ö g l i c h e n G o t t h e i t " ; „ n u r die M ö g l i c h k e i t eines lebendigen u n d persönlichen Urgeistes, in dessen Wirklichkeit die Möglichkeit aller Dinge e n t h a l t e n o d e r a u f g e h o b e n i s t " , wird v o n der apriorischen M e t a p h y s i k (speziell v o m „ontologischen G o t t e s b e w e i s " ) e r f a ß t . Die d i a l e k t i s c h - s p e k u l a t i v e Logik der reinen V e r n u n f t b e g r e i f t die ewigen u n d n o t w e n d i g e n M ö g l i c h k e i t s b e d i n g u n g e n alles Daseins ( u n d E r k e n n e n s ) ; a b e r e b e n n u r sie, n i c h t a u c h das i n h a l t l i c h e Dasein ( u n d das wirkliche E r k e n n e n ) s e l b s t ! Die T o t a l i t ä t des A b s o l u t e n , die volle W i r k lichkeit G o t t e s ist m e h r als ein a b s t r a k t e r , selbst in der bloßen Möglichkeit s c h w e b e n d e r I n b e g r i f f von Möglichkeiten, m e h r als die reine I d e e in i h r e r a b s o l u t e n I d e n t i t ä t , das a b s o l u t e S u b j e k t - O b j e k t . G o t t , sofern er ü b e r h a u p t als w i r k l i c h e r g e m e i n t ist, m u ß als Persönlichkeit, U r s u b j e k t , S e l b s t b e w u ß t s e i n , t ä t i g e Freiheit v e r s t a n d e n w e r d e n — u n d dies n i c h t e t w a erst, sofern er in das endliche Dasein eingeht, s o n d e r n u r s p r ü n g l i c h , in sich selbst. D a s a b e r k a n n n i c h t geschehen d u r c h einfachen Ü b e r g a n g v o m Begriff z u m Sein (wie eben i m ontologischen „ B e w e i s " u n d bei Hegel), d u r c h dialektische S e l b s t b e w e g u n g des Begriffs. N u r scheinbar wird d a m i t die S u b s t a n z als S u b j e k t , die ewige I d e e als Persönlichkeit g e f a ß t . Die „ S e i t e des D a s e i n s der U r w i r k l i c h k e i t " k a n n , „ i m Gegensatze d e r N o t wendigkeit ihres allgemeinen Begriffs, n u r aus der freien teleologischen T ä t i g k e i t b e g r i f f e n w e r d e n , d u r c h welche das Urwirkliche, zufolge dieses seines Begriffs, aber in s t e t e m H i n a u s g e h e n ü b e r die leere Allgemeinheit u n d N o t w e n d i g k e i t desselben, als Zweck seiner selbst sich selbst v e r w i r k l i c h t " . Auf der Basis u n d in d e m R a h m e n der ewigen in sich logisch-notwendigen Möglichkeit v e r w i r k l i c h t der lebendige freischöpferische G o t t sein Dasein u n d v o n da das Dasein aller Dinge. D e r Ü b e r g a n g v o m Urmöglichen z u m Urwirklichen, v o m s e i n - k ö n n e n d e n G o t t der Logik zum daseienden l e b e n d i g e n G o t t der s p e k u l a t i v e n Theologie ist ein H i n a u s t r e t e n aus d e m U m k r e i s des N o t w e n d i g e n in die S p h ä r e der contingentia, der a b s o l u t e n F r e i h e i t ; — zwischen N o t w e n d i g k e i t u n d Freiheit v e r m i t t e l t die S p o n t a n e i t ä t des geistigen Urseins. I n einem n e u e n Sinne ist hier das w a h r h a f t Seiende als ein I n e i n a n d e r v o n Freiheit u n d N o t w e n d i g k e i t gefaßt. Der wirkliche G o t t igt daher nicht bloße I d e n t i t ä t von Denken und Sein, von Subj e k t u n d Objekt, sondern e n t f a l t e t e u n d a k t u a l e Gegensätzlichkeit selbstbewußten und persönlich-freien Lebens. Der E i n w a n d , den J . G. Fichte u n d viele seitdem gegen den Begriff der absoluten und unendlichen Persönlichkeit e r h o b e n : d a ß nämlich Subjekt, Selbstbewußtsein, Personalität nicht d e n k b a r seien ohne Gegenüber, ohne Grenzen, ohne Nichtich — dieser an sich richtige E i n w a n d h a t nach Weisse keine Durchschlagsk r a f t . Gott hat die Unterschiedenheit, die Grenze in sich selber; er ist eben nicht nur einfache u n m i t t e l b a r e Einheit u n d I d e n t i t ä t . Der schöpferische Wille setzt in G o t t selbst — über j e n e Urmöglichkeit, j e n e ,,ihm innewohnende Voraussetzung eines negativen Prius, eines schlechthin Nothwendigen, nicht nicht zu D e n k e n d e n " hinaus — die „reale Basis einer innergöttlichen N a t u r " voraus, der Welt in G o t t vor aller Schöpfung. — Die spek u l a t i v e D u r c h a r b e i t u n g dieser Schichten u n d Z u s a m m e n h ä n g e erfolgt bei Weisse dann in engem Z u s a m m e n h a n g mit den Trinitätslehren der christlichen Theologie. „ G o t t

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kann nur Person »ein, wenn er nicht bloß e i n e Person i s t ; denn die Person ist n u r dadurch Person, d a ß sie andere Personen gleichen Wesens u n d gleicher S u b s t a n z sich gegenüber h a t . D a r u m wird C o t t n u r , wenn er als dreieiniger gefaßt wird, im höheren u n d wahren Sinne als Person g e f a ß t " . Fichtes Philosophie der (endlichen) Persönlichkeit vereint sich hier mit alten Gedankengängen der deutschen Mystik v o m vorweltlichen Prozeß der zur personhaften Dreieinigkeit konkreszierenden Gottheit.

Die Wirklichkeit des Absoluten wird v o n Weisse nun, in schroffem Gegensatz zu den Idealisten und zu Kant selbst, als raumzeiterfüllendes Dasein gedacht. R a u m und Zeit gehören für ihn zu den Kategorien der reinen Vernunft, den Formen des Ansichseins überhaupt; ihre Sonderstellung wird aufgehoben. Die realistische Tendenz von C r u B i u s (gegen die eben Kants idealistische Metaphysik und seine Disposition der Erkenntnisprinzipien sich gewendet hatte!), die Forderung, Gottes lebendige Wirklichkeit und Wirksamkeit in innigem Wesenszusammenhang mit der raumzeitlichen Weltwirklichkeit zu denken — schlagt nun wieder neu durch. Die Welttranszendenz des personalen Urprinzips darf nicht i m Sinne eines abstrakten weltverleugnenden Theismus und wirklichkeitsentleerten Spiritualismus mißverstanden werden. Gott und Welt sind, schon in den Wesensformen der Daseinsmöglichkeit, tief verbunden. Gottes Dasein ist nicht bloß zeitlose Ewigkeit nach Art eines mathematischen Lehrsatzes oder einer metaphysischen Kategorie — dann käme es nie zu wirklichem Prozeß und Leben. Denken und Selbstbewußtsein haben „für ein scharfes und klares Denken schlechterdings keine Bedeutung anders, als in ausdrücklicher Beziehung auf den Zeitbegriff, und es ist v o n allen Täuschungen, denen sich die Theologie noch immer zu überlassen liebt, die schwerste, daß sie ein außerzeitliches Selbstbewußtsein denkbar findet und sich v o n seiner Notwendigkeit überreden will". Nicht Zeitlosigkeit, sondern Zeitüberwindung durch Zeiterfüllung ist das Wesen zwecktätigen geistigen Daseins! Die Fülle der raumzeitlichen Unendlichkeit ist nicht ein Geringeres gegenüber dem ewigen Ineinander der Möglichkeiten, sondern die reichere erfüllte Wirklichkeit — schon in Gott selbst. Das wirkt sich besonders aus in Weisses Lehre von der „ N a t u r in G o t t " . Über die tragende Grundschicht der Seinsmöglichkeiten in ihrer logischen Gebundenheit zur Einheit u n d I d e n t i t ä t erhebt sich im Leben des Absoluten die „göttliche I m a g i n a t i o n " ( J . B ö h m e ; vgl. auch Fichtes u n d Schellings Lehren von der p r o d u k t i v e n Einbildungsk r a f t !), ein selbsttätiges produktives Vermögen, das — noch im göttlichen Selbstbewußtsein u n d als Moment seiner Selbstverwirklichung, vor aller Weltschöpfung — einen unendlichen konkret-raumzeitlichen R e i c h t u m von Gestalten a u f b a u t . Hier ist der Ursprung u n d das Vorbild aller Mannigfaltigkeit u n d I n d i v i d u a l i t ä t im Wirklichen. „Die innergöttliche N a t u r oder I m a g i n a t i o n " ist das wahre principium individualionis. „Jedes Wirkliche, jedes lebendige I n d i v i d u u m u n d jeder lebendige Gedanke der Gottheit unterscheidet sich qualitativ, nicht bloß d u r c h äußere Relationen, von a n d e r e m Wirklichen." Von hier aus d u r c h h e r r s c h t das „ P r i n z i p der unendlichen I n d i v i d u a l i t ä t des Besonderen" alles Dasein, im geistigen Sein und Leben aber t r i t t es erst in seiner eigentlichen Vollk r a f t zutage. I m Menschen gewinnt „ d a s Prinzip der I d e n t i t ä t des Nichtzuunterscheidenden j e n e seine eigentliche, von Leibnitz beabsichtigte . . . B e d e u t u n g , die B e d e u t u n g unendlicher, qualitativer Besonderung der productiven Thätigkeit, u n d der durch solche Hudb. a. PUI. I. F 13

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Thätigkeit sich selbst setzenden, sich selbst bejahenden Persönlichkeit". — So tritt (noch vor der schöpferischen Tätigkeit des aus dem logischen Urgrund und der N a t u r basis in Gott sich erhebenden Geistwillens als der bewußten selbstbewußten Freiheit) in G o t t zur absoluten v e r n u n f t v o l l e n Einheit die aktuale Fülle und K o n k r e t i o n . Mit der Idee der W a h r h e i t ist die Idee der S c h ö n h e i t in Gott dialektisch v e r e i n t ; ans ihr folgt aller selbständige W e r t u n d Gehalt der Zustände u n d Tätigkeiten des besonderen kreatürlichen Geistes, dieser „ins Unendliche wachsenden Vielheit selbständig realer Weltzwecke". So siegt in Weisses theistischer Metaphysik der Pluralismus u n d Individualism u s über den dialektischen Monismus und Universalismus Hegels.

C. Auch das S y s t e m von J. H. F i c h t e ruht auf einer Neufassung des Begriffs v o m Absoluten; das ,,Allbedingend-Unbedingte" wird als unendliche sich in sich selber unterscheidende Persönlichkeit, als urdenkendes und urwollendes göttliches Ich gedacht. Aber der Schwerpunkt verlegt sich i m Fortschreiten des Denkers immer stärker auf das Problem der endlichen Persönlichkeit, der geistig-leiblichen Individualität des Menschen. In die Mitte dieser Metaphysik tritt (wichtigen Tendenzen des weiteren 19. Jahrhunderts entsprechend, doch ohne die sonst Üblich werdende naturalistische Verzerrung) die A n t h r o p o l o g i e . Die Grundvoraussetzung ist die selbsteigene Freiheit jedes persönlichen Wesens, bei aller Einheit u n d Verschmolzenheit des geistigen Zusammenhangs. Gegen die universalistischen Tendenzen des Hegeischen Systems, dessen Gott eine „unendliche, alles in sich auflösende, aufzehrende Allgemeinheit" geworden war, so d a ß das Einzelne, Konkrete, Individuelle n u r als vorübergehendes Moment u n d D u r c h g a n g s p u n k t verstanden werden k o n n t e — legt der j ü n g e r e Fichte wieder allen N a c h d r u c k auf das Persönlichkeitserlebnis, das a u c h beim j u n g e n Hegel (nur ohne die theistische Auswertung) seine Rolle gespielt h a t t e : die Selbstheit der Person gerade in aller tiefsten Liebesverbundenheit, Hingabe u n d Abhängigkeit v o m A n d e r n ! „ E s ist nämlich die tiefwunderbare Macht der Persönlichkeit . . ., sich von dem innigst Geeinigten doch vor sich selbst zu unterscheiden, u n d sich davon frei zu wissen; aber umgekehrt auch mit vollem Bewußtsein dieser Unterschiedenheit sich dennoch wieder der bewußten u n d tiefgenossenen Einheit m i t i h m zuzuwenden, bei welchem letztern Begriffe wir nur . . . auf das hinweisen, was wir L i e b e n e n n e n . " Von solcher Persönlichkeitsgewißheit aus k a n n die dialektische Wirklichkeit Hegels — dieser ewige göttliche „ K a m p f des Selbstverzehrens in den D i n g e n " , wo jegliche K r e a t u r n u r ein „so oder anders sich k u n d b a r machender Widerspruch i s t " , und also notwendig sich selbst in der „tantalischen Qual des eigenen I n n e r n " verzehrt — n u r als „eine w a h r h a f t höllische A k t u a l i t ä t " erscheinen. (Vgl. damit die erbitterte individualistische R e a k t i o n Schopenhauers gegen die von ihm selbst vorausgesetzte Einheit u n d Universalität des Weltwillens.)

Die Philosophie der menschlichen Persönlichkeit wird unterbaut durch eine pluralistische Metaphysik nach Art der Monadenlehre. Die Welt ist ein (teleologisch durchgegliedertes und zugleich in realen Wechselbeziehungen ständig sich vollbringendes) System qualitativ bestimmter „Urpositionen" des Absoluten, ein Ganzes unvergänglicher „real-begrenzter Substanzen". Und deren vollendetste Daseinsform nun stellen, über die Schicht der organismenbildenden „Seelen" hinaus, die Geistwesen dar — jedes in sich aus sich heraus streng individuiert und allem Wechsel empirischer Raumzeitbestimmungen überlegen. Diese Geistwesen sind ihrem Kern nach Trieb- und Willenswesen (Voluntarismus und Trieb-

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lehre des älteren Fichte werden hier in individualistischer Umwandelung fortgeführt); nicht aber res cogitantes oder Bewußtseinseinheiten. Bewußtsein ist nichts Unmittelbares und Dauerndes am Geiste, sondern intermittierender Z u s t a n d ; es bringt auch selbst nichts Eigenes hervor, sondern spiegelt und beleuchtet nur (im Ausschnitt!) das real im Geiste Vorgegebene u n d sich in ihm d u r c h seine tätige Auseinandersetzung mit den übrigen Weltwesen Entwickelnde. Die eigentliche Urrealität und K r a f t des Geistes liegt im Vorbewußten. Aber das Bewußtsein ist d a r u m nicht äußeres Akzidenz, sondern selbsteigenes Erzeugnis des Geistes, zu ihm gehörig (trotz empirischer Bedingtheit durch organische F u n k t i o n e n ) ; es ist die T a t , d u r c h die der Geist sich selbst zur Persönlichkeit und wirklichen Freiheit, als zu seiner eigentlichen Bestimmung erhebt. „Geist ist die aus sich selbst sich vollziehende I n d i v i d u a l i t ä t , welche in dieser selbstschöpferischen T a t wissend sich d u r c h l e u c h t e t " , u n d „ n u r was ins Bewußtsein und Selbstbewußtsein hervorgetreten, ist v o m Geiste eigentlich erworben und sein freies Eigentum geworden. Es ist der einzige dem Begriff des Geistes angemessene Zustand, und jeder substantielle Hintergrund k a n n n u r die B e s t i m m u n g h a b e n , allmählich ins Bewußtsein sich herauszuleben." — So werden denn auch die transzendentalen F u n k t i o n e n der idealistischen Wissenslehre zurückverlegt in die Sphäre realer vorbewußter Geistsubstanzen; erst sekundär werden sie, in der E n t f a l t u n g des Geistes zur Persönlichkeit, zu Bewußtseinsformen. Die Geisteinheiten selbst sind „apriorische", „ t r a n s z e n d e n t a l e " Wesen, allem Sinnlich-Erfahrbaren vorausgelegen. I n ihnen wirken als reale K r ä f t e und Anlagen die apriorischen F u n k t i o n e n ; sie wirken aber (als „apriorische Geistesinstinkte") ebenso in allem bloß Triebhaften u n d I n s t i n k t i v e n , wie im bew u ß t e n Wissen und Wollen. J e d e Geistindividualität ist eine eigentümliche, unwiederholbare Verbindung ideell-realer Anlagen; sie gilt es, in der tätigen Auseinandersetzung mit der Welt, zum freien Selbstbesitz der Persönlichkeit zu erheben — deren Unsterblichkeit d a n n mehr ist als Fortbestand der unzerstörbaren Substanz, nämlich ein wirkliches Fortleben des wissenden und wollenden, die Einheit der persönlichen Entwicklung umgreifenden Bewußtseins.

Besonderes Gewicht legt Fichte — auch dies in individualistisch zugespitzter Fortsetzung einer wichtigen Tendenz in der Geistmetaphysik seines Vaters — auf die Wesensverbundenheit des Geistigen mit Leiblichem. Die Urpositionen, ursprünglich nur gebunden in der intelligiblen Ordnung eines „wahren" Raumes, der keine Undurchdringlichkeit, Ausschließlichkeit und Trennung mit sich bringt, quantitieren sich: geben sich räumliche (und zeitliche) Gestalt. So jede Seele und jedes Geistwesen. In „dynamischer" Raumerfüllung bauen sie die Raumgestalt des Leibes auf, ohne damit der Teilbarkeit des (empirischen) Raumes zu verfallen. Der Leib ist nicht fremde Substanz der Seele gegenüber, mit ihr verkoppelt oder zugeordnet, sondern die Seele selbst in ihrer quantitativen Ausgestaltung! — Die aufbauende Kraft ist dabei eine in allen Trieben und Instinkten wirkende Phantasie (deren höchste Lebens- und Ausdrucksform wir, auf der Ebene des Menschen und i m Rahmen des Bewußtseins selbst, in der schöpferischen Produktion des Kunstwerks kennen) — Nachbild der Urphantasie des Allbedingenden in Einzelgeistern. Durch diesen formenden Gestaltungstrieb und seine vorbewußten apriorischen, gleichsam ein Raumschema aus innerlich vorschwebendem Urbild entwerfenden Funktionen verleiblicht sich das Innere; das „ S y s t e m der Triebe" stellt sich nach außen als realer Leiborganismus mit ganz beF15*

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s t i m m t e n u n d g e n a u e n t s p r e c h e n d e n O r g a n e n d a r , u n d selbst die Einzelä u ß e r u n g e n des i n n e r e n L e b e n s gewinnen u n m i t t e l b a r e n s i n n v e r s t ä n d lichen m i m i s c h e n A u s d r u c k . — So g e h ö r t d e n n n a c h F i c h t e (in b e t o n t e m Gegensatz z u m b l o ß e n „ S p i r i t u a l i s m u s " der Cartesianischen Seelensubs t a n z u n d i h r e r I d e n t i f i z i e r u n g v o n Seele u n d I n n e n b e w u ß t s e i n ) die Äußer u n g u n d A u s w i r k u n g i m Leiblichen n o t w e n d i g u n d w e s e n h a f t zur geistigen I n d i v i d u a l i t ä t u n d zur u n s t e r b l i c h e n P e r s ö n l i c h k e i t des Menschen. S c h e l l i n g , Die Weltalter; Philosophie der Mythologie und Offenbarung. W e i s s e , Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christentums; 3 Bde, Leipzig 1855—1862. J.H. F i c h t e , Grundzüge zum Systeme der Philosophie; 3 Bde, 1833, 1835, 1846. Anthropologie, Leipzig 1856. — Darstellung: K. L e e s e , Von J. Böhme zu Schelling; Erfurt 1927; Philosophie und Theologie im Spätidealismus; Berlin 1929.

3.

SCHOPENHAUER.

A. D I E W I L L E N S M E T A P H Y S I K . A u c h die M e t a p h y s i k v o n A. S c h o p e n h a u e r h a t i h r e W u r z e l n noch in der idealistischen B e w e g u n g . K a n t , F i c h t e u n d Schelling v e r d a n k t er wesentliche G r u n d l a g e n seines S y s t e m s , dessen G e s a m t h a l t u n g allerdings d a n n weit v o m W e l t - u n d D a s e i n s g e d a n k e n des I d e a l i s m u s a b r ü c k t . — Die erste G r u n d v o r a u s s e t z u n g ist der (von K a n t zugleich auf Berkeley z u r ü c k g r e i f e n d e ) Bewußtseinsidealismus, n a c h welchem die A u ß e n w e l t in i h r e r r a u m z e i t l i c h - m a t e r i e l l e n O b j e k t i v i t ä t bloße E r s c h e i n u n g f ü r vorstellende S u b j e k t e i s t . U n d w e n n d a n n K a n t z u m Ansich der Dinge den einzigen s c h m a l e n Z u g a n g der sittlichen Freiheit d e r Intelligenzen u n d des, auf d e n intelligiblen C h a r a k t e r z u r ü c k w e i s e n d e n , persönlichen Vera n t w o r t u n g s b e w u ß t s e i n s gelassen h a t t e , so s u c h t n u n S c h o p e n h a u e r — d a r i n z u n ä c h s t v e r w a n d t m i t F i c h t e u n d b e s o n d e r s Schelling u n d a b h ä n g i g v o n i h n e n — d a s Wesen a l l e s Ansichseins in R i c h t u n g der Willensaktualit ä t zu fassen, wobei die h ö c h s t e u n d m a ß g e b e n d e Daseinsform eben d e m sittlichen Willen v o r b e h a l t e n b l e i b t . — F ü r die A u s g e s t a l t u n g dieser W i l l e n s m e t a p h y s i k a b e r ist n u n e n t s c h e i d e n d d a s U r p h ä n o m e n , auf das sich S c h o p e n h a u e r s t ü t z t . A u c h er geht aus v o m Selbstbewußtsein, als v o n der einzigartigen S u b j e k t o b j e k t - G e g e b e n h e i t , a u s der heraus wir alles Wirkliche sonst in seinem w a h r e n Sein u n d Sinn v e r s t e h e n lernen müssen. Aber es ist n u n n i c h t die auf sich selbst z u r ü c k g e b o g e n e S p o n t a n e i t ä t oder die zur f r e i e n T a t sich k o n t r a h i e r e n d e sittliche Reflexion des reinen I c h , w o r a u f der weitere G e d a n k e n g a n g sich s t ü t z t — sondern die I n t i m i t ä t u n d U n m i t t e l b a r k e i t in der e r l e b t e n E i n h e i t zwischen Willensakt u n d L e i b b e w e g u n g ! W e n n es ein G r u n d m o t i v i m g a n z e n Idealismus w a r , die E i n h e i t des Menschen in der W u r z e l einer real d a s Äußere gestaltenden seelisch-geistigen A k t u a l i t ä t zu f a s s e n — e n t g e g e n allem D u a l i s m u s der v o r a n g e g a n g e n e n S u b s t a n z e n m e t a p h y s i k —, so s e t z t n u n S c h o p e n h a u e r diese T e n d e n z m i t einer n e u e n G e w i c h t s v e r l e g u n g auf die reale leibliche E x i s t e n z u n d L e b e n s e m p f i n d u n g des Menschen f o r t . I m sinnlich-körper-

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liehen Schmerz wird Leiblichkeit und Willensaffektion als Eins erlebt; und die unmittelbare selbstverständliche Fortsetzung jedes lebendigen Wollens in äußeres Tun zeigt uns im Zeugnis des inneren Lebensbewußtseins nicht die Zweiheit v o n Ursache und Wirkung, sondern die einfache unmittelbare Einheit einer sich auswirkenden D y n a m i k , oder einer „Objektivation" des Lebenswillens. Wie in allen Ausdrucksbewegungen oder etwa auch in der Gesamtgestaltung der Physiognomie die inneren Tendenzen in die Sichtbarkeit des Äußeren treten, so weisen sich unserem Innenblick Dasein und Lebensfunktionen des Leibes überhaupt, bis in die unwillkürlichen Prozesse hinein, als Äußerung, „Objektität" des eigenen Lebenswillens aus. I n d e m Schopenhauer auf der erlebten I d e n t i t ä t des Lebenswillens u n d des Leibes als auf der „philosophischen W a h r h e i t xar floj(qv" a u f b a u t , das Ideal-Reale des Selbstbewußtseins in ganz anderer Schicht u n d Hinsicht fassend als Fichte oder Schelling — v e r ä n d e r t sich auch der Begriff des Willens ganz. Die Beziehung auf die V e r n u n f t u n d ihr Gesetz fällt weg. Der Z u s a m m e n h a n g mit d e m Wissen wird gelöst. „Als daB E r k a n n t e im Selbstbewußtsein f i n d e n wir ausschließlich den W i l l e n " — Willen vers t a n d e n als Inbegriff aller A k t e , Erlebnisse, Modifikationen des emotionalen Lebens, wie e t w a ,, Streben, Wfinschen, Fliehen, H o f f e n , F ü r c h t e n , Lieben, Hassen . . Wohl u n d W e h e , L u s t u n d U n l u s t " . Der eigentliche Willensakt ist n u r die Selbstdarstellung dieses Willens, sofern er nach a u ß e n wirkt. Nicht S u b j e k t der Vorstellung oder der Zweck•etzung, sondern Lebensdrang ist der im I n n e n b e w u ß t s e i n u n m i t t e l b a r in Selbstgegebenheit e r f a h r b a r e K e r n unseres Wesens. Dies ist das letzte Irreduzible unseres Daseins: bei allem T u n u n d Leben sonst gibt es B e g r ü n d u n g e n u n d Motivationen des W a r u m , W o z u ; — das Wollen (Lebenwollen) ü b e r h a u p t erlaubt in seiner Urgegebenheit und selbstverständlichen Gewißheit keine R ü c k f ü h r u n g auf anderes. Die Ausgangsgleichung dieser neuen Identitätsphilosophie ist also nicht die von Denken u n d Sein, von S u b j e k t u n d O b j e k t des E r k e n n e n s , sondern die von Wollen u n d Wirken, von innerem Lebensdrang u n d äußerlich gestalteter Existenz. Die Sphäre des E r k e n n e n s t r i t t zurück. I n einer naturalistisch-biologischen U m w a n d l u n g des K a n t i schen P r i m a t s des P r a k t i s c h e n erscheint j e t z t der ganze „ I n t e l l e k t " (mit i h m auch die V e r n u n f t ) als etwas d u r c h a u s Sekundäres — ein „ L i c h t " , das der in der organischen Leiblichkeit u n d deren Lebenswerkzeugen sich ä u ß e r n d e u n d ausgestaltende Wille sich selbst a n z ü n d e t , u n d das in seinem Funktionieren u n d in den (apriorischen) Gesetzlichkeiten abhängig ist v o n der vitalen Basis.

V o m Innenerlebnis greift der Gedanke über auf das Ganze der Wirklichkeit. Im Gegensatz zur idealistischen Fortsetzung Kants in der Vernunftmetaphysik (mit ihrer Ausschaltung jedes Gegenüber von Dingen an sich) sucht Schopenhauer nach dem in den gegebenen Naturerscheinungen erscheinenden Ansich. Die Formgesetze der gegebenen Wirklichkeit haben (mit Kant) nur Vorstellungsbedeutung; aber der in diesen Formen sich uns darstellende Gehalt, das irreduzible Was der Erscheinungen, in der ganzen Zufälligkeit seiner v o m Subjekt nur tatsächlich aufnehmbaren Besonderheiten — weist auf das hinter allem Vorgestellten stehende Ansichsein. Hier m u ß die Metaphysik ansetzen, diese Gegebenheiten muß sie, i m großen Zusammenhang der Erfahrungswelt überhaupt und speziell der äußeren mit der inneren Erfahrung, deuten. Die realistische Seite Kants kommt hier bei Schopenhauer wieder — eindeutiger und un-

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v e r h ü l l t e r als bei S c h e l l i n g — zur F o r t w i r k u n g . E i n a l t e s M o t i v i m D i n g a n s i c h - B e g r i f f wird w i e d e r l e b e n d i g : d e r G e d a n k e d e r „ G r u n d k r ä f t e " . Alle wissenschaftliche Naturerforschung f r a g t nur nach den Bedingungsz u s a m m e n h ä n g e n ; sie s t ö ß t n o t w e n d i g i r g e n d w o a u f die i r r e d u z i b l e n G r u n d e i g e n s c h a f t e n der M a t e r i e u n d des L e b e n s , a u f das e i n f a c h e W a s der N a t u r k r ä f t e selbst u n d ihrer W i r k u n g s w e i s e . H i e r ist der W i s s e n s c h a f t ein a b s o l u t e s H a l t g e b o t e n ; diese G r u n d q u a l i t ä t e n u n d - k r ä f t e s i n d d e m in R e l a t i o n e n d e n k e n d e n V e r s t a n d n i c h t m e h r d u r c h d r i n g l i c h . A b e r es g i b t e b e n d o c h einen Z u g a n g z u d i e s e m I r r a t i o n a l e n . D e r M e n s c h d r i n g t in d a s I n n e r e der N a t u r , weil er sich s e l b s t v o n i n n e n s e h e n k a n n . D e r K e r n der N a t u r ist M e n s c h e n i m H e r z e n . D e r „ ü b e r s i n n l i c h e G r u n d " aller E r s c h e i n u n g e n , in der i r r e d u z i b l e n u n d i r r a t i o n a l e n M a n n i g f a l t i g k e i t der K r ä f t e , e n t h ü l l t sich u n s e r e m aus der I c h - L e i b - E r f a h r u n g g e n ä h r t e n m e t a p h y s i s c h e n B l i c k als W i l l e . A l l e N a t u r w e s e n s i n d W i l l e n s o b j e k t i v a t i o n e n , n i c h t anders als unser L e i b . , , D a s A n - u n d F ü r s i c h s e y n j e d e s D i n g e s m u ß n o t w e n d i g ein s u b j e k t i v e s s e y n . " U n s e r e E r f a h r u n g u n d W i s s e n s c h a f t sieht die D i n g e b l o ß als O b j e k t e , u n d d a s h e i ß t : als E r s c h e i n u n g e n u n d n a c h ihrer A u ß e n s e i t e . D i e M e t a p h y s i k m u ß die v o m erkennenden S u b j e k t bedingte Maske der raumzeitlich-dinglichen Gestalt v o n d e n D i n g e n ziehen, m u ß sie v o n i n n e n h e r v e r s t e h e n l e r n e n — so wie w i r unser m e n s c h l i c h e s (leib-seelisches) D a s e i n „ a u s s e i n e m I n n e r n h e r a u s " , in der g e s t a l t e n d e n D y n a m i k des W i l l e n s d r a n g s , „ v e r s t e h e n " . W i r m ü s s e n die N a t u r „ v e r s t e h e n l e r n e n a u s u n s s e l b s t " — als Inb e g r i f f v o n W i l l e n s t ä t i g k e i t e n u n d - o b j e k t i v a t i o n e n ; so f a s s e n w i r d a s v o r h e r U n e r k e n n b a r e v o n d e m uns w o h l V e r t r a u t e n , w o h l B e k a n n t e n u n d n a h V e r s t ä n d l i c h e n des eigenen L e b e n s v o l l z u g e s a u s . Der Boden des Bewußtseinsidealismus ist damit verlassen. Die Erscheinungswclt erweist sich, über die „Vorstellung" in Subjekten hinaus, als objektive ontologische Erscheinung oder Manifestation eines metaphysischen Realprinzips. Die Subjekte selbst (der Mensch als Willensorganismus mit dem gehirnbedingten Lebenswerkzeug seines Intellekts) Bind Teilgebilde der naturgestaltenden spiritual-dynamischen (ideal-realen) Potenz. Materie als raumzeitlich-kausale Subsistenz ist nur Schein in Subjekten; aber die aufbauenden Naturkräfte selbst sind real. Der Dynamismus K a n t s und Schellinga vereinigt sich mit vitalistischen Motiven, und insbesondere noch mit dem in den naturalistischen Strömungen der neuzeitlichen Metaphysik seit der Renaissance immer wieder aufgetretenen Prinzip des Selbsterhaltungstriebs als der Grundtendenz in allen Dingen. Die Realrepugnanz und Polarität in den attraktiven und repulsiven Grundkräften der Materie, in Magnetismus, Elektrizität, Chemismus wird gedeutet als Kampf von Willensmächten, in Selbstbehauptung und Fremdüberwindung, Sichsuchen und Sichfliehen. K r a f t ist Drang, Streben. Erst recht ist alles Leben, im Tierischen wie schon im Pflanzlichen, ein Sicherhalten, Sichdurchsetzen, Lebensdrang und dessen Auswirkungen. Die anatomische Gestalt ist Ausdruck und Objektivation eines besonderen Lebenwollens; jedes Organ Objektität des spezifischen Triebes, dem es dient. A u c h Schellings Gedanke von den Kunsttrieben und Instinkten der Tiere wirkt entscheidend mit.

W i l l e ist also das A n s i c h in allen D i n g e n , in N a t u r u n d M e n s c h e n w e l t . N a t u r ist — u n b e w u ß t e r W i l l e ; i m M e n s c h e n w i r d e r ( d o c h a u c h d a nur in d e m e n g e r e n U m k r e i s seiner W i l l k ü r h a n d l u n g e n , G e f ü h l s r e g u n g e n ,

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Motivationserlebnisse) b e w u ß t . Das Grundwesen des Willens selbst ist bewußtlos. Schöllings Begriff des U n b e w u ß t e n setzt sich fort — doch mit weitgehender A u s s c h a l t u n g des bei i h m noch ganz d a m i t verschmolzenen Prinzips der „ I n t e l l i g e n z " . W i r als erkennende b e w u ß t e Wesen kennen die allgemeine L e b e n s m a c h t des Willens in uns zunächst n a t ü r l i c h m e h r in der F o r m m o t i v i e r t e r W o l l u n g e n ; aber so ist der Wille n u r f ü r uns, i m zeitlichen B e w u ß t s e i n , so ist er schon E r s c h e i n u n g — w e n n auch die „ n ä c h s t e u n d d e u t l i c h s t e E r s c h e i n u n g des Dinges an sich", das Ding an sich in seiner „ a l l e r l e i c h t e s t e n V e r h ü l l u n g " . Der Wille an sich selbst ist blind, b e w u ß t l o s ; B e w u ß t s e i n , Intelligenz ist j a n u r spätes, d u r c h besondere O r g a n g e s t a l t u n g e n (Gehirn) bedingtes P r o d u k t der allgemeinen L e b e n s k r a f t . D a s Willensprinzip vollkommen selbständig u n d m e t a p h y sisch p r i m ä r zu f a s s e n gegenüber aller B e w u ß t h e i t nicht n u r , sondern v o r allem gegenüber j e d e r F o r m v o n Intelligenz u n d V e r n u n f t — darin h a t S c h o p e n h a u e r seine b e s o n d e r e Mission gesehen. D e m europäischen Intell e k t u a l i s m u s u n d V e r n u n f t g l a u b e n v o n der A n t i k e bis zu Hegel sollte ein u n v e r f ä l s c h t e r reiner V o l u n t a r i s m u s sich entgegenstellen. B. EINHEIT UND SELBSTENTZWEIUNG DES WLTWILLENS; DER PESSIMISMUS. Der Wille als das Ansich aller Dinge ist schlechthin Einer, "£V xai jjäv• Die F o r m e n der r e l a t i o n a l e n Mannigfaltigkeit u n d Vielheit (vor allem R a u m u n d Zeit, die n a c h S c h o p e n h a u e r allein die I n d i v i d u a t i o n bedingen!), sowie d e r dinglichen O b j e k t i v i t ä t u n d S u b s t a n t i a l i t ä t b e r ü h r e n nicht das „ D i n g a n s i c h " . E i n f a c h e Einheit u n d (zeitlose) A k t u a l i t ä t , als Einheit in sich selber kreisend, aus sich selbst sich selber wollend — m a c h e n d a s W e s e n des Weltwillens aus. I n der Teleologie der N a t u r bildungen, bis z u m n o t w e n d i g e n Aufeinander-Angewiesensein der A r t e n u n d der g a n z e n N a t u r b e r e i c h e , u n d in der d u r c h g e h e n d e n Analogie der organischen L e b e n s f o r m e n (Schelling!) s c h i m m e r t diese Wesenseinheit des s c h a f f e n d e n Willens d u r c h die Erscheinungen selbst h i n d u r c h . Auch die Vielheit menschlicher S u b j e k t e ist n u r äußerliche u n d flüchtige Erscheinung j e n e s v o n G e b u r t u n d Tod des Einzelnen u n b e r ü h r t bleibenden alleinen Wesens a n sich, d a s einfaches zeitloses Leben in sich selber ist. Dieser m e t a p h y s i s c h e H e n i s m u s u n d Aktualismus, in seiner allgemeinsten F a s s u n g z u n ä c h s t d u r c h a u s v e r w a n d t mit G r u n d t e n d e n z e n des ganzen n a c h k a n t i s c h e n Idealismus, erhält n u n 6eine besondere Eigena r t d u r c h S c h o p e n h a u e r s axiologische D e u t u n g . Mit ihr t r i t t erst der V o l u n t a r i s m u s in den ä u ß e r s t e n , b e t o n t e n u n d e r b i t t e r t e n Gegensatz zur M e t a p h y s i k der w e l t g e s t a l t e n d e n Intelligenz oder der sich verwirklichenden V e r n u n f t . Der Wille ist D r a n g , Begehren — so m u ß er, in sich selber kreisend, ziellos u n d ungestillt, von G r u n d aus unbefriedigt bleiben. E r sucht f r u c h t l o s sich i m m e r selber zu verzehren, also ist endloses Leiden seinem Wesen eigen. Die bewußtlose Blindheit ist d u m p f e U n v e r n u n f t ;

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das Tun um des Tuns willen (bei Fichte höchster Wertcharakter!) die sinnlose Unruhe und Friedlosigkeit. Das Unberührtsein in der Wurzel von unserem Erkenntnis- und Erscheinungsgesetz des Satzes vom Grunde, die Freiheit insbesondere von aller Motivation bedeutet Grund-losigkeit des Einen Willens, und das heißt: Sinnlosigkeit, vollkommene Alogizität, ohne Warum und Wozu. Das Wesen des (von jedem Seins- und Sollensgesetz entblößt gedachten) Willens ist die reine Willkür, der absolute Zufall des Vollzugs. Das idealistische Hochgefühl des unendlichen Strebens schlägt um in die Verzweiflung endlosen Nichtserreichens. So ist die Welt und alles Dasein als Selbstvollzug und Selbstobjektivation des Willens nichts als Zufall, Unheil, Leiden. Der unablässige Selbsterhaltungs- und Vernichtungskampf der Naturkräfte und aller Lebewesen ist Ausdruck und Ergebnis der nie ihr Ziel und Ende findenden Selbstverzehrung, daher Selbstzerfleischung des Einen Willens. In allen Dingen lebt als letzte Grundkraft der Streit, der nichts als Selbstentzweiung des Ureinen (doch ohne mögliche Synthese und Versöhnung!) ist; so ist jetzt auch das Pathos der Dialektik umgeschlagen in den absoluten Unwert. Aller Vernunftoptimiemus der theistischen und pantheistischen Systeme ist Täuschung, Lüge. Der Weltgrund oder die Alleinheit ist nichts GöttlichVollkommenes, sondern das Sinnlose schlechthin. Der Atheismus ist die vor allen illusionären Umdeutungen gelegene Aussage unbefangener Welterfahrung. Die Welt ist nicht die beste, sondern die schlechteste, die sein kann; die Teleologie der ineinandergreifenden Naturgebilde spricht nicht hiergegen, denn sie ist Bedingung des Naturbestandes selbst — und damit gerade des sinnlosen Lebenskampfes aller Wesen und ihres Willensleidens, das mit der Erhebung der Natur aus der Dumpfheit der Materie und ihrer Aufwärtsstufung bis zur Bewußtheit des Menschen nur immerfort gesteigert wird. Mit dieser extrem-pessimistischen Position tritt Schopenhauer in schroffen Gegens a t z nicht nur z u m nachkantischen Idealismus, sondern zum großen G a n g e der Metap h y s i k der Neuzeit ü b e r h a u p t , die j a in immer neuen Formen, seit Nikolaus von K u e s , die Sinndurchwirktheit alles Wirklichen behauptet hatte. Die ernste bleibende Bedeutung (und die geschichtliche Wirkung) dieses erbitterten Vorstoßes gegen den Vernunftmonigmus liegt in der nachdrücklichen Hinlenkung des metaphysischen B l i c k s auf die dysteleologischen Momente deT gegebenen Wirklichkeit, derenEigenrealität und -gewicht neben den uns ersichtlichen Sinnbeständen und Sinnzusammenhängen doch immer allzu gern in jenen optimistisch-pantelistischen Gesamtdeutungen verschleiert wurde. D e m religiös bedingten P o s t u l a t wird die Vertiefung in die erfahrbare Wirklichkeit entgegengestellt; den Bindungen des theistischen oder pantheistischen Monismus entgegen wird wieder jene der A n t i k e s o selbstverständliche Perspektive des ringenden Miteinander von Ordnung und Chaos, Vernunft und Unvernunft aufgeschlossen. Die Vergöttlichung der Welt wird schärfer als zuvor in ihrer Fragwürdigkeit empfunden. — Der Ursprung aber von Schopenhauers H a l t u n g liegt Dicht etwa nurin der bewußt aufgenommenen realistischnaturalistischen S t r ö m u n g in der Metaphysik der Neuzeit (z. B . Hobbes), sondern, entscheidender, in den religiös-metaphysischen Willenslehren B ö h m e s und Schellinga! Ihr göttliches Naturprinzip der Willens-sucht, des dunklen Eigenwillens ist es, das hier von seinem lichten Gegenglied und der versöhnend-unterordnenden Synthese losgelöst

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und für »ich selbst verabsolutiert ist. Die Qnal des Schopenhauerschen Weltwillens entspricht (bis in Einzelzüge) dem Höllenzustand des sich im Abfall absondernden Sachtwillens bei Böhme. Das ist, geschichtlich wie sachlich, von tiefer Bedeutung. Die näheren Motive für Schopenhauers Pessimismus sind gegeben durch eine mit der heniatischen Seinslehre seltsam kontrastierende individualistische Grundeinstellung. Der subjektive Glflcksanspruch des Einzelwesens steht hier im Vordergrund aller WertmaQstäbe. Im äußersten Gegensatz zum Universalismns und Objektivismus Hegels, dem alles Wirkliche trotz Trennung und Vergänglichkeit, Leiden und Tod der Einzelnen als vernunftvoll galt, weil in den Kämpfen, Spaltungen und Gegensätzen das Eine Leben in der höchsten Offenbarungsfülle sich gestaltet und durch die strebend untergehenden Subjekte hindurch der objektive und universale Gebt seine Welt aufbaut und die Geschichte wirkt — genügt für Schopenhauer die bloße Tatsache des Leidens, der Todesangst, der nie restlos erfüllbaren Strebens- und Begehrensunruhe des Einzelnen, um das gesamte Dasein als fluchwürdig zu empfinden. Das Hinwegschreiten der Gattung über den Untergang des Einzelwesens wird mit tiefer Empörung wahrgenommen. Kampf, Trennung, Gegensatz sind Fluch — weil Not der Einzelnen. Das heroische Schicksalspathos des Untergangs in größeren Zielen liegt ebenso fern hier, wie die ästhetisch-religiöse Verehrung der ungeheuren Daseinsmannigfaltigkeit. — Hinzu tritt (neben anderem) das alte Motiv der Vergänglichkeit, der wesenhaften Hinfälligkeit und Nichtigkeit zeitlicher Existenz als solcher. Und auch hier wieder entsteht aus der Seinsthese der Zeitlosigkeit des WUlens-an-sich kein axiologisches Gegenmotiv; die Aktualität des Einen Willens erscheint doch eben als wesenhaft (und nicht nur für den Trug der Vorstellung) verstrickt in Zeit und Vielheit. Am schärfsten spitzt sich diese Auffassung von der Nichtigkeit alles zeitlichen Geschehens in der Bestreitung jedes übergreifenden Sinnes der Geschichte zu. In extremer Opposition zum Evolutionismus Fichtes oder Hegels wird jeder Fortschritt, jede Entwicklung und geistige Sinnkontiniutät abgeleugnet. Anch in der Menschenwelt herrscht, wie in allem ewig sich wiederholenden Entstehen und Vergehen, ums Dasein Kämpfen und Verschlungenwerden der Natnxwesen, immer das gleiche ziellose und ergebnislose, die Individuen verbrauchende aufzehrende Treiben. — Geschichtsfremder Naturalismus, eudämonologischer Individualismus und Zeitlichkeitspessimismus gehen hier Hand in Hand. C. D I E I D E E N L E H R E , DAS R E I N E S U B J E K T D E S E R K E N N E N S U N D DER HEILSPROZESS. D e r Willenspessimismus gipfelt in einer m e t a p h y s i s c h e n E t h i k , deren M i t t e l p u n k t die durch E r k e n n t n i s u n d l e b e n d i g e E i n s i c h t d e s Willensl e i d e n s u n d I n d i v i d u a t i o n s f l u c h s herbeizuführende a b s o l u t e F r e i h e i t s t a t der S e l b s t v e r n e i n u n g des Willens b i l d e t ; in d i e s e m Ü b e r g a n g z u m N i c h t sein v o l l z i e h t sich die v o m Menschen für das g a n z e S e i n zu l e i s t e n d e E r l ö s u n g . — Aber i n dieses Daseinsbild ragt n u n bei S c h o p e n h a u e r ein m e t a p h y s i s c h e s G e d a n k e n g e f ü g e hinein, das g a n z andersartige T e n d e n z e n zeigt. D e r e n t s c h e i d e n d e D u r c h b r u c h s p u n k t l i e g t i n der M e t a p h y s i k der K u n s t . Wie Schelling bringt auch S c h o p e n h a u e r die K u n s t i n n ä c h s t e n e i n z i g a r t i g e n Z u s a m m e n h a n g m i t der P h i l o s o p h i e . Ä s t h e t i s c h e s Ans c h a u e n ist Durchblick i n das eigentliche tiefere W e s e n der D i n g e , durch s i n n l i c h e Erscheinungen hindurch. I n der K u n s t w e r d e n , durch d e n Tiefblick d e s Genies, die „ I d e e n " der D i n g e (d. h. die e w i g e n d e m D a s e i n s k a m p f v o r a u s g e l e g e n e n F o r m t y p e n , Musterbilder alles E x i s t i e r e n d e n ) u n s offenbar. Ausdrücklich k n ü p f t d a m i t S c h o p e n h a u e r — wie v o r i h m S c h e l l i n g — an P l a t o a n ; der antike I d e a l i s m u s der I d e e wird m i t d e m

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realistischen Alogizismus der Willensmetaphysik verbunden. Kant und Plato sollen zusammengehen: die Ideen sind die unmittelbaren und adäquaten Objektivationen des Dings an sich, des Einen Willens — beide vereinigt heben sich scharf ab v o m zeitlich-relativen, mittelbar-inadäquaten Objektitätsdasein der Erscheinungen. Diese Ideen bilden — wieder wie bei Schelling — eine Stufenreihe, in der der Wille zu immer höherer und deutlicherer Objektivation gelangt (die volle Objektivation erreicht er nur durch alle Stufen miteinander) — und dieser Stufenordnung entspricht das Stufensystem der Künste. — Aber damit tritt (ohne daß es von Schopenhauer selber recht bemerkt wird!) eine neue Situation zutage. Der Optimismus des ästhetischen Erlebnisses schlägt durch den Pessimismus des Lebenskampfes durch. Die ideellen Selbstobjektivationen des Willens werden v o m „reinen Subjekt des Erkennens", das im ästhetischen Erlebnis sich hinaushebt über die Willensbedingtheit des individuellen Intellekts, in glückhafter Anschauung erfaßt. Mag der zeitlich-individuelle Lebenskampf schrecklich und leidvoll sein; die ewigen Formen der Dinge und das in ihnen sich ausprägende Willenswesen ist — schön, beseligend! Selbst Widerstreit und Dissonanz werden in diesem tieferen Erkennen freudvoll aufgefaßt. So sind zwei gegensätzliche Tendenzen in Schopenhauers Metaphysik der K u n s t verwoben. Der pessimistische Z u s a m m e n h a n g h a t noch am stärksten K r a f t in der Ästhetik der Tragödie — wo es denn wirklich vielfach scheinen k a n n , als sehe Schopenhauer den Sinn der K u n s t darin, d u r c h tiefere H e r a u s a r b e i t u n g der Konflikte, Spaltungen u n d Untergänge des Lebens dem Willen entscheidenden Antrieb zur Selbstvernichtung zu geben, in diesem Sinne also i h m zum „ Q u i e t i v " zu werden. — Die idealistisch-seinsb e j a h e n d e Gegenströmung aber gipfelt in der Metaphysik der Musik. Sie ist die höchste aller K ü n s t e , weil sie die höchste u n d a d ä q u a t e s t e Objektivation des Willens — nein den Willen selber, frei von aller Objektivation, losgelöst insbesondere von jeder Motivation u n d individuellen Beschränktheit, in seinem reinen Schwingen zwischen L u s t u n d Leid zu uns reden l ä ß t , in einer Sprache, die an Anschaulichkeit und Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt Übertrifft. Und diese Sprache v e r n i m m t das reine S u b j e k t des E r k e n n e n s mit tiefer innigster Befriedigung; die Dissonanz selbst (Abbild des Widerstreits!), der schmerzlichste A k k o r d (Sprache des Willensleidens!) bleibt freudvoll. Selbst u n d gerade die Agilität des Willens, sonst immer als die sinnlose U n r u h e geschildert, gibt hier, im Strom der Melodie z. B. (dem Bilde des zusammenhängenden Bewußtseins nach S c h o p e n h a u e r ; sie redet die Geschichte des von Besonnenheit durchleuchteten Willens!) die innigste Befriedigung. Die UnerBchöpflichkeit der Melodien entspricht der unerschöpflichen Fülle der Individualitäten. (Auch die Individuation also wendet sich hier ins Positive — und dem entspricht, d a ß in der Stufenleiter der „ P l a t o n i s c h e n " Ideen mit dem Bereich des Menschenseins die ewige Idee von Schopenhauer nicht mehr als G a t t u n g s t y p u s , sondern ausdrücklich als Individunlidee verstanden wird!) Musik zeigt uns den „ K a m p f , der E i n t r a c h t w i r d " , sie „spiegelt unserm Herzen die tiefste Befriedigung seiner Wünsche v o r " u n d „schmeichelt dem Willen zum L e b e n " . Aber wenn es von der pessimistischen Grundlehre aus erscheinen könnte, als wäre eben d a m i t die Musik, im äußersten Gegensatz etwa zur Tragödie, g e b r a n d m a r k t als spielendoberflächliche Verführerin zur Illusion, die das unheilbare Unheil des Daseins blind verk e n n t — so wird j e t z t hier ausdrücklich s t a t u i e r t , d a ß die geheime Sprache der Musik wie keine andere K u n s t die „tiefe u n d ernste B e d e u t u n g unseres Daseins" uns enthülle! Der E r n s t u n d die Tiefe des Daseins redet hier (und das wird d a n n auch deutlich a n e r k a n n t und

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unterstrichen im Abschlußzitat des Musikkapitels im 2. Bande von Schopenhauers Hauptwerk) als — Wonne.

So bricht bei Schopenhauer, im Ästhetischen entscheidend, aber auch sonst an wichtigen P u n k t e n , durch die G r u n d a n s c h a u u n g von der absoluten Sinnlosigkeit und Zufälligkeit der Willenswelt der Gedanke einer höheren Teleologie u n d eines hinter allem Dasein stehenden geistigen Sinnprinzips hindurch — einer „ E i n h e i t des Zufälligen mit dem Absichtlichen, des Notwendigen mit dem Freien, vermöge deren die blindesten, aber auf allgemeinen Naturgesetzen b e r u h e n d e n Zufälle gleichsam die Tasten sind, auf denen der Weltgeist seine sinnvollen Melodien abspielt". Zusammen d a m i t geht die Lehre v o m Einen „reinen S u b j e k t des E r k e n n e n s " , das, aller I n d i v i d u a t i o n enthoben, alles erkennend u n d von Keinem e r k a n n t , als „ewiges W e l t a u g e " in den höchsten Individuen (z. B. im Genie) durchbricht. Mit dieser Lehre wird es klar, d a ß der Weltgrund von Schopenhauer — der selbst aber auch hierauf nicht weiter reflektiert — nicht rein als blinder Wille vorausgesetzt sein k a n n . Wenn es schon rätselhaft erscheinen m u ß t e , wie dieser Wille aus sich selbst sich das „ L i c h t " des Verstandes a n z ü n d e n konnte, so beweist der D u r c h b r u c h des allgemeinen, die ewigen Ideen schauenden „ W e l t a u g e s " durch den praktisch bedingten individuellen Intellekt endgültig das Vorhandensein eines metaphysischen Geistprinzips in der Ureinheit selber. N u r d a n n wird auch verständlich, wie im ethisch-metaphysischen Erlösungsakt die E i n s i c h t von der Nichtigkeit aller egoistisch-individuellen Willensexistenz die entscheidende Freiheitstat, in welcher der Wille sich gegen sich selbst kehrt und sich selbst a u f h e b t , h e r a u f f ü h r e n k a n n . Das Licht des über die Verstrickung der Egoität hinausgehobenen E r k e n n e n s m a c h t uns — es m a c h t den Willen selbst v o m Wollen frei. Der Übergang ins „ N i c h t s " erscheint von hier mehr als die Lösung eines höchst positiven und s i n n h a f t e n , aber ewig u n b e k a n n t e n (und n u r im erkennenden, doch nie selbst erkennbaren reinen S u b j e k t des E r kennens durchscheinenden) Geistprinzips von der Verstrickung in objektivierendes u n d in Einzelwesen sich spaltendes Begehren. In der T a t bezeichnet Schopenhauer sein Nirwana ausdrücklich als ein r e l a t i v e s Nichts, ein Nichts nur f ü r uns, die wir im Willensleben noch befangen s i n d ; u n d jene Veda-Stelle, auf die seine Musik-Metaphysik als letzte Weisheit h i n a u s l ä u f t , n e n n t den Einen A t m a n wonneartig, so, d a ß überall, wo eine L u s t im Wirklichen durchbricht, diese ein Teilmoment von j e n e m Einen sei. In dieser Perspektive ist Schopenhauers Philosophie kein Atheismus, sondern eine religiöse Metaphysik des eine Welt der Zwietracht hervorrufenden Abfalls u n d der durch die Einsicht des höchsten Weltp r o d u k t s (des Menschen) hindurch sich vollziehenden Erlösung u n d Rückkehr des Einen zu sich selbst. H i n t e r den Irrwegen der sich am E n d e selbst a u f h e b e n d e n Willenswelt steht ein erhabenes Prinzip des Friedens und des reinen Lichts.

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I m Weltbild erscheint noch der Reflex dieses alle Philosophie u n d E r k e n n t n i s (nach Schopenhauer selbst) schon transzendierenden Endgedankens: in der F o r m einer überall durchblickenden höheren Teleologie. Die Welt scheint dabei durchaus nicht als schlechthin sinnlos, oder denn b e s c h r a n k t n u r auf die teleologischen Naturbedingungen, die das E x i s t e n z m i n i m u m von O r d n u n g f ü r jede mögliche Welt bedeuten sollen. Sondern es wird in ihr die Ausgestaltung einer ewigen, unfehlbar waltenden Gerechtigkeit g e s u c h t ! Alles Leiden b e r u h t auf S c h u l d ; alle Qual der individuellen Existenz auf der Urschuld des intelligiblen, aus der Einheit des Urwesens sich abspaltenden Charakters. Der Pessimismus Schopenhauers erhält hier eine religiös-moralische F u n d i e r u n g ; u n d der erb i t t e r t e Gegensatz gegen den V e r n u n f t o p t i m i s m u s der Idealisten stellt sich n u n weniger als Gegnerschaft des Realisten u n d Naturalisten gegen leichtfertige Idealisierung des Wirklichen d a r , sondern mehr als eine, höchst extreme, religiöse Reaktion gegen die Übersteigerung a u t o n o m e r Menschenwürde und menschlicher Geschichtsgestaltung im metaphysischen Idealismus. — Der S t u f e n b a u der Welt (schon im R a h m e n der Ästhetik als ein sinnvolles Höhersteigen der Ideen sich andeutend) kann n u n als ringendes Aufsteigen zum Selbstbefreiungsziel b e t r a c h t e t werden; aus den Konflikten der Willensm ä c h t e jeder S t u f e e n t s t e h t jeweils ein Höheres — das zwar mit wachsender Ann a h e r a n g zur B e w u ß t h e i t gesteigertes Leiden, aber d a n n auch, auf der erreichten E n d s t u f e im V e r n u n f t b e w u ß t s e i n , aus höchstem Leiden letzte Einsicht u n d damit Erlösung wird. Der ganze W e l t b a u erscheint im R a h m e n einer höheren Heilsordnung. — Der tiefere Z u s a m m e n h a n g mit der Metaphysik des Idealismus dringt hierin, bei aller Gegners c h a f t , doch allenthalben durch.

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H a u p t w e r k : Die Welt als Wille und Vorstellung; 2 Bde. (beste Ausgabe in Sch.s sämtl. Werken, hrsg. P . Deussen, München 1911ff.). — Darstellungen: A. K o w a l e w s k i , A. Sch. u n d seine W e l t a n s c h a u u n g ; H a l l e l 9 0 8 . G . S i m m e l , Sch. u n d Nietzsche; Leipzig 1907. A. V o l k e l t , A. Sch.; S t u t t g a r t 1900 u. ö. H. H a s s e , Sch.; München 1926.

VIII. DIE METAPHYSIK IM 19. JAHRHUNDERT UND IN DER GEGENWART. 1. D I E M E T H O D I S C H E K R I S E D E R M E T A P H Y S I K U N D K A M P F UM I H R D A S E I N S R E C H T .

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Das Zeitalter des deutschen Idealismus und seiner Ausläufer stellt die letzte große Blütezeit der Metaphysik in der Neuzeit, bis heute, dar. Unmittelbar danach erfolgt ein jäher Abbruch; innerhalb der allgemeinen Ermattung der philosophischen Fähigkeiten und Interessen, die das weitere 19. Jahrhundert charakterisiert, ist es vor allem die Metaphysik, die an Produktionskraft und Geltung einbüßt — in einem Ausmaße, wie nur sehr selten in der Geschichte des Denkens. Die P h r a s e v o m „ Z u s a m m e n b r u c h " der spekulativen Systeme verkehrt den T a t b e s t a n d ; in W a h r h e i t ging einem h e r a u f k o m m e n d e n Geschlecht von Epigonen und von d e m tieferen philosophischen Bereich E n t f r e m d e t e n — wie die Produktions- so die Fass n n g s k r a f t f ü r die großen Aufgaben der Metaphysik in zunehmendem Maß verloren. Auch die abfallenden R i c h t u n g e n zehren dabei zu gutem Teil v o n dem nachlebenden E r b g u t ; u n d was im weiteren Verlauf an originaleren Neubildungen aufgetreten ist, auch noch a m E n d e des J a h r h u n d e r t s , j a bis in die Gegenwart, h a t tieferen Z u s a m m e n h a n g m i t jener letzten großen Tradition, als meist bemerkt und eingestanden wird — nicht n u r in Deutschland, sondern in allen Ländern, wo Philosophie u n d Metaphysik gedeihen. Es bezeichnet die neue Vertiefung des philosophischen Blicks in den letzten J a h r z e h n t e n ,

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d a ß die Bedeutung der idealistischen Metaphysik (und ü b e r h a u p t der zeitweise vielfach abgerissenen metaphysischen Traditionen der Neuzeit) wieder begriffen und mit den lebendigen Ansätzen zur Neubildung der Metaphysik f r u c h t b a r v e r b u n d e n wird. Die Metaphysik des 19. J a h r h u n d e r t s h a t im R a h m e n unserer k n a p p e n Gesamtdarstellung der Metaphysik der Neuzeit durchaus z u r ü c k z u t r e t e n . D u r c h die zeitliche N ä h e verschiebt sich die Perspektive leicht; so d a ß wir vielfach gewohnt sind, die N a m e n von Denkern mittleren Zuschnitts unmittelbar neben denen der w a h r h a f t originalen u n d in großem Stile wegweisenden Metaphysiker zu n e n n e n . I n Wirklichkeit sind selbst Lotze, E . v. H a r t m a n n oder, in Frankreich, Renouvier, B o u t r o u x doch mehr Epigonen, als sie Selbstdenker Bind; sie bringen einen wichtigen K e r n g e d a n k e n oder höchst wertvolle Einzeluntersuchungen — aber ihr „ S y s t e m " als Ganzes e n t b e h r t jener originalen S t o ß k r a f t und Fülle der Problemerschließungen, welche die Konzeptionen der großen Meister der Metaphysik auszeichnet. — Eine umfänglichere, nicht auf die großen T y p e n u n d Z u s a m m e n h ä n g e sich beschränkende Metaphysikgeschichte allerdings m ü ß t e es gerade sich zur A u f g a b e machen, stärker als bisher geschehen, in diesem Z e i t r a u m die Spreu v o m Weizen zu sondern und die Gewichtsverhältnisse abzuwägen (viel zu sehr sind z. B., aus gewissen zeitgeschichtlichen Bedingtheiten heraus, Denker wie Lotze oder gar Fechner allein in den Vordergrund gerückt worden). D a s äußerst komplizierte Bild dieser Zeit philosophischer Zersplitterung, aus der noch sehr viel wertvolles G u t f ü r uns f r u c h t b a r zu m a c h e n wäre, bedarf dringend einer von gegenwärtigen Probleminteressen neugeleiteten Aufhellung. Aber das eben geht vollkommen hinaus über den R a h m e n unserer Darstellung.

Die Lage der Metaphysik ist in diesem Zeitraum dadurch eine besonders schwierige geworden, daß in die Periode der Erschöpfung zugleich hineinfiel eine aus inneren Sachgründen akut werdende m e t h o d i s c h e K r i s i s — jene Krisis, zu der Kants Kritik bereits den entscheidenden (aber zunächst rasch von dem Schwung und der Selbstgewißheit der neuen Spekulation überdeckten) Anstoß gegeben hatte. Der Anspruch der Metaphysik auf rein apriorische Schlüssigkeit und apodiktische Gewißheit in der gesamten Systematik, bis auf die letzten Seinsprinzipien ja auf das Sein und innere Wesen des absoluten Seinsgrundes selber sich erstreckend, und in geschlossenem System als endgültig erreichte Wahrheit sich behauptend — dieser Anspruch gerät ins W a n k e n ! Die Philosophie der rationalistischen Systeme war so durchdrungen von diesem Aprioritätsbewußtsein, und ebenso war dann in der zweiten Blütezeit, nach Kant, die metaphysische Konzeption so ganz u n d gar d a v o n getragen und beschwingt (und sogar Kants Begriff von der künftigen Metaphysik hielt sich doch wieder streng in diesem Rahmen!), daß man von hier aus wohl versucht sein konnte, rein apriorisches Vorgehen endgültig zum Wesen der Metaphysik zu rechnen und diese, wenn überhaupt, nur als „deduktives", synthetisch-konstruktiv aufbauendes Wissen — und eben damit als „Königin" der Wissenschaften, den untergeordneten ihre Prinzipien verleihend — anzuerkennen. Aber eben dies wird nun unmöglich durch die Entwicklung der allgemeinen Wissenschaftslage. In diesem 19. Jahrhundert nehmen die empirischen Wissenschaften, vor allem die Naturwissenschaften, einen neuen und immer weiter sich steigernden Aufschwung — gleichzeitig z. T. mit dem Absinken der phi-

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losophischen Produktionekraft. Den neuen Wirklichkeitserschließungcn sind die erstarrenden, von keiner ebenbürtigen Nachfolge lebendig erhaltenen Begriffsformen und Umfassungstendenzen der spekulativen Systeme nicht gewachsen. Die konstruktiven Überspannungen und unkritischen Voreiligkeiten (vor allem in der Naturphilosophie und deren Detailkonstruktionen, aber auch in den Konstruktionen des Geschichtsverlaufs) rächen sich jetzt. Der Wissenschaftsbegriff und die Methode der Wissenschaften selbst verschiebt sich in der Richtung aufs Empirische, Hypothetische, Relative, immer neu (auch den Prinzipien nach) zu Revidierende; die Stütze, die noch K a n t s Apriorismus an dem Vorbild der Newtonschen philosophia naturalis gehabt, tritt in den Hintergrund, relativiert sich. Das Wissenschaftsbewußtsein vertieft sich im Sinne freierer Anerkennung des Undurchschaubaren, des nur durch Tatsachengewinnung von außen Aufzunehmenden oder durch bewegliche Anpassung der forschenden Organe des Menschengeistes zu Erreichenden; die Grenzen und die prinzipiellen wie empirischen Bedingtheiten menschlicher Erkenntnis werden immer stärker spürbar. — Damit tut nun ein Gegensatz zwischen Metaphysik und Wissenschaft sich auf, der in der geschilderten Gesamtlage schließlich für die Metaphysik verhängnisvoll wird. Die erstmalig von K a n t bemerkte neue Situation der Neuzeit, in welcher eine autonome Wissenschaftsentwicklung außerhalb des Rahmens der Philosophie sich vollzieht, an Stetigkeit des A u f b a u s und Sicherheit der Resultate diese sogleich weit Uberholend und dauernd übertreffend — diese Situation wird nun, bei wachsender Erfahrungsbreite und Wirklichkeitserschließung durch eine wachsende Vielheit selbständiger Wissenschaften, wieder neu in ihrer ganzen Problematik empfunden und führt schließlich in gewissen extremen Auswirkungen bis zu dem, allerdings allzu bequemen Ausweg der Bestreitung der Metaphysik überhaupt. Die Anfänge des Kampfes gegen den Apriorismus der Metaphysik liegen noch innerhalb des metaphysischen Aufbauwillens (erst mit der späteren Entwicklung des Jahrhunderts wird die Kritik eine Kritik von außen, streitend von einem den großen Daseinsfragen gegenüber gleichgültig gewordenen und daher in der Sicherheit der Wissenschaften das volle Genügen des Erkenntnistriebes findenden Lebensboden aus). Die Kantische Forderung der mit aller Grundlegung der Metaphysik zu verbindenden Besinnung auf die Bedingungen und Grenzen endlicher Erkenntnis, gegenüber den unabweisbaren Zielgedanken des metaphysischen Willens zur Ganzheit und Absolutheit, lebt neu auf in S c h l e i e r m a c h e r , dem für die Arbeit der Metaphysik nicht sosehr die synthetisch konstruierende Dialektik Fichtes oder Hegels, als vielmehr die suchende, nicht vom Systemanspruch belastete Dialektik der Platonischen Dialoge Vorbild ist. Vom religiösen Gottes- und Wirklichkeitsbewußtsein her fordern der späte Schelling und die spekulativen Theisten, in zunehmender Schärfe, Ergänzung des apriorischen Vorgehens durch freie und bewußte Aufnahme und Auswertung der Daseinserfahrungen in Natur und Geschichte. Schopenhauer, selbst noch ungebrochen im absoluten Wahrheitsund Endgültigkeitsanspruch des eigenen Systems, aber erbitterter Feind der aprioristisch-dialektischen Systematik, will die Metaphysik als „daB richtige universelle Verständnis der Erfahrung selbst", als intuitiv einfühlende Ausdeutung des Ganzen der Erfahrung von gewissen Grunderfahrungen her verstanden wissen. — In der gleichen Zeit

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noch der großen metaphysischen Systeme arbeitet H e r b a r t (von uns, des wesentlich geringeren Rangs seiner metaphysischen Konzeption wegen, im Texte nicht behandelt) auf eine am Gegebenen der Erfahrung und ihrer begrifflichen Bearbeitung durch das vorwissenschaftliche nnd wissenschaftliche Denken ansetzende, analytisch forschende Metaphysik hin, u n d fordert F r i e s , auch er in Reaktion gegen den neuen Dogmatismus der spekulativen Systeme, methodische Besinnung aller philosophischen Erkenntnis auf ihre faktischen Grundlagen in den unmittelbar gewissen Urteilen der Erfahrung. Diese Tendenz n u n verstärkt sich in der Folgezeit. Die Motive der religiösen Daseinserfahrung, des universalen Weltbewußtseins und der aller begrifflich-apriorischen Konstruktion sich entziehenden Irrationalität der Freiheit, Individualität, Persönlichkeit, der Geschichte und alles geistigen Lebens überhaupt, treten dabei zurück; in wachsendem Maße trennt jetzt die Philosophie sich vielfach ab vom religiösen Bewußtsein und den Gehalten seiner Traditionen, und wird in weiten Bereichen geradezu zum Vehikel religionsentfremdender u n d religionsfeindlicher Aufklärungstendenzen. In den Vordergrund t r i t t vielmehr nun allein das Vorbild der Erfahrungswissenschaften von naturwissenschaftlicher Methodik. Ihr Gewißheitsvorzug u n d ihre „ E x a k t h e i t " , die Wirklichkeitsnähe und das von aller persönlichen Konzeption leicht ablösbare universelle Fortschreiten in der Zusammenarbeit der Forschenden wie der Methoden und Gebiete — das alles wirkt so überwältigend im Gegensatz zur „Anarchie" der offensichtlich personal bedingten, in immer neuen Gegenthesen und Umstürzen sich bewegenden, zu immer anderen (stets auf endgültige Wahrheit Anspruch machenden) konstruktiven Systemen fortschreitenden Metaphysik, daß schließlich mit der „ a b s t r a k t e n " apriorischen Spekulation die Metaphysik überhaupt verworfen und der Erfahrungsweg des Wissens allein den Wissenschaften zugesprochen wird.

Ü b e r d e n r e s i g n i e r e n d e n A g n o s t i z i s m u s solcher W i s s e n s c h a f t s philosophien, wie der v o n H . Spencer h i n a u s (bei d e n e n i m m e r h i n die m e t a p h y s i s c h e n P r o b l e m e u n d G e h a l t e als u n e r k e n n b a r e r H i n t e r g r u n d der w i s s e n s c h a f t l i c h d u r c h f o r s c h b a r e n W i r k l i c h k e i t in gewisser W e i s e noch f e s t g e h a l t e n werden) fordert der „ P o s i t i v i s m u s " (Comte, Laas, Mach, A v e n a r i u s u. A.) die v o l l k o m m e n e A b k e h r v o n der M e t a p h y s i k , ihre e n d g ü l t i g e A b d a n k u n g z u g u n s t e n der p o s i t i v e n W i s s e n s c h a f t e n u n d ihrer b l o ß a u f die A u f d e c k u n g relationaler B e d i n g u n g s z u s a m m e n h ä n g e u n d G e s e t z e h i n z i e l e n d e n B e a r b e i t u n g der n a t ü r l i c h e n E r f a h r u n g . Die m e t a p h y s i s c h e n P r o b l e m e w e r d e n als falsch gestellte, d e n w i s s e n s c h a f t lichen F o r t g a n g s t ö r e n d e , z u l e t z t „ u n w i s s e n s c h a f t l i c h e " S c h e i n f r a g e n mit d e m P a t h o s des w i s s e n s c h a f t l i c h e n E r n s t e s e i n f a c h a b g e w i e s e n . D i e Erf i n d u n g e n u n d A n s t r e n g u n g e n der M e t a p h y s i k sollen, n i c h t anders als die m y t h o l o g i s c h e n u n d religiösen P h a n t a s i e g e b i l d e ferner Zeiten, in die t o t e V e r g a n g e n h e i t der in der W i s s e n s c h a f t n u n m e h r gereiften Menschheit gehören. I n d e m die M e t a p h y s i k das W e s e n h i n t e r d e n n a t u r g e s e t z l i c h a b l a u f e n d e n E r s c h e i n u n g e n , die S u b s t a n z e n u n t e r den R e l a t i o n e n , das Übersinnliche j e n s e i t s des S i n n l i c h - W i r k l i c h e n fordert u n d s u c h t , verfälscht sie die Wirklichkeit, in der wir l e b e n , v o n der allein wir w i s s e n , u n d die v o r a u s b e r e c h n e n d u n d b e h e r r s c h e n d zu durchgreifen das fortschreit e n d erreichbare Ziel aller w i s s e n s c h a f t l i c h e n Arbeit u n d E r k e n n t n i s überh a u p t sein muß. — In i m m e r h i n v e r w a n d t e r W e i s e w e n d e t 6ich a u c h die — in E i n z e l d i s z i p l i n e n der P h i l o s o p h i e eine sehr ernste p o s i t i v e Erneuerung d e s p h i l o s o p h i s c h e n P r o b l e m b e w u ß t s e i n s b e d e u t e n d e — B e w e g u n g

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des N e u k a n t i a n i s m u s (Cohen, N a t o r p , Riehl, W i n d e l b a n d , R i c k e r t u. A.) gegen die M e t a p h y s i k . Auch hier ist die e x a k t e N a t u r w i s s e n s c h a f t z u n ä c h s t das ausschlaggebende Vorbild e c h t e r E r k e n n t n i s O b e r h a u p t ; u n d bleibend werden W e r t u n d A u f g a b e der Philosophie a m M a ß s t a b der Einzelwissenschaften, ihrer Methoden u n d ihres E r t r a g e s , gemessen. Philosophie als „ s t r e n g e W i s s e n s c h a f t " — das ist hier (wie d a n n a u c h in v e r w a n d t e n R i c h t u n g e n ) die F o r d e r u n g . Sie zu erfüllen, wird Philosophie selbst zur Einzelwissenschaft, Fachwissenschaft g e s t e m p e l t . V o m W e r k e K a n t s wird die gesamte m e t a p h y s i s c h e P r o b l e m a t i k u n d Zielsetzung abgestreift u n d ü b e r h a u p t n i c h t m e h r e r b l i c k t ; b e h a l t e n w i r d allein die t r a n s z e n d e n t a l e R ü c k b e s i n n u n g auf die i m D e n k e n , i m B e w u ß t sein gelegenen Prinzipien, vor allem die Prinzipien der E r k e n n t n i s . Die Wirklichkeit ist d u r c h die i m Lauf der Zeit erfolgte allseitige E n t f a l t u n g der Wissenschaften j e t z t a n diese a u f g e t e i l t ; so bleibt d e n n f ü r die Philosophie kein Wirklichkeitsbereich als G e g e n s t a n d , s o n d e r n allein die W i s s e n s c h a f t e n selbst, ihre Methoden u n d Prinzipien. Philosophie ist Wissenschaftslehre — doch dieses ohne den bei F i c h t e m i t d e m W o r t verb u n d e n e n u n d in der Sache einbegriffenen m e t a p h y s i s c h e n G e h a l t ! Aller direkte u n d positive S e i n s k o n t a k t bleibt der Einzelarbeit der Wissens c h a f t e n u n d a n d e r e r k u l t u r e r z e u g e n d e r S o n d e r f u n k t i o n e n des Geistes überlassen; Philosophie k a n n n u r die Reflexion auf die i m B e w u ß t s e i n gelegenen Bedingungen solchen p r o d u k t i v e n Schaffens (also auf K a t e g o rien des E r k e n n e n s , auf ideelle W e r t e der K u l t u r e r z e u g u n g ) sein. N i c h t m i t den Sachen, n u r m i t den Begriffen h a t sie es zu t u n . Alle philosophischen Aussagen ü b e r die Dinge selbst gehören h e u t e , wie die l ä n g s t „ ü b e r w u n d e n e " Naturphilosophie, in den Bereich v e r a n t w o r t u n g s l o s spielender P h a n t a s t i k u n d eines unwissenschaftlichen D i l e t t a n t i s m u s . Die Rolle der M e t a p h y s i k ist ausgespielt. — U n d auch hier w e r d e n die selbst auf solchem S t a n d p u n k t bleibenden R e s t p r o b l e m e m e t a p h y s i s c h e r A r t einfach abgewiesen: n a c h Wesen u n d R e a l i t ä t s a r t etwa des „ e r z e u g e n d e n " Denkens selbst oder des Bewußtseins (eines „ B e w u ß t s e i n s ü b e r h a u p t " ! ) soll nicht m e h r g e f r a g t werden d ü r f e n ; — so d e k r e t i e r t das P a t h o s der Philosophie als strenger, den a n d e r n Wissenschaften e b e n b ü r t i g gewordener Wissenschaft. In Wahrheit sind diese philosophischen Bichtungen (ähnlich dann auch die „ I m m a nenzphilosophie" und die Phänomenologie in ihrer ersten Ausbildung) keineswegs so metaphysikfrei, wie sie selber glaubten. Der Positivismus insbesondere erleichtert sich den K a m p f , indem er unter Metaphysik vorwiegend immer nur ein angebliches Wissen von „Übersinnlichem" und Jenseitigem, Wirklichkeitstranszendentem sich vorstellt. Die alte geschichtliche Verbundenheit zwischen Metaphysik und Religion, die mit dem (zufällig entstandenen) N a m e n vielfach traditionell v e r k n ü p f t e n Definitionen der Metaphysik in Richtung auf das Übersinnliche u n d Immaterielle, nnd insbesondere die einseitige extreme Zuspitzung der letzten großen Systeme auf das Wissen vom Absoluten f ü h r t hier, im Rückschlag, zu einer verzerrenden Verengung des Begriffs der Metaphysik. So kann denn aus dem P a t h o s der Weltimmanenz und Wirklichkeitstreue heraus (so selbst bei N i e t z s c h e u n d bei D i l t h e y ) das Mißtrauen gegen die Metaphysik genährt

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und die Wirklichkeitserkenntnis allein den Wissenschaften zugewiesen werden. — Der schlichtere u n d breitere Begriff indessen, der (in Fortsetzung der Aristotelischen „ E r s t e n Philosophie") Metaphysik zunächst und vor allem als Untersuchung der Elemente u n d Fundamentalbedingungen alles Seienden Oberhaupt, der Wirklichkeit im ganzen u n d allgemeinen, in der „ T o t a l i t ä t der Bedingungen" f a ß t , — und ihre Aufgabe in der Zusammengehen u n d übergreifenden Abgrenzung der fundamentalen Seinsarten, der großen Wirklichkeitsbereiche u n d -gesetzlichkeiten, in der Aufdeckung wirklicher Daseinszusammenhänge in allem Wechsel der Erscheinungen und Äußerungen sucht, nicht aber nur in der Zuspitzung aller Fragen auf die Einheit des Unbedingten oder auf das SchickBai des Menschen — solcher Begriff des Metaphysischen ist nicht so leicht vom wissenschafts- oder erkenntnistheoretischen „ S t a n d p u n k t " abzusondern! I n jeder Rede v o m gestaltenden „ B e w u ß t s e i n " und vom seinserzeugenden „ D e n k e n " , in j e d e m Ausgang vom positiv „ G e g e b e n e n " , als dem eigentlich Wirklichen, in jeder Absteckung von Grenzen unserer Erkenntnis stecken schon S e i n s b e h a u p t u n g e n darin — noch ganz zu schweigen von den Prinzipien der „Denkökonomie" oder von den fiktionenbildenden Anpassungsfunktionen der im Bewußtsein verborgenen Lebensmächte, sowie von der so weitgehend als selbstverständlich angenommenen Voraussetzung universaler u n d alldeterminierender (Natur-) Gesetzlichkeit in den betrachteten Bereichen, Es wäre eine wichtige u n d interessante Aufgabe, die versteckten u n d uneingestandenen Seinsvoraussetzungen in allen jenen metaphysikentfremdeten u n d metaphysikfeindlichen Richt u n g e n des späteren 19. J a h r h u n d e r t s aufzudecken; von da d a n n aber weiterhin zu zeigen, mit welcher Willkür dort ttberall die durch die eigenen Setzungen entstandenen Probleme abgewiesen werden! (Ein Beispiel nur, zum Neukantianismus und zur Immanenzphilosophie: Verhältnis unseres wirklichen empirischen, stets individuell gebildeten Bewußtseins zu dem als Grundlage der ganzen Erkenntnistheorie u n d I m m a nenz geforderten „Bewußtsein ü b e r h a u p t " ! )

Diese metaphysikfeindlichen Richtungen haben besonders in Deutschland eine Zeitlang breite Wirkung ausgeübt und in weiten Kreisen der wissenschaftlichen Welt die öffentliche Meinung über das Wesen der Philosophie und das Schicksal der Metaphysik bestimmt. Während in den andern Ländern (z. B. England, Frankreich, Italien) solchen Tendenzen gegenüber sich immer noch ein breiter Strom metaphysischen Denkens — fortsetzend jene mannigfachen Traditionen der Metaphysik der Neuzeit und insbesondere der nachkantischen Systeme, zugleich aber auch neu einsetzend in der Verbindung der Metaphysik mit den herangewachsenen Ergebnissen und Perspektiven der Einzelwissenschaften — behauptet hatte, waren in Deutschland die meisten führenden Philosophen mindestens einer ganzen Generation der Metaphysik völlig entfremdet. Ein Metaphysiker wie E. v. Hartmann (der, noch in sehr lebendigem Zusammenhang mit der Spekulation des Idealismus und Schopenhauers, nun auf dem Boden der veränderten Wissenschaftslage zu neuem Aufbau überging), oder die (allerdings nun allzu eng traditionsgebundenen) metaphysischen Tendenzen und Versuche des Neuthomismus blieben eine lange Zeit hindurch so gut wie unbeachtet. Hier konnte es wirklich so scheinen, als ob die Metaphysik im Aussterben begriffen wäre. Aber auch in Deutschland ist der Höhepunkt dieser Bewegung seit langem überschritten. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts setzt eine neue Zuwendung zu metaphysischen Fragestellungen ein, die schließlich Haadb. d. Phil. I . F 14

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bis zur ausdrücklichen Forderung neuer Metaphysik und zur Wiedereinsetzung der Metaphysik in die Mitte der Philosophie geführt hat. E i n neuer Kontakt zu dem alten Erbgut und mit den noch i m Unterstrom lebendigen Tendenzen der Metaphysik der Neuzeit ist in den letzten Jahrzehnten gewonnen worden; die in der vorangegangenen Zeit angehäufte metaphysikhistorische Kenntnis und Bildung wird jetzt unmittelbar fruchtbringend für die Neuaufrollung der Probleme selbst. Von den Motiven, die den metaphysikfeindlichen Wissenschaftstendenzen erfolgreich entgegenwirken, seien nur zwei der wichtigsten erwähnt. D a ist einmal daa weltanschauliche Bedürfnis, das wohl zeitweise bis zum Indifferentismus geschwächt u n d 10 von den positiven Einzelzielsetzungen kultureller Gestaltung und Wissensarbeit v e r d e c k t werden k a n n , zuletzt aber unauarottbar ist und mit jeder geistigen Neuwendung einer Zeit wieder zum Durchbruch k o m m t . Weltanschauliche Fragen u n d Motive a b e r , sofern sie nicht bloB durchlebt werden oder sich spontanen Ausdruck in Gesellschaftsbildung, K u n s t usw. Buchen, sondern als Fragen selbst begriffen und diskutiert, schließlich als ein Z u s a m m e n h a n g gedacht u n d im Zusammenhang durchleuchtet werden — e n t h a l t e n immer schon Metaphysik in Bich. Metaphysik als Naturanlage ist, wie gerade K a n t so eindringlich b e t o n t h a t , mit dem Menachengeiste ewig und notwendig v e r b u n d e n ; u n d das in keiner Zeitepoche u n d Kulturlage ganz verschattete „metaphysische B e d ü r f n i s " (Schopenhauer) findet nie sein Genüge allein im Leben a n d dessen symbolischen Selbst- 20 darstellungen, sondern fordert immer auch den theoretischen Ausdruck, Erfüllung u n d Selbstdurchleuchtung durch Erkenntnis. Die Dringlichkeit, mit der die Fragen n a c h Sein und Sinn des Daseins, nach A u f b a u , Zusammenhang u n d Wertbezug des Wirklichen sich d e m MenschengeiBte (eben als Erkenntnisfragen) stellen, bleibt in tieferen Schichten unberührt von den die F o r m u n d Rechtsansprüche der Metaphysik betreffenden Sorgen über ihren Wissenschaftscharakter. W a s Wissenschaft, und was E r k e n n t n i s Uberhaupt im vollen Sinne ist, kann seinerseits durchaus nicht ein f ü r allemal in festem T y p u s u n d Muster umrissen werden, und die Grenzen der Erkenntnis sind nicht durch einen einmaligen Gewaltspruch abzustecken. Neben den Maßstab der E x a k t h e i t u n d eindeutigen Erfüllbarkeit t r i t t der der Lebensnahe u n d Problemtiefe. Metaphysik behielte ihr Da- 30 Beinsrecht u n d ihre Lebensnotwendigkeit nicht nur, sondern gerade auch ihre wissenschaftliche Notwendigkeit, wenn sie nichts wäre als die immer neu sich vertiefende Aufrollung der im Grunde unlösbaren, zu keinem E n d e führenden Fragen des Seins u n d Daseins. Die argumentierende Diskussion der großen Lösungsmöglichkeiten, die A u f s p ü r u n g von nie zu „Beweiaen" sich konsolidierenden Hinweisen in der Wirklichkeit, die Erschließung des Blicks f ü r den Prinzipienreichtum u n d die tiefe Irrationalität des u n s im Leben und selbst in den Wissenschaften noch als scheinbar einfaches und selbstverständliches Vorhandensein vor Augen Stehenden — das alles bleibt f ü r ein echtes ganzes u n d nicht willkürlich auf das praktisch Erreichbare Bich einschränkendes P a t h o s wissenschaftlichen Ernstes in seinem Daseinsrecht und seiner geistigen Notwendigkeit unangefochten, 40 wenn auch in anderer Hinsicht die K l u f t zwischen „ M e t a p h y s i k " u n d „ W i s s e n s c h a f t " sich noch so tief erweisen sollte. Und die Fragen nach Wesen und Geltungsart des metaphysischen Wissens oder Suchens, nach seinem Objektivitätsanspruch u n d wieder seiner persönlichen Bedingtheit und Bindung, nach seinem Wissenschaftscharakter und wieder auch der Nähe zum Lebens- und Werteinsatz des Glaubens — werden immer neu von neuer Geisteslage aus in Angriff genommen werden müssen. Keine Zeit h a t d a f ü r alle Folgezeiten entschieden; u n d unsere Zeit h a t j e t z t auch allenthalben die Diskussion der vielfach halbvergessenen, gern f ü r erledigt angesehenen Fragen wieder aufgenommen. Das andere Motiv ist aus der Wissenschaftslage selbst erwachsen. Selbst wenn es wahr wäre, d a ß die erfahrbare Wirklichkeit auf die positiven Wissenschaften aufgeteilt DO ist, so bliebe unbehandelt und wissenschaftlich unbewältigt eben doch das Ganze selbst. Der Wissenschaften sind viele, und ihre Perspektiven wie ihre Methoden der Seins-

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«Schließung weichen, j e differenzierter und eigenwüchsiger sie sich herausgestalten, u m so sicherer voneinander ab. (Vgl. z. B. die immer schärfer und mannigfaltiger gewordene Differenzierung der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften, bei wachsender Vertiefung u n d Berücksichtigung gerade des Zusammenhanges von N a t u r und Geist.) Die Erfahrungswirklichkeit aber ist Eine; und das Leben des Menschen findet sich, gewinnt sich in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit der vielfältigen Einheit. Die Wirklichkeit ist u n s zunächst u n d zuletzt ein Ganzes, u n d ebenso der Mensch u n d sein Dasein; die Wissenschaften aber geben immer nur a b s t r a k t e Ausschnitte. Und nicht nur wo die Ergebnisse der Einzelwissenschaften auseinanderklaffen, sondern gerade auch 1 o wo sie zueinander konvergieren, erhebt sich mit innerer Notwendigkeit die Aufgabe, die tiefere Einheit u n d Ganzheit selbst, den Wirklichkeitszusammenhang als solchen zu überblicken, zu umreißen, aus sich herauszugliedern. In diesem Sinne h a t schon W. W u n d t — der ganzen H a l t u n g nach sonBt noch dem Positivismus sehr verwandt — wieder Metaphysik gefordert, als Philosophie von der Wirklichkeit (und nicht bloß Wissenschaftslehre), als Wissenschaftssynthese mit dem Ziel der Herausarbeitung einer wissenschaftlichen Weltanschauung. Fehlt das Bewußtsein dieser Aufgabe, so wird immer ein Surrogat sich einstellen, wie es f ü r so weite Kreise in Deutschland lange Zeit hindurch eine „naturwissenschaftliche W e l t a n s c h a u u n g " plattester u n d problemlosester, also unwissenschaftlichster Observanz gewesen ist. Wird aber diese Aufgabe e r n s t h a f t und 20 kritisch angegriffen, so wird es vielleicht auch von der Gegenwartslage aus nicht anders gehen, als stets vorher in der Geschichte menschlichen Wissens: d a ß die Metaphysik in ihrer Wesenstendenz auf Ganzheit u n d Zusammenhang des Wirklichen ü b e r h a u p t immer auch f r u c h t b a r e Anstöße gibt f ü r die Ausbildung der Sonderfragen u n d Sonderwege, in denen die Wissenschaften reifen; — auch in dem f ü r die Metaphysik so kritischen 19. J a h r h u n d e r t ist j a , gleichzeitig mit der aufbrechenden K l u f t zwischen schematisch sich übersteigernder Naturphilosophie und empirisch sich ausbreitenden Naturwissenschaften, das metaphysische Welt- u n d Geistesbild des Idealismus (besonders Hegels) von unerschöpflicher F r u c h t b a r k e i t f ü r die Gestaltung der Geisteswissenschaften geworden. I m übrigen ist es j a auch nicht wahr, daß die Wirklichkeit auf die Wissenschaften 30 wirklich „ a u f g e t e i l t " i s t ! Nicht alles im unmittelbaren Erfahren u n d Erleben uns Gegebene f i n d e t in einer der zahlreichen Wissenschaften seinen Platz. Gerade in unseren Tagen h a t die neue philosophische Sonderwissenschaft der Phänomenologie (in sich vormetaphysisch gedacht u n d ausgebildet, u n d erst im weiteren Erfolg zwangsläufig allenthalben — z. B. bei Scheler, Heidegger, H . Conrad-Martius — auf metaphysische Fragestellungen hinaustreibend) uns neu den Blick, den wissenschaftlichen Blick geschärft f ü r die Gegebenheit, vor aller Verarbeitung u n d perspektivischen Einordnung in den Sonderwissenschaften! Auch das konkret Gegebene als solches, in seiner Fülle und Verflochtenheit, nicht n u r die darin aufzudeckenden Bedingungs- und Relationsgefüge, fordert A u f n a h m e in eine überschauende u n d zusammenschauende Erkenntnis. Nicht 40 nur die Wissenschaften liefern ein Mustervorbild sicherer und kritischer Erkenntnis, sondern auch an die (in sich vollkommen autonomen!) Wissenschaften wiederum m u ß die kritische Frage gerichtet werden, wie tief ihr Anspruch auf rein erkennende Bewältigung des wirklich Gegebenen, des Wirklichen und seiner Ganzheit gehen kann. Solche Fragestellung aber ist nicht mehr Sache rein erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Abgrenzung, sondern verlangt ein eigenes Ausgehen von Wirklichkeit als solcher und auf Wirklichkeit als ganze. Sie ist besonders dringlich auch gemacht worden durch die (bei aller Verstiegenheit u n d Willkür der Theorie höchst wertvollen) Hinweise des P r a g m a t i s m u s auf praktisch-technische und soziologische Bedingtheiten unserer Erkenntniswege; — Denker wie B e r g s o n und M. S c h e l e r sehen geradezu die Aufgabe der 50 neuen Metaphysik in der Richtung einer unbefangeneren u n d rein theoretisch bestimmten Erkenntnishingabe a n das Wirkliche, im Gegensatz zu den in ganz bestimmten Perspektiven zielsetzenden u n d die Gegebenheitsmomente seligierenden Wissenschaften. I n jedem Falle bleibt der Metaphysik die große Aufgabe der überschauenden, durch keinen festgelegten S t a n d p u n k t einer Sonderdisziplin beengten Synthese der Wissenschaften

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miteinander und mit der ganzen lebendigen Wirklichkeitsgegebenheit der schlichten menschlichen Erfahrung.

In der neuen Anerkennung und Inangriffnahme der Metaphysik ist dies nun selbstverständliche Voraussetzung geworden : d a ß ihr E r k e n n e n nicht rein apriorische Ableitung u n d Konstruktion sein kann, sondern allenthalben und immer neu von den Gegebenheiten der E r f a h r u n g und von den Resultaten wie auch von den autonomen Prinzipienfestsetzungen der Einzelwissenschaften aus a u f b a u e n muß. Der K a m p f , den vor a l l e m E . v . H a r t m a n n — unter dem Schlagwort e i n e r „ i n d u k t i v e n M e t a p h y s i k " an Stelle der (angeblich) rein „ d e d u k t i v e n " der klassischen Zeiten —, aber auch L o t z e und viele andere Denker des späteren 19. J a h r h u n d e r t s , zuletzt noch V o l k e l t , f ü r die Erfahrungsbasis der Metaphysik geführt haben, ist durchweg zum Siege dieser R i c h t u n g ausgelaufen. (In den anderen L ä n d e r n geht die Entwicklung parallel ; als ein Beispiel aus Frankreich diene etwa die Neufassung der Metaphysik durch F o u i l l é e als einer connaissance du réel par Vanalyse reflexive et critique, aussi radicale que possible, et par la synthèse, aussi intégrale que possible, de l'expérience.) Es k o m m t dabei nicht sosehr auf den mit guten Gründen von gegnerischer Seite b e a n s t a n d e t e n Begriff des „ I n d u k t i v e n " an. Es ist ja klar, daß es sich nicht u m eine I n duktion im Sinne der naturwissenschaftlichen Gesetzesforschung u n d ihrer Verifikationsmöglichkeiten handeln kann, und daß allein schon die Tendenz der Metaphysik auf die Ganzheit des E r f a h r b a r e n eine ganz andere Ordnung des Suchens und Bestätigens, der Verallgemeinerung und der Einfügung des Besonderen bedingt. Und übrigens will jenes Schlagwort auch keineswegs die apriorischen u n d spekulativ-konstruktiven Wege und Verbindungen aus der Metaphysik ausschalten (wie sie denn auch bei E. v . H a r t m a n n selbst, zugleich mit den Erfahrungsansätzen, höchst wirksam sind!); setzt doch sogar die i m Bereiche möglicher Einzelerfahrung bleibende eigentliche I n d u k t i o n stets apriorische Prinzipien voraus. Worauf es vielmehr a n k o m m t , ist die Anerkennung der Selbständigkeit ebenso der direkten und unmittelbaren wie aller durch die Wissenschaften vermittelten Erfahrungsquellen, gegenüber den mit dem Anspruch der Allgemeinheit und Notwendigkeit auftretenden Wesenseinsichten u n d Grundsätzen, und die Forderung ihrer wechselseitigen E r g ä n z u n g u n d Kritik. Die notwendige Folge dieser Neufassung des metaphysischen Vorgehens (das übrigens auch bei den klassischen Systemen sich faktisch überall verfolgen läßt, wenn auch die Schöpfer anders über Quell u n d Gewißheitsart der eigenen Schöpfungen geurteilt haben — unser historisches Verstehen und Rekonstruieren kann fruchtbaren Zugang zu ihren Welten j a auch immer nur so gewinnen, daß die Erfahrungsgrundlagen und die, vielfach unbewußten, Ansatzpunkte an dem für sie Gegebenen der Wirklichkeit und Wissenschaften aufgesucht, und von hier die Fäden ihrer spekulativen Verarbeitung verfolgt werden) — die notwendige Folge ist der Verzicht auf apodiktische Gewißheit. Die Metaphysik der Gegenwart ist sich des wesenhaft hypothetischen und durch den Weitergang der Forschung und Erfahrungen veränderbaren Charakters aller ihrer Setzungen bewußt. Sie sucht ihren Aufbau und Umbau nicht mehr nur nach der Seite der Besonde-

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UMRISS

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r u n g u n d i n h a l t l i c h e n E r f ü l l u n g , gondern ebensosehr s t e t s n a c h der Seite der Prinzipien n n d d e r G e s a m t k o n z e p t i o n . G e r a d e diese kritische Voraussetzung g i b t i h r d e n selbstv e r s t ä n d l i c h e n Z u s a m m e n h a n g m i t den Einzel Wissenschaften, so wie sie Bich einmal e n t w i c k e l t h a b e n , d e n Z u s a m m e n h a n g eben auch d e m W a h r h e i t s a n s p r u c h u n d der Forschungsweise n a c h .

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Der A n s p r u c h des S y s t e m s t r i t t d a m i t aus der a b s o l u t e n V o r m a c h t s t e l l u n g z u r ü c k ; so w e s e n h a f t die E n d a b s i c h t auf u m f a s s e n d e u n d allseitig b e s t ä t i g e n d e S y s t e m a t i k bleibt, gilt es d o c h keineswegs m e h r als a u s g e m a c h t , d a ß m e t a p h y s i s c h e Aussagen n u r i m R a h m e n einer geschlossenen u n d f e r t i g e n G e s a m t a n s i c h t a u f t r e t e n k ö n n e n ! I m Gegenteil b e g i n n t sich g e r a d e in der G e g e n w a r t ein n e u e r T y p u s m e t a p h y s i s c h e n F o r s c h e n s h e r a u s z u b i l d e n , d e r ganz b e w u ß t v o m einzelnen Wirklichkeitsbereich (z. B. d e m Biologischen o d e r d e m Soziologischen) a u s g e h t , a n die d u r c h S e l b s t v e r t i e f u n g der d o r t heimischen W i s s e n s c h a f t e n h e r a u s g e a r b e i t e t e n P r i n z i p i e n a n k n ü p f t , sie begrifflich u n d seinstheoretisch k l ä r t — u m d a n n erst, m i t aller Vorsicht, v o n d a gewisse P e r s p e k t i v e n auf d a s ü b r i g e Sein zu e n t w e r f e n . E i n e a u s f ü h r l i c h e W ü r d i g u n g der m e t a p h y s i s c h e n T e n d e n z e n u n d L e i s t u n g e n der G e g e n w a r t (die hier n i c h t m e h r gegeben w e r d e n k a n n ) d ü r f t e n i c h t v o n d e n p a a r v e r b l a ß t e n „ S y s t e m " - E n t w ü r f e n ausgehen, sondern m ü ß t e gerade diese aus d e n n e u e n W i s s e n s c h a f t s b i l d u n g e n u n d d e n v o n d a gegebenen W i r k l i c h k e i t s e r f a h r u n g e n sich h e r a u s b i l d e n d e m e t a p h y s i s c h e Einzelforschnng in den Vorderg r u n d r ü c k e n . N e b e n der N o t w e n d i g k e i t des m e t a p h y s i s c h e n „ S y s t e m s " als Endziel wird h e u t e a u c h d i e G e f a h r des S y s t e m s m i t n i c h t geringerer K r a f t e m p f u n d e n : die G e f a h r d e r V e r g e w a l t i g u n g u n d falsch v e r e i n f a c h e n d e n Vereinheitlichung des W i r k lichen. D a s B e w u ß t s e i n der auf allen Seinsbereichen sich m i t v e r t i e f e n d e m E i n d r i n g e n i m m e r deutlicher a n k ü n d i g e n d e n I r r a t i o n a l i t ä t des Wirklichen f ü r u n s e r n b e g r e n z t e n u n d m a n n i g f a c h b e d i n g t e n menschlichen V e r s t a n d , dag B e w u ß t s e i n , d a ß wir, n a c h Lotzes s c h ö n e m (gegen die a b s o l u t e Philosophie der N a c h k a n t i a n e r gerichteten) W o r t , n i c h t a n d e r l e b e n d i g e n W u r z e l alles Sein, gondern i r g e n d w o in den Zweigen sitzen, die aus i h r erwachsen sind, u n d n u r auf m a n n i g f a c h e n U m w e g e n n n d in der sorgfältigsten B e n u t z u n g aller H i l f s m i t t e l , die u n s e r e Lage b i e t e t , a n n ä h e r n d e K e n n t n i s v o m W i r k l i c h k e i t s s y s t e m zu g e w i n n e n h o f f e n d ü r f e n — dieses B e w u ß t s e i n h a t die n e u a u f k o m m e n d e M e t a p h y s i k vorsichtig u n d m i ß t r a u i s c h g e m a c h t gegen den b l o ß e n A u s g a n g v o m „ S y s t e m " u n d „ S t a n d p u n k t " . I h r A n k n ü p f e n a n die großen B i l d u n g e n der v e r g a n g e n e n M e t a p h y s i k v e r s t e h t sie n i c h t sosehr als eine E r n e u e r u n g dieser u n d j e n e r G e s a m t a n s i c h t , sondern als W i e d e r a u f n a h m e d e r da u n d d o r t e n t d e c k t e n P r o b l e m e u n d P r o b l e m z u s a m m e n h ä n g e , m i t E i n s c h l u ß d e r A n t i n o m i e n u n d offensichtlichen Unlösbarkeiten. K a n t s T e n denz auf „ k r i t i s c h e " M e t a p h y s i k ist ( m i t Ü b e r w i n d u n g der d o g m a t i s c h e n F o r m , die er im eigenen S y s t e m ihr, sowohl in der E i n s c h r ä n k u n g der E r k e n n t n i s u n d ihrer K a t e gorien auf bloße „ E r s c h e i n u n g e n " , wie in d e m E n t w u r f der p r a k t i s c h - d o g m a t i s c h e n M e t a p h y g i k gegeben h a t t e ) in der G e g e n w a r t zu n e u e r F r u c h t b a r k e i t gediehen. Die Metap h y s i k , bei j e d e m S c h r i t t begleitet v o n der kritischen A b w ä g u n g der E r k e n n t n i s a n s p r ü c h e u n d des relativen Seinsgewichts in den jeweiligen E r f a h r u n g e n u n d Wesenseinsichten, s u c h t die E r f ü l l u n g ihrer u n e r m e ß l i c h e n A u f g a b e n ebensosehr in der gleichs a m d e s k r i p t i v e n E r s c h l i e ß u n g der r ä t s e l h a f t e n Tiefen des Seins u n d seiner reichen Mannigfaltigkeit u n d S c h i c h t u n g , als in der K o n s t r u k t i o n u n d D e u t u n g des Z u s a m m e n h a n g s .

2. U M R I S S D E S W E R D E G A N G S D E R M E T A P H Y S I K I N D I E S E M ZEITRAUM. Eine knappe Skizzierung der metaphysischen Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert mag diese Darstellung der Metaphysik der Neuzeit beschließen; ausführlichere Berücksichtigung soll dabei die neuere Meta50 physik des Geistes finden.

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A. DIE FASSUNG DES WELTGRUNDES. Unter den vielfältigen Fortsetzungen der Philosophie vom Absoluten und der allgemeinen metaphysischen Anschauungen von Gott und Welt hebt sich als eine besonders mächtige Strömung des 19. Jahrhunderts die Neuverstärkung des philosophischen T h e i s m u s heraus — genährt durch Kräfte und Motive christlicher Religiosität und sich begrifflich durcharbeitend im Kampf gegen die verschiedenen Formen des Pantheismus der neueren Metaphysik, insbesondere gegen die pantheistische Tendenz im Idealismus. — Verbunden ist damit fast allgemein eine neu verstärkte Heraushebung der Selbstheit, Unabhängigkeit und Individualität der (unsterblich gedachten) endlichen Persönlichkeiten, und allgemeiner eine pluralistisch-monadologische Fassung des Weltganzen; — Leibniz und Kant gewinnen neu das Übergewicht über Spinoza und Hegel. Der Grund des Wirkungs- und Harmoniezusammenhangs aller Einzelwesen wird in die Ursprungsgemeinschaft aus der göttlichen Persönlichkeit, und in die mit deren Auswirkung gegebene Weltimmanenz des Göttlichen verlegt. Diese Bewegung ist in Deutschland vor allem Ausgestaltung und Fortsetzung des „spekulativen Theismus" („Spätidealismus"), ihr wichtigster Vertreter in der Folgezeit war L o t z e ; von anderem Zusammenhang her kommen T r e n d e l e n b u r g und eine bedeutsame Strömung im rechten Flügel der Hegelschule ihr entgegen. In die Gegenwart reicht sie hinein z. B. in J . V o l k e l t (einem der ganz wenigen noch lebenden Denker in Deutschland, die noch aus dem direkten Traditionszusammenhang mit der letzten großen Zeit der deutschen Metaphysik herstammen). Zu ihr gehört ferner die Reihe bedeutenderer Denker katholischer Religionsverbundenheit, wie A. G ü n t h e r , D e u t i n g e r , F r o h s c h a m m e r , bis zu B r e n t a n o hin; sowie der gesamte Neothomismus. — Entsprechende Bewegungen vollziehen sich in den andern Ländern; in Frankreich ist sowohl die „Restaurationsphilosophie" der Cousin-Zeit, wie der „Spiritualismus" eines R a vaisBon oder S e c r £ t a n auf eine NeubegrUndung des Theismus eingestellt; B o u t r o u x bedeutet hier den Übergang zur Gegenwart. Besonders breit und maßgeblich tritt die theistische Strömung in der englischen Metaphysik unseres Zeitraums auf. Der Seelen- und Personenindividualismus (und von da vielfach der Pluralismus überhaupt) ist in Deutschland besonders eindringlich verfochten worden durch L o t z e , spater durch G. T h i e l e , T e i c h m ü l l e r , J . B e r g m a n n , V o l k e l t ; in Frankreich durch R e n o u v i e r (La nouveüe monadologie), D u r a n d de Gros u. a. — In England und Amerika (wo zu dem Vorbild der Mondadologie besonders noch Berkeleys Metaphysik der Geisteswelt hinzutritt) ist es, nach und neben anderen Durchfechtungen im 19. Jahrhundert, besonders der Pragmatismus ( S c h i l l e r , J a m e s ) , der für ein pluralistie univerte eintritt.

Eine zweite Grundströmung geht in der Richtung einer Fortbildung des „entwicklungsgeschichtlichen Pantheismus" (Diltheys Ausdruck für eine Kerntendenz in der idealistischen Bewegung) im Sinne einer Ergänzung und realistischen Vertiefung durch die naturwissenschaftliche Entwicklungslehre sowie einer durchgreifenderen Aufnahme des Dysteleologischen in den Wirklichkeits- und Weltbegriff, und damit auch in den Begriff des Absoluten selbst. In dieser Strömung werden alle Versuche der „Theodizee", die theistischen (z. B. Leibniz) wie die monistischpantheistischen (Bruno, Spinozismus, Identitätsphilosophie) und über-

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DIE FASSUNG

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h a u p t die Ü b e r z e u g u n g e n von der schlechthin d u r c h g ä n g i g e n S i n n h a f t i g k e i t , V e r n ü n f t i g k e i t u n d Z w e c k b e s t i m m t h e i t alles wirklichen Seins u n d Geschehens, als Selbstoffenbarungsprozesses eines a l l v o l l k o m m e n e n A b soluten — als Verfälschungen des E r f a h r b a r e n abgewiesen. Die schon bei Hegel (doch noch i m R a h m e n des Panlogismus) b e t o n t e , b e i m s p ä t e r e n Schelling d a n n tiefer i m Z u s a m m e n h a n g m i t einer wirklichen R e a l i t ä t der F r e i h e i t u n d des Bösen u n d einer v o r a u s g e s e t z t e n U r d u a l i t ä t in G o t t v e r s t a n d e n e T a t s ä c h l i c h k e i t der W e l t k o n f l i k t e , einer ü b e r a l l a n z u t r e f f e n den R e a l r e p u g n a n z v o n O r d n u n g u n d U n o r d n u n g , A u f b a u u n d Z e r s t ö r u n g , Sinnvoll-Notwendigem u n d Sinnlos-Zufälligem, g l ü c k h a f t e m L e b e n s s i n n u n d L e i d e n s v e r n i c h t u n g — wird hier (z. T . u n t e r d e r s t a r k e n E i n w i r k u n g v o n S c h o p e n h a u e r s N e u a u f r o l l u n g der m e t a p h y s i s c h e n W e r t f r a g e u n d seinem P r o t e s t gegen alle W e l t v o l l k o m m e n h e i t s l e h r e n ) als schlechterdings f u n d a m e n t a l e s W e s e n s m o m e n t der Weltwirklichkeit a n e r k a n n t u n d aus einer realen Gegensätzlichkeit u n d K o n f l i k t s p a n n u n g i m A b s o l u t e n selbst e r k l ä r t . Alle v e r s ö h n e n d - h a r m o n i s i e r e n d e A u f l ö s u n g des N e g i e r e n d e n in bloße P r i v a t i o n wird ebenso schroff abgewiesen wie die E r k l ä r u n g e n d u r c h d e n „ A b f a l l " des E n d l i c h e n . Die Welt ist O f f e n b a r u n g » - u n d Selbstw e r d e n s p r o z e ß des A b s o l u t e n ; also weisen die G e g e n s ä t z e in i h r a u f d e n U r g e g e n s a t z in diesem. Vollkommenheit u n d H a r m o n i e s t e h e n diesem evolutionistischen P a n t h e i s m u s a m E n d e u n d n u r a m E n d e des Prozesses. D e r G e d a n k e eines w e r d e n d e n , gegen die U n v o l l k o m m e n h e i t in sich u n d seinen Ä u ß e r u n g e n a n k ä m p f e n d e n , d u r c h Leiden u n d N o t der G e b u r t e n sich d u r c h r i n g e n d e n Absoluten streitet gegen d e n f e r t i g e n , l e i d f r e m d e n u n d v o m Bösen u n b e r ü h r t e n Schöpfergott wie gegen das göttlich-vollk o m m e n e All-Eine u n d die „ a b s o l u t e I d e e " . — D e m Menschen, in d e m der W e l t g r u n d zu B e w u ß t s e i n , freier Zielsetzung u n d S e l b s t b e w u ß t s e i n k o m m t , fällt d a b e i die hohe A u f g a b e e n t s c h e i d e n d e r M i t w i r k u n g zur S e l b s t v e r v o l l k o m m n u n g u n d Selbsterlösung des a b s o l u t e n Wesens zu. E i n hohes P a t h o s der, durch keine „ V o r s e h u n g " , d u r c h keine p r ä s t a b i lierte o d e r dialektisch p r ä d e t e r m i n i e r t e H a r m o n i e g e l ä h m t e n Freiheit u n d V e r a n t w o r t u n g des aus realen U n v o l l k o m m e n h e i t e n z u m wirklichen V o l l k o m m e n e n s t r e b e n d e n u n d w i r k e n d e n Menschen ist m i t der A n s c h a u ung vom werdenden Gott verbunden. Der größte u n d historisch einflußreichste Vertreter dieser Anschauung — die als lebendig wirksame Erlösungslehre von rein philosophisch-metaphysischer H e r k u n f t , ohne den H i n t e r g r u n d einer gewachsenen positiven Religion oder Religionsmystik ein vollkommenes N o v u m bedeutet in der Geschichte religiös-metaphysischer Geistess t r ö m u n g e n — ist, im 19. J a h r h u n d e r t , E. v. H a r t m a n n . I n der Gegenwart h a t die Metaphysik von M. S c h e l e r eine durchgreifende W a n d l u n g von einem sehr prononcierten Persönlichkeitstheismus zu solcher Auffassung vom Weltprozeß des ringenden u n d leidenden Absoluten genommen; Schelers Lehre von D r a n g u n d Geist als den beiden G r u n d a t t r i b u t e n dieses werdenden Gottes setzt H a r t m a n n s K e r n g e d a n k e n der U r d u a l i t ä t von Wille u n d Idee im Ansich des u n b e w u ß t e n Absoluten fort. Auch D r i e s c h neigt deutlich zu dieser Auffassung; sie dringt im übrigen mannigfach in der Philosophie der Gegenwart durch (z. B. bei Fr. K o t t j e , Vierkandt, Liebert, A. B a u m g a r t e n — vgl.

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dessen „Rechtsphilosophie" in diesem H a n d b u c h , S. 48f.; auch die Gotteslehre v o n H . Schwarz ist als v e r w a n d t e Anschauung hier zu nennen). — I n Frankreich gehen schon die Lehren v o n V a c h e r o t , wonach das wirklich Existierende immer n u r relativ vollk o m m e n sein, und die unendliche Vollkommenheit des Göttlichen nur als das i m m a n e n t wirksame Endideal des fortschreitenden Weltprozesses gedacht werden kann — sowie die G e d a n k e n W. M o n o d s in ähnlicher R i c h t u n g . Seit der J a h r h u n d e r t w e n d e e t w a h a t d a n n besonders die Lehre H . B e r g s o n s v o m schöpferischen Weltprinzip des elan vital, dessen (in der Freiheit des Menschen zur höchsten Lebensform sich steigernde) Bildungsk r a f t immer begrenzt, niemals allmächtig ist, u n d immer neu im K a m p f steht m i t den mechanisierenden dissoziierenden Tendenzen — Dieu se fait — , die stärkste W i r k u n g ausgeübt. Auch in E n g l a n d ist (z. B. bei S. L a u r i e ) Verwandtes aufgetreten. I m R a h m e n solcher W e l t a n s c h a u u n g werden d a n n meist, im Gegensatze zum theistisch f u n d a m e n t i e r t e n Pluralismus, die menschlichen S u b j e k t e nicht sosehr wie unvergängliche Substanzen, sondern vielmehr als bloß f u n k t i o n a l e K o n t r a k t i o n e n des absol u t e n Lebens angesehen ( E . v. H a r t m a n n , S c h e i e r ) . — Neben den a n g e f ü h r t e n großen S t r ö m u n g e n h a t auch eine dezidiert atheistische u n d irreligiöse Metaphysik im 19. J a h r h u n d e r t an Boden gewonnen. Sie ist d u r c h einige A n h ä n g e r Schopenhauers ( z . B . M a i n l ä n d e r ) v e r t r e t e n worden, in reinerer Durchf ü h r u n g der seinsverneinenden n n d überall den unversöhnbaren U n w e r t erblickenden W e l t a n s c h a u u n g ; eine breitere E n t f a l t u n g und Wirksamkeit h a t sie gefunden in der simplifizierenden u n d d e t r a k t i v gesonnenen P o p u l a r m e t a p h y s i k des Materialismus u n d , a m J a h r h u n d e r t e n d e , des materialistisch orientierten „ M o n i s m u s " ; — ihre ernstesten F o r m e n aber sind getragen von einem positiven (und vielfach selbst wieder bis an die Grenze des Religiösen gesteigerten) P a t h o s reiner Wirklichkeitszuwendung u n d tätiger Weltfreudigkeit, das alle Diesseits-Transzendenz, alle „Hinterweltlerei" und Erlösungssucht als Weltverleumdung n n d Lebensentleerung b e k ä m p f e n u n d d e m Menschen die absolute Autonomie u n d volle V e r a n t w o r t u n g f ü r die Gestaltung des gesamten, v o m Unwert überall b e d r o h t e n , zugleich aber immer höherer Entwicklung fähigen Daseins zusprechen will. I n dieser (schon von F e u e r b a c h eingeschlagenen) Richtung s t e h t vor allem N i e t z s c h e ; a u s der Gegenwart seien L. Z i e g l e r und D. H . K e r l e r g e n a n n t .

B. ENTWICKLUNG UND LEBEN ALS FUNDAMENTALPRINZIPIEN ALLES WIRKLICHEN. Weltanschauung und Wirklichkeitsmetaphysik unseres Zeitraums werden vielleicht durch nichts so einheitlich und umfassend charakterisiert, als durch die absolute ontologische Vorherrschaft der Begriffe „Entwicklung 1 1 und „Leben 4 '. I m 19. Jahrhundert bildet sich, unter dem ungeheuren Eindruck des Darwinismus und ähnlich gerichteter Tendenzen in der Auffassung der lebenden Natur, ein neuer metaphysischer E v o l u t i o n i s m u s heraus, der, entgegen der Entwicklungsmetaphysik des Idealismus, seine Erfahrungswurzel nicht im Seelisch-Geistigen und Geschichtlichen, sondern im Biologischen hat. Die alte, noch in der Naturphilosophie des Idealismus so maßgeblich gebliebene Überzeugung von der realen Unveränderlichkeit u n d k o n s t a n t e n Wesenstypik der organischen A r t e n weicht den naturwissenschaftlichen Lehren von der Transformation der A r t e n ineinander; auch dieses „ S e i n " also erweist sich als ein (zeitlich-reales) „Werd e n " — als n a t u r h a f t e , d u r c h natürliche Bedingungskonstellationen herbeigeführte und d u r c h reale Übergangsformen vermittelte Entwicklung des Höheren und Komplizierteren aus d e m relativ Niederen u n d Elementaren. — Der Evolutionsgedanke dieser Art u n d H e r k u n f t wird d a n n ü b e r t r a g e n auf das Ganze der N a t u r u n d von da auf das Wirkliche ü b e r h a u p t ; Entwicklung ist das allgemeinste Gesetz alles Geschehens u n d der Er-

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klärungshintergrund f ü r alle Wirklichkeitsschichten u n d -gestalten. I n natürlicher E n t wicklung geht das Organische ans den, selbst evolutiv e n t s t a n d e n e n , Systembildungen des Anorganischen h e r v o r ; u n d die S p h ä r e des Menschen — in f r ü h e r e n B e t r a c h t u n g s weisen vielfach ganz herausgerissen a u s den natürlichen Z u s a m m e n h ä n g e n — ist n u n aufs engste v e r b u n d e n mit dem Tierreich und d a d u r c h der ganzen N a t u r . Zivilisation u n d K u l t u r , Gesellschaftsbildung u n d Geschichte, alle geistigen Zielsetzungen des Menschen stehen u n t e r d e m gleichen Prinzip eines naturgesetzlich bedingten Aufstiegs u n d Fortschritts, das die untermenschliche Wirklichkeit gestaltet; so lehrt der Evolutionismus von Spencer bis Nietzsche u n d weiterhin.

Dieser n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h f u n d i e r t e m e t a p h y s i s c h e E v o l u t i o n i s m u s des 19. J a h r h u n d e r t s ist f a s t d u r c h w e g n a t u r a l i s t i s c h eingestellt. Überall soll nachgewiesen w e r d e n , d a ß das H ö h e r e „ n u r " K o m p l i z i e r u n g u n d — u n t e r v e r ä n d e r t e n B e d i n g u n g e n , wahrscheinlich a u c h in u n m e r k l i c h e n G r a d u n t e r s c h i e d e n h e r a u s w a c h s e n d e — F o r t s e t z u n g des N i e d e r e n ist. D e r Mensch geht aus d e m Tierreich, also der Geist aus der N a t u r in e i n f a c h e r Folge u n d A b h ä n g i g k e i t h e r v o r . Die Gesetze des seelisch-geistigen Lebens, der gesellschaftlichen u n d geschichtlichen E n t w i c k l u n g e n sind Naturgesetze — v o m gleichen T y p u s u n d G r u n d g e h a l t wie die Gesetze der a n o r g a n i s c h e n u n d der o r g a n i s c h e n N a t u r . Die apriorischen E r f a h rungs- u n d E r k e n n t n i s b e d i n g u n g e n i m menschlichen Geiste m ü s s e n als allmählich e n t s t a n d e n e E r b a n l a g e n d e r G a t t u n g v e r s t a n d e n w e r d e n . A u c h das Sollen ist d u r c h die t a t s ä c h l i c h b e o b a c h t b a r e E n t w i c k l u n g s r i c h t u n g des U n i v e r s u m s v o r g e s c h r i e b e n . — I m Ü b e r g a n g z u m 20. J a h r h u n d e r t a b e r e r f ä h r t d a s m e t a p h y s i s c h e E n t w i c k l u n g s p r i n z i p eine t i e f g e h e n d e W a n d l u n g ; i h r e n w i r k s a m s t e n Ausd r u c k h a t diese, n a c h d e n V o r g ä n g e n v o n Fouillée u n d G u y a u einerseits u n d B o u t r o u x a n d e r e r s e i t s , g e f u n d e n in H . B e r g s o n s Titelbegriff d e r Evolution créatrice. E n t w i c k l u n g ist n i c h t q u a s i m e c h a n i s c h e s , in der eind e u t i g e n D e t e r m i n a t i o n von B e d i n g u n g s k o n s t e l l a t i o n e n v o r a u s b e s t i m m bares Geschehen, s o n d e r n L e b e n — u n d das h e i ß t : schöpferischer u n d gleichsam f r e i - e r f i n d e n d e r Ü b e r g a n g zu n e u e n u n d n e u e n G e s t a l t u n g e n ! Das H ö h e r e geht a u s d e m N i e d e r e n h e r v o r als ein, bei aller B e d i n g t h e i t d u r c h die t r a g e n d e n K o n s t e l l a t i o n e n , völlig A n d e r e s u n d Neues. L e b e n ist i m m a n e n t e S c h ö p f u n g ; ein schöpferisches L e b e n b e s t i m m t alles E n t wicklungswerden d e r N a t u r u n d der g e s a m t e n W i r k l i c h k e i t . — D a m i t wird n u n der G e g e n s a t z v o n Geist u n d N a t u r , Menschengeschichte u n d N a t u r g e s c h i c h t e ü b e r b r ü c k b a r . E i n neues, v o n den n a t u r a l i s t i s c h e n Vore i n g e n o m m e n h e i t e n sich ablösendes Prinzip des „ L e b e n s " s u c h t auf eine tiefere E i n h e i t j e n e r a l t e n D u a l i t ä t u n d Gegensätzlichkeit d u r c h z u s t o ß e n . Die vielfach v e r s c h ü t t e t e n E n t w i c k l u n g s - u n d Lebensprinzipien des d e u t schen Idealismus d r i n g e n d u r c h die n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h b e d i n g t e n u n d orientierten G e d a n k e n s c h i c h t e n h i n d u r c h (bei Bergson z. B. Schelling, auch S c h o p e n h a u e r ) u n d v e r e i n e n 6ich i h n e n ; das i m S p ä t i d e a l i s m u s u n d bei v e r w a n d t e n D e n k e r n ( F r o h s c h a m m e r ! ) in d e n V o r d e r g r u n d gestellte m e t a p h y s i s c h e Prinzip einer i m m a n e n t - s c h ö p f e r i s c h e n P h a n t a s i e

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tritt wieder in neuer Form zutage. In Deutschland hat E. v. H a r t m a n n , unbeirrt von der naturalistischen Gebundenheit seiner Umwelt, die Synthese von Anfang an gesucht. So ist denn allenthalben aus dem naturalistischen Evolutionismus eine ebensosehr aufs Geistige wie aufs Naturhafte gerichtete, ebensosehr für die Kultur- und Geschichtsphilosophie fruchttragende, wie mit Naturwissenschaft und Naturphilosophie verbundene Metaphysik des Lebens hervorgewachsen. Ihre Ausprägungen in Weltanschauung und Metaphysik der Gegenwart sind mannigfach. In Deutschland sind noch besonders N i e t z s c h e , D i l t h e y , S i m m e l Urheber und Führer der „Lebensphilosophie" geworden; beim letztgenannten ist der Umschwung von der naturalistischen zur neuen, die Metaphysik der Kultur in den Kern der Begriffsfassung v o m „Leben" hineinziehenden Haltung besonders interessant zu verfolgen. I n dieser neuen L e b e n s m e t a p h y s i k h a t der Entwicklungsgedanke sich losgelöst aus der Bindung a n das Prinzip stetigen F o r t s c h r i t t s . Die schöpferische A k t i v i t ä t der N a t u r wird mehr als ein gleichsam frei spielendes, erfinderisch probierendes und in eine verschwenderische Mannigfaltigkeit von F o r m e n sich ergießendes Leben aufgefaßt, das zugleich mit der Steigerung zu höheren u n d höchsten P r o d u k t e n überall auch auf Mißratenes hinausläuft, in Sackgassen u n d E r s t a r r u n g sich verliert — denn als ein zielgerichtetes, in j e d e m Schritte u n b e w u ß t zielsicheres und durch ideelle Formprinzipien in den großen Zügen teleologisch prädeterminiertes Streben. Und ganz besonders werden j e t z t v o n den E r f a h r u n g e n der geistig-geschichtlichen Wirklichkeit her — in allgemeiner R e a k t i o n gegen den im Lauf des 19. J a h r h u n d e r t s so stark ins Aufklärerisch-Zivilisatorische verblaßten und v e r h ä r t e t e n F o r t s c h r i t t s o p t i m i s m u s — Entwicklung und Leben ebensosehr als F o r t s c h r i t t wie als Verfall, Aufgang wie Niedergang, Sinnbildung wie Mißbildung u n d Sinnvernichtung gefaßt. Auch hier und gerade hier wird die teleologische P r ä d e t e r m i n a t i o n verworfen; u n d a n die Stelle der im (spekulativ begreifbaren) Gesamtplan absolut gerechtfertigten S t u f e n der E n t w i c k l u n g t r i t t die, zum wenigsten f ü r uns, nicht mehr aus einem tieferen Einheitssinn zu verstehende u n d etwa darin aufzuhebende R e l a t i v i t ä t der auf- u n d a b w ä r t s s t r e b e n d e n , einander durchkreuzenden, nie auf Endgültiges hinaustreibenden Geschehensphasen u n d Geschehensreihen. Das Eine Leben wird als ein schlechthin Unbegreifliches u n t e r h a l b aller wechselnden Äußerungen in den Lebensformen und Ideenbildungen vorausgesetzt; seine unerschöpfliche Aktualität entzieht sich jeder S t a t i k der Begriffe, u n d jeder vorzeichnenden K o n s t r u k t i o n ; — unsere Begriffe selbst sind jeweils F u n k t i o n e n u n d perspektivisch bedingte Blickweisen einer P h a s e des Lebens, nicht aber endgültige u n d a d ä q u a t e Fixierungen seiner innersten Strukturgesetzlichkeit. Der Aktualismus u n d HeraklitiBmus der neuen Lebensmetaphysik will grundsätzlicher, umfassender die I r r a t i o n a l i t ä t der Wirklichkeit (in N a t u r u n d Geschichte) anerkennen u n d aufdecken, als es die Systemspekulationen des Idealism u s v e r m o c h t e n . Und in die verehrende H i n g a b e a n die unerschöpfliche Fülle und dämonisch spielende K r a f t , a n die unendliche u n d ruhelose P r o d u k t i v i t ä t deB „Lebens" soll das durch keine synthetischen Versöhnungskonstruktionen abgeschwächte tragische Bewußtsein v o m i m m e r w ä h r e n d e n Untergang der Bildungen u n d v o m ewigen Widerstreit der Lebensmächte a u f g e n o m m e n werden.

C. MATERIE UND GEIST; MECHANISMUS, TELEOLOGIE UND FREIHEIT. Ein beträchtlicher Teil des metaphysischen Interesses ist im 19. Jahrhundert und bis ins 20. hinein, in Anspruch genommen worden durch

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das j ä h e Anschwellen des M a t e r i a l i s m u s u n d dessen „ L ö s u n g e n " der „Welträtsel". W e n n im 18. J a h r h u n d e r t F r a n k r e i c h der eigentliche Lebensbaden der materialistischen Metaphysik geworden war, so t r i t t diese j e t z t (mit neuem Einsatz u m die J a h r h u n d e r t m i t t e ) vor allem in Deutschland — als ein extremer Rückschlag gegen die vorherige Hochflut des spiritualistischen Idealismus — einen neuen Siegeszug in der breiteren Öffentlichkeit an. Der gedankliche u n d problematische Gehalt Bteht dabei (wie j a schon im französischen Materialismus) in keinem Verhältnis z u m Überzeugungspathos und zur Überredungswirkung — t r o t z aller H i n e i n n a h m e neuer naturwissenschaftlicher Entdeckungen und Lehren, insbesondere des Darwinismus. I n W a h r h e i t sind in dieser als „naturwissenschaftliche W e l t a n s c h a u u n g " sich fohlenden u n d anpreisenden Wirklichkeitslehre nicht sowohl nur b e s t i m m t e Thesen u n d Einstellungen f r ü h e r e r Metaphysik verlassen, sondern vielmehr so g u t wie alle großen P r o b l e m t r a d i t i o n e n verloren worden. N u r die damals P l a t z greifende philosophische Unbildung sehr weiter Kreise kann es erklären, d a ß diese p l a t t e n P h i l o s o p h e n » (z. B . eines B ü c h n e r ) so viel Anklang gewinnen, u n d gar in einem wirklichen F ü h r e r der Naturwissenschaft ( H ä c k e l ) noch a m J a h r h u n d e r t e n d e ihre Fortsetzung finden k o n n t e n .

V o n e r n s t e r e r u n d sehr viel weiter r e i c h e n d e r B e d e u t u n g w a r die, g e r a u m e Zeit h i n d u r c h das wissenschaftliche u n d m e t a p h y s i s c h e D e n k e n der meisten Forscher b e s t i m m e n d e , m i t d e m Materialismus gern zus a m m e n g e h e n d e , aber keineswegs auf i h n b e s c h r ä n k t e T e n d e n z des 19. J a h r h u n d e r t s zur m e c h a n i s t i s c h e n N a t u r - u n d W e l t a u f f a s s u n g ; — F o r t s e t z u n g j e n e r einst m i t D e s c a r t e s einsetzenden, i n H o b b e s u n d Spinoza d a n n die gesamte Seinslehre b e s t i m m e n d e n neuzeitlichen S t r ö m u n g des m e t a p h y s i s c h e n M e c h a n i s m u s . E i n e b e s t i m m t e Zeitlage d e r N a t u r wissenschaften w i r k t hier z u s a m m e n m i t einer h e f t i g e n R e a k t i o n gegen die Ü b e r s p a n n u n g e n des Teleologismus in der idealistischen M e t a p h y s i k u n d N a t u r p h i l o s o p h i e . N u n will die M e c h a n i k der B e w e g u n g e n u n d W i r k u n g e n , der K o m p l e x - u n d S y s t e m b i l d u n g e n i m A n o r g a n i s c h e n als W e s e n s t y p u s alles Wirklichkeitsgeschehens u n d aller Z u s a m m e n h a n g s g e s t a l t u n g ü b e r h a u p t e r s c h e i n e n ; die m e c h a n i s c h e K a u s a l i t ä t soll als Urbild aller Seinsgesetzlichkeit gelten. Nicht n u r der biologische Bereich, a u c h das Seelenleben des Menschen u n d die Gesellschaftsbildung w e r d e n in dieser P e r s p e k t i v e a n g e s e h e n ; eine mechanistische Psychologie u n d Soziologie beginnt sich a u s z u b i l d e n ; m i t i h r e r Hilfe sollen n u n a u c h die A u f g a b e n d e r Geisteswissenschaften auf w a h r h a f t wissenschaftliche A r t in Angriff g e n o m m e n w e r d e n . D e r D a r w i n i s m u s u n d der E v o l u t i o n s g e d a n k e ü b e r h a u p t wird ganz ins Q u a n t i t a t i v - M e c h a n i s c h e h i n ü b e r g e d r ä n g t u n d d i e n t d e r m e c h a n i s t i s c h e n M e t a p h y s i k als e n t s c h e i d e n d e S t ü t z e . — F ü r den Begriff des Menschen u n d seines geschichtlichen W i r k e n s ergibt sich als Folge d e r D e t e r m i n i s m u s . Wie es keine K o n t i n genz in den N a t u r b e r e i c h e n g e b e n k a n n u n d keine teleologischen Bes t i m m u n g e n n e b e n den k a u s a l m e c h a n i s c h e n Gesetzen, so d a r f n u n a u c h , v o m „ w i s s e n s c h a f t l i c h e n " S t a n d p u n k t aus, in der S p h ä r e des Menschen von Freiheit im m e t a p h y s i s c h e n Sinne n i c h t m e h r die R e d e sein. Die „ I l l u s i o n " der Willensfreiheit wird d u r c h die a n den N a t u r w i s s e n s c h a f t e n

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orientierte Psychologie u n d Soziologie beseitigt. Neu a u f g e d e c k t e Determ i n a t i o n s z u s a m m e n h ä n g e (biologisch-physiologische B e d i n g t h e i t e n des psychischen Lebens, Milieu, Statistik) werden als u n m i t t e l b a r zulängliche B e s t ä t i g u n g g e n o m m e n . Der D e t e r m i n i s m u s n i m m t a m E n d e , besonders a u c h in der M e t a p h y s i k d e r Psychologen, die F o r m dogmatischer Selbstverständlichkeit an. — Diesen so rasch u n d a n h a l t e n d die wissenschaftliche, erst r e c h t die b r e i t e r e P o p u l a r i t ä t g e w i n n e n d e n S t r ö m u n g e n des Materialismus u n d M e c h a n i s m u s gilt n u n der K a m p f der meisten Metaphysiker in u n s e r e m Z e i t r a u m . I n s b e s o n d e r e wird es zu einem C r u n d t h e m a fast aller e r n s t e r e n S y s t e m e : die W e s e n s g r e n z e n der mechanistischen B e t r a c h t u n g s w e i s e aufz u d e c k e n — o h n e d o c h ihre wissenschaftliche Notwendigkeit auf ganz b e s t i m m t e m Seinsbereich in Zweifel zu ziehen. Von der n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Basis selbst a u s g e h e n d , suchen L o t z e oder F e c h n e r oder E . v . H a r t m a n n — u n d viele andere d a n e b e n u n d seitdem, bis in die G e g e n w a r t hinein ( B e r g s o n , D r i e s c h , W . S t e r n ) — die naturalistische V e r g e w a l t i g u n g der seelisch-geistigen Wirklichkeit, die Sinnentleerung u n d - e r t ö t u n g i m g e s a m t e n W e l t b i l d , die i r r e f ü h r e n d e V e r k e n n u n g aller überm e c h a n i s c h e n B e s t i m m u n g s w e i s e n u n d S t r u k t u r e n zuvörderst schon i m Reich des Organischen, erst r e c h t i m Seelischen u n d im Sozialen a u f z u d e c k e n u n d zu ü b e r w i n d e n — u m ihrerseits n u n ü b e r g e o r d n e t e Prinzipien teleologischer u n d s i n n k o n s t i t u t i v e r A r t u n g , zugleich die irreduzible E i g e n r e a l i t ä t des B e w u ß t s e i n s u n d des geistig-ideellen, u n t e r der Ford e r u n g freier Zielsetzungen sich vollziehenden Lebens in den M i t t e l p u n k t des W e l t b e g r i f f s zu stellen. E i n e Neubelebung Aristotelischer N a t u r - u n d W e l t a u f f a s s u n g (als wichtiger V o r k ä m p f e r in D e u t s c h l a n d sei T r e n d e l e n b u r g , f ü r F r a n k r e i c h R a v a i s s o n g e n a n n t ; der N e u t h o m i s m u s geht n a t ü r l i c h v e r w a n d t e Wege) w i r k t in der gleichen R i c h t u n g . Schließlich greift die T e n d e n z auf Ü b e r w i n d u n g des bloßen Mechanismus sogar auf w e i t g e h e n d n o c h n a t u r a l i s t i s c h orientierte D e n k s t r ö m u n g e n über ( P r a g m a t i s m u s , Schiller). Auf w e i t e n S t r e c k e n der Metaphysikgeschichte des 19. J a h r h u n d e r t s ist es sogar ein a u s g e s p r o c h e n e r S p i r i t u a l i s m u s oder P a n p s y c h i s m u s , d e r sich den m a t e r i a l i s t i s c h - n a t u r a l i s t i s c h e n Zeittendenzen entgegenstellt; ä u ß e r s t e Gegensätzlichkeit der Lager ist vielfach charakteristisch f ü r diese u n g e k l ä r t e Zeit. So stellen sich die meisten der b e d e u t e n d e r e n Metap h y s i k e r F r a n k r e i c h s — e t w a (nach den Anfängen u n d V e r m i t t l u n g e n bei M a i n e d e B i r a n u n d Cousin) V a c h e r o t , R a v a i s s o n , S e c r e t a n , R e n o u v i e r , L a c h e l i e r — auf spiritualistischen B o d e n ; im Psychisch-Geistigen u n d seinen teleologischen Bestimmungsweisen wird das Essentielle aller W i r k l i c h k e i t g e s u c h t . I n D e u t s c h l a n d ist, neben den mehr von der idealistischen T r a d i t i o n noch oder n e u b e s t i m m t e n S t r ö m u n g e n ( E . v . H a r t m a n n , E u c k e n u. a.), besonders b e m e r k e n s w e r t noch die H i n n e i g u n g d e r Psychologen — bei bleibender V o r h e r r s c h a f t zunächst d e r n a t u r -

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wissenschaftlichen Denkweise in den Methoden u n d A n s c h a u u n g e n — zur Lehre v o m m e t a p h y s i s c h e n V o r r a n g der inneren W a h r n e h m u n g u n d also der psychischen R e a l i t ä t ; vielfach ist dabei die A b h ä n g i g k e i t v o n Fechners P a n p s y c h i s m u s m i t b e s t i m m e n d . So zielen W . W u n d t , L i p p s , M ü n s t e r b e r g , E . B e c h e r , in Holland H e y m a n s a u f einen u n m i t t e l b a r e n Z u g a n g zur absoluten Wirklichkeit d u r c h S e l b s t w a h r n e h m u n g des Bewußtseins ; das Räumlich-Physische, Mechanisch-Materielle der ä u ß e r e n N a t u r relativiert sich zur „ E r s c h e i n u n g " . Bei D e n k e r n wie D i l t h e y , T e i c h m ü l l e r , P a u l s e n (in der Gegenwart M. S c h e l e r ) t r e t e n , v o n a n d e r n A u s g a n g s p u n k t e n u n d in anderen Z u s a m m e n h ä n g e n , v e r w a n d t e G e d a n k e n g ä n g e zutage. — I m englischen K u l t u r b e r e i c h v e r e i n t sich m i t den E i n f l ü s s e n von Leibniz u n d Hegel her die a l t e T r a d i t i o n des Berkeleyschen Spiritualismus u n d P h ä n o m e n a l i s m u s ( R e a d , F r a s e r , W a r d , a u c h Schiller; v e r w a n d t n o c h Clifford, T a g g e r t , B o n s a n q u e t , S t o u t u. A.). Besonders stark ist in diesen Zusammenhängen der Einschlag des V o l u n t a r i s mus, der ü b e r h a u p t in der Metaphysik des späteren 19. J a h r h u n d e r t s weiter an Boden gewonnen h a t . Schellings u n d dann besonders Schopenhauers metaphysische Willenslehre wirkt weiter in E. v. H a r t m a n n u n d Drews, in Nietzsches Ansätzen zu einer Metaphysik des Willens zur Macht, bei Paulsen u n d W u n d t ( — zu schweigen von d e n Schopenhauerjüngern von der Art der Bahnsen, Hamerling, Mainländer). Voluntaristische Tendenzen erfüllen weitgehend — zum Teil auch von Maine de Biran her — die Konzeptionen f r a n zösischer Denker (Renouvier, Lachelier, Fouillée); in E n g l a n d ist z. B. Martineau dadurch bestimmt. Auch der P r a g m a t i s m u s birgt im I n n e r n eine voluntaristische Metaphysik.

Besonders v o m B o d e n des Spiritualismus aus u n d v o n den n e u sich d u r c h s e t z e n d e n idealistischen T r a d i t i o n e n h e r (aber n i c h t n u r von d a ) wird d a n n auch der K a m p f u m die F r e i h e i t d e s W i l l e n s gegen d e n mechanistischen u n d den naturalistisch-soziologischen D e t e r m i n i s m u s a u f g e n o m m e n . Der m e t a p h y s i s c h e Gehalt der F r e i h e i t s f r a g e ist zwar in vielen Schulen des s p ä t e r e n 19. J a h r h u n d e r t s möglichst i m H i n t e r g r u n d belassen u n d d u r c h eine Ü b e r b e t o n u n g bloß e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e r u n d ethischer Betrachtungsweisen v e r d e c k t w o r d e n , a b e r a u s s c h a l t e n u n d d u r c h a u s verleugnen ließ er sich doch n i e ; a u c h b e i m w e i t e s t e n A b r ü c k e n von d e n Seinsfragen der M e t a p h y s i k blieb doch dies K e r n p r o b l e m menschlichen Daseins i m m e r irgendwie im M i t t e l p u n k t e der Philosophie. D e r allgemeinen Ü b e r s c h w e m m u n g des Zeitalters m i t den m e c h a n i s t i s c h - d e t e r ministischen G e d a n k e n g ä n g e n h a b e n sich im Gefolge K a n t s L i e b m a n n u. A., in F o r t s e t z u n g des Idealismus E . v . H a r t m a n n , E u c k e n , J o e l , auch M ü n s t e r b e r g u n d H . S c h w a r z (auf psychologischer Basis), v o n Lotze h e r M. W e n t s c h e r , im k a t h o l i s c h - n e u t h o m i s t i s c h e n Lager G u t b e r i e t u n d viele a n d e r e entgegengestellt ; von i h n e n allen gehen A n s ä t z e zu einer M e t a p h y s i k der Freiheit aus. I n der j ü n g s t e n G e g e n w a r t ist N. H a r t m a n n (im R a h m e n seiner „ E t h i k " ) mit einer Analyse des Freiheitsproblems, u n t e r besonderer B e t o n u n g eben gerade seines m e t a p h y s i s c h e n Gehalts, u n d in V e r k n ü p f u n g mit der zugleich b e g o n n e n e n N e u b e h a n d l u n g

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der F u n d a m e n t a l p r o b l e m e der Ontotogie, h e r v o r g e t r e t e n . Das V e r h ä l t n i s realer m e t a p h y s i s c h e r Freiheit zur d u r c h g ä n g i g e n kausalen D e t e r m i n a t i o n des Wirklichen wird hier (in k r i t i s c h - a n a l y t i s c h e r , v o n den gegebenen P h ä n o m e n e n zu den v o r a u s z u s e t z e n d e n Seinsbeziehungen u n d -schichten d u r c h s t o ß e n d e r Forschung) in ein d u r c h a u s neues L i c h t g e r ü c k t . — Besonders s t a r k e W i r k u n g ist v o n der französischen Philosophie u n d Metap h y s i k der Freiheit ausgegangen. E i n großer Teil der f ü h r e n d e n S y s t e m e h a t in F r a n k r e i c h , bis in die j ü n g s t e Zeit, die f u n d a m e n t a l e R e a l i t ä t der Freiheit zum K e r n - u n d Zielgedanken. R e n o u v i e r u n d L a c h e l i e r f ü h r e n K a n t s u n d Maine de Birans F r e i h e i t s t e n d e n z e n , in A u s e i n a n d e r s e t z u n g der teleologischen B e s t i m m u n g e n m i t den k a u s a l e n D e t e r m i n a t i o n e n f o r t u n d f ü g e n sie ihren Wirklichkeitsbegriffen e i n ; B o u t r o u x u n d B e r g s o n d a n n entwickeln in ständiger A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d e r — in i h r e r relat i v e n Geltung a n e r k a n n t e n u n d e r k l ä r t e n — q u a n t i t a t i v - m e c h a n i s c h e n N a t u r a u f f a s s u n g (wichtig h i e r f ü r der V o r g a n g v o n B o r d a s - D u m o u l i n in der ersten J a h r h u n d e r t h ä l f t e ) eine allgemeine M e t a p h y s i k der K o n t i n genz u n d der schöpferisch f o r t s c h r e i t e n d e n A k t i v i t ä t , die in der Willensfreiheit des Menschen gipfelt. Der M e c h a n i s m u s wird, in der N a t u r wie in der Bewußtseinswelt, z u m m e t a p h y s i s c h S e k u n d ä r e n , zu einem r e l a t i v p h ä n o m e n a l e n Außensein gegenüber d e m a b s o l u t e n inneren F u n d a m e n t a l prinzip der freien S e l b s t e n t f a l t u n g . Bei Bergson ist hier von besonderer B e d e u t u n g noch die neue Beziehung des Freiheitsprinzips auf das neu in den M i t t e l p u n k t der M e t a p h y s i k g e r ü c k t e P r o b l e m der Zeit, u n d seine radikale A b w e h r jeder P r ä d e t e r m i n a t i o n , der teleologischen so g u t wie der kausalmechanischen. D. ONTOLOGIE UND K A T E G O R I E N F O R S C H U N G . U n t e r den m e t a p h y s i s c h e n S o n d e r g e b i e t e n ist i m Verlauf des 19. J a h r h u n d e r t s besonders s t a r k z u r ü c k g e t r e t e n u n d in Verfall geraten die bei Hegel, aber a u c h bei den „ B e g l e i t e r n " der idealistischen B e w e g u n g (übrigens auch bei H e r b a r t ) u n d i m g a n z e n Spätidealismus noch so großzügig entwickelte Ontologie u n d K a t e g o r i e n l e h r e . Die ü b e r r a g e n d e n Leis t u n g e n von T r e n d e l e n b u r g (auf n e u e r a r b e i t e t e r Aristotelischer Basis) u n d , a m E n d e des J a h r h u n d e r t s , von E . v . H a r t m a n n ( F o r t f ü h r u n g der idealistischen T r a d i t i o n , e r n e u t e V e r a r b e i t u n g der historisch vorliegenden Kategorienlehren), in F r a n k r e i c h e t w a n o c h die i m Anschluß an K a n t ausgebildete, sehr wesentlich e r w e i t e r t e K a t e g o r i e n l e h r e R e n o u v i e r s — stehen d u r c h a u s vereinzelt d a in diesem Z e i t r a u m . Mit A u s n a h m e n u r der n e u t h o m i s t i s c h e n Bewegung, die die a l t e Aristotelische T r a d i t i o n aufn i m m t , werden die Kategorien i m s p ä t e r e n 19. J a h r h u n d e r t f a s t durchweg n u r noch als F o r m e n des D e n k e n s u n d E r k e n n e n s , nicht m e h r als Urweisen des Seins v e r s t a n d e n u n d b e h a n d e l t ; die in K a n t wirkende Tendenz zur Auflösung der Ontologie in t r a n s z e n d e n t a l e Logik wird n u n — doch ohne E i n g e s t ä n d n i s der bei K a n t selbst maßgeblichen metaphysisch-

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idealistischen G r u n d v o r a u s s e t z u n g — g a n z allgemein v o r h e r r s c h e n d , vor allem n a t ü r l i c h i m N e u k a n t i a n i s m u s (vgl. die in diesem R a h m e n bedeut u n g s v o l l e K a t e g o r i e n l e h r e H . Cohens). A u c h die in dieser Zeit e n t s t a n d e nen historischen M o n o g r a p h i e n ü b e r einzelne G r u n d k a t e g o r i e n n e h m e n ihre sachliche P e r s p e k t i v e f a s t i m m e r v o m E r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n u n d Methodologischen her. Begriff u n d A u f g a b e der Ontologie sind geraume Zeit h i n d u r c h so g u t wie vergessen. — A u c h in dieser Sache b e d e u t e t der Ü b e r g a n g z u m 20. J a h r h u n d e r t eine e n t s c h i e d e n e W e n d u n g . Mit der Gegenstandslehre Meinongs u n d der P h ä n o m e n o l o g i e Husserls s e t z t ein neues Interesse u n d eine neue Blickfähigkeit f ü r die g e g e n s t ä n d l i c h v o r f i n d b a r e n u n d u n m i t t e l b a r geg e b e n e n S a c h g e h a l t e ein — a b s e h e n d v o n aller B e a r b e i t u n g d u r c h D e n k e n u n d W i s s e n s c h a f t —, die m i t i n n e r e r Notwendigkeit zur allmählichen W i e d e r a u f n a h m e ontologischer B e t r a c h t u n g s w e i s e n u n d zu einer n e u e n A n e r k e n n u n g des P r i m a t s des Seins v o r d e m E r k e n n e n f ü h r e n m u ß t e n . Gleichzeitig h a t , n a c h der H o c h f l u t idealistisch gerichteter E r k e n n t n i s t h e o r i e n , die s t ä r k e r e B e t o n u n g des realistischen Prinzips in der E r k e n n t nis den ontologischen G r u n d s i n n der Kategorie wieder s i c h t b a r werden lassen ( E . v . H a r t m a n n , K ü l p e , N . H a r t m a n n ) . — Von ganz zentraler B e d e u t u n g n u n f ü r das d a m i t b e g i n n e n d e Neuerwachen der ontologischen A u f g a b e der M e t a p h y s i k ist d e r A u s g a n g v o n den einzelnen Seinsbereichen — an Stelle der n u r i m geschlossenen S y s t e m z u s a m m e n h a n g u n d m i t d e m A n s p r u c h der f e r t i g e n Seinsüberschau a u f t r e t e n d e n Ontologie der f r ü h e r e n Zeit. Die n e u e „ i n d u k t i v e " , auf den genauesten Zus a m m e n h a n g m i t d e n Prinzipien u n d Ergebnissen der ( a u t o n o m e n ) Einzelw i s s e n s c h a f t e n g r u n d s ä t z l i c h eingestellte R i c h t u n g der M e t a p h y s i k t r ä g t die T e n d e n z auf ein „ o f f e n e s " S y s t e m der Kategorien (Rickert) in sich, d a s d u r c h Z u s a m m e n b a u u n d vergleichende Angliederung selbständig a n den einzelnen Seinsschichten g e w o n n e n e r W e s e n s m o m e n t e erst herauszubilden i s t . (Die Kantisch-idealistische F o r d e r u n g einer „ D e d u k t i o n " der K a t e g o r i e n ist dagegen ganz z u r ü c k g e t r e t e n . ) So fordert H u s s e r l deskriptiv zu gewinnende „regionale Ontologien" der einzelnen Seinsgebiete (z. B. Ontologie der N a t u r , Ontologie der Lebewesen, Ontologie der sozialen Gemeinschaften) als material-synthetische Disziplinen im R a h m e n einer umfassenden formalen (logisch-analytischen) Ontologie als Wesenswissenschaft vom Gegenstand überh a u p t ; auf die spezifischen Sachgegebenheiten u n d Wesensformen der jeweiligen Region von Gegenständen u n d auf ihre Prinzipienbedeutung in den entsprechenden Wissenschaften (Naturwissenschaften, Soziologie usw.) k o m m t es ihm an. Schüler von Husserl ( C o n r a d - M a r t i u s , G. W a l t h e r ) h a b e n d a n n Teile solcher Ontologien aufgebaut. W e n n dieser Begriff der Ontologie u n d ihrer „eidetischen" Kategorienforschung allerdings zunächst noch auf die „ G e g e n s t ä n d e " als Korrelate der „Erlebnisse" eingeschränkt bleiben wollte, und mit der „ P h ä n o m e n o l o g i e " als Wesenswissenschaft v o m transzendentalen Bewußtsein, seiner K o n s t i t u t i o n und Schichtungen verklammert blieb — so ist der neue A n s a t z doch auch von der g r ö ß t e n Bedeutung f ü r die metaphysische Ontologie; in Wirklichkeit tendiert j a j e t z t auch die Philosophie der Phänomenologen allenthalben vom bloß vermeinten Gegenstand auf das reale Sein der Dinge und deren Wesensformen

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hin ( S c h e l e r , H e i d e g g e r , C o n r a d - M a r t i u s ; vgl. übrigens auch, in ganz a n d e r e m Schulzusammenhang, den Übergang von der Immanenzontologie zur Ontologie der bewußtseinstranszendenten Wirklichkeit in G. J a c o b y s Allgemeiner Ontologie der Wirklichkeit).

E i n e n sehr b e d e u t s a m e n Ansatz zu neuer Ontologie auf der Basis der n a t ü r l i c h e n u n d wissenschaftlichen E m p i r i e h a t , noch i m s p ä t e n 19. J a h r h u n d e r t , E . B o u t r o u x — im R a h m e n u n d im Dienste seiner teleologischen M e t a p h y s i k der K o n t i n g e n z u n d Freiheit — gegeben. D e n i m m e r n u r zur R e d u k t i o n der Seinsarten u n d -gesetze auf die e i n f a c h s t e E i n h e i t h i n s t r e b e n d e n T e n d e n z e n des Zeitalters (besonders im n a t u r a l i s t i s c h e n Evolutionismus) h a t t e schon Renouvier die grundsätzliche Ü b e r z e u g u n g von der w e s e n h a f t e n u n d irreduziblen Verschiedenheit d e r Seinsweisen u n d Wirklichkeitsgesetze entgegengestellt. I n diesem Sinne n u n b e m ü h t sich B o u t r o u x u m eine differenzierende H e r a u s a r b e i t u n g der Seinsschichten (als einer Vielheits-Hierarchie von „ W e l t e n " i n d e m E i n e n U n i v e r s u m , sich ü b e r e i n a n d e r f ü g e n d wie die E t a g e n eines a r c h i t e k t o nischen A u f b a u s ) u n d insbesondere u m die Auszeichnung i h r e r jeweiligen selbsteigenen Z u s a m m e n h a n g s g e s e t z e u n d D e t e r m i n a t i o n s t y p e n . Ü b e r die Schichten reiner Quantitätsgesetzlichkeiten, des bloßen „ S e i n s " , seiner A r t e n u n d a b s t r a k t e n F o r m e n e r h e b t sich die physische W e l t der Materie u n d der physikalisch-chemischen K ö r p e r ; d a r ü b e r die Welt des Lebendigen, u n d endlich die Welt des Menschen, Bewußtsein u n d P e r s o n a l i t ä t . U n d hierbei ist n u n eben B o u t r o u x s H a u p t i n t e r e s s e nicht so sehr auf die jeweilige reale B e d i n g t h e i t u n d Abhängigkeit der höheren Schicht v o n der niederen ( T h e m a des N a t u r a l i s m u s aller Arten) gerichtet, u n d auch nicht — wenigstens z u n ä c h s t nicht — auf das evolutive F o r t t r e i b e n v o n j e d e r S t u f e auf die n ä c h s t e ( T h e m a des dialektischen Idealismus u n d Teleologismus) — als vielmehr auf die jeweils f ü r j e d e S t u f e charak« teristische, nie auf die anderen z u r ü c k f ü h r b a r e u n d somit in sich selbständige Seinskonstitution u n d deren Wesensform. Beide Ansätze, j e n e eidetische Ontologie der P h ä n o m e n o l o g e n u n d dieser v o n B o u t r o u x h e r k o m m e n d e , in A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit den spezifischen Gehaltsprinzipien der Einzelwissenschaften ( M a t h e m a t i k , P h y s i k , Biologie, Psychologie usw.) sich h e r a u s a r b e i t e n d e — h a b e n n u n in der j ü n g s t e n Gegenwart eine höchst f r u c h t b a r e , in ihrer s y s t e m a t i s c h e n E n t f a l t u n g u n d A u s w i r k u n g j e t z t noch nicht abzusehende W e i t e r f ü h r u n g g e f u n d e n in d e m (zunächst in F o r m einzelner p r o g r a m m a t i s c h e r Aufsätze begonnenen) N e u a u f b a u einer u m f a s s e n d e n Ontologie d u r c h N i k o l a i H a r t m a n n . D e r deduktiv-aprioristische und monistisch-systematische A n s p r u c h der alten Ontologien (auch der noch i m m e r h i n v e r w a n d t e bloße Apriorismus des phänomenologischen Ontologiebegriffs) wird hier grundsätzlich a b g e w e h r t , bei aller A n e r k e n n u n g der Notwendigkeit apriorischer E r k e n n t n i s u n d Wesenseinsicht ü b e r h a u p t und insbesondere a u c h f ü r alle metyphysische und ontologische E r k e n n t n i s . Die I r r a t i o n a l i t ä t soll grund-

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sätzlich a u c h i n der S p h ä r e der Prinzipien u n d W e s e n h e i t e n a n e r k a n n t u n d ernst g e n o m m e n w e r d e n . „ K r i t i s c h e Ontologie", in engstem Sachz u s a m m e n h a n g m i t den E r f a h r u n g s w i s s e n s c h a f t e n aller A r t u n d Schicht u n g d u r c h a n a l y t i s c h - h y p o t h e t i s c h e Arbeit sich h e r a u s g e s t a l t e n d , ist j e t z t die F o r d e r u n g . A u c h die (bei B o u t r o u x noch so s t a r k den A u f b a u b e s t i m m e n d e ) T e n d e n z auf eine einheitliche s p e k u l a t i v - k o n s t r u k t i v e F a s s u n g des g e s a m t e n Weltbildes wird z u r ü c k g e d r ä n g t , u n d der Teleologismus geradezu als methodischer u n d inhaltlicher G r u n d f e h l e r f r ü h e r e r (insbesondere der Aristotelischen u n d der Schelling-Hegelschen) Ontologie v e r w o r f e n . Kategorienlehre m u ß rein u m ihrer selbst willen betrieben u n d i m m e r n e u von d e n Teilgebieten des Wirklichen, also „ v o n u n t e n " her in Angriff g e n o m m e n w e r d e n ; erst v o n der Prinzipienforschung u n d K a t e g o r i a l a n a l y s e der einzelnen Wirklichkeit«- u n d Lebensgebiete aus l ä ß t sich der Blick auf die übergreifenden S y s t e m z u s a m m e n h ä n g e des Seienden erschließen. — So gelangt N . H a r t m a n n zu einer Unterscheid u n g u n d A b g r e n z u n g einmal der Seinssphären ü b e r h a u p t (reales, ideales Sein, das Sein der W e r t e ) u n d d a n n der großen S t u f e n s c h i c h t u n g e n des Wirklichen : logisch-ontologische G r u n d s c h i c h t der Seinsgegensätze ; m a t h e m a t i s c h e s Sein ; das Anorganische ; die W e l t der Lebewesen u n d Lebens prozesse; die Schicht des Bewußtseins oder des seelischen Seins; endlich das geistige L e b e n u n d seine R e a l g e s t a l t u n g u n d -Verflechtung in der Geschichte, — selbst wieder in S t u f e n u n d Seinsarten m i t eigenen K a tegorien u n d F o r m t y p e n gegliedert. Die jeweiligen Kategorien dieser W i r k l i c h k e i t s s t u f e n zu erforschen u n d w i e d e r u m die Kategorien j e d e r S t u f e h i n d u r c h z u v e r f o l g e n in die höheren S c h i c h t u n g e n u n d in die d a m i t an i h n e n sich vollziehenden A b w a n d l u n g e n hinein, — das wird hier als K e r n a u f g a b e einer allgemeinen Ontologie g e f a ß t . Dabei ergibt sich d a n n f ü r H a r t m a n n eine Fülle von übergreifenden „ k a t e g o r i a l e n Gesetzen", Gesetzen des S c h i c h t u n g s z u s a m m e n h a n g s u n d ü b e r h a u p t des Verhältnisses b e s t i m m e n d e r Seinskategorien zueinander. — Die i m m e r wieder in den U n t e r s u c h u n g e n h e r v o r t r e t e n d e G r u n d t e n d e n z dieser Ontologie ist die A n e r k e n n u n g der E l e m e n t a r b e d i n g t h e i t alles e r f a h r u n g s m ä ß i g uns gegebenen Seienden von u n t e n her (darin b e s t e h t f ü r sie das n u r zu o f t in n a t u r a l i s t i s c h „ e r k l ä r e n d e " Vereinfachung v e r z e r r t e R e c h t des neuzeitlichen Realismus) zugleich m i t der nicht m i n d e r grundsätzlichen An* e r k e n n u n g der Selbständigkeit, N e u a r t i g k e i t , Freiheit des H ö h e r e n gegenüber den niederen S t u f e n u n d Bedingungen. E n t g e g e n der in die Gegensätze des Materialismus (oder d e n n des evolutionistischen N a t u r a l i s m u s ) u n d Spiritualismus oder P a n p s y c h i s m u s , des Mechanismus u n d Teleologismus, u n d der v e r w a n d t e n ,,-ismen" a u s e i n a n d e r k l a f f e n d e n Lage der M e t a p h y s i k i m 19. J a h r h u n d e r t ist hier ein neuer Boden der m e t a physischen E r k e n n t n i s u n d A u s e i n a n d e r s e t z u n g gewonnen. Ontologie als G r u n d w i s s e n s c h a f t der M e t a p h y s i k ist différentielle, v o n Einzelgebieten u n d den k o n k r e t e n Wirklichkeitsgegebenheiten aus erst zu ZuH.ndb. d. P U L I.

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sammenhängen aufsteigende Kategorienforschung; der metaphysische Monismus darf vielleicht Endziel und Aufbauhoffnung der Metaphysik, aber er darf nicht Grundvoraussetzung und konstruktiver Ursprung des Systems sein. Von den kategorialen Gesetzen, die H a r t m a n n (in vier Gruppen zu je vier Gesetzen geordnet) aufstellt, seien hier nur, zur näheren Erläuterung des oben Angedeuteten, die beiden wichtigsten „Abhängigkeitsgesetze" g e n a n n t : das „Gesetz der S t ä r k e " (oder „das kategoriale Grundgesetz") und das „Gesetz der Freiheit". Nach dem ersteren ist die höhere Seinsform — sofern sie immer schon eine Reihe niederer Prinzipien voraussetzt, die ihrerseits von jener unabhängig sind — allemal die bedingtere, abhängigere und in diesem Sinne s c h w ä c h e r e . Stärke und Höhe stehen im Kategorienreich im indirekten Verhältnis zueinander. —• Andererseits ist „jede höhere Kategorie der niedern gegenüber, die als Element in sie eingeht, durchaus neuartige, inhaltlich überlegene Formung. F ü r solche ist innerhalb der niederen Schicht kein Spielraum, denn deren Kategorien bilden schon die totale Determination der Schicht; und da sie die stärkeren sind, so k a n n die höhere gegen sie nicht a u f k o m m e n . Oberhalb ihrer aber h a t die höhere Kategorie unbegrenzten Spielraum; denn hier sind jene stärkeren Kategorien n u r Materie. Als solche verhalten sie sich indifferent gegen die besondere S t r u k t u r ihrer Überformung. Das aber heißt, d a ß die höhere Kategorie ungeachtet ihrer Abhängigkeit von der niederen, ihr gegenüber frei ist. So steht neben der elementaren Selbständigkeit aller niederen Schichten gegenüber den höheren auch eine ganz andersartige, spezifische Selbständigkeit der höheren, in ihrer Eigenart und Seinsfülle, gegenüber den niederen; u n d diese ist nicht weniger grundlegend f ü r das ganze Überbauungsverhältnis der Wirklichkeitsstufen ! Die Welt des Anorganischen etwa ist in sich selbständig und unabhängig gegenüber allen organischen Prinzipien, und insofern die Existenz der Organismen sich notwendig auf der Materie und im R a h m e n des Anorganischen und seiner undurchbrechlichen Gesetzlichkeiten a u f b a u t , sind die organischen Kategorien die schwächeren. Dennoch sind sie irreduzibel auf die anorganischen, haben ihren spezifischen erfüllten Seinscharakter, ihre kategoriale Selbständigkeit, ihre Autonomie, ihre „ F r e i h e i t " der leblosen N a t u r gegenüber. Das gleiche gilt d a n n wiederum vom Bewußtsein dem Organismus gegenüber. — Die engere und eigentliche Freiheit — menschliche Willensfreiheit — ist ein Spezialfall dieses ontologischen Verhältnisses. Der Indeterminismus, der die Freiheit r e t t e n will, indem er die bedingenden Seinsgesetzlichkeiten (physische, organische, psychische Kausalität) durchbricht, verstößt gegen das kategoriale Grundgesetz. Tatsächlich waltet der Kausalnexus als elementare Determinationsform wiederkehrend auch in den höher strukturierten T y p e n des Seinszusammenhangs, also auch noch im Personalen, u n d überall, soweit n u r immer es zeitliche Folge gibt. E r ist als niederer Nexus notwendig der stärkere. Und dennoch ist der persönlich-geistige Wille frei: eine neue Determinationsweise t r i t t , die niederen S t r u k t u r e n überformend, in den Nexus ein, der in sich selber absolut indifferent ist gegen solche höheren außerkausalen Determinanten, aber eben deshalb auch ihren Einschlag in das fortwirkende Gewebe a u f n i m m t . Die Teleologie des freien Handelns setzt die allseitige kausale Determination der Welt (also die „ S t ä r k e " der niederen Kategorien) ebenso notwendig voraus, wie die Autonomie der Person und ihrer höheren Kategorien über dem Determinismus des seelischen Seins und aller Seinsschichten auf denen dieses wiederum sich a u f b a u t .

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Im übrigen wachsen in der Gegenwart allenthalben aus den wissenschaftlich und phänomenologisch erschlossenen Einzelgebieten Ansätze zu neuer Aufstellung und Differenzierung von Seinskategorien heraus. Besonders augenfällig ist dafür die ebensosehr vom Psychisch-Geistigen ( D i l t h e y , Gestaltpsychologie, Entwicklungspsychologie, W. S t e r n ) wie 50 vom Biologischen ( D r i e s c h ) ausgegangene, schließlich dann vor allem

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auch noch auf das soziologische Gebiet ( L i t t , S p a n n ) übergreifende Tendenz auf neue Wesens- u n d Zusammenhangsprinzipien der „Ganzh e i t " , der „ G e s t a l t " oder „ S t r u k t u r " . In ihnen wird, entgegen der Denkgewöhnung des 19. Jahrhunderts an rein rammenhaft-aggregative Komplexbildungen (Mechanismus, Assoziationismns, atomistisch-individuaUstische Gesellschaftelehre), eine ausdrückliche Anerkennung und begriffliche Auszeichnung der höheren Zusammenhangskategorien und „teleoklin" (Scheler) gestaltenden Formprinzipien des lebendigen Geschehens angestrebt, die andererseits sich doch auch wieder frei hält von den Anthropomorphismen der eigentlich-teleologischen Prinzipien in der älteren Metaphysik. Von diesen, aus den verschiedenen Erfahrungs- und Wissenschaftsgebieten sich so zusammenfindenden und ineinandergreifenden begrifflichontologischen Tendenzen aus hat in jüngster Zeit O. S p a n n eine eigene Kategorienlehre entwickelt. — Besonderes Augenmerk wird auch in jüngster Zeit dem ontologischen Prinzip der Schichtung, der Hierarchie und stufenden Einschachtelung der Kräfte Formen, Systeme in allem Wirklichen entgegengebracht („Enkapsis" bei Heidenhain und K . Groos; vgl. auch W. Stern, Heymans, Driesch, N. Hartmann).

Von ganz besonderer Bedeutung ist ferner mit dem Ende des 19. J a h r hunderts und f ü r die ganze gegenwärtige Metaphysik die Frage nach dem ontologischen Wesen der Z e i t geworden. Gegenüber der in K a n t gipfelnden (durch Schopenhauer fortgesetzten) einfachen Parallelsetzung von R a u m und Zeit, bei der die Wesensmerkmale der Zeit weitgehend im vergleichenden Bezug auf das Muster des (seit dem 17. J a h r h u n d e r t im Vordergrund des metaphysischen Interesses stehenden) Raumprinzips gewonnen wurden, und wo die P h ä n o m e n a l i t ä t der Zeit mit der des Raumes von sozusagen gleichem Seinsgewicht erschien, — h a t die spätere Entwicklung u n a u f h a l t s a m , wenn auch meist nicht beachtet, auf eine tiefere Anerkennung der absoluten Eigenart der Zeit gegenüber dem R ä u m e sowie ihrer f u n d a m e n t a l e r e n Seinsbedeutung hingedrängt. Mit der Geistmetaphysik der Idealisten setzt dieser gedankliche Prozeß ein; der Seinsvorgang des Bewußtseins und der Ichheit, des Geistes und der Geschichte zieht zwangsläufig ein breiteres Eingehen auf die wesenhafte Zeitlichkeit des Existierenden nach sich (so schon beim späteren Fichte und erst recht beim späteren Schelling und bei Baader). In Hegels Ontologie u n d Metaphysik t r i t t die Zeit durchaus nicht mehr nur als Prinzip der Trennung auf (wie noch bei K a n t in strenger Parallele zum Raum), sondern durchaus auch als Prinzip bewahrender A u f h e b u n g des Vergangenen in die Gegenwart und Z u k u n f t , Prinzip also des innigsten Ineinander. Die Zeit erscheint nun als das reale Schicksal und die Notwendigkeit des Geistes, der nicht in sich vollendet, sondern ein unablässiges Werden ist. Im Spätidealismus und dann, im weiteren 19. J a h r h u n d e r t , bei E. v. H a r t m a n n steigert sich das bis zur B e h a u p t u n g realer Zeitlichkeit des Absoluten selbst und seiner Lebensentfaltung in der Weltwirklichkeit. Und selbstverständlich h a t d a n n auch die Zentralstellung jener Prinzipien von „ E n t w i c k l u n g " und „ L e b e n " , zusammen mit der mächtig anschwellenden wissenschaftlichen u n d philosophischen Erforschung der Lebensprozesse in N a t u r , Seele, Gesellschaft, Geschichte, in F Ii•

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unserem Zeitraum auf tiefere Berücksichtigung des Zeitmoments in aller Wirklichkeit hinausgedrängt. So ist denn auch, a m E n d e des J a h r h u n d e r t s , von B e r g s o n s Metaphysik der Zeit sogleich eine außerordentliche W i r k u n g ausgegangen. Die Parallele u n d Realitätsverkoppelung zum R a u m ist hier grundsätzlich aufgehoben. Zeit als „ D a u e r " m u ß gerade im Gegensatz zu j e d e m homogenen Medium verstanden werden. Der schwerste Fehler aller naiv-empirischen u n d wissenschaftlichen Zeitbetrachtung ist eben die Verräumlichung der Zeit. Zeit u n d Leben, Zeit und (schöpferische) E n t w i c k l u n g , Zeit und Freiheit sind wesenhaft ineinander verwoben; — während der R a u m immer nur Prinzip des Äußerlich-Quantitativen, Mechanisch-Determinierten, Erstarrend-Materiellen ist. — I n S p e n g l e r s Geschichtsmetaphysik, auch in S i m m e i s Lebensphilosophie h a t diese Zeitm e t a p h y s i k Fortsetzungen gefunden. I n j ü n g s t e r Zeit h a t , von der Phänomenologie und ihren Lehren v o m „BewußtBeinss t r o m " aus, H e i d e g g e r mit dem A u f b a u einer neuen Metaphysik des zeitlichen Daseins („Sein und Zeit") begonnen. Ausdrücklich soll hier, aber Hegel hinaus u n d im Gegensatz zu diesem, erwiesen werden, d a ß der Geist nicht erst in die Zeit „ f ä l l t " , sondern als ursprüngliche Zeitigung der Zeitlichkeit existiert. Zeitlichkeit ist die ursprüngliche S t r u k t u r der Seinsgesetzlichkeit des „ D a s e i n s " ; die wesenhafte Geschichtlichkeit des Daseins ist Ausdruck u n d Folge seiner Zeitlichkeit. Die Zeit zeitigt immer erst das Sein, t r e i b t alles Inhaltliche des wirklichen erfüllten Daseins i m m e r erst hervor. — Auch Heidegger sucht diese Zeitlichkeit des konkret dargelebten Daseins scharf abzuheben gegen den verfälschenden a b s t r a k t e n Zeitbegriff, der an Bewegungsvorgängen der N a t u r orientiert i s t ; eindringlicher aber noch als Bergson stellt er n u n , v o m menschlichen Dasein her, die Z u k u n f t s t e n d e n z , das ständig antizipierende Vorstoßen der Zeitbewegung in den Vordergrund — im Gegensatz zur f r ü h e r e n Zeitphilosophie, die immer ganz vorwiegend auf das zeitliche Vergehen, das Absinken der Gegenwart in Vergangenheit u n d etwa noch auf das „ A u f b e w a h r e n " der letzteren eingestellt war. „ D a s Dasein ist i h m selbst in seinem Sein j e schon v o r w e g . Dasein ist immer schon ,über sich hinaus', nicht als Verhalten zu anderem Seienden, das es n i c h t ist, sondern als Sein zum Seinkönnen, das es selbst i s t . " Das Dasein ist, als zeitliches, ein „Sich-vorwegsein zum eigensten Seink ö n n e n " . — Von der Basis seines neuen Daseinsbegriffes aus s u c h t Heidegger dann auch den mit der zeitlich-geschichtlichen Einstellung der Geisteswissenschaften und aller Gegenwartskultur heraufgekommenen Historismus auf seinem eigenen Felde zu überw i n d e n ; die geschichtlichen Wandlungen sind nichts den inhaltlichen Wirklichkeiten u n d Geltungen gegenüber Äußerliches und Zufälliges, sondern Bie stellen selbst die eigentliche R e a l i t ä t , die Zeitigung des Daseins selber dar. — Die Kategorialanalyse der Zeit haben, zunächst mehr v o n erkenntnistheoretischem, phänomenologischem u n d gegenstandstheoretischem Ansatz aus, d a n n aber mehr u n d mehr — schließlich b e w u ß t — ins Ontologische und Allgemein-Metaphysische hinüberdrängend, neu in Angriff g e n o m m e n : L i e b m a n n , H u s s e r l , M a r t y und neuestens J . V o l k e l t („Phänomenologie u n d Metaphysik der Zeit"), 0 . S p a n n ' und H e d w . C o n r a d - M a r t i u s (die, ganz im Sinne von Augustins Zeitanalyse, vor allem das Niemals-Beisammensein alles Zeitlichen herausarbeitet).

E. DIE METAPHYSIK DES GEISTES. Die Metaphysik des späteren 19. Jahrhunderts wird, und dies besonders stark in Deutschland, weithin bestimmt durch die Aufgaben, welche ihr erwachsen in der Auseinandersetzung mit den neuen Erkenntnissen und Perspektiven der Naturwissenschaften. Nicht nur die materialistischen und naturalistischen Richtungen, sondern auch Denker wie Lotze, Fechner, E. v. Hartmann, in deren letzten Überzeugungen und

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Zieltendenzen soviel noch von der Geistmetaphysik des deutschen Idealismus fortwirkt, sind in ihrer eigentlichen Forschungsarbeit und Problemaufrollung ganz vorwiegend bestimmt durch Interessen der Naturwissenschaft und Naturphilosophie. Die Metaphysik des Geistes tritt mehr und mehr zurück; am ehesten lebt sie noch weiter in den Fortführern und Ausläufern der Hegelschule (bei Biedermann z. B.). Erkenntnistheorie, Ethik und andere Einzeldisziplinen der Philosophie wollen am Ende alle den Menschen und sein geistiges Leben betreffenden Anliegen auf sich übernehmen; und schließlich gibt sich eine naturwissenschaftlich orientierte Psychologie als zureichende, womöglich gar als einzig wissenschaftliche Philosophie des Geistes aus. Das metaphysische Interesse am SeelischGeistigen schrumpft in dieser Zeit vielfach zusammen auf die Eine (meist wiederum vom naturwissenschaftlichen Interesse her gesehene) Frage nach dem psychophysischen Zusammenhang; in der Unfruchtbarkeit des Streites um „Parallelismus" oder „Wechselwirkung" läuft es in eine Sackgasse hinein und verliert sich endlich. Auch die Neubelebung der Metaphysik um die Jahrhundertwende wächst in sehr breitem Umfange zunächst hervor aus naturphilosophischen Problemen. Die neuen Tendenzen zur Ausbildung einer den Lebensphänomenen und den wirklichen, kritisch aus übereilten Theorien ausgesonderten Inhalten und Resultaten der biologischen Wissenschaft gerecht werdenden Philosophie des Organischen haben entscheidende Bedeutung gewonnen nicht nur für die Überwindung des mechanistischen Dogmas und des in seinem Rahmen eingezwängten Evolutionsschemas, sondern ganz allgemein auch für das Wiedererwachen des Verständnisses für metaphysische Problematik und für die wissenschaftliche Notwendigkeit einer inhaltlich-metaphysischen (und nicht bloß methodologischerkenntnistheoretischen) Prinzipienlehre der verschiedenen Seins- und Wissenschaftsgebiete. Die Metaphysik der Gegenwart ist in sehr wesentlichen Ausgangspunkten, Antrieben, Zieltendenzen Metaphysik der Natur; — es mag genügen, dafür die Namen von Bergson und Driesch anzuführen. (Die „Metaphysik der Natur" selbst soll hier nicht behandelt werden, da ihr ein eigenes Heft dieses Handbuches gewidmet ist.) Zugleich aber ist nun doch auch, seit der Jahrhundertwende etwa, die Metaphysik des Geistes wieder ein Hauptanliegen der Philosophie geworden ; und in der Gegenwart scheint sie geradezu ins Zentrum des metaphysischen Interesses zu rücken. Die Wurzeln dieser neuen Geistesmetaphysik reichen zurück in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Ihr wichtigster Vorläufer ist D i l t h e y . Die Philosophie Diltheys ist für die Wendezeit von grundsätzlicher und symptomatischer Bedeutung dadurch, daß hier die Basis der im Laufe des 19. Jahrhunderts so großartig und selbständig entfalteten Geisteswissenschaften mit nicht geringerer Energie zum Ausgang eines Lebens- und Weltbegriffs gemacht wird, als sonst die der Naturwissenschaften. Dilthey zuerst hat etwas von den großen Aufgaben geahnt, die mit den

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neuen Wirklichkeitserschließungen n n d mit der (zunächst noch innerhalb des Wissenschaftsbetriebes der Geisteswissenschaften sich vollziehenden) Herausbildung neuer K a t e gorien, Determinationsweisen, S t r u k t u r z u s a m m e n h ä n g e in der Erforschung der Lebensprozesse der menschlichen Gesellschaft u n d Geschichte, wie auch der f ü h r e n d e n Individualitäten f ü r die Philosophie sich stellen. U n d hier zuerst b r i c h t auch die Einsicht von der U n h a l t b a r k e i t der Zeitkonstellation d u r c h : wo nämlich einer ins Unabsehliche sich erweiternden u n d vertiefenden wissenschaftlichen E n t d e c k u n g und Durchleuchtung geistiger Wirklichkeiten als einzige philosophische Prinzipienforschung sich eine n a t u r wissenschaftlich orientierte Individualpsychologie gegenüberstellt — die hier u n d da vielleicht zur „Völkerpsychologie" (oder auch gar zur „Massenpsychologie") noch ausgeweitet wird. Dilthey n e n n t d a n n zwar — soweit ist auch er selbst der positivistischpsychologistischen Denkweise noch v e r h a f t e t — die n u n zu f o r d e r n d e philosophische Wissenschaft von den S t r u k t u r z u s a m m e n h ä n g e n des geistigen Geschehens und v o m „ A u f b a u der geschichtlichen W e l t " doch „ P s y c h o l o g i e " ; aber in seiner eigenen Arbeit wächst er schon allenthalben ü b e r den darin steckenden Subjektivismus (zugleich auch über die E i n s c h r ä n k u n g aufs bloß Erkenntnistheoretisch-Methodologische) hinaus u n d weist den Weg zu einer neuen Anerkennung u n d prinzipiellen philosophischen Erforschung des Geistes in seiner geschichtlichen Lebenswirklichkeit u n d O b j e k t i v i t ä t . H i n t e r den mannigfaltigen Versuchen zum Aufweis typischer, zielstrebig wirksamer S t r u k t u r z u s a m m e n h ä n g e des geistigen Daseins in Gesellschaft und I n d i v i d u a l i t ä t steht k e i m h a f t bei Dilthey eine Metaphysik des „ L e b e n s " als eines letzten einheitlichen, doch überall sich zu den besonderen Anlagen und Perspektiven der K u l t u r s y s t e m e , Weltanschauungen, Persönlichkeitsgestalten sich differenzierenden K r a f t q u e l l s — eines Lebens, in dessen geschichtlichen Verläufen und geistig-geschichtlichen Erkenntnissen der Mensch sich erst nach seiner eigenen Tiefe und Daseinsfülle kennenlernt (während kausalerklärende Psychologie das Eigentliche seines I n n e r n gar nicht fassen kann!), und das sich selbst in eben dieser unabsehlichen geschichtlichen Selbsterkenntnis der Geisteswissenschaften (und a u c h der Geistphilosophie) erst innerlich vollendet.

a) D i e o b j e k t i v e W i r k l i c h k e i t d e s g e i s t i g e n L e b e n s . Eine ausgesprochene Metaphysik des Geistes haben dann, am Ende des 19. Jahrhunderts, E u c k e n und C l a s s herausgearbeitet; — der erstere weithin bekannt geworden durch die weltanschaulichen Absichten und Auswirkungen, der zweite fast völlig unbeachtet, aber bedeutsamer in der forschenden Aufrollung der die „Phänomenologie und Ontologie des menschlichen Geistes" betreffenden Probleme. In beiden Denkern leben (durch Vermittlung der Geschichtsphilosophie v o n Steffen6en) entscheidende Motive des deutschen Idealismus wieder auf; ihre Kerngedanken zielen auf die geschichtlich immerfort erfahrbare Realität des sinnhaftobjektiven geistigen Lebens, in welcher das bloß subjektive Dasein der Individuen allenthalben überhöht und andererseits doch gerade jedes tiefere persönliche Seelenleben innerlichst bestimmt wird. Die Psychologie erfaßt bloß das naturhafte Dasein des individuellen Subjekts in seinen Trieben und Gefülilszuständen; erst mit der „noologischen Methode" (Eucken), in der „Pneumatologie" (Class) dringt die Philosophie zum wirklichen Gehalt menschlichen Seelen- und Geisteslebens durch. In solcher Einstellung wird eine tiefere, die Subjektivität selbst tragende und durchwachsende Schicht sichtbar, deren Eigengesetzlichkeit und Eigenleben sie v o m bloß-psychischen Sein und Geschehen, und damit von aller bloßen Naturbestimmtheit scharf abhebt. Von hier aus kündet sich dann

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beiden Denkern ein übergreifender geistiger Weltzusammenhang höherer Ordnung an, dessen Einheit in dem geistigen Lebenszentrum einer absoluten göttlichen Persönlichkeit gegründet ist.

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E u c k e n s P h i l o s o p h i e d e s G e i s t e s l e b e n s f a ß t d a s g e i s t i g - g e s c h i c h t l i c h e D a s e i n als e i n e n eigenen L e b e n s p r o z e ß , d e r i m G e g e n s a t z z u r Ä u ß e r l i c h k e i t u n d U n g a n z h e i t d e r N a t u r g e s c h e h n i s s e sich i m m e r i n d e r R i c h t u n g auf B e i s i c h s e l b s t s e i n u n d i n n e r e E i n h e i t , G a n z h e i t u n d S e l b s t h e i t deB G e i s t e s f o r t e n t w i c k e l t . D i e P r o z e s s e s i n d h i e r n i c h t W i e d e r h o l u n g e n , s o n d e r n s t ä n d i g e s U m b i l d e n des V o r g e f u n d e n e n , s t e t e E r z e u g u n g v o n N e u e m . Diese s c h ö p f e r i s c h e A r b e i t g e s c h i e h t i m m e r i m K a m p f m i t d e n W i d e r s t ä n d e n der N a t u r g e g e b e n h e i t e n ; die S e l b s t ä n d i g k e i t d e s Geistes i s t w e s e n h a f t e i n Sichh e r a u s r i n g e n a u s d e r N a t u r w i r k l i c h k e i t . So ist in d e r g e i s t i g e n W e l t n i c h t s e i n f a c h d a u n d gegeben, s o n d e r n die W i r k l i c h k e i t ist h i e r i m m e r d a r g e b u n d e n a n (Jen S e i n s m o d u s der Aufgegebenheit. K a n t s u n d Fichtes praktigch-aktualistischer Begriff v o m Reich d e r Zwecke u n d v o n d e r g e s c h i c h t l i c h e n S e l b s t g e s t a l t u n g dieser W e l t w i r k l i c h k e i t s e t z t sich b e i E u c k e n f o r t . Alles w a s w i r geistig „ s i n d " (als P e r s o n e n u n d V ö l k e r , L e b e n s f o r m e n u n d K u l t u r e n ) i s t v o n u n s i m m e r e r s t zu e r s c h a f f e n , a u s i m m a n e n t e n A n l a g e n in d a s w e s e n h a f t e L e b e n d e s G e i s t e s zu e r h e b e n . — D i e u r s p r u n g h a f t e O b j e k t i v i t ä t u n d d e r alles s u b j e k t i v - e i n z e l n e L e b e n d e r M e n s c h e n g e s t a l t e n d e G a n z h e i t s c h a r a k t e r d e s Geisteslebens v e r b ü r g t n a c h E u c k e n w e i t e r h i n d a s E i n g e b e t t e t s e i n d e s g e s a m t e n M e n s c h h e i t s g e s c h e h e n s in e i n e n u n i v e r s a l e n L e b e n s z u s a m m e n h a n g v o n k o s m i s c h e r B e d e u t u n g . D i e geistigen Z u s a m m e n h ä n g e s i n d n i c h t u n s e r E r z e u g n i s , P r i v a t a n g e l e g e n h e i t d e s M e n s c h e n g l e i c h s a m , u n d i h r e E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e ist n i c h t e i n e E p i s o d e i m R a h m e n eines W e r d e n s u n d V e r f a l l e n s u n s e r e r E r d e , s o n d e r n m i t i h n e n g r e i f t eine Ü b e r w e l t in u n s e r seelisches Sein u n d E r f a h r e n h i n e i n , r e i f t u n s zu sich h i n a u f . D e r ,,noologische I d e a l i s m u s " b e g r e i f t alles F r e i h e i t s - u n d T a t l e b e n d e r p e r s ö n l i c h e n u n d g e s e l l s c h a f t l i c h e n K u l t u r als s e l b s t t ä t i g e E r h e b u n g in eine S p h ä r e , d i e e r s t die w a h r e S u b s t a n z d e s W i r k l i c h e n ist, i n n e r e B e w e g u n g d e s Alls, v o n e i n e m k o s m i s c h e n S e l b s t , e i n e m u n i v e r s a l e n P e r s o n w e s e n g e l e i t e t . D i e s e „ W e l t " ist n i c h t p a s s i v z u e r f a h r e n , zu ers c h a u e n ; sie m u ß — in d e m T e i l a u s s c h n i t t , d e n u n s e r M e n s c h h e i t s d a s e i n a u s m a c h t — vollzogen, in H i n g a b e u n d T a t e n d e r F r e i h e i t u n m i t t e l b a r d a r g e l e g t w e r d e n . Die P n e u m a t o l o g i e v o n G. C l a s s ( m i t A b s i c h t u n d u n d i n b e w u ß t e m G e g e n s a t z z u r a m a n t i k e n G e i s t b e g r i f f u n d I d e a l i s m u s o r i e n t i e r t e n N o o l o g i e E u c k e n s i s t h i e r d e r Titelbegriff v o m P a u l i n i s c h e n P n e u m a h e r g e l e i t e t ; ü b r i g e n s w i r d d a m i t a u c h d i e m e t a p h y s i s c h e „ P n e u m a t o l o g i e " d e s 18. J a h r h u n d e r t s — W o l f f , C r u s i u s u . a . — w i e d e r a u f genommen) geht aus v o m F a k t u m der geistig-geschichtlichen Wirklichkeit; hier setzt sie i h r e U n t e r s u c h u n g e n ü b e r die E r s c h e i n u n g s w e i s e n u n d die o n t o l o g i s c h e S t r u k t u r d e s Geistes a n . A u s d r ü c k l i c h f o r d e r t Class — d a r i n i s t er ein w i c h t i g e r R e p r ä s e n t a n t des n e u e n T y p u s v o n M e t a p h y s i k — a n Stelle einer k o n s t r u i e r e n d e n G e i s t - u n d G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e die B e s c h r e i b u n g u n d a n a l y t i s c h e E r f o r s c h u n g d e s i n d i e s e m S e i n s b e r e i c h G e g e b e n e n auf seine W e s e n h e i t e n u n d P r i n z i p i e n . Als K e r n b e g r i f f e r g i b t sich i h m h i e r bei d e r G e d a n k e d e r „ h i s t o r i s c h e n I n h a l t e " , — d. h . j e n e r l e b e n d i g e n u n d l e b e n s k r ä f t i g e n G e d a n k e n s y s t e m e , G e s t a l t e n d e s religiösen, k ü n s t l e r i s c h e n , s i t t l i c h e n , n n d allg e m e i n des k u l t u r e l l e n L e b e n s , welche, d e m ewigen E i n e r l e i d e s n a t u r h a f t - s u b j e k t i v e n T r i e b l e b e n s b l o ß e r I n d i v i d u e n e n t g e g e n , ein w i r k l i c h e s f o r t z e u g e n d e s u n d m a k r o k o s m i sches G e s c h e h e n u n d eine W e l t ü b e r p e r s o n a l e r S a c h o r d n u n g e n u n d S a c h e n t w i c k l u n g e n b e d e u t e n . Alles L e b e n d e s Geistes e r b l ü h t in v i e l f ä l t i g e n , u n e n d l i c h r e i c h e n W i r k u n g s b e z i e h u n g e n dieser I n h a l t e zu d e n m e n s c h l i c h e n I n d i v i d u e n ; u n d alles t i e f e r e seelische L e b e n d e r M e n s c h e n h a t in d e m w a h r h a f t S e i e n d e n j e n e r G e h a l t e (die L e b e n u n d W i r k l i c h k e i t sind, n i c h t a b e r wie die p l a t o n i s c h e n I d e e n ü b e r z e i t l i c h e I d e a l i t ä t e n ) sein o n t o logisches F u n d a m e n t . I n d o p p e l t e r F o r m vollzieht sich solcher W i r k u n g s z u s a m m e n h a n g . E i n m a l in der V e r m i t t l u n g d u r c h die G e s a m t h e i t e n : die I n h a l t e e n t f a l t e n sich als a u t o r i t a t i v e I n s t i t u t i o n e n u n d L e b e n s o r d n u n g e n v o n G e m e i n s c h a f t e n ; die I n d i v i d u e n w a c h s e n in sie h i n e i n , w e r d e n d a v o n g e t r a g e n , als „ K i n d e r i h r e r Z e i t " . U n d z w e i t e n s

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d a n n ohne solche V e r m i t t l u n g : in u n m i t t e l b a r e r geistiger Anschauung („intellektuelle A n s c h a u u n g " ) erfassen große v o r d e u t e n d e Persönlichkeiten kongenialisch die unverwirklichten „historischen I n h a l t e " ; in diesen F ü h r e r n des Geistes t r e t e n , als den Durchb r u c h s p u n k t e n u n d Organen, neue Gedankensysteme in den Lebensfluß ein — mit der wesenhaften Tendenz jedoch. Aber die einzigartige Eigentümlichkeit der schaffenden Persönlichkeit hinauszuwachsen u n d , auf alle S u b j e k t e übergreifend, die Gesamtheit zu formen. Hegels Lehre v o m objektiven Geist ist es, die hier wieder neu lebendig wird u n d auf differenzielle Erforschung d r ä n g t (weitere Ansätze zu letzterer h a t in der Gegenw a r t H . F r e y e r gegeben); aber entgegen Hegel fordert Class die tiefere Berücksichtigung der wurzelhaften u n d unvergänglichen Eigenart und Eigenwertigkeit des Individ u u m s . „ G e i s t " ist ein Vorgang, der d u r c h zwei gleichursprüngliche R e a l i t ä t s f a k t o r e n hervorgebracht wird, ist „gegliederte E i n h e i t " aus überpersonalem „ D e n k e n " und personalen Ichen. JDas I c h ist keinesfalls bloß als p h ä n o m e n a l aus objektiv-sachlichen Geistesentwicklungen hervorgehend zu denken. Der Dualismus jener beiden F a k t o r e n ist ebenso streng zu betonen, wie ihr immerwährendes Aufeinanderangewiesen- und F ü r einanderdasein — wonach ebensosehr die I n d i v i d u e n das, was sie sind und bedeuten, n u r d u r c h den Sachgehalt der lebenskräftigen Gedankensysteme sind, wie andererseits die letzteren n u r in den I n d i v i d u e n und deren Ä u ß e r u n g ihr Dasein haben, befördert oder g e h e m m t durch ihre freie Anerkennung oder Verwerfung. — Auch bei Class m ü n d e t d a n n die Ontologie des Geistes in eine metaphysische Weltansicht von theistisch-idealistischer A r t u n g ; sofern wir a m geistigen Leben der K u l t u r u n d Religion teilhaben, sind wir Bürger eines Geisterreichs, in dem eine höhere, zuletzt persönlich-sinnhaft b e s t i m m t e W e l t o r d n u n g sich manifestiert.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mehren sich und vertiefen sich dann die Tendenzen zur Metaphysik des geistigen Lebens als einer geschichtlich-objektiven, die Subjektivität der Individuen von innen her gestaltenden Wirklichkeit. Als wichtigste Beispiele seien genannt die Lebens- und Kulturphilosophie C. S i m m e i s und die Pneumatologie von O. S p a n n . — Auch Simmel ist (wie Dilthey und nicht ohne Einfluß v o n da her) den W e g gegangen v o m relativistischen Psychologismus zur Anerkennung der Autonomie und Eigenrealität des Geistigen, den W e g von der Psychologie und psychologisch orientierten Soziologie zur Metaphysik des Geistes und des geschichtlich-kulturellen Lebens. Bergsons Lebensmetaphysik mit ihrer (an Schopenhauer anknüpfenden) biologisch-pragmatistischen D e u t u n g des Intellekts, seiner Funktionen und Begriffsgebilde, gibt ihm den Unterbau zu einer Philosophie des geistigen Lebens, in der nun zugleich mit der (über Hegel und den ganzen Idealismus hinausführenden) grundsätzlichen und tiefgreifenden Anerkennung der naturhaft-biologischen Bedingtheit aller seelisch-geistigen Zielsetzung und Produktion doch auch das wesenhafte Sicherheben der geistigen Gebilde über die Lebensrelativität, also ihre prinzipielle Transzendenz und Souveränität dem Leben gegenüber zur Geltung kommen soll. Alles Leben ist nach Simmel Ausweitungstendenz, Entwicklung, ein „Mehr-Leben", das sich auswirkt in Gestaltungen und Formen, die für es selbst die unersetzliche vitale Funktion der Dauer, der festen Stütze und der Stufe zu Weiterem zu erfüllen haben. In ihnen wächst das Leben immerwährend über sich hinaus. Auch der Geist und alles menschlich-kulturelle Werden ist solches Leben. Aber hier tritt nun etwas gänzlich Neues auf: die Formen und Gebilde,

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in s u b j e k t i v - p s y c h i s c h e n Prozessen sich h e r a u s g e s t a l t e n d , e r h e b e n sich d a n n über diese ganze S p h ä r e , w e r d e n zur D o m i n a n t e des Lebens selbst, das sie geboren h a t , n e h m e n d e n p s y c h i s c h e n Prozessen g e g e n ü b e r ford e r n d e Gestalt, N o r m c h a r a k t e r , d e n A n s p r u c h der W a h r h e i t u n d A b s o l u t heit a n ; — o f t bis zur Gegensätzlichkeit, bis z u r n e g i e r e n d e n F e i n d s c h a f t z u m Leben selber, bis zur A u f o p f e r u n g des Lebens f ü r die Idee. Die F o r m e n werden hier „ d a s A n d e r e " des L e b e n s . — Geistiges L e b $ n ist also n i c h t n u r Mehrleben, s o n d e r n i m m e r a u c h M e h r - a l s - L e b e n ; alles Geistesleben t r ä g t i n sich die „ W e n d u n g zur I d e e " , die n i c h t als graduelle Steig e r u n g der L e b e n s f o r m u n g selbst, s o n d e r n als eine v o l l k o m m e n e Achsend r e h u n g zur ideozentrischen G e s a m t h a l t u n g v e r s t a n d e n w e r d e n m u ß . So w ä c h s t z. B. aus den p r a g m a t i s c h b e d i n g t e n , i m D i e n s t e des Lebens sich ausbildenden F u n k t i o n e n des I n t e l l e k t s der a u t o n o m e A n s p r u c h der r e i n e n Wissensidee u n d aller o b j e k t i v e n W a h r h e i t s g e l t u n g e n h e r a u s , u n d so aus anderen lebenszwecklichen F u n k t i o n e n die W e r t e u n d N o r m e n v o n R e c h t u n d Sittlichkeit, K u n s t u n d Religion. Alles L e b e n des Geistes charakterisiert sich in e b e n dieser P a r a d o x i e : W e s e n s v e r b i n d u n g v o n I m m a n e n z u n d T r a n s z e n d e n z ; b e s t ä n d i g greift das L e b e n ü b e r die eigene Grenze hinaus auf sein J e n s e i t s — das d o c h a u c h wieder angelegt sein m u ß i h n i h m ! D a s T r a n s z e n d e n t e ist d e m L e b e n selber i m m a n e n t . Diese M e t a p h y s i k des Geistes b r i c h t also m i t der i n den e r k e n n t n i s theoretisch-idealistischen R i c h t u n g e n der Zeit so b e l i e b t e n Vorstellungsweise, wonach das wirkliche t ä t i g e B e w u ß t s e i n des Menschen die einem t r a n s z e n d e n t e n irrealen Ideenreich angehörigen Gehalte, W e r t e , Sollensgesetzlichkeiten i m geschichtlichen P r o z e ß i n sich hineinzieht u n d d u r c h sich verwirklicht. Der E i n h e i t s b e g r i f f des L e b e n s soll die s c h a f f e n d e W i r k lichkeit u n d die Idee, Sein u n d Sollen, das P r a g m a t i s c h - P s y c h i s c h e u n d das F o r m h a f t - G e i s t i g e zugleich u m f a s s e n — o h n e doch, n a c h A r t des Psychologismus, das l e t z t e r e i m e r s t e n a u f g e h e n zu lassen. Geistiges L e b e n ist w e s e n h a f t S y n t h e s e u n d S p a n n u n g zwischen L e b e n s d y n a m i k u n d F o r m e n a u t o n o m i e ; zwischen diesen Polen v o n K r a f t u n d F o r m spielt u n d schwingt dieses L e b e n . — I n dieser Z u s a m m e n s p a n n u n g liegt aber n a c h Simmel auch schon der f r a g m e n t a r i s c h e C h a r a k t e r alles geistigen u n d kulturellen Daseins beschlossen: die s t r ö m e n d e L e b e n s d y n a m i k d r ä n g t w e s e n h a f t , ohne u m f a s s e n d e A u f h e b u n g u n d V e r s ö h n u n g , h i n a u s ü b e r j e d e gewonnene B i l d u n g ; die F o r m e n w e r d e n i m m e r wieder v o m L e b e n selbst enteignet, r e l a t i v i e r t , z e r b r o c h e n . N u r als s e l b s t ä n d i g u n d d a u e r h a f t erscheinende F o r m k a n n der Geist sich v o r sich selbst hinstellen u n d doch k a n n er bei d e m G e w o n n e n e n nie d a u e r n d verweilen u n d sich d a r i n e r f ü l l t sehen. Das L e b e n m u ß aus seinem eigenen W a n d e l h e r a u s n a c h i m m e r a n d e r e n O b j e k t i v a t i o n e n s u c h e n . H i e r wurzelt das t r a g i s c h e Mom e n t in aller geistigen E r h ö h u n g u n d K u l t u r : die w e i t e r t r e i b e n d e U n r a s t des Lebens m u ß i m m e r wieder sich w u n d s t o ß e n a n den e r s t a r r t e n F o r m e n , seine K r ä f t e a u f r e i b e n i m K a m p f e der P a r t e i u n g e n , a n k ä m p f e n gegen die

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den geistigen Gebilden und S y s t e m e n innewohnende Tendenz zur V e r gewaltigung der fließenden D y n a m i k . Besondere Bedeutung kommt im Rahmen dieser Philosophie des geistigen Lebens noch Simmeis Gedanken vom „individuellen Gesetz" zu —• einer modernen Fortfahrung von Leibniz' individueller Entelechie und des „vollständigen Begriffs" derselben. Nicht nur die allgemeinen Formen und Werte sind danach in der Dynamik des schöpferischen Lebensstromes angelegt, und treten aus ihm als fordernde Normen heraus, sondern ebensosehr die ganz konkreten einzigartigen Idealbildungen und Sollensmomente im Innersten der individuellen Persönlichkeit. Eine tiefste metaphysische Determination geistigen Lebens drängt in der Lebensforderung des „werde, der du bist" hinauf ins Formbewußtsein. Die „transzendentale Persönlichkeit", in ihrer absoluten Einmaligkeit und intimen Beschlossenheit, wird hier bei Simmel (entgegen der sonstigen Verhaftung aller idealistischen Erkenntnistheorie und Ethik der letztvergangenen Jahrzehnte — mit ihrem Zentralbegriff des transzendentalen „Bewußtseins überhaupt" — an die Realität und Normbedeutung der allgemeinen Typen und Gesetze) zum eigensten und unmittelbarsten Ausdruck des schöpferisch sich differenzierenden, aller rationalen Festlegung und Typisiernng zuletzt sich wesenhaft entziehenden Lebens. — Ansätze zu einer hiermit noch eng verwandten Metaphysik des in der Spannung und Synthese von seelisch-geistiger Lebensdynamik und kultureller Formgestaltung sich vollziehenden Geistes finden sich in den philosophischen Werken von E. T r o e l t s c h ; doch ist dieser mit der Materie so tief vertraute Denker zur Ausarbeitung eines breiteren metaphysischen Gedankenzusammenhangs nicht mehr gekommen. Für die Ontologie der geistigen Wirklichkeit bedeutsam ist dann aber die von ihm noch geleistete Herausarbeitung geschichtlicher Seins-Kategorien. Aber dies (wie erst recht der Blick von hier auf die bei O. S p e n g l e r vorfindbaren Tendenzen zu einer neuen Geistesmetaphysik) führt uns schon ganz an die Grenze der Geschichts- und Kulturmetaphysik, — welche Gebiete wir hier nicht zu behandeln haben, da eigene Abteilungen dieses Handbuchs ihnen gewidmet sind. Der von Simmel statuierte Gegensatz der erstarrenden und sich dem Leben überordnenden Geistformen gegen die Einheitlichkeit und fließende Dynamik des Lebens selbst ist in der Gegenwart vielfach geradezu zu einer Wesensfeindschaft von Leben und Geist gesteigert worden. So ist für K l a g e s z. B. der Geist der Widersacher der Seele, j a die eigentliche Sackgasse des Lebens — an seiner dauernden Entkräftung und Zerstörung immerfort arbeitend. Seine Bilder, seine Ideen, Theorien und Objektivationen überhaupt sind, als erstarrte Formen, lebensfeindlich; schon das Bewußtsein ist Lebensstörung und selbst die Freiheit des Geistes ist Verhängnis gegenüber der glückhaften und segensreichen Bewußtlosigkeit und Gebundenheit echter Lebensvorgänge. Geisteskultur und -Zivilisation zerreißen den einheitlichen Menschen in Lebensträger und geistige Person und machen ihn zwiespältig. In jüngster Zeit hat auch M. S c h e l e r , in seiner letzten Entwicklungsphase, eine bedeutsame metaphysische Lehre von Leben und Geist skizziert; — deren Ausführung wir aus dem Nachlaß des allzu früh verstorbenen Denkers erwarten zu dürfen hoffen. Nach dieser Lehre sind Leben und Geist durchaus verschiedene, ja ursprünglich entgegengesetzte Prinzipien; der Lebensbegriff wird hier streng an den biologischen Tatsachenreihen und Gesetzen orientiert, der Geistbegriff (im Gegensatz zum Psychischen das mit dem Biologisch-Physiologischen in engster Einheit verbunden ist) an den ideellen Wesenheiten der Erkenntnis und der sittlichen, ästhetischen, religiösen Wertverwirklichungen. Die Eigengesetzlichkeit des Geistigen (und die teilweise Identität dieser Gesetzlichkeiten mit den Seinsprinzipien selber) hebt es von allem bloßen Zeitgeschehen und aller vital gebundenen Triebdynamik des leibseelischen Lebens scharf und eindeutig ab. Geist ist, seinem Grundwesen nach, außerhalb von Leben; zu ihm gehört gerade eine „existenzielle Entbundenheit", Freiheit, Ablösbarkeit vom Bann der Lebensnotwendigkeiten. Der Mensch, als geistiges Wesen, ist vom Tier, bei aller tiefen

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V e r w a n d t s c h a f t i m Biologisch-Psychischen, d u r c h eine K l u f t g e s c h i e d e n : n u r das geistige Wesen ist „ w e l t o f f e n " , h a t „ W e l t " sich g e g e n ü b e r , ist auf s e l b s t ä n d i g e „ G e g e n s t ä n d e " bezogen, v e r m a g sein D e n k e n u n d H a n d e l n b e s t i m m e n zu lassen rein d u r c h da9 Sosein der S a c h e n , u n d steigt e n d l i c h bis z u r reinen, v o m „ D a s e i n " a b s t r a h i e r e n d e n W e s e n s s c h a u v o n U r p h ä n o m e n e n , zu d e n i d e i e r e n d e n A k t e n reiner E r k e n n t n i s u n d W e r t s e t z u n g auf. L e b e n u n d Geist sind also g r u n d v e r s c h i e d e n ; a b e r sie s t e h e n n i c h t i m V e r h ä l t n i s wesensmäBiger F e i n d s c h a f t (wie bei Klages), s o n d e r n sind u r s p r u n g h a f t h i n g e o r d n e t aufe i n a n d e r , b e s t i m m t , e i n a n d e r zu e r g ä n z e n ! E n t g e g e n d e r „ m ä c h t i g e n Ü b e r s c h ä t z u n g des Geistes" i m a b e n d l ä n d i s c h e n ( a n t i k e n u n d m i t t e l a l t e r l i c h e n , wie n a c h k a n t i s c h e n ) Idealismus, d e r i m L e b e n n u r die niedere u n d s c h w ä c h e r e V o r f o r m d e s Geistigen zu sehen geneigt ist, b e h a u p t e t n ä m l i c h Scheler die prinzipielle O h n m a c h t des Geistes rein f ü r sich selber, u n d d a m i t seine u r s p r ü n g l i c h e R e a l i t ä t s u n t e r l e g e n h e i t d e m L e b e n gegenü b e r . D e r Geist b e s t e h t z u n ä c h s t n u r „ a u s einer G r u p p e v o n reinen I n t e n t i o n e n " ; in seiner reinen F o r m ist er s c h l e c h t h i n o h n e alle M a c h t , K r a f t u n d T ä t i g k e i t . Die griec h i s c h - a b e n d l ä n d i s c h e L e h r e v o n d e r S e l b s t m a c h t d e r I d e e ist t r ü g e r i s c h ; die h ö h e r e n S e i n s f o r m e n sind in d e r W i r k l i c h k e i t d u r c h a u s n i c h t , wie hier a n g e n o m m e n w i r d , die m ä c h t i g e r e n , also die eigentlich k a u s i e r e n d e n . „ D e r K r ä f t e - u n d W i r k s t r o m , d e r allein D a s e i n u n d zufälliges Sosein zu setzen v e r m a g , l ä u f t in d e r W e l t , die wir b e w o h n e n , nicht v o n o b e n n a c h u n t e n , s o n d e r n v o n u n t e n n a c h o b e n ! . . . J e d e h ö h e r e S e i n s f o r m ist i m V e r h ä l t n i s zu der n i e d r i g e r e n r e l a t i v k r a f t l o s , u n d sie v e r w i r k l i c h t sich n i c h t d u r c h ihre eigenen K r ä f t e , s o n d e r n d u r c h die K r ä f t e d e r n i e d r i g e r e n . " So ist es m i t Geist u n d L e b e n . Wie Schelling g e h t hier Scheler a u s v o n d e m E r l e b n i s d e r p r o d u k t i v e n m e n s c h lichen Persönlichkeit. „ D a s w a s a m Menschen r e c h t eigentlich s c h ö p f e r i s c h u n d m ä c h t i g ist, ist nicht d a s , was wir Geist n e n n e n , s o n d e r n die d u n k l e n u n t e r b e w u ß t e n T r i e b m ä c h t e der S e e l e " ; geistige E n e r g i e w ä c h s t n u r , d u r c h S u b l i m i e r u n g , E i n s c h r ä n k u n g e n , U m l e n k u n g e n aus m ä c h t i g e r V i t a l i t ä t h e r v o r . E s sind die ( a n sich b l i n d e n u n d d e r Zufälligkeit der L e b e n s m ä c h t e a u s g e s e t z t e n ) T r i e b e , welche die E r m ä c h t i g u n g u n d d a m i t die V e r l e b e n d i g u n g des v o n H a u s e aus o h n m ä c h t i g e n Geistes l e i s t e n ; w ä h r e n d d e r Geist aus sich nie irgendwelche T r i e b e n e r g i e erzeugen k a n n . D a s L e b e n also allein „ v e r m a g es, d e n Geist v o n seiner e i n f a c h s t e n A k t r e g u n g a n bis z u r L e i s t u n g eines W e r k e s , d e m wir geistigen S i n n g e h a l t z u s c h r e i b e n , i n T ä t i g k e i t zu setzen u n d zu v e r w i r k l i c h e n " . — U n d u m g e k e h r t e n t s p r i c h t dieser L e i s t u n g des L e b e n s f ü r d e n Geist die (philosophisch m e h r b e k a n n t e u n d v e r w e r t e t e ) L e i s t u n g des Geistes f ü r d a s L e b e n : d e r „ u r s p r ü n g l i c h d ä m o n i s c h e , d. h. g e g e n ü b e r allen geistigen I d e e n u n d W e r t e n blinde D r a n g " wird d u r c h die v o m geistigen A k t z e n t r u m d e r P e r s o n a u s g e h e n d e n H e m m u n g e n u n d E n t h e m m u n g e n der T r i e b i m p u l s e , d u r c h d a s l e i t e n d e u n d l e n k e n d e V o r h a l t e n d e r I d e e n u n d W e r t e ideiert, vergeistigt. So b e s t e h t alles menschlich-geistige D a s e i n in einer wachs e n d e n W e c h s e l d u r c h d r i n g u n g v o n D r a n g u n d I d e e , L e b e n u n d Geist. — Scheler h a t ( w i e d e r u m mit Schelling, d o c h u n t e r b e t o n t e r A b w e n d u n g v o n dessen theistischer Gotteslehre) diese D u a l i t ä t v o n L e b e n u n d Geist d a n n a u c h auf d a s h ö c h s t e Sein projiziert. Die beiden ( u n s b e k a n n t e n ) A t t r i b u t e des „ W e l t g r u n d e s " sind n a c h i h m e i n m a l die natura naturans, der „ m i t u n e n d l i c h e n Bildern geladene D r a n g " die „ b i l d e r Bchaffende D r a n g p h a n t a s i e " (vgl. d a s m e t a p h y s i s c h e P h a n t a s i e p r i n z i p Schellings, des S p ä t i d e a l i s m u s , F r o h s c h a m m e r s ) — u n d d a n n die i m A k t der s t e t i g e n W e l t r e a l i s i e r u n g als ewiger u n d ü b e r s i n g u l ä r e r Geist sich erzeugende u n d realisierende I d e e n o r d n u n g . A u c h hier ist d e r Geist keineswegs d a s a l l m ä c h t i g e P r i n z i p ; i h n als die schöpferische, w i r k l i c h k e i t s e t z e n d e M a c h t zu b e h a u p t e n , ist n a c h Schelers l e t z t e r L e h r e der G r u n d fehler des christlichen T h e i s m u s (der sich so gern d a n n i m m e r m i t der idealistischen Metap h y s i k u n d i h r e r Lehre v o n der S e l b s t m a c h t d e r I d e e v e r b a n d ) . D a s eigentliche m a c h t h a b e n d e u n d R e a l i t ä t s c h a f f e n d e P r i n z i p , da9 P r i n z i p der W i r k l i c h k e i t m i t aller i h r e r K o n t i n g e n z ist v i e l m e h r j e n e s blinde U r l e b e n des D r a n g e s . Der W e l t p r o z e ß a b e r b e s t e h t eben in der Vergeistigung des D r a n g s u n d V e r l e b e n d i g u n g des Geistes; die wechselseitige D u r c h d r i n g u n g d e r beiden U r p o t e n z e n ist d e r V e r k l ä r u n g s w e g des A b s o l u t e n .

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Von d e n P r o b l e m e n der Gesellschaftslehre her h a t neuerdings O. S p a n n eine a u s f ü h r l i c h e M e t a p h y s i k des Geistes a u f g e b a u t . D e r P s y chologie des s p ä t e n 19. J a h r h u n d e r t s , m i t ihren sensualistisch-assoziationistischen T e n d e n z e n u n d d e m Vorwalten des vorstellenden Seelenlebens sowie der v o n d a a u s g e h e n d e n „Sozialpsychologie", die von den „sozialen G e f ü h l e n " , als gewissen i n h a l t l i c h e n Besonderheiten des I n d i v i d u a l b e w u ß t s e i n s her zur menschlichen Gemeinschafts- u n d Gesamtheitsbild u n g des geistigen Lebens k o m m e n wollte — stellt S p a n n seine m e t a p h y s i s c h e „ P n e u m a t o l o g i e " entgegen, die (im Sinne sowohl des a n t i k m i t t e l a l t e r l i c h e n , wie des n a c h k a n t i s c h e n Idealismus) den Geist als aus sich selbst e n t s p r i n g e n d e A k t i v i t ä t , als s p o n t a n e H i n g e b u n g a n m e t a p h y s i s c h Ideelles, u n d als h a n d e l n d e s Verwirklichen desselben sowie als u r s p r ü n g l i c h e , v o n i n n e n her sich gliedernde G e s a m t h e i t über allen individuellen S t r e b u n g e n u n d G e f ü h l e n zu v e r s t e h e n s u c h t . Aus I n d i v i d u e n u n d d e r e n G e d a n k e n oder W o l l u n g e n k ö n n e n nie d u r c h Z u s a m m e n s e t z u n g u n d b l o ß e W e c h s e l w i r k u n g geistige Z u s a m m e n h ä n g e der Gesellschaft u n d K u l t u r e n t s t e h e n ; n i c h t v o n u n t e n u n d v o m Einzelnen, sondern v o n oben u n d v o m G a n z e n her ist menschlich-geistiges L e b e n zu begreifen. Ges c h i c h t e l e h r t u n w i d e r s p r e c h l i c h , d a ß der K u l t u r g e h a l t j e d e r Zeit überindividuell b e s t i m m t ist u n d n i c h t aus einer S u m m e geistiger A k t e der einzelnen Menschen a b z u l e i t e n ist. Die Einzelnen erscheinen so n i c h t als die A u s g a n g s p u n k t e s o n d e r n als die l e t z t e n A k t u i e r u n g e n der o b j e k t i v e n K u l t u r , des o b j e k t i v e n v o n Ideen her b e s t i m m t e n Geistes. — D a s K e r n p r i n z i p des Geistes ist d e m n a c h n i c h t die k a u s a l e Wechselwirkung sond e r n die „ A u s g l i e d e r u n g " , ein schöpferischer Vorgang der Differenzierung, in d e m aus der E i n h e i t des o b j e k t i v e n Ganzen die Vielheit s e l b s t t ä t i g e r u n d s u b j e k t i v - b e w u ß t e r Glieder sich h e r a u s g e s t a l t e t . J e d e s S u b j e k t k a n n w e s e n h a f t n u r als Mit-Ausgegliedertes b e s t e h e n ; es l e b t w e s e n h a f t n u r als Glied einer h ö h e r e n geistigen G e s a m t g a n z h e i t (z. B. S t a a t u n d Kirche). Das E n t h a l t e n s e i n i m G l i e d e r b a u des o b j e k t i v e n Geistes ist m e h r als ein bloßes „soziales M o m e n t " in I n d i v i d u e n , es ist w e s e n s b e g r ü n d e n d , Wes e n s b e s t a n d t e i l des s u b j e k t i v e n Geistes. Das Soziale liegt schon imWurzelp u n k t des I n d i v i d u e l l e n ; die sozialen Gefühle u n d A k t e 8ind in der Verf a s s u n g des I n d i v i d u u m s selbst b e g r ü n d e t , j a j e d e r seelischen Erschein u n g (nicht n u r d e m „ M i t l e i d " , „ G e m e i n s i n n " usw.) w o h n t diese „sozialpsychische N a t u r " i n n e . „ E s i s t n i c h t n u r eine Angelegenheit der Gesells c h a f t s l e h r e , d a ß j e d e r s u b j e k t i v e Geist als Glied i m Ganzen des überi n d i v i d u e l l e n Geistes e n t h a l t e n i s t ; es ist auch eine Angelegenheit der Seelenlehre, u n d zwar eine e n t s c h e i d e n d e . " So gehört d e n n a u c h „ R ü c k v e r b u n d e n h e i t " m i t h ö h e r e n G a n z h e i t e n zum W e s e n jedes B e w u ß t s e i n s ; das Ganze geht in seinen Gliedern nie u n t e r , s o n d e r n behält sie ideell zugleich in sich, w ä h r e n d u m g e k e h r t das ausgegliederte Glied sein eigenes Sein „ n i c h t n u r in sich selbst ( I d e n t i t ä t ) , sondern n o c h m a l s in der h ö h e r e n Ganzheit f i n d e t ( S e l b f r e m d h e i t ) " . „ E r s t i n d e m das Aus-

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gegliederte im Geiste selbst rückverbunden bleibt, wird die Selbstsetzung zum Bei-sich-selbst-sein, und erst dieses begründet die Ichform oder Subjektivität." Jedes Bewußtsein findet sich wesenhaft rückverbunden in übergeordneten, stufenförmig einander umschließenden Ganzheiten, zuletzt in Gott.

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I n diese s t a r k a n Hegel orientierte Metaphysik des o b j e k t i v e n u n d s u b j e k t i v e n Geistes h a t S p a n n auch Fichtes Problem des I c h - D u - Z u s a m m e n h a n g s ausdrücklich eingeordnet. Alles geistige Leben gründet zuletzt in „ E i n g e b u n g e n " (z. B. Inspiration des Künstlers). Überindividuell-ideelle Gehalte t u n sich dem schauenden E m p f a n g e n des subjektiven Geistes auf; seine Freiheit und sein selbsteigenes Schaffen b e s t e h t d a n n in der „ A n n a h m e " , im tätigen Vollzug, im Durchführen, Verwirklichen u n d Weitergeben des in der (vorbewußten) geistigen Schau E m p f a n g e n e n . Diese A n n a h m e aber ist n u n möglich n u r in der „Gezweiung". „Ohne jene Auferweckung u n d Verlebendigung des Geistes, welche die Gezweiung dem Menschen verleiht, d. h. ohne j e n e K r a f t q u e l l e , die in d e m Mit-dabei-sein eines anderen Geistes gelegen ist, k ö n n t e der Einzelne niemals die K r a f t u n d Freudigkeit zur A n n a h m e seiner Eingebungen a u f b r i n g e n . " J e d e grundlegende geistige T a t der A n n a h m e z. B. in den Führerpersönlichkeiten der Geschichte geschieht ,4m Hinblick auf ein künftiges Kundgeben in der Gezweiung", u n d wieder auch bei den G e f ü h r t e n ist „künftiges K u n d n e h m e n in Gezweiung" die f ü r ihre geistige H a l t u n g entscheidende Tendenz. I n W a h r h e i t wird j e d e geistige Erscheinung nicht n u r von der inhaltlichen Art ihrer Leistung bestimmt, „sondern auch von der Gezweitheit als von einer U r q u a l i t ä t " . Das D u der Gezweiung ist w e s e n h a f t Mit-Glied im Ausgliederungsprozeß des Geistes; das D u ist seingebend f ü r das I c h . Die erste a k t u i e r t e Selbstunterscheidung des Ich geschieht gegenüber einem a n d e r e n I c h , oder d e m Gezweiten; erst darauf folgt (sachlich, nicht zeitlich verstanden) die Unterscheidung des I c h v o m Gegenstande. „ D a s Ich empfindet u n d d e n k t nirgends . . . w a h r h a f t n u r sich selbst allein, es weiß sich gewußt und weiß den Andern, und es e m p f i n d e t d a d u r c h in der eigenen Geistigkeit zugleich die andern Geister . . . mit, sei es u n m i t t e l b a r , sei es m i t t e l b a r . " Dies gegenseitige „Wissen" ist nach Spanns Lehre nicht ein rein intellektuelles H a b e n , sondern ein emotional-aktiver Wechselbezug der Hingebung. I n jeder Gezweiung (im Geben wie im N e h m e n , im F ü h r e n und Sich-führen-lassen) liegt ein S t ü c k echter Hing e b u n g ; — Hingebung ist ebenso wie „Ausgliederung" u n d „ G e z w e i u n g " eine Urbeschaffenheit des Geistes. Die Hingabe des subjektiven Geistes in der Gezweiung — die zugleich seine Gliedhaftigkeit im objektiven Geiste a u s d r ü c k t — d u r c h t r ä n k t die sämtlichen geistigen Erscheinungen. Auf dieser metaphysischen Basis sind Gesellschaftslehre u n d Gemeinschaftsethik ( „ T r e u e " z. B. ist eine F o r m des „ r i c h t i g e n " E n t h a l t e n seins in einem Gezweiungsgebilde) zu errichten. — SpannB Pneumatologie tendiert, nicht anders als ihr Hegel-Vorbild, zu einer weitgehenden Aufsaugung des Persönlich-Individuellen d u r c h das Allgemeine u n d Objektive. Die Kategorien der Ausgliederung und R ü c k v e r b u n d e n h e i t werden in nicht grundsätzlich verschiedenem Sinne auf die im subjektiven Geist gesetzten Gedanken u n d seelischen Regungen, wie auf die im Gesamtgeist einer Volksgemeinschaft gesetzten I n d i v i d u e n angewandt. Auch den ersteren wird gliedhafte Selbsttätigkeit zugeschrieben: der Begriff z. B., den der Denkende setzt (etwa im Schlußzusammenhang), wird im D e n k e n z u m tätigen Glied, das den schlußfolgernden Gang von selbst w e i t e r t r e i b t ; er ist r ü c k v e r b u n d e n u n d wird selber rückverbindend. Der Gedanke m a c h t sich da gleichsam z u m H e r r n des Denkenden; — so zeigt sich uns „ d a s Denken als ein Abbild des göttlichen Lebens", des absoluten actus purus, dessen Geschaffenes i m m e r auch selbst schaffend, nie bloß gegenständlich und erleidend ist. — So sehr in dieser Geistesmetaphysik die Freiheit, Selbstheit, Tätigkeit der menschlichen S u b j e k t i v i t ä t b e h a u p t e t u n d b e t o n t wird, so sehr ist sie zugleich doch auch, in der S t u f u n g der Ganzheiten und Glieder, einer tiefgreifenden Relativierung ausgesetzt.

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Ganz engen Zusammenhang mit Hegels Metaphysik des Geistes zeigen in j ü n g s t e r Zeit noch die Kulturphilosophie von R. K r o n e r (metaphysischer Bewußtseinsbegriff!) u n d die Philosophie des Geistes von E. W o l f f (vgl. Bd. II dieses Handbuches). Diltheys Philosophie des Geistes h a t ihre Fortsetzung in der Typenlehre S p r a n g e r s u n d in dessen Begriff v o m Objektiv-Geistigen als dem Bestimmenden f ü r den A u f b a u menschlicher Persönlichkeit und Seelenstrnktur gefunden. Auch J a s p e r b ' Psychologie der Weltanschauungen e n t h ä l t keimhaft eine metaphysische Lehre v o m geistigen Leben.

ß ) P e r s o n u n d I n d i v i d u a l i t ä t . Zugleich mit der neuen Anerkennung der fundamentalen Realität und ontologischen Eigengesetzlichkeit 10 und Eigenlebendigkeit des Objektiv-Geistigen gegenüber dem SubjektivPsychischen tritt mit dem 20. Jahrhundert auch wieder ein tieferes metaphysisches Verständnis für das Wesen der geistigen Persönlichkeit zutage. Schon bei D i l t h e y ist der Ansatz dazu gegeben, trotz allem Verhaftetsein der (positivistisch-universalistischen) Einstellung in das Denken von Zusammenhängen und Milieubedingungen; die entscheidende Wirkung aber auf das jäh anwachsende Interesse des Zeitalters für menschliche Persönlichkeit und Individualität geht von den Wertsetzungen N i e t z s c h e s aus; in jüngster Gegenwart ist dazu noch der Einfluß K i e r k e g a a r d s und seines Kampfes gegen den Geist-Universalismus Hegels 20 getreten. Auch in dieser Frage bedurfte es des Hinaustretens der Zeit aus der naturalistisch orientierten Psychologie. Wie diese, als „Psychologismus", die Eigengesetzlichkeit und Objektivitfit des Geistigen verdeckte und ausschaltete, so suchte sie auch das Ich und die Person in einen mehr oder minder assoziativ gedachten Mechanismus, in einen Komplex von I n h a l t e n oder F u n k t i o n e n aufzulösen. Einheit, Selbsttätigkeit u n d Wertcharakter der Persönlichkeit fielen u n t e r dem Blick dieser kausal „ e r k l ä r e n d e n " , angeblich einzig wissenschaftlichen Psychologie dahin. Auch der Positivismus war j a allenthalben zur Aufspaltung des Ich in eine Summe von Gegebenheiten übergegangen. Wie aber, in dem bisher behandelten Problembereich, Erkenntnistheorie (besonders der neukantischen Schulen) und Phänomenologie durch ihren Kampf gegen den Psychologismus und ihre positive Herausarbeitung des Geistigen („Transzendentalen", „NoetiBchen") gegenüber dem Psychischen einer neuen Metaphysik des Geistes sehr wesentlich den Boden bereitet haben — so ist f ü r das Persönlichkeitsproblem die allgemeine W a n d lung in der Psychologie der letzten J a h r z e h n t e von grundlegender Bedeutung geworden. An die Stelle reiner Bewußtseinspsychologie, die das seelische Leben allein in der Schicht der BewuBtseinserlebnisse fassen zu können glaubte — metaphysisch ausgeweitet z. B. im Bewußtseins-Spiritualismus Paulsens —, ist mehr und mehr die Anerkennung unterbewußter psychischer Vorgänge von eigener Daseinsform und Lebensgesetzlichkeit, und ü b e r h a u p t die Ansetznng einer von den F o r m e n und Graden der Bewußtheit u n a b h ä n gigen psychischen Realität getreten. Vom Metaphysischen her h a t t e n schon E. v. H a r t m a n n und sein Schüler D r e w s , aus anderen philosophischen Zusammenhängen heraus N i e t z s c h e das Denken der Zeit in diese Richtung getrieben. Die atomisierend-summative Haltung und Methodik der Psychologie u n d positivistischen Ich-Philosophie aber ist einer Psychologie der S t r u k t u r und Gestalt, der Ganzheit und Ganzheitsentwicklung gewichen, die in ganz anderer Weise nun auf das P h ä n o m e n und die Phänomenologie des einheitlichen Ich, auf die S t r u k t u r z u s a m m e n h ä n g e persönlichen Lebens eingestellt iBt, als die alte,, Psychologie ohne Seele". Tendenz und Forderung einer neuen Kategorienlehre f ü r den Bereich des Psychischen, einer phänomenologischen u n d ontologischen Fundierung der Psychologie t u t sich von da aus auf. —

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E i n e n e u e M e t a p h y s i k der Person ist i m W e r d e n , W i e d e r a u f n a h m e u n d F o r t s e t z u n g j e n e r großen Entwicklungslinie, die in der letzten Glanzzeit der M e t a p h y s i k von K a n t zu F i c h t e u n d besonders Schelling, zu K r a u s e u n d Schleiermacher, u n d d a n n zum Spätidealismus ( J . H . F i c h t e ! ) sich hinzog, i m s p ä t e r e n 19. J a h r h u n d e r t n u r in vereinzelten Erschein u n g e n — in D e u t s c h l a n d e t w a T e i c h m ü l l e r , in F r a n k r e i c h R e n o u v i e r — sich f o r t s e t z e n d . F ü r den Ü b e r g a n g von der Psychologie zur M e t a p h y s i k i s t hierbei W . S t e r n s Philosophie der Person s y m p t o m a t i s c h g e w o r d e n ; hier wird „ P e r s o n " (welcher Begriff d a n n allerdings i n der allgemeinen A u s w e i t u n g eines m e t a p h y s i s c h e n „ P e r s o n a l i s m u s " s t a r k verb l a ß t , wie s c h o n bei Renouvier) als überpsychische, dem psycho-physischen Gegensatz e n t h o b e n e u n d gegen ihn n e u t r a l e , zugleich, bei aller Vielheit u n d wechselseitigen Abhängigkeit der T e i l f u n k t i o n e n , als ü b e r k a u s a l e u n d zielstrebig-selbsttätige E n t w i c k l u n g s e i n h e i t v o n i n n e r e r Eigenart u n d Eigenwertigkeit gefaßt. E i n e h ö c h s t b e d e u t s a m e M e t a p h y s i k der Person h a t d a n n , v o n d e r P h ä n o m e n o l o g i e h e r , M. S c h e l e r (im R a h m e n seiner E t h i k ) e n t w i c k e l t . Seine L e h r e geht v o n der G r u n d ü b e r z e u g u n g aus, d a ß P e r s o n a l i t ä t „ d i e w e s e n s n o t w e n d i g e u n d einzige E x i s t e n z f o r m des Geistes als k o n k r e t e n wirklichen D a s e i n s " ist. ( S p ä t e r e r f ä h r t dieser Satz bei Scheler, m i t der W a n d l u n g i n der F a s s u n g des Gottesbegriffs, eine gewisse E i n s c h r ä n k u n g : P e r s o n ist hier die Seinsform, in der der Geist i n n e r h a l b „ e n d l i c h e r " S e i n s s p h ä r e n w e s e n h a f t „ e r s c h e i n t " ! ) „ P e r s o n " aber wird d a n n b e s t i m m t als „ A k t z e n t r u m " . Geist ist w e s e n h a f t reine A k t u a l i t ä t , die i h r Sein n u r i m Vollzug h a t ; wirklicher k o n k r e t e r Geist aber ist i m m e r ein i n sich selbst s t e t i g sich vollziehendes, monarchisch geeintes O r d n u n g s gefüge v o n geistigen (intentionalen) A k t e n . Person, als Einheitsquelle dieser Vollzüge, ist a b e r n i c h t wie ein leerer A u s g a n g s p u n k t oder gar als Mosaik v o n A k t e n (dies gegen W u n d t s psychologischen „ A k t u a l i s m u s " ! ) vorzustellen, s o n d e r n als konkretes selbsttätiges Sein, das i m m e r n u r ist u n d l e b t u n d sich erlebt in eben j e n e n , d u r c h Sinneinheit einander verb u n d e n e n A k t e n — i n j e d e m von i h n e n ganz darinlebend, mit j e d e m aber a u c h als Ganzes variierend, u n d doch in keinem ganz a u f g e h e n d . J e d e r wirkliche k o n k r e t e A k t , z. B. des D e n k e n s oder Wollens, t r ä g t — w e n n m a n i h n n u r voll-anschaulich m i t e r l e b t u n d a u f f a ß t — das t o t u m u n d das b e s o n d e r e W e s e n der Persönlichkeit, aus der er s t a m m t , in sich. So ist P e r s o n , als die stets u n m i t t e l b a r m i t e r l e b t e E i n h e i t des Erlebens, l e b e n d i g t ä t i g e F o r m - u n d F u n d i e r u n g s e i n h e i t der verschiedensten A k t w e s e n ; gegenüber der A b s t r a k t h e i t von A k t u n t e r s c h e i d u n g e n in D e n k e n , Wollen usw. b e d e u t e t sie gerade die u n t r e n n b a r e allseitige Verflochtenheit der d i f f e r e n t e n A k t w e s e n h e i t e n . So ist Person m e h r u n d ganz Anderes als Beseelung, Ichheit, I c h b e w u ß t s e i n (die auch Tieren bzw. den S t a d i e n u n d S t u f e n menschlicher E n t w i c k l u n g , wo eigentliche P e r s o n a l i t ä t n o c h nicht a u f t r i t t , z u k o m m e n ) ; Person ist auch mehr als Wis-

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senskern und Selbstbewußtsein im Sinne des intellektualistisch orientierten Idealismus. Als A k t v o l l z u g aber ist nun die Person wesenhaft „ g e g e n s t a n d s u n f ä h i g " : sie kann nie zum einfachen Gegenüber und Gegenstand der inneren W a h r n e h m u n g gemacht werden. A k t e können nur im V o l l z u g selbst unmittelbar erlebt w e r d e n ; die einzige A r t ihrer Gegebenheit ist der Vollzug selbst, in dem lebend sie gleichzeitig sich erleben; auch durch einen zweiten rückblickenden A k t sind sie nicht zu vergegenständlichen. Z u m Sein unserer Person also können wir uns nur selbst sammeln; nie können wir es wirklich vor uns selbst hinstellen. A u c h die A k t e (und erst recht die Persontotalität) fremder Personen sind unserm Verstehen nur in lebendigem Mit- oder N a c h v o l l z u g ihrer I n tentionen zugänglich. Eine doppelte Gegenstellung ergibt sich hiermit: einmal gegen alle metaphysischen Lehren von der Seelensubstanz oder von einem dinglich-substantiell verstandenen I c h (res cogitans), und dann gegen alle Auffassung menschlich-persönlichen Daseins v o m Ichbegriff der Psychologie her. Ausdrücklich gibt sich Scheie» Lehre vom A k t z e n t r u m der Person als Fortführung der Kantischen Tendenz (in der Kritik der rationalen Psychologie) gegen die substantialistische Seelenmetaphysik. Der persönliche geistige Daseinskern des Menschen ist nicht Substanz mit irgendwelchen „Vermögen" u n d „DisPositionen", nicht dingliche Existenz, die sich verändert und deren „ E i g e n s c h a f t e n " wechseln in der Zeit; die Identität der Person liegt keineswegs „hinter" u n d „Uber" ihren Akten, in einem dauernden Substrat, sondern sie existiert und lebt allein i n den Akten und in der qualitativen Richtung ihres puren Anderswerdens selbst. — Von der Psychologie (auch der Transzendentalpsychologie) des Ich aber wird die Phänomenologie und Metaphysik der Person dadurch abgeschieden, daB, nach Scheler, das „ I c h " im eigentlichen Sinne eben Gegenstand, Gegenstand innerer Wahrnehmung, u n d somit schon ein Teilphänomen des ursprünglichen Erlebnis- und Aktzusammenhangs der Person ist. Das Ich (auch es ein Urphänomen und wesenhafte Totalgegebenheit, nicht „ S u m m e " von „inneren" I n h a l t e n ; eine undingliche Einheit und Lebenskontinuität von Erlebnissen) ist Gegenstand unter Gegenständen; es gehört zur „ I n n e n w e l t " , wie die körperlichen Dinge zur „Außenwelt". Das Ich ist also Gegenstand der auf Bewußtseinsgegebenheiten, auf die der inneren Wahrnehmung zugänglichen Inhalte. F u n k tionen, Abläufe eingestellten Psychologie. Person aber, das tätige Vollzugszentrum der Akte ist — wie schon die Akte selbst — „überbewußtes" (nicht unter den Bewußtseinserscheinungen aufzufindendes), „unpsychisches" Sein, indifferent gegen die Gegensätze von Psychisch und Physisch, von Ich und Außenwirklichkeit; — auf Innen- wie Außenwelt gleich unmittelbar einwirkend. Die Wirklichkeit und das Wesen der Perion transzendiert wesenhaft alle Psychologie, alle „erklärende" nicht nur sondern auch alle „verstehende" und Motivationszusammenhänge aufdeckende Psychologie. Psychologisches Erfassen ist immer schon Objektivieren, und d. h. dann immer a u c h : E n t personalisieren. Diese Thesen werden von Scheler noch besonders metaphysisch ausgewertet zur Verteidigung des philosophischen Theismus gegen die von E. v. H a r t m a n n , wie schon von Fichte behauptete Wesensunmöglichkeit einer unendlichen und durch kein Gegenüber von Welt und Du eingeschränkten absoluten Person. Personalität gehört z u m Wesen des existierenden konkreten Geistes, nicht aber das „ I c h " (das vielmehr an Leiblichkeit geknüpft Bein soll). Das Urwesen kann Person sein, eine lebendige Totalität, die sich selbst genügt, ohne doch Ich (mit seiner Wesenskorrelation zum Du und zur Außenwelt) zu sein.

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Z u m Seinswesen der Person gehört weiterhin die Individuation. Jeder Mensch, in d e m Maße als er reine Person (und nicht nur sinnlich-leibliches, beseelt-bewußtes Wesen) ist, stellt ein individuelles und darum von j e d e m Anderen verschiedenes einmaliges Sein dar. Allen metaphysischen Lehren v o m Einen Geist, v o n Einer unpersönlichen Vernunfttätigkeit, deren bloße D u r c h g a n g s p u n k t e die Individuen sein sollen, m u ß dieser Wesensz u s a m m e n h a n g entgegengestellt werden: „ d a ß jede endliche Person ein I n d i v i d u u m ist, und dies als Person selbst — nicht erst durch ihren besonderen (äußeren und inneren) Erlebnisinhalt . . ., und auch nicht erst durch den L e i b , den sie zu eigen h a t " . I m Erleben jedes Erlebnisses selbst ist schon die Verschiedenheitseinsicht des eigenen v o m fremden A k t e mitgegeben und erlebbar. Nicht R a u m und Zeit sind hier die Prinzipien der Individuation (dies gegen Schopenhauer!), noch gar „ M a t e r i e " , sondern die Existenzgesetzlichkeit des Geistes selbst. „Personen sind real verschiedene in letzter Instanz n u r , w e i l sie soseinsverschieden, d. h. weil sie a b s o l u t e Individuen s i n d . " — D a aber Person nicht bloß wertindifferentes Sein ist (wie in der Einstellung der naturalistischen P s y c h o logie), sondern als Vollzugs Zentrum geistiger A k t e wesenhaft immer auch W e r t t r ä g e r und Wertwesen ist, so überträgt der Einmaligkeitsgedanke sich auch auf die Wertexistenz. „ P e r s o n ist wesenhaft individuelles konkretes selbstwertiges A k t z e n t r u m " ; sie t r ä g t ihr ideales Wertwesen immanent in ihrer E x i s t e n z mit sich und gleichsam vor sich her. Alle individuellen Sollensforderungen und Verpflichtungserlebmsse (Simmeis „ i n dividuelles G e s e t z " ) erwachsen immer erst aus der in Lebenserfahrung und liebendem Verstehen sich uns erschließenden individuellen W e r t wirklichkeit der konkreten Person. — Mit der wesenhaften Individuation der Personalität ergibt sich dann f ü r Scheler auch eine wesenhafte Transzendenz und Transintelligibilität der Person in ihrem letzten K e r n — der „ i n t i m e n P e r s o n " — für jede andere. Personales Sein ist eine zuletzt (und unterhalb der Schichten der „ s o z i a l e n " Beziehungen und E x i s t e n z z u s a m m e n h ä n g e ) in sich beschlossene, allein und einsam in sich selbst lebendige A k t u a l i t ä t , aller möglichen Fremderkenntnis und Fremdw e r t u n g ewig transzendent. Die Geistigkeit der in A k t e n reiner Intentionalität sich konstituierenden und darlebenden Person bedeutet sogleich auch ihre Freiheit. Die psychologisch-deterministischen Freiheitsbegriffe, welche die Handlungen des Menschen aus K a u s a l i t ä t e n des „ C h a r a k t e r s " hervorgehen lassen, verfälschen eben wieder die Personalität zu einer substantiellen Dinglichkeit. Die wirkliche Person, in jedem ihrer A k t e lebend, durch jeden also auch in ihrem Seinsgehalt sich wandelnd, vollzieht unter Umständen vollkommene Charakteränderungen. Selbstverantwortlichkeit, Autonomie der Einsicht und des Wollens, Freiheit des A k t z e n t r u m s gegenüber aller p s y chischen K a u s a l i t ä t und Motivationsgebundenheit stehen im tiefsten W e s e n s z u s a m m e n h a n g mit der Person als solcher. Handb. d. Phil. I. F IS

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Die Person wird im übrigen hier als an sich und in ihrem reinen Wesen noch unzeitlicher Intentions- u n d Sinnzusammenhang und ü b e r h a u p t als eine von R a u m und Zeit unabhängige E n t i t ä t gefaßt, in der nur „eine Ordnung des Ursprungs in die Zeit hinein" mitangelegt ist. Insbesondere soll die Person, im Gegensatz zum Ich, nicht wesenhaft an eine Leiblichkeit und Leiberstreckungen geknüpft sein. Dagegen gehört zur Person noch die unmittelbar in ihr erlebte Willensmächtigkeit über den etwa ihr zugehörigen Leib, in welchem und durch den sie sich auswirkt. — Von der Seinsart und Wesensstruktur der Einzelperson geht die CeistmetaphyBik Schelers dann noch über zum Begriff der „Gesamtperson". Alle echten geistigen Gemeinschaften (nicht aber bloße Lebensgemeinschaften auf vital-triebhafter Basis, noch auch die bloßen Interessenzusammenhänge der „Gesellschaft") sind mehr als Summen oder Wechselwirkungsprodukte von Individuen; sie sind „erlebte R e a l i t ä t e n " , in die das I n d i v i d u u m sich jeweils hineinverflochten findet. Nur eine metaphysische Hypostasierung der Einzelperson k a n n die EigenrealitBt dieser, auch wieder streng individuell sich gegeneinander abhebenden Gesamtpersonen (der Kulturkreise, Nationen, Stämme, F a milien) verkennen und atomistisch erklären wollen. Faktisch gehören zum Aktgefüge der Einzelperson wesenhaft jene auf andere Personen und auf das Leben der Gemeinschaft hinzielenden Akte, die wir als Liebe, Sympathie, Hingabe, Mitgefühl kennen und deren Gesamtheit in dem sittlichen Bewußtsein der geistigen Solidarität n n d wesenh a f t e n Mitverantwortlichkeit aller Personen gipfelt. Jede Einzelperson gewahrt sich, und dies in jedem ihrer Akte, n u r anf dem Hintergrund und zugleich als Glied einer personalen Gemeinschaftstotalität irgendwelcher Art, deren Bestand dem Bewußtsein ebenso ursprünglich gegeben ist wie Innenwelt und Außenwelt. D u r c h eine Vielheit von Gliedschaften ist der Einzelmensch einem überall individuellen u n d in sich ungleichen, ungleichwertigen Reich freier geistiger Personen eingefügt; die höheren Gesamtheiten umschließen die niederen, und werden selbst zuletzt umschlossen von der letzten Einheit des göttlichen Geistes. I m m e r aber r a g t doch dabei das eigentümliche Selbstsein u n d der individuelle Selbstwert der Einzelperson in ihrer letzten Innerlichkeit hinaus über das Ganze ihrer Gliedstellen in den Gesamtpersonen; Sein u n d W e r t der ,»intimen" Person geht niemals auf in den übergreifenden sozialen Zusammenhängen und Gemeinschaftgwerten. — So dringt Scheler (und zwar mit tieferer W a h r u n g der Selbstbeit und Geschlossenheit der Einzelperson, als etwa Spannt) von „ u n t e n " , von den geistigen Aktzentren her zu jenen Zusammenhängen und geistigen Realitäten durch, von denen die an Dilthey und an den mehr objektiv gerichteten Geistbegriff des Idealismus anknüpfenden Denker ausgegangen waren. Die Metaphysik der ich-transzendenten Akte und Beziehungen, die Metaphysik des Mitgefühls, der Liebe, der Mitverantwortlichkeit und ü b e r h a u p t des wechselseitigen Verstehens der Personen ist von da ganz neu ins Zentrum des gegenwärtigen Interesses gerückt. — Auch die „Dialektik des Geistes" von P. W u s t ist zentriert auf das metaphysische Sein und Wesen der Personalität, ihrer Stufen und ihrer spezifischen Tiefencharaktere sowie auf die „Ergänzungsbedürftigkeit" der menschlichen Einzelperson und ihre geistige Solidarität in einem seelisch-personalen Gesamtzusammenhang.

Weitgehend verwandt mit Schelers Metaphysik des personalen geistigen Seins ist auch die in jünster Zeit von J . V o l k e l t von einer Phänomenologie des Ich aus entwickelte Ontotogie der Individualität. Das empirische Ich des Erlebens ist ein Komplex, der Unzusammenhängendes, Lückenhaftes überall aufweist; es muß daher durch eine andere Seins Sphäre metaphysisch unterbaut werden. Ein überempirisches, „intelligibles" Tiefenich, „transsubjektiv" in seinem Sein, ist Grundlage unseres wechselnden empirischen Bewußtseins; ein „Ich" auch dieses: Innerlichkeit und Individualität, in sich zurückgewendete Tätigkeit und seiner

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gelbst H a b h a f t - s e i n . I n diesem Tiefenich wurzelt die Freiheit u n d deren i n t u i t i v e Selbstgewißheit, die wir i n uns t r a g e n ; hier g r ü n d e n d a h e r auch die moralischen W e s e n s q u a l i t ä t e n , die das „ I c h " zur „ P e r s o n " m a c h e n . E x i s t e n z u n d W i r k s a m k e i t des intelligiblen Ich sind u n t e r b e w u ß t ; die erst i n i h r e n A u s w i r k u n g e n ins B e w u ß t s e i n reichenden Dispositionen u n d G r u n d r i c h t u n g e n jedes individuellen Seelenlebens, insbesondere aber auch die j e d e m e r k e n n e n d e n u n d h a n d e l n d e n Ich gleicherweise i m m a n e n t e n , doch meist n u r i n der philosophischen Reflexion b e w u ß t werdenden apriorischen Sinn- u n d Wertgesetzlichkeiten sind v o n da her zu erklären. E r s t das zweckvolle Z u s a m m e n a r b e i t e n dieser (nicht e t w a an sich u n d m e t a p h y s i s c h u n b e w u ß t e n , s o n d e r n n u r u n s e r m Bewußtsein sich e n t ziehenden) Tiefenschicht m i t den b e w u ß t e n A k t e n u n d I n h a l t e n , in d e n e n die tieferen T e n d e n z e n ihre E r f ü l l u n g f i n d e n , m a c h e n jenes organische Ganze, jenes Gesamtich aus, das wir „ S e e l e " n e n n e n . Auch in dieser Metaphysik des Ich und der Seele (deren Zusammenhang mit J. H. Fichte unverkennbar ist) wird besonderer Nachdruck auf die wesenhafte Individuation des Geistigen gelegt. Jedes Fttrsichsein ist ein Einmaliges und Unwiderholbares; das Innerliche ist kraft seiner Innerlichkeit ein Fürsichseiendes und also ein Individuelles. Auch für Volkelt geht die in sich geschlossene Individualität des Einzelichs in den überindividuellen Ganzheiten (die auch er als metaphysische Einheiten und Einungen der Individuen anerkennt, und, als aus dem Urwesen stammende Teilfunktionen des geistigen Weltzusammenhangs, in ihrer Eigenart und Eigenwertigkeit betont!) nie auf. Das Ich ist mit dem Überindividuellen niemals substantiell Eins. „So wahr das Ich ,Person' ist, so unmöglich ist es, daß das Ich in das Überindividuelle geradezu eingeht." Auch D r i e s c h unterscheidet vom bewußten Ich und seinem „WissenB"-Leben die unterbewußte Grundlage der „Seele", die überall vollzieht und tut (z. B. im Denken und Wollen, oder in willkürlichen Leibbewegungen) ohne daß „ich" weiß, wie sie das macht. Mein Selbstbewußtsein zeigt mir immer nur gewisse Zustände jener metaphysischen Einheit an, nie die ursprünglichen Tätigkeiten.

y) M e t a p h y s i s c h e A n t h r o p o l o g i e . Mit der n e u e n Z u w e n d u n g des Interesses z u m Geist u n d zur Persönlichkeit ist endlich a u c h das Problem des Menschen als solchen, des Menschen in seiner leib-seelisch-geistigen E i n h e i t wieder n e u i n das Blickfeld m e t a p h y s i s c h e r Fragestellung gerückt. Von ganz verschiedenen Seiten her t r e i b t die Philosophie der Gegenwart auf eine m e t a p h y s i s c h e Anthropologie hin. Wesen, A u f b a u u n d Weltb e d e u t u n g des Menschen wollen n i c h t n u r , wie in den meisten m e t a p h y s i schen S y s t e m e n der Vergangenheit, i m R a h m e n eines gesamten Weltbildes i h r e B e l e u c h t u n g erfahren, s o n d e r n zum Gegenstand einer eigenen, z u n ä c h s t a n a l y t i s c h v o r g e h e n d e n philosophischen Disziplin g e m a c h t werden. — Schon i m Verlauf des 19. J a h r h u n d e r t s ist diese Tendenz zu einer philosophisch-metaphysischen Anthropologie verfolgbar (die sich von der empirisch-psychologischen u n d v ö l k e r k u n d l i c h e n „ A n t h r o p o l o g i e " etwa der K a n t i s c h e n Zeit n a c h F r a g e s t e l l u n g u n d Methode deutlich a b h e b t ) ; es m a g genügen, hier auf die N a m e n von H i l l e b r a n d , I . H . Fichte, Michelet u n d L o t z e ( „ M i k r o k o s m o s " ) hinzuweisen. — Eine dem deutschen F le•

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I d e a l i s m u s u n d ü b e r h a u p t der f r ü h e r e n M e t a p h y s i k gegenüber ganz n e u e P r o b l e m l a g e i n der F r a g e n a c h d e m W e s e n des Menschen ist d a n n i m 19. J a h r h u n d e r t a u f g e k o m m e n d u r c h d e n n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n E n t w i c k l u n g s g e d a n k e n , i n s b e s o n d e r e den D a r w i n i s m u s . G a n z anders als j e v o r h e r wird n u n der Mensch, u n d m i t i h m die g e s a m t e gesellschaftliche u n d geistige K u l t u r u n d Geschichte hineingestellt i n den N a t u r z u s a m m e n h a n g u n d seine o n t i s c h e n , p h y s i s c h e n , biologischen Gesetzlichkeiten. Die m e t a p h y s i s c h e A u s w e r t u n g dieser n e u e n P r o b l e m l a g e h a t das 19. J a h r h u n d e r t n i c h t geleistet; das allzu e i n f a c h e D e n k s c h e m a des n a t u r a l i s t i schen E v o l u t i o n i s m u s u n d der n a t u r a l i s t i s c h e n Psychologie ging d a r i n a u f , den Menschen als N a t u r w e s e n s c h l e c h t h i n u n d n u r d e m G r a d der K o m p l i z i e r u n g der F u n k t i o n e n n a c h v o m Tiere u n t e r s c h i e d e n zu f a s s e n ; a u c h die j u n g e W i s s e n s c h a f t der Soziologie t e n d i e r t e z u n ä c h s t d a r a u f , v o n d e n N a t u r f o r m e n des tierischen Z u s a m m e n l e b e n s aus die menschliche Gesellschaft zu begreifen. D e r Mensch als geistiges W e s e n erschien als reines E n t w i c k l u n g s d e r i v a t eines lebendigen T r i e b w e s e n s ; eine g r u n d s ä t z l i c h eigene Stellung i m W e l t g a n z e n blieb f ü r i h n n i c h t g e w a h r t . So ist es kein W u n d e r , w e n n u n t e r d e m E i n f l u ß d e r positivistischen Z e i t s t r ö m u n g schließlich die F r a g e n a c h d e m Menschen ü b e r h a u p t aus d e m Gesichtskreis der Philosophie v e r s c h w a n d u n d dieses große T h e m a in S o n d e r p e r s p e k t i v e n einzelner W i s s e n s c h a f t e n (Physiologie, Psychologie, Medizin, Soziologie u . a.) a u f g e s p l i t t e r t w u r d e . D e m g e g e n ü b e r f o r d e r t die neue p h i l o s o p h i s c h - m e t a p h y s i s c h e T e n d e n z z u r A n t h r o p o l o g i e den A u s g a n g v o n der in u n s e r e r L e b e n s e r f a h r u n g ü b e r all p r i m ä r gegebenen E i n h e i t des Menschen in seiner physisch-psychischen u n d geistigen L e b e n d i g k e i t , — bei voller W a h r u n g der Eigengesetzlichkeit der v e r s c h i e d e n e n S c h i c h t e n seines S t r u k t u r a u f b a u e s . D e r Mensch u n d alles was v o n i h m a u s g e h t in Gesellschaft, K u l t u r u n d Geschichte ist i m m e r zugleich N a t u r u n d Geist, V i t a l i t ä t u n d sinngestaltendes Personsein, N a t u r e n t w i c k l u n g u n d Geistesgeschichte, K a u s a l z u s a m m e n h a n g u n d F r e i h e i t . Spiritualistische S e e l e n m e t a p h y s i k u n d idealistische Metap h y s i k des Geistes bleiben ebensosehr z u r ü c k h i n t e r der K o m p l e x h e i t dieses geschichteten E i n h e i t s z u s a m m e n h a n g s , wie der N a t u r a l i s m u s ; ihre P e r s p e k t i v e n i n einer h ö h e r e n S y n t h e s e zu vereinen, ist A u f g a b e der neuen metaphysischen Anthropologie. D e r e n t s c h e i d e n d e V o r s t o ß in dieser R i c h t u n g u n d die erste großzügige U m r e i ß u n g der P r o b l e m z u s a m m e n h ä n g e ist von M. S c h e l e r ausgegangen. Scheler f o r d e r t u n d e n t w i r f t die philosophische A n t h r o p o l o g i e — L e h r e v o m W e s e n u n d W e s e n s a u f b a u des Menschen, v o n seinem Verh ä l t n i s zu den Bereichen der N a t u r wie z u m G r u n d e aller Dinge — als G r u n d w i s s e n s c h a f t f ü r alle W i s s e n s c h a f t e n , die (im R a h m e n ihrer S o n d e r p e r s p e k t i v e n ) m i t d e m Menschen zu t u n h a b e n , als G r u n d w i s s e n s c h a f t a u c h insbesondere noch f ü r alle Geisteswissenschaften u n d f ü r die Philosophie der Geschichte u n d der K u l t u r . Zu i h r e n wichtigsten G r u n d v o r -

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aussetzungen g e h ö r t n a c h Scheler die E i n s i c h t v o n der E i n h e i t des Lebens u n d des L e b e n s r h y t h m u s i m leibseelischen O r g a n i s m u s — gegenüber aller d u r c h den dualistischen G r u n d i r r t u m D e s c a r t e s ' h e r a u f b e s c h w o r e n e n künstlichen P r o b l e m a t i k v o n W e c h s e l w i r k u n g oder Parallelismus get r e n n t e r Seins a r t e n . D a s von Descartes übersehene T r i e b s y s t e m bildet die V e r m i t t l u n g u n d m a c h t die Einheit ans zwischen den Lebensbewegungen u n d den I n h a l t e n des Bewußtseins. Ein und dasselbe Leben ist es, d a s in seinem „ I n n e s e i n " psychische, in seinem Sein f ü r andere leibliche F o r m g e s t a l t u n g b e s i t z t ; „der physiologische u n d der psychologische Lebensprozeß sind ontologisch streng identisch (wie es schon K a n t v e r m u t e t h a t t e ) ; sie sind n u r phänomenal verschieden". „ E i n Leben, und eine u n d dieselbe in Mechanisches nicht auflösbare R h y t h m i k seiner Prozesse — alle teleoklin gesetzmäßig ablaufend, alle eigentümlich rhythmisiert u n d nach streng analogen Gesetzesformen im Ablauf ganzheits-bezogen, d. h. auf E r h a l t u n g u n d E n t f a l t u n g , aber auch auf A b n a h m e u n d Tod des psychophysischen Organismus als einer unteilbaren Einheit — manifestiert sich nur auf verschiedene Weise in Selbst- u n d F r e m d e r f a h r u n g , in Außen- u n d I n n e n betrachtung".

D e r Mensch, soweit b e t r a c h t e t , g e h ö r t der „ b i o p s y c h i s c h e n W e l t " a n ; auf i h n f i n d e n die G e d a n k e n des E v o l u t i o n i s m u s volle A n w e n d u n g ; menschliche W a h l f ä h i g k e i t u n d p r a k t i s c h e , i m D i e n s t der L e b e n s t r i e b e s t e h e n d e Intelligenz sind n a t u r g e s e t z l i c h e F o r t b i l d u n g e n der s c h o n bei höheren Tieren v o r h a n d e n e n e n t s p r e c h e n d e n leibseelischen F u n k t i o n e n . Eine wirklich neue Schicht dagegen bilden die aus d e m Psychischen zut a g e t r e t e n d e n noetischen Gesetzlichkeiten. Dies sind die drei wesensverschiedenen Gesetzesarten i n der W i r k l i c h k e i t : die Gesetze des A n organischen, des L e b e n d i g e n (Biopsychischen) u n d Geistigen. D e r Eigengesetzlichkeit der geistig-noetischen A k t e e n t s p r i c h t n i c h t (wie d e n psychischen Verläufen) „ e i n e physiologische Gesetzlichkeit, s o n d e r n allein die seinskategoriale S a c h g e s e t z l i c h k e i t des Seienden s e l b e r " . Die eigentliche D o p p e l h e i t i m E i n h e i t s w e s e n des Menschen ist n i c h t die des Physischen u n d Psychischen, s o n d e r n die des Vitalen u n d N o e t i s c h e n . — Von hier aus erst wird n u n der eigentliche Wesensbegriff des Menschen (zum Unterschiede v o m b l o ß e n „ n a t u r s y s t e m a t i s c h e n B e g r i f f " ) s i c h t b a r ; der Mensch allein ist E i n h e i t v o n L e b e n u n d Geist u n d d a d u r c h g r u n d sätzlich von allen bloßen Lebewesen der N a t u r verschieden u n d (durch die den Seinswesenheiten e n t s p r e c h e n d e n A k t g e s e t z e sowie d u r c h den als metaphysischen Grundtrieb ihm innewohnenden Eros zum Wesenhaften) in ein eigenes positives V e r h ä l t n i s z u m Seinsgrund selber gesetzt. D e r Mensch, als physisches, biopsychisches u n d noetisches W e s e n , ist w a h r e r Mikrokosmos: er „ f a ß t alle W e s e n s s t u f e n des Daseins ü b e r h a u p t u n d insbesondere auch des Lebens in sich z u s a m m e n , u n d , wenigstens den Wesensregionen n a c h , k o m m t in i h m die ganze N a t u r zur k o n z e n t r i e r t e s t e n E i n h e i t ihres Seins". Die W e s e n h e i t e n aller D i n g e schneiden sich i m Menschen, u n d alle sind i m Menschen solidarisch. — H i e r m i t h ä n g t d a n n die d e m Menschen allein z u k o m m e n d e S c h e i d u n g v o n g e g e n s t ä n d licher U m w e l t u n d I c h - S e l b s t - E r l e b n i s , sein W e l t b e w u ß t s e i n — i m U n t e r -

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schiede v o m bloßen Haben der Umwelt durch, das Tier — und die merkwürdige Fähigkeit, seine eigene physiologische und psychische Beschaffenheit und jedes einzelne Erlebnis selbst wieder gegenständlich zu halten (ja sogar sein Leben frei v o n sich zu werfen) eng zusammen. I n der R i c h t u n g dieser v o n Scheler gegebenen prinzipiellen Ansätze (weitere Ausf ü h r u n g e n erwarten wir v o n den Nachlaßmanuskripten) h a t H . P l e ß n e r weitere Analysen der Eigenart des Menschen, bei aller Verbundenheit desselben mit der biologischen Naturbasis, vollzogen u n d d a m i t wichtige Beiträge geleistet zum A u f b a u einer Anthropologie — deren B e d e u t u n g f ü r die Theorie der Geisteswissenschaften er besonders eindringlich b e t o n t . Die metaphysische G r u n d h a l t u n g hierbei ist deutlich ver- 10 schieden v o n der des deutschen Idealismus: w ä h r e n d hier die F o r m e n u n d Stufen der N a t u r teleologisch als bloße Vorformen des menschlichen Selbstbewußtseins u n d Geista u f b a u e s gedeutet wurden, sucht Pleßner vielmehr zunächst die Konzentration des Selbstbewußtseins von den tragenden Seinsbedingungen der reinen in sich selbst beobachteten u n d auf ihre Wesensgesetze durchleuchteten organischen N a t u r her zu begreifen, als Steigerung des lebendigen Organismus auf eine höhere S t u f e über die Stufe des Tieres hinaus — nach demselben Gesetz, das den Stufenunterschied zwischen Tier u n d Pflanze b e s t i m m t . Eine konkrete Naturphilosophie als Lehre v o n den Wesensf o r m e n der lebendigen Existenz h a t also die Basis f ü r die Lehre v o m Menschen zu bilden; eine Grundtendenz Pleßners geht darauf aus, Korrelationsgesetze zwischen SO Leibform u n d U m w e l t f o r m der Lebewesen, als Organisationsgesetze des Lebens, aufz u f i n d e n ; auch beim Menschen s t e h t der Leib in wesenhafter Relation auf die Person u n d ihren Lebensvollzug. — Die den Menschen v o m Tier d a n n schlechthin unterscheidenden Momente werden u n t e r dem Begriff der „exzentrischen Positionalität" des Menschen begriffen: während das Tier in seiner gegen das Umfeld fremder Gegebenheiten gerichteten Existenz die „Position der F r o n t a l i t ä t " einnimmt, weiß der Mensch, als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, diese Mitte selbst, erlebt sie u n d ist d a r u m über sie hinaus, v o n ihr, an sie nicht mehr gebunden. Der u n a u f hebliche Doppelaspekt seines Daseins als Seele u n d als Körper, sowie der Existenzkonflikt, zwischen der E b e n e geistig-schöpferischen Tuns u n d leiblich-naturhaften Da- 30 seins, in dem er ständig leben m u ß , ist hier verwurzelt. — I n drei „anthropologischen Grundgesetzen" wird d a n n v o n Pleßner diese Exzentrizität des Menschen näher beschrieben u n d n a c h ihren Auswirkungen f ü r Menschenleben, K u l t u r g e s t a l t u n g u n d Geschichte dargestellt. — Wichtige Beiträge zur Anthropologie liefert auch die Philosophie v o n H e i d e g g e r , die das gesamte Seinsproblem v o n einer Existentialanalyse des Menschen a u s aufrollen will.

Die metaphysische Stellung des Menschen i m Weltgeschehen ist hiermit für Scheler schon gegeben. Der Mensch, der allein, zugleich mit der Einsicht von der Kontingenz des Wirklichen (der Tatsache, daß über- 40 haupt Welt ist und nicht vielmehr n i c h t ist) die formale Idee eines überpersonalen unendlichen und absoluten Seins zu fassen fähig ist, ist eben damit in eine unmittelbare Verbindung mit dem Weltgrunde selbst eingefügt und insofern aus der gesamten Natur herausgestellt. Zwischen dem Welt-, dem Selbst- und dem (formalen) Gottesbewußtsein des Menschen besteht ein wesensnotwendiger Zusammenhang. Erst i m menschlichen Selbst und in i h m allein sind Drang und Geist, Leben und Idee (die beiden wesensgetrennten, wenn auch ursprunghaft aufeinander hingeordneten Attribute des ens per se) lebendig aufeinander bezogen. Der