Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats: Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich [2 ed.] 9783666351624, 9783525351628

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Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats: Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich [2 ed.]
 9783666351624, 9783525351628

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 147

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 147 Jürgen Osterhammel Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich

von

Jürgen Osterhammel

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-666-35162-4 2. Auflage © 2001, 2003, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen. Satz: Text & Form, Garbsen.

Inhalt

Vorwort ..........................................................................................................

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1. Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft ........................ 11 2. Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich ........................................... 46 3. Differenzwahrnehmungen. Europäisch-asiatische Gesichtspunkte zur Neuzeit ............................................................................................ 73 4. Neue Welten in der europäischen Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit ..................................................................................... 91 5. Nation und Zivilisation in der britischen Historiographie von Hume bis Macaulay ............................................................................... 103 6. Raumerfassung und Universalgeschichte ............................................ 151 7. »Höherer Wahnsinn«. Universalhistorische Denkstile im 20. Jahrhundert ...................................................................................... 170 8. Entdeckung und Eroberung, Neugier und Gewalt. Modelle frühneuzeitlichen Kulturkontakts ......................................... 183 9. Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas .................................... 203 10. Wissen als Macht. Deutungen interkulturellen Nichtverstehens bei Tzvetan Todorov und Edward Said ................................................ 240 11. Markt und Macht in der Modernisierung Asiens: Japan, China und Indien im Vergleich ................................................. 266 12. Krieg im Frieden. Zu Form und Typologie imperialer Interventionen ....................................................................................... 283

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13. Der europäische Nationalstaat des 20. Jahrhunderts. Eine globalhistorische Annäherung ...................................................... 322 14. Aufstieg und Fall der neuzeitlichen Sklaverei. Oder: Was ist ein weltgeschichtliches Problem? ................................. 342

Abkürzungen ................................................................................................. 370 Nachweise ...................................................................................................... 371 Register .......................................................................................................... 372

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Vorwort

Die in diesem Band gesammelten Aufsätze sind in einem besonderen Sinne kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. Im Verlaufe der neunziger Jahre ohne planvollen Zusammenhang entstanden, werden sie verbunden durch den Einspruch gegen eine nationalhistorische Selbstbezogenheit und einen Europazentrismus, wie sie die deutsche Neuzeithistorie von den Historiographien vergleichbarer Wissenschaftsnationen lange unterschieden haben. Zugleich sollen sie die jüngst erkennbaren zaghaften Bemühungen unterstützen, über diesen Zustand hinausfinden. Nun gibt es zwar leicht einsehbare real- und wissenschaftsgeschichtliche Ursachen der gegenwärtigen Verhältnisse, aber immer weniger Gründe, sich mit ihrer Fortexistenz abzufinden. Es genügt, auf zwei Argumente zugunsten einer Erweiterung des geschichtswissenschaftlichen Aufmerksamkeitsfeldes zu verweisen. Zum einen bildet die Universität heute Geschichtsstudenten für sich rasch »globalisierende« Berufsfelder aus, etwa die Medien oder das kulturelle Management, in denen man mit den Erträgen eines kleineuropäischen Geschichtsstudiums nicht allzu weit kommt und wo zumindest eine universalhistorische Grundbildung hilfreich wäre. Zum anderen ist es eben die »Globalisierung« selbst, vor der Historiker um so hilfloser verharren, je eifriger die Sozialwissenschaften, einstmals Waffenbrüder im Streit mit einer verstaubten »Politikgeschichte«, sich des Themas bemächtigen. Gewiß wäre es töricht, mit volltönenden Globalitätsparolen die postmoderne Kritik an den »großen Erzählungen« vom Tisch zu fegen oder die zarte Empirie gelungener Mikrogeschichte durch Makro-Schemata zu überrollen. Im Gegenteil: gerade die Skepsis gegenüber »großen Erzählungen« sollte einen Raum zur wissenschaftlichen Befassung mit denjenigen öffnen, die durch eben jene Großentwürfe ins weltgeschichtliche Abseits gestellt wurden. Nur ist es mit dem Aufblättern eines kulturgeschichtlichen Bilderbuches nicht getan. Eine allzu überschwengliche Hinwendung zu den »Anderen« in ihrer angeblich nur durch anthropologische Erkenntnisweisen zu erfahrenden »Fremdheit« verwandelt die Geschichte Amerikas, Asiens und Afrikas in das gehobene Äquivalent eines Hochglanzreisemagazins. So zieht sich durch die folgenden Kapitel, die von der Wirtschaftsüber die Sozial- und Kulturgeschichte bis zur Geschichte der internationalen Beziehungen die verschiedensten Bereiche historischen Wissens berühren, nicht nur eine Abneigung gegen überscharfe Richtungsformierungen, sondern 7

auch eine unterschwellige Polemik gegen binäre Klassifikationen: Europa / Außereuropa, Wir / die Anderen, das Eigene / das Fremde. Da auch die eingeführten Epochengrenzen mit einer gewissen Nonchalance behandelt werden, wird mein Plädoyer für die Einheit der Geschichtswissenschaft hoffentlich durch das Beispiel Überzeugungskraft gewinnen. Die hier zusammengestellten Texte summieren sich nicht zu einem Programm, begründen kein neues »Paradigma«, ja, können noch nicht einmal mit einem griffigen Richtungsetikett dienen. Sowohl »transnationale« als auch »interkulturelle« Geschichtsschreibung kämen dem Gemeinten nahe, auch »Globalgeschichte« wäre nicht ganz unpassend, wenn es nicht allzu unbescheiden klänge. Unerläßlich ist es aber, so deutlich wie möglich festzustellen: Es geht nicht darum, die Sache der »Außereuropäischen Geschichte« als eines weiteren institutionalisierten Teilbereichs der Geschichtswissenschaft zu stärken und zu verfechten. Die Bezeichnung »Außereuropäische Geschichte« ist eher Teil des Problems als seiner Lösung. Sie bündelt allzu Heterogenes: Zivilisationen, die wenig mehr miteinander gemeinsam haben, als irgendwann im Laufe der Neuzeit einmal Zielgebiete der europäischen Expansion gewesen zu sein. Je mehr die Forschung die jeweils ganz spezifische Handlungsfähigkeit (»agency«) der Kolonisierten und die Begrenztheit europäisch-imperialer Einflußnahmen herausstellt, desto mehr enthüllt sich der pauschale Sammelname des »Außereuropäischen« als nützliches Entsorgungskonstrukt. »Außereuropäische Geschichte« ist eine eurozentrische Restkategorie, ein großer Sack, in dem das angeblich Fremde, Exotische, weniger Geschichtsmächtige verschwindet, eine modernisierte Variante der Rede von den »geschichtslosen Völkern«, die sich das 19. Jahrhundert ausgedacht hatte. Wenn es also in diesem Band nicht darum geht, für die »Außereuropäische Geschichte« um Ansehen und Ressourcen zu werben, worum geht es sonst? Das Ziel, das heute auf der Tagesordnung steht, ist die Integration von Amerika, Asien, Afrika und Ozeanien in den Horizont der »normalen« Geschichtswissenshaft, die erst dadurch eine wirklich »allgemeine« würde. Diese Integration müßte zwei Seiten haben, die untrennbar zusammengehören. Auf der einen Seite ist eine institutionelle Öffnung unerläßlich: neben der stärkeren Verankerung des Nicht-Okzidentalen in der Forschung und – am wichtigsten! – der Lehre etwa auch eine Öffnung der maßgebenden Zeitschriften und Schriftenreihen für Themen aus unkonventionellen Zusammenhängen, die Organisation von »transkontinentalen« Tagungen oder Sektionen auf Historikertagen, usw. Auf der anderen Seite bliebe eine solche institutionelle Einverleibung unvollständig, ja, geradezu bodenlos, ohne eine nur langsam entstehende Kultur kosmopolitischer Aufmerksamkeit. Anleihen bei weltläufigen Nachbarfächern wie der Kulturanthropologie und der vergleichenden Makrosoziologie sind hier unerläßlich, garantieren aber keineswegs den Erfolg. Vor der methodi8

schen Zurichtung von Wissen steht, wie jedermann im Proseminar lernt, ein Interesse. Es käme darauf an, eine Haltung der Offenheit und Neugier entstehen zu lassen, die sich über die Einstellung hinwegsetzt, nur die Modernitäts- und Machtentfaltung des neuzeitlichen Europa (und die Dimension seiner Verbrechen) rechtfertigten historische Aufmerksamkeit. Sagen wir es also altmodisch und beherzt: An die Seite einer Historie mit nationalgeschichtlicher auch nationalpädagogischer Selbstbeauftragung und einer solchen, die sich die historische Identitätsstärkung Europas vornimmt, muß eine Geschichte in weltbürgerlicher Absicht treten. Sie sucht im Normalfall nicht nach global gültigen Antworten auf höchstmöglicher Abstraktionsstufe, stellt aber ihre Fragen in einem universalen Horizont. Auch bemüht sie sich – eines der fruchtbarsten der möglichen Resultate des »linguistic turn« – um ein Gespür für das Generalisierungspotential geschichtswissenschaftlicher Begriffe. Weder mit dem verstehenden Nachvollzug der je besonderen Selbstbeschreibung von Kulturen ist es allein getan, noch mit einer vorgeblich allgemeingültigen und kulturneutralen Terminologie. Hier Mittelwege zu finden, ist eine der großen Aufgaben der Zukunft. Im Untertitel des Bandes finden sich die Begriffe »Zivilisationsvergleich« und »Beziehungsgeschichte«. Der erste der beiden wird in den Kapiteln 1 und 2 ausführlich erläutert. Es soll aber schon hier darauf hingewiesen werden, daß ich den makrohistorischen Zivilisationsvergleich keineswegs als einen »Königsweg« empfehle. Ich halte ihn für einen vielversprechenden, aber in der Durchführung ungemein anspruchsvollen Zugang zu historischer Erkenntnis, der nur dann verantwortbar ist, wenn man sich von Anfang an deutliche Rechenschaft über die Brauchbarkeit und die Gefahren essentialisierender Kulturbegriffe ablegt. »Beziehungsgeschichte«, eine Bezeichnung, die sich in den neunziger Jahren verbreitet hat, taugt kaum als gehärtete Kategorie und drückt eher eine semantische Verlegenheit aus; man kann das Wort nur schwer in andere Sprachen übersetzen. Selbstverständlich sind »Beziehungen« der Stoff, aus dem Geschichte seit Anbeginn gemacht ist. Noch für Leopold von Ranke, den Historiker des frühneuzeitlichen Europa, war das unbestritten. Nur eine eng nationalhistorische Denkweise hat es vergessen lassen. Heute muß man erneut daran erinnern, wie wichtig internationale Beziehungen als sich keineswegs in »Politikgeschichte« erschöpfender Gegenstand der Geschichtswissenschaft sind und daß es neben internationalen zahlreiche anderen Arten von Beziehungen gibt. Seit den späten achtziger Jahren hat mit Recht der Kulturtransfer viel Aufmerksamkeit gefunden. »Beziehungsgeschichte« soll also nicht mehr sein als eine möglichst weit greifende Begriffsklammer, die Relationales aller Art umfaßt. Man kann durchaus so weit gehen zu behaupten, zwischen den Polen Vergleich und Beziehungsgeschichte lasse sich die ganze Weltgeschichte einfangen. Es darf dabei jedoch nicht übersehen werden, daß die beiden Begriffe lo9

gisch nicht ganz auf der gleichen Ebene liegen: Obwohl Menschen sich immer schon mit den Angehörigen des Nachbarstammes, der Nachbarstadt oder der Nachbarnation verglichen haben, ist der wissenschaftliche Vergleich ein artifizielles Verfahren, das eine abstrahierende Präparierung distinkter Analyseeinheiten zu erklärenden Zwecken verlangt, anders gesagt: die kontrollierte Reduktion von Komplexität. Beziehungsgeschichte, insbesondere die Geschichte kultureller Beziehungen, ist hingegen an der Kontextualisierung von Wirkungsverhältnissen interessiert, also an Komplexitätsanreicherung durch feinstrichige Beschreibung. Man kann überdies kulturelle Transfers (um bei diesem Beispiel zu bleiben) untersuchen, ohne sich viel Mühe mit dem Vergleich von Makrostrukturen, also ganzen Nationalgesellschaften oder Zivilisationen, zu machen, muß indes umgekehrt bei Vergleichen aller Art mögliche gegenseitige Einflußnahmen zu klären versuchen; manche »einheimischen Traditionen« sind nämlich nicht nur »erfunden«, sondern »importiert«, also Akkulturationsresultate. Der Vergleich setzt daher beziehungsgeschichtliche Recherchen voraus und ist somit der Beziehungsgeschichte logisch nach- oder übergeordnet. Daher besteht zwischen beiden weder ein ausschließender Gegensatz noch ein säuberliches Komplementaritätsverhältnis. Ich danke den Herausgebern der »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft«, insbesondere Hans-Ulrich Wehler, sowie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die Einladung, einen Band mit Aufsätzen zusammenzustellen. Diese Einladung habe ich erst nach langem Zögern angenommen und mir die Auswahl nicht leicht gemacht. Mein langjähriges Hauptarbeitsgebiet, die neuere Geschichte Chinas, ist in diesem Buch nicht vertreten, ein neuerer Bereich, die Geschichte interkultureller Wahrnehmungen, nur am Rande berücksichtigt worden. Die meisten Texte wurden im Detail überarbeitet, ohne daß die großen Argumentationslinien der Erstfassungen verändert worden wären. Johannes Heger hat bei den Redaktionsarbeiten geholfen und das Register angefertigt; Niels P. Petersson und Boris Barth, meine kritischen Konstanzer Mitarbeiter, haben Irrtümer aufgespürt und zahlreiche Verbesserungen vorgeschlagen. Selbstverständlich ist eine Geschichtswissenschaft in weltbürgerlicher Absicht auch im deutschsprachigen Raum keine originelle Erfindung. Unter denjenigen, die sie nachdrücklicher als andere angeregt haben, möchte ich besonders Rudolf von Albertini, Jörg Fisch, Ulrich Haarmann (†), Hartmut Kaelble, Jürgen Kocka, Wolf Lepenies, Christian Meier, Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Reinhard, Dietmar Rothermund, Jörn Rüsen und Helwig Schmidt-Glintzer nennen. Am größten ist die Dankbarkeit, die ich gegenüber Ernst Schulin empfinde. Ihm möchte ich das Buch widmen. Wassenaar, im September 2001

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Jürgen Osterhammel

1. Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft I. Nähe und Ferne im transkulturellen Vergleich Eines der Monumente historischer Gelehrsamkeit und Synthesekraft, Marc Blochs »La société féodale« (1939/40), stellt ein Kernthema der europäischen Gesellschaftsgeschichte in einen die kulturellen Grenzen Europas überschreitenden Zusammenhang. Marc Bloch beginnt sein Portrait des hohen Mittelalters mit einer Darstellung jener Invasionen der christlichen Ökumene durch Araber, Ungarn und Normannen, die bis über die Jahrtausendwende hinaus Zerstörungen und Instabilität, aber in breiten Randzonen – England, Nordfrankreich, Spanien, Sizilien – auch sozialökonomische Neubildungen und kulturelle Mischungen zur Folge hatten. Jahrhundertelang hätten die großen und gewaltsamen Völkerbewegungen »donné sa trame à l’histoire de l’Occident«, und Bloch fügt mit Bedacht hinzu: »comme à celle du reste du monde«.1 Im Vorfeld des westlichen Europa – und weltweit nahezu nur dort – kamen diese Invasionen dann aber zum Stillstand. Die Mongolen zerstörten das Kalifat von Bagdad und beendeten die große Blüteperiode der Song-Dynastie in China; sie beherrschten für etwa 250 Jahre den größten Teil Rußlands. Aber sie berührten die Sphäre des lateinischen Christentums ebensowenig, wie später die Osmanen mit all ihrer überlegenen Macht über Zentralungarn hinaus vorzudringen vermochten. Marc Bloch sieht – wie vor ihm schon Edward Gibbon – in »cette extraordinaire immunité« nichts weniger als »un des facteurs fondamentaux de la civilisation européenne, au sens profond, au sens juste du mot«.2 Für Europa sei dadurch »une évolution culturelle et sociale beaucoup plus regulière« ermöglicht worden, »sans la brisure d’aucune attaque extérieure ni d’aucun afflux humain étranger«.3 Mit Ostkolonisation, Kreuzzügen, der spanischen Reconquista und der sich aus ihr entwickelnden Eroberung und Kolonisierung Amerikas wurde Westeuropa, so wäre hinzuzufügen, dann selbst zu einer expansiven, ihre Grenzen voranschiebenden Zivilisation. Außer dem europäischen Westen war es, wie Marc Bloch beobachtet, nur Japan, das von den eurasiatischen Völkerstürmen verschont blieb. Mit einem 1 M. Bloch, La société féodale, Paris 1969, S. 95. 2 Ebd. 3 Ebd.

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Blick auf Japan beendet Bloch sein Buch, das er mit den Sarazenen begonnen hatte. Im vorletzten Kapitel läßt er auf einen Vergleich zwischen den verschiedenen nationalen Pfaden der Staatsbildung im spätmittelalterlichen Europa auf höherer Abstraktionsebene eine universalisierende Betrachtung folgen. Er bildet zunächst zusammenfassend einen Realtypus »europäischer Feudalismus«4 und schließt daran die Vermutung an, »que des civilisations différentes de la nôtre n’aient traversé un stade approximativement analogue à celui qui vient d’être défini«.5 Ohne den Anspruch zu erheben, eine wahrhaft weltweite Suche unternommen zu haben, weist Bloch auf den offenkundigen Parallelfall Japan hin, notiert aber sogleich charakteristische Abweichungen des japanischen Feudalismus vom europäischen Modell.6 Haben andere Gesellschaften eine ähnliche Phase des Feudalismus durchlaufen? »Et, s’il en a été ainsi, sous l’action de quelles causes, peut-être communes?«7 Mit diesen Fragen eröffnet der Mitbegründer der »Annales« eine bis heute unabgeschlossene Diskussion. In seinem manifestartigen Aufsatz von 1928, »Pour une histoire comparée des sociétés européennes«, hatte Marc Bloch bereits zwischen zwei Arten des Vergleichs unterschieden: einerseits dem Vergleich zwischen Gesellschaften, die in Raum und/oder Zeit so weit voneinander getrennt sind, daß Ähnlichkeiten zwischen ihnen nicht auf einen gemeinsamen Ursprung oder auf Beeinflussung zurückgeführt werden können, andererseits dem Vergleich zwischen zeitgenössischen, benachbarten und in engen Austauschbeziehungen miteinander stehenden Gesellschaften verwandter Herkunft.8 Nachdem er sich während der dreißiger Jahre nicht nur mit Ostasien, sondern auch mit dem islamischen Zivilisationsgebiet beschäftigt hatte,9 kam Bloch in »La société féodale« auf die Unterscheidung zwischen Fern- und Nahvergleich zurück und fügte nun, wie eingangs skizziert, eine dritte Dimension hinzu, die kurz zuvor der belgische Historiker Henri Pirenne in seinem Buch »Mahomet et Charlemagne«10 (postum 1937) eindrucksvoll entwickelt hatte: die Geschichte der – im Mittelalter vornehmlich kriegerischen – Beziehungen zwischen angrenzenden Zivilisationen. So wird der innereuropäische Vergleich, den Bloch schon für das spätere Mittelalter als einen keimhaft inter-nationalen verstanden wissen 4 Besonders prägnant: ebd., S. 610. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 611. 7 Ebd., S. 612. 8 M. Bloch, Pour une histoire comparée des sociétés européennes, in: Ders., Histoire et historiens. Textes réunis par É. Bloch, Paris 1995, S. 94–123, bes. S. 95–98. 9 Vgl. L. Valensi, Retour d’Orient: De quelques usages du comparatisme, in: H. Atsma u. A. Burguière (Hg.), Marc Bloch aujourd’hui: Histoire comparée et sciences sociales, Paris 1990, S. 307–316, bes. S. 313f. 10 Paris 1937 (postum), Neuausgabe Paris 1992, bes. S. 107ff. Zu Pirenne als Komparatist vgl. M. Moretti, Henri Pirenne: comparazione e storia universale, in: P. Rossi (Hg.), La storia comparata: Approci e prospettive, Mailand 1990, S. 90–109.

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will, durch zwei trans-kulturelle Perspektiven eingerahmt: den Strukturvergleich im Fernverhältnis (z.B. zwischen Europa und Japan), der methodisch auf der Distinktheit der Vergleichseinheiten beruht, und die interkulturelle Beziehungsgeschichte, aus deren Sicht eine jede besondere Gesellschaft auf ihre Prägung durch exogene, fremdkulturelle Einflüsse befragt werden muß.11 Wie Strukturvergleich und Beziehungsgeschichte verbunden werden können, hat ein Jahrzehnt nach Marc Blochs Anregungen und auf seinen Spuren Fernand Braudel gezeigt. In seinem großen Werk über den Mittelmeerraum spielt der Vergleich zwischen den strukturell in mancher Hinsicht einander fernen, aber geographisch nahen und in konfliktreichen Beziehungen zueinander stehenden Imperien der spanischen Habsburger und der türkischen Osmanen eine zentrale Rolle.12 Ein Vergleich zwischen Spanien und, beispielsweise, seinem nordwestlichen Nachbarn Frankreich scheint sich von einem solchen zwischen Spanien und seinem Gegenüber im Süden des Mittelmeeres, dem Osmanischen Reich, dadurch abzuheben, daß jener intra-kulturell ist, dieser aber inter-kulturell: Es werden Phänomene verglichen, die unterschiedlichen »Kulturen« zugehören.13 Man vergleicht nicht entre nous, sondern setzt die »eigene« Geschichte in ein Verhältnis zu derjenigen, wie oft gesagt wird, der »Anderen«. Es ist dies freilich ein Unterschied, dessen anfängliche Plausibilität bei genauerer Überlegung zweifelhaft werden kann. In theoretischer Hinsicht beginnen die Probleme mit dem Kulturbegriff: »one of the two or three most complicated words in the English language«14 – und selbstverständlich nicht nur in der englischen Sprache. Holistische Kulturkonzepte, denen zufolge eine Kultur als ein geschlossenes Ensemble spezifischer und unverwechselbarer Lebensformen und Symbolisierungen betrachtet werden muß,15 sind in der ethnologi11 Zwischen diesen »Grundformen universalhistorischer Betrachtung« unterscheidet E. Schulin, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Universalgeschichte, Köln 1974, S. 11–65, bes. S. 42–45. 12 F. Braudel, La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, Paris 19662, bes. Teil II, Kapitel 4–5. Vor Braudel hatte Leopold von Ranke in seinem Werk »Die Osmanen und die Spanische Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert« (Leipzig 1877) das Thema behandelt, aber noch vorwiegend unter dem Gesichtspunkt des machtpolitischen Antagonismus. Über Pirennes Einfluß auf Braudel vgl. P. Burke, Offene Geschichte. Die Schule der »Annales«. A. d. Engl. v. M. Fienbork, Berlin 1991, S. 42f. 13 Daß begriffsgeschichtlich zwischen »Kultur(en)« und »Zivilisation(en)« nicht klar unterschieden werden kann, zeigt J. Fisch, »Zivilisation, Kultur«, in: O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679–774, bes. S. 681. Die beiden Begriffe werden fortan teilweise synonym verwendet. 14 R. Williams, Keywords: A Vocabulary of Culture and Society, London 1976, S. 87. 15 Vor allem durch die Schriften von C. Geertz hat diese Konzeption ein beträchtliches Prestige unter Historikern gewonnen. Vgl. zu Geertz’ mehrfachen Definitionsversuchen von »Kultur«: R. G. Walters, Clifford Geertz and the Historians, in: Social Research, Jg. 47, 1980, S. 537–556, bes. S. 544–547.

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schen Theorie, die auf diesem Gebiet die theoretischen Maßstäbe setzt, nicht unumstritten. Mit immer dichter werdendem Kontakt zwischen den Zivilisationen im Verlaufe der Neuzeit sind sie gerade für die Erfordernisse einer universalen Geschichtswissenschaft nur bedingt brauchbar. Die unverfälschte Authentizität einer Kultur, wie sie durch transkulturelle hermeneutische Bemühung zu erfassen wäre, ist unter den neuzeitlichen Bedingungen von interkultureller Beeinflussung, Zerstörung, Überlagerung und Vermischung eine Chimäre, auch wenn die identitätsstiftende Selbstbehauptung und Re-Traditionalisierung bedrohter peripherer Völker und Gruppen ernst genommen und als wesentliches Moment der Geschichte des 20. Jahrhunderts erkannt werden muß. In der Geschichte der »Anderen« finden sich stets Elemente der eigenen; das Fremde wird in seiner »otherness« zum Spiegel seiner europäischen Betrachter.16 Aber auch vortheoretische Überlegungen zeigen, wie schwierig Grenzen zwischen den Kulturen zu erkennen sind17 und wie ungewiß es daher oft ist, wo der intrakulturelle Vergleich endet und der interkulturelle oder transkulturelle beginnt. Anders gesagt: Es ist durchaus nicht evident, wo die kulturellen Grenzen Europas verlaufen. Die bei Bloch und Braudel angesprochenen Beispiele können dies verdeutlichen. Das Osmanische Reich war ein militarisiertes Vielvölkerimperium mit einer islamischen Machtelite und Bevölkerungsmehrheit, aber auch mancher Nische für nichtislamische Minderheiten. Zwar stand es strukturell in einem deutlichen Kontrast zu den relativ homogenen Nationalstaaten des westlichen Europa (in einem viel weniger deutlichen zum Zarenreich), doch es betrieb eine Machtpolitik, die sich in ihrer Logik von derjenigen der europäischen Großmächte nicht signifikant unterschied. Noch 1856 wurde die Hohe Pforte offiziell als Teilnehmerin am Europäischen Konzert bestätigt,18 und für die Frühe Neuzeit kann man das Osmanische Reich nicht nur aus geographischen Gründen weniger als »außereuropäisches« Staatsgebilde denn – neben Schweden und Rußland – als einen der »outsiders of Europe« betrachten.19 Japan hingegen scheint in jeder Beziehung der Inbegriff des Außereuropäisch-Fremden zu sein, als den es schon 1565 der portugiesische Jesuitenmissio-

16 Diese Überlegungen werden am Ende dieses Aufsatzes fortgesetzt werden. 17 Innereuropäisch stellt sich ein ähnliches Problem bei der Demarkation von Sub-Kulturen gegeneinander. Vgl. P. Burke, History and Social Theory, Cambridge 1992, S. 124f. Zum Problem der kulturellen Grenzen in Asien vgl. die bemerkenswerten Überlegungen bei K. N. Chaudhuri, Asia before Europe: Economy and Civilisation of the Indian Ocean from the Rise of Islam to 1750, Cambridge 1990, bes. Kap. 1, 2 und 5. 18 Vgl. T. Naff, The Ottoman Empire and the European States System, in: H. Bull u. A. Watson (Hg.), The Expansion of International Society, Oxford 1984, S. 143–169, hier S. 163, S. 169. 19 Vgl. etwa R. Bonney, The European Dynastic States 1494–1660, Oxford 1991, S. 242ff.

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nar Luís Fróis in einem kulturvergleichenden Traktat darstellte.20 Nach seiner »Öffnung« 1854 und vor allem seit der Meiji-Restauration von 1868, die ihrem Wesen nach ein Putsch von Reformkräften innerhalb der alten Machtelite war, übernahm es jedoch in vielen Bereichen seiner staatlichen und gesellschaftlichen Organisation Elemente des Westens und verwandelte sich, je nach zeitgenössischer Perspektive, in ein »Britain of the East« oder ein »Preußen Asiens«. Die von Marc Bloch (und einigen Vorgängern) für Mittelalter und Frühe Neuzeit festgestellte west-östliche Homologie der Gesellschaftsformen findet in der Moderne ihre Fortsetzung. Deshalb ist Japan trotz all seiner kulturellen Fremdheit in Sprache, Religion und kollektiven Wertorientierungen seit etwa 1880 westlichen Industriegesellschaften strukturell nahe verwandt und auf Gebieten wie der wirtschaftlichen oder der staatlichen Entwicklung mit Hilfe eines kaum modifizierten Instrumentariums intra-kultureller Komparatistik mit europäischen Nationalstaaten relativ gut vergleichbar.21 Ungeachtet aller geographischen und kulturellen Distanz steht etwa das Deutsche Reich im frühen 20. Jahrhundert in seiner sozialökonomischen Beschaffenheit Japan näher als zum Beispiel den agrarischen Gesellschaften des europäischen Balkan. Die Problematik interkultureller Abgrenzung und das Fragwürdige der geläufigen Ordnungskategorien ließe sich an zahlreichen weiteren Beispielen illustrieren. Dürfen die »neo-europäischen«22 Gesellschaften in Nordamerika, Australien und Neuseeland einem Makro-Typus »westliche Zivilisation« subsumiert werden, oder soll man sie, in Tocquevillescher Tradition und einem starken Strang ihres Selbstverständnisses folgend, als Gesellschaften eigener kultureller Prägung auffassen? Ist ein Vergleich zwischen russischer Leibeigenschaft und amerikanischer Plantagensklaverei daher einer innerhalb kultureller Grenzen oder über sie hinweg?23 Weiterhin: Wie wäre Lateinamerika einzuordnen? Üblicherweise wird, jedenfalls in Deutschland, seine wissenschaftliche Behandlung der »Außereuropäischen Geschichte« zugewiesen. Worin aber liegt die fremdkulturelle Andersartigkeit von Ländern wie Argentinien, Uruguay, 20 Auszüge in P. Kapitza (Hg.), Japan in Europa. Texte und Bilddokumente zur europäischen Japankenntnis von Marco Polo bis Wilhelm von Humboldt, München 1990, Bd. 1, S. 132–139. 21 Vgl. etwa aus einer umfangreichen Literatur: D. S. Landes, Die Industrialisierung in Japan und Europa. Ein Vergleich, in: W. Fischer (Hg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin 1968, S. 29–117; R. P. Dore, British Factory – Japanese Factory: The Origins of National Diversity in Industrial Relations, Berkeley 1973; B. S. Silberman, Cages of Reason: The Rise of the Rational State in France, Japan, the United States and Great Britain, Chicago 1993; J. P. Powelson, Centuries of Economic Endeavour: Parallel Paths in Japan and Europe and Their Contrast with the Third World, Ann Arbor 1994. 22 Der Begriff wird erläutert bei A. Crosby, Ecological Imperialism: The Biological Expansion of Europe, 900–1900, Cambridge 1986, S. 2f. 23 Vgl. P. Kolchin, Unfree Labor: American Slavery and Russian Serfdom, Cambridge, Mass. 1987, sowie S. D. Bowman, Masters and Lords: Mid–19th-Century U.S. Planters and Prussian Junkers, New York 1993.

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Chile oder selbst Venezuela, die katholisch und hispanophon sind und in denen (anders als etwa in Peru, Bolivien oder Guatemala) ein indianisches Bevölkerungselement kaum ins Gewicht fällt? Erfordern daher ein Balkan-Lateinamerika-Vergleich unter dem Gesichtspunkt peripherer Staatenbildung oder ein Vergleich der argentinischen und der australischen Exportökonomien die besondere Umsicht einer transkulturellen Methodik? Das Fazit dieser fragenden Dekonstruktion des »Anderen« und »Außereuropäischen« ist die Warnung vor einem verdinglichenden Mißverständnis kultureller Besonderheiten und vor einer Verabsolutierung eher gradueller und immer erst aus der wechselnden Perspektive spezifischer Deutungsinteressen zu bestimmender Unterschiede. Solche Unterschiede müssen überdies selber historisiert und zu Gegenständen historischer Forschung werden; MakroKategorien und »asymmetrische Gegenbegriffe«24 wie Europa/Nicht-Europa, Okzident/Orient, entwickelt/unterentwickelt, Erste/Zweite/Dritte Welt, usw., haben ihre je eigene Ideologie- und Mythengeschichte.25 Zu den begleitenden Vorsichtsmaßregeln des transkulturellen Vergleichens gehört die ständige Aufmerksamkeit auf die beweglichen Verläufe solcher Abgrenzungen und auf die wechselnden Wahrnehmungen ihrer Tiefe und Intensität. Die Eigen- und Fremddefinitionen kultureller Identität unterliegen einem unablässigen Wandel. Mit ihm verändern sich auch die Konfigurationen des Vergleichs. Dies hat man bislang zu wenig gesehen. Vergleiche über kulturelle Grenzen hinweg sind überhaupt eher methodisch robust und ohne kulturtheoretische Vorklärungen unternommen worden. Selbst die Bezeichnung des Unternehmens ist definitorisch ungeklärt geblieben. »Kulturvergleich«, der in der Soziologie bevorzugte Begriff, empfiehlt sich wenig für geschichtswissenschaftliche Zwecke, weil damit suggeriert wird, es würden in holistischer Manier autonome Kulturen miteinander verglichen. Auch kann dadurch eine konventionelle Aufgabenverteilung bekräftigt werden, »that sets a Europe of nations against a

24 Vgl. R. Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1984, S. 211– 259. 25 Vgl. etwa die polemischen Anregungen bei E. W. Said, Orientalism, London 1978, sowie die sich daran anschließende ausgedehnte Debatte, teilweise rekonstruierbar aus: M. Sprinker (Hg.), Edward Said: A Critical Reader, Oxford 1993, sowie L. Mani u. R. Frankenberg, The Challenge of »Orientalism«, in: Economy and Society, Jg. 14, 1985, S. 174–192. Zur Diskussion der neueren (historischen) Entwicklungstheorien vgl. aus einer umfangreichen Literatur insbesondere L. Binder, The Natural History of Development Theory, in: Ders., Islamic Liberalism: A Critique of Development Ideologies, Chicago 1988, S. 24–84; U. Menzel, Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie, Frankfurt a.M. 1992; A. Escobar, Encountering Development: The Making and Unmaking of the Third World, Princeton 1995; R. Kößler, Entwicklung, Münster 1998. Zur Geschichte der Gegenüberstellung von Europa und Asien vgl. J. Osterhammel, Vielfalt und Einheit im neuzeitlichen Asien, in: Ders. (Hg.), Asien in der Neuzeit 1500–1950. Sieben historische Stationen, Frankfurt a.M. 1994, S. 9–25, bes. S. 9–18.

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world of civilizations«26 – als ob der internationale Vergleich und der interkulturelle sich gegenseitig ausschlössen und nicht vielmehr – wie das Beispiel Japan zeigt – zwei Seiten derselben Sache sein können. Auch das Präfix ist diskussionsbedürftig. Im folgenden soll von transkulturellem Vergleich dort gesprochen werden, wo das Vergleichen implizit oder explizit auf ein universalgeschichtliches Repertoire möglicher Formen von Macht, Produktion, Vergesellschaftung und kultureller Symbolisierung bezogen ist. Interkultureller Vergleich bedeutet demgegenüber die Kontrastierung spezifischer Merkmalsreihen von meist nicht mehr als zwei scharf profilierbaren Fällen, ist also der engere Begriff.

II. Zur Geschichte des transkulturellen Vergleichs Der Vergleich zwischen Strukturen und Prozessen in unterschiedlichen Kulturen ist teils eine alte Aufgabenstellung der Historie, teils ein noch unerfülltes Versprechen. Die Proto-Soziologie, Staatswissenschaft und Universalgeschichtsschreibung der Aufklärung war in hohem Maße kulturvergleichend ausgerichtet.27 Die Nachrichten, die im »zweiten Zeitalter der Entdeckungen« in großem Umfang aus Übersee nach Europa gelangten, hoben solche Bemühungen über das Niveau bloßer Spekulation hinaus. Montesquieu entwarf 1748 ein universal anwendbares Kategorienraster zur vergleichenden Zuordnung von Naturgrundlagen, Mentalitäten, politischen Verfassungen und gesellschaftlichen Praktiken; Adam Smith inszenierte in »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« (1776) seine historische Analyse der europäischen Gesellschaftsentwicklung vor der Kontrastfolie Indiens und Chinas; der Kameralist Johann Heinrich Gottlob v. Justi stellte asiatische und europäische Systeme in nicht nur polemischer Absicht einander gegenüber; Jean-Nicholas Demeunier, der spätere revolutionäre Politiker, schrieb eine historisch-ethnographische Enzyklopädie von weltweitem Horizont.28 In der schottischen und französischen Aufklärung der Generation nach Montesquieu entstand ein Gedanke, der dem Kulturvergleich für anderthalb 26 M. Geyer, Historical Fictions of Autonomy and the Europeanization of National History, in: Central European History, Jg. 22, 1989, S. 316–343, Zitat S. 336. 27 Selbstverständlich war schon Herodot ein erstrangiger Praktiker des interkulturellen Vergleichs. Zur Komparatistik der Aufklärung vgl. J. Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998. 28 J. H. G. v. Justi, Vergleichung der europäischen mit den asiatischen und andern vermeintlich barbarischen Regierungen, Berlin 1762; J.-N. Demeunier, L’esprit des usages et des coutumes des différens peuples, 3 Bde., Paris 1776. Die Komparatistik der Aufklärung ist bisher noch nicht im größeren Zusammenhang untersucht worden. Vgl. zu Deutschland die Problemskizze bei R. Vierhaus, Traditionen vergleichender historischer Kulturwissenschaft in Deutschland. Bemerkungen und Fragen, in: Saeculum, Jg. 40, 1989, S. 132–135.

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Jahrhunderte eine entwicklungsgeschichtliche Prägung verlieh: Man bildete die Unterschiede zwischen den Völkern vom diachronen Tableau Montesquieus auf die Zeitachse universalhistorischer Stufenmodelle ab. So entstand die »comparative method« mit ihrem Grundgedanken, entwickelte Gesellschaften könnten an zeitgenössischen rückständigen, also auf einer früheren Entwicklungsstufe verharrenden Völkern ihre eigene Vergangenheit studieren, die exotische Gegenwart mache frühere Zustände Europas anschaulich.29 Diese Idee gelangte in den dialektischen und evolutionistischen Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhundert zu voller Blüte; auf ihren methodischen Kern reduziert, besitzt sie auch heute noch eine gewisse Bedeutung für die Ethnohistorie.30 Sie schränkte den Vergleich auf die Kontrastierung »höherer« und »niederer« Entwicklungsphasen innerhalb eines teleologisch auf die europäische Gegenwart zulaufenden einheitlichen Fortschrittsprozesses ein, schloß also die Möglichkeit eigengesetzlicher und eigenwertiger außereuropäischer Entwicklungen aus. Die Geschichtsphilosophie marginalisierte damit den interkulturellen Vergleich. Ihre Gegenspielerin, die vom Individualitätsgedanken getragene und von der Überlegenheit Europas überzeugte historistische Geschichtsschreibung, ignorierte ihn. Paradoxerweise wurde der Vergleich aber auch dort unterminiert, wo man sich von einem selbstgefälligen Eurozentrismus am weitesten entfernte. Der in Chicago lehrende Ethnologe Franz Boas, der Gründervater der »Cultural Anthropology«, postulierte in Anknüpfung an Herder und die Romantik und in konsequenter Fortführung des individualisierenden Historismus die Gleichwertigkeit aller Kulturen, auch der »primitiven«. Da jede Kultur aber als ein in sich geschlossener Kosmos aufgefaßt wurde, als abgerundete Individualität, ließ ein solcher »kultureller Relativismus« keinen Raum für übergreifende transkulturelle Gesichtspunkte.31

29 Man hat auch von »the subjection of the comparative method to the historical« gesprochen: A. M. Iacono, The American Indians and the Ancients of Europe: The Idea of Comparison and the Construction of Historical Time in the 18th Century, in: W. Haase u. M. Reinhold (Hg.), The Classical Tradition and the Americas, Bd. I/1, Berlin 1994, S. 658–681, hier S. 663. Vgl. auch J. W. Burrow, Evolution and Society: A Study in Victorian Social Theory, Cambridge 1966, S. 11–14; K. E. Bock, The Comparative Method in Anthropology, in: CSSH, Jg. 8, 1966, S. 269–280; A. Henn, Reisen in vergangene Gegenwart. Geschichte und Geschichtlichkeit der Nicht-Europäer im Denken des 19. Jahrhunderts: Die Erforschung des Sudan, Berlin 1988, S. 91ff. 30 Vgl. etwa die grundsätzlich wichtigen methodischen Bemerkungen zum »upstreaming« der historischen Ethnologie in N. Farriss, Maya Society under Colonial Rule: The Collective Enterprise of Survival, Princeton 1984, S. 403–406. 31 Vgl. die klare Zusammenfassung dieser Position bei K.-H. Kohl, Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung, München 1993, S. 145–150. Stagl spricht von einem »Solipsismus der sozio-kulturellen Systeme«: J. Stagl, Eine Widerlegung des Kulturellen Relativismus, in: J. Matthes (Hg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs (= Soziale Welt, Sonderband 8), Göttingen 1992, S. 145–166, hier S. 147.

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Während mit dem klassischen Historismus die universale und transeuropäisch vergleichende Dimension aus Geschichtsdenken und Geschichtsschreibung verschwand, konstituierten sich im 19. Jahrhundert eine Reihe neuer kulturwissenschaftlicher Fächer als interkulturell vergleichende Disziplinen: Sprachwissenschaft, Religionswissenschaft, Völkerkunde, Völkerpsychologie und (Anthropo-) Geographie.32 In der Kunstwissenschaft wurde »Stil« zum Maßstab des Vergleichs. Solange diese Wissenschaften – und auch die frühe Soziologie – am unilinearen Entwicklungsparadigma festhielten, mußten sie allerdings Vergleichbarkeit auf diejenige zwischen unterschiedlichen Phasen des evolutionären Verlaufs beschränken. Auch Karl Marx argumentierte im Rahmen einer auf Europa fokussierten Fortschrittsgeschichte, wenn er eine an die Stelle des Feudalismus tretende »asiatische Produktionsweise« als außerokzidental abzweigenden Seitenweg der europäisch-universalen Gesellschaftsentwicklung annahm.33 Zentrale Bedeutung erlangte der interkulturelle Vergleich erst bei Emile Durkheim, der den Vergleich als Äquivalent zum naturwissenschaftlichen Experiment methodologisch begründete,34 sowie wenige Jahre später bei Max Weber vor dem Hintergrund einer Kritik an evolutionistischen und unilinearen Geschichtskonzeptionen. Webers Hinwendung zu Asien seit 1910, die maßgeblich durch das komparative Interesse der zeitgenössischen »religionsgeschichtlichen Schule« angeregt wurde,35 war mehr als ein Kunstgriff verdeutlichender »Kontextverfremdung«.36 Max Weber wurde durch seine Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen und durch manche Untersuchungen im

32 Vgl. aus einer umfangreichen Literatur zur ersten Orientierung (für Deutschland): W. D. Smith, Politics and the Sciences of Culture in Germany, 1840–1920, New York 1991. 33 Vgl. z.B. R. S. Warner, The Methodology of Marx’s Comparative Analysis of Modes of Production, in: I. Vallier (Hg.), Comparative Methods in Sociology, Berkeley 1971, S. 49–74. Ideengeschichtlich zur Asiatischen Produktionsweise: L. Krader, The Asiatic Mode of Production: Sources, Development and Critique in the Writings of Karl Marx, Assen 1974; M. Sawer, Marxism and the Question of the Asiatic Mode of Production, Den Haag 1977. 34 Vgl. J. Schriewer, Vergleich und Erklärung zwischen Kausalität und Komplexität, in: H. Kaelble u. J. Schriewer (Hg.), Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 1999, S. 53–102, hier S. 53–55. 35 H. Schmidt-Glintzer, The Economic Ethic of World Religions, in: H. Lehmann u. G. Roth (Hg.), Weber’s »Protestant Ethic«: Origins, Evidence, Contexts, Cambridge 1993, S. 347–355, hier S. 350. Zum Diskusionsstand vgl. B. S. Turner, Max Weber’s Historical Sociology: A Bibliographical Essay, in: JHS, Jg. 3, 1990, S. 192–208. Besonders wichtig sind drei von W. Schluchter herausgegebene Sammelbände (darin insbes. die Einleitungen des Herausgebers): Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, Frankfurt a.M. 1983; Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus, Frankfurt a.M. 1984; Max Webers Sicht des Islams, Frankfurt a.M. 1987. Zur Methodik des Vergleichs bei Weber vgl. S. Kalberg, Max Weber’s Comparative Historical Sociology, Cambridge 1994. 36 So A. Zingerle, Kontextverfremdung als methodischer Kunstgriff, in: KZfSS, Jg. 31 1979, S. 587–610.

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Umkreis von »Wirtschaft und Gesellschaft« zu einem Pionier der vergleichenden historischen Soziologie großer Zivilisationskomplexe. Dennoch: Bei aller respektvollen Aufmerksamkeit für außereuropäische Kulturen, die sogar eine ungewöhnliche Empfänglichkeit für asiatische und afrikanische Musik einschloß,37 ging es Weber in letzter Instanz darum, die spezifische Differenz der modernen okzidentalen Entwicklung zu allen anderen Zivilisationserscheinungen herauszumodellieren. Diese Asymmetrie der Fragestellung zeigt sich etwa darin, daß Weber an einem unmittelbaren Vergleich zwischen den indischen und den chinesischen Religionen bzw. Glaubenssystemen nicht interessiert war.38 Die universalgeschichtliche Sonderentwicklung des alle Lebensbereiche rationalisierenden Okzidents blieb das alles bestimmende Problem. Max Webers Anregungen fielen in der Geschichtswissenschaft zunächst nicht auf fruchtbaren Boden. Auch die eher im Programmatischen verharrenden Vorstellungen von Karl Lamprecht39 und Kurt Breysig40 zum transkulturellen Vergleich blieben ohne Resonanz in der Fachöffentlichkeit. Otto Hintze äußerte sich nur gelegentlich, etwa in seinem großen Feudalismus-Aufsatz von 1929, zu außereuropäischen Erscheinungen.41 Transkulturell vergleichende Gesichtspunkte wurden überhaupt ungewöhnlich oft in Überlappungszonen zwischen den Disziplinen ausgearbeitet, so etwa im Grenzbereich von Wirtschaftsgeschichte, ökonomischer Theorie und Anthropologie das Konzept des »Wirtschaftsstils«, das zum Beispiel in Karl Polanyis bedeutenden Studien zur historischen Theorie des Marktes an- und nachklingt.42 37 Vgl. C. Braun, Max Webers »Musiksoziologie«, Laaber 1992, S. 254ff. 38 Vgl. als Beispiel eines solchen Vorgehens etwa das bekannte Werk eines japanischen Indologen: H. Nakamura, Ways of Thinking of Eastern Peoples: India, China, Tibet, Japan, Honululu 1964; sowie Ders., A Comparative History of Ideas, London 1986. Vergleichende interkulturelle Ideengeschichte kann im folgenden nicht behandelt werden. Bemerkenswert wegen ihrer institutionengeschichtlichen Orientierung sind die Werke von G. Makdisi: Rise of Colleges: Institutions of Learning in Islam and the West, Edinburgh 1982; Ders., The Rise of Humanism in Classical Islam and the Christian West, Edinburgh 1989. 39 Vgl. etwa K. Lamprecht, Zur universalgeschichtlichen Methodenbildung, in: Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse der Kgl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 27:2, Leipzig 1909, S. 33–63, bes. S. 37ff.; Ders., Historische Methode und historisch-akademischer Unterricht. Mitteilungen und Darlegungen zum jüngsten Stande der geschichtswissenschaftlichen Probleme, Berlin 1910. 40 Hinweise finden sich verstreut über K. Breysigs ausgedehntes Œuvre. Vgl. insbesondere Kulturgeschichte der Neuzeit. Bd.1: Aufgaben und Maßstäbe einer allgemeinen Geschichtsschreibung, Berlin 1900, S. 38–41; Ders., Das neue Geschichtsbild im Sinn der entwickelnden Geschichtsforschung, Berlin 1944, S. 104–112. Breysig bemühte sich in immer noch bedenkenswerten Formulierungen besonders um eine Verbindung des Quer- und des Längsschnitts, also des Tableaus mit der »comparative method«. 41 Vgl. O. Hintze, Wesen und Verbreitung des Feudalismus, in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. von Gerhard Oestreich, Göttingen 19703, S. 84–119. Hier berücksichtigt Hintze Japan, China, Indien und TürkischKleinasien. 42 Vgl. K. Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft, dt. v. H. Jelinek, Frankfurt a.M. 1979; sehr

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Als einen von Webers wichtigsten Nachfolgern auf dem Gebiet einer »comparative historical differential sociology [...] in civilizational perspective« hat Benjamin Nelson nicht zu Unrecht den englischen Sinologen und Wissenschaftshistoriker Joseph Needham bezeichnet,43 dessen trotz seines Titels immer wieder auch vergleichend angelegtes Monumentalwerk »Science and Civilization in China« 1954 zu erscheinen begann.44 Bis dahin hatte der transkulturelle Vergleich in der angelsächsischen Geschichtsschreibung – mit gelegentlicher Ausnahme der Rechtsgeschichte45 – keine auffällige Rolle gespielt. Die universalgeschichtlichen Entwürfe der Zwischenkriegszeit, allen voran Arnold Toynbees vielgelesenes Werk,46 gingen, wie zuvor schon Oswald Spengler, von der monadenhaften Abgeschlossenheit einzelner, in sich zyklisch bewegter Kulturkreise aus, zwischen denen allenfalls auf metahistorischer Ebene die Art, wie sie jeweils das Zyklenschema ausfüllten, Stoff für vergleichende Überlegungen bot.47 Toynbee kombinierte den historistischen Individualitätsgedanken und das evolutionistische Stadiendenken in einer Weise, die ihn als den letzten Geschichtsdenker des 19. Jahrhunderts erscheinen läßt. Von hier aus führte kein Weg zu einem zeitgemäßen interkulturellen Vergleich. Anders verlief die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung in Frankreich, wo Emile Durkheim und Marcel Mauss, beide entschiedene Befürworter des transkulturellen Vergleichens, auch unter Historikern ein Echo fanden. Marc Bloch und Fernand Braudel, dessen universalhistorische Trilogie »Civilisation matérielle, économie et capitalisme« (1979) von zahllosen transkulturellen Querverweisen anregend auch B. Schefold, Theoretical Approaches to a Comparison of Economic Systems from a Historical Perspective, in: P. Koslowski (Hg.), The Theory of Ethical Economy in the Historical School, Berlin 1995, S. 221–247. 43 Vgl. B. Nelson, Sciences and Civilizations, »East« and »West«: Joseph Needham and Max Weber, in: Ders., On the Roads to Modernity: Conscience, Science, and Civilizations, Totowa, N.J. 1981, S. 164–198, Zitat S. 164. Auf Nelsons Spuren die komparative Arbeit seines Schülers T. Huff: The Rise of Early Modern Science: Islam, China, and the West, Cambridge 1993 (dort S. 32–44 zur vergleichenden Methode bei Needham und Nelson). 44 Bis Anfang 2000 sind 21 Bände erschienen; einige der späteren wurden teilweise oder ganz von Needhams Mitarbeitern verfaßt. Eine vorzügliche Einführung in Needhams Werk gibt: R. Finlay, China, the West, and World History in Joseph Needham’s ›Science and Civilisation in China‹, in: JWH, Jg. 11, 2000, S. 265–302. 45 Hier ist vor allem an Sir Henry Maine, den Verfasser von Ancient Law (1861) und Village Communities in the East and the West (1871), zu denken. Maine war sieben Jahre lang indischer Justizminister (Law Member of the Viceroy’s Council) gewesen und aus dieser Zeit mit der Geschichte Indiens gründlich vertraut. Vgl. R. Cocks, Sir Henry Maine: A Study in Victorian Jurisprudence, Cambridge 1988; A. Diamond (Hg.), The Victorian Achievement of Sir Henry Maine: A Centennial Reappraisal, Cambridge 1991. 46 A. J. Toynbee, A Study of History, 12 Bde., London 1934–1961; am klarsten wird Toynbees Konzept in den ersten sechs Bänden. 47 Vgl. P. Costello, World Historians and Their Goals: Twentieth-Century Answers to Modernism, DeKalb, Ill. 1993, S. 70ff. Bemerkenswert ist hier die Nähe Toynbees zum Kulturellen Relativismus in der Ethnologie.

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durchzogen ist,48 waren allerdings in dieser Hinsicht nicht repräsentativ für die Annales-Schule insgesamt. In der berühmten Zeitschrift sind nur wenige Beiträge mit explizit kulturvergleichender Fragestellung erschienen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der transkulturelle Vergleich von einer Nebenbeschäftigung einzelner kosmopolitischer Gelehrter zu einer breiter akzeptierten Weise sozialwissenschaftlichen Fragens. Vor allem in den USA verstärkte sich im Zeichen von Dekolonisation und weltpolitischer Globalisierung das komparative Interesse in den Sozialwissenschaften überhaupt. »Crosscultural studies« fanden Anhänger in Psychologie und Soziologie. In der Anthropologie diente der Kulturvergleich weniger als in anderen Disziplinen der Formulierung von Generalisierungen als der Verdeutlichung kultureller Spezifik.49 »Comparative politics«, untermauert durch den »area studies approach«, wurde seit den sechziger Jahren zu einer Wachstumsbranche der angelsächsischen Politologie, die sich z.B. transkulturell mit der Rolle des Militärs befaßte.50 Die neue Entwicklungsökonomie erhielt durch W. W. Rostows Stadientheorie des wirtschaftlichen Wachstums einen starken evolutionistischvergleichenden Akzent.51 Daneben fand, weniger auf modernisierungstheoretische Vorstellungen verpflichtet, eine global vergleichende Wirtschaftsgeschichte – der Genfer Gelehrte Paul Bairoch ist ihr vielleicht bekanntester Vertreter52 – seit den sechziger Jahren viel Aufmerksamkeit. 1958 wurde auf Initiative der Mediävistin Sylvia L. Thrupp die Zeitschrift »Comparative Studies in Society and History« mit einem dezidiert universalen Programm gegründet; sie ist bis heute ein maßgebendes Forum transkultureller Studien geblieben. Allerdings sind die meisten Beiträge zu dieser Zeitschrift »more comparative in concept than in formal execution«.53 Man verzichtete vorsichtig

48 Daneben sollte ein weniger bekanntes, eher additiv vorgehendes Werk F. Braudels erwähnt werden: Grammaire des civilisations, Neuausgabe Paris 1987 (ähnlich verfährt: N. M. Djuvara, Civilisations et lois historiques: Essai d’étude comparée des civilisations, Paris 1975). Grundlegend zu Braudels Komparatistik ist G. Gemelli, Fernand Braudel e l’Europa universale, Venedig 1990, bes. S. 80ff. 49 Vgl. L. Holy, Description, Generalization and Comparison: Two Paradigms, in: Ders. (Hg.), Comparative Anthropology, Oxford 1987, S. 1–21, hier S. 11. 50 Vgl. als Überblick J. Hartmann, Vergleichende Politikwissenschaft. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. 1995. 51 W. W. Rostow, The Stages of Economic Growth, Cambridge, Mass. 1960. Dieser historische Akzent wird noch deutlicher in Rostows späteren Werken, insbes. Ders., Politics and the Stages of Growth, Cambridge 1971; Ders., The World Economy, London 1978. 52 Vgl. P. Bairoch, Révolution industrielle et sous-développement, Paris 1963; Ders., International Industrialization Levels from 1750 to 1980, in: JEEH, Jg. 11, 1982, S. 269–333; Ders., De Jéricho à Mexico: Villes et économie dans l’histoire, Paris 1985; Ders., Victoires et déboires: Histoire économique et sociale du monde du XVIe siècle à nos jours, 3 Bde., Paris 1997. 53 R. Grew, On the Current State of Comparative Studies, in: Atsma u. Burguière (Hg.), Marc Bloch aujourd’hui, S. 323–334, Zitat S. 325.

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auf ambitionierte Verallgemeinerungen,54 konzentrierte sich vielmehr darauf, neue Fragestellungen im Horizont grundsätzlicher Vergleichbarkeit zu entwerfen und sie auf fachwissenschaftlich unanfechtbarem Niveau zu bearbeiten. Der Erfolg einer solchen Zeitschrift war nur möglich, weil in den sechziger Jahren die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas – vor allem in den USA, aber auch in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und einigen osteuropäischen Ländern – in die Phase universitärer Institutionalisierung und disziplinärer Professionalisierung im Rahmen der allgemeinen Geschichtswissenschaft eintrat.55 Auch in manchen ehemaligen Kolonien hat die historische Forschung seither ein beachtliches Niveau erreicht, und die japanische Historikerschaft gehört zu den produktivsten der Welt. Dieser Aufschwung der historischen Studien über Asien, Afrika und (Latein-)Amerika zählt zu den bedeutendsten Errungenschaften der internationalen Geschichtswissenschaft während der letzten Jahrzehnte. Forscher auf diesen Gebieten sind mittlerweile nach dem Vorbild der älteren historischen Teildisziplinen kleinteilig spezialisiert und gegenüber wagemutigen transkulturellen Vergleichen ebenso mißtrauisch eingestellt wie ihre europahistorischen Kolleginnen und Kollegen. Komparative Gesichtspunkte fließen zwar in den oft subtilen Theoriegebrauch besonders der sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Außereuropaforschung ein,56 führen aber selten zu einer explizit vergleichenden Betrachtung. So bleibt das Geschäft des breiten Überblicks in der Regel außerfachlichen oder frei von etablierten Disziplingrenzen arbeitenden Generalisten überlassen. Niemand von ihnen kann indessen, anders als noch

54 Sie findet man heute eher in Zeitschriften wie Theory and Society, Journal of Historical Sociology oder Journal of World History. 55 Vgl. J. Osterhammel, Außereuropäische Geschichte. Eine historische Problemskizze, in: GWU, Jg. 46, 1995, S. 253–276; H. L. Wesseling, Overseas History, in: P. Burke (Hg.), New Perspectives on Historical Writing, Cambridge 1991, S. 67–92. 56 Ein Beispiel unter vielen möglichen ist die Diskussion zwischen Formalisten, Substantivisten und Marxisten anläßlich der Geschichte der asiatischen und insbesondere der chinesischen Bauernschaft. Vgl. J. Osterhammel, Bauern und ländliche Gesellschaft im China des 20. Jahrhunderts. Zwischenbilanz einer Debatte, in: IAF, Jg. 24, 1993, S. 311–329. Zum weiteren Forschungskontext einer theoriegeleiteten Gesellschaftsgeschichte des modernen China vgl. Ders., Modernisierungstheorie und die Transformation Chinas 1800–1949, in: Saeculum, Jg. 35, 1984, S. 31–72; E. S. Rawski, Research Themes in Ming-Qing Socioeconomic History; The State of the Field, in: JAS, Jg. 50, 1991, S. 84–111; F. Wakeman, Jr., Models of Historical Change: The Chinese State and Society, 1839–1989, in: K. Lieberthal u.a. (Hg.), Perspectives on Modern China: Four Anniversaries, Armonk, N.Y. 1991, S. 68–102; vor allem aber die beiden brillanten Aufsätze von W. T. Rowe, Approaches to Modern Chinese Social History, in: O. Zunz (Hg.), Reliving the Past: The World of Social History, Chapel Hill, N.C. 1985, S. 236–296; Ders., Modern Chinese Social History in Comparative Perspective, in: P. S. Ropp (Hg.), Heritage of China: Contemporary Perspectives on Chinese Civilization, Berkeley 1990, S. 242–262.

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Max Weber, der in den Kindertagen der Orientalistik schrieb,57 den gültigen Forschungsstand zu größeren komparativen Themenkomplexen urteilsfähig überblicken; wenige verfügen auch über die dazu erforderlichen Sprachkenntnisse. Nicht Mangel an Wissen und Interesse läßt den transkulturellen Vergleich daher heute immer noch als erst schemenhaft realisiertes Ideal erscheinen, sondern umgekehrt die hohen Erwartungen, die sich an ihn richten, und der embarras de richesse der weltweiten Geschichtsforschung, die den Generalisten zwangläufig zum Dilettanten degradiert. Zwischen der professionellen Feinspezialisierung der Fachhistoriker auf kurze Epochen, subnationale Regionen und begrenzte Fragestellungen einerseits und der Vorliebe historisch denkender Sozialwissenschaftler für »big structures, large processes, huge comparisons« andererseits58 hat die Geschichtswissenschaft erst kaum vermittelnde Zwischenebenen gefunden. Jedenfalls kann für die Geschichte noch nicht gesagt werden, was Friedrich Tenbruck, vielleicht ein wenig übertreibend, von den Sozialwissenschaften behauptet hat: der Kulturvergleich sei »zum bestimmenden Horizont geworden, in dem sich alle Arbeit vollzieht«.59 Zumal der noch anspruchsvolleren, schon von Kurt Breysig, Henri Berr und vor allem Marc Bloch umrissenen Herausforderung einer aus dem Vergleich entstehenden, stets aber durch Forschungsbezug intellektuell disziplinierten transkulturellen »Synthese« haben sich die Historiker bisher kaum gestellt.

III. Die großen Fragen der historische Soziologie »Eher als eine Disziplin ist die Vergleichende Geschichte ein Forschungsfeld, das kein Monopol der historischen Forschung mehr darstellt und zu dem nicht nur die verschiedenen Sozialwissenschaften in unterschiedlicher Weise ihre eigenen Beiträge geleistet haben, sondern auch solche allgemeinen Deutungen der Geschichte, denen ein eigentlicher wissenschaftlicher Status fehlt.«60

»Storia comparata« oder »comparative history« ist, wie Pietro Rossi hier richtig feststellt, ein Begegnungsraum der Vertreter verschiedener Fachrichtungen – mit einer Nische für seriöse Essayistik – geworden. Die transkulturell verglei-

57 Dies zeigt am Beispiel der Chinastudien die Rekonstruktion von Webers Literaturverwendung in Bd. I/19 der Max Weber Gesamtausgabe: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen: Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915–1920, hg. v. H. Schmidt-Glintzer in Zus. mit P. Kolonko, Tübingen 1989. 58 Vgl. C. Tilly, Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons, New York 1984. 59 F. Tenbruck, Was war der Kulturvergleich, ehe es den Kulturvergleich gab? In: Matthes (Hg.), Zwischen den Kulturen?, S. 13–35, hier S. 13. 60 P. Rossi, Introduzione, in: Ders. (Hg.), La storia comparata, S. IX–XXV, hier S. XVI.

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chende Geschichtswissenschaft kann vor allem nicht isoliert von jener Richtung gesehen werden, die sich heute zur Anwältin der klassischen universalhistorischen Fragen macht: der historischen Soziologie.61 Historisch aufgeschlossene Soziologen sind wichtige »Endabnehmer« geschichtswissenschaftlicher Spezialforschung, ebenso aber auch potentielle Anreger bei der Formulierung neuer Untersuchungsaufgaben und Deutungsvorhaben. Trotz eifriger Bemühung, besonders in den Vereinigten Staaten, ist die historische Soziologie zu ihrem Glück noch keine arrivierte Bindestrichsoziologie geworden. Sie wird nach wie vor weniger von geschäftsmäßiger Projektroutine beherrscht als von Ausstrahlung und Prestige einzelner herausragender Autoren wie Barrington Moore,Jr., S. N. Eisenstadt, Charles Tilly, Immanuel Wallerstein, Theda Skocpol oder Michael Mann. Wegen dieser geradezu charismatischen Individualisierung des Diskurses der historischen Soziologie ist es nicht einfach, seine methodologischen Grundmuster zu erkennen. Theda Skocpol hat dies in erster Annäherung versucht, indem sie drei »Strategien« des Theoriebezugs unterschied: (1) die Anwendung allgemeiner Modelle auf historische Sachverhalte, (2) die interpretierende Erhellung geschichtlicher Makro-Fälle (meist nationaler Geschichten) durch theoretische Konzepte und den Vergleich von Kontexten, (3) die Suche nach kausalen Mustern und Zusammenhängen bei der Beantwortung historischer Fragestellungen mittlerer Reichweite.62 Als historische Soziologie im engeren Sinne will Skocpol mit Recht nur die dritte Variante, vertreten etwa durch Barrington Moore, Marc Bloch und Skocpol selbst, qualifiziert sehen, während die zweite, als deren Repräsentanten sie E. P. Thompson und Reinhard Bendix erörtert, einen Vorsprung an sinnverstehender Leistung durch einen Mangel an erklärender Validität erkauft. 61 Vgl. zur Übersicht: P. Abrams, Historical Sociology, Ithaca 1982, bes. S. 174–189; T. Skocpol (Hg.), Vision and Method in Historical Sociology, Cambridge 1984; Social Science History, Jg. 11:1, 1987 (Themenheft zur historischen Soziologie in den USA); D. Smith, The Rise of Historical Sociology, Cambridge 1991; E. Kiser u. M. Hechter, The Role of General Theory in ComparativeHistorical Sociology, in: AJS, Jg. 97, 1991, S. 1–30; W. Spohn, Historische Soziologie zwischen Sozialtheorie und Sozialgeschichte, in: F. Welz u. U. Weisenbacher (Hg.), Soziologische Theorie und Geschichte, Opladen 1998, S. 289–318. Eine vorzügliche Darstellung ist P. H. H. Vries, Verhaal en betoog: Geschiedbeoefening tussen postmoderne vertelling en sociaal-wetenschappelijke analyse, Leiden 1995, S. 213–285. Vgl. auch Ders., Historische sociologie. Op zoek naar processen en structuren, in: H. Beliën u. G. J. van Setten (Hg.), Geschiedschrijving in die twintigste eeuw. Discussie zonder eind, Amsterdam 1991, S. 301–341; Es gibt daneben eine eher interpretierende als konstruierende historisch-kulturvergleichend orientierte Soziologie, als deren Pionier vor allem der niederländische Soziologe W. F. Wertheim genannt werden muß, vgl. etwa East-West Parallels: Sociological Approaches to Modern Asia, Den Haag 1964. 62 T. Skocpol, Emerging Agendas and Recurrent Strategies in Historical Sociology, in: Dies. (Hg.), Vision and Method, S. 356–391, bes. S. 362–386. Mit etwas anderen Akzenten: T. Skocpol u. M. Somers, The Use of Comparative History in Macrosocial Inquiry, in: CSSH, Jg. 22, 1980, S. 174–197.

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Man muß sich vor Augen halten, daß keineswegs alle historischen Soziologen komparativ vorgehen. Vor allem zwei Ausnahmen sind zu gewichtig, um nur als Bestätigungen einer allgemeinen Regel verbucht zu werden: Immanuel Wallersteins historische Theorie des »modernen Weltsystems«, einer der ehrgeizigsten Entwürfe einer historischen Supertheorie jenseits von Marx und Weber, beruht zwar auf der Annahme vielfältiger Differenzen zwischen analytischen Sub-Einheiten (Zentren, Peripherien, Subperipherien, usw.), postuliert aber das Weltsystem insgesamt als den dominierenden Analyserahmen. Vergleiche sind in einer solch unitarischen Konzeption kaum möglich, und Wallersteins Werk entfaltet sich denn auch über bisher drei Bände hinweg als der Bildungsroman des modernen Kapitalismus.63 Ebenfalls als eine universalhistorische Makro-Narration ist Michael Manns Geschichte der Macht angelegt, die mit ihrer Betonung des raum-zeitlich Spezifischen eher Theda Skocpols zweiter als ihrer dritten Variante zuzuordnen ist.64 Obwohl Mann gelegentlich vergleichende Exkurse einflicht,65 ist er ein grundsätzlicher Kritiker der komparativen Methode, der generische Begriffe wie »Feudalismus« mit Vorsicht verwendet, transkulturelle Fernvergleiche im Sinne Marc Blochs ablehnt und vor allem die klare Begrenzbarkeit von Vergleichsgrößen – etwa »societies« – bestreitet: »Societies are not self-contained units to be simply compared across time and space. They exist in particular settings of regional interaction that are unique even in some of their central characteristics. The chances for comparative sociology are very limited when there are so few comparable cases.«66

Nicht immer bemühen also historische Soziologen die Methode des Vergleichs. Wenn sie es tun, vergleichen sie nicht immer auch transkulturell;

63 I. Wallerstein, The Modern World-System. Bd. 1: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth-Century, New York 1974; Bd. 2: Mercantilism and the Consolidation of the European World-Economy, 1600–1750, New York 1980; Bd. 3: The Second Era of Great Expansion of the Capitalist World-Economy, 1730–1840s, San Diego 1989. Um Wallerstein herum hat sich eine bisweilen etwas sterile Scholastik gebildet. Wie anregend seine Ideen aber in der transdisziplinären Fernwirkung sein können, zeigt etwa der Sammelband H.-J. Nitz (Hg.), The Early Modern World-System in Geographical Perspective, Stuttgart 1993. Zur Einführung auch H.-H. Nolte, Die eine Welt. Abriß der Geschichte des internationalen Systems, Hannover 19932; Ders. (Hg.), Weltsystem und Geschichte, Göttingen 1985; Ders. (Hg.), Europäische Innere Peripherien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997. 64 M. Mann, The Sources of Social Power. Bd.1: A History of Power from the Beginning to A.D. 1760, Cambridge 1986; Bd. 2: The Rise of Classes and Nation-States, 1760–1914, Cambridge 1993. P. Burke spricht in seiner Rezension des ersten Bandes von Manns Werk leicht mokant von »a series of essays on the rise of the West«. History, Jg. 73, 1988, S. 105. 65 Etwa Mann, Sources of Social Power, Bd. 1, S. 341–372, über Konfuzianismus, Islam und Hinduismus im Vergleich zum (antiken) Christentum: ein uncharakteristischer Ausflug in außereuropäische Gefilde. 66 Ebd., S. 30 (Hervorhebung im Original), auch S. 1f., S. 17, S. 526.

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Charles Tilly zum Beispiel geht selten über einen europäischen Referenzbereich hinaus, obwohl sich manche seiner Themen dafür eignen würden.67 Bei mindestens fünf historisch-soziologischen Fragestellungen hat sich eine transkulturelle Problemfassung und Lösungsstrategie als besonders ertragoder chancenreich erwiesen: Erstens eignen sich solche gesellschaftlichen Institutionen und Praktiken, die in vielen Teilen der Erde vorkommen, die also in ihrer Substanz nicht kulturspezifisch sind, für eine universale Variantenanalyse. Gefragt wird nach den spezifischen Ausprägungen, die eine im Grundtypus einigermaßen klar umreißbare Vergesellschaftungsform – etwa »die Familie«, die »Dorfgemeinschaft« oder »die Stadt« – in unterschiedlichen, jeweils nach Raum und Zeit zu präzisierenden Kontexten erfahren hat. Das Verfahren ähnelt hier auf den ersten Blick in mancher Hinsicht der Vorgehensweise der szientifischen Ethnologie, die auf der Grundlage von Beobachtungsdaten über hunderte von einzelnen, überwiegend nicht-industrialisierten Kulturen68 mittels quantifizierender und anderer kulturvergleichender (»cross-cultural«) Forschungstechniken zu Erkenntnissen nomologischen Charakters zu gelangen sucht.69 Ein historisch-makrosoziologischer Ansatz dieser Art wird ebenfalls eine größere Anzahl von Fällen berücksichtigen, als dies beim Vergleich umfassenderer Einheiten (Zivilisationen, Nationen, usw.) der Fall ist, jedoch wird nicht die Aufstellung gesetzmäßiger Zusammenhänge, sondern hauptsächlich die von Typologien und anderen Differenzierungsstrukturen angestrebt. Im Extremfall dient der komparatistische Aufwand sogar dem Zweck, quer durch die Kulturen Material zur historisch gehaltvollen Ausarbeitung eines einzigen komplexen Idealtypus von weltweiter Geltung zu sammeln. So geht etwa Gideon Sjoberg in seinem Buch über die vorindustrielle Stadt vor, das Max Webers Orient-Okzident-Typologie der Stadt auf höherer Abstraktionsebene zu überwölben versucht.70 Ähnlich konvergent verfährt der britische Sozialanthropologe Jack Goody, der nach detailreichen Erörterungen von Heirats- und Familiensystemen in vielen eurasischen Kulturen – von Hellas bis China – zu dem Ergebnis kommt, »that domestic structures of the major Eurasian societies are much more similar or

67 Transkulturelle Seitenblicke finden sich noch am ehesten in C. Tilly, Coercion, Capital, and European States, AD 990–1990, Oxford 1990. 68 Murdock und White gehen in ihrer einflußreichen »Stichprobe« von 186 Kulturen aus: G. P. Murdock u. D. R. White, Standard Cross-cultural Sample, in: Ethnology, Jg. 8, 1969, S. 329–369. 69 Vgl. als Übersicht T. Schweizer, Interkulturelle Vergleichsverfahren. in: H. Fischer (Hg.), Ethnologie. Einführung und Überblick, Berlin 19882, S. 407–425; Ders., Perspektivenwandel in der ethnologischen Primär- und Sekundäranalyse. Die frühere und die heutige Methodik des interkulturellen Vergleichs, in: KZfSS, Jg. 41, 1989, S. 465–482; zuvor schon Ders., Methodenprobleme des interkulturellen Vergleichs. Probleme, Lösungsversuche, exemplarische Anwendung, Köln 1978 70 Vgl. G. Sjoberg, The Preindustrial City: Past and Present, New York 1960.

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more malleable than it is often supposed«.71 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel universaler Variantenanalyse ist Orlando Pattersons »Slavery and Social Death«, wo auf stupender Literaturgrundlage Formen und innere Dynamik von Sklaverei in 66 Gesellschaften unter systematischen Gesichtspunkten verglichen werden.72 Oft bleibt die universale Variantenanaylse aber auf der Stufe universalhistorischer Materialsammlung stehen, ohne daß der Stoff komparativ durchgearbeitet würde. Zweitens verspricht die vergleichende Untersuchung vor- bzw. frühmoderner Staatlichkeit wichtige Aufschlüsse. Der am einfachsten handhabbare Zugang ist hier der über einzelne Staatsfunktionen. So hat der neuseeländische Chinahistoriker Samuel Adshead die Salzverwaltung, eine der wichtigsten Behörden des frühneuzeitlichen Staates, in Frankreich, Venedig, dem Osmanischen Reich und China studiert.73 Auch auf anderen Gebieten – Militär, Finanzwesen, Judikatur, usw. – wäre eine transkulturell vergleichende Betrachtung vor allem der absolutistischen Systeme in Europa und in Asien (Osmanisches Reich, MogulReich, Qing-China, Tokugawa-Japan, u.a.) möglich.74 Die Vergleichbarkeit dieser politischen Ordnungen fiel bereits manchen frühneuzeitlichen Zeitgenossen auf; ihre überseeischen Reise- und Gesandtschaftberichte sind voll von Vergleichen zwischen Orient und Okzident.75 Grundlage eines universalen Vergleichs von Staatlichkeit können am Beginn des 21. Jahrhunderts die großen synthetischen Werke von Samuel E. Finer, Wolfgang Reinhard und Martin van 71 J. Goody, The Oriental, the Ancient and the Primitive: Systems of Marriage and the Family in the Pre-industrial Societies of Eurasia, Cambridge 1990, S. 482. 72 O. Patterson, Slavery and Social Death: A Comparative Study, Cambridge, Mass. 1982. 73 S. A. M. Adshead, Un cycle bureaucratique: L’administration du sel en Orient et Occident, in: Annales, E.S.C. Jg. 38, 1983, S. 221–233; Ders., Salt and Civilization, New York 1992. 74 Dazu grundsätzlich die Bemerkungen bei R. Mousnier, Quelques remarques pour une comparaison des monarchies absolues en Europe et en Asie, in: RH, Nr. 551, 1984, S. 29–44; sowie zum »weltweiten ancien régime des 18. Jahrhunderts«: J. Osterhammel, China und die Weltgesellschaft. Vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit, München 1989, S. 41–45. Bei P. Anderson (Lineages of the Absolutist State, London 1974, S. 436ff.) werden Japan und die Asiatische Produktonsweise in einen Anhang verbannt. Einen weithin überzeugenden Vergleich zwischen England, Frankreich, China und dem Osmanischen Reich zwischen ca. 1600 und 1850 unternimmt J. A. Goldstone, Revolution and Rebellion in the Early Modern World, Berkeley 1991. Die Vergleichbarkeit Frankreichs und des safawidischen Iran als zwei Varianten von N. Elias’ »höfischer Gesellschaft« deutet an: P. Luft, Gottesstaat und höfische Gesellschaft. Iran im Zeitalter der Safawiden (16.–17. Jahrhundert), in: J. Osterhammel (Hg.), Asien in der Neuzeit, S. 26–46. Einen wirtschaftsgeschichtlichen Ansatz erprobt D. O. Flynn, Comparing the Tokagawa [!] Shogunate with Hapsburg Spain: Two Silver-Based Empires in a Global Setting, in: J. D. Tracy (Hg.), The Political Economy of Merchant Empires, Cambridge 1991, S. 332–359. Anregend bleibt eines der Pionierwerke der historischen Soziologie: S. N. Eisenstadt, The Political Systems of Empires, New York 1963. 75 Vgl. J. Osterhammel, Reisen an die Grenzen der Alten Welt. Asien im Reisebericht des 17. und 18. Jahrhunderts, in: P. J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. 1989, S. 224–260; M. Harbsmeier, Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1994.

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Crefeld sein, die nahezu gleichzeitig erschienen und die staatssoziologischen Ansätze der voraufgegangenen Jahrhundertwende fortführen.76 Drittens wird eine komparative Sozialgeschichte des Wissens und Problemgeschichte der Wissenschaften in der Zukunft zu den wichtigsten Aufgaben des transkulturellen Vergleichs gehören. Von Joseph Needhams Untersuchungen war bereits die Rede. Von ähnlicher Wirkung dürften künftig die Arbeiten des japanischen Historikers Shigeru Nakayama sein, die außerhalb wissenschaftshistorischer Kreise erst kaum beachtet worden sind.77 Nakayama befaßt sich vor allem mit Wissenstransfer über Zivilisationsgrenzen hinweg. Er verknüpft in einer überaus konzisen und zugleich empirisch gehaltvollen Erklärungsskizze eine große Zahl von Faktoren: traditionelle Denkstile (sichtbar etwa an unterschiedlichen Weisen des Klassifizierens), Herausbildung von »Paradigmata«, Funktionen von Medien, Organisation der Produktion und Verbreitung von Wissen (mit der europäischen Universität als weltgeschichtlichem Spezialfall), Status und Rollen von Wissensproduzenten in ihren jeweiligen Gesellschaften, disziplinäre Spezialisierung, überseeische Transplantation der europäischen Wissenschaft und ihre Interferenz mit einheimischen Traditionen. Einer der Vorzüge von Nakayamas Denkweise etwa auch gegenüber derjenigen Joseph Needhams liegt darin, daß sie in einem Kontinuum vormoderne und moderne Entwicklungen gleichermaßen erfaßt. Gerade im Falle Japans läßt sich zeigen, daß »moderne« westliche Ideen von Wissenschaft im 19. Jahrhundert keineswegs in eine auf sie gänzlich unvorbereitete »traditionale« und vorrationale Umgebung eindrangen.78 Untersuchungen von Wissenstransfer erfordern semantische Untersuchungen von hoher Komplexität. Im Zuge der Ausbreitung europäischer Konzeptionen von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit mußten nicht nur komplette technische Nomenklaturen übersetzt, sondern auch Grundbegriffe wie »Wissenschaft« oder »Geschichte« in semantische Felder verpflanzt werden, in denen es bereits Ähnliches, aber eben nicht Kongruentes gab.79 Ein weiterer lohnender Ansatzpunkt ist ein Vergleich von Gelehrsamkeits- und 76 Vgl. S. E. Finer, The History of Government from the Earliest Times, 3 Bde., Oxford 1997; M. van Crefeld, The Rise and Decline of the State, Cambridge 1999; W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999; vgl. auch Ders. unter Mitarbeit von E. Müller-Luckner (Hg.), Verstaatlichung der Welt? Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Machtprozesse, München 1999. 77 Vgl. vor allem S. Nakayama, Academic and Scientific Traditions in China, Japan, and the West. Transl. by J. Dusenbury, Tokyo 1984. 78 Vgl. etwa J. R. Bartholomew, The Formation of Science in Japan: Building a Research Tradition, New Haven 1989, S. 9–48. 79 Vgl. etwa Wang Hui, The Fate of »Mr. Science« in China: The Concept of Science and Its Application in Modern Chinese Thought, in: T. E. Barlow (Hg.) Formations of Colonial Modernity in East Asia, Durham 1997, S. 21–81; M. Sato, Die Einführung der »Geschichte« im Japan des späten 19. Jahrhunderts, in: J. Rüsen u.a. (Hg.), Die Vielfalt der Kulturen, Frankfurt a.M. 1998, S. 441–458.

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Wissenschaftskulturen, ein Thema von wahrhaft globalgeschichtlicher Ausdehnung.80 Viertens spricht vieles dafür, die Königsfrage der historischen Soziologie, die Frage nach den Ursachen des (west-) europäischen kapitalistischen »Sonderweges«, als komparatistisches Problem zu stellen. Dies versteht sich keineswegs von selbst. Bis zu Michael Mann, dem besonders ausgeprägt hegelianisch-teleogischen John A. Hall81 und den Teilnehmern an der berühmten »Brenner-Debatte« der Jahre 1976–82 (in welcher der Vergleich zwischen West- und Osteuropa eine große Rolle spielte),82 hat man den Vorsprung des Westens immer wieder auf tief verwurzelte intrinsische Anlagen zurückgeführt.83 Der Vergleich mit Asien dient dann allenfalls der dramatisierenden Verdeutlichung. Eine systematische transkulturelle Fragestellung ist vor allem auf zweifache Weise in die Debatte eingeführt worden: Zum einen hat der australische Wirtschaftshistoriker Eric L. Jones, ausgehend von der schon Max Weber geläufigen Einsicht in die Kontingenz des europäischen Vorsprungs (Ernest Gellner spricht von einem »accidentally open gate model«),84 ein sorgfältig durchdachtes »eurasiatisches« Erklärungsmodell entwickelt, das nicht als lineare Kausalkette, sondern als »a giant combination lock« konstruiert ist.85 Jones’ Argumentation beruht auf der Voraussetzung, daß sich Asien und Europa nicht durch grundsätzlich verschiedenartige Gesellschaftsformationen und deren Zuordnung zu Entwicklungsstadien und auch nicht durch ein kulturell vorgegebenes Mehr oder Weniger an rationaler Weltbezogenheit unterscheiden,86 sondern 80 Vgl. S. C. Humphreys (Hg.), Cultures of Scholarship, Ann Arbor 1997. 81 J. A. Hall, Powers and Liberties: The Causes and Consequences of the Rise of the West, Oxford 1985. 82 Die Beiträge sind gesammelt in: T. H. Ashton u. C. H. E. Philpin (Hg.), The Brenner Debate: Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-industrial Europe, Cambridge 1985. 83 In der wirtschaftsgeschichtlichen Literatur ist diese Denkweise nach wie vor verbreitet. Niveauvolle neuere Beispiele sind N. Rosenberg u. L. E. Birdzell, Jr., How the West Grew Rich: The Economic Transformation of the Industrial World, New York 1986; H. Kiesewetter, Das einzigartige Europa. Zufällige und notwendige Faktoren der Industrialisierung, Göttingen 1996; D. S. Landes, The Wealth and Poverty of Nations: Why Some are So Rich and Some so Poor, New York 1998. 84 E. Gellner, Introduction, in: J. Baechler u. a. (Hg.), Europe and the Rise of Capitalism, Oxford 1988, S. 4. 85 E. L. Jones, The European Miracle: Environments, Economies and Geopolitics in the History of Europe and Asia, Cambridge 1981, Zitat S. 238. Zur weiterführenden Diskussion vgl. vor allem E. Weede, Der Sonderweg des Westens, in: ZfSoz, Jg. 17, 1988, S. 172–186. E. L. Jones hat seine Überlegungen ergänzt in Growth Recurring: Economic Change in World History, Oxford 1988. In ganz anderer Weise hat P. K. O’Brien die Ursprünge der europäischen Industrialisierung in einen globalen Horizont gerückt: The Foundations of European Industrialization: From the Perspective of the World, in: J. C. Pardo (Hg.), Economic Effects of the European Expansion, 1492– 1824, Stuttgart 1992, S. 462–502. 86 Das entscheidende Resümee lautet: »The most plausible assumption is that whatever the details of their cultures, non-Europeans were trying to maximize material gains just as Europeans were, but subject to more stringent contrasts.« Jones, The European Miracle, S. 160.

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primär durch Europas geringere Anfälligkeit für Naturkatastrophen und sekundär durch seine Tendenz zu Dezentralität. Zum anderen hat der Soziologe und Sinologe Gary G. Hamilton im Sinne Joseph Needhams die Beweislast asienzentrisch verschoben und in einer Reihe brillanter Aufsätze die – auch in der chinesischen Geschichtswissenschaft heftig diskutierte87 – Frage zu beantworten versucht, warum es in China, einem zwischen ca. 1000 und 1600 besonders aussichtsreichen Kandidaten, nicht zur Herausbildung einer kapitalistischen Wirtschaftsweise gekommen ist.88 Fünftens hat der über Europa hinausgreifende Vergleich auf keinem Gebiet der historischen Soziologie eindrucksvollere Ergebnisse erzielt als auf dem der Profilierung alternativer Pfade in die moderne Welt. Noch mehr als andere Felder ist dieses eine Domäne der großen Bücher. In der Tat zählen Barrington Moores »Social Origins of Democracy and Dictatorship« (1966),89 Theda Skocpols »States and Social Revolutions« (1979)90 und Jack Goldstones »Revolution und Rebellion in the Early Modern World« (1991)91 zu den wichtigsten Beiträgen zur historischen Soziologie überhaupt. Jedes dieser Werke verfolgt seine spezifische Fragestellung, doch haben sie alle gegenüber der Suche nach dem Ur87 Die chinesische Debatte wird seit der Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts unter dem Stichwort »Keime des Kapitalismus« geführt. Zum weiteren komparativen Zusammenhang äußern sich Fan Daren u. Yi Mengchun, Bijiao shixue [Vergleichende Geschichtswissenschaft], Changsha 1991, bes. S. 199–225. 88 Vgl. vor allem G. G. Hamilton, Why No Capitalism in China? Negative Questions in Historical, Comparative Research, in: JDS, Jg.1, 1985, S. 187–211; daneben Ders., Chinese Consumption of Foreign Commodities: A Comparative Perspective, in: ASR, Jg. 42, 1977, S. 877–891; Ders., Regional Associations and the Chinese City: A Comparative Perspective, in: CSSH, Jg. 21, 1979, S. 346–361; Ders., Patriarchalism in Imperial China and Western Europe: A Revision of Weber’s Sociology of Domination, in: Theory and Society, Jg. 13, 1984, S. 394–425. Einen noch viel weiteren universalen Vergleichskreis zieht C. Wickham, The Uniqueness of the East, in: JPS, Jg. 12, 1985, S. 166–196 (auch in: Baechler u.a. [Hg.], Europe and the Rise of Capitalism, S. 66–100). 89 Deutsche Ausgabe: Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie. Die Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt, dt. v. G. H. Müller, Frankfurt a.M. 1969. Vgl. dazu D. Smith, Barrington Moore: Violence, Morality and Political Change, London 1983, S. 8ff. Einen aufschlußreichen Theorievergleich zwischen Moore und E. P. Thompson unternimmt Ders., The Rise of Historical Sociology, S. 56–67. 90 T. Skocpol, States and Social Revolutions: A Comparative Analysis of France, Russia and China, Cambridge 1979. Skocpol hat später auch die Revolutionen in Mexiko, Vietnam und Iran in ihre Untersuchungen einbezogen: Dies., Social Revolutions in the Modern World, Cambridge 1994. Kritik an Skocpols Erklärungsstrategien übt. T. Welskopp, Erklären, in: H.-J. Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek 1999, S. 132–168, hier S. 153f. 91 J. A. Goldstone faßt Abschnitte seines großen Buches zusammen in: East and West in the Seventeenth Century: Political Crises in Stuart England, Ottoman Turkey and Ming China, in: CSSH, Jg. 30, 1988, S. 103–142; Ders., Cultural Orthodoxy, Risk, and Innovation: The Divergence of East and West in the Early Modern World, in: Sociological Theory, Jg. 5, 1987, S. 119–135. Zum Diskussionskontext vgl. Ders., Theories of Revolution: The Third Generation, in: WP, Jg. 32, 1980, S. 425–453; Ders., The Comparative and Historical Study of Revolutions, in: Annual Review of Sociology, Jg. 8, 1982, S. 187–207.

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sprung des europäischen bzw. des ausgebliebenen chinesischen »Wunders« viererlei gemeinsam: Sie kontrastieren raum-zeitlich ziemlich genau umgrenzte Fälle miteinander, nicht (wie etwa E. L. Jones) vage umrissene Verläufe in sehr langen Zeitspannen. Sie privilegieren keinen dieser Fälle als den Normalweg, zu welchem sich die anderen als Sonderwege verhalten; daraus folgt auch, daß eine selektive, nur die jeweiligen Europa- bzw. Nordamerikakapitel beachtende Lektüre die Absichten dieser Autoren verfehlt.92 Sie wenden dasselbe analytische Instrumentarium kulturblind auf den Westen wie auf Asien an. Und sie stellen nicht inkrementalen sozioökonomischen Wandel ins Zentrum ihrer Analysen, sondern große Krisen und Systembrüche, deren politische – bei Skocpol auch außenpolitische – Dimension nicht unterschlagen wird.93 In jedem der drei Werke wird die komparative Methode auf besondere Weise verwendet. Moore fragt eher nach den Unterschieden zwischen seinen sechs Fällen, die zu drei, keineswegs säuberlich auf Kontinente und Kulturen verteilten Arten von Resultaten führten (Demokratie, Faschismus, Bauernrevolution). Skocpol sucht hingegen hinter ähnlichen Phänomenen – »großen« Revolutionen in Frankreich, Rußland und China – mit Hilfe eines Deutungsmodells, das aus den vier Komponenten Staat, herrschende Klassen, beherrschte Klassen und internationale Umwelt besteht, ähnliche Ursachen. Insbesondere entdeckt sie manche strukturelle Parallele zwischen Frankreich im späten 18. und China im frühen 20. Jahrhundert. Goldstone schließlich, der sich von den drei Autoren am meisten um Nähe zur laufenden historischen Forschung bemüht, postuliert im Geiste Marc Blochs die weltweite Vergleichbarkeit gleichzeitig existierender »agrarian-bureaucratic states«94 und ist skeptisch gegenüber Theda Skocpols (oder gar S. N. Eisenstadts) transepochalem Vergleich.95 Seine Ausgangsbeobachtung ist die Synchronität revolutionärer Krisen in Europa und 92 In der deutschen Ausgabe von Barrington Moores Werk nehmen die Kapitel über England, Frankreich und die USA insgesamt 169 Seiten ein, die über China, Japan und Indien 279 Seiten. Die Kritik hat diesen umfangreicheren asiatischen Teil von Moores Darstellung und Argumentation fast völlig ignoriert. 93 Zum weiteren Umfeld der Revolutionsforschung mit ihren zahlreichen komparativen Facetten vgl. als Überblicksdarstellung: M. S. Kimmel, Revolution: A Sociological Interpretation, Cambridge 1990. 94 Goldstone, Revolution, S. 41. 95 Ebd., S. 17. Weit extremer als T. Skocpol mit ihrem Frankreich-China-Vergleich verfährt z.B. ein Autor, der u.a. das alte Mesopotamien, das perikleische Athen, das indische Mogulreich und das elisabethanische England nebeneinander stellt: R. W. Goldsmith, Premodern Financial Systems: A Historical Comparative Study, Cambridge 1987. Solches transepochale Vergleichen ist keineswegs illegitim. Welche Art von Einsichten es hervorbringen kann, zeigen solch verschiedenartige Versuche wie R. Syme, Colonial Elites: Rome, Spain and the Americas, Oxford 1958, und V. J. Rosivach, Agricultural Slavery in the Northern Colonies and in Classical Athens: Some Comparisons, in: CSSH, Jg. 35, 1993, S. 551–567. Das umfassendste komparative Programm stammt von S. N. Eisenstadt; vgl. seine Skizze A Sociological Approach to Comparative Civilizations: The Development and Directions of a Research Program, Jerusalem 1986.

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Asien, also die Feststellung eines gesamteurasischen Revolutionszyklus, den er letztlich auf weltweite demographische Tendenzwenden zurückführt. Überwiegt hinsichtlich der Ursachen von Systemkrisen eine konvergente Sicht (ähnlich wie bei Skocpol), so führt Goldstone kulturelle Unterschiede zwischen Ost und West, die bei Moore und Skocpol kaum eine Rolle spielen, dort in seine Argumentation ein, wo er die erheblich differierenden Folgen der Systemzusammenbrüche erklärt.96 Die Bücher von Barrington Moore, Theda Skocpol und Jack Goldstone sind Vorbilder für die Verbindung von theoretischem Räsonnement und historischer Konkretion. Der Vergleich dient ihnen dazu, über den Einzelfall hinaus nach »generellen Ursachen« zu suchen und möglichst sogar zu »neuen allgemeinen historischen Aussagen« zu gelangen,97 ohne daß sie jedoch Gesetze im Sinne der Geschichtsphilosophie aufzustellen beabsichtigten.98 Die Erweiterung des empirischen Erfassungsfeldes um die asiatische Welt zwischen Istanbul und Tokyo bedeutet weder eine bloß zahlenmäßige Vermehrung der Vergleichsfälle noch die pauschale Konfrontation von Orient und Okzident. Bei Moore steht dahinter eine wie selbstverständlich vorausgesetzte Überzeugung von der Mehrsträngigkeit der Geschichte und der Vielgestaltigkeit der Moderne, bei Goldstone, dem souveränen Kenner der Forschung, die empirische Evidenz transkultureller Zusammenhänge und Vergleichbarkeiten sowie die Erkenntnis, daß die eurozentrische Begrenztheit des Blickfeldes durch nichts als die Vorurteile des 19. Jahrhunderts gerechtfertigt werden kann: »The basic contrast that once made sense of world history – between an early modern West that progressed by inevitable revolutions and an early modern East mired in traditional stagnation – no longer receives support from historical research.«99 Goldstone verlangt selbstverständlich nicht, daß historische Forschung im Normalfall komparativ oder gar transkulturell vergleichend angelegt werden müsse. Sie sollte aber – und dies verbindet Goldstone mit dem bewährten Konzept der Zeitschrift »Comparative Studies in Society and History« – mit einer gewissen Sensibilität für die einordnende Relativierbarkeit des jeweiligen Themas betrieben werden. Umgekehrt distanziert sich Goldstone von der naiven Arroganz mancher historischer Soziologen, denen die historiographische Sekundärliteratur als ein beliebig zu plündernder Steinbruch gefügig zu sein scheint.100 Er fordert vielmehr die möglichst vollständige Sichtung der For-

96 Goldstone, Revolution, S. 62, 416ff. 97 Moore, Soziale Ursprünge, S. 12. 98 Besonders wichtig zur Frage historischer Regelhaftigkeit die Überlegungen bei Goldstone, Revolution, S. 54–60. 99 Ebd., S. 16. Zu ähnlichen Schlüssen gelangt auf anderen Wegen J. Goody, The East in the West, Cambridge 1996. 100 Goldstone, Revolution, S. 54.

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schung und ihre kritische und argumentierende Auswertung,101 d.h. ein SichEinlassen auf die Debatten der Fachleute statt bloßer Einfügung passender Fakten und Thesen in das eigene Schema. Auf einer solchen Basis soll dann eine vergleichende Geschichte – mindestens der Frühen Neuzeit – als sechsfache Synthese möglich werden: eine Synthese von wirtschaftlicher, politischer und ökologischer Geschichtsschreibung, von »alter« Sozialgeschichte der Institutionen und ihrer Krisen und »neuer« demographisch fundierter Sozialgeschichte, von europäischer und asiatischer Geschichte, von linearen und zyklischen Verlaufsformen, von strukturell-erklärenden und kulturell-verstehenden Ansätzen, schließlich von quantitativen Analysen und qualitativen Fallstudien.102

IV. Partialvergleiche Jack Goldstone selbst hat viel getan, um dieses Programm zu erfüllen. Es fällt freilich schwer, in der geschichtswissenschaftlichen Literatur andere Texte zu finden, die einem solch strengen Maßstab auch nur annähernd genügen. Senkt man aber die Anspruchshöhe, dann finden sich auch außerhalb des kleinen Kreises der ambitionierten Werke der historischen Soziologie einige – zugegeben, noch sehr wenige – Beispiele für transkulturelle Vergleiche. Sie sind meist erste Versuche, die zuweilen kaum mehr leisten, als lohnende Themenfelder zu markieren. Wenig beachtet werden Vergleiche, die man nicht zwischen Europa und dem Rest der Welt zieht, sondern zwischen einzelnen außereuropäischen Zivilisationen oder Nationen. Sie gehören deshalb zu den ganz besonders lohnenden Unternehmungen, weil sie ein ungewöhnlich zählebiges europäisches Vorurteil korrigieren: das von der prinzipiellen Einheitlichkeit Asiens, des Orients oder gar der »Dritten Welt«. Selbst wenn kein kausalanalytisches Modell zur Erklärung voneinander abweichender historischer Pfade verwendet wird (wie Barrington Moore dies bei seinem China-Japan-Indien-Vergleich tut), kann ein raumzeitliches Gliederungsschema Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen benachbarten Zivilisationen deskriptiv sichtbar machen. So hat eine Historikergruppe in vierzehn chronologischen Kapiteln die Geschichte von fünf Zivilisationsräumen parallel dargestellt: Westasien, Südasien, Südostasien, China und Japan.103 Man hat dies ähnlich, aber in eher systematischer als chronologi101 Viele universalhistorische Interpretationen beruhen auf unzureichender Kenntnis der neueren Forschung. Dies gilt leider auch für ein solch gedankenreiches Buch wie R. Hoffmann, Traditionale Gesellschaft und moderne Staatlichkeit. Eine vergleichende Untersuchung der europäischen und chinesischen Entwicklungstendenzen, München 1987. 102 Goldstone, Revolution, S. 37f. 103 E. L. Farmer u.a., Comparative History of Civilizations in Asia, 2 Bde., Reading, Mass. 1977.

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scher Anordnung, im engeren Rahmen für »Eastern Asia« getan und darunter China, Japan, Korea und Südostasien verstanden.104 Kontrastive Gesamtdarstellungen der Geschichte Chinas und Japans, dieser beiden so deutlich eigenständigen Zivilisationen, können die sehr erheblichen Unterschiede ihrer Entwicklung in der Epoche der Nationalstaatenbildung erhellen;105 ein enger fokussierter Vergleich hat mit Hilfe der Wallersteinschen Weltsystemanalyse diese Unterschiede aus der größeren Schädigung Chinas durch den Imperialismus zu erklären versucht.106 Während im Verhältnis zwischen Japan und China Strukturvergleich und Beziehungsgeschichte sich mischen, gehört die Koppelung Japan-Ägypten, die von der ähnlichen entwicklungspolitischen Ausgangslagen beider Länder ausgeht, zum Typus des Marc Blochschen Fernvergleichs.107 Für manche Zwecke sinnvoller als der vermeintlich so nahe liegende China-Japan-Vergleich ist die Gegenüberstellung Chinas und Indiens. Seit der Buddhismus sowohl in Indien als auch in China an Einfluß verlor, fehlt den beiden Zivilisationen das einigende Band, das zwischen China und Japan die konfuzianische Sozialethik bildet, obwohl sich damit z.B. ganz verschiedene Familienstrukturen und Sozialisationsmuster verknüpfen.108 Jedoch sind die kontinentalen, bevölkerungsreichen, unter ihren Ancien Régimes wenig intensiv regierten Großräume Südasien und China, die etwa gleichzeitig in die Weltwirtschaft einbezogen wurden, sich in ihren Entwicklungspotentialen näher als China und Japan. Die im Rückblick realistische Frage ist nicht die, warum China im 19. Jahrhundert, als seine »spätmittelalterlichen« Vorteile längst verspielt waren, kein zweites Japan wurde, als vielmehr die, warum ihm das asiatische Normalschicksal der territorialen Kolonialisierung erspart blieb, es sich also nicht in ein zweites Indien verwandelte.109 Zu den für transkulturelles Vergleichen besonders gut geeigneten Feldern gehört die Sozialgeschichte von Agrargesellschaften (»peasant societies«). Auch hier läßt sich zunächst, wie man es für Europa seit langem tut, innerasiatisch 104 C. Mackerras, Eastern Asia: An Introductory Survey, Melbourne 1992. 105 Vgl. C. Schirokauer, Modern China and Japan: A Brief History, New York 1982; J. Osterhammel, Chinesische Revolution und Modernisierung Japans, in: A. Nitschke u. a. (Hg.), Funkkolleg Jahrhundertwende. Die Entstehung der modernen Gesellschaft 1880–1930, Studienbegleitbrief 7, Weinheim 1989, S. 97–141. 106 F. V. Moulder, Japan, China and the Modern World Economy: Toward a Reinterpretation of East Asian Development, c. 1600 to c. 1918, Cambridge 1977. Dieser Erklärungsversuch ist allerdings zu eindimensional ausgefallen. 107 Vgl. A. Schölch, Ägypten in der ersten und Japan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein entwicklungsgeschichtlicher Vergleich, in: GWU, Jg. 33, 1982, S. 333–346. 108 Dies zeigt deutlich L. W. Pye, Asian Power and Politics: The Cultural Dimensions of Authority, Cambridge, Mass. 1985, Kapitel 3, 6–7. 109 Vgl. dazu R. Murphey, The Outsiders: The Western Experience in India and China, Ann Arbor 1977. Auch wirtschaftsgeschichtlich ist diese Fallverkoppelung ergiebig, vgl. etwa S. Swami, The Response to Economic Challenge: A Comparative Economic History of China and India, 1870–1952, in: Quarterly Journal of Economics, Jg. 93, 1979, S. 25–46.

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oder innerafrikanisch vergleichen.110 Ländliche Schichtungsstrukturen und Eigentumsverhältnisse, agrarische Betriebsformen und Wirtschaftsweisen, Subsistenz- und Marktwirtschaft, Siedlungsmuster und Formen von Dorfgemeinde, Familien- und Klanleben, Religion und Ritual, Kosmologien und Verhaltensweisen: unter diesen und anderen universalisierbaren Problemtiteln lassen sich Agrargesellschaften aber dann auch weltweit in vergleichende Beziehung zueinander setzen. Die verschiedenen theoretischen Konzepte zur Analyse ländlicher Sozialstrukturen und bäuerlichen Verhaltens – von Cajanov über Konzepte der »moralischen Ökonomie« bis zu Rational-Choice-Theorien – tragen zur vergleichenden Zurichtung des Materials bei. »Peasant studies« gehören heute, wie Zeitschriften, Tagungen und Sammelbände belegen, zu den sich am kosmopolitischsten verstehenden Teilgebieten der historischen Sozialwissenschaften. Nicht immer kommt man dabei über die additive Aneinanderreihung von Fallstudien hinaus. Ein strenger Vergleich nach den Maßstäben fortgeschrittener historischer Soziologie kann besonders beim Thema bäuerlichen Protests und ländlicher Revolutionen überzeugende Ergebnisse erbringen. Beispiele dafür sind Michael Adas’ Untersuchungen über antikoloniale Bauernbewegungen vornehmlich in Asien, Jeffrey Paiges Analyse der Zusammenhänge von Sozialprotest und Exportökonomie in Peru, Angola und Vietnam, Dittmar Dahlmanns Studie zum ländlichen antikapitalistischen Protest in Mexiko und der Ukraine und Eric Wolfs klassischer Vergleich von Bauernkriegen auf vier Kontinenten.111 Europäisches und Nicht-Europäisches ist dicht, ja, oft untrennbar miteineinander verwoben im Bereich der vergleichenden Geschichte der europäischen Expansion. Standardthemen sind selbstverständlich die Unterschiede in der Expansionsdynamik der einzelnen europäischen Nationen (sowie später der USA und Japans) sowie die verschiedenartigen Reichsstrukturen, die im Zuge der Expansion entstanden.112 Methodisch schwieriger, aber im Ergebnis vielleicht noch lohnender lassen sich sozialgeschichtliche Vergleiche zwischen einzelnen Kolonialgesellschaften an der überseeischen Peripherie anstellen.113 Verschie110 Für Asien etwa T. Fukutake, Rural Society: China, India, Japan, Tokyo 1967. Fukutake ist einer der führenden Sozialhistoriker Japans. Vgl. von ihm auf Englisch auch: Japanese Rural Society, New York 1967; Ders., The Japanese Social Structure: Its Evolution in the Modern Century, Tokyo 1982. 111 M. Adas, Prophets of Rebellion: Millenarian Protest Movements against the European Colonial Order, Cambridge 1989; J. M. Paige, Agrarian Revolution: Social Movements and Export Agriculture in the Underdeveloped World, New York 1975; D. Dahlmann, Land und Freiheit. Machnovšina und Zapatismo als Beispiele agrarrevolutonärer Bewegungen, Stuttgart 1986; E. R. Wolf, Peasant Wars of the Twentieth Century, London 1971. Zusammenhänge zwischen Bauern und Arbeitern betont F. Cooper, Confronting Historical Paradigms: Peasants, Labor and the Capitalist World System in Africa and Latin America, Madison, Wisc. 1993. 112 Auf hohem analytischem Niveau besonders: M. W. Doyle, Empires, Ithaca 1986. 113 Zur sozialgeschichtlichen Bestimmung des Typus »koloniale Gesellschaft« vgl. J. Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 20013, S. 19–22, 89–99. Ein trans-

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dene Möglichkeiten sind denkbar und zum Teil in ersten Versuchen schon realisiert worden: der Vergleich zwischen den »neuen Gesellschaften« im iberischen Süd- und Zentralamerika und im vorwiegend englisch kolonisierten Nordteil des Kontinents;114 der Vergleich geographisch benachbarter, kulturell entfernt verwandter, langen Prozessen kolonialer Unterwerfung durch unterschiedlich vorgehende europäischer Mächte ausgesetzter asiatischer Regionen, etwa Indiens und Indonesiens: eine gleichsam dreidimensional nach Zielkulturen, Kolonialmächten und Epochen differenzierte Konfiguration;115 der Vergleich zwischen Fällen siedelnder Landnahme durch Europäer und der dadurch entstehenden »frontier societies«, sei es im Nah-, sei es im interkontinentalen Fernvergleich;116 der Vergleich zwischen Dekolonisationspfaden, der unter anderem wichtige Aufschlüsse über die Hintergründe der Entwicklung sowohl der ehemals Kolonisierten als auch der Ex-Kolonisatoren in der Zeit nach der Unabhängigkeit geben kann;117 schließlich, daran unmittelbar anschließend, der Vergleich zwischen unterschiedlichen Ausprägungen der wichtigsten Emanzipationsideologie, des Nationalismus, und ihrer Formierung in antikolonialen Bewegungen.118 pazifischer Vergleich ist R. H. Jackson u. G. Maddox, The Creation of Identity: Colonial Society in Bolivia and Tanzania, in: CSSH, Jg. 35, 1993, S. 263–284. 114 Wegweisend: J. Lang, Conquest and Commerce: Spain and England in the Americas, New York 1975; N. Canny u. A. Pagden (Hg.), Colonial Identity in the Atlantic World, 1500–1800, Princeton 1987. Komparativ angelegt sind zahlreiche der Beiträge in W. Reinhard u. P. Waldmann (Hg.), Nord und Süd in Amerika. Gegensätze, Gemeinsamkeiten, europäischer Hintergrund, 2 Bde., Freiburg i.Br. 1992. Wie sich die Linien in die nachkoloniale Epoche hinein verlängern lassen, zeigt z.B. H.-J. Puhle, Soziale Schichtung und Klassenbildung in den USA und Lateinamerika, in: ebd., Bd. 2, S. 364–382. 115 Vgl. die eindrucksvollen Ergebnisse einer Serie von vier europäisch-asiatischen Konferenzen, die unter dem Obertitel Comparative History of India and Indonesia in Leiden veröffentlicht wurden: L. Blussé u.a., India and Indonesia from the 1920s to the 1950s: The Origins of Planning (1987); M. Hasan u.a., India and Indonesia from the 1830s to 1914: The Heyday of Colonial Rule (1987); P. J. Marshall u.a., India and Indonesia during the Ancien Régime (1989); J. C. Heesterman u.a., India and Indonesia: General Perspectives (1989). 116 Für das eine z.B. D. Denoon, Settler Capitalism: The Dynamics of Dependent Development in the Southern Hemisphere, Oxford 1983; D. Kennedy, Islands of White: Settler Society and Culture in Kenya and Southern Rhodesia, 1890–1939, Durham, N.C. 1987; für das andere z.B. H. Lamar u. L. Thompson (Hg.), The Frontier in History: North America and Southern Africa Compared, New Haven 1981; I. Lustick, State-Building Failure in British Ireland and French Algeria, Berkeley 1985. 117 Z.B. B. Dahm, Emanzipationsversuche von kolonialer Herrschaft in Südostasien: Die Philippinen und Indonesien. Ein Vergleich, Wiesbaden 1974; D. A. Low, The Asian Mirror to Tropical Africa’s Independence, in: P. Gifford u. W. R. Louis (Hg.), The Transfer of Power in Africa: Decolonization 1940–1960, New Haven 1982, S. 1–29; T. Smith, Patterns in the Transfer of Power: A Comparative Study of French and British Decolonization, in: ebd., S. 87–115; M. Kahler, Decolonization in Britain and France: The Domestic Consequences of International Relations, Princeton, N.J. 1984. Vgl. auch die Diskussion der Forschungslage in: J. Osterhammel, Spätkolonialismus und Dekolonisation, in: NPL, Jg. 37, 1992, S. 404–426. 118 Methodisch wegweisend: D. A. Low, Sequence, Crux and Means: Some Asian Nationa-

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Alle diese Themen sind bescheidener bemessen als die »großen« Fragen der historischen Soziologie. Sie sind zumeist Partialvergleiche, die nicht ganze Zivilisationen, Gesellschaften oder Nationen komparativen Prozeduren aussetzen, sondern einen jeweils perspektivisch begrenzten Querschnitt legen. Die Erkenntnisabsicht richtet sich auf überschaubare Segmente der Wirklichkeit, die manchmal sogar das empirisch-analytische Verfahren der Hypothesenüberprüfung zulassen: Gibt es einen regelmäßigen Zusammenhang zwischen einem bestimmten Typ von ländlicher Besitzstruktur und Aneignung des Mehrprodukts und der Häufigkeit bzw. Intensität bäuerlichen Protests? Eine solche Frage läßt sich mit aller nötigen Vorsicht auf der Grundlage einer Reihe von Fallstudien näherungsweise beantworten. Freilich sind die Partialvergleiche von Historikern meist solche zwischen nicht mehr als zwei Fällen. Eine geringere methodische Strenge wird dann durch den reicheren Kontext mindestens aufgewogen. Partialvergleiche zwischen zwei Fällen lassen sich auch am ehesten mit dem Handwerksethos des Fachhistorikers verbinden. Die Indonesienspezialistin, die sich tiefere Einsichten in ihr eigenes Gebiet von einem Vergleich mit den Philippinen verspricht, über die sie selbst nicht aus den Dokumenten gearbeitet hat, weiß genau, welche Fragen sie an die Sekundärliteratur zu stellen hat. Der Historiker der britischen Industrialisierung wird, ohne unüberwindliche Kulturbarrieren überwinden zu müssen, Zugang zu der umfangreichen englischsprachigen Forschung über die industrielle Entwicklung Japans finden – auch wenn er sich mit einer gewissen Demut seiner fehlenden Sprachkenntnisse bewußt sein muß.119 Im Themen- und Methoden-Pool der Vergleichenden Geschichte strömen verschiedenartige Richtungen zusammen. Die hohe historische Soziologie bleibt für Historiker stets anregend, auch wenn sie selbst deren quellenferne Vogelschau vermeiden werden. Der Partialvergleich hingegen, sogar derjenige über den vertrauten Zivilisationsraum hinweg, ist für Fachhistoriker erreichbar. Er ist, unabhängig von konkreten Ergebnissen, eine intellektuell aufweckende Erfahrung, denn oft enttarnt erst der komparative Blick eine vermeintliche Selbstverständlichkeit als Problem. lisms Compared, in: R. Jeffrey (Hg.), Asia: The Winning of Independence, London 1981, S. 258– 280. Die allgemeine Nationalismusliteratur hat die Besonderheiten außereuropäischer Nationalismen bisher zu wenig beachtet. Ausnahmen sind das hochgelehrte, enzyklopädische Werk von H. Seton-Watson, Nation and States: An Enquiry into the Origins of Nations and the Politics of Nationalism, London 1977, sowie das einflußreiche Buch eines namhaften Indonesienspezialisten: B. Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, London 1983. Zur Übersicht über die neuere Diskussion: C. Calhoun, Nationalism, Minneapolis 1997; A. D. Smith, Nationalism and Modernism: A Critical Survey of Recent Theories of Nations and Nationalism, New York 1998. 119 Ein Ergebnis wäre z.B. das dicht vergleichende Buch M. G. Blackford, The Rise of Modern Business in Great Britain, the United States, and Japan, Chapel Hill 19982; eher eine Parallelgeschichte als ein Vergleich ist K. Brown, Britain and Japan: A Comparative Economic and Social History since 1900, London 1998; ebenso additiv ist J. Scott, Capitalist Property and Financial Power: A Comparative Study of Britain, the United States and Japan, Brighton 1986.

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V. Schwierigkeiten und Chancen des transkulturellen historischen Vergleichs Der transkulturelle Vergleich ist zunächst eher eine Einstellung als eine Methode. »Das Studium jeder beliebigen Zivilisation bereichert die Kenntnis, die wir von einer anderen haben,« sagt Paul Veyne mit unanfechtbarer Richtigkeit,120 und wenn eine solche Einsicht dazu führte, daß ein Deutschlandhistoriker gelegentlich ein Buch eines Indienhistorikers läse und umgekehrt, wäre schon manches an vormethodischer Weltbürgerlichkeit gewonnen. Es wäre vermessen, im Ton mahnender Strenge der etablierten Geschichtswissenschaft Parochialismus oder Narzißmus vorzuwerfen und ihr eine transkulturelle Horizonterweiterung als Mittel anzuempfehlen, sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu zeigen. Viel wichtiger ist es, skizzenhaft anzudeuten, wie eine Einstellung sachte in Methode verwandelt, wie der gute Wille fürs Globale in eine akademisch akzeptable Form gebracht werden könnte.121 Diesem Zweck dienen die abschließenden thesenartigen Bemerkungen. (1) Eine transkulturelle Perspektive muß nicht unbedingt ein sekundäres Konstrukt sein, das gewissermaßen in der Art eines luxuriösen, aber nur von wenigen bewohnbaren Penthouse dem soliden Büroblock der Nationalhistorien aufgesetzt wird. Es gibt eine Reihe historischer Phänomene, deren Wesen Transkulturalität ist, die also gar nicht anders als transkulturell untersucht werden können. Dazu gehören die großen und kleinen Synkretismen der Geschichte vom Hellenismus über die Herausbildung multiethnischer und multikultureller Mischgesellschaften in Lateinamerika und der Karibik bis zur Globalisierung westlicher Lebensstile und ihrer Interferenz mit einheimischen Praktiken und Kosmologien während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.122 Es gehören ebenfalls dazu jene »kosmopolitischen Gruppen,«123 die über Grenzen hinweg operieren und deren Loyalität nicht ausschließlich oder sogar nicht überwiegend einer territorialen Gemeinschaft gilt: der hohe katholische Klerus, die peripatetischen Mitglieder der Gelehrtenrepublik in Humanismus und Aufklärung, die Zwischenhändler im Eurasien der frühen Neuzeit (Armenier, Parsen, Griechen im Osmanischen Reich, Portugiesen im Raum 120 P. Veyne, Geschichtsschreibung – Und was sie nicht ist, dt. v. G. Roßler, Frankfurt a.M. 1990, S. 17. 121 Das Wichtigste dazu ist längst gesagt worden: C. Meier, Die Welt der Geschichte und die Provinz des Historikers, in: GG, Jg. 15, 1989, S. 147–163. 122 Vgl. für Asien etwa F. C. Darling, The Westernization of Asia: A Comparative Political Analysis, Cambridge, Mass. 1979, sowie die maßstäbliche Fallstudie von M. Singer, When a Great Tradition Modernizes: An Anthropological Approach to Indian Civilization, London 1972. 123 Man hat für die Gegenwart auch von »international tribes« gesprochen: J. Kotkin, Tribes: How Race, Religion and Identity Determine Success in the New Global Economy, New York 1993.

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zwischen Mozambique und Macau),124 die jüdische Hochfinanz und überhaupt die kosmopolitische Bourgeoisie seit dem frühen 19. Jahrhundert,125 die internationalen Berufsrevolutionäre seit Marx und Bakunin, die transkontinentalen Geschäftsnetze von Auslandschinesen, die Spitzenbeamten internationaler Organisationen seit dem Zweiten Weltkrieg und das Top-Management multinationaler Konzerne, das international agierende mafiose Verbrechertum, usw. Diese Gruppen, oft weltgeschichtlich an strategischen Stellen plaziert, fallen durch das Raster einer nationalstaatlichen und selbst einer inter-national orientierten Geschichtsschreibung. Sie sind ihrer Natur nach transkulturell. Als interkulturell kann man hingegen jene Prozesse bezeichnen, die sich in breiteren Zonen des Kontakts, der »Hybridität«,126 der sich überlappenden Ränder von zwei (manchmal auch mehreren) relativ beharrungskräftigen127 Zivilisationen abspielen. Solche Kontaktzonen, räumlich verstanden, sind das mittelalterliche Spanien und Sizilien gewesen, der frühneuzeitliche Balkan, große Teile Zentralasiens (besonders Turkestan), die multikulturellen Handelsplätze im frühneuzeitlichen Asien (etwa Batavia/Jakarta), die »Vertragshäfen« entlang der chinesischen Küste nach dem Opiumkrieg, die »Plantagengürtel« in mehreren Kolonien Südostasiens, die Bergwerksregionen Afrikas und die postkolonialen Metropolen Westeuropas. (2) Sofern transkulturelle Geschichtswissenschaft sich nicht mit derlei Phänomenen von wesensmäßiger Trans- oder Interkulturalität beschäftigt, sondern gleichsam von oben in einzelne Zivilisationen, Nationen und Gesellschaften hineinblickt, hat sie es mit drei Graden der Isolierung ihrer Untersuchungsgegenstände zun tun: (a) Als Beziehungsgeschichte studiert sie die tatsächlichen Interaktionen über Zivilisationsgrenzen hinweg: Migrationen, kriegerische Eroberungen, Bewegungen von Waren, Kapital und Ideen. (b) Als universalhistorische Materialsammlung verfolgt sie eine bestimmte Praktik oder Institution quer durch die Weltkulturen.128 Eine komparative Aufarbeitung des Materials kann dann zur universalen Variantenanalyse, der logisch »schwächsten« Form der transkulturellen Vergleichs, führen. (c) Als vergleichende Geschichtsschreibung im engeren Sinne unterzieht sie zuvor monographisch präparier124 Curtin spricht in einer wichtigen Studie von »trade diasporas«: P. D. Curtin, Cross-Cultural Trade in World History, Cambridge 1984. 125 Vgl. das anregende Buch von C. A. Jones, International Business in the Nineteenth Century: The Rise and Fall of a Cosmopolitan Bourgeousie, Brighton 1987. 126 Ein Lieblingskonzept der Postmoderne, etwa bei H. K. Bhabha, The Location of Culture, London 1994. 127 Damit soll die Kulturvernichtung durch plötzliche Eroberung (Karibik, Mittelamerika) oder langsame Verdrängung (Nordamerika, Australien) ausgeschlossen werden. Vgl. auch Kapitel 8 in diesem Band. 128 Ein gutes Beispiel ist T. J. Byres, Historical Perspectives on Sharecropping, in: JPS, Jg. 10, 1983, S. 7–40, wo ohne nachdrücklichere komparative Absichten von Attika zur Zeit des Solon bis zur Dritten Welt der Gegenart nach Indizien für das Vorkommen dieser besonderen Pachtform gesucht wird.

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te Fälle von »mittlerer« – also zwischen Ereignis und ganzer National- oder Zivilisationsgeschichte angesiedelter – Übersichtlichkeit einer systematischen Analyse. Kurz: Ebenso wie nicht alle vergleichende Geschichte transkulturell vorgeht, verfährt nicht alle transkulturelle Historie eo ipso komparativ. Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft muß als Schnittmenge größerer Interessenskreise verstanden werden. (3) Die Möglichkeit des transkulturellen Vergleichs beruht auf der universalen Einheit der modernen Geschichtswissenschaft. Deren Denk- und Verfahrensweisen sind – trotz früher quellenkritischer Raffinessen etwa in der chinesischen Historiographie129 – europäisch-partikular in ihrer Genesis, doch universal in ihrer Geltung. Indigene Traditionen der Geschichtsbetrachtung in außereuropäischen Zivilisationen verleihen auch einer nach »westlichen« Maßstäben betriebenen Geschichtsforschung oft eine jeweils spezifische Färbung, die sich besonders in Darstellungsstilen ausdrückt, aber die methodologische Basis nur dort berührt, wo eine postkoloniale Perspektivierung weniger der Ergebnisse als der Fragestellungen eingeklagt wird.130 Es ist keine eurozentrische Anmaßung, wenn man feststellt, daß zum Beispiel die Geschichte Indiens in Heidelberg, Cambridge oder Berkeley ebenso gut geschrieben werden kann wie in New Delhi oder Bombay und daß sich Historiker hier wie dort im Prinzip derselben Forschungstechniken und Interpretationsweisen bedienen. Der methodologischen und methodischen Universalität der modernen Geschichtswissenschaft entspricht ein homogener Referenzraum über Epochen und Kulturen hinweg. Innerhalb dieses Raumes sind Querbezüge grundsätzlich möglich. Die Grenzen dieses Referenzraumes werden dort erreicht, wo das Fehlen einer schriftlichen Überlieferung aus den Händen der primären historischen Akteure den unmittelbaren Zugang zur Innensicht einer Zivilisation verwehrt131 und daher Forschungstechniken und Interpretationsweisen erforderlich werden, für welche Nachbarwissenschaften wie Vor- und Frühgeschichte, Archäologie, (historische) Ethnologie oder eine Komposit-Disziplin wie die Altamerikanistik zuständig zeichnen. Die »Geschichte der Anderen« im Entwicklungsstadium der Schriftlichkeit verlangt indessen nur sehr bedingt auch eine »andere« Geschichtswissenschaft. »Außereuropäische Geschichte« ist, einem verbreiteten Vorurteil zum Trotz, keineswegs identisch oder auch nur 129 Vgl. Hsu Kwan-san, The Chinese Critical Tradition, in: HJ, Jg. 26, 1983, S. 431–446. 130 So etwa auf hohem Niveau in der indischen Geschichtswissenschaft; vgl. etwa programmatisch R. Guha, Dominance without Hegemony and Its Historiographie, in: Ders. (Hg.), Subaltern Studies, Bd. 6, Delhi 1989, S. 210–309. 131 Primäres ist zu unterscheiden von »sekundärem« Quellenmaterial, das von fremden Beobachtern hervorgebracht wurde. So arbeitet die Ethnohistorie hauptsächlich mit (Reise-) Berichten, die eine Außensicht schriftloser Zivilisationen vermitteln. Zu den von Ethnohistorikern manchmal unterschätzten Schwierigkeiten im Umgang mit solchen Quellen vgl. die grundsätzlich wichtigen Überlegungen bei A. Jones, Zur Quellenproblematik der Geschichte Westafrikas 1450–1900, Stuttgart 1990, bes. S. 35–90.

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überwiegend kongruent mit Ethnohistorie oder historischer Anthropologie. Sie ist denselben universalen Standards verpflichtet wie die Forschung zur Geschichte Europas. (4) Vergleichende Geschichtswissenschaft setzt die Abgrenzbarkeit und Klassifizierbarkeit von Vergleichseinheiten voraus. Beim internationalen Vergleich sind Nationen bzw. Nationalstaaten die Basiseinheiten, beim trans- oder interkulturellen scheinen es physiognomisch durch einzigartige Merkmalskombinationen erfaßbare »Kulturen« (im Plural) zu sein. Diese Annahme bedarf dringend der Überprüfung. Zurecht sind drei scheinbar triviale Fragen neu gestellt worden: »What do we mean by culture in the context of comparative statements? How can a culture’s distinctiveness be conceptualized? What is required to demonstrate that such distinctiveness exists, what it consists of, and what influence it has on the performance of societies?«132 Es wurde einleitend bereits darauf aufmerksam gemacht, daß sich die Grenzen von Kulturen nicht derart eindeutig feststellen lassen wie die von Nationalstaaten. Der weltgeschichtliche Prozeß hat stetig zur Schwächung der autonomen Identitäten von Kulturen geführt. Während der »Achsenzeit« des ersten vorchristlichen Jahrtausends existierten die »Hochkulturen« der Erde zwar nicht völlig isoliert nebeneinander, unterhielten jedoch nur relativ geringe gegenseitige Beziehungen: das spätrepublikanische Rom und das China der HanDynastie beeinflußten sich gegenseitig nicht. Deshalb sind für diese Epoche Kulturen noch in gleichsam reiner Ausprägung porträtierbar und in einem zweiten Schritt als sauber präparierte Exemplare miteinander vergleichbar.133 Dies gilt, sich allmählich abschwächend, auch noch für die folgenden anderthalb Jahrtausende.134 Im historischen Verlauf wird aber immer wichtiger, was die ethnologische Theoriediskussion seit 1889 als »Galtons Problem« kennt: das Bestehen darauf, daß stets geklärt werden muß, ob Ähnlichkeiten zwischen Vergleichsfällen auf eine jeweils eigenständige Genese oder auf eine frühere Beeinflussung der einen durch die andere Vergleichseinheit zurückzuführen sind. Sir Francis Galton forderte , »daß dem transkulturellen Vergleich eine 132 A. J. Nathan, Is Chinese Culture Distinctive? A Review Article, in: JAS, Jg. 52, 1993, S. 923–936, Zitat S. 923. 133 Vgl. S. N. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit. Ihre Ursprünge und Vielfalt, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1987. Die Anfänge großräumiger interkultureller Beziehungen stellt im Überblick dar: J. H. Bentley, Old World Encounters: Cross-Cultural Contacts and Exchanges in Pre-Modern Times, New York 1993. 134 Den günstigen Moment einer nahezu gleichzeitigen kulturellen Hochblüte von Islam und Christenheit im 12. und 13. Jahrhundert hat der Islamist M. G. S. Hodgson (1922–1968) zu einem der gelungensten Stücke interkulturell vergleichender Geschichtsdeutung genutzt: dem Kapitel »Cultural Patterning in Islamdom and the Occident« in seinem großen Werk The Venture of Islam: Conscience and History in a World Civilization, Bd. 2, Chicago 1974, S. 329–368. Vgl. auch Ders., Rethinking World History: Essays on Europe, Islam and World History, Cambridge 1993, bes. Kapitel 1, 5, 12. Vgl. auch L. Dumont, On the Comparative Understanding of Non-Modern Civilizations, in: Daedalus, Jg. 104, 1975, S. 153–172.

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historische Analyse der Abhängigkeiten unter den Vergleichsobjekten vorangehen müsse«.135 Anders gesagt: jeder Strukturvergleich wäre beziehungsgeschichtlich abzusichern. In der modernen Welt ist, vor allem infolge der Expansion des kapitalistischen Weltsystems samt ihrer Sekundärwirkungen (etwa dem durch den Sklavenhandel bewirkten ethnisch-kulturellen Transfer von Afrika in die Neue Welt) die Interpenetration von Kulturen zum Normalfall geworden. Traditionalistische und fundamentalistische Gegenbewegungen, die sich oft auf die zweifelhafte Authentizität von »invented traditions« berufen, sind selber von den angeprangerten Kontaminationen durch die Moderne niemals frei: Auch Mullahs benutzen Computer. Selbst eine im europäischen (Miß-) Verständnis derart unverwechselbar kompakte, ja, monolithische Kultur wie die chinesische stellt sich aus heutiger Sicht für die älteren Dynastien als ein Zusammenspiel divergenter Traditionen und für das 19. und 20. Jahrhundert als eine kaum noch randscharfe, in sich spannungsvolle Pluralität von Rollen dar: Worunter in verschiedenen Epochen jeweils »das Chinesische« vorgestellt werden könne, ist zu einem heiklen Debattenthema geworden.136 Was China sei, ist vermutlich schwieriger zu bestimmen, als was die Identität Japans ausmacht,137 aber immer noch einfacher, als den kleinsten gemeinsamen Nenner Europas oder der islamischen Welt zu finden.138 Ob nun historische Soziologen kühn zwischen Produktionsweisen, Klassenstrukturen, politischen Ordnungen und System-Umwelt-Konfigurationen vergleichen oder Historiker bescheidener zwischen Pachtsystemen, Militärapparaten, kolonialen Städtetypen, usw. – immer stellt sich die Frage nach der Benennung und Umgrenzung der kulturellen Kontexte, denen solche Elemente entnommen sind, und die weitergehende nach früheren Einwirkungen zwischen ihnen, also Galtons Problem. (5) »Kultur« im Singular, d.h. eine der Grunddimensionen menschlichen Gemeinschaftslebens, kann aus transkultureller Geschichtswissenschaft noch weniger ausgeschlossen werden als aus konventionellen Zugangsweisen, macht aber selbstverständlich aus einem transkulturellen Vorgehen nicht notwendi135 H. Kleinschmidt, Galtons Problem: Bemerkungen zur Theorie der transkulturell vergleichenden Geschichtsforschung, in: ZfG, Jg. 39, 1991, S. 5–22, Zitat S. 6. 136 Vgl. etwa L. Dittmer u. S. S. Kim (Hg.), China’s Quest for National Identity, Ithaca 1993; Tu Wei-ming (Hg.), The Living Tree: The Changing Meaning of Being Chinese Today, Stanford 1993. 137 Vielleicht sind im Falle Japans Homogenitäts- und Einzigartigkeitsmythen auch nur besonders erfolgreich gepflegt worden. Vgl. P. N. Dale, The Myth of Japanese Uniqueness, London 1986. 138 Wie groß die Spannweite innerhalb des Islam sein kann, hat ein berühmtes komparatistisches Buch gezeigt: C. Geertz, Islam Observed: Religious Development in Morocco and Indonesia, New Haven 1968. Vgl. auch J. R. I. Cole (Hg.), Comparing Muslim Societies: Knowledge and the State in a World Civilization, Ann Arbor 1992, sowie den Parallelband T. M. Endelman (Hg.), Comparing Jewish Societies, Ann Arbor 1997.

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gerweise Kulturgeschichte. Die Sache selbst zwingt zum Versuch der Synthese zwischen einer kausalanalytischen Geschichte von »Gesellschaft« und einer hermeneutischen von »Kultur«. Auf der einen Seite taugt eine individualisierende Kulturanthropologie – wie überhaupt jede Form von Hermeneutik – nicht dazu, Vergleichbarkeiten zwischen großen Zivilisationskomplexen herzustellen. Sie kann mit zarter Empirie Unterschiede etwa zwischen der Regulierung von Emotionalität139 oder der jeweiligen Auffassung von Persönlichkeit herausarbeiten140 und dabei in »romantischer« Manier autarke Symbolwelten kontrastiv gegeneinander stellen,141 aber es fällt ihr überaus schwer, zum einen ihre Interpretationen von Zustandsbeschreibungen zu Prozeßdeutungen zu dynamisieren, zum anderen anzugeben, welche Herausforderungen und welche Antworten darauf mehrere Zivilisationen gemeinsam haben. Auf der anderen Seite gehört es zu den offenkundigen Beobachtungen bei jedem transkulturellen Vergleich, daß in unterschiedlichen Kulturen ähnlichen Institutionen und Praktiken voneinander stark abweichende Bedeutungen zugemessen werden. Um ein oft genanntes Beispiel zu wählen: Die neuere Entwicklung Ostasiens erweckt den Eindruck, als würde die im Ideenkreis einer christlich-puritanischen Wirtschaftsethik entstandene Dynamik des modernen Kapitalismus unter bestimmten Voraussetzungen auch von den Maximen konfuzianischer Lebensführung erfolgreich in Gang gehalten werden können.142 Ein wirtschaftsgeschichtlicher Vergleich zwischen Japan und Europa wird diese kulturelle Komponente nicht vernachlässigen dürfen. In den fortgeschrittensten historisch-soziologischen Deutungsmodellen, etwa bei Jack Goldstone, hat denn auch Kultur einen wichtigen, aber keinen primordialen Platz. Als der partikularisierende Faktor schlechthin soll sie zur Erklärung von Abweichungen, Sonderwegen, Nuancen, spezifischen Reaktionen auf allgemeine Herausforderungen beitragen. Transkulturelle Geschichtsbetrachtung käme über einen anekdotischen Exotismus, einen Bilderbogen fremdartiger Sinngebungen, nicht hinaus, wür139 Vgl. K. R. Scherer u. a. (Hg.), Experiencing Emotion: A Cross-Cultural Study, Cambridge 1986. 140 Z.B. C. Geertz, »From the Native’s Point of View«: On the Nature of Anthropological Understanding, in: Ders., Local Knowledge: Further Essays in Interpretive Anthropology, New York 1983, S. 55–70, bes. S. 59ff. Daß Geertz’ Werk nicht auf das berühmte Programm der »dichten Beschreibung« reduziert werden sollte, zeigt C. Lloyd, The Structures of History, Oxford 1993, S. 103–116 141 Über die vergleichsfeindliche romantische Strömung in der Anthropologie vgl. R. A. Shweder, Anthropology’s Romantic Rebellion Against the Enlightenment, in: Ders. u. R. A. LeVine (Hg.), Culture Theory: Essays on Mind, Self and Emotion, Cambridge 1984, S. 27–66, bes. S. 28, S. 38–49. Vgl. auch Kapitel 10 im vorliegenden Band. 142 Entscheidend wichtig ist dabei, zwischen verschiedenen Spielarten des keineswegs homogenen Konfuzianismus zu unterscheiden. Dazu grundlegend: G. Rozman (Hg.), The East Asian Region: Confucian Heritage and Its Modern Adaptation, Princeton 1991.

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de sie als ihren einzigen Ausgangspunkt die jeweils besondere sinnstiftende menschliche Praxis wählen, sich also ausschließlich kulturanthropologisch fundieren wollen. Umgekehrt würde eine ausgeklügelte Mechanik von Kausalfaktoren – eine Tendenz bei Barrington Moore143 und besonders in Theda Skocpols vergleichender Revolutionsdeutung – die je spezifischen Handlungsimpulse hinter den konvergent erscheinenden Strukturen und Prozessen verkennen. Auch stünde sie in der Gefahr, aus Mangel an Kontextwissen in die begriffsrealistische Falle zu tappen, hinter gleich benannten Rollen und Institutionen auch gleiche Praktiken zu vermuten. Welche höchst unterschiedlichen sozialen Realitäten und kulturellen Bedeutungen sich aber hinter ein und demselben Etikett verbergen können, hat W. G. Runciman am Beispiel von »Frondienst« (»corvée«) gezeigt.144 »Gesellschaft« als die universalisierend-konvergente und »Kultur« als die partikularisierend-divergente Dimension müssen also gemeinsam das Koordinatensystem des transkulturellen Vergleichs bilden.145 Dieser muß aus Gründen analytischer Übersichtlichkeit die Unterschiede zwischen Zivilisationen und Nationen betonen, sich aber gleichzeitig vor zirkulären Schlüssen hüten, die auf die wissenschaftliche Bestätigung vorwissenschaftlicher Nationalcharakter-Stereotype und Einzigartigkeitsmythen hinauslaufen.146 Die Zahl der großen Herausforderungen an menschliche Kollektive ist begrenzt, und endlich ist auch das Repertoire möglicher Antworten. Viele davon sind West und Ost, Nord und Süd in Vergangenheit und Gegenwart gemeinsam.

143 In Soziale Ursprünge von Demokratie und Diktatur; ganz anders sein späteres Werk: B. Moore, Injustice: The Social Bases of Obedience and Revolt, London 1979. 144 W. G. Runciman, A Treatise on Social Theory. Bd. 2: Substantive Social Theory, Cambridge 1989, S. 54–56. 145 Aus einem Denken, dem eine solche Begriffsopposition fremd ist, stammt der originelle Versuch von A. Nitschke, Die Mutigen in einem System: Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt. Ein Vergleich der Kulturen, Köln 1991. 146 So auch A: Iriye, The Internationalization of History, in: AHR, Jg. 94, 1989, S. 1–10, hier S. 3f.

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2. Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich

Ist der Vergleich historischer Entwicklungen in Europa mit denen auf anderen Kontinenten möglich? Ist eine solche komparative Betrachtung der verschiedenen Weltzivilisationen sinnvoll? Diese Fragen sind seit den großen staatenkundlichen Enzyklopädien und der vergleichenden Proto-Ethnographie der Frühen Neuzeit immer wieder bejaht worden. Wegweisende Anreger und Meister der Sozial- und Geschichtswissenschaften haben selbst solche interzivilisatorischen Vergleiche unternommen und sie als ein unentbehrliches Verfahren zur Erfassung sowohl individueller Formen und Entwicklungswege als auch globaler Zusammenhänge betrachtet. Vielbeachtete Entwürfe makrohistorischer Kontrastierung über Zivilisationsgrenzen hinweg sind eher von Soziologen als von Fachhistorikern vorgelegt worden. Die Geschichtswissenschaft hingegen hat sich dem Vergleich zwischen Zivilisationen bislang nur zurückhaltend genähert.1 Allein die gegenwärtig jenseits alter Dogmen und Ideologien als global history wiederauflebende Universalgeschichte gibt sich wagemutig und unbefangen. In jüngster Zeit hat der außerordentliche Fortschritt bei innereuropäisch oder transatlantisch vergleichenden Studien2 zu dem Vorschlag geführt, den komparativen Referenzbereich auf nicht-okzidentale Entwicklungen auszudehnen.3 Welche Erwartungen an solche Vergleiche zu knüpfen wären, wie sie durchgeführt werden sollten und welche Problemstellungen dafür in Frage kämen – Überlegungen dazu sind bisher kaum angestellt worden. Auch die Diskussion über die Logik des geschichtswissenschaftlichen Vergleichs hat die besonderen theoretischen und methodischen Probleme von Transkulturalität erst kaum beachtet. Die in Deutschland so genannten »Außereuropahistoriker« schließlich, also Experten für Asien, Afrika, Süd- und Mittelamerika und den pazifischen Raum, können nur mit einem geringen Reflexionsvorsprung dienen. Ihre Forschungen haben, dem allgemeinen Trend der Geschichtswissenschaft folgend, mittlerweile einen solchen Grad professioneller Vertiefung er1 Vgl. aber jetzt H. Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1999, S. 79–92; Ders., Der historische Zivilisationsvergleich, in: Ders. u. J. Schriewer (Hg.), Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 1999, S. 29–52. 2 Vgl. H. Kaelble, Vergleichende Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: Forschungen europäischer Historiker, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Jg. 1, 1993, S. 173–200. 3 Z.B. J. Kocka, Comparative Historical Research: German Examples, in: IRSH, Jg. 38, 1993, S. 369–379, bes. S. 372, 379.

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reicht, daß einer Indienhistorikerin oder einem Afrikahistoriker im allgemeinen der Blick über den eigenen regionalen Fachhorizont hinaus kaum weniger kühn und »unzünftig« erschiene als einem Spezialisten für Deutschland oder die USA. Auch Vergleiche zwischen verschiedenen nicht-europäischen Zivilisationen ohne das tertium comparationis Europa, etwa zwischen Japan und China, werden selten angestellt, am ehesten noch in der kulturell wenig spezifischen Wirtschaftsgeschichte.4 Kurz: für den Zivilisationsvergleich, zumal auf dem Gebiet der Sozialgeschichte, gibt es kaum Vorbilder, keine Methodenlehre und kein Einverständnis über einen elementaren Themenkanon. Grundsätzlich lassen sich zugunsten des Zivilisationsvergleichs, verstanden weder hochmütig als neuer Königsweg der Geschichtswissenschaft noch allzu bescheiden als ornamentale Zutat zu herkömmlichen Forschungsprogrammen, drei in ihrem logischen Status durchaus unterschiedliche Argumente anführen: Erstens. Nach dem Ende europäischer Weltbeherrschung, in einer Epoche schnell voranschreitender interkontinentaler Vernetzung und angesichts wachsenden Zweifels an der universalen normativen Verbindlichkeit und praktischen Überlegenheit von Modernitätsvorstellungen europäischen Ursprungs sieht sich auch die Historie der unabweisbaren Forderung nach einem globalen Problemhorizont konfrontiert.5 Zweitens. Zu den infolge von europäischer Integration, Öffnung nach Osten und Bedrohungsängsten angesichts außereuropäischer Herausforderungen am Ende des 20. Jahrhunderts neu aufgelebten Debatten um die »Identität Europas« kann die Geschichtswissenschaft einen Beitrag leisten, indem sie nach gemeinsamen Merkmalen von Europa als Ganzem sucht. Dies kann bis zu einem gewissen Punkt auf dem Wege über John Stuart Mills »method of agreement« durch die Ermittlung basaler struktureller Ähnlichkeiten zwischen den europäischen Nationalkulturen geschehen. Das Gemeineuropäische ist jedoch nicht unbedingt auch einzigartig in Europa oder dem »Westen«. Zum Beispiel hat der Anthropologe Jack Goody nachgewiesen, daß sich Heiratssysteme und Familienstrukturen »europäischen« Typs in ganz Eurasien (bis hin nach China)

4 Etwa B. R. Tomlinson, Writing History Sideways: Lessons for Indian Economic Historians from Meiji Japan, in: MAS, Jg. 19, 1985, S. 669–698; R. Minami, The Economic Development of China: A Comparison with the Japanese Experience, London 1994; vgl. auch Kapitel 11 in diesem Band. 5 Auf die begrenzte Gültigkeit abendländischer Modernitätskonzepte wird neuerdings immer wieder pauschal hingewiesen. Nur wenige Studien haben sich aber bisher mit außereuropäischer Modernität befaßt; eine frühe Ausnahme war S. N. Eisenstadt (Hg.), Patterns of Modernity. Bd. 2: Beyond the West, New York 1987. Vgl. die diesen Beitrag weiter führenden Überlegungen in J. Osterhammel, Internationale Geschichte, Globalisierung und die Pluralität der Kulturen, in: W. Loth u. Ders. (Hg.), Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000, S. 387–408.

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als dominante Formen finden.6 Nur der Vergleich über die europäischen Zivilisationsgrenzen hinaus vermag – nunmehr durch Mills »method of difference« – zu klären, welche Eigenschaften tatsächlich für Europa charakteristisch sind, worin seine Besonderheit besteht und welche Ursachen sich dafür angeben lassen. Allein im Zivilisationsvergleich kann über »das Wunder Europas« (E. L. Jones) geurteilt werden. Drittens. Die internationale historische Forschung zu den meisten Weltregionen außerhalb Europas hat, auch im Bereich der Sozialgeschichte, während der letzten zwei oder drei Jahrzehnte einen solchen Umfang und ein derartiges Qualitätsniveau erreicht, daß eine zureichende wissenschaftliche Grundlage für seriöse Zivilisationsvergleiche, die aus praktischen Gründen in der Regel auf Sekundärliteratur in westlichen Sprachen beruhen müssen, erstmals gewährleistet ist. Dazu haben Historikerinnen und Historiker in und aus Lateinamerika, Asien und Afrika in erheblichem Umfang beigetragen, auch wenn ein Großteil der Forschung nach wie vor außerhalb dieser Kontinente betrieben wird. Jede grundsätzliche Option für ein vergleichendes Verfahren zieht eine Reihe von Entscheidungen nach sich, als erstes diejenige, welche Art des Vergleichs gewählt werden soll. Die Alternativen werden durch Erkenntnisziel, Anzahl der zu vergleichenden Fälle sowie deren Verteilung in Zeit und Raum eingeschränkt, doch sieht man sich in der Regel einem begrenzten Repertoire von Grundformen gegenüber. So hat Van den Braembussche fünf solcher Grundformen von »comparative history« unterschieden: den kontrastierenden, den generalisierenden, den makrokausalen, den inklusiven und den universalisierenden Typ.7 In der Praxis dürfte sich die Auswahlsituation indessen etwas komplizierter gestalten als in der ordnenden Übersicht des Theoretikers. Statt der einen großen Entscheidung für das konzeptionelle Paket eines einzigen Vergleichstypus wird im allgemeinen die Wahl aus einem ganzen Menu von Optionspaaren und -triaden erforderlich sein. Beim Zivilisationsvergleich kommen dabei zu den generell gültigen Alternativen – etwa derjenigen von synchronem oder diachronem Vergleich – einige hinzu, die sich aus der besonderen Problemlage der Transkulturalität ergeben. Wenn man die Relativität der Blickpunkte zurückstellt, also die Frage zunächst außer Acht läßt, ob es grundsätzliche Unterschiede zwischen einer komparativen Geschichtsinterpretation 6 J. Goody, The Oriental, the Ancient and the Primitive: Systems of Marriage and the Family in the Pre-industrial Societies of Eurasia, Cambridge 1990. 7 A. A. van den Braembussche, Historical Explanation and Comparative Method: Toward a Theory of the History of Society, in: H&T, Jg. 28, 1989, S. 1–24, bes. S. 13–15. Andere Typologien finden sich bei T. Skocpol u. M. Somers, The Use of Comparative History in Macrosocial Inquiry, in: CSSH, Jg. 22, 1980, S. 174–197; C. Tilly, Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons, New York 1984, S. 80–84. Vgl. auch C. Lorenz, Comparative Historiography: Problems and Perspectives, in: H&T, Jg. 38, 1999, S. 25–39.

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aus der Sicht von Chicago oder Tokyo, Mexico City oder Cambridge, München oder Kairo gibt,8 bleiben acht Dimensionen der Entscheidbarkeit.

Der Referenzbereich: »Außereuropa«, »nicht-westliche Gesellschaften« oder Max Webers »Orient«? »Außereuropa« ist eine geographische Residualkategorie, der weder ein historischer oder gegenwärtiger Realzusammenhang unter den so etikettierten Völkern und Gesellschaften noch die fachliche Homogenität einer Teildisziplin »Außereuropäische Geschichte« entspricht. Ein pauschaler Europa-«Außereuropa«-Vergleich wäre daher absurd. Wenn man mehr beabsichtigt als einen (durchaus sinnvollen) bilateralen Ländervergleich, z.B. zwischen Großbritannien und Japan, bleiben drei mögliche und gleichwertige Zuschnitte eines Referenzbereichs: (a) Europäische Entwicklungen können mit denen in den heute industriell entwickelten überseeischen Ländern verglichen werden, also den ehemaligen »weißen Siedlungskolonien« (vor allem USA, Kanada, Australien) sowie dem großen asiatischen Ausnahmefall Japan. Ein solcher OECD-Binnenvergleich kann zu instruktiven Ergebnissen führen und eröffnet lohnende und praktikable Forschungsperspektiven,9 genügt aber selbstverständlich noch nicht einmal dem minimalen Universalismus einer Modernisierungstheorie, die den Rest 8 Es ist wichtig zu sehen, daß sich die Eliten vieler überseeischer Länder schon früh »komparativ« an Europa bzw. dem Westen gemessen haben. Der heutige wissenschaftliche Vergleich fußt z.T. auf dieser »natürlichen Komparatistik«, ist also kein reiner Import. Vgl. dazu etwa die musterhafte Untersuchung T. Raychaudhuri, Europe Reconsidered: Perceptions of the West in Nineteenth-Century Bengal, Delhi 1988. Niemand hat im 19. Jahrhundert den Westen gründlicher und unvoreingenommener »komparativ« betrachtet als Teile der japanischen Elite. Vgl. zusammenfassend S. Hirakawa, Japan’s Turn to the West, in: M. B. Jansen (Hg.), The Cambridge History of Japan. Bd. 5: The 19th Century, Cambridge 1989, S. 432–498, bes. S. 455ff., sowie W. E. Naff, The Comparative Tradition in Japanese History, in: Comparative Civilizations Review, Jg. 15, 1986, S. 1–21. Einer der führenden japanischen Historiker hat die neuere Sozialgeschichte Japans als pathologische Abweichung von einem westlichen Normalweg interpretiert: T. Fukutake, The Japanese Social Structure: Its Evolution in the Modern Century, engl. v. R. P. Dore, Tokyo 1982. Ein eher kulturhistorisches Beispiel für japanische Komparatistik ist T. Kuwabara, Japan and Western Civilization: Essays on Comparative Culture, hg. v. H. Katô, Tokyo 1983. Manche weiteren Hinweise bei W. Schwentker, Max Weber in Japan. Eine Untersuchung zur Wirkungsgeschichte, Tübingen 1998. 9 Z.B. bei H. Kaelble, Was Prometheus Most Unbound in Europe? The Labour Force in Europe during the Late 19th and 20th Century, in: JEEH, Jg. 18, 1989, S. 65–104. Innerhalb dieser Ländergruppe können auch engere Paarungen sinnvoll sein, z.B. J. Adelman, Frontier Development: Land, Labour and Capital on the Wheatlands of Argentinia and Canada, 1890–1914, Oxford 1994.

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der neuzeitlichen Weltgeschichte unter dem Rubrum »failed initiatives« zumindest marginal zur Kenntnis nimmt.10 (b) Wesentlich weiter gespannt wäre ein Vergleich zwischen Europa und jenen Gesellschaften, die in der postkolonialen Epoche als »Dritte Welt« eine eigene Identität zu gewinnen schienen.11 Aus heutiger Sicht ist aber nicht nur durch das Ende der realsozialistischen »Zweiten Welt« die Kategorisierung und Numerierung der internationalen Verhältnisse ins Wanken geraten. Es ist auch undeutlicher denn je geworden, was angesichts der enormen und stetig wachsenden Disparitäten der sozialökonomischen Entwicklung, besonders in Asien, überhaupt unter »Dritter Welt« zu verstehen wäre und wie »Third World History« demnach umgrenzt werden könnte.12 Japan würde auf keinen Fall dazugehören, und über die Zuordnung von Ländern wie Südkorea oder Taiwan ließe sich streiten. Ein weiteres Problem mit dem Begriff der »Dritten Welt« liegt darin, daß er ökonomisch und revolutionär-politisch definiert wurde, Kulturelles aber unberücksichtigt läßt. Gesellschaften mit ganz unterschiedlichen kulturellen Traditionen wurden als ähnlich betroffene Opfer des Imperialismus in einen gemeinsamen Topf geworfen. Keine Ideallösung, aber doch sinnvoller für den Zivilisationsvergleich ist es, nach dem Kriterium kultureller Prägung eine Makrokategorie »nicht-westliche Gesellschaften« zu bilden. Sie sollte ganz Asien und ganz Afrika umfassen, nicht aber die »weißen« Frontier-Zonen in Nordamerika und am Pazifik und ebensowenig jene »neo-europäischen« Länder Iberoamerikas wie Chile und Argentinien, die keinen signifikanten indianischen oder mestizischen Bevölkerungs- und Kulturanteil aufweisen. Als »nicht-westlich« können näherungsweise jene Gesellschaften bezeichnet werden, die selbst im Zustand fortgeschrittener Modernisierung starke Einflüsse nicht-europäischer Traditionen erkennen lassen. (c) Geht es um eine tiefenscharfe Herausarbeitung der weltgeschichtlichen Besonderheit Europas, dann eignet sich zum Vergleich am besten das, was Max Weber und seine Zeitgenossen den »Orient« nannten, also Indien, China, das stark von diesem beeinflußte Japan und der islamische Kernraum, anders gesagt: die aus sich selbst und ohne prägende Beeinflussung durch Europa gewachsenen alten Zivilisationen oder »Hochkulturen«, die als einzige abgerundete und vergleichbar komplexe Gegenmodelle zum mittelmeerisch geprägten 10 W. E. Moore, World Modernization: The Limits of Convergence, New York 1979, S. 152– 154. 11 P. Bairoch verwendet in einigen seiner Arbeiten zur Schätzung und Quantifizierung historischer Niveaus der Wirtschaftsentwicklung das Aggregat »Dritte Welt« für die Zeit seit dem 18. Jahrhundert, etwa: International Industrialization Levels from 1750 to 1980, in: JEEH, Jg. 11, 1982, S. 269–333; The Main Trends in National Economic Disparities since the Industrial Revolution, in: Ders u. M. Lévy-Leboyer (Hg.), Disparities in Economic Development since the Industrial Revolution, London 1981, S. 1–17; Ders., Victoires et déboires, Bd. 2, Paris 1997, S. 509ff. 12 Vgl. die Stellungnahmen verschiedener Experten in: History Today, Jg. 35:9, September 1985, S. 37–45.

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Okzident ausgebildet haben. Allerdings muß die Geschichtswissenschaft darauf achten, die Andersartigkeit und »Fremdheit« dieser Zivilisationen nicht ungeprüft vorauszusetzen und sie keinesfalls zu dramatisieren.13

Nur Japan oder auch andere Vergleichskandidaten? Zweifellos ist Japan unter allen nicht-westlichen Gesellschaften der für einen Vergleich mit Europa im 19. und 20. Jahrhundert am besten geeignete, für manche Zwecke sogar der einzig mögliche Kandidat.14 Bis zum Aufstieg der kleineren asiatischen Schwellenländer seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist Japan das weltweit einzige Beispiel für einen industrialisierten (noch dazu nach außen aggressiv als Großmacht auftretenden) Nationalstaat außerhalb des Okzidents gewesen: der unzweideutigste Sonderweg in der neueren Weltgeschichte. Dabei sollte die Chronologie nicht übersehen werden. Japan war, folgt man Rostows Versuch der Datierung von »take-offs«, das zeitlich an sechster Stelle, nämlich in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, startende Industrieland, nach Großbritannien, den USA, Frankreich, Deutschland und Schweden, aber vor Rußland, Italien und erst recht anderen Ländern der europäischen Peripherie.15 Japan kann nur dann als ein »late-comer« betrachtet werden, wenn man strengste Maßstäbe anlegt. Aus der Sicht Lateinamerikas, Afrikas und sämtlicher übrigen Länder Asiens – man bedenke, daß die bevölkerungsreichsten Länder der Welt, China und Indien, erst nach 1950 eine gesamtwirtschaftlich ins Gewicht fallende Industrialisierung erfahren haben – erscheint es als Industriemacht von achtunggebietender Anciennität. Der Vergleich der europäischen Kernnationen mit Japan ist seit dem späten 19. Jahrhundert ein Vergleich von Fällen innerhalb desselben formal definierten Gesellschaftstyps »Industriegesellschaft« und daher in mancher Hinsicht methodisch eine lineare Erweiterung der bewährten komparativen Prozeduren. Die Industrialisierungsforschung hat diesen Umstand als erste genutzt.16 13 Unter anderem deshalb ist der distanzierende Ausdruck »Orient« heute fragwürdig geworden. Siehe Kapitel 10 in diesem Band. 14 Dies wäre auch unter dem Gesichtspunkt der Selbstverortung Japans zwischen »Westen« und »Osten« zu diskutieren. Vgl. S. Conrad, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945–1960, Göttingen 1999, bes. S. 305ff. 15 Vgl. W. W. Rostow, The World Economy, London 1978, S. 51. 16 Immer noch anregende komparative Pionierbeiträge waren D. S. Landes, Die Industrialisierung in Japan und Europa. Ein Vergleich, in: W. Fischer (Hg.), Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin 1968, S. 29–117; T .C. Smith, Pre-Modern Economic Growth: Japan and the West, in: P&P, Nr. 43, 1973, S. 127–160. Heute sieht man deutlicher, daß Japan keineswegs den europäischen Kapitalismus kopierte, sondern vielmehr auf weit zurückreichenden Grundlagen eine eigene Form ausgebildet hat. Vgl. etwa M. L. Gerlach, Alliance Capitalism: The Social Organization of Japanese Business, Berkeley 1992.

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Inzwischen liegt, sogar in westlichen Sprachen, eine hinreichend umfangreiche Literatur vor, um die Berücksichtigung Japans auch bei der vergleichenden historischen Betrachtung von Phänomenen wie ländlicher Transformation, Urbanisierung, Unternehmensstrukturen, sozialer Schichtung und Klassenbildung, Sozialprotest und Staatsentwicklung möglich werden zu lassen.17 Auch für die vergleichende Faschismusforschung hält Japan einige Lehren bereit.18 Besondere Aufmerksamkeit verdient angesichts der westlichen Neigung, Japan als Land der »Modernisierung von oben« zu sehen, auch die eigenständige Entwicklung einer akademischen Sozialgeschichte »von unten« im Nachkriegsjapan.19 Trotz großer Schwierigkeiten beim Verständnis japanischer Denk- und Verhaltensweisen, also der japanischen »Kultur«, sind die sozialökonomischen Strukturen des modernen Japan dem Historiker europäischer Industriegesellschaften zunächst ohne unüberwindliche Hürden zugänglich. Was aber bleibt außer Japan? Sollte es nicht genügen, im Dreieck Westeuropa-USA-Japan einen dichten transkontinentalen Vergleichsteppich zu weben? Drei Argumente können ein Plädoyer für einen über den naheliegenden Fall Japan hinausgehenden Vergleichshorizont stützen: (a) Japan ist ein Fall sui generis. Es steht nicht repräsentativ für »Außereuropa«, nicht für »non-Western societies« und nicht für Asien. Wie S. N. Eisenstadt betont hat, ist es nahezu einzigartig als eine Zivilisation, die seit Jahrhunderten intensiv von ihrer Umwelt gelernt hat, aber dabei selbstreferentiell geblieben ist und niemals über ihren eigenen Bereich hinausweisende Universalitätsansprüche erhoben hat – nicht religiös-philosophisch und auch nicht im Sinne des Exports des eigenen »Entwicklungsmodells« oder einer »mission civilisatrice«.20 (b) Es ist fragwürdig, nur zwischen eindeutigen Modernisierungsgewinnern zu vergleichen, also eine Art von »Whig historiography« universalhistorisch wiederzubeleben. Auch wenn man nicht in das andere Extrem verfallen sollte, postmodern jede exotische Geschichte für gleichermaßen erzählenswert zu halten, so wäre doch zunächst – und das kann nur im Vergleich geschehen – unteleologisch die Vielfalt vormoderner Gesellschaftsformen auszubreiten 17 Zum Vergleich der vormodernen Gesellschaften Japans und Englands hervorragend: A. Macfarlane, The Savage Wars of Peace: England, Japan and the Malthusian Trap, Oxford 1997. 18 Vgl. die Diskussion bei A. Gordon, Labor and Imperial Democracy in Prewar Japan, Berkeley 1991, S. 333–339, der sich auf eine japanische Untersuchung beruft: Y. Yamaguchi, Fuashizumu, Tokyo 1979. 19 Vgl. C. Gluck, The People in History: Recent Trends in Japanese Historiography, in: JAS, Jg. 38, 1978/79, S. 25–50. Ein Hauptwerk dieser Richtung liegt auf Englisch vor: D. Irokawa, The Culture of the Meiji Period [1969], Princeton 1985. Vgl. auch M. Hane, Peasants, Rebels and Outcastes: The Underside of Modern Japan, New York 1982; G. P. Leupp, Servants, Shophands, and Laborers in the Cities of Tokugawa Japan, Princeton 1992. 20 S. N. Eisenstadt spricht von Japans Überzeugung von seiner eigenen »sacred particularity«: Japanese Civilization: A Comparative View, Chicago 1996, S. 249–251. Vgl. auch K. Yoshino, Cultural Nationalism in Contemporary Japan, London 1992.

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und erst dann nach den Voraussetzungen sich ausdifferenzierender Entwicklungspfade zu fragen. Deshalb ist auch die späte Vormoderne, also das 18. Jahrhundert, ein besonders erfolgversprechender Ausgangspunkt für einen universalen Gesellschaftsvergleich. Um 1750 zum Beispiel war es noch keineswegs klar, daß Japan und nicht China ein Jahrhundert später den Sprung in die Modernisierung schaffen würde. Zweifellos wurden viele der Grundlagen für die japanischen Modernisierungserfolge bereits während der »frühen Neuzeit«, also der Tokugawa-Epoche, gelegt.21 Doch erst die politischen Weichenstellungen der Jahre nach der Meiji-Restauration von 1868 überführten das Potential in manifesten Gesellschaftswandel.22 (c) Die Einheitlichkeit des evolutionären Ziels der Gesellschaftsentwicklung steht in analytischer wie in normativer Betrachtung heute zur Debatte. Das Gänsemarsch-Modell der älteren Modernisierungstheorie mit seinen Pionieren und Nachzüglern hat an Überzeugungskraft verloren. Immer deutlicher profilieren sich mehrere Spielarten der industriegesellschaftlichen oder postindustriellen Moderne: die westeuropäische und, davon in manchem unterschieden, die nordamerikanische Variante, die eigentümliche, niemals kopierte japanische Ausprägung und in ihrer Nachbarschaft (zunächst in Taiwan und Singapore) eine auf anderen konfuzianischen Grundlagen als den japanischen beruhende chinesische Version.23 Schon Japan hatte den Westen nur selektiv kopiert. Es steht inzwischen nicht mehr allein mit dem Versuch der Verbindung einheimischer Traditionen und importierter Organisationsformen. In dem Maße, wie die Entwicklung in Korea, Ost- und Südostasien, Südafrika, einigen Ländern Lateinamerikas sowie in Teilen der islamischen Welt nicht länger als »failed initiatives« abgetan werden kann, ergeben sich neue Themen für die Geschichtsforschung, etwa Vergleiche zwischen europäischen und asiatischen Modernisierungsprozessen in der zweiten und dritten Generation, zwischen den jeweiligen Rollen des Staates in diesen Prozessen, ihren sozialen Trägern, 21 Vgl. J. W. Hall (Hg.), The Cambridge History of Japan. Bd. 4: Early Modern Japan, Cambridge 1991; C. Totman, Early Modern Japan, Berkeley 1993. Die Übernahme der europäischen Epochenkategorie »frühe Neuzeit« – auch durch Historiker anderer Regionen Asiens – ist übrigens eine Entwicklung der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die die Kompatibilität der asiatischen Erfahrung mit Europa unterstreichen soll. Vgl. beispielhaft A. Reid (Hg.), Southeast Asia in the Early Modern Era: Trade, Power, and Belief, Ithaca 1993. 22 Vgl. M. B. Jansen u. G. Rozman (Hg.), Japan in Transition: From Tokugawa to Meiji, Princeton 1986; G. Rozman, Social Change, in: Jansen (Hg.), Cambridge History of Japan, Bd. 5, S. 499– 568; M. Nagai u. M. Urrutia (Hg.), Meiji Ishin: Restoration and Revolution, Tokyo 1985; sowie als Überblick W. Schwentker, Modernisierung von oben. Japan im 19. Jahrhundert, in: J. Osterhammel (Hg.), Asien in der Neuzeit 1500–1950. Sieben historische Stationen, Frankfurt a. M. 1994, S. 101–124. 23 Die Beziehungen zwischen Spielarten von Konfuzianismus und Formen sozialökonomischer Entwicklung werden untersucht in G. Rozman (Hg.), The East Asian Region: Confucian Heritage and Its Modern Adaptation, Princeton 1991, darin bes. Ders., Comparisons of Modern Confucian Values in China and Japan (S. 157–203).

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ihren Zusammenhängen mit nationalistischen Ideologien und Politikformen, usw. Japan wird immer ein Sonderfall bleiben, doch füllt sich allmählich die breite Lücke, die das Inselreich bisher von den übrigen nicht-westlichen Gesellschaften getrennt hat, mit neuartigen historischen Phänomenen, deren Voraussetzungen zu untersuchen wären.

Synchrone oder diachrone Vergleiche? Es gibt gelegentlich faszinierende Konstellationen von transzivilisatorischer Gleichzeitigkeit, die ideale Bedingungen für den Vergleich bieten. Der erfahrenste Globalkomparatist des späten 20. Jahrhunderts, S. N. Eisenstadt, hat in der Nachfolge von Karl Jaspers eine solche Konstellation in den zivilisatorischen Neubildungen der »Achsenzeit« zwischen der Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. und dem Auftreten des Islam gefunden.24 Jack Goldstone konzentriert sich in einer methodisch beispielhaften Studie auf das 17. und 18. Jahrhundert, wenn er die englische und die französische Revolution mit der Etablierung der Tokugawa-Ordnung in Japan nach 1600, dem Zusammenbruch der chinesischen Ming-Dynastie 1644 und der gleichzeitigen Krise des Osmanischen Reiches vergleicht und hinter all diesen Staatskrisen und -zusammenbrüchen einen gemeinsamen, letztlich demographisch fundierten Kausalzusammenhang identifiziert.25 Noch präziser simultan verliefen Vorgänge, die bisher noch nicht in ganzer Breite komparativ diskutiert worden sind. Die deutsche Nationalstaatsbildung seit etwa 1866, die Integration Italiens seit 1861, die Rekonstruktion der USA nach dem Ende des Bürgerkrieges 1865, die »Revolution von oben« in Japan nach 1868 und der Reformschub in Siam/Thailand nach der Thronübernahme durch den visionären König Chulalongkorn im gleichen Jahr, daneben zwei mittelfristig weniger stabile Versuche: die mit der Bauernbefreiung von 1861 (eigentlich schon den Reformen seit 1855) beginnende Umwandlung der russischen Gesellschaft sowie die Neuordnung Mexikos unter Porfirio Díaz nach 1877: Sie alle waren in der Substanz ähnliche, nach Umständen und Ausführung verschiedenartige Prozesse von »nationbuilding« und gesellschaftlicher Neuformierung. Sucht man allerdings weitere 24 S. N. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit. Ihre Ursprünge und ihre Vielfalt, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1987. Eisenstadts beispielloses komparatistisches Programm wird vorgestellt in ders., A Sociological Approach to Comparative Civilizations: The Development and Directions of a Research Program, Jerusalem 1986. Als vorläufiges Resümee vgl. Ders., European Civilization in a Comparative Perspective: A Study in the Relation between Culture and Social Structure, Oslo 1987; Ders., Die Dimension komparativer Analyse und die Erforschung sozialer Dynamik. Von der vergleichenden Politikwissenschaft zum Zivilisationsvergleich, in: Kaelble u. Schriewer (Hg.), Diskurse und Entwicklungspfade, S. 3–28. 25 J. A. Goldstone, Revolution and Rebellion in the Early Modern World, Berkeley 1991.

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Vergleichsfälle, so muß man die Epoche wechseln und auf Synchronie zugunsten von funktionaler Äquivalenz verzichten. Dann jedoch verraten zum Beispiel die Reformen Kemal Atatürks in der Türkei der frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts oder politische Zentralisierung und soziale Umwälzung nach der kommunistischen Machtergreifung von 1949 in China ihre strukturelle Nähe zum Nationsbildungsmuster des späten 19. Jahrhunderts.26 Synchronie und Diachronie lassen sich bei dieser Thematik relativ mühelos verbinden. Der Vergleich zwischen synchronen Phänomenen erlaubt es, die Frage nach einer gemeinsamen Verursachung recht genau zu stellen und im Prinzip ohne geschichtsphilosophische Hilfskonstruktionen empirisch zu beantworten.27 Er kommt damit Van den Braembussches »makrokausalem Typ« nahe. Der diachrone Vergleich über Epochengrenzen hinweg hingegen kann, je nach Erkenntniszweck, sowohl dem auf scharfe Profilierung einzelner Fälle zielenden »kontrastiven« als auch dem auf sich wiederholende Grundmuster abhebenden »generalisierenden« Gesamttypus korrespondieren. Ein Beispiel für die zweite Möglichkeit wäre Theda Skocpols »struktureller« Versuch, hinter der französischen Revolution des 18., der russischen des frühen 20. Jahrhunderts und der nur wenig jüngeren chinesischen Revolution über Zivilisationsgrenzen hinweg ein ähnliches Ursachenbild zu erkennen.28 Der transzivilisatorische Vergleich offenbart seinen Überraschungswert vielleicht am besten dann, wenn er – wie in Goldstones Vergleich der frühneuzeitlichen Staatskräche – verborgene Kausalvernetzungen zwischen scheinbar unverbundenen, sich in unterschiedlichen Zivilisationen gleichzeitig zutragenden Vorgängen aufdeckt. Bei diachronen Vergleichen kann der Wechsel von Epoche und Zivilisation zu einer Schwächung der analytischen Stringenz und zu einem Vergleichbarkeitsproblem führen. Vor allem lassen sich europäische Industriegesellschaften außerhalb eines evolutionären Kontinuums – Van den Braembussches »inklusivem« Vergleichstyp – nur schwer zu vormodernen nicht-okzidentalen Gesellschaften in eine sinnvolle Beziehung setzen. Ergiebiger als die retrospektive kann die prospektive Zeitorientierung sein: der Versuch, die nicht-westliche Welt etwa der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts im Lichte der europäischen Frühen Neuzeit zu betrachten. So wäre ein Vergleich der Institutionen und Mentalitäten in europäischen Agrargesellschaften vor der Mitte des 18. Jahrhunderts mit asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen »peasant societies« des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein für beide Seiten lohnendes

26 Vgl. E. F. Vogel, Nation-Building in Modern East Asia: Early Meiji Japan (1868–1890) and Mao’s China (1949–1971), in: A. M. Craig (Hg.), Japan: A Comparative View, Princeton 1979, S. 130–153. 27 Vgl. dazu auch Goldstone, Revolution, S. 57, S. 59. 28 T. Skocpol, States and Social Revolutions: A Comparative Analysis of France, Russia and China, Cambridge 1979.

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Unternehmen.29 Statt empirisch begründeter Kausalzusammenhänge wird man sich davon eher Analogiebeobachtungen oder die Unterscheidung von Variationen versprechen – legitime Ziele des inter- wie des intrazivilisatorischen Vergleichs. In jedem Fall muß es dabei eine methodische Selbstverständlichkeit sein, die »außereuropäische« Chronologie ebenso sorgfältig zu beachten wie die europäische. Noch Max Weber verzichtete in seinen maßstäblichen Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen vielfach – meist notgedrungen infolge einer noch elementaren Forschungslage – auf epochale Spezifizierung und arbeitete etwa mit dem Konstrukt eines über zweitausend Jahre hinweg unveränderten »alten China«, das heute die meisten Sinologen nicht mehr akzeptieren würden.30 Spuren der alten Legende von der »Geschichtslosigkeit« des Orients sind immer noch anzutreffen und verhindern einen präzisen Zeitbezug, wie er zur Situierung der Vergleichsfälle auf den Koordinaten des Gleichzeitigen und des Ungleichzeitigen unerläßlich ist.

Strukturvergleich oder Beziehungsgeschichte? Seit 1889 ist der ethnologischen Theoriediskussion »Galtons Problem« bekannt, eine Art von Unschärferelation, die besagt, daß man beim Kulturvergleich nicht gleichzeitig die Fälle in ihrer isolierend herauspräparierten Reinheit und in der Geschichte ihrer wechselseitigen Beeinflussung in den Blick nehmen kann. Dieses Problem gewinnt im historischen Prozeß stetig an Bedeutung. Der Japan-Europa-Vergleich mag dies veranschaulichen. Schon Marc Bloch wies auf die erstaunlichen Strukturähnlichkeiten zwischen der westeuropäischen Gesellschaft des Hochmittelalters und der etwa gleichzeitigen japanischen hin, Ähnlichkeiten, die es in Blochs Sicht zuließen, auf beide den Begriff »Feudalismus« anzuwenden, der für China etwa völlig unpassend wäre.31

29 Es bedürfte dazu einiger verbindender Konzepte ganz allgemeiner Natur im Sinne von P. Crone, Pre-Industrial Societies, Oxford 1989, oder speziellerer Theorien von Agrargesellschaften. Vgl. dazu als Überblick T. Shanin (Hg.), Peasants and Peasant Societies, Harmondsworth 1971, Ders., Defining Peasants, Oxford 1990. Wie stark die Forschung zu Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft in Asien inzwischen theorieorientiert und damit implizit auf Vergleichbarkeit ausgerichtet ist, läßt sich an China und Japan gut zeigen. Vgl. die Literaturberichte: J. Osterhammel, Bauern und ländliche Gesellschaft im China des 20. Jahrhunderts. Zwischenbilanz einer Debatte, in: IAF, Jg. 24, 1993, S. 311–329; B. Moore, Jr., Japanese Peasant Protests and Revolts in Comparative Historical Perspective, in: IRSH, Jg. 33, 1988, S. 312–328. 30 Vgl. die Kritik bei W. Eberhard, Die institutionelle Analyse des vormodernen China. Eine Einschätzung von Max Webers Ansatz, in: W. Schluchter (Hg.), Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, Interpretation und Kritik, Frankfurt a.M. 1983, S. 56–90, hier S. 57. 31 M. Bloch, La société féodale [1939–40], Paris 1969, S. 610–612. Zum gegenwärtigen Diskussionsstand resümierend: P. Duus, Feudalism in Japan, New York 19933. Aus vergleichender Sicht besonders hilfreich ist J. P. Arnason, Paths of Modernity: The Peculiarities of Japanese Feuda-

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Diese Ähnlichkeit kann unmöglich auf Kontakte zwischen Europa und Japan zurückgeführt werden, denn kein Europäer hat vor 1543 japanischen Boden betreten. Auch um 1920 wiesen Japan und Westeuropa beträchtliche Gemeinsamkeiten auf. Sie jedoch sind vor dem Hintergrund einer allgemeinen Verwestlichung Ostasiens und spezifischer einer seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zielbewußt und wählerisch betriebenen japanischen Politik des Lernens von Europa zu sehen.32 Die Zurechnung einheimischer Entwicklungen zu exogenen Einflüssen ist dabei freilich schwierig, gerade im Falle Japans, das eine außergewöhnliche Fähigkeit zur modifizierenden Anverwandlung westlicher Kulturelemente ohne Aufgabe des eigenen Identitätskerns bewiesen hat. Jede holistische Vorstellung von einer »Gesamtgesellschaft«, über die generalisierende Aussagen möglich seien, führt hier in die Irre. Die Analyse muß sich nach Ebenen und Sektoren mehrdimensional differenzieren; sie muß, wie Goldstone sagt, »fraktal« werden.33 Allgemein gilt, daß der Kolonialismus und die weit über den Bereich formeller Fremdherrschaft hinausreichende weltweite Verwestlichung kaum eine Gesellschaft der Erde unberührt gelassen haben. In der Neuzeit kann der transkulturelle Strukturvergleich deshalb nicht mehr, wie zu Eisenstadts »Achsenzeit« oder in den Abstraktionen von Max Webers zeitenthobenem Orient, mit der Existenz distinkter und jeweils autochthoner, sozusagen »chemisch reiner« Analyseeinheiten rechnen. Der Vergleich muß beziehungsgeschichtlich abgefedert, bewußte kulturelle Transfers und nicht-intendierte Akkulturationsprozesse müssen aufgespürt, »invented traditions« identifiziert, Synkretismen entschlüsselt werden. Dazu ist ein Verständnis der Zusammenhänge zwischen Europa und der übrigen Welt erforderlich, das über die herkömmlichen politischen und ökonomischen Interessen der Kolonialismus- und Imperialismusforschung hinausgeht. Der Strukturvergleich zwischen Zivilisationen und das Studium interzivilisatorischer Beziehungen sind zwei Seiten derselben Medaille.

lism, in: G. McCormack u. Y. Sugimoto (Hg.), Modernization and Beyond: The Japanese Trajectory, Cambridge 1988, S. 235–263. 32 Vgl. M. B. Jansen, Japan and Its World: Two Centuries of Change, Princeton 1980, S. 28ff.; Ders., On Foreign Borrowing, in: Craig (Hg.), Japan, S. 18–48; D. E. Westney, Imitation and Innovation: The Transfer of Western Organizational Patterns to Meiji Japan, Cambridge, Mass. 1987 (mit einer wichtigen theoretischen Einleitung, S. 9–32); E. Pauer, Der Technologietransfer nach Japan. Strukturen und Strategien, in: Ders. (Hg.), Technologietransfer Deutschland – Japan von 1850 bis zur Gegenwart, München 1992, S. 48–72; A.W. Burks (Hg.), The Modernizers: Overseas Students, Foreign Employees, and Meiji Japan, Boulder, Col. 1985. 33 Goldstone, Revolution, S. 46.

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Totalvergleich oder Partialvergleich? Der Totalvergleich kontrastiert ganze Zivilisationen – etwa den Okzident und China – oder komplette Nationalstaaten. Der Partialvergleich greift aus zwei oder mehreren solcher Zivilisationen jeweils ein Element heraus, etwa eine besondere Institution oder ein Segment der Gesellschaft; er ist selektiv und perspektivisch angelegt, muß dabei aber die jeweilige Stellung der zu vergleichenden Elemente innerhalb größerer Zusammenhänge im Auge behalten.34 Max Weber ist für beide Arten des Vergleichs der maßstabsetzende Pionier gewesen: für den Totalvergleich in den Abhandlungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, für den Partialvergleich in vielen Abschnitten von »Wirtschaft und Gesellschaft«, etwa in den Studien zur okzidentalen und orientalischen Stadt. In der Mitte zwischen beidem steht Webers hermetischste, aber logisch zwingendste und im Detail ihrer Analysen immer noch erstaunlich gültige komparatistische Schrift: die nachgelassene Studie »Die rationalen und gesellschaftlichen Grundlagen der Musik«. Hier erscheint die Musik nicht als ein Kulturelement unter mehreren, sondern als dasjenige, bei dem sich die Einzigartigkeit – damit nicht zugleich auch, wie Weber betont, die Höherwertigkeit – westlicher Rationalisierung bis in die Mathematik der Tonrelationen verfolgen läßt.35 Der Teilaspekt erhellt hier das Ganze. Gegen den Totalvergleich als Aufgabe der Geschichtswissenschaft sprechen praktische Gründe. Max Weber erarbeitete seine ungemein ins einzelne gehenden Untersuchungen über China und Indien, in denen er überraschend selten zu expliziten Vergleichen mit Europa (das er nicht zufällig niemals totalisierenden Analyseprozeduren unterwirft)36 gelangt, mit staunenswerter Urteilskraft und Intuition in der Frühphase der Orientforschung. Es war ihm noch möglich – was heute völlig undenkbar wäre – den neuesten Forschungsstand nahezu lückenlos zur Kenntnis zu nehmen. Seit Weber ist der totalisierende Vergleich durch universalhistorischen Dilettantismus in Verruf geraten. Heute ist er eine Domäne nicht nur der zeitkritischen Popularliteratur, sondern auf höherem Niveau vor allem der historischen Makroziologie, ohne daß freilich alle ihrer Vertreter komparativ arbeiten würden; zwei der heute einflußreichsten unter ihnen, Immanuel Wallerstein und Michael Mann, verwenden den Vergleich mit großer Zurückhaltung.37 Die professionelle Geschichtswissenschaft – und 34 Vgl. M. Espagne, Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle, in: Genèses, Jg. 17, 1994, S. 113f. 35 Vgl. dazu grundlegend: C. Braun, Max Webers »Musiksoziologie«, Laaber 1992. 36 Vgl. S. N. Eisenstadt, Some Reflections on the Significance of Max Weber’s Sociology of Religions for the Analysis of Non-European Modernity, in: Archives de sociologie des religions, Jg. 32, 1971, S. 37. 37 Mann, im Grunde ein Narrativist, äußert dabei in geradezu historistischer Manier einen generellen Verdacht gegen Vergleichbarkeit: M. Mann, The Sources of Social Power. Bd.1: A Hi-

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das gilt für Außereuropa- nicht weniger als für Europa-Historiker – kann den totalisierenden Vergleich schwer mit ihrem Forschungsethos vereinbaren. Selbst bei entschiedener Theorieorientierung sucht sie nicht unbedingt nach der höchstmöglichen Vogelperspektive. Aus diesem Grunde gehört die nur totalisierend formulierbare Frage nach den Ursachen der okzidentalen Ausnahmeentwicklung – gewiß eine der größten Herausforderung für eine historische Sozialwissenschaft – zu jenen Problemen, für welche eine forschungsnahe Lösungsstrategie nur schwer gefunden werden kann und man sich auf die gelehrte Spekulation einer »philosophical history« verwiesen sieht.38 Es fehlt nicht an zuversichtlich vorgetragenen Erklärungsskizzen auf häufig dünner Wissensgrundlage (insbesondere was die nicht-westlichen Zivilisationen betrifft).39 Die konzeptionellen Schwierigkeiten beginnen bereits mit der präzisen Fassung des Problems, denn es herrscht keineswegs Einvernehmen darüber, worin die zu erklärende Besonderheit des Westens überhaupt besteht: Max Weber meinte, in der Herausbildung eines bestimmten Typus von Rationalismus und insbesondere der Entstehung einer einzigartigen Art von Kapitalismus: der »rationalistisch-kapitalistischen Organisation von (formell) freier Arbeit«.40 Andere haben die alte Marxsche Frage nach den Gründen für den Beginn der Industrialisierung in England erneuert – etwas durchaus anderes als Max Webers Problem. Der australische Wirtschaftshistoriker Eric L. Jones wiederum, von dem ein besonders gut durchdachter Lösungsversuch stammt, bestimmt das »Wunder Europas« als das Zustandekommen eines langfristigen, von Umweltkatastrophen und Staatsräuberei abgeschirmten wirtschaftlichen Wachstums, dessen Ursprung er im Mittelalter sucht.41 Mit guten Gründen könnte man aber auch den Personenbegriff des römischen Rechts als Europas weltgeschichtlich entscheidende differentia specifica gegenüber den asiatischen Hochkulturen werten; oder es ließe sich die Entstehung eines ökonomischen Weltsystems, die der Industrialisierung um Jahrhunderte vorausging, als der primär erklärungsbedürftige Faktor betrachten. Jedes dieser unterschiedlichen Deutungsmodelle setzt nicht-empirische Entscheidungen voraus: zum einen darüber, wann man den differentiellen »Aufstieg des Westens« beginnen läßt (geistesgeschichtlich in der Antike, ökonomisch im Mittelalter, machtpolitisch im frühen 19. Jahrhundert?), zum anstory of Power from the Beginning to A.D. 1760, Cambridge 1986, S. 30. Der zweite Band dieses Werkes (1993) enthält allerdings einige binneneuropäische Vergleiche, z.B. S. 628–722. 38 Siehe Kapitel 7 in diesem Band. 39 Eine Auswahl findet sich in J. Baechler u. a. (Hg.), Europe and the Rise of Capitalism, Oxford 1988. 40 M. Weber, Vorbemerkung, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.1, Tübingen 1920, S. 7. 41 E. L. Jones, Das Wunder Europa. Umwelt, Wirtschaft und Geopolitik in der Geschichte Europas und Asiens, dt. v. M. Streissler, Tübingen 1991, S. XIII.

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deren hinsichtlich der Zwangsläufigkeit bzw. Kontingenz der europäischen Ausnahmeentwicklung (anthropologische Überlegenheit oder Nutzung glücklicher Zufälle?). Zwar wird die – nicht allzu selbstgefällig zu stellende – Frage nach den Ursachen des westlichen Entwicklungsvorsprungs am Horizont jeder vergleichenden Geschichtsbetrachtung sichtbar bleiben, doch liegt die Zukunft fürs erste bei Partialvergleichen. Sie sind weniger anspruchsvoll und weniger willkürlich, lassen sich besser an der Empirie kontrollieren und leichter mit den »normalen« Arbeitsinteressen professioneller Geschichtsforscher verbinden. Da ihnen das Grandiose transzivilisatorischer Universalgeschichte fehlt, haben sie die Chance zur Veralltäglichung im Geschäft der Historie.

Asymmetrischer oder symmetrischer Vergleich? Beim asymmetrischen Vergleich zwischen zwei Fällen wird ein besseres Verständnis der einen Analyseeinheit angestrebt, wobei die andere als Kontrastfolie dient. Der symmetrische Vergleich hingegen ist »gerechter«; er zielt auf die gleichmäßige Erfassung beider Fälle, von denen keiner logisch oder normativ privilegiert wird. Es handelt sich bei dieser Alternative eher um den Unterschied zwischen Erkenntniszielen als um einen solchen zwischen formalen Prozeduren und verschiedenen Arten der Konstruktion von Erklärungsmodellen, eher um Tendenzen als um Typen des Vergleichens. In der Praxis dürfte Asymmetrie oder Symmetrie kein strenges Entweder-Oder, sondern eine Frage der Nuancierung sein. Max Webers zivilisationsvergleichende Arbeiten zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen zeigen anschaulich die Schwierigkeiten der Abgrenzung. Während Weber in der Tat »a thoroughly asymmetric comparison«42 intendierte und von einer methodischen Europazentrierung nicht abwich, widmete er sich in seinen materialen Untersuchungen mit großer Intensität und Ausführlichkeit den Zivilisationen Chinas und Indiens. Wenn der Orient wirklich nur als Hintergrund zur Verdeutlichung der europäischen Entwicklung gedacht war, dann hat es nie eine kunstvoller ausgemalte Kulisse gegeben. In der Gesamtbilanz hat Weber dadurch vielleicht doch eine Art von Symmetrie erreicht. Vor allem sah er, was später zu oft vergessen wurde: Es ist zweierlei zu erklären, warum eine gesamtgesellschaftliche Modernisierung in Westeuropa gelang, und kontrafaktisch darüber nachzudenken, warum sie etwa im China des 12. oder des 16. Jahrhunderts, als manche Voraussetzungen gegeben zu sein schienen, fehlschlug. Aus heutiger Sicht mag man sich an die Regel halten, Symmetrie als den wünschenswerten Normalfall, Asymmetrie als die fallweise legitimierbare Ausnahme zu betrachten. 42 Kocka, Comparative Historical Research, S. 374.

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Konvergenter oder divergenter Vergleich? Eine konvergente Vergleichsperspektive sucht eher die Gemeinsamkeiten der verglichenen Phänomene, eine divergente die Unterschiede zwischen ihnen. Auch hier handelt es sich wieder mehr um ein je nach Erkenntnisziel zu wählendes Mischungsverhältnis als um einen kontradiktorischen Gegensatz. Die Alternative gewinnt jedoch im Zivilisationsvergleich dadurch eine besondere Brisanz, daß hier, anders als innerhalb Europas, Divergenz gemeinhin als Attribut der Sache selbst aufgefaßt wird. Anders gesagt, es ist mit einem unwillkürlichen Drang zur Dichotomisierung zu rechnen, den die Romantik den Gründervätern der Soziologie vererbte und der tief im wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Weltverständnis des Westens verwurzelt ist: Abendland vs. Morgenland, reicher Norden vs. armer Süden, Tradition vs. Moderne, Stagnation vs. Dynamik, Fortgeschrittene vs. Rückständige, westliche Rationalität und Mäßigung vs. östlicher Irrationalismus und Exzess. In ethnologisch aufgeschlossenen Kreisen ist seit einiger Zeit wohlmeinend von »otherness«, »alterité« oder der »Geschichte der Anderen« die Rede, zu deren Erkenntnis angeblich auch eine »andere« Geschichtswissenschaft erforderlich sei. Abendländisch-atlantische Arroganz und ihr gesinnungsethisch striktes Gegenteil, ein kulturrelativistischer Ethno-Enthusiasmus, treffen sich, bestätigt durch namhafte Anthropologen, in der Vorstellung, nicht-westliche Zivilisationen verkörperten ein inkommensurables Gegenprinzip zu Europa. Dem kann ideologiekritisch oder diskursanalytisch mit dem präzise führbaren Nachweis entgegengetreten werden, daß der Orient erst im späten 18. Jahrhundert »orientalisiert« wurde, die kulturelle Grenze zwischen Ost und West also in mancher Hinsicht eine auf ideen- und mentalitätsgeschichtliche Verschiebungen in Europa zurückführbare »Erfindung« ist. Es läßt sich aber auch aus der neueren Forschung zur Realgeschichte nicht-westlicher Gesellschaften der Schluß ziehen, daß viele solcher distanzierenden Denkfiguren empirisch unhaltbar sind. Eine derartige West-Ost-Dichotomisierung ist mit divergentem Vergleich nicht gemeint. Es geht vielmehr um die Herausmodellierung alternativer Pfade in die moderne Welt, die durchaus quer zur Okzident-Orient-Trennung verlaufen können. So hat Theda Skocpol drei typische Verlaufsmodelle neuzeitlicher Revolutionen herauspräpariert: das französische, das russische und das chinesische – und anschließend festgestellt, daß die engste Verwandtschaft in dieser Trias zwischen Frankreich und China, nicht innereuropäisch zwischen Frankreich und Rußland besteht. Und Barrington Moore, ein besonders entschiedener Praktiker des divergenten Verfahrens, ordnet China und mit Einschränkungen auch Rußland dem Typus »Bauernrevolution« zu, während er Japan und Deutschland als zwei Varianten des Entwicklungspfades »Revolution von oben und Faschismus« klassifiziert. Die großen divergent vorgehenden Bücher von Moore und Skocpol haben gemeinsam, daß sie vor dem Hinter61

grund mechanistisch anmutender kausaler Faktorenmodelle symmetrisch vergleichen, kulturneutral ohne Rücksicht auf Orient-Okzident-Befangenheiten argumentieren und keinen der unterschiedenen Entwicklungsverläufe normativ auszeichnen. Geht der divergente Ansatz von der Annahme einer nicht fragmentierten, sondern durch die Unterscheidung von Entwicklungspfaden strukturierbaren Universalgeschichte aus, so legt eine konvergente Perspektive (sofern sie nicht teleologisch auf ein einheitliches Modernitätsziel hin entworfen wird) Wert auf die Beobachtung, daß Völker auf verschiedenen Kontinenten und in unterschiedlichen Zivilisationsbereichen ähnliche Grundformen der Vergesellschaftung und ähnliche Problemlösungsstrategien ausgebildet haben. So hat Jack Goody in seiner bereits erwähnten Studie die strukturelle Nähe vormoderner Familien- und Haushaltsformen in ganz Eurasien nachgewiesen und Eric Wolf gemeinsame Grundmuster agrarrevolutionärer Mobilisierung auf vier Kontinenten identifiziert. Goldstone kombiniert die Dimensionen, indem er bei den untersuchten Fällen frühneuzeitlicher Staatszusammenbrüche von England bis Japan konvergente demographisch-ökonomische Ursachen, aber divergente kulturell-ideologische Verarbeitungen der Krisen feststellt.43

Kulturvergleich oder Gesellschaftsvergleich? Der Oberbegriff »Zivilisationsvergleich«, verstanden nicht als ein Vergleich zwischen holistisch aufgefaßten ganzen Zivilisationen, sondern als Vergleichen über die Grenzen der eigenen Zivilisation hinaus, sollte weit genug gedehnt werden, um unterschiedlichen Bestimmungen des Verhältnisses zwischen den Leitkategorien »Gesellschaft« und »Kultur« Raum zu geben. Ein Zivilisationsvergleich, der das Kulturelle ausschlösse, wäre selbstverständlich eine logische Unmöglichkeit. Trotz ernstlicher Unverträglichkeiten zwischen einer neoweberianischen historischen Sozialwissenschaft, die sich mittlerweile auch in wichtigen Arbeiten zur Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas dokumentiert hat, und einem New Historicism, der in den USA schon ganze Felder der Asienforschung, etwa die neuzeitliche Japangeschichtsschreibung, maßgebend beeinflußt,44 läßt sich die Frage eines Primats von Kultur oder Gesellschaft, von Hermeneutik oder Strukturanalyse sinnvoll nicht stellen.45 Der Zivilisati43 Goldstone, Revolution, S. 416. 44 Ein repräsentatives Werk ist H. D. Harootunian, Things Seen and Unseen: Discourse and Ideology in Tokugawa Nativism, Chicago 1988. Zur oft ziemlich unklaren Programmatik des New Historicism vgl. relativ deutlich: A. Kaes, New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? in: M. Baßler (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a.M. 1995, S. 251–267. 45 Aus einer sich oft in Begriffsrealismus verlierenden Diskussion ragt durch Klarheit und

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onsvergleich verweigert sich der Reduktion auf einen einzigen seiner beiden Pole »Kultur« und »Gesellschaft«. Als erstes wäre eine Abgrenzung zum »Kulturvergleich« zu treffen, einer Verfahrensweise, die in der Anthropologie beheimatet ist, mittlerweile aber auch in Disziplinen wie Soziologie und Psychologie eine große Rolle spielt. Sie tritt, grob unterschieden, in zwei Spielarten auf: (a) empirisch-analytischen, auf Hypothesenüberprüfung und Generalisierung zielenden »cross-cultural studies« von Strukturen und Verhaltensweisen und (b) einem verstehend, zuweilen dabei auch ungeregelt-impressionistisch vorgehenden Vergleich besonderer Symbolisierungen und Sinngebungen (etwa der Auffassungen von Person und »self« in unterschiedlichen Kulturen).46 Der Kulturvergleich, ganz allgemein gesagt, fragt nach relativ konstanten bzw. sich allenfalls langfristig und allmählich verändernden Grundstrukturen einer Zivilisation; er ist holistisch und insofern »ahistorisch«, als er Unterschiede zwischen Zivilisationen eher in verhaltensleitenden patterns als in Prozeßverläufen oder in Entwicklungspfaden sucht.47 Die Grundmuster werden nicht in den Bereichen von Produktion, sozialer Hierarchie und politischer Herrschaft entdeckt, sondern in Mentalitäten und Weltbildern, in Persönlichkeitsstrukturen und Sozialisationsformen.48 Ein Bezug zur politischen und sozialökonomischen »Real«-Geschichte wird gar nicht oder auf reduktionistische Weise hergestellt. Da der Kulturvergleich oft beansprucht, zum »Wesen« einer Zivilisation vorzudringen, neigt er dazu, ein Totalvergleich mit umfassendem Erklärungsanspruch zu sein. Der historische Zivilisationsvergleich nimmt Elemente des Kulturvergleichs in sich auf, ist aber im Kern ein Vergleich von Institutionen, sozialen Rollen und ihren Anordnungen in sozialen Räumen, gesehen im Modus der dokumentierbaren Veränderung in der Zeit. Trotz der Abgrenzung zwischen Kultur- und Zivilisationsvergleich bleibt die Frage nach dem Verhältnis von »Gesellschaft« und »Kultur« innerhalb einer

Kürze heraus: S. N. Eisenstadt, Culture and Social Structure in Recent Sociological Analysis, in: H. Haferkamp (Hg.), Social Structure and Culture, Berlin 1989, S. 5–11. 46 Ein attraktives Beispiel für diese Richtung ist S. Shimada, Grenzgänge – Fremdgänge. Japan und Europa im Kulturvergleich, Frankfurt a.M. 1994. Selbst nicht vergleichend angelegt, aber eindrucksvoll als Versuch, chinesische »patterns of culture« zu beschreiben und für einen Vergleich aufzubereiten, ist Sun Longji, Das ummauerte Ich. Die Tiefenstruktur der chinesischen Mentalität, hg. v. H. Kühner, Leipzig 1994. Die Vielfalt der Ansätze, die sich heute unter dem Dach des Kulturvergleichs sammeln, veranschaulicht J. Matthes (Hg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen 1992. 47 Ein über die ethnologische Fachwelt hinaus ungemein einflußreiches Buch, das diese Denkweise entwickelt, war R. Benedict, Patterns of Culture, Boston 1934. Die Anwendung des Konzepts of Japan – R. Benedict, The Chrysanthemum and the Sword, Boston 1946 – prägte maßgeblich die Japanstudien der Nachkriegszeit. 48 Shimada etwa vergleicht Europa und Japan nach den drei Gesichtspunkten des jeweiligen Verhältnisses zur Zeit, zum Raum und zum Körper.

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transzivilisatorischen Komparatistik weiterhin bestehen. Denn der Zivilisationsvergleich kann sich noch weniger als die etablierte Sozialgeschichte mit einem strukturell-objektiven Gesellschaftsbegriff begnügen. Das Minimum an kultureller Neutralität markiert eine Untersuchung, die der Japanologe und Historiker Bernard Silberman vorgelegt hat.49 In einem partial, synchron, symmetrisch und gemischt divergent/konvergent vorgehenden Institutionenvergleich untersucht er die Entstehung moderner Staatsverwaltungen in Frankreich, Großbritannien, den USA und Japan während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Silberman verwendet ein Challenge-response-Modell, das bei den Eliten aller vier untersuchten Länder ähnliche rationale Reaktionen auf ähnliche Herausforderungen annimmt. Er fragt konvergent nach den Ursachen und Umständen der Herausbildung einer »administrative role« im Sinne von Max Webers legal-rationaler Bürokratisierung. Die Antwort fällt divergent aus: Es gibt unterschiedliche Pfade solcher Bürokratisierung, und der Weg dorthin verlief in Großbritannien und den USA einerseits, in Frankreich und Japan andererseits verhältnismäßig ähnlich. Japan wird in dieser Untersuchung in keiner Weise exotisiert; eines ihrer Ergebnisse besteht darin, daß sich Webers Idealtyp der legal-rationalen Verwaltung bei keinem der vier Fälle so deutlich ausprägte wie in Japan.50 Nirgends bemüht Silberman als Explanans spezifisch japanische patterns of culture, mentalités oder Traditionen; er begrenzt seine elegante Analyse auf formale Organisationssoziologie und die Darstellung strategischen Elitehandelns unter Bedingungen von Unsicherheiten in der jeweiligen politischen Umwelt. Silbermans Analyse erreicht jedoch den Punkt, wo er vermuten muß, daß die enorme Effizienz der höheren japanischen Staatsbürokratie letztlich ohne die Berücksichtigung informeller »old boys networks« und der von diesen getragenen spezifisch japanischen Dienstethik nicht verstanden werden kann. Den Schritt zu einer solchen »kulturellen« Ergänzung tut Silberman aber nicht. Sein Buch ist ein Beispiel dafür, wie weit ein »kulturloser« Zivilisationsvergleich vorangetrieben werden kann und wo dann doch seine Grenzen liegen. So weit wie Silberman wird man sich in der Regel jedoch nicht vom Kulturellen entfernen. Es kommt beim Zivilisationsvergleich im allgemeinen dort ins Spiel, wo Strukturen von den sie gestaltenden und ausfüllenden Menschen spezifische Bedeutungen und Valenzen beigemessen werden. »Kultur« macht sich also hier als ein partikularisierendes, ein gewissermaßen lokalisierendes Moment bemerkbar. Zwei Beispiele mögen zeigen, in welcher Weise es in der Arbeit des vergleichenden Historikers auftritt. Zunächst ein Beispiel aus der Vormoderne: Louis XIV. und seine Zeitgenossen, der Kaiser von China, der 49 B. S. Silberman, Cages of Reason: The Rise of the Rational State in France, Japan, the United States and Great Britain, Chicago 1993. 50 Ebd., S. 221.

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König von Siam und der Schah von Persien waren allesamt absolute Monarchen mit im großen und ganzen analogen politischen und zeremoniellen Funktionen im Rahmen einer »höfischen Gesellschaft«, wie sie Norbert Elias idealtypisch modelliert hat. Hinter ihnen standen aber vier völlig verschiedene Theorien der Herrschaftslegitimation und vier unterschiedliche politische Idiome, in denen diese ausgedrückt wurden: die absolutistische Staatsauffassung, das konfuzianische Konzept des »Mandats des Himmels«, die Theologie des buddhistischen Gottkönigtums und das veralltäglichte Charisma des shi’itischen »Schatten Gottes auf Erden«. Ein zweites Beispiel mag moderne Sozialhistoriker unmittelbarer ansprechen:51 In China formierte sich während der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine Intelligenzschicht, die Kennern der Sozialgeschichte europäischer Intellektueller phänotypisch keineswegs exotisch vorkommen dürfte, ohne daß sie als schlichte Kopie westlicher Vorbilder gedeutet werden kann. Der kulturelle Kontext, in dem sie entstand, war aber ein spezifisch chinesischer: einerseits der zerfallende Staatskonfuzianismus, von dem aber Rollenerwartungen an die elitäre Führerschaft der Gebildeten übrigblieben, andererseits eine direkt rezipierte oder auf dem Umweg über Japan gefiltert vermittelte euro-amerikanische Moderne, die jedoch nicht mit all ihren Inhalten und Werten übernommen, sondern in eine Waffe des anti-westlichen und anti-japanischen Nationalismus umgeschmiedet wurde. Die quasi-universale Rolle des »modernen Intellektuellen« verband sich mit raum-zeitlich spezifischen politischen und kulturellen Konnotationen. Ein komparatives Forschungsprogramm würde im Zivilisationsvergleich die Herausbildung einer Intelligentsia und der mit ihr verbundenen Formen von Öffentlichkeit in, zum Beispiel, Frankreich, Deutschland, Rußland, der Türkei, Indien, China und Westafrika studieren und dabei die Fälle mit einem einheitlichen Frageraster vergleichbar machen, ohne die jeweils »kulturellen« Besonderheiten und Färbungen auf rein »strukturelle« Zusammenhänge hin zu nivellieren.52 Jede der acht Alternativen muß in der Praxis des Zivilisationsvergleichs individuell entschieden werden. Solche Entscheidungen werden bestimmt von vorempirischen philosophischen Vorlieben, vom jeweiligen Untersuchungszweck und von den praktischen Voraussetzungen der Durchführung eines Vergleichs. Es gibt kein eindeutig ermittelbares methodisches Optimum. Dennoch plädiert dieses Kapitel

51 Vgl. J. Osterhammel, Die erste chinesische Kulturrevolution. Intellektuelle in der Neuorientierung, in: Ders. (Hg.), Asien in der Neuzeit, S. 125–142. 52 Der Anschluß an innereuropäische Forschungsprogramme ließe sich durchaus gewinnen. Vgl. als möglichen Ausgangspunkt C. Charle, Historischer Vergleich der Intellektuellen in Europa. Einige methodische Fragen und Forschungsvorschläge, in: Kaelble u. Schriewer (Hg.), Diskurse und Entwicklungspfade, S. 377–400.

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– für einen Zivilisationsvergleich, der mehr als die heute industriegesellschaftlich entwickelten überseeischen Länder erfaßt; – der (im Sinne der generell berechtigten Maxime von der »Einheit der neueren Geschichte«)53 zeitlich in der Frühen Neuzeit einsetzt; – der den Strukturvergleich durch eine weit über die herkömmlichen Interessen von Kolonialismus- und Imperialismusforschung hinausführende interkulturelle Beziehungsgeschichte ergänzt; – der partial und perspektisch angelegt ist und bei allem Respekt vor den großen Entwürfen der historischen Soziologie eine empirienahe Bescheidenheit bevorzugt; – der symmetrisch vorgeht, aber den gelegentlichen Sinn einer asymmetrischen Argumentationsweise nicht abstreitet; – der sich die Chancen sowohl von konvergenter Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den Zivilisationen als auch von einem divergenten Interesse für »Sonderwege« offenhält; – der sich schließlich von einem ahistorischen, primär anthropologisch aufgefaßten »Kulturvergleich« unterscheidet, jedoch die Frage nach spezifischen individuellen wie kollektiven Sinngebungen, gewissermaßen nach dem kulturellen Lokalkolorit, als unentbehrliche Ergänzung einer Untersuchung gesellschaftlicher Strukturen ständig berücksichtigt. Es versteht sich von selbst, daß diese Art des Vergleichens nur ausnahmsweise eine Aufgabe für einzelne sein kann; nahezu niemand vermag mit wissenschaftlichem Gewicht über mehr als zwei Zivilisationen zu sprechen. Der Zivilisationsvergleich verlangt daher die Zusammenführung verstreuter Kompetenzen unter wohldurchdachten Vorgaben. Diese Vorgaben werden nicht immer die gewohnten Fragen der innereuropäischen oder atlantischen Komparatistik »in der Erweiterung« sein können.

Nachbemerkung (1999) über die Grenzen der Anthropologie und die Herausforderungen der Semantik In grundsätzlichen Stellungnahmen zu Wünschbarkeit, Logik und Methodik des historischen Zivilisationsvergleichs ist ein zentraler Punkt, der ihn von den eher bekannten und gebräuchlichen Vergleichen zwischen modernen Industriegesellschaften (dem »OECD-Vergleich«) unterscheidet, wenig beachtet worden: die Frage der Begrifflichkeit. Das verwundert angesichts des vielbe53 Vgl. P. Nolte, Gibt es noch eine Einheit der Neueren Geschichte?, in: ZHF, Jg. 24, 1997, S. 377–399.

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schworenen »linguistic turn«, ist aber auch erklärlich. Denn das Problem einer angemessenen Beschreibungssprache stellt sich kaum für Makrohistoriker und historische Soziologen, die allein auf der Grundlage westlicher Sekundärliteratur arbeiten, also mit terminologisch bereits gefilterten Aussagen. Um so wichtiger ist es für diejenigen, die mit Quellen und Forschungsliteratur in außereuropäischen Sprachen umgehen, denen also der Eigensinn fremder Zivilisationen so deutlich bewußt ist, wie nur Philologie und ethnologische Feldforschung ihn machen können. Einfach gesagt handelt es sich um den Unterschied zwischen Büchern mit und ohne Glossar. Wie beschreibe ich eine Gesellschaft, auf die die Sozialnomenklatur des neuzeitlichen Europa – die der Stände, Klassen und Milieus – nicht ohne weiteres paßt, die in der Regel sogar über eine komplexe Selbstbeschreibung verfügt? Eine mögliche Antwort lautet: Man setze eine »ethnologische Brille« auf, stelle sich fremd wie der sprichwörtliche »Missionar im Ruderboot« und beschreibe die beobachtete »andere« Gesellschaft etwa mit der formalen und traditionslosen Terminologie von »kinship systems«. Dies wäre die heute etwas an den Rand gedrängte britisch-sozialanthropologische Lösung. Sie ignoriert weitgehend die Selbstbeschreibung der anderen Gesellschaft und ist im Falle von Schriftkulturen überhaupt wenig brauchbar. Populärer ist heute die amerikanisch-kulturanthropologische oder auch interpretativ-hermeneutische Variante: Man verzichte auf eine strukturelle Beschreibung, nähere sich dem Fremden durch eine terminologisch bewußt unbestimmt gehaltene Paraphrase von Sinngehalten und Symbolisierungen. In solcher »dichten Beschreibung« ersetzt das ästhetisch inspirierte Umkreisen des Gegenstandes seine begriffliche Fixierung. Das Prokrustesbett westlicher soziologischer oder ethnologischer Kategorien wird vermieden. Die Selbstbeschreibungen der anderen Gesellschaft werden gewürdigt, allerdings primär aus beobachteten Praktiken und Verhaltensweisen rekonstruiert und nur sekundär durch Textauslegung gewonnen.54 Im Ergebnis entsteht das Bild eines in sich geschlossenen Sinnkosmos, der sich jedem Vergleich verweigert. Für die Sozialgeschichte neuzeitlicher asiatischer Gesellschaften ist diese Art der Anthropologisierung nur begrenzt brauchbar. Keineswegs ist alles Asiatische prinzipiell und substantiell »fremd« und verlangt Erkenntnisweisen, die eher der Völkerkunde als der Geschichtswissenschaft entlehnt sind. Außereuropäische Geschichte geht nicht auf in Historischer Anthropologie. Ein Beispiel mag dies illustrieren: Kulturanthropologie kann helfen zu verstehen, was in nordchinesischen Bauernburschen vorging, die sich im Sommer 1899 plötzlich in Faustkampfgruppen organisierten, Unverwundbarkeitsrituale prak54 Ein methodisch nicht unproblematisches, da historisch unspezifisches Beispiel für die Kombination beider Verfahren ist C. Geertz, Negara: The Theatre State in Nineteenth-Century Bali, Princeton 1980.

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tizierten und dann ihre christlichen Nachbarn sowie ausländische Missionare massakrierten. Sie kann Plakate und Spruchbänder dieser Yihetuan-Rebellen, Beschreibungen durch Augenzeugen, Polizeiprotokolle über Verhöre gefangener Rebellen und später erhobenes »Oral tradition«-Material benutzen, um das magische Weltbild dieser Menschen, seinen religionsgeschichtlichen Hintergrund, Feindbilder und ihre Symbolisierungen, Ängste und Gewaltphantasien zu beschreiben und zu verstehen.55 Schon um zu erklären, weshalb diese im Westen so genannten »Boxer« zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Region sich zu einer schlagkräftigen Bewegung formieren, eine Massenanhängerschaft sowie die Unterstützung der lokalen Obrigkeit finden konnten, bedarf es aber durchaus nicht-anthropologischer Einsichten in die Kombination von Wirtschaftskrise und ökologischer Katastrophe, von der die nordchinesischen Provinzen Shandong und Hebei in den späten neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts heimgesucht wurden.56 Oder ein anderes Beispiel für den kombinatorischen Eklektizismus, der immer wieder nötig ist, abermals der Praxis des Chinahistorikers entnommen: Die Landbevölkerung Südchinas, des reichsten und am höchsten kommerzialisierten Teils des Landes, war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts weithin in schichtenübergreifenden Klans (»lineages«) organisiert, die ganze Dörfer und bis zu zweitausend Personen umfassen konnten – eine Sozialform, die in Nordchina und in übrigens auch Japan, einem Land der dominanten Kernfamilie, kaum eine Rolle spielt. Grundherren und Pachtbauern, zwischen denen die marxistische Sozialgeschichtsschreibung nicht zu Unrecht Ausbeutungsbeziehungen vermutet, waren in Südchina oft Mitglieder ein und derselben Abstammungsgemeinschaft. Um das innere Funktionieren solcher Klans und ähnlicher Vergemeinschaftungsformen zu begreifen, muß man sie sozialanthropologisch analysieren; das ist vielfach geschehen.57 Um aber zu begreifen, wie ein Grundherr oder Pächter auf dem Markt agiert, wird man auf gewisse Annahmen über optimierendes Wirtschaftshandeln zurückgreifen müssen. Der reine anthropologische Blick kann den Klan als Ensemble wirtschaftender Haushalte nur schwer erfassen. Eine ausschließlich klassenbezogene oder eine verabsolutierte Rational-Choice-Perspektive hingegen können nicht erklären, weshalb sich die ärmere Landbevölkerung Südchinas den Klanführern, also ihren Ausbeutern oder Marktkontrahenten, unterordnete und der agrarrevolutionären Agitation der Kommunistischen Partei Chinas, die ja an ihre »wahren« Interessen zu appellieren glaubte, während der Revolutionsperiode (zwanziger bis vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts) außerordentliche Widerstände entgegensetzte. 55 Vgl. P. A. Cohen, History in Three Keys: The Boxers as Event, Experience, and Myth, New York 1997, S. 59ff. 56 So der Ansatz bei J. W. Esherick, The Origins of the Boxer Uprising, Berkeley 1987. 57 Vgl. etwa D. Faure u. H. F. Siu (Hg.), Down to Earth: The Territorial Bond in South China, Stanford 1995.

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Eine anthropologische Zugangsweise ist auch deswegen nur begrenzt brauchbar, weil Asienhistoriker es nicht mit schriftlosen Gesellschaften zu tun haben, sondern mit solchen, die komplexe Selbstdeutungen, Begrifflichkeiten und normativ verbindliche Gesellschaftsbilder entwickelt haben. Es treffen hier zwei Klassifikationen aufeinander: die indigene und die von außen herangetragene, die Selbstbeschreibung der historischen Subjekte und die Fremdbeschreibung durch die Wissenschaft. Das Problem ist in seiner Grundstruktur aus der Alten Geschichte, der Mediävistik und der Geschichtsschreibung zur Frühen Neuzeit wohlbekannt; es ist vielleicht sogar deren Kernproblem. Beim Zivilisationsvergleich treffen wir es auch dann an, wenn synchron verglichen wird. Historiker Asiens im 19. und 20. Jahrhundert – wenn sie sich nicht mit der Paraphrase von Selbstbeschreibungen begnügen – stehen also vor semantischen Herausforderungen, die Historikern des modernen, des industriegesellschaftlichen Europa fern liegen.58 Entwirft man eine einfache Typologie der Begriffsbildung, dann kann man vier semantische Möglichkeiten unterscheiden. Erstens: die stabilisierte Selbstbeschreibung. In einigen Fällen hat die internationale Geschichtswissenschaft die einheimische Terminologie übernommen. Ein Samurai ist ein Angehöriger des im frühen 17. Jahrhundert vom Landbesitz getrennten und in Vasallenverhältnissen an Territorialherren gebundenen stadtsässigen niederen Schwertadels in Japan. Die zeitgenössische japanische Kategorie hat sich als sozialgeschichtliche Benennung konkurrenzlos bewährt. Man spricht von »samurai class«, nicht etwa von »Japanese aristocracy«. Das scharfe Abgrenzungs- und Hierarchiebewußtsein in der frühneuzeitlichen japanischen Ständegesellschaft, anders gesagt: eine deutlich artikulierte Eigentheorie, hat eine solche Präzision ermöglicht. Man darf dabei nicht übersehen, daß der Begriff Samurai bei aller Exotik dennoch von den ersten europäischen Besuchern Japans bis zum heutigen Tage vertraute Assoziationen an europäisches Rittertum weckt. Auch das machte ihn semantisch kommensurabel. Zweitens: die europäische Projektion. Die chinesische Gesellschaft des 17. bis 19. Jahrhunderts war bei weitem weniger rigide geordnet als die japanische. Ständeschranken waren schwächer ausgeprägt, Geburtsprivilegien geringer entwikkelt als im zeitgenössischen Japan oder Kontinentaleuropa. Es gab keinen Erbadel. Die Bauern waren nicht an den Boden gebunden und nur schwach mit außerökonomischen Pflichten belastet; sofern sie nicht ihr eigenes Land kultivierten, standen sie in kontraktuellen Pachtbeziehungen zu Grundbesitzern. Realerbteilung verhinderte auf allen gesellschaftlichen Ebenen die Akkumulation von Landeigentum über mehrere Generationen hinweg. Ober58 Vgl. auch ähnliche Überlegungen zur Afrikaforschung bei L. Harding, Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 129–142.

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schichtstatus beruhte teils auf Grundbesitz, teils auf dem Erfolg der männlichen Familienmitglieder in den alle drei Jahre veranstalteten kompetitiven Staatsprüfungen, durch welche Sozialprestige zugeteilt und die Beamtenschaft der zentralen Bürokratie rekrutiert wurde. Blieb solcher Examenserfolg aus, ließ sich der Status der Familie auf Dauer nicht halten. Kaufleute wurden in der offiziellen konfuzianischen Gesellschaftslehre zwar verachtet. Gelang es ihnen aber, durch sorgfältige Erziehung einem Sohn zu Prüfungslorbeeren zu verhelfen, war der Makel getilgt; auch spielte Titelkauf eine immer größere Rolle. Die vertikale Mobilität war also im spätkaiserlichen China bei weitem höher als in Japan am Vorabend seiner berühmten »Revolution von oben«, der Meiji-Restauration, die 1868 begann. Eine solch fluide gesellschaftliche Situation hat nicht-chinesischen Beobachtern beträchtliche Probleme bereitet.59 Sie spiegelten sich in der Terminologie, die verwendet wurde und wird, um die chinesische Gesellschaft vor 1949 zu beschreiben. Anders als Japan konnte China nicht mit einem indigenen Stratifikationsmodell dienen. Der vorherrschende Oberschichtentypus, also das ungefähre chinesische Gegenstück zum japanischen Samurai, war der »shenshi«, ein vager Begriff: Wörterbücher übersetzen ihn seit dem 19. Jahrhundert als »gentleman«, »(member of) the gentry«. Keine Kleiderordnung legte genau fest, wer ein »shenshi« war: in der Regel ein Notabler, der im lokalen Umfeld Ansehen genoß, der ein gebildeter Mann war und dies möglichst durch Erringung mindestens des untersten der neun Prüfungsgrade unter Beweis gestellt hatte, der schließlich wohlhabend genug war, um nicht von seiner Hände Arbeit leben zu müssen (er mochte aber vielleicht ein Dorfschullehrer sein). Größere Genauigkeit ist den chinesischen Quellen nicht abzugewinnen. Die westliche Chinaforschung hat daher den Ausdruck »shenshi« nicht so übernommen, wie die Japanhistorie den Samurai eingemeindet hat. Sie hat ihn mit »gentry« übersetzt und damit die Pandorabüchse interkultureller Assoziationen geöffnet. Denn die chinesische Gentry hat natürlich nur manches mit dem niederen englischen Landadel gemeinsam und vieles andere wiederum nicht.60 Nun hat man neuerdings herausgefunden, daß es seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Städten des Landesinneren zu einer solch umfassenden Annäherung zwischen Gentry und Kaufmannschaft kam, daß eine analytische Trennung kaum mehr möglich ist. Chinesische Historiker sprechen seit kurzem von einer »shen-shang«, d.h. einer Gentry-Kaufmanns-Klasse oder 59 Vgl. G. Blue, China and Western Social Thought in the Modern Period, in: Ders. u. T. Brook (Hg.), China and Historical Capitalism, Cambridge 1999, S. 57–109; sowie (auch zur begrifflichen Erfassung anderer Gesellschaften Asiens durch die Protosoziologie der Frühen Neuzeit) J. Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, Kap. 11. 60 Klassisch: Chang Chung-li, The Chinese Gentry: Studies on Their Role in Nineteenth-Century Chinese Society, Seattle 1955.

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-Schicht, westliche Historiker haben sich auf die formale Bezeichnung »local elite« festgelegt.61 Genauere Erforschung der Verhältnisse hat hier also zu einer begrifflichen Abrüstung geführt. Weder die Selbstbezeichnung (»shenshi«), noch der Begriffsimport (»gentry«) halfen weiter. Auf Umwegen ist man bei einer Art von »thick description« angekommen, denn man muß nun von Fall zu Fall neu beschreiben, wer und was die »Lokalelite« jeweils war. Drittens: das Konstrukt – eine Variante der zweiten Strategie. Ein gutes Beispiel dafür ist der auf Indien bezogene Begriff der »Kaste«, eine religiös-ethnologisch-soziographische Mischkategorie, an deren Geschichte sich nahezu die gesamte Entwicklung der europäischen Asienauffassung zeigen läßt. »Kaste« hat, anders als »Samurai« oder »shenshi« keine indigene Etymologie und ist keine direkte Übersetzung eines indischen Begriffs. Es stammt vom portugiesischen »casta«: Art, Rasse. Anders als »gentry«, wurde es aber in der Bedeutung »endogame, streng abgeschlossene Menschengruppe« nicht zunächst auf europäische Verhältnisse angewandt und dann auf Asien projiziert, sondern unmittelbar als Bezeichnung für ein Phänomen geprägt, das man als charakteristisch für Indien ansah. Der Kastenbegriff kann insofern als außer-indisches Konstrukt verstanden werden, als er ein Bündel von Praktiken und Doktrinen verallgemeinernd zusammenfaßt, die in der indischen Selbstbeschreibung nicht als substantielle Einheit aufgefaßt wurden. Im 19. Jahrhundert hat das Kastenkonzept dann allerdings auf die indische Selbstauffassung zurückgewirkt. Dadurch, daß die britische Kolonialmacht z.T. durch ihre Politik zur Stabilisierung der angeblich urtümlichen Kasten beitrug, entstand sogar so etwa wie eine erfundene Tradition.62 Viertens: die Universalie. Der Samurai-Status und die ihm korrespondierende Realität wurden in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts schrittweise beseitigt; die chinesischen Staatsprüfungen, die den »shenshi« Prestige und manchmal auch ein Amt verschafften, gab es nur bis 1905, eine Lokalelite im Sinne des erweiterten Begriffs einer Gentry-Kaufmanns-Schicht existierte weiter bis zu ihrer Zerstörung durch die kommunistische Revolution zwischen 1946 und 1952. Die Geschichte musealisiert manche ihrer Begriffe. Andere entwickeln sich zu Universalien: In allen drei asiatischen Ländern finden sich spätestens

61 Vgl. etwa Wang Xianming, Zhongguo jindai shenshi jieceng de shehui liudong [Die soziale Mobilität der Gentryschicht im neuzeitlichen China], in: Lishi Yanjiu [Historische Forschung], H. 2, 1993, S. 88; J. W. Esherick u. M. B. Rankin (Hg.), Chinese Local Elites and Patterns of Dominance, Berkeley 1990. 62 Vgl. zusammenfassend zur Problematik der Kategorie »Kaste«: M. Fuchs, Kampf um Differenz. Repräsentation, Subjektivität und soziale Bewegungen. Das Beispiel Indien, Frankfurt a.M. 1999, S. 52–54; G. Dharampal-Frick, Shifting Categories in the Discourse on Caste: Some Historical Observations, in: V. Dalmia u. H. v. Stietencron (Hg.), Representing Hinduism: The Construction of Religious Traditions and National Identity, Delhi 1995, S. 82–100; S. Bayly, Caste, Society and Politics in India from the Eighteenth Century to the Modern Age, Cambridge 1999, S. 97ff.

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um 1920 in soziologisch signifikanter Zahl Industrielle und Bankiers, Advokaten und Universitätsprofessoren – also »Bürger« in Gesellschaften, die insgesamt (noch) keine »bürgerlichen« sind. Im Unterschied zur chinesischen Gentry der Vormoderne ist hier nicht bloß der Name importiert, sondern teilweise auch die Sache selbst. Die asiatischen Bourgeoisien entstehen aus dem Zusammentreffen endogener Prozesse mit den Kräften der Verwestlichung, die – in dieser Reihenfolge – im 19. Jahrhundert Indien, Japan und China erfassen. Sie sind keine Kopien europäischer Vorbilder, aber doch deren generische Verwandte. Heute hat Indien eine städtische »middle-class« von mehr als zweihundert Millionen Menschen, China ist auf dem Wege zu ähnlichen Verhältnissen. Über Japan muß nichts gesagt werden; die japanische »middle class« ist jedem Besucher eines europäischen Touristenzentrums begegnet. Für diese modernen gesellschaftlichen Erscheinungen gibt es keine indigenen Selbstbeschreibungen, die völlig ohne Zusammenhang mit westlichen Konzepten entstanden wären. In China zum Beispiel wurde der klassische Begriff »shang«, der private Geschäftsleute aller Art umfaßte, zunächst so weit ausgedehnt, daß auch die sozialen Neubildungen der Jahrhundertwende eingeschlossen wurden. In den zwanziger Jahren verbreitete sich dann der (wie so viele westliche Begriffe) über Japan importierte marxistische Ausdruck »Kapitalistenklasse« (»gongchan jieji«), während nicht-marxistische Autoren – und bis heute selbstverständlich die taiwanesischen Historiker – von »zhongchan jieji« sprachen und sprechen: ein Ausdruck der den Bestandteil »zhong« (Mitte) enthält und etwa die Konnotationen von »Mittelstand« besitzt. Westliche Historiker bevorzugen inzwischen den Begriff »Bourgeoisie«.63 Zweifellos eröffnen sich hier mannigfache Chancen für eine Erweiterung der vergleichenden Bürgertumsforschung. Der Einwand, den man dagegen gelegentlich hört, westeuropäische Begriffe von Bürgertum und Bürgerlichkeit ließen sich »nicht in andere (osteuropäische, ostasiatsche, lateinamerikanische, usw.) Kontexte übertragen«, ist nicht besonders intelligent. Denn es gibt in vielen Fällen überhaupt keine anderen Beschreibungssemantiken mehr. Die europäischen Konzepte sind bereits übertragen worden. Historiker können daran nichts ändern, aber sie finden hier eine schöne Anwendungsmöglichkeit für »the linguistic turn«.

63 So das Standardwerk M.-C. Bergère, L’âge d’or de la bourgeoisie chinoise 1911–1937, Paris 1986.

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3. Differenzwahrnehmungen. Europäisch-asiatische Gesichtspunkte zur Neuzeit

I. Sucht man im 20. Jahrhundert eine Periode europäischer Windstille, dann wird man sie am ehesten in den siebziger Jahren finden, der Zeit zwischen dem Abklingen der studentischen Protestbewegungen in West- und dem Beginn der Endkrise des Staatssozialismus in Osteuropa, den man auf den Streik der Danziger Werftarbeiter im Jahre 1980 datieren kann. Niemals war Europa sich selbst – genauer: seinen meinungsbildenden Eliten – selbstverständlicher als in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts: ein neo-karolingisches Kerneuropa mit britannischen und mediterranen Erweiterungen,1 im Innern – bis auf Nordirland – befriedet, jenseits von Parteiorientierungen auf einen wohlfahrtsstaatlichen Konsens verpflichtet, seit dem Ende der iberischen Diktaturen 1974/75 und des kurzlebigen griechischen Militärregimes (1967–74) eine Sphäre von Rechtsstaatlichkeit und parlamentarischer Demokratie. Arbeitswelten und Konsumverhalten in den verschiedenen Ländern glichen sich immer mehr an. Die rasche wirtschaftliche Entwicklung in Südeuropa verringerte das Einkommensgefälle zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern des Kontinents und vergrößerte zugleich die Kluft zwischen dem nördlichen und dem südlich-islamischen Rand des Mittelmeeres. Die Immigration nach Europa ließ seit 1973 vorübergehend nach; Überfremdungsängste und das Thema innerer Multikulturalität lagen noch in der Zukunft.2 Zum ersten Mal in der Geschichte waren die Außengrenzen Europas eindeutig bestimmt. Der Eiserne Vorhang schien – zwischen Kubakrise und dem Raketenhazard der achtziger Jahre – durch die Fähigkeit und Bereitschaft beider Supermächte zum nuklearen Zweitschlag verläßlich stabilisiert zu sein. Zugleich trug seit 1975 der Helsinki-Prozeß durch eine Art von behutsamem legalistischem Gradualismus zur Abschwächung starrer Verfeindungen zwischen den weiterbestehenden Blöcken auf dem Kontinent bei. Die kulturellen Gren-

1 Von »a neo-Carolingian construct« spricht J. G. A. Pocock, Deconstructing Europe, in: HEI, Jg. 18, 1994, S. 333. 2 Vgl. R. Münz, Europa und die großen Wanderungen des 20. Jahrhunderts, in: H. Münkler (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, S. 255–315, hier S. 267f.

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zen Europas deckten sich nun mit seinen geographischen, den Küsten des westlichen Eurasien. Die siebziger Jahre waren das erste post-imperiale Jahrzehnt in der europäischen Geschichte seit der Eroberung Mexikos. Frankreich trennte sich 1962 nach einem Krieg, der eine halbe Million Tote gefordert hatte, von den algerischen Departements der Republik und holte zwei Millionen weiße Siedler ins Hexagon zurück.3 Spanien erkannte, daß Außenpolitik mehr sein müsse als die Pflege atlantischer Nostalgien. Portugal erwachte durch eine Revolution, die in Afrika begann und Afrika bald verloren gab, aus jahrhundertealten ozeanischen Träumen. Premierminister Harold Wilson hatte noch 1965 verkündet, Großbritanniens Grenzen lägen im Himalaya.4 Zwei Jahre später trieb eine Sterlingkrise das Vereinigte Königreich an den Rand des finanziellen Zusammenbruchs. Die Weltmacht auf tönernen Füßen sah ihr Heil in resoluter Europäisierung. Vom British Empire, dem umfassendsten politischen Verband der Weltgeschichte, blieben das Commonwealth als Gefühlsgemeinschaft selbstbewußter Nationalstaaten5 und die Enttäuschung von Loyalisten wie der weißen Bevölkerung Neuseelands, die sich nach dem Beitritt des Mutterlandes zur Europäischen Gemeinschaft von kulturell anhänglichen Neu-Britanniern zur bindungslosen Einwohnerschaft zweier beliebiger pazifischer Inseln herabgestuft sah.6 Kurz: Alle imperialen Sonderwege mündeten in den siebziger Jahren in eine auf Brüssel zuströmende kleineuropäische Normalität. Der politischen entsprach eine mentale Kontraktion Europas. Gewiß, die europäischen Intellektuellen, angeführt von Jean-Paul Sartre, entdeckten in den sechziger Jahren die Dritte Welt. Aber deren Befreiungskämpfe lagen nach dem Ende des Algerienkrieges in weiter Ferne. Um die Mitte des folgenden Jahrzehnts siegten die Vietnamesen über die USA und in China farblose Kader über die bizarren Spätmaoisten der sogenannten Viererbande. Das Thema Dritte Welt trat politisch in den Hintergrund und wurde Ökonomen und Wohltätern überlassen. In den sechziger und siebziger Jahren glaubte man an die Große Harmonie: je nach Geschmack an Ausbreitung und Sieg der Weltrevolution, an Empormodernisierung der Entwicklungsländer unter wohlwollender westlicher Anlei-

3 Opfer des Algerienkrieges nach B. Stora, Histoire de la guerre d’Algérie (1954–1962), Paris 1995, S. 91. Die Re-Migration von Kolonisten aus den Ex-Kolonien war ein nicht unwichtiger Aspekt der europäischen Sozialgeschichte der Nachkriegszeit. Vgl. J.-L. Miège u. C. Dubois (Hg.), L’Europe retrouvée: Les migrations de la décolonisation, Paris 1994. 4 Zit. nach R. Holland, The Pursuit of Greatness: Britain and the World Role, 1900–1970, London 1991, S. 320. 5 Pointiert formuliert: »«Commonwealth», which began as a synonym for Empire, came to signify its antithesis.« W. D. McIntyre, Commonwealth Legacy, in: Wm. R. Louis (Hg.), The Oxford History of the British Empire, Bd. 4, Oxford 1999, S. 693–702, hier S. 693. 6 Vgl. J. G. A. Pocock, History and Sovereignty: The Historiographical Response to Europeanization in Two British Cultures, in: JBS, Jg. 31, 1992, S. 361f., 381–386.

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tung oder an die Konvergenz wohlfahrtskapitalistischer und poststalinistischer Industriegesellschaften. All das klingt heute wie die Beschreibung einer versunkenen Welt. In sie brach 1979 die iranische Revolution wie eine archaische Kraft ein. Kein Experte, kein Theoretiker hatte sie kommen sehen. Das Treiben des einen großen Charismatikers der Nachkriegszeit, Mao Zedong, blieb für Europa unverbindlich, eine gigantische Pekingoper, der man zuschaute, solange sich nichts Interessanteres bot. Der Ayatollah Khomeini hingegen, der zweite unbegreifliche Führer und Massenmagnetiseur, setzte den Mittleren Osten in Brand und schien eine abendländische Urangst auszulösen: die vor einer Revolte des nur vorübergehend eingedämmten Islam an der Türschwelle Europas. In den achtziger Jahren zerfiel das vordem einheitliche Bild einer dankbar Almosen empfangenden unterentwickelten Welt in bedrohlich fleißige Ostund Südostasiaten, bedrohlich fanatische Muslime und bedrohlich anarchische Afrikaner. Der Horizont verdüsterte sich. Das Thema des Zusammenstoßes der Kulturen kam auf die Tagesordnung – zuerst in Frankreich, schon vor amerikanischen Globalstrategen wie Samuel Huntington.7 Aus der Revolutionsrhetorik der Tiers-mondistes einerseits, der Benevolenzrhetorik der Entwicklungspolitiker andererseits wurde die Rhetorik des Zivilisations- und – sagen wir es deutlich – oft auch des Rassenkampfes. (Zu wenige fragten und fragen sich, was von Nelson Mandela zu lernen sei.) Jäh endete so die gemütvolle Selbstbezogenheit Europas. Das »Fremde«, kurz zuvor noch, wie es schien, allein in den allerletzten »Wilden« mit größten Mühen völkerkundlich erfahrbar, schien Europa nun zu umzingeln. Es war allgegenwärtig: als Armutsimmigration, als islamische Verschwörung ebenso wie als Versuche anonymer Konzernvorstände in Tokyo, Seoul oder Singapore, sich zu Herren der Globalisierung aufzuschwingen. Was immer von solchen Ängsten zu halten ist: Die Selbstbestimmung Europas, in den siebziger Jahren bloß als Reflexion auf das kleineuropäisch oder allenfalls nordatlantisch Eigene vorstellbar, ist erneut nur möglich, wenn die Differenz zum Nicht-Europäischen mitgedacht wird. Die anderen Entwicklungen seit der Wende zu den achtziger Jahren braucht man kaum anzudeuten. Zwei seien kurz herausgehoben. Ebenfalls 1979, wenn man sie denn datieren möchte, begann mit Margaret Thatchers Amtsantritt die Invasion des Neoliberalismus: Privatisierung traditioneller Staatsaufgaben, Deregulierung von Arbeits- und Kapitalmärkten, Zähmung der Gewerkschaftsmacht, Rhetorik von Leistung und Untergang. Diese Invasion, die gesamteuropäisch und selbstverständlich weltweit bis heute fortschreitet, von politisch unkontrollierbaren Technologien getragen, untergräbt herkömmliche Souveränitäten und Verantwortlichkeiten, perforiert nationale Grenzen und 7 Etwa bei J.-C. Rufin, L’empire et les nouveaux barbares: Rupture nord-sud, Paris 1991; S. P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996.

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universalisiert Produktion und Konsum medialer Bilder. Sie macht es immer schwieriger, das Selbst und das Andere unterscheidend zu bestimmen. Was schon Jean-Jacques Rousseau in seiner Zeit zu erkennen glaubte, tritt ein: die Entprofilierung von Kulturen, Nationen und Lebensformen.8 Eine zweite epochale Entwicklung war die Öffnung der kleineuropäischen Ostgrenze. Dem EU-Europa und seinem amerikanischen Patron fiel damit plötzlich eine klassische Fähigkeit von Imperien zu: die Definitionsmacht über Zugehörigkeit. Das Imperium entscheidet, wer ein Civis Romanus, ein British Citizen oder ein Mitglied von EU und NATO sein darf und wer nicht; es gewährt, verweigert oder entzieht Gunstbeweise und Protektion; es erweitert und befestigt seine Grenzen oder nimmt sie arrondierend zurück. Man denkt zunächst an die »Ost-Erweiterung« des institutionalisierten Abendlandes. Aber es geht auch um die Abgrenzung zwischen Europa und Asien. Seit etwa 1770 versichern alle Geographielehrbücher, diese Grenze sei der Ural.9 Aber damit ist heute wenig anzufangen. Zwischen dem Schwarzen Meer und der chinesischen Grenze sind neue oder vergessene Länder auf der Karte aufgetaucht – darunter auch früh und tief christlich geprägte wie Armenien und Georgien: Länder, die bisher allenfalls im Weltbild von Geostrategen ihren Platz gefunden haben. Daß da und dort ein wiederbelebter Eurasianismus als anti-westlicher Sendungsmythos diese Lücke füllt, verwundert nicht. Er hat in Rußland eine Tradition, die ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht.10 Jedoch ist zwischen einer »eurasisch«-ideologisierenden Betonung ost-westlicher Kulturgegensätze und einer »eurasiatischen« Relativierung solcher Gegensätze durch eine Europa und Asien verklammernde Geschichtsdeutung zu unterscheiden. Im Westen machten sich im späten 20. Jahrhundert Anzeichen einer historischen Interpretation in gesamt-eurasiatischer Perspektive bemerkbar. Ihr großer, erst kaum gewürdigter Vorgänger ist Edward Gibbon, dessen »History of the Decline and Fall of the Roman Empire« (1776–88), das bedeutendste Geschichtswerk der Aufklärung, in seiner zweiten Hälfte den Aufstieg des Islam, das mongolische und timuridische Weltreich und das Ende von Byzanz als ein bikontinentales Megadrama schildert und deutet.11 Eine solche Panoramasicht, während des 19. Jahrhunderts von einer »orientalistischen« Ost-West-Dichotomie verdunkelt, wie sie auch der frühen kulturvergleichen8 J.-J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité, hg. v. H. Meier, Paderborn 1984, S. 324f. 9 Zur wechselnden Festlegung von Europas Ostgrenze vgl. W. H. Parker, Europe: How Far?, in: Geographical Journal, Jg. 126, 1960, S. 278–297. Vorzüglich zur geographischen Umgrenzung Europas allgemein: H.-D. Schultz, Europa als geographisches Konstrukt, Jena 1999 (= Jenaer geographische Manuskripte, Bd. 20). 10 Vgl. M. Hauner, What is Asia to Us? Russia’s Asian Heartland Yesterday and Today, London 1990, S. 38f. 11 London 1776–88; die neueste Gesamtausgabe: Hg. v. D. Womersley, 3 Bde., London 1994.

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den Soziologie nicht fremd war, wurde in der Epoche der beginnenden Dekolonisation von einzelnen Autoren neu angemahnt, zunächst von Islam- und Zentralasienspezialisten wie René Grousset (einem Mitglied des Académie Française), Hans Heinrich Schaeder und Marshall G. S. Hodgson, einem hochbedeutenden Islamwissenschaftler und Universalhistoriker, dessen Schriften erst heute ihre Wirkung zu entfalten beginnen.12 Diese Anreger blieben zunächst ohne nennenswerte Resonanz. Zu Beginn der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat dann der Wirtschaftshistoriker E. L. Jones, vielleicht nicht zufällig von australischer Außensicht her, die alte Frage nach den Ursachen des »europäischen Wunders« und der langen Stagnation Asiens neu gestellt.13 Von Montesquieu über die romantische Völkerpsychologie bis zu Max Weber hatte man die Antwort in tief verwurzelten Wesensmerkmalen von Zivilisationen gesucht, in grundsätzlich unterschiedlichen Kodierungen von Personalität, Religion, Rechtsauffassung, Familienleben und politischer Autorität. Jones schlägt demgegenüber ein nicht-kulturalistisches Erklärungsmodell vor. Europa habe von seiner geographischen Randlage und seiner inneren, den Wettbewerb begünstigenden Kleinräumigkeit profitiert. Und es habe in mancher Hinsicht einfach Glück gehabt: das Glück etwa, anders als die blühende chinesische Song-Dynastie und das Khalifat von Bagdad vom Mongolensturm des 13. Jahrhunderts verschont geblieben zu sein. Der englische Sozialanthropologe und Universalhistoriker Jack Goody ist in den letzten Jahren einen Schritt weitergegangen und hat die kaum je geprüfte Überzeugung von der unvermittelbaren Wesensverschiedenheit Europas und Asiens in Frage gestellt. Familienformen hier und dort unterschieden sich nicht grundsätzlich voneinander, wohl aber von denen Afrikas. Von einem europäischen Monopol zweckrationalen Wirtschaftens könne in vormoderner Zeit keine Rede sein.14 Andere Historiker erläuterten die enge Verwandtschaft zwischen den europäischen Absolutismen der Frühen Neuzeit und den gleichzeitigen politischen und gesellschaftlichen Systemen Asiens vom Osmanischen Reich bis hin zum Japan der Shogune, Ordnungen, die seit Montesquieu unter dem exotisierenden Sonderetikett des »Despotismus« abgelegt worden waren.15 12 Vgl. R. Grousset, Bilan de l’Histoire, Paris 1946, bes. S. 185–266; H. H. Schaeder, Die Perioden der eurasiatischen Geschichte [1960], in: E. Schulin (Hg.), Universalgeschichte, Köln 1974, S. 176–188; M. G. S. Hodgson, Die wechselseitigen Beziehungen von Gesellschaften in der eurasiatischen Geschichte [1962, eine frühere Fassung schon 1954], in: ebd., S. 189–213; Ders., Rethinking World History: Essays on Europe, Islam, and World History, Cambridge 1993. Hodgson starb 1968 im Alter von 48 Jahren. Sein Hauptwerk erschien postum: The Venture of Islam: Conscience and History in a World Civilization, 3 Bde., Chicago 1974. 13 E. L. Jones, The European Miracle: Environments, Economies and Geopolitics in the History of Europe and Asia, Cambridge 1981; Ders., Growth Recurring: Economic Change in World History, Oxford 1988. 14 J. Goody, The East in the West, Cambridge 1996, bes. S. 226ff. 15 Etwa J. A. Goldstone, Revolution and Rebellion in the Early Modern World, Berkeley 1991.

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Die Abgrenzung zwischen Europa und Asien steht also nicht allein politisch, sondern auch anthropologisch und historiographisch erneut zur Debatte. Wenn Jack Goody und Edward Gibbon recht haben und der Gegensatz OrientOkzident eher ein ideologisch belastetes Mißverständnis als eine tragfähige Arbeitshypothese für eine transeuropäische Geschichtsschreibung ist, dann kann die abgrenzende Selbstbestimmung Europas nicht durch die möglichst scharfe Gegenüberstellung montesquieuscher und weberscher Idealtypen und Merkmalsreihen, sondern nur in der Feinabstufung gradueller Abweichungen geschehen. Europa ist dann nicht »das Andere« Asiens (und umgekehrt), wie die Anhänger binär klassifizierender Kulturtheorien uns einreden wollen. Es ist nur ein bißchen anders und muß sich nicht wundern, wenn Asiaten es erfolgreich imitieren und wenn es seinen vorübergehenden Vorsprung mit der Zeit verliert.16

II. Die Frage, was Europas Besonderheit im Konzert oder auf dem Schlachtfeld der Kulturen ausmache, ist seit der Entdeckung Amerikas und der Wiederentdeckung Asiens im 16. Jahrhundert naturgemäß immer wieder als die Frage nach Unterschieden gestellt worden. Man verglich – aber was verglich man? Gelehrte und Intellektuelle mit breitem Überblick, also gründliche Kenner sowohl der Antike als auch der überseeischen Reiseliteratur, dachten und verglichen in einem dreidimensionalen Raum der Bezüge. Seine drei Koordinaten waren das gegenwärtige Europa mit seiner griechisch-römischen Tiefendimension; die Neue Welt, also das, wie man glaubte, geschichtslose Amerika – und später die Südsee – der sogenannten Wilden; und schließlich Asien – die Alte Welt im strengen Sinne: der Mutterkontinent der Künste, der geoffenbarten Religionen und solcher Wissenschaften wie der Astronomie und der Mathematik – ein Erdteil ehrwürdiger, mittlerweile etwas erschöpfter oder gar ein wenig barbarisierter Zivilisationen.

Neuere grundsätzliche Überlegungen sind: R. I. Moore, The Birth of Europe as a Eurasian Phenomenon, in: MAS, Jg. 31, 1997, S. 583–601; V. Lieberman, Transcending East-West-Dichotomies: State and Culture Formation in Six Ostensibly Disparate Areas, in: ebd., S. 463–546; S. Subrahmanyam, Connected Histories: Notes towards a Reconfiguration of Early Modern Eurasia, in: ebd., S. 735–762; diskursanalytisch: S. Shimada, Überlegungen zum Konzept »Asien«, in: S. A. Bahadir (Hg.), Kultur und Region im Zeichen der Globalisierung, Neustadt a.d.A. 2000, S. 155–168; japanische Beiträge referiert: J. Lee, Trade and Economy in Preindustrial East Asia, c. 1500-c. 1800: East Asia in the Age of Global Integration, in: JAS, Jg. 58, 1999, S. 2–26. 16 Diskussionswürdig sind auch die nicht immer sorgfältig belegten und oft übertriebenen Thesen bei A. G. Frank, ReOrient: Global Economy in the Asian Age, Berkeley 1998.

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Hier sei zunächst einiges zur Wahrnehmung Asiens angemerkt; danach wird ein Moment dieser Wahrnehmung herausgegriffen, der heute besondere Aufmerksamkeit verdient: der Übergang zum 19. Jahrhundert. Im letzten Teil des Aufsatzes soll dann die Perspektive gewechselt und die Frage erörtert werden, was die Sicht von Nicht-Europäern zur Selbstbestimmung Europas beigetragen hat und beitragen könnte. Am Beginn des 18. Jahrhunderts, als über die meisten asiatischen Länder bereits wirklichkeitsnahe Reisebeschreibungen vorlagen, sprach noch niemand von einer Überlegenheit Europas über seine Schwesterzivilisationen in Eurasien. Am Anfang der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts hingegen sah fast jeder – außer entschiedenen Rousseauisten – Europa auf einem »vorzüglichen Gipfel der Vervollkommnung«, wie sich Johann Reinhold Forster ausdrückte, ein kosmopolitischer Reisender und vorzüglicher Kenner der Überseeliteratur in allen europäischen Sprachen.17 1785 – noch hatte die Industrialisierung Europa keinen Vorteil gegenüber gewerblich leistungsfähigen Exportökonomien wie Indien und China verschafft – faßte der Geograph Anton Friedrich Büsching, ein bewährtes Sprachrohr des Zeitgeistes, die üblichen Argumente zusammen: »Europa macht zwar den kleinsten Hauptheil des Erdbodens aus, verdienet aber doch der wichtigste genannt zu werden; 1) weil keiner besser angebauet ist, als dieser; 2) weil er mächtiger ist als die drey übrigen zusammen; 3) weil sich die Europäer den größten Theil des übrigen Erdbodens unterwürfig, oder doch in demselben fruchtbar gemacht haben, so wie auch sie allein durch ihre Schifffahrten, Reisen und Handel die Haupttheile der Erde in Verbindung miteinander setzen; 4) weil Europa seit vielen Jahrhunderten der Hauptsitz der Wissenschaften und Künste ist; und 5) weil die Erkenntniß des wahren Gottes und des Heilands der Welt durch die Europäer in den übrigen Haupttheilen des Erdbodens ausgebreitet wird.«18

Das war handfest gedacht und empirisch kaum anfechtbar, auch wenn Kolonialismuskritiker wie Denis Diderot und Edmund Burke auf die moralischen Kosten der europäischen Welteroberung hinweisen konnten.19 Europa ist bei Büsching der dynamische Ursprungsort des modernen Weltsystems. Ein politischer Theoretiker aus dem Einflußbereich Montesquieus hätte einen sechsten Punkt hinzugefügt: Nur in Europa sei es gelungen, die fürstliche Gewalt durch ständische Ausgleichskräfte im Zaume zu halten. Die wenigen, die weiter gingen und nach den Ursachen der europäischen Überlegenheit fragten, gaben unterschiedliche Antworten: Edward Gibbon

17 J. R. Forster, Bemerkung über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung, Naturgeschichte und sittlichen Philosophie, auf seiner Reise um die Welt gesammelt, Berlin 1784, S. 256. 18 A. F. Büsching, Auszug aus seiner Erdbeschreibung. Erster Theil, welcher Europa und den nordlichen Theil von Asia enthält, Hamburg 17856, S. 20. 19 Vgl. A. Pagden, European Encounters with the New World, New Haven 1993, S. 141–188; F. G. Whelan, Edmund Burke and India: Political Morality and Empire, Pittsburgh 1996.

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betonte die Methodisierung des Krieges und die Verwissenschaftlichung von Politik und Staatsverwaltung. Andere sahen den Buchdruck, also die Kommunikationsrevolution, oder die Vermeidung der Polygamie als entscheidende Kraftquellen Europas, vor allem im Vergleich zur islamischen Welt. Der Göttinger Historiker August Ludwig Schlözer schrieb 1785 eine Weltgeschichte, die nicht – wie die Universalgeschichten des 19. Jahrhunderts – teleologisch auf die Europäisierung der Erde hin entworfen ist. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Wirkungsmächtigkeit zählen für ihn Römer, Chinesen und Araber, aber nicht Griechen und Ägypter, zu den »HauptVölkern« der Weltgeschichte.20 Die wichtigsten Errungenschaften Europas sind in seinen Augen »Compaß, Pulver, Papir und Druckerei, Brillen, Uhren und Posten«. »Mit Hülfe jener Erfindungen,« so der nüchterne Schlözer, »entdeckten wir drei neue Welten und unterjochten, plünderten, cultivirten oder verwüsteten sie«.21 Nur ein Autor des 18. Jahrhunderts, Schlözers Göttinger Kollege Christoph Meiners, befand (1793) den »Stamm der hellen und schönen Völker« für weltgeschichtlich privilegiert und zur Herrschaft berufen – ein noch einsamer Vorläufer späterer Rassetheorien.22 Wer Europa für überlegen hielt, gab dafür bis in die achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts pragmatische Gründe an und räumte meist auch ein, daß nichteuropäische Zivilisationen auf anderen Gebieten, etwa der Armenfürsorge, der Gastfreundschaft oder der Poesie, Europa voraus sein könnten.23 Von geheimnisvollen Wesenseigenschaften der europäischen Kultur, die den anderen fehlten, war so gut wie nie die Rede. Irgendetwas ändert sich dann kurz vor der Jahrhundertwende. Die Symptome sind deutlich, die Ursachen schwer zu fassen. Jahrhundertelang hatte eine europäische Delegation nach der anderen vor den chinesischen Kaisern den im Hofzeremoniell vorgeschrieben Kotau vollzogen. 1793 beugt Lord Macartney als erster nur sacht das Knie: Die demütigende Niederwerfung sei eines frei geborenen Engländers und Gentleman unwürdig; sie widerstrebe dem europäischen Charakter.24 Gleichzeitig führen die Briten wieder einmal einen Eroberungskrieg gegen einen indischen Fürsten, diesmal Tipu Sultan von Maisur. Früher hatte man derlei als Schachzug im innerindischen Machtspiel realpolitisch und kulturneutral gerechtfertigt. Neu ist nun, in den neunziger Jahren des 20 A. L. Schlözer, WeltGeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange, Bd. 1, Göttingen 1785, S. 116f. 21 Ebd., S. 104f. 22 C. Meiners, Grundriß der Geschichte der Menschheit, Lemgo 1793, S. 5ff. 23 Viele Beispiele in J. H. G. v. Justi, Vergleichungen der Europäischen mit den Asiatischen und anderen vermeintlich Barbarischen Regierungen, Berlin 1762. 24 Vgl. S. Dabringhaus, Einleitung, in: Johann Christian Hüttner, Nachricht von der britischen Gesandtschaftsreise nach China 1792–94, Sigmaringen 1996, S. 65. Vgl. zur Interpretation auch J. Osterhammel, Gastrecht und Fremdenabwehr: Interkulturelle Ambivalenzen in der frühen Neuzeit, in: Münkler (Hg.), Furcht und Faszination, S.379–436, hier S. 397ff.

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18. Jahrhunderts, die orchestrierte Haßpropaganda gegen einen Gegner, der als blutrünstiges asiatisches Ungeheuer dämonisiert wird. Dankbare Inder huldigten, großformartig in Öl gemalt, ihren britischen Befreiern von muselmännischer Tyrannei.25 Auch Napoleons Ägypteninvasion von 1798, eigentlich bloß ein antienglisches Manöver, wird mit hoher Bedeutung aufgeladen. Der Erste Konsul erscheint mit 150 Wissenschaftlern in seinem Gefolge und unterwirft das Ägypten der Mamluken, angeblich dringend der Zivilisierung bedürftig, einer generalstabsmäßigen Erforschung von Flora, Fauna und Kultur. Der militärischen Eroberung folgt die wissenschaftliche auf dem Fuße.26 Um 1800 geschieht in der französischen und britischen, abgeschwächt in der deutschen und wenig später auch in der russischen Wahrnehmung Asiens dreierlei: Erstens verdichten und vereinfachen sich die zahlreichen Merkmale, mit denen Autoren der Aufklärung die europäischen Nationalkulturen und die einzelnen asiatischen Zivilisationen gleichsam physiognomisch zu kennzeichnen versuchten, zu den Großstereotypen »Europa« und »Asien«. Als 1780 Jean-Baptiste Mailly seine Geschichte der Kreuzzüge, einer merkwürdigen historischen Erscheinung, die Voltaire und manche seiner Zeitgenossen als beispielloses Monument menschlicher Narrheit verurteilt hatten, unter die Devise des Kampfes der Kulturen stellt – »C’est l’Europe luttant contre l’Asie«27 –, da ist dies ganz neu und bleibt vorerst ohne Nachredner. Um 1800 werden solche Formulierungen üblich. Zweitens setzt sich vor allen anderen Differenzierungskriterien nun das der wissenschaftlich-technologischen Überlegenheit Europas durch. Nur Europa hat die Naturerkenntnis zur Naturbeherrschung gesteigert, schreibt Conrad Malte-Brun, der Hofgeograph des Förderers der Ingenieure, Napoleon Bonaparte.28 Auch die neuen Kulturwissenschaften vom Fremden wie Arabistik, Sinologie oder Indologie treten nun vielfach mit einem imperialen Anspruch auf, der dem 18. Jahrhundert bis hin zu Goethe und den Brüdern Humboldt ganz fremd ist: den Osten besser zu verstehen, als er sich selbst versteht. Man hat diese Haltung wissenschaftlicher Vormundschaft und Stellvertretung »Orientalismus« genannt.29 Dahinter tritt die Idee der religiösen Minderwertigkeit Asiens zurück, sieht man von einem aggressiven Evangelikalismus ab, der die britische Mission zu beherrschen beginnt. Drittens wird um 1800 die verborgene Normativität des Zivilisationsbegriffs immer deutlicher. Aus dem Nebeneinander der Weltkulturen – Edmund Burke sprach 1776 begeistert von der »Großen Landkarte der Menschheit«, die nun25 Vgl. K. Teltscher, India Inscribed: European and British Writing on India 1600–1800, Delhi 1995, S. 230ff. 26 Vgl. umfassend: H. Laurens, L’Expédition d’Égypte 1798–1801, Paris 1989. 27 J.– B. Mailly, L’esprit des Croisades, Dijon 1780, Bd. 1, S. 3. 28 C. Malte-Brun, Précis de la géographie universelle, Bd. 6, Paris 1826, S. 2. 29 Vgl. E. W. Said, Orientalism, London 1978. Siehe auch Kapitel 10 in diesem Band.

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mehr vor den Augen der Europäer ausgebreitet liege30 –, aus einer Vielzahl, aus welcher Europa als Primus, aber nicht als Richter und Herrscher über die anderen hervorragte, wird nun eine Leiter der Zivilisiertheit, »a scale of civilization«, mit dem gegenwärtigen Westeuropa als Maßstab und Vollendung – und allen anderen auf den unteren Rängen.31 In solcher Zivilisationssemantik, wie sie das 19. Jahrhundert prägen wird, läßt sich jeder Eingriff als »humanitäre Intervention« rechtfertigen: die Versenkung der türkischen Flotte durch die Großmächte im griechischen Freiheitskampf, die »Befreiung« Algeriens vom menschenraubenden Korsarenregime, das Verbot der Witwenverbrennungen in Britisch-Indien, die gewaltsame Öffnung der widerspenstigen ostasiatischen Reiche China und Japan für Freihandel, Christentum und ordentliche diplomatische Umgangsformen. Alle diese Maßnahmen oder einige davon mögen durch allgemeingültige Rechtsnormen begründbar sein und viel Gutes bewirkt haben. Doch dies führt zur Relativismus-Universalismus-Debatte: einem neuen Thema. So also entstand aus einem pragmatischen und meist am Einzelfall bewiesenen europäischen Überlegenheitsgefühl um 1800 der moderne Europazentrismus. Er war zunächst inklusiv: Die gesamte alte Kultur Indiens, sagt 1835 der Historiker Thomas Babington Macaulay, als er Justizminister Indiens ist und an einem Gesetzbuch arbeitet, das im wesentlichen heute noch gilt: sie ist weniger wert als ein Bücherbrett mit den Klassikern des Abendlandes. Die indische Elite muß sich ohne Vorbehalte anglisieren.32 Aber wenn sie dies tut, dann wird es perfekte Gentlemen mit brauner Haut geben, sie werden einst ihr Land ohne fremde Hilfe regieren, und irgendwann mag an den Ufern des Ganges ein indischer Shakespeare oder Newton erstehen. Der inklusive Europazentrismus, der die Selbstbestimmung Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tief geprägt hat, der in der Abenddämmerung des Kolonialismus wieder auftritt und dann in die anglo-amerikanischen Modernisierungs- und Entwicklungstheorien der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg übergeht, ist nicht rassistisch: Kein Volk wird durch angeborene, unkorrigierbare Mängel daran gehindert, die höchste Sprosse auf der Leiter der Zivilisiertheit zu erklimmen. Der Europazentrismus wird exklusiv, sobald man die »scale of civilization« als Rassenhierarchie interpretiert und den Anderen die 30 »A great map of mankind«: T. W. Copeland (Hg.), The Correspondence of Edmund Burke, Bd. 3, Cambridge 1961, S. 351. 31 Grundlegend zur europäischen Begriffsgeschichte von »Zivilisation«: J. Fisch, Zivilisation, Kultur, in: O. Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992. S. 679–774. Zu Theorien zivilisatorisch-rassischer Hierarchie aus der Sicht eines ihrer Gegner: H. F. Augstein, James Cowles Prichard’s Anthropology: Remaking the Science of Man in Early Nineteenth-Century Britain, Amsterdam 1999, S. 129–147. 32 T. B. Macaulay, Minute on Indian Education, in: Ders., Selected Writings, hg. v. J. Clive u. T. Pinney, Chicago 1972, S. 249.

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Chance der Europäisierung verweigert. Dies geschieht allgemein um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in Indien etwa nach dem großen anti-britischen Aufstand von 1857.33 Jedem Volk, so heißt es nun, sei sein Schicksal natürlich bestimmt. Eine »mission civilisatrice« könne den Massen einfache Kulturtechniken vermitteln und an Einzelnen Dressurwunder der kulturellen Konversion vollbringen, aber sie werde niemals die Wertskala der Völker umstürzen. Diese Idee bestimmte das europäische Selbstbild im Verhältnis zu den anderen Zivilisationen weit über 1914 hinaus. Mit der fortschrittsphilosophischen Selbstverortung Europas über statt neben den anderen Kulturen, mit dem Übergang von der Zivilisationstheorie zur Zivilisierungsmission, von der Lernbereitschaft zum Belehrungsdrang gingen – spätestens nach Alexander von Humboldt – Haltungen der Aufklärung verloren, an die zu erinnern heute wieder lohnt. Auch die Bedingungen, unter denen sie möglich wurden, ähneln vage denen der Gegenwart. Stand Europa noch im 16. und 17. Jahrhundert im Schatten der Anderen – eines militärisch offensiven Osmanischen Reiches, eines als grenzenlos wohlhabend eingeschätzten Mogul-Indien, eines weise regierten China – und schaltete es im 19. Jahrhundert selber nach Gutdünken in der Alten Welt, so befanden sich Europa und Asien während der Zeit dazwischen in einer Art von machtpolitischem und wirtschaftlichem Gleichgewicht.34 Diese Balance ermöglichte eine Offenheit, wie es sie früher und später nicht gab. Durch eine seriöse, als gelehrtes Genre geltende und öffentlicher Kritik unterstehende Reiseliteratur war das europäische Publikum kaum schlechter über die Verhältnisse in Asien orientiert, als dies womöglich im Zeitalter von CNN-Nachrichtenclips der Fall ist. Der Eigensinn außereuropäischer Zivilisationen wurde anerkannt, man forschte nach ihren Bauplänen und Bewegungsgesetzen. Asiatisches Wissen – die Geschichtsschreibung Chinas und Persiens, die Pflanzenkenntnis und taxonomische Kunst tamilischer Brahmanen – floß in europäische Texte ein.35 In der Literatur vom Typ der Montesquieuschen »Lettres Persanes« von 1721, wo der besuchende Orientale Europa den Spiegel seiner Verwunderung vorhält, war im besten Falle die Kontextverfremdung mehr als ein Mummenschanz und satirischer Trick. Montesquieu selbst oder in anderen Formen Voltaire und Diderot bemühten sich zumindest um die, wenn man so will, authentische Fiktion einer Außensicht auf Europa: So ähnlich könnten Perser oder Südseeinsulaner über Europa gedacht haben.36 33 Vgl. als Übersicht I. Geiss, Geschichte des Rassismus, Frankfurt a.M. 1988, S. 193ff.; M. Banton, Racial Theories, Cambridge 1987, S. 28ff. 34 Vgl. auch G. S. Rousseau u. R. Porter, Introduction: Approaching Enlightenment Exoticism, in: Dies. (Hg.), Exoticism in the Enlightenment, Manchester 1990, S. 1–22, hier S. 14. 35 Vgl. als Beispiel: R. H. Grove, Green Imperialism: Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism, 1600–1860, Cambridge 1995, S. 73ff. 36 Möglich wurde dies durch eine sorgfältige Auswertung zeitgenössischer Reisebeschreibungen. Vgl. M. Dodds, Les récits de voyage: sources de l’Esprit des Lois de Montesquieu, Paris 1929.

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Manche Reisende – an erster Stelle der grandiose Arabienschilderer Carsten Niebuhr, der Vater des Historikers – waren frei von jeder europäischen Arroganz und bewiesen eine erstaunliche Einfühlung in die Weltsicht der orientalischen Gastgeber.37 Edward Gibbons diskursive Gerechtigkeit und ironische Equilibristik der Urteile löste die Grenzen zwischen Innen- und Außensicht auf: Die schlimmsten Barbaren auf mehr als dreitausend Seiten »Decline and Fall of the Roman Empire« sind keine »asiatischen Horden«, wie sie die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts unentwegt gegen Europa »anbranden« sieht, sondern die christlichen Kreuzritter, die Muslime und Juden massakrierten und Byzanz verwüsteten. Es fehlte nicht an Warnungen vor ethnozentrischer Befangenheit und an Vorschlägen, sie zu vermeiden. Der Schotte Adam Ferguson skizzierte 1767 eine Art von Wissenssoziologie des Ethnozentrismus.38 All das genügt selbstverständlich nicht den strengen und vielleicht unerfüllbaren Anforderungen jener, die heute von sich behaupten, das Fremde »aus sich selbst heraus« verstehen zu können. Jedoch unterscheidet sich das relativierende transkulturelle Perspektivenspiel der Aufklärung, die Prismatik ihrer Kulturauffassung ganz unübersehbar von der späteren Platzanweisermentalität eines triumphierenden Europa. Im 18. Jahrhundert verglich sich Europa mit Asien; im 19. hielt es sich für unvergleichlich – und war mit sich selbst allein.

III. Die Annäherung europäischer Intellektueller an Asien blieb einseitig. Als Europa sich am weitesten öffnete, war das asiatische Interesse an ihm gering. Der große Wissenstransfer zwischen den Kulturen, von dem Leibniz um 1700 nicht nur träumte, den er, der erfahrene Wissenschaftsmanager, vielmehr zu organisieren versuchte – er ist nicht zustandegekommen. Die Jesuiten in Peking, auf die Leibniz baute, waren nur halbherzig bei der Sache. Die chinesischen Kaiser und ihre konfuzianischen Beamtengelehrten nutzten die Fachkompetenz der Missionare als Astronomen, Kartographen und Baumeister, ohne von ihnen viel über Europa erfahren zu wollen, am wenigsten über das Christentum.39 Einzig und allein Japan, das seit Jahrhunderten von China gelernt hatte, betrieb 37 C. Niebuhr, Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern, 3 Bde., Kopenhagen u. Hamburg 1774–1837. 38 Vgl. A. Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft [1767], hg. v. Z. Batscha u. H. Medick, Frankfurt a.M. 1986, S. 120–128. 39 Leibniz entwickelte seine Pläne vor allem im Briefwechsel mit Pater Joachim Bouvet. Vgl. C. v. Collani (Hg.), Eine wissenschaftliche Akademie für China. Briefe des Chinamissionars Joachim Bouvet S.J. an Gottfried Wilhelm Leibniz und Jean-Paul Bignon über die Erforschung der chinesischen Kultur, Sprache und Geschichte, Stuttgart 1989; R. Widmaier (Hg.), Leibniz korrespondiert mit China. Der Briefwechsel mit den Jesuitenmissionaren, Frankfurt a.M. 1990.

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schon seit dem 17. Jahrhundert so etwas wie eine Okzidentalistik. Nur die Holländer durften mit ihren Schiffen nach Japan kommen. Sie mußten Bücher mitbringen, zunächst in holländischer Sprache, später auch auf Englisch, Französisch, Russisch. Ein richtige Übersetzerbürokratie wertete diese Literatur aus.40 Als in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts die ersten japanischen Delegationen nach Europa und Nordamerika reisten, glaubten ihre Gastgeber, die pittoresken Samurai mit ihren Schwertern und Haarknoten durch Fabrikführungen verblüffen zu können. Weit gefehlt: Man kannte in Japan bereits viele der technologischen Handbücher des Westens und reagierte weniger mit sprachloser Überwältigung als mit sachlichem Interesse am Detail.41 Die Auseinandersetzung Asiens mit Europa begann, von Japan abgesehen, erst im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des Imperialismus. Niemals war sie eine gelassene Betrachtung des Fremden aus sicherer Distanz, stets stand sie unter dem Druck von Bedrohung und Kulturverlust, von Rettung und Reform des Eigenen.42 Gewiß kann man ein Spektrum von Einstellungen abstecken, wie sie sich, wenn man nur stark genug verallgemeinert, in den meisten außereuropäischen Zivilisationen finden lassen.43 Dieses Spektrum reicht von der völligen Abwehr des Westens bis zur unbegrenzten kulturellen Kapitulation vor ihm. Aber ein solches Repertoire von Reaktionsweisen zu entwerfen, wäre eine ziemlich akademische Übung von fraglichem Nutzen: Jede Begegnungssituation war eine ganz besondere, jede asiatische Reaktion bleibt undurchschaut ohne die Kenntnis ihres Hintergrundes. Was läßt sich da Allgemeines sagen? Asiaten hatten selten die Absicht, zur Selbstbestimmung Europas beizutragen. Heute haben sie diese Absicht weniger denn je. Die Kontraktion Europas setzt sich fort. Sein politischer Einfluß reicht nicht einmal auf den Balkan oder bis Zypern. Postkoloniale Sonderbeziehungen sind verschwunden; selbst Australien und Neuseeland sehen sich nicht länger als Brückenköpfe des Britentums, sondern als pazifische Länder. Die europäische Asienpolitik, jedenfalls die deutsche, geht über exportpflegerische Dienstleistungen kaum hinaus; sie hat sich konsularisiert. Europas wirtschaftlicher Einfluß hat mit historischen Traditionen nurmehr wenig zu tun; er ergibt sich unmittelbar aus der konjunkturellen Tagesform. Die Interventionsmöglichkeiten, die sich während der großen asiatischen Finanz- und Währungskrise vom Herbst 1997 eröffneten, nutz40 Vgl. G. K. Goodman, Japan: The Dutch Experience, London 1986; Hirakawa Sukehiro, Japan’s Turn to the West, in: M. B. Jansen (Hg.), The Cambridge History of Japan. Bd. 5: The Nineteenth Century, Cambridge 1989, S. 435ff. 41 Vgl. etwa Fukuzawa Yukichi, Eine autobiographische Lebensschilderung, dt. v. G. Linzbichler, Tokio 1971, S. 133–137. 42 Vgl. J. Osterhammel u. N. P. Petersson, Ostasiens Jahrhundertwende. Unterwerfung und Erneuerung in west-östlichen Sichtweisen, in: U. Frevert (Hg.), Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 265–306. 43 Einen solchen Versuch unternimmt D. C. Gordon, Images of the West: Third World Perspectives, Totowa, N.J. 1989.

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te vor allem der Internationale Währungsfond, dessen Politik eng mit derjenigen der USA abgestimmt ist. Daß auch die kulturelle Ausstrahlung Europas in Asien, vielleicht mit Ausnahme Indiens, an Kraft verliert, kann nicht verwundern. Chinesische Schüler lernen Englisch und Japanisch, dann mit großem Abstand Russisch, selten Französisch oder Deutsch. Die bemerkenswerte japanische Germanistik muß seit einigen Jahren in großem Umfang Stellen an die China- und die Nordamerikakunde abgeben; der Romanistik ergeht es ähnlich. Auch eine einfallsreichere auswärtige Kulturpolitik hätte dies vermutlich nicht verhindern können. Was läßt sich historisch zu den asiatischen Differenzwahrnehmungen feststellen? In der frühen Neuzeit, als sich in Europa selbst ein Europabegriff erst langsam und unstetig herausbildete, hatte man in Asien selbstverständlich kein »Europabild«, sondern allenfalls ein diffuse Vorstellung von einem geographischen Westen, aus dem »Barbaren« einer besonderen Spezies angereist kamen, gezwungenermaßen friedlich in China und Japan, bewaffnet überall sonst. An den gelehrten Jesuitenmissionaren des 16. und 17. Jahrhunderts fiel ihre Andersartigkeit – etwa der Zölibat oder ungewöhnliche religiöse Riten – weniger auf, als ihre Bereitschaft zur Mimikry an die einheimische Kultur. Als deutlich verschieden erschien Europa zuerst in der Gestalt des Militärs. Daß seine militärische Überlegenheit – allerdings für lange Zeit nur eine lokale, punktuelle, auf Küstenbasen begrenzte – auf Schießpulver und Artillerie beruhte, verstand man schnell. Indische Rajas, malaiische Fürsten, später auch Sultane im geschwächten Osmanischen Reich versicherten sich der Dienste europäischer Waffenschmiede und Militärberater. Auch im 19. Jahrhundert, als ein frühindustrielles Europa in Asien vom bewaffneten Handel zur Kriegführung überging, war der erste Abwehrreflex in Ländern wie China und Ägypten der Aufbau einer eigenen Rüstungsindustrie. Was außer den Japanern jedoch niemand begriff und nachahmen konnte, war die Art von Staatlichkeit, die die westeuropäische Expansion ermöglichte: der auf ständige Kriegsbereitschaft hin organisierte Steuerstaat. Mit ein paar vereinzelten, kaum regulär zu finanzierenden Kanonenfabriken war es nicht getan. Auch die wenigen orientalischen Reisenden, die vor etwa 1860 nach Europa kamen und darüber schrieben – zunächst vor allem osmanische Diplomaten wie der scharfsichtige Mehmed Efendi, der 1720 Paris besuchte –, entschleierten nicht die tiefsten Geheimnisse Europas, notierten aber eine Reihe von aufschlußreichen Beobachtungen. Ihnen fielen vor allem das öffentliche Auftreten von Frauen und überhaupt die fehlende Trennung zwischen männlicher und weiblicher Sphäre auf, die religiöse Intoleranz der Christen gegenüber Fremden und untereinander, das Selbstbewußtsein der Aristokraten und ihr nahezu familiärer Umgang mit ihren Monarchen, daneben die Sonderrechte »freier« Städte, der perfekte Drill des Militärs, der hohe Stand der Medizin, die Inszenierung gemeinschaftlichen Essens (etwa eines aristokratischen Diners) als öf86

fentliches Ereignis sowie die erstaunliche Einrichtung der Oper, in der, so schien es, privateste Emotionen hemmungslos zur Schau gestellt wurden. Mehmed Efendi war auch höchst erstaunt über die große Zahl arabischer und türkischer Manuskripte und Koranexemplare in der Bibliothek des französischen Königs. In seiner Heimat gab es keine vergleichbaren Sammlungen europäischer Literatur.44 Diese frühen Europaberichte dienten einer eher naiven Rechenschaftslegung für die Obrigkeiten zu Hause. Manche davon wurden zeitgenössisch nicht veröffentlicht. Die Suche danach, was aus der Europaerfahrung anwendbar zu lernen sei, lag ihren Verfassern noch fern. Seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts änderten sich die Bedingungen der asiatischen Wahrnehmung Europas dann fundamental. Die Gründe dafür waren zum einen die um sich greifende Kolonialherrschaft und eine sehr aktive christliche Mission, zum anderen die Tatsache, daß nunmehr eine wachsende Zahl von Asiaten die maßgebenden Autoren Europas im Original zu lesen verstand und viele der philosophischen und gesellschaftstheoretischen Klassiker – von Montesquieu und Adam Smith über François Guizots ungemein einflußreiche »Histoire de la civilisation en Europe« von 1828 bis zu Zeitgenossen wie John Stuart Mill, Herbert Spencer oder Ernst Haeckel – ins Japanische, Chinesische oder Osmanische übersetzt wurden. Die entstehende Intelligentsia in nicht kolonisierten Ländern wie Japan und China hatte am ehesten noch die Chance, die europäische Geisteswelt breit kennenzulernen und eigene Vorlieben zu entwickeln.45 Aber was übersetzt und rezipiert wurde, hing dennoch von Zufällen des Kulturtransfers ab: eben Haekkel und nicht Hegel, nicht Kant, sondern ein Neukantianer wie Friedrich Paulsen, der mit seiner Lehre vom Willen den jungen Mao Zedong tief beeindruckte.46 In der kolonialen Welt gab das staatliche Erziehungswesen, dem eine hauchdünne Elite ausgesetzt war, die Richtung an. Die Inder und Ceylonesen wurden britisch, die Vietnamesen französisch, die Indonesier holländisch geprägt. Jeder sah sein Europa. In Japan und China war der amerikanische Kultureinfluß bereits seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts ungewöhnlich stark. Hier entstand zuerst das neue Konzept eines euro-amerikanischen »Westens«, in dem sich die nationalen Kulturprofile und erst recht das ohnehin schwer greifbare Gesamteuropäische verschliffen. Noch komplizierter wurde die Lage dadurch, daß China den Westen weithin durch eine japanische Brille 44 F. M. Göçek, East Encounters West: France and the Ottoman Empire in the Eighteenth Century, Oxford 1987, S. 7ff. 45 Vgl. ausführlicher J. Osterhammel, Transfer und Migration von Ideen. China und der Westen im 19. und 20. Jahrhundert, in: U. Faes u. B. Ziegler (Hg.), Das Eigene und das Fremde. Festschrift für Urs Bitterli, Zürich 2000, S. 97–115. 46 Vgl. F. Wakeman, Jr.: History and Will: Philosophical Perspectives on Mao Tse-t’ung’s Thought, Berkeley 1973, S. 201–206.

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wahrnahm. Viele der chinesischen Fassungen westlicher Bücher, etwa der marxistischen Grundschriften, waren Übertragungen aus dem Japanischen.47 Dies schuf ganz erhebliche terminologische Verwirrungen. Die exportfähigen europäischen Großideologien des 19. Jahrhunderts waren Liberalismus, Nationalismus, Darwinismus und Sozialismus. Den Konservativismus hatte man selbst. Die Verbindung eigener Traditionen, die kaum jemandem eindeutig und selbstverständlich blieben und die gründlicher Neubewertung, Neugestaltung und manchmal sogar »Erfindung« bedurften, mit stets auf die eigene Situation hin interpretierten geistigen Importen war selbstverständlich das große Thema asiatischer Intellektueller seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts. Darüber läßt sich nichts sagen, das auf China, Japan, Indien und den islamischen Bereich gleichermaßen zuträfe. Zwei Vorwürfe aber machte man dem Westen allgemein: den des flachen Materialismus und den des Verrats an den eigenen Idealen. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg, als die Europäer ihre eigene Zivilisationspropaganda Lügen straften und 1919 Präsident Woodrow Wilsons »Vierzehn Punkte« in bitterer Ironie durch die Unterstellung des vordem osmanischen Nahen Ostens unter britische und französische Völkerbundsmandate zu einer historisch beispiellosen Ausdehnung europäischer Kolonialherrschaft führten, stand Europa in asiatischen Augen da als die Zivilisation der Heuchelei. Asiatische Intellektuelle kamen mit diesem Vorwurf übrigens gut zurecht. Sie ließen sich selten zu einem grob-monolithischen Europabild verführen. Chinesische Professoren und Studenten protestierten 1919/ 20 gegen den britischen Imperialismus und luden zugleich Bertrand Russell zu Vorträgen über Demokratie, Wissenschaft und Rationalismus ein. Die dissidenten Angebote Europas lagen bereit: der Anarchismus Kropotkins, ein christlicher Sozialismus, der Marxismus – seit 1917 als bolschewistisch geschärfte Waffe. Das Wichtigste von dem, was Europa in Asien (und anderswo) hinterließ, wurde kulturell eingemeindet. Daher gibt es den reinen Außenblick auf Europa gar nicht, der es mit Kinderaugen anschaut und Wahrheiten enthüllt, die im mühevollen Leben einer Kultur verborgen bleiben. Die teils staunende, teils schelmische Unbefangenheit eines Mehmed Efendi ist nicht mehr möglich, seit die Weltrevolution der Verwestlichung unaufhaltsam geworden ist. Von Europa bleibt vor allem viererlei: die moderne Naturwissenschaft, das Christentum, Sprachen und Rechtsbegriffe. Nichts an dieser Stelle zur Naturwissenschaft; das Thema ist zu groß. Das Christentum hat sich nahezu überall, am eindrucksvollsten in den jungen Kirchen Afrikas, von seinen kolonial-missio-

47 Dies zeigt schön W. Lippert, Entstehung und Entwicklung einiger chinesischer marxistischer Termini. Der lexikalisch-begriffliche Aspekt der Rezeption des Marxismus in Japan und China, Wiesbaden 1979.

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narischen Ursprüngen gelöst.48 Es wird nur noch in den Verschwörungsvisionen chinesischer Parteikader als Speerspitze westlicher Subversion verdächtigt. Über die kreative Verselbständigung des Englischen und Französischen, des Spanischen und Portugiesischen in Übersee braucht nichts weiter gesagt zu werden. Überall entstanden post-koloniale Literaturen in den Sprachen der ehemaligen Kolonialherren. Schon Rabindranath Tagore, der äußerlich wie eine Verkörperung eines ganz europafernen Indien erscheinen mag, war ein Meister englischer Prosa, und wer könnte heute Salman Rushdie oder, in der Lyrik, Derek Walcott an sprachlicher Virtuosität im Englischen übertreffen? Schließlich das Recht. Eine große Errungenschaft Europas ist die repräsentative und kompetitiv-pluralistische Demokratie, eine ebenso große – und das haben Intellektuelle in Asien immer wieder anerkannt – ist der Rechtsstaat: die Unabhängigkeit einer korruptionsfreien Justiz, die selbständige Advokatur, die tatsächliche Gleichheit aller vor dem Gesetz, das Recht auf Berufung bei höheren Instanzen, die garantierte Regelmäßigkeit des Verfahrens, die Kontrolle von Polizei und Strafvollzug durch Justizbehörden, die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Welch ein ungeheurer zivilisatorischer Fortschritt – und so etwas verstand der große David Hume unter »Zivilisation« –, wenn ein Bürger sich ohne Furcht vor Repressalien gegen Bürokraten zur Wehr setzen kann! Vieles läßt sich dem britischen Empire vorwerfen, aber es hat selbst zu den Zeiten, als seine Reichsideologie zu einem rassistisch-exklusiven Europazentrismus neigte, die Herrschaft des Gesetzes in Asien und Afrika verbreitet.49 Gar nicht zufällig waren Führer der indischen Freiheitsbewegung wie Mahatma Gandhi, Jawaharlal Nehru und Muhammad Ali Jinnah Rechtsanwälte, und ebensowenig überrascht es, daß der Haß der Algerier auf das französische Regime weitgehend aus dem »indigénat« resultierte, einem harschen Sonderrecht für Muslime, wie es in solcher Schwere im britischen Weltreich unbekannt war. Der Rechtsstaat blieb unter kolonialen Bedingungen immer kompromittiert und unvollständig und oft eine Farce. Die Gewaltenteilung war in der Regel unvollständig institutionalisiert, das Gewicht der allgemeinen Verwaltung gegenüber der Judikatur nicht selten erdrückend.50 Doch dort, wo die koloniale Autokratie Spielräume ließ, bemächtigten sich findige Advokaten europäischer Rechtsvorstellungen

48 Vgl. U. v. d. Heyden u. H. Liebau (Hg.), Missionsgeschichte, Kirchengeschichte, Weltgeschichte. Christliche Missionen im Kontext nationaler Entwicklungen in Afrika, Asien und Ozeanien, Stuttgart 1996; A. Hastings, The Church in Africa 1450–1950, Oxford 1994. 49 Vgl. für Indien etwa D. Rothermund, The Legacy of the British-Indian Empire in Independent India, in: W. J. Mommsen u. J. Osterhammel (Hg.), Imperialism and After: Continuities and Discontinuities, London 1986, S. 143–145. 50 Dies war selbst dort der Fall, wo rechtsstaatliche Prinzipien vergleichsweise gründlich beachtet wurden. Vgl. für Indien: D. Conrad, Administrative Jurisdiction and the Civil Courts in the Regime of Land-law in India, in: J. de Moor u. D. Rothermund (Hg.), Our Laws, Their Lands: Land Laws and Land Use in Modern Colonial Societies, Münster 1994, S. 134–154.

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und wandten sie gegen die weißen Herren. In selbständigen Ländern wie Japan, Siam und der Türkei wurden ganze Rechtsbereiche aus Frankreich, der Schweiz oder Deutschland übernommen und teilweise den einheimischen Umständen angepaßt. Aus asiatischer Sicht war Europa also eine Quelle von Recht, das einheimische Rechtsvorstellungen einerseits ergänzte, andererseits konkurrierend in Frage stellte. Diese Wahrnehmungen und Erwartungen sollten bei der heutigen Diskussion um die Universalität der Menschenrechte nicht vergessen werden. Aber man sollte auch nicht übersehen, daß es mit der bloßen Proklamation hoher Prinzipien nicht getan ist. Alles Mögliche kann folgenlos zu Gesetz und Verfassungsnorm erklärt werden. Politisch wirksam ist erst die Verbindung von Norm und Verfahren, eine europäische Erfindung jenseits des kulturellen Imperialismus. Europäisches Recht ist weniger vollständig assimiliert worden als Sprache und Religion. Von ihm bleibt ein kritischer Überschuß, den außerhalb Europas die Kämpfer für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit bewahren.

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4. Neue Welten in der europäischen Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit

Im zweiten Quartal des 19. Jahrhunderts verschwindet die Geschichte der außereuropäischen Welt aus dem Bildungshorizont des bürgerlichen Publikums und aus dem Themenkreis von allgemeiner Fachhistorie und geschichtsphilosophischer Spekulation. Universalgeschichte behandelt fortan die Weltgeschichte Europas.1 Außereuropa, namentlich Asien, verflüchtigt sich ebenfalls aus anderen, bis dahin vielfach kulturvergleichenden Diskursen wie der politischen Ökonomie und der politischen Theorie. Montesquieu und Adam Smith sahen Europa noch im größeren Zusammenhang; bei ihren Nachfolgern im frühen 19. Jahrhundert verengt sich das Blickfeld. Interesse an und Wissen über Außereuropa geht nicht verloren, doch es wandert in eher periphere Zonen des europäischen Bewußtseins: erstens in die sich nun professionalisierenden orientalistischen Disziplinen wie Arabistik, Indologie oder Sinologie, die sich vorwiegend als altertumskundliche Philologien verstehen; zweitens in eine enthistorisierte Geographie sowie in neue, zunehmend geschichtsferne Fächer wie Religionswissenschaft, Völkerpsychologie und Ethnologie; drittens in den Bereich kolonialpraktischen Herrschaftswissens, wie es die Briten in großem Stil über Indien anhäuften;2 viertens in eine exotisierende und orientalisierende Popularliteratur.3 In der Epoche der Öffnung Japans und Chinas, eines neuerlichen Vordringens gegen die islamische Welt und des verstärkten kolonialen Zugriffs auf Indien und Indonesien, entledigt sich die europäische Historiographie ihres außerokzidentalen Ballasts. Gleichzeitig kappt sie – wenn Martin Bernal recht hat4 – jene genealogischen Linien, die Hellas mit seinen altorientalischen Voraussetzungen verbinden. Niemals vor etwa 1830 und kaum je wieder nach 1920 ist die Auffassung derart mächtig, die farbigen Völker in Übersee seien »geschichtslos« 1 Vgl. für Deutschland: E. Schulin, Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke, Göttingen 1958. 2 Vgl. T. R. Metcalf, Ideologies of the Raj, Cambridge 1994, bes. S. 113ff.; D. Ludden, Orientalist Empiricism: Transformations of Colonial Knowledge, in: C. A. Breckenridge u. P. van der Veer (Hg.), Orientalism and the Postcolonial Predicament:Perspectives on South Asia, Philadelphia 1993, S. 250–728. 3 Vgl. z.B. R. W. Winks u. J. R. Rush (Hg.), Asia in Western Fiction, Manchester 1990. 4 M. Bernal, Black Athena: The Afroasiatic Roots of Classical Civilization, Bd.1, London 1987.

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oder besäßen allenfalls eine Geschichte, die das Studium nicht lohne. Auf dem Höhepunkt der europäischen Weltstellung verdunkelt sich der beherrschte Rest der Menschheit. Diese Ausgrenzung der Anderen bleibt Episode. Sie ist kein irreversibler Modernisierungsertrag in der Entwicklung historischen Denkens. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts beginnt in Europa – in Deutschland allerdings bis heute mit erheblichen Hemmungen – eine neue Epoche der Erforschung der außereuropäischen, gerade auch der neueren außereuropäischen Geschichte.

I. Amerika – Süd- und Nordamerika – war die spektakulärste Neue Welt, die um 1500 von Europäern entdeckt wurde, aber keineswegs die einzige. Die Entdekkung Amerikas hatte nicht nur literarisch einen asiatischen Hintergrund5 – sie war Teil eines Quantensprungs europäischer Welterfassung. Seit 1434 rissen die Informationen über Westafrika (zunächst Guinea) nicht ab. Bald nach der Öffnung des Seewegs nach Indien (1498) strömten Berichte aus Südasien und dem insularen Südostasien nach Europa, zunächst hauptsächlich nach Portugal. 1543 erreichten die ersten Europäer das bis dahin nur gerüchteweise bekannte Japan; seit 1547 wurde kontinuierlich von dort berichtet. Die neuzeitliche Chinaberichterstattung aus erster Hand begann 1615 mit dem Chinabuch der Jesuiten Ricci und Trigault. Fast gleichzeitig erschienen erste Beschreibungen der Länder Indochinas. Im 16. Jahrhundert wurde dann das Osmanische Reich Gegenstand einer umfangreichen Literatur, zunächst hauptsächlich in Italien. Das Studium des arabischen Kulturraumes begann, nach bedeutenden mittelalterlichen Anfängen, in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts mit Guillaume Postel. Seit dem frühen 17. Jahrhundert gab es eine reichhaltige Persienliteratur. 1549 berichtete Sigismund Freiherr von Herberstein in einem vielgelesenen Buch aus dem Lande der Moskowiter. Das wichtigste Medium unmittelbarer europäischer Welterfassung war während der gesamten frühen Neuzeit die – oft illustrierte – Reisebeschreibung, eine tendenziell erfahrungswissenschaftliche Literaturgattung von hohem Prestige in der europäischen Gelehrtenwelt.6 Andere wichtige Gattungen von 5 Vgl. F. Reichert, Columbus und Marco Polo – Asien in Amerika. Zur Literaturgeschichte der Entdeckungen, in: ZHF, Jg. 15, 1988, S.1–63. 6 Den starken Empiriebezug auch schon der überseeischen Reisebebeschreibungen des 17. Jahrhunderts, nicht erst der Hoch- und Spätaufklärung, betont zurecht E. J. Leed, The Mind of the Traveler: From Gilgamesch to Global Tourism, New York 1991, S. 177f., S. 188f. Vgl. auch J. Osterhammel, Von Kolumbus bis Cook. Aspekte einer Literatur- und Erfahrungsgeschichte des überseeischen Reisens, in: M. Maurer (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999, S. 97– 131.

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Primärquellen sind Konquistadorenerzählungen, missionarische Relationen (vor allem aus Japan, China, Nordamerika) und Gesandtschaftsberichte (aus dem Osmanischen Reich, Iran, China). Schon früh wurden diese Quellen in Anthologien und Reisesammlungen zusammemgefaßt, redigiert und europaweit verbreitet. Das Übersetzen des geographisch-völkerkundlichen Materials in die wichtigeren europäischen Sprachen wurde zu einem zügig arbeitenden verlegerischen Großgewerbe. Das gelehrte Publikum rezipierte die primären Informationen vielfach auf dem Wege über Vermittler und Nachrichtenmakler (Richard Hakluyt, Theodor de Bry, Giovanni Botero, Erasmus Francisci, u.a.). Die Reisenden selbst orientierten sich vielfach an den Informationsbedürfnissen von Auftraggebern und potentiellen Lesern, z.T. formuliert in den Handreichungen der Apodemik oder Reisekunst. Man muß, grob gesagt, einen zweistufigen Rezeptionsprozeß der Originalnachrichten annehmen: Zwischen den schreibenden Augenzeugen und ihren Lesern standen Vermittlerinstanzen des literarischen Marktes oder – etwa im Falle der Jesuiten – der »Public Relations«. Durch die ordnenden und zusammenfassenden, in der Regel regionenübergreifenden Werke europäischer Kompilatoren und Redakteure ergab sich zudem ein globales Verweisungsgefüge, das zum Vergleich zwischen partikularen Fällen einlud. Die in all diesen Textarten verstreuten historischen Nachrichten bildeten wichtiges Material für die Geschichtsschreibung. Geschichtsschreibung über außereuropäische Länder war zunächst Zeitgeschichtsschreibung. Außereuropa erschien keineswegs durchweg als Region der Uniformität und des Stillstandes, sondern oft als Arena großer Begebenheiten. Es war teils Schauplatz europäischer Heldentaten7 und auch heroischer Fehlschläge;8 teils war es die Bühne bedeutender einheimischer Umwälzungen. Wer die »Revolutionen der Reiche« studieren wollte – und Weltgeschichte wurde gesehen als »die Geschichte der größern Begebenheiten, der Revolutionen«9 –, konnte dies am besten in Asien tun. Glanzstücke zeithistorischer Beschreibung und quasi-«strukturgeschichtlicher« Analyse waren z.B. Martin Martinis ungemein effektvoll geschriebenes, auf Beobachtungen, Gesprächen und Dokumenten beruhendes Buch über die Wirren in China zur Zeit des

7 Als gattungsprägend erwies sich die erste Cortés-Biographie: F. López de Gómara, Historia de la conquista de México [1552], hg. v. J. Gurría Lacroix, Caracas 1979 (im Folgenden werden, soweit vorhanden, die maßgebenden modernen Ausgaben genannt). Für Indien, das wichtigste Feld einer europäischen Conquista in Asien, besonders: R. Orme, History of the Military Transactions of the British Nation in Indostan, London 1763–78. 8 Z.B. T. Harriot, A Brief and True Report of the New Found Land of Virginia [1588], in: D. B. Quinn (Hg.), New American World: A Documentary History of North America to 1612, Bd. 3, New York 1979, S. 139–155. 9 J. C. Gatterer, Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte bis zur Entdeckung Amerikens, Göttingen 1792, S. 1.

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Dynastiewechsels von 164410 oder einige Werke aus der umfangreichen Literatur über den timur-ähnlichen Eroberer Nadir Shah (1688–1747), der von Persien aus ins Mogulreich einfiel.11 Hinter derlei Bildern vom wildbewegten Asien stand übrigens oft (bis zu Pufendorf und Gibbon) die Idee, seit den Hunnen seien die Umwälzungen in Zentralasien der letzte Grund für historische Dynamik in der Alten Welt gewesen. Ein großer Teil der Literatur über das Osmanische Reich ist ebenfalls narrative Zeitgeschichtsschreibung, verbunden mit sozusagen politikwissenschaftlichen Analysen.12 Im osmanischen Fall schärfte der Imperativ akkurater Feindaufklärung den europäischen Blick, schon bei den ungemein nüchternen und präzisen venezianischen Relationen aus Konstantinopel.13 Neben solcher Zeitgeschichtsschreibung steht, zuweilen darstellerisch eng mit ihr verbunden (z.B. in den großen Persienbeschreibung des Adam Olearius und des Sir John Chardin)14 die statistisch-staatenkundliche Inventarisierung fremder Reiche. Dazu gehört meist auch ein grober Abriß ihrer jüngeren Geschichte, meist ihrer neueren Herrscher und »Revolutionen«. In der Regel werden dabei auf Staatswesen weltweit dieselben Kategorienschemata angewendet: vom Königreich Frankreich bis hin zum Königreich Pegu (im heutigen Burma) gilt das Interesse den Staatsfinanzen, dem Militär, dem Gewerbe, usw. Es gibt keine konzeptionelle Sonderbehandlung für den Orient, keine spezielle »Dritte-Welt-Forschung«. Man kann das noch in Anton Friedrich Büschings »Erdbeschreibung« (1754 ff.) sehen. Erst die Länderkunde Carl Ritters und Alexander von Humboldts individualisiert auch die historisch-politischen Profile besonderer geographischer Räume. Freilich hält man nicht alle Völker für statistischer Behandlung würdig. Von den »Wilden«, zu denen er nicht Inder, Türken und Chinesen, wohl aber die Araber zählt, sagt Gatterer: »Was man von ihnen weis, macht einen Theil nicht der Statistik, sondern der Geographie, nicht der grosen Geschichte, sondern der Reisegeschichte aus.«15

10 M. Martini, S.J., De Bello Tartarico historia, Antwerpen 1654. Noch im selben Jahr erschien in Amsterdam eine deutsche Übersetzung: Histori / von dem / Tartarischen Kriege / in welcher erzehlt wird / Wie die Tartaren/zu Unserer Zeit / in das grosse Reich Sina / eingefallen sind [...] Das Buch wurde außerdem ins Französische, Holländische, Englische, Italienische, Spanische, Portugiesische, Schwedische und Dänische übersetzt. 11 Am wichtigsten: J. Fraser, The History of Nadir Shah, Formerly Called Thamas Kuli Khan, the Present Emperor of Persia, London 1742. 12 Z.B. Sir Paul Rycaut, The History of the Turkish Empire from the Year 1623 to the Year 1677, London 1680. 13 Gesammelt in: L. Firpo (Hg.), Relazioni di ambasciatori veneti al senato. Bd. 13: Costantinopoli (1590–1793), Turin 1984. 14 A. Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung / Der Muscowitischen / vnd Persischen Reyse [1656], hg. v. D. Lohmeier, Tübingen 1971; Sir John Chardin, Voyages en Perse et autres lieux de l’Orient [1686], hg. v. L. M. Langlès, 6 Bde., Paris 1811. 15 J. C. Gatterer, Ideal einer allgemeinen Weltstatistik, Göttingen 1773, S.15f.

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Außereuropa regt – seit den Anfängen der Erkundung Amerikas16 – das Interesse für die historia naturalis besonders an. Klassifikatorische Naturbeschreibung bleibt neben der historia civilis auch dann noch ein gattungstypischer Bestandteil der anspruchsvollen enzyklopädischen Reiseliteratur über außereuropäische Länder, als sie etwa in der Italienliteratur längst durch die empfindsame Landschaftsschilderung ersetzt worden ist. Dabei kommt es allmählich zu approximativer terminologischer Verfeinerung: Bei Oviedo sind die Pumas noch »Löwen«, die Jaguare noch »Tiger«. Erst sehr spät, wohl erst bei Alexander von Humboldt,17 erscheint neben der Dimension der universellen Taxinomie der Naturerscheinungen die zweite des besonderen Naturcharakters der »Tropen«. »Tropen« ist übrigens der Parallelbegriff zum etwa gleichzeitig schärfer ausgeprägten des »Orients«. Beide sehen das Andere »physiognomisch« in seiner Individualität und distanzieren es dabei zugleich. Historia naturalis wird dort historiographiegeschichtlich besonders interessant, wo sie auf dem Weg über eine historische »Produktenkunde« den Übergang zur Wirtschaftsgeschichte ermöglicht. So schreibt der Iran- und Japanreisende Engelbert Kaempfer 1712 eine »Geschichte der Dattelpalme«, die botanisch beginnt und sich dann zu einer sozialökonomischen Abhandlung über orientalische Wirtschaftsformen ausweitet.18 Höhepunkt dieser Linie ist das geradezu Braudelsche Kapitel über die welthistorische Bedeutung des Kamels bei Carl Ritter, dem neben Alexander von Humboldt bedeutendsten deutschen Geographen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.19 Nicht nur die räumliche Breite und die Ereignisfülle, sondern auch die Tiefe der Geschichte wird durch die Konfrontation mit außereuropäischem Material vermehrt. Die Chronologie der Chinesen, der Ägypter und Chaldäer, die hinter diejenige der Bibel verläßlich zurückzureichen scheint, erschüttert im 17. Jahrhundert die kirchliche Orthodoxie und gibt z.B. Anlaß zur religionsskeptischen »prä-adamitischen« Lehre des Isaac de Lapeyrère.20 Das von der Kenntnis nichtbiblischer – etwa: von der Sintflut nicht berührter – Geschichtsverläufe ange16 Der wichtigste Text ist: G. Fernández de Oviedo, Historia General y Natural de las Indias [1535], hg. v. J. Pérez de Tudela Bueso, Madrid 1959. Vgl. die große Untersuchung A. Gerbi, Nature in the New World: From Christopher Columbus to Gonzalo Fernández de Oviedo, Pittsburgh 1986. 17 A. v. Humboldt, Ansichten der Natur [1808], hg. v. H. Beck, Darmstadt 1987 (= Studienausgabe, Bd. 5). 18 E. Kaempfer, Phoenix Persicus: Die Geschichte der Dattelpalme. Einleitung, Übersetzung aus dem Lateinischen und Bearbeitung v. W. Muntschik, Marburg 1987. 19 C. Ritter, Die geographische Verbreitung des Kameels in der Alten Welt, in: Ders., Die Erdkunde im Verhältniß zur Natur und zur Geschichte des Menschen oder Allgemeine vergleichende Geographie, 13. Teil, 3. Buch: West-Asien, Berlin 18472, S.609–759. 20 Vgl. R. H. Popkin, Isaac La Peyrère (1596–1676): His Life, Work and Influence, Leiden 1987. Breit angelegt ist die Studie v. P. Rossi, The Dark Abyss of Time: The History of the Earth and the History of Nations from Hooke to Vico, Chicago 1984.

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regte Problem der frühen Chronologie unterminiert gemeinsam mit den wenig später beginnenden Spekulationen über Erdgeschichte das traditionelle europäische Zeitverständnis. Allmählich entstand daneben die Vermutung, es könne Epochen nicht-europäischer Antiken geben. Hier wäre an die Karriere des pharaonischen Ägypten im europäischen Bewußtsein – mit der Entzifferung der Hieroglyphen durch Champollion (1821/22) als Zäsur- zu denken sowie an die Annäherung an das alte Mesopotamien bis hin zum Beginn erster Grabungen. Nach 1770 eröffnete das Studium der altpersischen Zend-Sprache (Abraham-Hyacinthe AnquetilDuperron) und des Sanskrit (Sir William Jones, Charles Wilkins) den Zugang zu alten Kulturen des ferneren Asien, deren Überlieferung nahezu erloschen war. In China dagegen fand man einen kontinuierlichen Tradierungszusammenhang. Das Hauptproblem, dem sich mit Hilfe chinesischer Gelehrter als erste einige der Jesuitenmissionare stellten, war hier nicht – wie in Indien – die Konstitution einer Textgrundlage für literarische und historische Studien, sondern die kritische Überprüfung einer machtvollen einheimischen historiographischen Orthodoxie.21 Wiederum anders war die Lage in Amerika, wo indianische mündliche Traditionen während des ersten halben Jahrhunderts nach der Conquista z.T. in europäischer Schrift fixiert wurden, für die früheren Jahrhunderte aber nur Bilderhandschriften und archäologische Objekte vorhanden sind.22 (Die Altamerikanistik ging erst im späten 19. Jahrhundert von der Phase des Sammelns in die der systematischen Quellenauswertung über.) Es gibt vor der fachdisziplinären Etablierung der orientalistischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert (bei der Arabistik schon im 17. Jahrhundert) durchaus bedeutende Forschungsleistungen zur außereuropäischen Geschichte, die sich auf dem fortgeschrittensten methodischen Niveau ihrer Zeit bewegen. Dazu gehören im 18. Jahrhundert z.B. die Arbeiten von Gerhard Friedrich Müller, Johann Eberhard Fischer u.a. über die Geschichte des vor-russischen Sibirien,23 das von Edward Gibbon ausgiebig verwendete, zum Teil noch im frühen 20. Jahrhundert als wissenschaftliche Autorität zitierte Werk des Joseph de Guignes über Zentralasien,24 sowie die – wie de Guignes’ vier massive 21 Über frühe Versuche zur Erfassung der Geschichte Chinas ist erstaunlich wenig gearbeitet worden. Vgl. etwa D. E. Mungello, Curious Land. Jesuit Accomodation and the Origins of Sinology, Honululu 1985, S. 106–133. Zu Indien: C. H. Philips (Hg.), Historians of India, Pakistan and Ceylon, London 1961; O.P. Kejariwal, The Asiatic Society of Bengal and the Discovery of India’s Past (1784–1838), Oxford 1988. 22 Vgl. den Überblick in P. Tschohl, Die wortschriftlichen Quellen zum Aztekenreich, in: U. Köhler (Hg.), Altamerikanistik. Eine Einführung in die Hochkulturen Mittel- und Südamerikas, Berlin 1990, S. 145–159 23 Eine Zusammenfassung dieser Forschungen ist, weitgehend auf von Müller gesammeltem Material fußend: J. E. Fischer, Sibirische Geschichte von der Entdekkung Sibiriens bis auf die Eroberung dieses Lands durch die Russische [!] Waffen, St. Petersburg 1768. 24 J. de Guignes, Histoire générale des huns, des turcs, des mogols et des autres tatares occidentaux, 4 Bde., Paris 1756–58.

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Quartbände – ebenfalls Manuskriptquellen verwendende Geschichte der Araber des Geistlichen und Professors für Arabisch in Cambridge Simon Ockley.25 Bei Ockley wird arabische Geschichte erstmals als Selbstzweck und nicht als Zuträgerin zur christlichen Kirchengeschichte betrieben. Der Forschungsertrag bemißt sich weitgehend an der Zugänglichkeit von Material. Er war am größten in der Geschichte Amerikas26, Zentralasiens und des islamischen Orients. In Japan erhielten Ausländer so gut wie keinen Zugang zu den sehr umfangreichen einheimischen Quellen. Im Falle Chinas mit seiner besonders extensiven historiographischen Überlieferung gelangen Europäer der frühen Neuzeit über die Übersetzung und Paraphrase einheimischer Geschichtswerke kaum hinaus.27 Bei Simon Ockley findet sich eine ungewöhnlich klarsichtige Beschreibung der Schwierigkeiten transkultureller Geschichtsschreibung. Seine methodische Standortbestimmung darf als zeittypisch gelten und hat im übrigen ihren Sinn bis heute nicht verloren. Ockley formuliert das Prinzip des Primats einheimischer Quellen (noch Leopold von Ranke schreibt über die Osmanen auf der Basis venezianischer Relationen!): »A Man might as well undertake to write the History of France, for the time, out of our News-Papers, as to give an Account of the Arabians from Christian Historians.«28 Woraus folgt: »The Arabians [...] are most likely to give the best Account of Things performed among themselves.« 29 In impliziter Abgrenzung von der ressentimentvollen Anti-Muhammad-Polemik seiner Zeit bekennt Ockley sich zu einer wertungsfreien Berichtshaltung: »It is my Business to set the Matter in a clear Light, the Reader’s to Judge.«30 Der Historiker muß sich bei orientalischen Gegenständen von Stil und Darstellungskonventionen der klassischen Tradition lösen und sich seinem Objekt anpassen: 25 S. Ockley, The History of the Saracens [1708–18], 2 Bde., Cambridge 17573. Das Werk wurde zuletzt 1847 neu aufgelegt. Zur historischen Erfassung des Vorderen Orients vgl. umfassend B. Lewis u. P. M. Holt (Hg.), Historians of the Middle East, London 1962. 26 Etwa in einem der berühmtesten Geschichtswerke des Aufklärungszeitalters: W. Robertson, The History of America, London 1777. Es beruht aber stärker, als Robertson auf den ersten Blick erkennen läßt, auf der »amtlichen« Darstellung der Conquista: der Historia general de los hechos de los castellanos en las Islas i Tierra Firme del Mar Oceáno [1601–15] des A. de Herrera y Tordesillas. Vgl. D. A. Brading, The First America: The Spanish Monarchy, Creole Patriots, and the Liberal State, 1492–1867, Cambridge 1991, S. 433f. 27 J.-A.-M. de Moyriac de Mailla, Histoire générale de la Chine, ou Annales de cet Empire, 12 Bde., Paris 1777–80, ist die Übersetzung eines in der chinesischen Tradition keineswegs unumstrittenen annalistischen Geschichtswerks aus dem 13. Jahrhundert. Zu Ostasien allgemein vgl. C. R. Boxer, Einige Aspekte der westlichen Geschichtsschreibung über den Fernen Osten 1500–1800, in: Saeculum, Jg. 8, 1957, S. 285–297; W. G. Beasley u. E. G. Pulleyblank (Hg.), Historians of China and Japan, London 1961. 28 Ockley, History of the Saracens, Bd. 2, S. IV-V. 29 Ebd., S. V. 30 Ebd., S. VII.

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»To write of a Nation in their Circumstances [...] in such a Stile as becomes the Sedateness and Gravity of the Greeks and Romans, would be very unsuitable and unnatural. In such a Case you put them in a Dress which they would no more Thank you for, than a Roman Senator would for a long Periwig, or Socrates for a pair of Silk Stockings.«31

Andere Autoren, etwa der Persien- und Indienkenner Sir William Jones in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, vertraten hingegen die Auffassung, der Historiker müsse sich bewußt klassizistischer Darstellungstechniken und Analogien bedienen, um das Andere dem humanistisch gebildeten europäischen Publikum kommensurabel zu machen. Also eine veritable Querelle des anciens et des modernes unter den Orientalisten! Ockley geht 1708 jedoch nicht so weit, eine exotisierende Mimikry an die arabischen Vorlagen zu empfehlen, sondern hält kritische Distanz für unumgänglich: »The Great Esteem which I have for the Eastern Learning, makes me heartily wish that we had not too much Cause to complain of our Arabick Historians [...], they not having regard to the due Qualifications of an Historian, but telling things after a careless manner, and stuffing their Works with a great many trifling Materials [...].«32 Das Problem für den Historiker der sich selbst schriftlich äußernden Anderen (also der anderen »Zivilisierten«) ist mithin ein mehrfaches: Er hat es nicht nur mit sprachlich extrem schwierigem und editorisch kaum aufbereitetem Material zu tun, mit »dusty Manuscripts, without Translation, without Index; destitute altogether of those Helps which facilitate other Studies«,33 zudem muß er kritisch, aber ohne abendländische Arroganz ein historisches und literarisches Bewußtsein zu verstehen suchen, das sich in eigenen Formen ausdrückt. Schließlich muß sich der europäische Außereuropahistoriker ein Bild von der Glaubwürdigkeit seiner einheimischen Gewährsleute machen. Mit üblichen Verfahren der Kritik ist es dabei nicht immer getan. Eine allgemeine ideengeschichtliche oder diskurspolitische Großwetterlage bestimmt a priori die Wahrheitserwartungen. So drangen am Ende des 18. Jahrhunderts die Jesuiten mit ihrer lange akzeptierten Beteuerung immer weniger durch, allein die Wahrheitsliebe habe den chinesischen Historikern den Pinsel geführt.34 Denn inzwischen begann sich die Vorstellung von der Wertlosigkeit der chinesischen und überhaupt aller orientalischen Wissenschaften in Europa durchzusetzen.

31 Ebd., S. VI. 32 Ebd., Bd. 1, S. XIII. 33 Ebd., S. XVII. 34 »[que] le désir seul de la vérité semble avoir dirigé la plume [!] des historiens Chinois«. Abbé Grosier, »Discours préliminaire«, in: de Mailla, Histoire générale de la Chine, Bd. 1 (1777), S. XXXII.

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II. Eduard Fueter hat mit Recht ein ethnographisches Interesse als die wichtigste Folge der Entdeckung neuer Welten, insbesondere Amerikas, für die moderne Geschichtsschreibung gesehen: Diese »setzte das ethnographische, kulturgeschichtliche Interesse an die Stelle des politisch-didaktischen. Sie begann den Unterbau der Geschichte bloßzulegen.«35 Gemeint ist hier eine empirische, nicht eine imaginäre Ethnographie (die es natürlich daneben weiterhin gab). Sie findet sich bereits bei Petrus Martyr d’Anghera, der seine »Decadas de orbe novo« (1501) 1493 begonnen hatte,36 und anderen auf ihn folgenden spanischen Autoren der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In der kolonialen Laborsituation Spanisch-Amerikas führten die praktischen Bedürfnisse von Kolonisatoren und Missionaren, die Unzulänglichkeit überkommener Denkkategorien angesichts unvertrauter Gesellschaftsformen und das intellektuelle Kaliber einer Gruppe humanistisch geschulter Schriftsteller zu einer Literatur, welche – jenseits aller Auffassungsunterschiede zur Natur der »Barbaren« und der Art und Weise, wie diese zu behandeln seien – die indianische Wirklichkeit in den Jahrzehnten um die Conquista breit dokumentierte.37 Der Höhepunkt dieser Literatur ist die zwischen 1559 und 1579 niedergeschriebene, jedoch erst seit 1950 vollständig veröffentlichte große Enzyklopädie des aztekischen Lebens des Franziskaners Bernardino de Sahagún.38 Nur wenig später entstanden die ersten Werke nordamerikanischer Proto-Ethnographie. Die großen Debatten über Mission und Kolonialismus, über die physische Beschaffenheit der Neuen Welt, über Wilde und Barbaren, über Naturzustand und Zivilisation sind höchst aufschlußreich für das europäische Geschichtsbewußtsein. Wo aber liegt ihr Zusammenhang mit Geschichtsschreibung im engeren Sinne? Das ethnographische Interesse39 formiert sich nicht vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen Form des Forschens und Schreibens; es bündelt sich vor 1800 noch nicht, wie etwa die politische Ökonomie seit den Physiokraten, zu einem distinkten Wissensgebiet, wie es dann später 35 E. Fueter, Geschichte der modernen Historiographie, München 19252, S. 292. 36 Peter Martyr d’Anghiera, Acht Dekaden über die Neue Welt, hg. v. H. Klingelhöfer, 2 Bde., Darmstadt 1972. 37 Vgl. A. Pagden, The Fall of Natural Man: The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge 1982; M. Erdheim, Anthropologische Modelle des 16. Jahrhunderts, in: W. Marschall (Hg.), Klassiker der Kulturanthropologie, München 1990, S. 19–50. 38 Bernardino de Sahagún, Florentine Codex: General History of the Things of New Spain, hg. v. A. J. Anderson u. C. E. Dibble, 13 Bde., Santa Fé, N. Mex. 1950–75. Diese Ausgabe enthält den Urtext in transkribiertem Nahuatl (Aztekisch) mit englischer Übersetzung. Leichter zugänglich ist: C. Litterscheid (Hg.), Aus der Welt der Azteken. Die Chronik des Fray Bernardino de Sahagún, Frankfurt a.M. 1989. 39 Vgl. M. T. Hodgen, Early Anthropology in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Philadelphia 1964; M. Duchet, Anthropologie et histoire au siècle des Lumières, Paris 1971.

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unter den Bezeichnungen »Ethnologie« und »Anthropologie« entstehen wird. Jedoch ist ethnographisches Spezialwissen allgegenwärtig; es diffundiert durch alle Diskurse des frühneuzeitlichen Europa und macht sie latent kulturvergleichend. Dabei beschränkt sich das Ethnographische keineswegs auf die amerikanischen, afrikanischen und ozeanischen »Wilden«; es umfaßt stets auch andere »Hochkulturen«, etwa die durchweg hoch respektierten Japaner, die niemand in Europa je als »Barbaren« bezeichnet hat. Der Ursprung solchen Wissens ist weniger systematische Forschung über längere Zeiträume – Sahagún fand so gut wie keine Nachfolger – als vielmehr das Reisen.40 Jeder empirisch gestimmte Reisebeschreiber seit Herodot berichtet von Sitten und Gebräuchen fremder Völker. Dies ist das Material, aus dem von »armchair travellers« universale Überblicke kompiliert werden, und der Rohstoff, aus dem von Montesquieu bis Hegel, Heeren und Carl Ritter die großen kulturvergleichenden Synthesen entstehen. Ein Modernisierungsschub läßt sich allenfalls auf dieser Ebene der Verarbeitung völkerkundlicher Informationspartikel, nicht aber auf der vorgelagerten der ethnographischen Datenermittlung feststellen. Diese wird erst nach 1900 systematisiert und methodisiert, vor allem mit dem Aufkommen der sozialanthropologischen Feldforschung. Erstaunlich und erklärungsbedürftig ist daher weniger die Ubiquität von Hinweisen auf Indianer und Türken, Hottentotten und Siamesen in allen möglichen europäischen Kontexten der Frühen Neuzeit als das Verschwinden solcher kulturvergleichenden Selbstverständlichkeit nach Wilhelm und Alexander von Humboldt. Ethnographisches Wissen findet seine privilegierte Verwendung in allen Formen »philosophischer Geschichte«: bei Giambattista Vico, bei den schottischen Aufklärern (besonders Adam Smith, Adam Ferguson, John Millar), bei Turgot, Condorcet und J.J. Virey, bei Herder, Iselin, den »Göttingern« in ihren verschiedenen Fachdisziplinen. Neben der Gattungsgeschichte der Menschheit, der allgemeinen Völkergeschichte – die keineswegs eine Geschichte »von unten« zu sein braucht – und der Geschichte der Produktionsweisen und Gesellschaftszustände gibt es mindestens zwei Sonderformen. Das eine sind partielle Universalgeschichten, die eine Großregion oder einen systematischen Gesichtspunkt behandeln. So schrieb Christoph Meiners eine nahezu tausendseitige Geschichte Asiens,41 ein viel gründlicheres und interessanteres Werk als sein bekannter »Grundriß der Geschichte der Menschheit« (1793). Ein anderer

40 Zu Varianten des Fernreisens vgl. J. Osterhammel, Reisen an die Grenzen der Alten Welt. Asien im Reisebericht des 17. und 18. Jahrhunderts, in: P. J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt a.M. 1989, S. 224- 260. 41 Sie verbirgt sich hinter dem Titel »Betrachtungen über die Fruchtbarkeit, oder Unfruchtbarkeit, über den vormahligen und gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Länder in Asien«, 2 Bde., Lübeck u. Leipzig 1795–96.

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Strang ist die Kulturgeschichte der Religionen.42 Zweitens sind Versuche gemacht worden, Universalgeschichte nicht an Stadienmodellen (Turgot, Smith, Condorcet) oder an »synchronistischen« Schemata zu orientieren, sondern, wie verschiedentlich etwa von Schlözer gefordert, als Wirkungszusammenhang von Begebenheiten darzustellen. Dies ist vor allem Edward Gibbon gelungen, dessen »Decline and Fall of the Roman Empire« (1776–88) nicht bloß eine Geschichte des Untergangs Westroms ist, sondern eine analytisch dicht integrierte Darstellung des Mittelmeerraumes in seiner Beeinflussung durch angrenzende Zivilisationen bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts.43 Das Werk enthält bedeutende Kapitel über Zentralasien und den frühen Islam. Gibbon verarbeitet hier das gesamte damals vorliegende historische und ethnographische Material zum nomadischen Pastoralismus und formt es zu einer Theorie der Hirtengesellschaft. Bei ihm ist das völkerkundliche Detail nicht Ornament und Illustration, sondern dient einem klaren geschichtsanalytischen Argumentationszweck. Außereuropäische Völker wurden in der Frühen Neuzeit im allgemeinen nicht – wie später im 19. Jahrhundert – als »geschichtslos« betrachtet, auch wenn man ihnen im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer öfter Rückständigkeit und einen Mangel an Kreativität und Dynamik zuschrieb. »Geschichtslosigkeit« war dort am ehesten zu vermuten, wo schriftliche Zeugnisse fehlten und die materiellen Monumente auf ein niedriges Niveau technischer Naturbeherrschung schließen ließen. Als »Wilde«, die dem Naturzustand kaum entwachsen seien, sah man hauptsächlich die Bewohner der Südsee, über die man erst seit den Weltumsegelungen der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts (Wallis, Bougainville, Cook, u.a.) Näheres wußte, sowie die schwarzen Afrikaner, mit denen man fast nur im Gewaltzusammenhang des Sklavenhandels in Berührung kam. Zaghafte frühere Ansätze eines Interesses an der Geschichte der Afrikaner, wie es in manchen Reiseberichten zum Ausdruck kommt,44 wurden im späten 18. Jahrhundert verschüttet, und es setzte sich für 150 Jahre Hegels Ansicht durch, »daß es die Unbändigkeit ist, welche den Charakter der Neger bezeichnet. Dieser Zustand ist keiner Entwicklung und Bildung fähig, und wie wir sie heute sehen, so sind sie immer gewesen.«45 Die von den Spaniern zerstörten Indianerkulturen Süd- und Mittelamerikas erlebten ein anderes historiographisches Schicksal. Sie wurden mit der Zeit zu 42 Vgl. C. Bernand u. S. Gruzinski, De l’idolâtrie: Une archéologie des sciences religieuses, Paris 1988. 43 Zur Situierung Gibbons in diesem Sinne vgl. Kapitel 4 in diesem Band. 44 Das größte historische Interesse wurde der Geschichte des christlichen Äthiopien entgegengebracht, besonders: Hiob Ludolf, Historia Aethiopica, Frankfurt a.M. 1681. Vgl. M. dos Santos Lopes, Afrika. Eine neue Welt in deutschen Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992, S. 199– 203. 45 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (= Theorie-Werkausgabe, Bd. 12), Frankfurt a.M. 1970, S. 128.

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Objekten nostalgischer Verklärung, vor allem betrieben durch indigene Patrioten wie Garcilaso de la Vega, den überwiegend in Spanien lebenden Sohn eines spanischen Adligen und der Enkelin eines Inka-Herrschers,46 und später durch kreolische Historiker wie Francisco Javier Clavijero, den Urheber einer in die Unabhängigkeitsperiode hineinwirkenden und das Nationalverständnis des modernen Mexiko prägenden »aztekischen Renaissance«.47 Das indianische Altertum wird hier zur Klassik der Neuen Welt. In Nordamerika entspricht dem der Mythos von der Geburt der Nation aus der Wildnis, in dem zwischen etwa 1720 und 1790 bei manchen Autoren auch die Indianer eine positive Rolle spielten, ohne daß man allzu viele Anhaltspunkte in der empirischen Geschichte der indianischen Stämme gesucht hätte.48 Die Völker und Staaten der Alten Welt hatten in den Augen der späteren Aufklärung längst nicht mehr das Prestige, das ihnen im 16. und 17. Jahrhundert beigemessen wurde. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts betrachtete man sie unter den alternativen historischen Modellen (a) »untergegangene Klassik« (das sanskritische Indien, der vorislamische Iran), (b) »Niedergang der Imperien«, meist verursacht durch »Despotismus« (die Reiche der Safawiden, Moguln, Osmanen), (c) »Versteinerung der Strukturen« (China). Sie galten weiterhin als würdige Anschauungsobjekte für den europäischen Historiker, zumal für den »philosophischen«, etwa den einflußreichen Comte de Volney.49 Die englische »Universal History« (1736 ff.), mit ihrer erheblich veränderten deutschen Ausgabe (1744 ff.) ist freilich als Summe des empirischen Wissens gerade auch über die Geschichte der »Anderen« bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht übertroffen worden.

46 Garcilaso de la Vega, Comentarios reales de los Incas [1609–17], in: ders., Obras completas, hg. v. C. Sáenz de Santa Maria, Bde.3–4, Madrid 1960–65; ders., Wahrhaftige Kommentare zum Reich der Inka, dt. v. W. Plackmeyer, Berlin 1983. 47 Francisco Javier Clavijero, Historia antigua de México [1780–81], hg. v. M. Cuevas, Mexico City 1964. 48 Vgl. R. Slotkin, Regeneration through Violence: The Mythology of the American Frontier, 1600–1860, Middleton, Conn. 1973, S. 217. Vgl. auch R. H. Pearce, Rot und Weiss. Die Erfindung des Indianers durch die Zivilisation, dt. v. W. Bick, Stuttgart 1988, S.187–227. 49 C.-F. Chassebœuf Comte de Volney, Les ruines, ou méditation sur les revolutions des empires, Paris 1791; ders., Die Ruinen oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche, hg. v. G. Mensching, Frankfurt a.M. 1977.

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5. Nation und Zivilisation in der britischen Historiographie von Hume bis Macaulay

I. »An der deutschen Geschichte«, bemerkt Leopold von Ranke 1863 in einer Vorlesungseinleitung, »würde [...] auch Hume gescheitert sein.«1 Es ist dies eine geschichtstheoretische Aussage und zugleich ein kollegiales Kompliment. Ranke meint, daß die englische Geschichte einfacher zu schreiben sei als die deutsche, ist sie doch die Geschichte einer trotz aller inneren Entzweiung durch Reformation, Bürgerkrieg und Parteienstreit kontinuierlich um ihre Verfassung herumwachsenden Nation. Die allmähliche »gesetzliche Gestaltung ihrer inneren Verhältnisse«, nicht – wie gleichzeitig bei den Franzosen – »der Glanz der äußeren Macht«, sei unter den Engländern der Neuzeit das vornehmste politische Ziel gewesen.2 Die englische Geschichte ist, wie es wenige Jahre später am Ende von Rankes eigener Darstellung heißt, eine »Geschichte aus einem Stücke von dem Moment der ersten germanischen Ansiedlung in Britannien bis zur Gründung der maritimen Herrschaft in beiden Hemisphären«.3

1 L. v. Ranke, Aus Werk und Nachlaß. Bd. 4: Vorlesungseinleitungen, hg. v. V. Dotterweich u. W. P. Fuchs, München 1975, S. 335. 2 Ders., Englische Geschichte [1859–1868], 4 Bde., Meersburg 1937, Bd. 1, S. 6; Ders., Sämmtliche Werke., Bd. 14, Leipzig 18774, S. VII. In diesem Werk bildet die Verfassungsentwicklung »a cohesive theme running through the vagaries of individual events«. L. Krieger, Ranke: The Meaning of History, Chicago 1977, S. 281, auch S. 239. Von einem Primat der außerbritischen Perspektive (so C. McClelland, The German Historians and England: A Study in Nineteenth-Century Views, Cambridge 1971, S. 100) kann in Rankes »Englischer Geschichte« keine Rede sein. 3 Ranke, Englische Geschichte, Bd. 4, S. 92; Ders., Sämmtliche Werke, Bd. 21, Leipzig 1876, S. 107 (Hervorhebung im Original). Das 18. Jahrhundert, auf das Ranke hier als terminus ad quem anspielt, ist von großer Bedeutung für seine Einschätzung Englands. Schon 1826 plante er eine Konzentration auf »die neueste Zeit, die für Nationalwohl und jedes höchste Interesse die allerlehrreichste und doch noch von niemand, selbst von keinem Engländer, soviel ich weiß, genügend bearbeitet worden ist«. Ranke an Friedrich Perthes, 20. März 1826, in: L. v. Ranke, Das Briefwerk, hg. v. W. P. Fuchs, Hamburg 1949, S. 96. Freilich wäre eine Geschichte des imperial ausgreifenden Großbritannien im 18. Jahrhundert keine reine Nationalgeschichte mehr: man würde »die Weltgeschichte eines Jahrhunderts in beiden Hemisphären schreiben müssen«. Ranke, Englische Geschichte, Bd. 4, S. 94; Ders., Sämmtliche Werke, Bd. 21, S. 109.

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David Hume4 nun, »ein feiner, scharfsinniger, gebildeter Geist, der in dem, was er veranlaßt hat, fast noch größer erscheint als in dem, was er leistete«5, war in Rankes Augen der erste, der diese prototypisch kompakte Nationalgeschichte in ausgreifender Synthese gestaltet hatte, einer der frühesten Verfasser einer nationalgeschichtlichen Darstellung überhaupt. Ungeachtet anderer Vorbehalte gegen ihn – gegen die Oberflächlichkeit seiner Forschungen (besonders zum Mittelalter), gegen das Polemisch-Tendenziöse mancher seiner Urteile6 – sah Ranke in Hume den großen Bezwinger seines Stoffes mit den Mitteln einer »unvergleichlichen Leichtigkeit und Anmut der Darstellung« unter »Prinzipien der allgemeinen Kultur und der milden, toleranten Moral, die er in sich trug«, also nicht bloß eines britischen Nationalstandpunktes.7 An Hume mußte jeder Historiker der englischen Nation sich messen und sich messen lassen. David Humes »History of England« war fast genau ein Jahrhundert alt, als Ranke sie seinen Berliner Hörern empfahl.8 Hume hatte seit 1745 Pläne für eine Geschichte Englands skizziert9, begann die »History« aber erst, nachdem er im Januar 1752 zum Keeper of the Advocates’ Library in Edinburgh bestellt worden war, eine Position, die ihm nicht nur ein Grundmaß an materieller Sicherheit, sondern auch den Zugang zu umfangreichen Sammlungen von Büchern und Manuskripten ermöglichte. Nach zwei Jahren intensiver Arbeit konnte Hume bereits 1754 den ersten Band veröffentlichen, der die Regierungszeit der ersten beiden Stuartkönige behandelte.10 Der Verfasser klagte 4 Über Hume und die meisten anderen in diesem Aufsatz erwähnten britischen Historiker vgl. meine biographisch-kritischen Artikel in R. vom Bruch u. R. A. Müller (Hg.), Historikerlexikon. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 1991; vgl. damit auch J. Cannon u. a. (Hg.), The Blackwell Dictionary of Historians, Oxford 1988. Vgl. auch J. Osterhammel, Epochen der britischen Geschichtsschreibung, in: W. Küttler u. a. (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt a.M. 1993, S. 157–188. 5 Ranke, Aus Werk und Nachlaß, Bd. 4, S. 365. 6 Ranke versteht Hume als den Hauptvertreter einer »toryistischen Auffassung«, die später durch Macaulays »whiggistische« verdrängt worden sei. Vgl. Ranke, Englische Geschichte, Bd. 4, S. 206; Ders., Sämmtliche Werke, Bd. 21, S. 242. Er selbst erstrebte eine Darstellung »unabhängig von den englischen Historikern und den herkömmlichen Auffassungen beider Parteien« (ebd. S. 114). Freilich räumt er ein, daß auch Hume kein reiner Apologet des royalistischen Prinzips gewesen sei. Einerseits registriert Ranke »die unbedingte Einseitigkeit, mit der Hume den toryistischen Bestrebungen der Stuarts zu Hülfe kam«, andererseits konzediert er, durchaus im Einklang mit der neueren Hume-Forschung: »Hume mit richtig denkendem, gebildetem Geist flicht überall Reflexionen ein, welche dem Leser einleuchten, denn sein philosophisches Talent ist doch wieder über die politische Tendenz erhaben.« Ranke, Aus Werk und Nachlaß, Bd. 4, S. 368. 7 Ebd., S. 367. 8 D. Hume, History of England from the Invasion of Julius Caesar to the Revolution in 1688, 6 Bde., London 1754–1762. Neudruck der Ausgabe London 1778, 6 Bde., Indianapolis 1983. Nach dieser Ausgabe wird fortan zitiert. 9 V. G. Wexler, David Hume and the »History of England«, Philadelphia 1979, S. 9f. 10 Es handelt sich um Band 5 in der chronologischen Folge des späteren sechsbändigen Gesamtwerks.

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über die anfänglich geringe Resonanz beim Publikum. Doch bereits 1762 war er auf dem literarischen Markt etabliert genug, um seinem Verleger für die beiden als letzte erscheinenden Bände – sie reichten von der Invasion der Römer bis zum Herrschaftsantritt Heinrichs VIII. – die außerordentliche Honorarsumme von » 1400 Pfund abfordern zu können.11 In den sechziger Jahren wurde die »History« zum bis dahin erfolgreichsten aller britischen Geschichtswerke. Sie machte ihren Autor, der mit seinen philosophischen Schriften zunächst kaum reüssiert hatte, reich und berühmt.12 Auf dem Kontinent begründete sie das Ansehen des Schotten als eines der maßgebenden Schriftsteller der Epoche. Voltaire pries Humes Geschichtswerk als das vielleicht beste in irgendeiner Sprache.13 In Deutschland fanden seine Bände Interesse und Bewunderung bei Historikern und Theologen, Philosophen und Literaten. Lessing und Wieland, Schiller und Hamann studierten sie. Herder stellte ihren Autor an die Seite von Thukydides und Tacitus.14 Allein die Historiker der Göttinger Schule gingen in mancher Hinsicht auf Distanz15, ohne Humes Wirkungsbreite nennenswert Abbruch zu tun. Humes europäischer Ruhm wiederum kam seiner Reputation im Heimatland zustatten, war die »History« doch für den Handelsstaat England ein hervorstechender kultureller Exportartikel. König George III. persönlich drängte den Autor, sein Werk bis in die Gegenwart fortzusetzen.16 Hume hatte seine Nationalgeschichte nicht ohne einen Blick auf ihre mögliche internationale Wirkung geschrieben. Aber hauptsächlich hatte er sie, ebenso wie zuvor schon seine »Essays Moral and Political« (1741/42), für das neue Publikum des hannoveranischen England bestimmt: ein städtisches Publikum, das in einer Atmosphäre beispielloser politischer Stabilität, wachsenden Wohlstands und abgeschwächter religiöser Gegensätze für die Diskussion moralischer und politischer Fragen in der Sprache von »gentility« und »polite11 E. C. Mossner, The Life of David Hume, Oxford 19802, S. 314f. 12 Wexler, David Hume, S. 95, bringt dies auf die Formel: »from outcast philosopher to renowned historian«. 13 In seiner Rezension von Humes »History« in der Gazette Littéraire vom 2. Mai 1764. Voltaire, Œuvres complètes, Bd. 25, Paris 1879, S. 169. 14 G. Gawlick u. L. Kreimendahl, Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte, Stuttgart-Bad Canstatt 1987, S. 162. Zur Rezeption der »History« auch ebd., S. 72– 74. 15 Im Grunde weniger zu Hume selbst als zu seinen deutschen Nachahmern. Vgl. P. H. Reill, The German Enlightenment and the Rise of Historicism, Berkeley 1975, S. 56; Ders., Die Geschichtswissenschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts, in: R. Vierhaus (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, S. 167. Über die Rezeption der britischen Historiker bei ihren deutschen Fachkollegen im 18. Jahrhundert vgl. auch G. G. Iggers, The European Context of Eighteenth-Century German Enlightenment Historiography, in: H. E. Bödeker u. a. (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, Göttingen 1986, S. 234–238; H.-W. Blanke u. D. Fleischer, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Bd. 1, Stuttgart-Bad Canstatt 1990, S. 30f. 16 Mossner, Life of David Hume, S. 555.

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ness« empfänglich war. Publizisten wie Daniel Defoe, Joseph Addison und Richard Steele hatten diesem Diskurs am Beginn des Jahrhunderts den Boden bereitet.17 Humes »History of England« war auf ambivalente Art ein überaus gegenwartsbezogenes Werk. Einerseits hatte sie wenig gemein mit den Zwecken und Darstellungsweisen des gelehrsamen und schwerfälligen Antiquarianismus des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts, der niemals eine narrative Form und eine breitere Leserschaft gefunden hatte.18 Ihr Stilideal war eingängige Eleganz, ihre Absicht politische Pädagogik. Andererseits distanzierte sich Hume von dem, was er als historiographisch bemäntelte Parteipolemik im politischen Tageszwist empfand. Seinen Ruf als »Tory«-Historiker verdankte er nicht allein substantiellen Einwänden gegen die »Whig«-Deutung der englischen Geschichte, besonders gegen die Dämonisierung der ersten beiden Stuart-Könige19, die er selbst eher als Opfer ihrer Umgebung und ihres eigenen Unvermögens denn als handlungsstarke Täter zu sehen geneigt war20, sondern auch seiner Kritik an der verbreiteten Funktionalisierung historischer Mythen im Dienste politischer Richtungen. Wie J. G. A. Pocock gezeigt hat, sank in England nach 1688 das Niveau historischer Analyse. An die Stelle einer präzisen Rechtsgeschichte, die das Entstehen der Prärogative historisch genau und teilweise im gesamteuropäischen Vergleich zu erklären suchte, trat in der Geschichtsauffassung der politisch dominanten Whigs der Rückgriff auf die Legenden von einer seit jeher bestehenden »ancient constitution«, einem in graue 17 Zu Addison vor allem: E. A. Bloom u. L. D. Bloom, Joseph Addison’s Sociable Animal, Providence, R.I. 1971; M. G. Ketcham, Transparent Designs: Reading, Performance, and Form in the »Spectator« Papers, Athens, Ga. 1985. Zur publizistischen und literarischen Organisation der neuen Öffentlichkeit vgl. W. A. Speck, Society and Literature in England 1700–60, Dublin 1983, S. 186ff.; J. Enkemann, Journalismus und Literatur. Zum Verhältnis von Zeitungswesen, Literatur und Entwicklung bürgerlicher Öffentlichkeit in England im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1983, S. 113ff. Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund die vorzügliche Untersuchung von P. Borsay. The English Urban Renaissance: Culture and Society in the Provincial Town 1660–1770, Oxford 1989, bes. S. 257–283. Eine ideengeschichtliche Fallstudie ist J. Gascoigne, Cambridge in the Age of the Enlightenment: Science, Religion and Politics from the Restoration to the French Revolution, Cambridge 1989, bes. S. 71ff. Über den Forschungsstand: L. Colley, The Politics of Eighteenth-Century British History, in: JBS, Jg. 25, 1986, S. 370f. Als Zusammenfassung P. Langford, A Polite and Commercial People: England 1727–1783, Oxford 1989, S. 59–121. Für die Zeit nach 1760: E. Hellmuth (Hg.), The Transformation of Political Culture: England and Germany in the Late Eighteenth Century, Oxford 1990, darin bes. J. Innes, Politics and Morals: The Reformation of Manners Movement in Late Eighteenth-Century England, S. 58–118. 18 J. M. Levine, Humanism and History: Origins of Modern English Historiography, Ithaca 1987, S. 102f. Zu denken ist dabei an Autoren wie John Leland, William Camden, John Selden oder Richard Bentley. 19 Diese Auffassung vertrat am wirkungsvollsten der französische Hugenotte Paul de RapinThoyras in seiner Histoire de l’Angleterre, Den Haag 1723–1725, die 1725–1731 in einer fünfzehnbändigen englischen Übersetzung erschien und danach große Verbreitung fand. 20 Etwa: Hume, History of England, Bd. 5, S. 121f., 542–544.

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Frühzeit zurückreichenden Parlament und einem der kontinentalen Rechtsentwicklung überlegenen, ebenfalls in seinen Ursprüngen nicht faßbaren Common Law.21 Indem Hume die Haltlosigkeit dieser Konstruktionen nachwies, knüpfte er zum Zwecke historischer Aufklärung in seiner Gegenwart an die Rechtshistoriker des voraufgegangenen Jahrhunderts an. In einer literarischen Form, die publikumswirksam auf der Höhe der Zeit stand, schmuggelte er die unzeitgemäßen Einsichten eines konservativen Skeptikers. Trug Humes »History« deutlich die Spuren ihrer Herkunft aus den politischen und historiographischen Problemlagen des mittleren 18. Jahrhunderts, so reichte ihre Wirkung weit über ihre Entstehungszeit hinaus. Bis 1894 war das Werk ohne Unterbrechung im Buchhandel greifbar.22 Noch der junge Winston Spencer Churchill, später selbst ein bedeutender Geschichtsschreiber, las es als sein »boyhood manual«.23 Bis ins dritte Quartal des 19. Jahrhunderts wurde es als verbindliches Standardwerk an den Universitäten studiert. Keine Darstellung neueren Datums vermochte ihm seinen maßstäblichen Rang streitig zu machen. John Lingards im Detail akkuratere, viel umfassender aus den Quellen gearbeitete, auf jeglichen »philosophischen« Kommentar nach Art der Aufklärungshistorie verzichtende »History of England«, die zwischen 1819 und 1830 erschien24, galt im protestantischen Milieu als kaum akzeptabel, war ihr Verfasser doch katholischer Dorfpfarrer in Lancashire. Obwohl Lingard sich bemühte, in seiner Darstellung protestantische Gefühle und Überzeugungen nicht zu verletzen, blieb seine Wirkung weiterhin auf das katholische Publikum in England und Irland beschränkt.25 Von einer anderen möglichen Alternative zu Hume, Henry Hallams solider und präziser, jegliches rhetorische Ornament verschmähender Geschichte der englischen Verfassung zwischen Heinrich VII. und George II., die sich durch eine weitgehende Transzendierung der Parteistandpunkte von Whigs und Tories auszeichnete26, hieß es, die Sprödigkeit der Darstellung überfordere das 21 J. G. A. Pocock, The Ancient Constitution and the Feudal Law: A Study of English Historical Thought in the Seventeenth Century. A Reissue with a Retrospect, Cambridge 1987, S. 228, 234– 237. 22 N. Phillipson, Hume, London 1989, S. 139. Ranke stellte 1864 fest: »[...] die Engländer lernen noch heute die Geschichte ihres Landes daraus [aus dem Humeschen Werk]«. Aus Werk und Nachlaß, Bd. 4, S. 367. 23 Zitiert in T. P. Peardon, The Transition in English Historical Writing, 1760–1830, New York 1933, S. 20, Anm. 23. 24 J. Lingard, A History of England from the First Invasion by the Romans to the Revolution in 1688, 8 Bde., London 1819–1830. Zu Lingard vor allem Peardon, Transition, S. 277–283; mit übertreibendem Anspruch für Lingards Rang: D. F. O’Shea, The English Ranke: John Lingard, New York 1969. 25 J. Kenyon, The History Men: The Historical Profession in England since the Renaissance, London 1983, S. 86f. 26 H. Hallam, The Consitutional History of England from the Accession of Henry VII to the Death of George II., 2 Bde., London 1827. Zu Hallam vgl. Peardon, Transition, S. 207–213, 271–

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studentische Fassungsvermögen.27 Auch Macaulay, der Hallam als seinen einzigen auch nur annähernd ebenbürtigen Vorläufer ansah und ihn besonders als den Autor einer »critical and argumentative history« schätzte28, ohne freilich seine Scheu vor moralischen Urteilen zu billigen, kam nicht umhin, »the extreme austerity« von Hallams Stil zu beklagen, die einer breiteren Wirkung im Wege stehe.29 Erst mit John Richard Greens »Short History of the English People« von 1874 fand Humes Darstellung eine fachlich seriöse wie literarisch ansprechende Nachfolge. Bis zur Jahrhundertwende wurden von Greens Buch, das als erste allgemeine Darstellung der englischen Geschichte den gesellschaftlichen und geistigen Entwicklungen ein größeres Gewicht beimaß, fast eine Viertelmillion Exemplare verkauft.30 Sein Verfasser erreichte beinahe die Popularität Macaulays. Thomas Babington Macaulays monumentale »History of England«31, bewußt gegen die angebliche Humesche Tory-Tendenz und den Humeschen Ruhm geschrieben32, hatte um die Mitte des Jahrhunderts das Werk des Schotten überschattet, ohne es doch ersetzen zu können. Denn Lord Macaulay war eine neue Nationalgeschichte schuldig geblieben.33 Hatte er nach früheren, 276; G. P. Gooch, Geschichte und Geschichtsschreiber im 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M: 1964, S. 304f., 313–315; J. R. Hale, Introduction, in: Ders. (Hg), The Evolution of British Historiography: From Bacon to Namier, London 1967, S. 38–40. Die einflußreichste Würdigung ist Macaulays Besprechung von Hallams »Constitutional History« in der »Edinburgh Review« vom September 1828, wiederabgedruckt in: T. B. Macaulay, Works, Bd. 7, London 1898, S. 221–326. Zu Hallams bemerkenswert klarer Sicht des Mittelalters, besonders des englischen Parlaments, vgl. auch P. B. M. Blaas, Continuity and Anachronism: Parliamentary and Constitutional Development in Whig Historiography and the Anti-Whig Reaction between 1890 and 1930, Den Haag 1978, S. 94–100. Hallam, der in institutionellen, kaum in personalen Kategorien dachte und sich niemals in bloßer Faktenanhäufung verlor, war ein »Strukturhistoriker« avant la lettre. Er schrieb zwei weitere bedeutende Werke: View of the State of Europe during the Middle Ages, London 1818; Introduction to the Literature of Europe in the Fifteenth, Sixteenth and Seventeenth Centuries, 4 Bde., London 1837–1839. 27 Belege bei P. Levine, The Amateur and the Professional: Antiquarians, Historians and Archaeologists in Victorian England, 1838–1886, Cambridge 1986, S. 138. 28 Macaulay, Hallam’s Constitutional History, in: Ders., Works, Bd. 7, S. 223. 29 Ders., Sir James Mackintosh’s History of the Revolution, in: ebd., Bd. 8, S. 423. 30 R. Jann, The Art and Science of Victorian History, Columbus, Ohio 1985, S. 141; hier auch eine Würdigung Greens, S. 141–169. 31 T. B. Macaulay, The History of England from the Accession of James the Second, 5 Bde., London 1848–1861. Im folgenden wird die sechsbändige Ausgabe, hg. v. C. H. Firth, London 1913–1915, zitiert. 32 Vgl. Macaulay an Thomas Flower Ellis, 8. März 1849, in: T. B. Macaulay, The Letters, hg. v. T. Finney, 6 Bde., Cambridge 1974–1981, hier Bd. 5, S. 32. 33 Bemerkenswert ist die Parallele zu jenem deutschen Historiker, mit dem Macaulay sich am ehesten vergleichen läßt: Auch Ranke schrieb niemals seine Deutsche Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Vgl. E. Schulin, Universalgeschichte und Nationalgeschichte bei Leopold von Ranke, in: W. J. Mommsen (Hg.), Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988, S. 38, S. 61.

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noch ehrgeizigeren Absichten immerhin eine Gesamtdarstellung der Zeit von 1688 bis 1832 geplant, von der Versöhnung, wie er es ausdrückte, der Krone mit dem Parlament bis zur Harmonie zwischen Parlament und Nation34, so beschrieb er in den fünf Bänden, die zwischen 1848 und 1861 erschienen, doch nur die Zeit vom Regierungsantritt James II. 1685 bis zum Tode Williams III. im Jahre 1702; selbst zu einer Würdigung der Folgen der sogenannten Glorious Revolution ist er nicht mehr gekommen.35 Die Epochen der Tudors und Stuarts, die bei Hume im Mittelpunkt stehen, hat er gar nicht behandelt. Dreitausend Seiten benötigte Macaulay für die Schilderung von siebzehn Jahren, wo Hume auf weniger Raum von 1688 bis zur römischen Invasion zurückgegangen war. Obwohl Macaulay im stark raffenden ersten Kapitel der »History« sowie verstreut in vielen seiner Essays zu Fragen der englischen Geschichte vor und nach der Periode 1685–1702 Stellung nahm und obwohl sich seine Sicht der wichtigsten nationalhistorischen Probleme zumindest im Umriß aus solchen verstreuten Äußerungen rekonstruieren läßt36, ist sein Werk doch im thematischen Umfang mit demjenigen Humes kaum kongruent. Macaulay schrieb nicht die Geschichte der Nation in ihrer kontinuierlichen Entwicklung, er schrieb die Geschichte jener Wendezeit, in der die Nation – nach seinem Urteil – unwiderruflich zu sich selber fand. Macaulays »History of England« war ein Triumph von Rhetorik und Dramaturgie, von Stilkunst und Detailtreue.37 Sie wurde zu einem der Bestseller des 19. Jahrhunderts in der gesamten englischsprachigen Welt und weit darüber hinaus und hat ihren Rang als ein Hauptwerk der viktorianischen Literatur bis heute bewahrt. Ihr Akzent auf dem Fortschritt von Freiheit und Wohlfahrt traf die Stimmung eines bürgerlichen Publikums in der Ära der Reform. Doch als der Schriftsteller und Staatsmann am 9. Januar 1860 in Westminster Abbey zu Grabe getragen wurde38, war das Werk unvollendet und eine Epoche abgeschlossen. Schon den Historikern der nächsten Generation erschien Macaulay als Fossil. 34 Macaulay an Macvey Napier, 20. Juli 1838, in: Macaulay, Letters, Bd. 3, S. 252. 35 Über das Wesen der Revolution von 1688, einer »preserving revolution« im Unterschied zur »destroying revolution« der Franzosen, äußert sich Macaulay nur knapp am Schluß des 10. Kapitels: History of England, Bd. 3, S. 1304–1312. Der Versuch einer Einbettung der Glorious Revolution in den weiteren Zusammenhang der englischen Geschichte findet sich allein in dem kurz vor Beginn der Arbeit an der »History« geschriebenen Essay über das fragmentarische Werk eines Vorgängers: Macaulay, Sir James Mackintosh, S. 444ff. 36 Darauf weist hin: H. Trevor-Roper, Lord Macaulay: Introduction, in: Ders. (Hg.), Lord Macaulay: The History of England, Harmondsworth 1979, S. 25. 37 Zu den literarischen Qualitäten des Werkes vgl. P. Gay, Style in History, New York 1974, S. 97–138; J. Millgate, Macaulay, London 1973, S. 116ff.; M. Cruikshank, Thomas Babington Macaulay, Boston 1978, S. 115–121. 38 Die Szene schildert G. O. Trevelyan, The Life and Letters of Lord Macaulay, Bd. 2, Oxford 1876, Reprint Oxford 1978, S. 400f.

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Keineswegs zerfiel sein Renommee so plötzlich wie das des unzeitgemäßen und originellen Henry Thomas Buckle, der bei seinem Tode 1862 in Damaskus ebenfalls ein Monumentalwerk, die in manchem dem positivistischen Wissenschaftsbegriff Auguste Comtes nahestehende »History of Civilization in England«, als Torso hinterlassen hatte.39 Waren Buckles umständliche und eigenwillige Bände zu einem ungünstigen Zeitpunkt erschienen, kurz vor Charles Darwins »The Origins of Species«, einem Buch, das in Großbritannien dem evolutionistischen Denken, auch außerhalb der Naturwissenschaft, rasch eine ganz neue, von Buckle wegführende Richtung gab, so beruhte Macaulays anhaltender Erfolg keineswegs auf intellektuellem Avantgardismus, sondern auf einer literarischen Virtuosität und auf der fortdauernd breiten Zustimmung zu seinen politischen Ansichten. Macaulay, der seine schriftstellerische Kunst unter anderem am Vorbild der Romane Sir Walter Scotts geschult hatte40, lebte fort als der Ahnherr jener publikumsfreundlichen narrativen41 Richtung der englischen Geschichtsschreibung, deren Programm sein Großneffe George Macaulay Trevelyan 1913 im Titel eines Aufsatzes formulierte: »Clio, a Muse«.42 Diejenigen hingegen, die in Klio die Göttin strenger Wissenschaftlichkeit sahen, wandten sich gegen all das, wofür die »History of England« stand. In Cambridge verdammte Sir John Seeley, seit 1869 Regius Professor of Modern History, Macaulay, Carlyle und überhaupt alle Praktiker einer literarisch ro39 H. T. Buckle, The History of Civilization in England, 2. Bde., London 1857–1861; hier benutzt in der Ausgabe London 1869 (3 Bde.). Buckles History »flashed like a meteor across the firmament and disappeared«. So H. J. Hanham, Editor’s Introduction, in: Ders. (Hg.), Henry Thomas Buckle: On Scotland and the Scotch Intellect, Chicago 1970, S. XXXVI. Über Buckle vgl. G. St. Aubyn, A Victorian Eminence: The Life and Work of Henry Thomas Buckle, London 1958; E. Fuchs, Henry Thomas Buckle. Geschichtsschreibung und Positivismus in England und Deutschland, Leipzig 1994. Zur Wirkung immer noch: J. M. Robertson, Buckle and His Critics: A Study in Sociology, London 1895. 40 Vgl. M. Phillips, Macaulay, Scott, and the Literary Challenge to Historiography, in: JHI, Jg. 50, 1989, S. 117–133; Millgate, Macaulay, S. 120f. Auch der junge Ranke war zunächst von Scott beeindruckt. Vgl. E. Schulin, Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, S. 37, S. 53. Wenn Droysen später Macaulay »den besten Walter Scott unter den jetzigen Geschichtsschreibern« nennt, so ist dies Ausdruck scharfer Mißbilligung. Droysen an Heinrich von Sybel, 5. August 1853, in: J. G. Droysen, Briefwechsel, hg. v. R. Hübner. Bd. 1, Stuttgart 1929, S. 169. 41 Hier wäre zu unterscheiden zwischen einem sich bewußt literarischer Mittel bedienenden illuminierend narrativen Verfahren in Macaulays Manier und einer rekonstruierend narrativen Methode, einer schmucklos-präzisen, strikt chronologischen histoire événementielle, die keinerlei Zugeständnisse an den Publikumsgeschmack macht. Ihr wichtigster britischer Vertreter war S. R. Gardiner mit seiner gigantischen Geschichte des 17. Jahrhunderts: History of England from the Accession of James I to the Outbreak of the Civil War, 10 Bde., London 1863–1884; Ders., History of the Great Civil War, 3 Bde., London 1886–1891; Ders., History of the Commonwealth and Protectorate, 3 Bde., London 1894–1903. Als Ereignisschilderung ist dieses Werk nie ersetzt worden. Vgl. P. Wende, Probleme der englischen Revolution, Darmstadt 1980, S. 4; J. S. A. Adamson, Eminent Victorians: S. R. Gardiner and the Liberal as Hero, in: HJ, Jg. 33, 1990, S. 641. 42 G. M. Trevelyan, Clio, a Muse, and Other Essays Literary and Pedestrian, London 1913.

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mantisierenden Geschichtsschreibung als Scharlatane.43 In Oxford veranlaßte der dortige Regius Professor, William Stubbs, der erste bedeutende englische Historiker überhaupt, der an einer Universität lehrte44, eine Übersetzung von Rankes »Englischer Geschichte«, um mit ihrer Hilfe den angeblichen effekthascherischen Dilettantismus Macaulays zu exorzieren.45 Solch heftige Reaktionen richteten sich durchaus nicht nur gegen Macaulays Forschungsmethoden und Darstellungsweisen, sondern auch gegen seine Deutung der Nationalgeschichte: Stubbs etwa, beeinflußt durch die deutsche historische Rechtsschule, sah ein langsames, von anonymen Volkskräften getragenes Werden der Institutionen als die Substanz der englischen Geschichte.46 Er hatte wenig Sinn für Macaulays theatralische Inszenierungen der Titanenkämpfe zwischen Tyrannei und Freiheit, personifiziert in den feindlichen Schwägern James und William, und übersah dabei die Spuren eines durchaus romantisch-konservativen Common-Law-Denkens und eines burkeanischen Respekts für das Herkommen, wie sie sich bei Macaulay durchaus finden.47 Noch fremder war Stubbs und der Fachhistorie die radikale Institutionenfeindlichkeit des zweiten großen »literary historian«, Thomas Carlyle.48 So bedeutsam diese Differenzen der historischen Interpretation waren – entscheidend ist, daß man Macaulay, Carlyle und ihre Anhänger im Namen eines neuen forschenden Professionalismus ablehnte. Macaulay hatte zur Nation und für sie gesprochen. Sein erstes Ansehen hatte er sich als polemischer Essayist in der »Edinburgh Review«, dem Organ der schottischen Spätaufklärung, erworben.49 Durch eigenes Talent und durch die 43 Blaas, Continuity, S. 37; D. Wormell, Sir John Seeley and the Uses of History, Cambridge 1980, S. 82, 126–128. Besonders heftig attackierten die Vertreter der Fachhistorie Carlyles Freund, Biographen und Nachlaßverwalter J. A. Froude, den Verfasser einer stilistisch brillanten, durchaus seriös recherchierten »History of England from the Fall of Wolsey to the Defeat of the Spanish Armada«, 12 Bde., London 1856–1870. Vgl. W. H. Dunn, James Anthony Froude: A Biography, Bd. 2: 1857–1894, Oxford 1963, S. 456ff. 44 Kenyon, History Men, S. 149. 45 Vgl. Levine, Amateur, S. 27. Die Ausgabe erschien 1875: L. v. Ranke, The History of England, Principally in the Seventeenth Century, 6 Bde., Oxford 1875. Zur Ranke-Rezeption bei Stubbs vgl. K. Dockhorn. Der Deutsche Historismus in England. Ein Beitrag zur Englischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1950, S. 141–155. 46 Vgl. J. W. Burrow, A Liberal Descent: Victorian Historians and the English Past, Cambridge 1981, S. 107f. 47 Zu diesem Aspekt bei Macaulay vgl. J. G. A. Pocock, The Varieties of Whiggism from Exolusion to Reform: A History of Ideology and Discourse, in: Ders., Virtue, Commerce, and History: Essays on Political Thought and History. Chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge 1985, S. 304. 48 Vgl. H. Trevor-Roper, Thomas Charlyle’s Historical Philosophy, in: Times Literary Supplement, 26. Juni 1981, S. 731–734, bes. S. 731f. 49 Die maßgebende Biographie Macaulays bis 1838 ist J. Clive, Macaulay: The Shaping of the Historian, New York 1973. Zu seiner Mitarbeit an der »Edinburgh Review« vgl. J. Millgate, Father and Son: Macaulay’s »Edingburgh« Debut, in: Review of English Studies, Jg. 21, 1970, S. 159–167.

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Patronage der Whig-Aristokratie war er ins Unterhaus gelangt und hatte dort als einer der glanzvollsten Parlamentsredner Aufsehen erregt. Von 1834 bis 1838 war er Law Member of the Governor General’s Supreme Council, also de facto Justizminister Britisch-Indiens, später mehrfach Mitglied des Londoner Kabinetts. Auch wenn kein anderer britischer Geschichtsschreiber seiner Generation ein ähnliches öffentliches Profil erlangte, so waren sie doch alle »men of letters«, die entweder, wie Hallam und Buckle und vorher schon Edward Gibbon, auf sicherem Erbschaftspolster privatisierten oder sich, wie Carlyle und früher in gewissem Sinne auch David Hume, von der gesellschaftlichen Peripherie her in den literarischen Markt hineingeschrieben hatten. Namentlich Macaulay und Carlyle, die Generationsgenossen der großen akademischen Lehrer Ranke und Michelet, vertraten weit ins 19. Jahrhundert hinein den älteren sozialen Typus des Essayisten und »reviewer«, der sich publizistisch zu politischen ebenso wie zu ästhetischen Gegenwartsfragen äußerte50, institutionell nicht dauerhaft gebunden war und statt in engen Fachzirkeln in weiteren künstlerischen und politischen Kreisen verkehrte. Es ist charakteristisch, daß Macaulay die Berufung auf den Regius Chair of Modern History in Cambridge ablehnte, als Prinz Albert sie ihm 1849 anbot: »I cannot bear the Collar, and I have got rid of much finer and richer collars than this.«51 Allein die Vertreter der »conjectural history« in Edinburgh und Glasgow waren – unter den ganz anderen Bedingungen der schottischen Wissenschaftskultur – Universitätsgelehrte, allerdings auf Lehrstühlen der Moralphilosophie (Adam Smith, Adam Ferguson) oder der Jurisprudenz (John Millar). Doch auch sie lehrten und schrieben für ein weit über Fachkreise hinausreichendes Publikum.52

Zum Kontext: J. Clive, Scotch Reviewers: The Edinburgh Review, London 1957; C. Groffy, Die Edinburgh Review 1802–1825. Formen der Spätaufklärung, Heidelberg 1981; J. Shattock, Politics and Reviewers: The »Edinburgh« and the »Quarterly« in the Early Victorian Age, Leicester 1989, und vor allem B. Fontana, Rethinking the Politics of Commercial Society: The »Edinburgh Review« 1801–1832, Cambridge 1985. 50 Vgl. N. Kinne. Die Literaturkritik Thomas Babington Macaulays und ihre Rezeption. Frankfurt a. M. 1979, S. 147ff. 51 Macaulay, Tagebucheintrag vom 1. Juli 1849, zitiert in Trevelyan, Life and Letters, Bd. 2, S. 197. 52 Über das schottische Geistesleben im späten 18. Jahrhundert vgl. N. T. Phillipson, Culture and Society in the 18th Century Province: The Case of Edinburgh and the Scottish Enlightenment, in: L. Stone (Hg.), The University in Society, Princeton 1974, S. 407–448; A. C. Chitnis, The Scottish Enlightenment and Early Victorian English Society, London 1986, S. 1–78; R. G. Cant, Origins of the Enlightenment in Scotland: The Universities, in: R. H. Campbell u. A. S. Skinner (Hg.), The Origins and Nature of the Scottish Enlightenment, Edinburgh 1982, S. 42–64; R. B. Sher, Church and University in the Scottish Enlightenment: The Moderate Literati od Edinburgh, Edinburgh 1985; A. Murdoch u. R. B. Sher, Literary and Learned Culture, in: T. M. Devine u. R. Mitchison (Hg.), People and Society in Scotland, Bd. 1: 1760–1830, Edinburgh 1988, S. 127–142; J. Dwyer, Virtuous Discourse: Sensibility and Community in Late Eighteenth-Century Scotland, Edinburgh 1987, S. 10–37. Zur neueren Forschung über die schottische Aufklärung und ihren

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II. Die soziokulturellen Umstände der Produktion und Verwendung historischen Wissens in Großbritannien änderten sich tiefgreifend seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts.53 Umfassendere gesellschaftliche Prozesse standen dabei im Hintergrund, vor allem die Expansion der elementaren und höheren Bildung und die beginnende Auflösung einer homogenen hochviktorianischen Elitenkultur.54 Langsam und gegen große Widerstände etablierte sich in Oxford und Manchester, später in Cambridge und London eine Fachhistorie, die sich Ranke und seine Schule zum methodischen Vorbild erkor, ohne indessen die Verankerung des deutschen Historismus in der idealistischen Philosophie zu verstehen und daraus Schlußfolgerungen für die Problematik eines reinen Methodentransfers zu ziehen.55 Sie strebte nach der Produktion exakten historischen Wissens durch Experten für Experten; wie die Ranke-Schule bezweckte sie den kumulativen Fortschritt historischer Erkenntnisse durch kollektive Forschungsarbeit.56 Sie verschmähte den Erfolg in der breiteren Öffentlichkeit, mißbilligte die marktbewußte Geschäftstüchtigkeit eines Macaulay und suchte Anerkennung und Sozialprestige im Erreichen selbstgesteckter professioneller Normen des Umgangs mit der Überlieferung.57 In schroffer Abgrenzung von soziokulturellen Kontext vgl. K. Graf Ballestrem, Die schottische Aufklärung. Ein Bericht über den Stand der Forschung, in: H. Dickerhof (Hg.), Festgabe Heinz Hürten zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1988, S. 317–334. 53 Dazu grundlegend Levine, Amateur; daneben R. Jann, From Amateur to Professional: The Case of the Oxbridge Historians, in: JBS, Jg. 22, 1982/83, S. 122–147; D. S. Goldstein, The Professionalization of History in Britain in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Storia della storiografia, Jg. 3, 1983, S. 3–27; Dies., The Organizational Development of the British Historical Profession, 1884–1921, in: HR, Jg. 55, 1982, S. 180–193; R. Soffer, Nation, Duty, Character and Confidence: History at Oxford, 1850–1914, in: HJ, Jg. 30, 1987, S. 77–104; P. R. H. Slee, Learning and a Liberal Education: The Study of History in the Universities of Oxford, Cambridge and Manchester, 1800–1914, Manchester 1986. Weithin anekdotisch bleibt Kenyon, History Men, S. 145–199. 54 Vgl. R. Lowe, The Expansion of Higher Education in England, in: K. Jarausch (Hg.), The Transformation of Higher Learning 1860–1930: Expansion, Diversification, Social Opening and Professionalization in England, Germany, Russia and the United States, Stuttgart 1982, S. 37–56; Ders., English Elite Education in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: W. Conze u. J. Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil 1: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, Stuttgart 1985, S. 147–162; Ders., Structural Change in English Higher Education, 1870–1920, in: D. K. Müller u. a. (Hg.), The Rise of the Modern Educational System: Structural Change and Social Reproduction 1870–1920, Cambridge 1987, S. 163– 178. 55 Goldstein, Professionalization, S. 8f., S. 11. 56 Zum deutschen Forschungsparadigma vgl. Krieger, Ranke, bes. S. 3ff. 57 Das neue Selbstverständnis des rein akademischen Fachwissenschaftlers zeigt sich nicht nur auf dem Gebiet der Geschichte. Den weiteren Prozeß des Wandels universitärer Bildung analysiert S. Rothblatt, The Revolution of the Dons: Cambridge and Society in Victorian England, London 1968, bes. S. 181ff.

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den Sammlern und Antiquaren der Geschichtsvereine in den Grafschaften und kleineren Städten schuf sie sich durch nationale Zeitschriften, voran die »English Historical Review«, die 1886, siebenundzwanzig Jahre nach ihrem deutschen Vorbild, der »Historischen Zeitschrift«, gegründet wurde58, und durch überregionale Vereinigungen, in erster Linie die 1868 ins Leben gerufene Royal Historical Society59, die Infrastruktur einer kleinen »communitiy of scholars«. Den Großteil ihrer Energie verwandte sie auf Quelleneditionen und archivgestützte Spezialstudien. Als vornehmste Quellengattung galten nun die durch ein neu organisiertes Archivwesen betreuten »state papers«; ihre methodisch geleitete Aufarbeitung trat an die Stelle einer eher zufallsbestimmten Verwendung eines unsystematisch gesammelten breiteren Materialspektrums, wie sie noch für Macaulay charakteristisch war.60 Schließlich widmete sie sich der mühseligen Aufgabe, die handwerkliche Ausbildung von Geschichtsforschern in einer weiterhin von Theologie, Mathematik und den Alten Sprachen beherrschten Universität zu verankern, einer Universität, die sich nach wie vor hauptsächlich als Sozialisationsinstanz für Gentlemen der höheren Schichten verstand, als Spenderin einer generalistischen »liberal education«.61 Ein Umbruch in Organisation und Selbstverständnis des Umgangs mit Geschichte erfolgte in Großbritannien also nicht, wie in Deutschland, im ersten, sondern im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.62 Soziale Klüfte taten sich auf zwischen »Amateuren« und »Professionellen«, literarische – prononcierter als in Deutschland – zwischen »populären« und »wissenschaftlichen« Darstellungsformen. Die neue Fachhistorie formierte sich als geschlossenes soziales System mit strengen Normen, Verfahrensregeln und Mechanismen der Statuszuteilung. Sie tat dies weitgehend ohne philosophische Begründungsversuche

58 M. F. Stieg. The Origin and Development of Scholarly Historical Periodicals, Montgomery, Ala. 1986, S. 39–44. 59 Vgl. J. W. Burrow, Victorian Historians and the Royal Historical Society, in: TRHS, Jg. 39, 1989, S. 125–140. 60 Macaulay, mit einem phänomenalen Gedächtnis begabt, meisterte die gedruckte Überlieferung bis hinein in die Volksliteratur der Balladen, Satiren und Farcen. Er besuchte, getreu der romantischen Forderung nach Lokalkolorit, die Städte, Schlösser und Landschaften, die er schildern wollte. Carlyle nahm für sein Buch über Friedrich den Großen die Schlachtfelder des Siebenjährigen Krieges in sorgfältigen Augenschein. Vgl. Trevelyan, Life and Letters, Bd. 1, S. 445; Bd. 2, S. 43f., 155–163; F. Kaplan, Thomas Carlyle: A Biography, Cambridge 1983, S. 389. 61 Vgl. S. Rothblatt, Tradition and Change in English Liberal Education: An Essay in History and Culture, London 1976, S. 23ff.; Slee, Learning and a Liberal Education, S. 8ff. 62 In Frankreich spielte sich etwa zur gleichen Zeit ein ähnlicher Prozeß der Etablierung einer universitären Fachhistorie ab. Vgl. W. R. Keylor, Academy and Community: The Foundation of the French Historical Profession, Cambridge, Mass. 1975, bes. S. 55ff.; C.-O. Carbonell, Histoire et historiens: Une mutation idéologique des historiens français, 1865–1885, Toulouse 1976; U. A. J. Becher, Geschichtsinteresse und historischer Diskurs. Ein Beitrag zur Geschichte der französischen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1986.

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ihrer fachlichen Autonomie. Methodik wurde nicht durch Methodologie untermauert; weder eine hermeneutische noch eine positivistische Wissenschaftslehre gewann Einfluß auf die Praxis der Historiker. Sie zogen sich nun von einem Publikum zurück, das seit dem frühen 18. Jahrhundert mit historischer Literatur hohen Ranges versorgt worden war, einer Literatur übrigens, die, auf der Sammelleistung der frühneuzeitlichen Antiquare gründend63, bei Autoren wie William Robertson64, Edward Gibbon, Lingard, Hallam und Macaulay durchaus solch hohen Ansprüchen empirischer Untermauerung genügte, daß für die Zeit nach 1860 zwar von einer Verstärkung des kritischen Empirismus, nicht aber von einer Neugründung einer quellenbezogenen Geschichtsschreibung die Rede sein kann. In Großbritannien wurde die Historie nicht, wie man es für Deutschland gezeigt hat, die »leitende Orientierungswissenschaft« seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.65 Diese Rolle dürfte im frühen 19. Jahrhundert die Politische Ökonomie, im späten die evolutionistische Biologie gespielt haben. Einem intensiven Bedürfnis bürgerlicher Leserschichten nach historischer Vergewisserung, dem Autoren wie Macaulay gekonnt entgegenkamen, entsprach keine nennenswerte Historisierung der Wissenschaften. Obwohl Gelehrte wie Sir John Seeley und Lord Acton, die bezeichnenderweise selbst nicht zu den erfolgreichsten Praktikern strenger Geschichtsforschung zählten, öffentlich für die Dignität und die politische wie lebenspraktische Bedeutsamkeit der Historie warben, wurden die Kulturprobleme des viktorianischen England selten in historischen Kategorien gefaßt. Kein Fachhistoriker findet sich im Pantheon der

63 Der erfolgreichste Nutznießer dieser frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit war Edward Gibbon. Zur Bedeutung besonders der älteren italienischen und französischen Quellenforschung (Ludovico Antonio Muratori, S. L. Lenain de Tillemont, Bernard de Montfaucon) für sein Werk vgl. D. P. Jordan, Gibbon and His Roman Empire, Urbana, Ill. 1971, S. 40ff.; auch Levine, Humanism, S. 102f., S. 105, S. 188. 64 Robertson war der erste der großen britischen Historiker, der sich um einen systematischen und kritischen Umgang mit den Quellen bemühte. Vgl. M. Schlenke, Anfänge einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung in Großbritannien im 18. Jahrhundert, in: K. Hammer u. J. Voss (Hg.), Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation – Zielsetzung – Ergebnisse, Bonn 1976, S. 314–333. Bestreitbar ist allerdings die Behauptung, daß »Robertson sowohl Hume wie Gibbon an wissenschaftlicher Qualität weit überragt« (ebd., S. 316). Die neuere Forschung hat demgegenüber die außerordentliche Qualität besonders von Gibbons Dokumentation herausgestellt: »Even William Robertson, user of archival sources and attentive, like Gibbon, both to antiquarian of quotations and citations«. P. B. Craddock, Edward Gibbon, Luminous Historian, 1772–1794, Baltimore 1989, S. 123. Robertson selbst lobte die empirische Qualität von Gibbons Werk (ebd., S. 172). Zur Einschätzung Gibbons aus heutiger althistorischer Sicht vgl. K. Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, Darmstadt 1972, S. 8–25. Grundlegend für eine Neubewertung Gibbons war A. Momigliano, Gibbon’s Contribution to Historical Method, in: Historia, Jg. 2, 1954, S. 450–463. 65 G.Hübinger, Geschichte als leitende Orientierungswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Jg. 11, 1988, S. 149–158.

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»Eminent Victorians«66, keiner suchte und fand die öffentliche Anerkennung und Wirkung eines Theodor Mommsen, Johann Gustav Droysen, Heinrich von Sybel, Georg Waitz, Heinrich von Treitschke oder (des historischen Nationalökonomen) Gustav Schmoller. Nicht zufällig mied die strenge Geschichtsforschung thematisch die Gegenwart.67 Ihre großen Gegenstände waren das frühe Mittelalter und die Zeit von Elisabeth bis Cromwell. Die drei zentralen Prozesse der neueren britischen Geschichte: die imperiale Expansion, das wirtschaftliche Wachstum und die verfassungspolitische Entwicklung seit der Herausforderung durch die Französische Revolution – alle drei hatte Macaulay in seinen Essays und Parlamentsreden immerhin angerissen68 – rückten erst sehr spät, erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in ihren Gesichtskreis.69 Außerbritische Themen 66 Vgl. L. Strachey, Eminent Victorians, London 1918, und die neuere »repeat performance« A. Briggs, Victorian People: A Reassessment of Persons and Themes 1851–67, London 1954. Strachey schrieb charakteristischerweise zwei fulminante Skizzen über herausragende Antipoden der Fachhistorie: Carlyle (1928) und Froude (1930), in: L. Strachey, Collected Works, Bd. 4: Biographical Essays, London 1966, S. 249–256, 257–263. 67 Dies tat gleichzeitig auch die neue »science historique« in Frankreich. Vgl. Becher, Geschichtsinteresse, S. 65f. 68 Macaulay thematisierte die imperiale Expansion in den Essays über Lord Clive (1840) and Warren Hastings (1841) (Macaulay, Works, Bd. 9, S. 186–285, S. 408–547), die Industrialisierung in seiner Unterhausrede von 1846 über die Ten Hours Bill (ebd., Bd. 12, S. 199–221), die politische Zeitgeschichte in seinen Stellungnahmen zur Wahlrechtsreform, die Clive, Macaulay, S. 142ff., zusammenfaßt. 69 Die jeweils repräsentativen Pionierwerke sind: J. R. Seeley, The Expansion of England, London 1883; W. Cunningham, The Growth of English Trade and Commerce, 2 Bde., London 1882. Wirtschaftsgeschichte und Imperialgeschichte waren dabei zwei Seiten derselben Medaille: Die ersten Wirtschaftshistoriker oder »historical economists« waren durchweg neomerkantilistische Gegner des Freihandels und frühe Anhänger eines »social imperialism«, wie er dann durch Joseph Chamberlain zum politischen Programm erhoben wurde. Vgl. G. M. Koot, English Historical Economics, 1870–1926: The Rise of Economic History and Neomercantilism, Cambridge 1987, S. 9. Vgl. zum Aufstieg des Faches Wirtschaftsgeschichte nach 1880 auch D. C. Coleman, History and the Economic Past: An Account of the Rise and Decline of Economic History in Britain, Oxford 1987, S. 37ff. Das dritte Gebiet, die politische Geschichte des 19. Jahrhunderts, wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg breit aufgearbeitet. Hier waren allerdings auch allgemeine, nicht bloß britische, Schwierigkeiten mit der Zeitgeschichtsschreibung im Spiel. Vgl. E. Schulin, Zeitgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, in: Ders., Traditionskritik, S. 72f. Es gab im frühen 19. Jahrhundert durchaus eine Zeitgeschichtsschreibung britischer Autoren, aber sie befaßte sich mit kontinentalen, vorab französischen Themen. Dazu gehört die »History of Europe from the Commencement of the French Revolution to the Restoration of the Bourbons« (10 Bde., Edinburgh 1833–1842) des konservativen Rechtsanwalts Sir Archibald Alison sowie die Napoleon-Biographien von Sir Walter Scott (1827) und William Hazlitt (1828–1830). Vgl. H. Ben-Israel. English Historians and the French Revolution, Cambridge 1968, S. 50–157; B. Friedman, Fabricating History: English Writers on the French Revolution, Princeton 1988, S. 66–108; D. Malik, Die Französische Revolution im Diskurs des 19. Jahrhunderts. Untersuchungen zur englischen Revolutionsgeschichtsschreibung, Diss. phil. Bochum 1983. Macaulay selber begann eine Geschichte Frankreichs von 1815 bis 1850, deren Fragment aus dem Nachlaß veröffentlicht wurde: T. B. Macaulay, Napoleon and the Restoration of the Bourbons, hg. v. J. Hamburger, London 1977.

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wurden – abgesehen von dem zeitweiligen Interesse an den Revolutionen Frankreichs – kaum bearbeitet70, selten sogar der in Rankes »Englischer Geschichte« so wichtige internationale Kontext der neueren britischen Entwicklung.71 Man beschränkte sich, ganz unrankeanisch, auf die Nationalgeschichte Englands, im Zentrum des Professionalismus, bei William Stubbs, Thomas Frederick Tout und Frederick William Maitland, gar auf Rechts- und Verwaltungsgeschichte des englischen Mittelalters.72 Eine kosmopolitische, durch Lehrjahre auf dem Kontinent geprägte Gestalt wie John Emerich Edward Dalberg (seit 1860: Lord Acton) blieb ein respektierter Außenseiter ohne maßgeblichen Einfluß auf den Forschungsbetrieb. Die englische Geschichtswissenschaft gab sich während des Professionalisierungsschubes zwischen etwa 1860 und 1900 ängstlich insular. All dies verhielt sich anders in dem voraufgehenden Jahrhundert zwischen Hume und Macaulay. Über »Doppelrevolution«, »Sattelzeit« und den von Michel Foucault postulierten wissenschaftsgeschichtlichen Schnitt am Ende des »klassischen Diskurses« hinweg73 und quer durch intellektuelle Grundhaltungen wie Aufklärung und Romantik sind es drei kontinuitätsstiftende Momente, welche die untergründige Einheit einer historiographischen Epoche erkennen lassen. Erstens wurde Geschichte in praktisch aufklärender Absicht geschrieben, war sie stets auf die historisch-politische Urteilsbildung in der Gegenwart bezogen. Dies gilt nicht allein für eine »Whig Interpretation of History«, welche die Gegenwart als notwendige Klimax eines kontinuierlichen Fortschrittsprozesses sieht und der ihre Kritiker immer wieder die Zweckentfremdung der Historie zum Werkzeug politischer Pädagogik vorgeworfen haben.74 Daß Geschichts70 Die wichtigste Ausnahme war hier J. Bryce mit »The Holy Roman Empire« von 1864 und »The American Commonwealth« von 1888. Vgl. T. Kleinknecht, Imperiale und internationale Ordnung. Eine Untersuchung zum anglo-amerikanischen Gelehrtenliberalismus am Beispiel von James Bryce (1838–1922), Göttingen 1985. 71 Die Abkehr von einer übertriebenen Fixierung auf Parlamentsgeschichte und die Ausarbeitung einer Forschungsrichtung »International History or History of Policy« im Sinne der Geschichte Großbritanniens als einer international agierenden Großmacht verlangte – zunächst erfolglos – Sir John Seeley, The Growth of British Policy: An Historical Essay, Bd. I, Cambridge 1895, S. 1f.; Ders., Our Insular Ignorance, in: The Nineteenth Century, Jg. 18, 1885, S. 861–872. 72 Grundlegend dazu ist Blaas, Continuity. Über Maitland als den Inbegriff des geschichtswissenschaftlichen Professionalismus vgl. G. R. Elton, F. W. Maitland, New Haven 1985, S. 19ff. 73 Vgl. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, dt. v. U. Köppen, Frankfurt a. M. 1971. 74 Der Terminus fand Verbreitung durch H. Butterfield, The Whig Interpretation of History, London 1931, ein Buch, das eine sehr verschlungene Kontroverse auslöste. Vgl. den Entwirrungsversuch bei J. Derry, Whig Interpretation of History, in: Cannon u. a. (Hg.), Blackwell Dictionary of Historians, S. 448–450. Ein neuer Beitrag zur Debatte ist A. Wilson u. T. G. Ashplant, Whig History and Present-Centered History, in: HJ, Jg. 31, 1988, S. 1–16. Als herrschende Lehre bis ins 20. Jahrhundert hinein erscheint die »Whig Interpretation« bei C. Parker, The English Historical Tradition since 1850, Edinburgh 1990.

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schreibung sich der Gegenwart nützlich zu machen, daß sie in aktuelle Debatten einzugreifen habe, war nahezu unumstritten. Das Spektrum reichte dabei von krasser Tendenzgeschichte und Parteiapologetik über Thomas Carlyles zivilisationskritisches Prophetentum und das religiös inspirierte sozialpolitische Engagement der liberal-anglikanischen Historiker um Thomas Arnold75 bis hin zum weihevollen Richteramt des geschichtsschreibenden Parlamentariers Macaulay, der zu einer Zeit verminderter Parteigegensätze und sozialer Spannungen nach der Reformbill von 1832 eine für die Mehrheit der Nation zustimmungsfähige, die neu gewonnene politische Stabilität ideologisch festigende Geschichtsdeutung erstrebte.76 Schließlich gehört in dieses Bild David Humes subtile Absicht, die sich von der politischen und kulturellen Hegemonie der Aristokratie ablösenden »middling ranks« zu politischer Urteilsfähigkeit77 jenseits von Richtungskonformität und vulgärhistorischen Legenden – etwa der von einer »ancient constitution« – zu erziehen.78 Allein der ironische Skeptiker Edward Gibbon hielt sich von solcher pädagogischen Zuversicht fern.79 Zweitens war die Geschichtsdarstellung in dem Sinne »philosophisch«, daß sie in umfassendere intellektuelle Projekte eingeknüpft wurde.80 Standen auch William Robertson, Henry Hallam und John Lingard dem Selbstverständnis einer »philosophisch« räsonierenden Historiographie skeptisch gegenüber, so sah sich doch kein einziger Verfasser eines der erstrangigen historischen Werke der Epoche als spezialisierter Fachgelehrter. Die Motive zur Beschäftigung mit Geschichte stammten aus weiteren Denkzusammenhängen; die Ergebnisse historischer Studien flossen umgekehrt in umfassendere Deutungen der Welt, gerade auch der zeitgenössischen Welt, zurück. Bei Hume, dessen Gesamtwerk die neuere Forschung in seinem verborgenen Zusammenhang rekonstruiert 75 Vgl. D. Forbes, The Liberal Anglican Idea of History, Cambridge 1952, S. 12ff., 87ff. 76 Macaulay stand politisch im Lager der Whigs, die in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts allmählich im breiteren Bündnis der neuen Liberalen Partei aufgingen, ohne daß er, wie J. Hamburger, Macaulay and the Whig Tradition, Chicago 1977, gezeigt hat, dogmatische Parteistandpunkte eingenommen hätte. Die »History of England« wurde von den Zeitgenossen keineswegs als Parteigeschichte der Whigs aufgefaßt; dieses Etikett erhielt sie erst später. Über Macaulay als »Zentristen« vgl. Burrow, Liberal Descent, S. 93; R. Brent, Liberal Anglican Politics: Whiggery, Religion and Reform, 1830–1841, Oxford 1987, S. 47–49; O. D. Edwards, Macaulay, London 1988, S. 124– 126. Freilich blieb Macaulay in seinen Grundüberzeugungen – dem Glauben an den Fortschritt und die Notwendigkeit behutsamer Reformen bei gleichzeitigem burkeanischen Respekt für die gewachsene Tradition – einem Spät-Whiggismus verpflichtet, dessen wichtigster Vertreter er war. 77 Zum historisch-politischen Urteilen bei Hume vgl. D. W. Livingston, Hume’s Philosophy of the Common Life, Chicago 1984, S. 247ff., bes. S. 271. 78 Ebd.; Phillipson, Hume, S. 9, 12, 23, 54; D. Forbes, Hume’s Philosophical Politics, Cambridge 1975, S. 136. 79 Jordan, Gibbon and His Roman Empire, S. 80f. 80 Dies ist in der konventionellen, den kumulativen Fortschritt der Wissenschaft betonenden Wissenschaftsgeschichte als Zeichen von »Vorwissenschaftlichkeit« gewertet worden. So noch bei U. Voigt, David Hume und das Problem der Geschichte, Berlin 1975, S. 7f., 66f.

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hat81, war die Geschichtsschreibung Teil einer empirisch-praktischen Wissenschaft von der menschlichen Natur in ihren alltagsweltlichen Bezügen.82 Bei den schottischen Aufklärern der zweiten und dritten Generation, zumal bei Adam Smith und John Millar, trug sie bei zu einer umfassenden Theorie der sozialökonomischen Modernisierung als Ortsbestimmung der Gegenwart.83 James Mill kombinierte in seiner einflußreichen und von den britischen Zeitgenossen hoch geschätzten Geschichte des neuzeitlichen Indien84 zwei auf den ersten Blick divergierende Denkweisen, die beide von außen auf ein weniger historisches denn kolonialpolitisches Problem projiziert wurden: das Stadiendenken der jüngeren schottischen Schule und die ahistorischen Prinzipien des Benthamschen Utilitarismus.85 Buckle, von einem anderen Typ rationalistischer Anthropologie ausgehend, stellte seine Beschäftigung mit Geschichte unter die Suche nach umfassenden empirisch-statistischen wie »philosophischen« Gesetzmäßigkeiten.86 Für Carlyle, den streitbaren Verächter rationalistischen Denkens und unversöhnten Antipoden von Aufklärung und Utilitarismus, waren seine eigenen historischen Werke, besonders die über die Französische Revolution und über Oliver Cromwell, bei aller Unmittelbarkeit der narrativen Wirkung und aller Ferne sowohl zu Gibbonschem Räsonnement als auch zu einem Theoretisieren nach

81 Darüber, daß der Philosoph Hume nicht vom Historiker Hume getrennt werden darf, daß also »Treatise Concerning Human Understanding«, »Essays Moral and Political« and »History of England« in ihren gegenseitigen Zusammenhängen zu lesen sind, sind sich fast alle maßgebenden Interpreten einig. So schon E. C. Mossner, An Apology for David Hume, Historian, in: Publications of the Modern Language Association of America, Jg. 56, 1941, S. 657–690, und jetzt Livingston, Hume’s Philosophy of Common Life, S. 1f., 210ff.; D. Miller, Philosophy and Ideology in Hume’s Political Thought, Oxford 1981, S. 5; F. G. Whelan, Order and Artifice in Hume’s Political Philosophy, Princeton 1985, S. 3, 9; H. Gogarten, David Hume als Geschichtsschreiber. Ein Beitrag zur englischen Historiographie des 18. Jahrhunderts, in: AKG, Jg. 61, 1979, S. 123; W. Jäger, Politische Partei und parlamentarische Opposition. Eine Studie zum politischen Denken von Lord Bolingbroke und David Hume, Berlin 1971, S. 203, 206, 227f. Dennoch ist die Trennung ohne Begründung wieder scharf vorgenommen worden: J. Kulenkampff, David Hume, München 1989. 82 So Livingston, Hume’s Philosophy of Common Life. Das Empirische bei Hume, das ihn so deutlich von der Naturrechtstradition unterscheidet, geht auf Francis Hutcheson zurück, der die induktiv-experimentelle Methode in die Moralphilosophie einführte. Vgl. Forbes, Hume’s Philosophical Politics, S. 32–48. 83 S. dazu unten, S. 129ff. 84 J. Mill, The History of British India, 3 Bde., London 1817, Neudruck New Delhi 1986. 85 Der Schotte Mill begann seine »History« 1806, zwei Jahre später lernte er Jeremy Bentham kennen, dessen Schüler und Mitstreiter er wurde. Vgl. A. Bain, James Mill: A Biography, London 1882, S. 71f. Aus der schottischen Aufklärungstradition übernahm Mill die Idee des stadienmäßigen Gesellschaftsfortschritts, von Bentham eine uniforme rationalistische Anthropologie und den praktischen Appell an den »legislator«. Vgl. J. W. Burrow, Evolution and Society: A Study in Victorian Social Theory, Cambridge 1966, S. 42–49; S. Collini u. a., That Noble Science of Politics: A Study in Nineteenth-Century Intellectual History, Cambridge 1983, S. 114–117. 86 Zum Gesetzesbegriff bei Buckle vgl. Hanham, Editor’s Introduction, S. XIII-XVIII.

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Art der Schotten Vehikel einer mit prophetischem Gestus verlautbarten providentiellen Katastrophenphilosophie der Geschichte.87 Carlyles Denken war, wie Rosemary Jann in ihrem gedankenreichen Buch über die Bedeutung der Geschichte im viktorianischen England herausgestellt hat, in seinem Wesen metahistorisch: »He wished to use the authority of history to go beyond history.«88 Selbst der theorieskeptische Macaulay, ein scharfer Kritiker der deduktivschematischen Politikwissenschaft des älteren Mill89, sah seine eigene Geschichtsschreibung nicht als autarke geistige Leistung, sondern als Beitrag zu einer »noble Science of Politics«90, einer historisch fundierten »experimental science« vom politischen Handeln und Urteilen.91 Politik als eine empirische, nicht eine konstruierende Wissenschaft blieb für Macaulay, durchaus in Humescher Tradition, der Schlüssel zur Geschichte. Drittens löste sich die britische Geschichtsschreibung seit der 1646 begonnenen, doch erst 1702 bis 1704 postum veröffentlichten »History of the Rebellion« von Edward Hyde, Earl of Clarendon, von den Konventionen der älteren Rhetorik und unterstellte sich den anspruchsvollsten literarischen Normen ihrer jeweiligen Zeit.92 Die historische Schriftstellerei wuchs neben und mit dem englischen Roman. Die Geschichtsbücher von Hume, Robertson und Macaulay, Thomas Carlyles »French Revolution« von 1837 – nicht aber seine Fridericus-Rex-Biographie von 1858–1865, wo das narrative Gerüst unter einer Überfülle disparater Fakten zusammenbricht – und vor allen anderen Edward Gibbons »Decline and Fall of the Roman Empire« (1776–1788) waren auskalkulierte Werke der Erzählkunst.93 Allein der trockene Hallam, der seine Einsichten oft allzu wirr aufhäufende Buckle und der unablässig abstrakt theoreti-

87 Über Carlyle als Historiker vgl. A. L. Le Quesne, Carlyle, Oxford 1982, S. 31–47, besonders aber J. D. Rosenberg, Carlyle and the Burden of History, Oxford 1985. Zu Carlyles Geschichtsphilosophie auch T. Fasbender, Thomas Carlyle. Idealistische Geschichtssicht und visionäres Heldenideal, Würzburg 1989, S. 57ff. 88 Jann, Art und Science, S. 45. 89 Vgl. die Kontroverse zwischen Macaulay und den »Philosophic Radicals« über James Mills »Essay on Government« von 1820, dokumentiert in J. Lively u. J. Rees (Hg.), Utilitarian Logic and Politics: James Mill’s »Essay on Government«, Macaulay’s Critique and the Ensuing Debate, Oxford 1978. 90 T. B. Macaulay, Mill’s Essay on Government: Utilitarian Logic and Politics [1829], in: ebd., S. 128. 91 Ders., Sir James Macintosh, S. 434. 92 Zu Clarendons Darstellungskunst vgl. M. W. Brownley, Clarendon and the Rhetoric of Historical Form, Philadalphia 1985, S. 29–73. Infolge seines späten Erscheinens wirkte das Werk erst im 18. Jahrhundert. 93 Zur literaturwissenschaftlichen Analyse dieser Werke vgl. L. Braudy, Narrative Form in History and Fiction, Princeton 1970 (über Hume und Gibbon); M. Cumming, The Disimprisoned Epic: Form and Vision in Carlyle’s »French Revolution«, Philadelphia 1988; D. Womersley, The Transformation of »The Decline and Fall of the Roman Empire«, Cambridge 1988.

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sierende James Mill94 blieben ihren Lesern stilistisches Raffinement schuldig. Eine »Ästhetisierung der Darstellung«, wie man sie in Deutschland erst für die Zeit der Französischen Revolution erkennen kann95, begann in England schon mit Clarendon anderthalb Jahrhunderte zuvor. Die Fachhistorie nach 1860 hat darauf bisweilen mit bewußter stilistischer Sperrigkeit reagiert.

III. Während des Jahrhunderts zwischen Hume und Macaulay läßt sich mithin in Großbritannien eine außerordentliche Kontinuität in Form, Verwendung und ideengeschichtlicher Verortung historischer Literatur feststellen. Geschichte wurde außerhalb der Universität mit planvoll eingesetzten darstellerischen Mitteln in praktischer Absicht und in Verbindung zu umfassenderen philosophischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bestrebungen für ein gebildetes Laienpublikum geschrieben. Noch fehlten Ethos wie Organisationsrahmen fachwissenschaftlicher Beschränkung und Intensivierung. Macaulay stand als Geschichtsschreiber, als philosophierender Literat und öffentliche Figur, in einer nahezu unbefragt übernommenen Aufklärungstradition, die auf Hume zurückging, von dem ihn als Geschichtsdeuter in den Einzelheiten von Gewichtung und Urteil so vieles unterschied. Ein Selbstverständnis als fachdisziplinär eingebundener Geschichtsforscher war ihm hingegen fremd. Dieser eher formalen Einheit eines historischen Diskurses korrespondiert seine thematische Kohärenz. Wenn es ein zentrales, ein den meisten Historikern gemeinsames Thema gab, so war dies auf den ersten Blick das Wachstum der eigentümlich englischen politischen Institutionen von der Magna Charta bis zur Austarierung der Mischverfassung 1688/89 und der Sicherung der protestantischen Sukzession, spezieller noch: der Bogen von der Tudor-Monarchie über den zweimaligen Aufstieg und Fall des Hauses Stuart bis zur Rückgewinnung politischer Stabilität im frühen 18. Jahrhundert. Bei Hume und Hallam, bei Lingard und Macaulay war dies – wie später bei Ranke – der Mittelpunkt ihrer Arbeit, und auch sonst hat kein Historiker der Epoche an diesem Thema vorübergehen können. Auch wer sich einem selbstgefälligen Whig-Tri94 Zu Mills Darstellungsweise vgl. W. Thomas, The Philosophic Radicals: Nine Studies in Theory and Practice, 1817–1841, Oxford 1979, S. 117. 95 E. Schulin, »Historiker, seid der Epoche würdig!« Zur Geschichtsschreibung im Zeitalter der Französischen Revolution – zwischen Aufklärung und Historismus, in: TAJB, Jg. 18, 1989, S. 10– 12, sieht nach Winckelmanns kunsthistorischem Pionierwerk (1764) Friedrich Schillers »Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande« (1788) als das erste große Werk ästhetisch ansprechender historischer Darstellung. Vgl. auch W. Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Historie und die Ästhetisierung der Darstellung, in: R. Koselleck, u. a. (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, S. 147–191, bes. S. 181ff.

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umphalismus verweigerte, wer die Kosten und Gefährdungen der britischen Entwicklung wahrnahm und sich, wie der Goethe-Verehrer Thomas Carlyle, Inspiration vom Kontinent holte, vermochte den erklärungsbedürftigen britischen Sonderweg nicht zu übersehen. Ein zweiter Blick indessen erkennt hinter diesem nationalgeschichtlichen Thema ein weiteres und tieferes, ein Thema zudem, das auch den Rom-Historiker Gibbon, den Indien-Historiker James Mill und vor allem die an englischer Nationalgeschichte wenig interessierten schottischen Vertreter einer »philosophical« oder »conjectural history« mit ins Bild bringt: die Entstehung und Gefährdung der modernen Zivilisation.96 Nun war dies eines der Hauptthemen nahezu der gesamten europäischen Aufklärung, ja, der Begriff der Zivilisation ist ein Produkt des 18. Jahrhunderts.97 Im britischen Kontext war dabei schon in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts, als der Terminus Verbreitung fand, ein hochentwickelter Gesellschaftszustand gemeint, erhielt der Begriff also einen dynamisch-historischen und zugleich einen soziologischen Gehalt. Merkmale dieser kollektiven Hochentwicklung waren neben materiellem Fortschritt vor allem die Emanzipation des Menschen von unfreiwilligen Reflexvorgängen wie Instinkt oder traditionsgeleitetem Handeln zugunsten von Willens- und Handlungsfreiheit im gesellschaftlichen Raum: die Lösung aus den Fesseln der Natur.98 Dies sahen Vertreter der Aufklärung auf dem Kontinent durchaus ähnlich. Britisch waren die besondere Formulierung, die das Zivilisationsthema durch die schottischen Denker erfuhr, die historische Erfahrung, die in diese Formulierung einging, und ihre Langlebigkeit weit ins 19. Jahrhundert hinein. Am Anfang steht abermals – chronologisch wie systematisch – David Hume. Hume fand im England der hannoveranischen Dynastie eine Stimmung vor, 96 Schon in Tudor-England machte man sich darüber Gedanken. Vgl. A. B. Ferguson, Clio Unbound: Perception of the Social and Cultural Past in Renaissance England, Durham, NC 1979, S. 346–414. Die von Vico und der deutschen Romantik beeinflußte »fully-fledged philosophy of civilization« der liberalen Anglikaner (Forbes, Liberal Anglican Idea, S. 38) sei hier nur am Rande erwähnt. 97 Nach J. Fisch, Art. »Zivilisation, Kultur«, in: O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1990, S. 717, läßt sich die moderne Begriffsverwendung zuerst 1756 beim älteren Mirabeau nachweisen. Innerhalb weniger Jahre gewann der Begriff den später geläufigen Umgang. Der Begriff ist (anders als »Kultur«) immer auf Kollektive bezogen. Er impliziert Bewegung, Veränderung, Ausdifferenzierung. Prozeß und Resultat, Zivilisierung und Zivilisiertheit werden von Anfang an als zwei Seiten derselben Medaille gesehen. Assoziiert wird auch fast immer der Gegensatz zu Barbarei und Wildheit. Etwas anders verlief die Begriffsgeschichte in Großbritannien: »civility« im Sinne von Zivilisiertheit kam schon im 17. Jahrhundert vor. Seit etwa 1775 war der Begriff »civilization« in etwa stabilisiert als »the state of being civilized«, verknüpft also mit den progressiven Leistungen der menschlichen Gesellschaft. – Grundlegend bleibt neben Fisch: J. Moras, Ursprung und Entwicklung des Begriffs der Zivilisation in Frankreich, 1756–1830, Hamburg 1930. 98 Rothblatt, Tradition and Change, S. 17.

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die der Historiker Duncan Forbes als »vulgar Whiggism« bezeichnet hat: eine Überzeugung von der Einzigartigkeit und unvergleichlichen Überlegenheit der freien politischen und gesellschaftlichen Zustände auf der Insel über die Sklaverei und den Aberglauben, die jenseits des Kanals herrschten, einerlei ob unter dem türkischen Sultan oder dem König von Frankreich. Zwischen »freien« und »despotischen« Systemen bestand nach dieser Auffassung kein gradueller, sondern ein qualitativer Unterschied, der jede vergleichende Wissenschaft von der Politik unmöglich machte. Den Ursprung eigener Superiorität sah man in der Existenz einer uralten, eigentümlich englischen »ancient constitution«, die im 17. Jahrhundert durch die Parlamentsführer gegen die Angriffe der nach Selbstherrschaft strebenden Stuarts verteidigt worden sei.99 Als »sceptical Whig« unternahm Hume eine Revision dieser chauvinistischen Selbsttäuschung. Er tat dies in seinen »Essays Moral and Political« von 1741/42.100 Zunächst zeigte Hume, daß die Autorität der Regierung nicht auf angeblich konsensuellen Gründungsakten wie der Revolution von 1688, sondern auf »opinion« beruhe, also auf Gewohnheit und Konvention. Mit »opinion« wurden dabei nicht die schwankenden, von den Leidenschaften des Tages bestimmten Meinungen bezeichnet, sondern relativ stabile Einstellungen, die einem gewissen Maß an sozialer Disziplin unterliegen, nicht unähnlich den »attitudes« und Werthaltungen, die heute im Begriff der »politischen Kultur« angesprochen werden.101 Hume zeigte dabei wenig Interesse für die Legitimität von Regierung überhaupt und damit auch für Herleitungen aus letzten Prinzipien und Konstruktionen eines Herrschaftsvertrages, wie sie die Naturrechtstradition bevorzugte. Ihm ging es um die Frage nach Stabilität und Leistungsfähigkeit konkreter politischer Regime.102 Sodann versuchte Hume seinen Lesern zu zeigen, daß die von der vulgär-whiggistischen Propaganda gerühmte Krisenfestigkeit der englischen Politik in Wahrheit durch archaischen Parteienzwist um vermeintliche Grundsatzfragen gefährdet sei. Hume führte dies unter anderem auf die prekäre Entstehungsweise des modernen britischen politischen Systems seit 1688 zurück. Weder sei es nämlich providentiell vorherbestimmt, noch ein notwendiges Resultat einer langfristigen Verfassungsentwicklung gewesen; vielmehr sei die Neuordnung durch die Glorious Revolution das Ergebnis einer besonderen Verkettung von Faktoren in der zweiten Hälfte

99 Forbes, Hume’s Philosophical Politics, S. 140ff. Vgl. auch Pocock, Varieties of Whiggism, S. 252–254. 100 D. Hume, Essays Moral and Political, hg. v. E. F. Miller, Indianapolis 1987. 101 Vgl. K. Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung, in: HZ, Jg. 250, 1990, S. 321–346. 102 Zu Humes »opinion«-Lehre vgl. D. Winch, Adam Smith’s Politics: An Essay in Historiographic Revision, Cambridge 1978, S. 168f. Smith übernahm Humes »opinion«-Begriff. Die wichtigste Stelle bei Hume ist der Essay »Of the First Principles of Government«: Hume, Essays, S. 32–36.

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des 17. Jahrhunderts.103 Was eher zufällig entstanden sei, könne auch rasch wieder verschwinden. Hume erwartete denn auch für Großbritannien die Heraufkunft eines »zivilisierten« Absolutismus nach französischem Muster.104 Schließlich bestritt er die von den Vertretern des »klassischen Republikanismus« in der Nachfolge James Harringtons vertretene Auffassung, die antike Polis könne als realistisches Modell auch für ein modernes Gemeinwesen dienen. Vielmehr schien gerade das zeitgenössische Frankreich zu beweisen, wie unter einem unfreien politischen System durchaus eine Gesellschaft persönlich freier Privateigentümer gedeihen könne: »Private property seems to me almost as secure in a civilized European monarchy, as in a republic«.105 Es gab für Hume, wie für Adam Smith, keine notwendige Verkoppelung von ökonomischer und staatsbürgerlicher Freiheit. Entstehung und Fortentwicklung einer modernen Marktgesellschaft, der »commercial society«, sei auch unter einem gemäßigten Absolutismus möglich, solange dieser die Sicherheit von Leben und Eigentum rechtlich und tatsächlich verbürge.106 Hume war ein Anwalt europäischer, nicht allein britischer Modernität. Ihr wichtigstes Merkmal war für ihn zivilrechtliche, im Idealfall dazu auch noch staatsbürgerliche Freiheit: eine historisch einmalige, auf das neuzeitliche Europa beschränkte Errungenschaft. Er sah in seiner Gegenwart einen Fortschritt an »justice«, d. h. an Freiheit und Sicherheit von Leben und Eigentum unter der Herrschaft des Gesetzes107, an »politeness« im gesellschaftlichen Umgang, also an unfanatischem, gegenseitig tolerantem, sich im gewaltlosen Markt- und Kommunikationsverkehr ausdrückendem Verhalten108, sowie an kultureller 103 Mit seiner Ablehnung einer langfristig-deterministischen »Tiefeninterpretation« der Glorious Revolution nimmt Hume manche Argumente des heute die Diskussion bestimmenden »Revisionsimus« vorweg. Vgl. die Übersicht über die Debatte bei W. A. Speck, Reluctant Revolutionaries: Englishmen and the Revolution of 1688, Oxford 1988, S. 1–21. Übrigens wird auch Humes lange von der Whig-Geschichtsschreibung angefeindeter Hinweis auf die untertänige Fügsamkeit der Tudor-Parlamente (z. B. History of England, Bd. 4, S. 138ff., 144, 363–366) durch die neuere »revisionistische« Forschung, besonders die Untersuchungen von G. R. Elton, als empirischer Befund bestätigt. Vgl. P. Wende, Revisionismus als neue Orthodoxie? Parlament und Revolution in der modernen englischen Historiographie, in: HZ, Jg. 246, 1988, S. 92f. 104 Vor allem »Whether the British Government Inclines more to Absolute Monarchy or to a Republic«, in: Hume, Essays, S. 47–53. Vgl. Miller, Philosophy and Ideology, S. 160f., 170f., 181– 184; Forbes, Hume’s Philosophical Politics, S. 172, 180, 187. 105 »Of Civil Liberty«, in: Hume, Essays, S. 92f. 106 Vgl. J. W. Burrow, Whigs and Liberals: Continuity and Change in English Political Thought, Oxford 1988, S. 28–30; Forbes, Hume’s Philosophical Politics, S. 153; Ders., Sceptical Whiggism, Commerce and Liberty, in: A. S. Skinner u. T. Wilson (Hg.), Essays on Adam Smith, Oxford 1976, S. 201. 107 Zu Humes Begriff »justice« vgl. K. Haakonssen, The Science of a Legislator: The Natural Jurisprudence of David Hume and Adam Smith, Cambridge 1981, S. 4–44; J. Harrison, Hume’s Theory of Justice, Oxford 1981. 108 Auch dieser Begriff barg eine polemische Spitze gegen die Antikenverehrung, besonders gegen das Lob der durch »Luxus« unverdorbenen »rustic Romans«, allen voran Cato, im politischen

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Verfeinerung in einem weiten Sinne, der sowohl die »liberal« als auch die »mechanical arts« umfaßte. All dies war – ein charakteristischer Gedanke der gesamten schottischen Aufklärung – wesentlich das Ergebnis ökonomischer Expansion. Solch wohltätige Auswirkungen von Handel und Gewerbe bedurften jedoch der Absicherung durch rationale, gemäßigte, jeden religiösen Fanatismus zügelnde Politik, wie Hume sie etwa bei Queen Elizabeth fand109 und wie er sie bei den ersten beiden Stuartkönigen vermißte. Hume warf James I. und Charles I. keineswegs, wie die Whig-Historiker es seit Rapin-Thoyras taten, absolutistische Machtgelüste vor. Vielmehr waren sie in seiner Sicht Elisabeth deshalb so offensichtlich unterlegen, weil sie der Religion und dem Parteigeist Zutritt zur Politik erlaubt und sich unrealistischen Illusionen über die Natur und Stärke ihrer eigenen monarchischen Position hingegeben, weil sie, modern gesprochen, im Management des politischen Systems versagt hätten.110 Für Humes historisch-politische Pädagogik ist auch in der historiographischen Bewertung weniges verhängnisvoller als eine Unfähigkeit zu realistischer Welterfassung. Der nüchternen, verschlagenen und urteilssicheren Machtpolitikerin Elisabeth stellt er den schwankenden Ideologen James I. gegenüber; an Cromwell irritiert ihn die Mischung aus schlauer Taktik und religiösem Wahn. Auch Humes Haltung zu vormoderner Geschichte erklärt sich zu einem Teil aus seinem leidenschaftlichen Eintreten für politischen Realismus. Wenn er das Mittelalter, für das er wenig Interesse und noch weniger Sympathie hatte – erst Hallam unter den bedeutenden britischen Historikern versucht ihm gerecht zu werden –, als eine »barbarische« und gewalttätige Zeit schilderte111, so nicht allein aus aufklärerischer Befangenheit und Verachtung für Religion und Kirche, sondern weil er der zähen, eine klare Erkenntnis der Gegenwart behindernden britischen Gewohnheit, die moderne Welt in

Denken des »klassischen Republikanismus«. Vgl. Pocock, Varieties of Whiggism, S. 236. Hume entwickelt den Begriff vor allem in »Of the Rise and Progress of the Arts and Sciences«, in: Hume, Essays, S. 111–137, bes. S. 127ff. 109 Hume, History of England, Bd. 4, und besonders die zusammenfassende Würdigung Elisabeths, S. 351–353. 110 Dies berührte Fragen der Finanzen mindestens ebenso sehr wie solche der Verfassung: Im frühen 17. Jahrhundert hatte, Hume zufolge, der englische Monarch den finanziellen Handlungsspielraum seiner Vorgänger verloren, ohne andererseits schon, wie die Könige des 18. Jahrhunderts, das steuerbewilligende Parlament durch Patronage manipulieren zu können (ebd., Bd. I, S. 137). Weder James noch Charles besaßen die Fähigkeit, ihre objektive Schwäche durch Staatskunst zu kompensieren. Stets interessierte sich Hume dabei weniger für die Motive als für die Resultate des Handelns. Etwa seine Beurteilung James’ I.: »His intentions were just; but more adapted to the conduct of private life, than to the government of kingdoms« (ebd., S. 121f.). Humes Darstellung und Bewertung der Stuarts wird gut zusammengefaßt bei Phillipson, Hume, S. 81–94. 111 In schon fast Gibbonschem Ton entlarvender Ironie Humes Charakterisierung der Kreuzzüge (History of England, Bd. I, S. 249f.).

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vormodernen – seien es antike, seien es feudale oder archaisch-«gotische«112 – Kategorien zu deuten, ein Ende bereiten wollte.113 Das Mittelalter, für Hume die Zeit bis gegen Ende der Herrschaft Heinrichs VII. (1485–1509), habe die Gegenwart nichts mehr zu lehren. Ohnehin ist für Hume das Handeln der Menschen in »barbarischen« Zeitaltern schon deshalb als Modell untauglich, weil es rational nicht rekonstruiert werden kann. Strenggenommen, liegt es daher sogar außerhalb des Erkenntnisbereichs der modernen Geschichtsschreibung, die in Humes Sicht notwendig mit Rationalitätsannahmen arbeiten muß.114 Humes »History of England« ist im Gewande einer nationalhistorischen Erzählung eine Geschichte des prekären Aufstiegs der modernen europäischen Zivilisation in England. Prekär ist dieser Aufstieg, weil er nicht providentiell oder evolutionär garantiert ist, weil er verspielt werden kann und deshalb politisch gehegt werden muß.115 Die moderne europäische Zivilisation ist für Hume, ebenso wie gleichzeitig für Montesquieu, in ihrer Einzigartigkeit ein instabiles, stets gefährdetes historisches Gebilde. Ihre Gefährdung geht nicht hauptsächlich, wie für die Anhänger des »klassischen Republikanismus«, von der »Korruption« hochherziger Bürgertugend durch materiellen Luxus aus, sondern von einem Rückfall in einen das Gemeinwesen zerrüttenden Parteienstreit, im schlimmsten Fall in religiösen Bürgerkrieg. Der Begriff der »Zivilisation« weist bei Hume weit über die Künste und Wissenschaften, über die »manners and customs« hinaus und schließt ganz nachdrücklich das Politische ein, wenn Hume auch nicht so weit geht wie manche Whigs, Zivilisation schlechthin mit der Entfaltung politischer Freiheit in eins zu setzen. Die Entbrutalisierung des öffentlichen Gebarens, die Zähmung der politischen Leidenschaften, am aussichtsreichsten durch eine neutralisierende Balance der einzelnen »passions« gegeneinander116, und schließlich die Dämpfung des religiösen Eifers: dies sind ihm die wichtigsten Ergebnisse der europäischen Zivilisationsgeschichte, wie sie in der britischen Nationalgeschichte Ausdruck gefunden hat. 112 Vgl. R. J. Smith, The Gothic Bequest: Medieval Institutions in British Thought, 1688– 1863, Cambridge 1987. 113 Einen neuere Interpretation sieht in Humes Emanzipation von den Alten eine seiner zentralen Errungenschaften: »Hume becomes the representative modern philosopher by becoming the only modern philosopher who has experienced the overthrow of the ancient« (J. Christensen, Practicing Enlightenment: Hume and the Formation of a Literary Career, Madison, Wisc. 1987, S. 59). 114 Livingston, Hume’s Philosophy of Common Life, S. 241; auch Miller, Philosophy and Ideology, S. 122. Vgl. auch die Diskussion bei L. Pompa, Human Nature and Historical Knowledge: Hume, Hegel and Vico, Cambridge 1990, S. 34–66. 115 Miller, Philosophy and Ideology, S. 181; Forbes, Hume’s Philosophical Politics, S. 309. 116 Vgl. A. O. Hirschman, The Passions and the Interests: Political Arguments for Capitalism before Its Triumph, Princeton 1977, S. 24f. Zum Verhältnis von »reason« und »passion« bei Hume vgl. bes. A. Flew, David Hume: Philosopher of Moral Science, Oxford 1986, S. 144–149.

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Deshalb muß diese Geschichte auch in erster Linie als politische Geschichte und nicht als Sozialgeschichte, als eine Geschichte des außerpolitischen materiellen und gesellschaftlichen Lebens, geschrieben werden. Hume war ein Schotte, dessen Familie über viele Generationen hinweg enge Verbindungen zu Frankreich unterhalten hatte. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in einem Land, das bis 1707 ein selbständiger, auch gesellschaftlich und kulturell charakteristisch profilierter Staat gewesen war. Aus doppelter, aus zugleich schottischer wie kosmopolitischer Außensicht konnte er die Mechanismen und Ideologien englischer Politik besonders gut durchschauen. Das Schottland der zweiten Jahrhunderthälfte bot freilich selbst reiche Anschauung für raschen sozialökonomischen Wandel. Die wirtschaftliche und kulturelle Blüte in Edinburgh und Glasgow bewies die zivilisierenden Auswirkungen des Handels und wurde selber zum Untersuchungsgegenstand der führenden Denker des Landes.117 In den schottischen Highlands, wo um die Mitte des Jahrhunderts immerhin ein Viertel der schottischen Bevölkerung lebte, hatten sie zugleich die Auflösung und Zerstörung extrem fremdartiger vormoderner, gar vorfeudaler Lebensformen vor Augen, die nach der Vernichtung des jakobitischen Widerstandes 1745/46 ein dramatisches Tempo gewann. Ein Mann wie Adam Ferguson, der als Highlander das Englische noch wie eine Fremdsprache empfand und es mit gewissen Unsicherheiten gebrauchte118, hatte die Erschütterungen in der eigenen Biographie verspürt. Bis zur Jahrhundertmitte schienen die Highlands aus der Sicht der Engländer wie Tiefland-Schotten alles in Frage zu stellen, was nach südlichem Selbstverständnis die Errungenschaften der modernen britischen Zivilisation ausmachte: die Unterstützung für das hannoveranische System, die englische Sprache, die protestantische Religion und eine akkumulationsorientierte Wirtschaftsgesinnung. Die Hochland-Bewohner wurden teils – mit ihrer militanten Klan-Organisation – als bedrohliche Wilde, teils als harmlose Objekte wohlfeilen Spotts gesehen, in jedem Fall als Inbegriff von »Barbaren«.

117 Zur Transformation Schottlands vor allem: Devine u. Mitchison (Hg.), People and Society; R. A. Houston u. I. D. Whyte (Hg.), Scottish Society 1500–1800, Cambridge 1989; T. M. Devine (Hg.), Conflict and Stability in Scottish Society, 1700–1850, Edinburgh 1990. Eine gute Zusammenfassung gibt T. C. Smout, Where Had the Scottish Economy Got by the Third Quarter of the Eighteenth Century?, in: I. Hont u. M. Ignatieff (Hg), Wealth and Virtue: The Shaping of Political Economy in the Scottish Enlightenment, Cambridge 1983, S. 45–72; auch B. Lenman, Integration, Enlightenment, and Industrialization: Scotland 1746–1832, London 1981; R. H. Campbell, Scotland since 1707: The Rise of an Industrial Society, Edinburgh 1985; T. C. Smout, A History of the Scottish People 1560–1830, London 1969, S. 195ff.; R. Mitchison, Scotland 1750–1850, in: F. M. L. Thompson (Hg.), The Cambridge Social History of Britain 1750–1950, Bd. 1, Cambridge 1990, S. 155–207. 118 D. Forbes, Introduction, in: Ders. (Hg.), Adam Ferguson: Essay on the History of Civil Society [1767], Edinburgh 1966, S. XXV.

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Um die Jahrhundertmitte setzte dann eine Umwertung ein. Die Highlands wurden erstmals zum Ziel touristischer und wissenschaftlicher Reisen; die neue Vorstellung vom Pittoresken in der Landschaftswahrnehmung suggerierte ein bis dahin unbekanntes ästhetisches Wohlgefallen an der Rauheit Nordschottlands; James Macphersons fingierte Gesänge des Barden »Ossian« aus dem 4. Jahrhundert begründeten den Mythos vom urwüchsigen Norden als Quelle unkorrumpierter Tugend.119 Diesem Wandel des Schottlandbildes entsprachen reale Veränderungen. Schon als Samuel Johnson und James Boswell 1773 von London aus eine Reise zu den Hebriden unternahmen, sahen sie in den Highlands nur mehr wenige von den archaischen Zuständen, die sie erwartet hatten.120 In Gestalt der schottischen Highlands wie überhaupt des »celtic fringe« existierte also innerhalb der britischen Nation ein Zustand ethnisch-zivilisatorischer Andersartigkeit, wie er in den übrigen Ländern des mittleren und westlichen Europa in solcher Kraßheit unbekannt war. Nicht nur im Verhältnis zur fernen Sphäre der »orientalischen Despotie« oder selbst des katholisch-kontinentalen Absolutismus, sondern auch in der Beziehung zwischen Engländern und Tiefland-Schotten einerseits, Hochländern, Walisern und Iren andererseits stellte sich in Großbritannien das Zivilisationsproblem. Nationalgeschichte war zugleich die Geschichte von Zivilisierung und Zivilisation.

119 D. Hay, England, Scotland and Europe: The Problem of the Frontier, in: TRHS, Jg. 25, 1975, S. 77–91; H. Trevor-Roper, The Invention of Tradition: The Highland Tradition of Scotland, in: E. J. Hobsbawm u. T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 15–41; P. Womack, Improvement and Romance: Constructing the Myth of the Highlands, Basingstoke 1989. Über Macpherson und die Anregungen, die er aus der älteren schottischen Geschichtsschreibung bezog, vgl. I. Haywood, The Making of History: A Study of the Literary Forgeries of James Macpherson and Thomas Chatterton in Relation to Eighteenth-Century Ideas of History and Fiction, Rutherford 1986, S. 35–45. 120 »There was perhaps never any change of national manners so quick, so great, and so general, as that which has operated in the Highlands, by the last conquest, and the subsequent laws. We came thither too late to see what we expected, a people of peculiar appearance, and a system of antiquated life.« S. Johnson, A Journey to the Western Islands of Scotland [1775], hg. v. P. Levi, Harmondsworth 1985, S. 73. Macaulay, History of England, Bd. 4, S. 1590f., äußert sich höhnisch über die Heuchelei der neuen Highlandverklärung, wie sie sich selbst bei dem nüchternen Johnson erkennen läßt: »As soon as the extermination [of the Highlanders, d. Vf.] had been accomplished, as soon as cattle were as safe in the Perthshire passes as in Smithfield market, the freebooter was exalted into a hero of romance. As long as the Gaelic dress was worn, the Saxons pronounced it hideous, ridiculous, nay, grossly indecent. Soon after it had been prohibited, they discovered that it was the most graceful drapery in Europe.«

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IV. Die anspruchsvollste Erfassung der Zivilisationsfrage kam denn auch aus Schottland, nämlich als eine Theorie der sozialökonomischen Entwicklung. Die Theorie der »commercial society« war älteren Ursprungs. Pocock verfolgt sie zurück zu der Debatte zwischen »landed interest« und »monied interest«, die durch die Finanzrevolution der neunziger Jahre des 17. Jahrhunderts – das Entstehen einer fundierten Staatsschuld, die Zunahme politischer Patronage und Korruption und das Aufkommen spekulativer Geschäftsmacherei – ausgelöst worden war.121 Die Kritiker der neuen Markt- und Tauschgesellschaft, von der ökonomischen wie politischen Solidität des Grundbesitzes ausgehend, wandten sich im frühen 17. Jahrhundert mehr noch als gegen deren kalte Zweckrationalität gegen das Übermaß an entfesselten Leidenschaften, in Gestalt vor allem spekulativer Hysterie, die sie freisetzte. Ein Gegenargument der Modernisten bestand nun darin, einen zivilisierenden Geschichtsprozeß anzunehmen, der den allgemeinen Wohlstand vermehre, im gleichen Zuge aber auch die Leidenschaften zähme, also »passions« und »interests« miteinander versöhne. Was Hume als Historiker zum Urteilsmaßstab erhob und als politischer Philosoph der Staatskunst zur Aufgabe stellte, das band Adam Smith in eine »philosophische«, auf gelehrten Mutmaßungen fußende universale Lehre von der menschlichen Gesellschaftsentwicklung ein. In den fünfziger und sechziger Jahren formulierte Smith, gleichzeitig mit Turgot, der in Paris ähnliche Gedanken vortrug, in seinen Vorlesungen zur Jurisprudenz122, ausgehend von der Humeschen Entkoppelung von »polity« und »society«, eine historische Theorie der ökonomischen Moderne, der »commercial society«, die er später in seinem »Wealth of Nations« von 1776 durch eine Analyse ihrer inneren Wirkungsweise ergänzte. Andere schottische Denker, namentlich Adam Ferguson und John Millar, vertieften und erweiterten Smiths Theorie und setzten dabei mitunter andere Akzente. Die schottische Stadientheorie, die im Gegensatz stand sowohl zu zyklischen als auch zu heilsgeschichtlichen Geschichtsauffassungen, war durch frühere Autoren vorbereitet worden. Dies waren zum einen die Reisenden und Ethnographen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, die dem modernen Europa erstmals die Vielfalt

121 J. G. A. Pocock, The Mobility of Property and the Rise of Eighteenth-Century Sociology, in: Ders., Virtue, Commerce, and History, S. 103–123, hier S. 109–115. Vgl. auch J. Appleby, Economic Thought and Ideology in Seventeenth-Century England. Princeton 1976. Weniger ergiebig für diese Fragestellung ist T. Hutchison, Before Adam Smith: The Emergence of Political Economy, 1662–1776, Oxford 1988. 122 A. Smith, Lectures on Jurisprudence, hg. v. R. L. Meek u. a. (The Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith, Bd. 5.) Oxford 1978. Die geschichtstheoretisch wichtigste Vorlesung ist die von 1762/63.

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der gesellschaftlichen Formen auf der Welt vor Augen stellten123, zum anderen jene Naturrechtslehrer, die juristische Betrachtungen über die Entwicklung des Eigentums angestellt hatten, vor allem John Locke und Samuel Pufendorf.124 Bei David Hume fehlen charakteristischerweise Ansätze zu der sonst »gesamtschottischen« Stadientheorie. Dies mag an seiner großen Distanz zum Naturrecht ebenso liegen wie an seiner radikalen Ablehnung jedweden evolutionistischen Denkens: objektive Gesetzmäßigkeiten des Geschichtsverlaufs waren dem Humeschen Verständnis fremd. William Robertson wiederum, der im schottischen Spektrum eine mittlere Position besetzte zwischen Humes kritischer Politikgeschichte und der sozialökonomischen »conjectural history« der Smith-Schule, bediente sich eines modifizierten Stadienkonzepts, mit dem er die nachantike europäische Entwicklung erfassen wollte: Zwischen das frühe Stadium unzivilisierter Schlichtheit bei den Germanen und den Hunnen der Völkerwanderungszeit und die im 16. Jahrhundert aufkommende moderne europäische Zivilisation schob er als Tiefpunkt der europäischen Geschichte das Interludium des »feudalen« Zeitalters: »Human society is in its most corrupted state at that period when men have lost their original independance and simplicity of manners, but have not attained that degree of refinement which introduces a sense of decorum and of propriety in conduct, as a restraint on those passions which lead to heinous crimes.«125 Bei Adam Smith hatte die »commercial society« ihren Ort als letzte Phase innerhalb eines Vier-Stadien-Schemas der Gesellschaftsentwicklung. Neu war bei Smith, daß weniger nach den Ursprüngen gesellschaftlicher Einrichtungen wie Herrschaft und Eigentum gefragt wurde als nach den vorwärtstreibenden Momenten des Geschichtsprozesses auf jeder seiner Stufen. Smiths Interesse galt weniger der Urzeugung des gesellschaftlichen Lebens als seiner Evolution. Neu war auch, daß Gemeinwesen nicht länger nach ihrer konstitutionellen Form, ihren inneren Triebkräften – Montesquieus »passions humaines qui le [gouvernement] font mouvoir«126 – oder ihren politischen Legitimitätsgrund-

123 Vgl. J. Osterhammel, Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, in: H.-J. König u. a. (Hg.), Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen, Berlin 1989, S. 9–42. 124 Vgl. R. L. Meek, Smith, Marx and After: Ten Essays in the Development of Economic Thought, London 1977, S. 30–32; H. Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1973, S. 75ff.; I. Hont, The Language of Sociability and Commerce: Samuel Pufendorf and the Theoretical Foundations of the »Four-Stages-Theory«, in: A. Pagden (Hg.), The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge 1987, S. 253–276. 125 W. Robertson, The Progress of Society in Europe: A Historical Outline from the Subversion of the Roman Empire to the Beginning of the Sixteenth Century [1769], hg. v. F. Gilbert, Chicago 1972, S. 21. 126 Montesquieu, De l’esprit des lois, III/I, in: Ders., Œuvres complètes, hg. v. R. Caillois, Bd. 2, Paris 1951, S. 251.

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lagen, sondern nach der vorherrschenden Subsistenzweise127 klassifiziert wurden. Diese wiederum gab jeweils Aufschluß über Art und Grad von Zivilisiertheit. Das Vier-Stadien-Schema, so wichtig Lockesche Grundlagen für seine Ausarbeitung waren, bot eine Alternative zum naturrechtlichen Denken, das, wie in Schottland noch Francis Hutcheson lehrte, nur zwei »Stadien« kannte: den Zustand ungebundener Freiheit im Rahmen der natürlichen Ordnung und der konstituierten bürgerlichen Gesellschaft. Smith hingegen nahm eine Abfolge von vier Stadien an: »There are four distinct stages which mankind passes thro: – 1st, the Age of Hunters; 2dly, the Age of Shepherds; 3dly, the Age of Agriculture; and 4thly, the Age of Commerce.«128 Die »conjectural history« war ein experimentelles Gedankenspiel von universaler, auch den außereuropäischen Bereich erfassender Reichweite, das Smith durchaus undogmatisch anwandte. Weder nahm er an, daß jede Gesellschaft alle vier Stadien durchlaufen müsse – die Tataren129 etwa seien durch ihre natürliche Umwelt auf das Stadium des Pastoralismus festgelegt –, noch vertrat er einen materialistischen Determinismus; selbst die Persönlichkeit von Monarchen, bei deren Einschätzung Adam Smith oft Humes Urteilen folgte130, bezog er in seine Analyse ein. Die Subsistenzweise legte nur die allgemeinen Bedingungen fest, innerhalb derer sich konkrete Geschichtsprozesse abspielten. Das Vier-Stadien-Schema hatte bei Smith seine systematische Stelle in einer Analyse der Entwicklung von Eigentumsverhältnissen, gesellschaftlicher Differenzierung und politischer Herrschaft.131 Anders als Locke sah er Eigentum eher als Folge denn als Ursache der Entstehung politischer Gewalten. Ursprüngliche Eigentumsrechte erkannte er nicht an. Die Historisierung der Eigentumsproblematik, bei Locke in wenigen Bemerkungen angedeutet, wird bei Smith im Kontext einer materialen Geschichtsphilosophie explizit vollzogen.132 Adam Smith’ Stellung in der Geschichte der Historiographie erschöpft sich nicht in der Anregung der Wirtschaftsgeschichte durch einen angeblich außerhalb der Geschichtsschreibung stehenden theoretischen Ökonomen.133 (Trotz 127 Robertson führte diesen Begriff ein: »In every inquiry concerning the operations of men when united together in society, the first object of attention should be their mode of subsistence. Accordingly as that varies, their laws and policy must be different.« W. Robertson, Collected Works, Bd. 5, London 1812, S. 111, ähnlich S. 128. 128 Smith, Lectures on Jurisprudence, S. 14. 129 Im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts ein Sammelname für die nomadischen Bewohner Innerasiens. 130 Humes »History« ist noch vor Montesquieus »De l’esprit des lois« das in Adam Smith’ »Lectures on Jurisprudence« am meisten zitierte Werk. 131 Vgl. die gründliche Interpretation bei A. S. Skinner, A System of Social Science: Papers Relating to Adam Smith, Oxford 1979, bes. S. 68ff. 132 Vgl. dazu Medick, Naturzustand, S. 249ff. 133 So H. Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. 1, München 1950, S. 120. Die neuere Forschung hat die Kohärenz von Smith’ Gesamt-

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der frühen Blüte der politischen Ökonomie hat sich im übrigen die Wirtschaftsgeschichte in Großbritannien in dem Jahrhundert nach Smith so gut wie gar nicht entfalten können.) Smith ebenso wie Millar und der schon von Friedrich Meinecke im Zusammenhang der »englischen Präromantik« gewürdigte Adam Ferguson134 nahmen selbst teil am britischen historischen Diskurs: als Anreger und Leser von Geschichtsschreibern wie Hume und Robertson, aber auch als Urheber einer charakteristisch schottischen geschichtsphilosophischen Perspektive: der auf historisch-anthropologische Beobachtung und übergreifende Mutmaßungen, »conjectures«, gegründeten sozialökonomischen Stadientheorie. In einem allgemeinen Sinne hat die »conjectural history« zu einer Entpersönlichung der Geschichtsauffassung beigetragen. Smiths Gespür für den individuellen Faktor der Geschichte war, stärker noch als bei Robertson, eingebettet in eine profund soziologische Sensibilität. Die Folgen zeigten sich noch bei Macaulay, der über seine Mitarbeit an der »Edinburgh Review« mit der Gedankenwelt der späten schottischen Schule verbunden war. Weniger noch als Hume war Macaulay ausschließlich ein Chronist der Haupt- und Staatsaktionen. Seine narrative Darstellungsweise, die sich von der Strukturgeschichte Smiths, John Millars und des Robertson der Einleitung zur Geschichte Karls V.135 so deutlich unterschied, integrierte auch sozialhistorisches Material. Daß »the spirit of the Age«, den der Historiker erfassen müsse136, nicht nur durch Individuen, sondern auch durch außerpersönliche »circumstances« geprägt wird und daß diese wiederum von den allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen abhängen – dies hat der junge Macaulay von den schottischen Aufklärern ebenso gelernt wie eine dann allerdings weithin im Illustrativen verharrende Aufmerksamkeit für sozialgeschichtliche Zusamwerk herausgearbeitet, in welchem die systematische Wirtschaftstheorie ihren Ort als Teilstück einer umfassenden, moralphilosophisch und historisch fundierten Gesellschaftslehre findet. Vgl. zusammenfassend zu dieser Sicht D. D. Raphael, Adam Smith, Oxford 1985; weiterhin H. Dippel, Individuum und Gesellschaft. Soziales Denken zwischen Tradition und Revolution: Smith – Condorcet – Franklin, Göttingen 1981; Medick, Naturzustand; N. Waszek, Man’s Social Nature: A Topic of the Scottish Enlightenment in Its Historic Setting. Frankfurt a. M. 1986, S. 101–136, sowie die Aufsätze von H.-D. Kittsteiner, A. S. Skinner und D. Winch, in : F.-X. Kaufmann u. H.-G. Krüsselberg (Hg.), Markt, Staat und Solidarität bei Adam Smith. Frankfurt a. M. 1984. Die historische Dimension des Smithschen Werks wird kaum beachtet bei M. Trapp, Adam Smith: Politische Philosophie und politische Ökonomie, Göttingen 1987. 134 F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, hg. v. C. Hinrichs (Werke, Bd. 3), München 1965, S. 261–267. 135 Der Hauptteil von Robertsons »History of the Reign of Emperor Charles V.« von 1769 ist hingegen konventionelle Ereignisgeschichte. 136 Zum Topos des »spirit of the age« im frühen 19. Jahrhundert vgl. A. D. Culler, The Victorian Mirror of History, New Haven 1985, S. 39ff. Livingston, Hume’s Philosophy of Common Life, S. 225f., findet das Konzept schon bei Hume: die zeitgebundenen Regularitäten einer Epoche als Hintergrund für die Erklärung individuellen Handelns.

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menhänge, besonders die »noiseless revolutions«, die den großen Umbrüchen der Politik teils voraufzugehen, teils zu folgen pflegten.137 Der Sozialhistoriker Macaulay, bisweilen schon in den frühen Essays spürbar, sollte sich schließlich im berühmten dritten Kapitel der »History of England«, dem Panorama der englischen Gesellschaft im Jahr 1685, zu erkennen geben, einem sozialhistorischen Gemälde, das bis ins 20. Jahrhundert hinein von keinem britischen Historiker übertroffen wurde.138 Macaulay setzte freilich, ein Dreivierteljahrhundert nach Smith und Ferguson schreibend, andere Akzente. Er bestimmte die ökonomische Moderne nicht als Tausch-, sondern als Industriegesellschaft. Spezifischer wirksam wurde die schottische Behandlung des Verhältnisses von Zivilisation und Barbarei: ein Gegensatz, der von jeher im semantischen Kern des Zivilisationsbegriffes eingeschlossen war und dem nun die schottische Wirklichkeit nach der Mitte des 18. Jahrhunderts eine drängende Aktualität verlieh. Eine von Adam Smiths bedeutenden und folgenreichen Ideen war es, die alten Gegenbegriffe auf die Zeitachse zu projizieren. Vormoderne Gesellschaftsformen (die »rude stages of society«: Jäger, Hirten und Ackerbauern) wurden weder – wie bei Harrington, Bolingbroke und anderen polisbegeisterten Nostalgikern des klassischen Republikanismus – anachronistisch an die Gegenwart herangerückt und zum unmittelbar verpflichtenden Modell erhoben, noch – etwa im zeittypischen Bild des »edlen Wilden« oder im polemischen Klischee vom »orientalischen Despotismus« – exotisiert und damit in eine inkommensurable Distanz zur Gegenwart des modernen Europa gerückt. Vielmehr erhielten sie nun einen Platz in der langfristigen Entwicklungslogik kontinuierlicher Zivilisierung. Damit war für einen größeren Argumentationszusammenhang zweierlei gewonnen. Zum einen verminderte sich nun die theoretische Wahrscheinlichkeit, die moderne Gesellschaft könne unvermittelt in Barbarei zurücksinken, eine Furcht, von der sich auch Hume nicht völlig hatte befreien können. Adam Smith übersah keineswegs die Ambivalenzen der Modernisierung. Er hing noch durchaus – und erst recht tat dies Adam Ferguson – am klassischen Ideal des ungeteilten Individuums, erkannte den Widerspruch zwischen einer Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach dem Tauschprinzip und einer solchen nach dem naturrechlich und sozialkonventionell verankerten Prinzip des gerechten Auskommens und ahnte zumindest die immanente Krisenanfälligkeit der »commercial society«, wie sie dann von den politischen Ökonomen der folgenden Generation, namentlich Thomas Robert Malthus und David Ricardo, zum nachgerade obsessiv verfolgten Zentralthema erhoben wurde.139 137 Clive, Macaulay, S. 105, 495; dort S. 119–122 über Macaulays Vorstellung von Sozialgeschichte. 138 Macaulay, History of England, Bd. 1, S. 272–421. 139 Eine vorzügliche Diskussion der Ambivalenzen von Modernisierung im Gesamtkontext der schottischen Aufklärung ist I. Hont u. M. Ignatieff, Needs and Justice in the »Wealth of Nations«:

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Dennoch ist sein Grundton optimistisch. Gesellschaftliche Stagnation schließt Smith nicht aus, aber eine Regression von einer höheren Stufe auf eine in langen strukturellen Prozessen bereits überwundene ist nach dem Stadienmodell viel schwieriger vorstellbar als im Bilde vom sich drehenden Rad der Fortuna. Hier, ebenso wie, Bernard Mandeville folgend, durch die Umwertung des Luxuskonsums von der Ursache staatsbürgerlicher »Korruption« zur Triebkraft wirtschaftlichen Wachstums, raubte Smith der pessimistisch-zyklischen Geschichtsbetrachtung der »civic humanists« ein wichtiges Argument. Zum anderen ließen sich, wie Smith in Übereinstimmung mit Hume lehrte, vormoderne Gesellschaftsformen nicht länger, wie bei den Ideologen eines nebulös-frühhistorischen »gothic origin« der englischen Freiheit, als unmittelbare Legitimitätsquellen der Gegenwart betrachten. Ein langer sozialökonomischer Wandlungsprozeß trennt die moderne Gesellschaft von jenen Zuständen, die im politischen Diskurs der verschiedensten Richtungen immer wieder als maßstäblich zitiert wurden. Smith, Ferguson und Millar entwickelten im Detail unterschiedliche Vorstellungen vom Verlauf der universalen Gesellschaftsentwicklung. Gemeinsam war ihnen jedoch eine Historisierung vormoderner Formen, die sich gleichermaßen vom Anachronismus der im Banne einer idealisierten kommunal-republikanischen Antike verharrenden »civic humanists« abgrenzte wie von den Naturzustandskonstruktionen des naturrechtlichen Vertragsdenkens. Von ihrem Freund und Lehrer David Hume unterschieden sich Smith, Ferguson und Millar indessen dadurch, daß ihnen die vormodernen Gesellschaftszustände mehr waren als ein roher, in der Darstellung bewußt grob gestrichelter Hintergrund, vor dem sich, wie bei Hume vor der Primitivität des englischen Mittelalters, die »politeness« der Moderne um so schärfer abhob. In der »conjectural history« der schottischen Aufklärung finden sich in einem auch bei dem verehrten und unentwegt zitierten Anreger und Vorläufer Montesquieu unbekannten Maße Ansätze zu einer universalen Geschichte der gesellschaftlichen Institutionen wie der sozialen Verhaltensweise der Menschen. Die vormodernen Formen erscheinen dabei in mancher Hinsicht als Vorstufen der Moderne und evolutionäre Durchgangsstadien, in anderer hingegen als gesellschaftliche Organisationsmuster von eigener innerer Gesetzlichkeit, als in sich geschlossene Funktionszusammenhänge von Herrschaft, Tausch und Weltbildstrukturen, die jeweils auch isoliert vom »vertikalen« Evolutionsprozeß, in den sie eingebettet sind, »horizontal« studiert werden können. Damit war die Grundlage geschaffen für eine universale historische Soziologie.

An Introductory Essay, in: Dies. (Hg.), Wealth and Virtue, S. 1–44. Über Ferguson: Z. Batscha u. H. Medick, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bügerlichen Gesellschaft. dt. v. H. Medick, Frankfurt a. M. 1986, S. 7–91, bes. S. 39, 73–81.

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Die britische Geschichtsschreibung hat aus diesen wegweisenden Ideen der schottischen Juristen und Moralphilosophen zwei unterschiedliche Typen von Schlußfolgerungen gezogen. Der eine Typus betont die horizontale oder synchrone, der andere die vertikale oder diachrone Dimension des Stadienmodells. Erstens eröffnete das Vier-Stadien-Schema die Möglichkeit zu einer Analyse der »barbarischen« Formen nach ihrer sozialökonomischen Eigenlogik, einer Analyse, deren zweite Inspirationsquelle Montesquieu war. Diesen Weg ging Edward Gibbon, auf den kein anderer moderner Denker so intensiv einwirkte wie Montesquieu und den man umgekehrt zu Recht als den bedeutendsten Schüler des Président à mortier bezeichnet hat.140 In Gibbons Sicht erlag die durch Despotie und Luxus innerlich geschwächte, vor den logistischen Problemen ihrer Ausdehnung versagenden und durch außerweltliche Heilsreligionen unterminierte Zivilisation Roms in letzter Instanz dem Ansturm von Völkern einer niederen Gesittungsstufe. Anders als die Schotten interessierte sich Gibbon mehr für den gleichzeitigen Konflikt von Gesellschaften unterschiedlichen Zivilisationsstandes als für den evolutionären Übergang von einer Stufe zur nächsthöheren. Der immerwährende, erst im neuzeitlichen Europa zum Ende gekommene Zusammenstoß zwischen mobilen Barbaren und seßhaften Zivilisierten war jener thematische Kontaktpunkt, an dem die Geschichte des Untergangs Roms zur Weltgeschichte wurde. Sein Studium von Tacitus’ »Germania«, seine umfassende Kenntnis der Reiseliteratur und des proto-orientalistischen Schrifttums des 18. Jahrhunderts141, schließlich die Anregungen, die er – in etwa dieser Reihenfolge der Wichtigkeit – durch Robertson, Ferguson und Smith empfing142, ermöglichten es Gibbon, über die bloße Dämonisierung der aggressiven Reiterstämme hinaus zu einer beispiellos differenzierten, auch weit über die vergleichbaren Analysen in Voltaires »Essai sur les mœurs« (1751) hinausführenden Soziologie des Nomadentums vorzudringen.143 Beispielhaft da140 Craddock, Edward Gibbon, S. 8; Jordan, Gibbon, S. 71, auch S. 183–212. Vor allem über den Einfluß von Montesquieus historischem Hauptwerk, den »Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence« (1734) auf Gibbon: Wormersley, Transformation, S. 9–19. 141 Das herausragende Werk dieser Kategorie war J. de Guignes, Histoire générale des Huns [...], 4 Bde., Paris 1756–1758. 142 Über die Beziehungen Gibbons zur schottischen Aufklärung vgl. P. B. Craddock, Young Edward Gibbon: Gentleman of Letters, Baltimore 1982, S. 258f.; Dies., Edward Gibbon, S. 34–37, S. 67–69, S. 74; M. A. Weber, David Hume und Edward Gibbon. Religionssoziologie in der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1990, S. 80ff. 143 Im 26. Kapitel: E. Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. hg. v. J. B. Bury, 7 Bde., London 1896–1900, hier Bd. 3, S. 72–139. Wichtig ist daneben vor allem das 9. Kapitel (Bd. 1, S. 213–236) über die Germanen bis zur Völkerwanderung. Zur Interpretation besonders J. G. A. Pocock, Gibbon and the Shepherds: The Stages of Society in the »Decline and Fall«, in: HEI, Jg. 2, 1981, S. 193–202; ders. Gibbon’s »Decline and Fall« and the World View of the Late Enlightenment, in: Ders., Virtue, Commerce and History, S. 143–156; J. W. Burrow, Gibbon, Oxford 1985, S. 67–79; R. Porter, Edward Gibbon: Making History, London 1988, S. 135ff.;

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für ist Gibbons Behandlung der Ursprünge des Islam. Auch Gibbon beteiligt sich an der das ganze 18. Jahrhundert bewegenden Debatte um den Propheten Muhammad – demagogischer Scharlatan oder weiser Gründer einer rationalen Religion? –, und er tut dies in exemplarisch unpolemischer und abgewogener Weise. Aber er begreift die islamische Religionsstiftung keineswegs allein als einen prophetischen Akt, sondern deutet sie quasi-materialistisch vor dem Hintergrund der egalitär verfaßten, bis zum Stadium von Städtebildung und Blüte »bardischer« Poesie entwickelten, dabei jedoch auf ordnende Rechtsbegriffe verzichtenden Hirtengesellschaft der arabischen Halbinsel.144 Am Beispiel von Hunnen und Mongolen wiederum entwickelt Gibbon eine Art von Theorie der strukturellen Aggressivität pastoraler Gesellschaften: Der raumgreifenden Subsistenzweise entspreche die Abwesenheit jeglicher Vorstellung vom Nutzen der Begrenzung sowie das Fehlen einer Furcht vor Vergeltung. Es bedürfe dann nur noch der bündelnden Organisationskunst eines Attila, Dschingis Kahn oder Timur, um die militärische Dynamik des Pastoralismus freizusetzen.145 Der »externe« Faktor der abendländischen Geschichte wird in Gibbons Kapitel über Hunnen und Türken, Germanen und Araber zum ersten Male nicht nur in seinen Wirkungen, sondern auch in seinen Ursprüngen und Ursachen umfassend untersucht.146 Gibbon verachtete einen modischen Primitivismus, niemals verklärte er das Leben der Barbaren, er stilisierte sie nicht zu »edlen Wilden«. Aber er sah, ganz in Übereinstimmung mit Adam Ferguson, das Barbarentum auch nicht als bloße Durchgangsstation einer aufstrebenden Entwicklung oder als Residuum des Zivilisationsprozesses. Dabei waren die Kriterien, die er zur Abgrenzung zwischen Hirten- und Ackerbaukulturen verwandte, ganz und gar »schottisch«: der Gebrauch der Schrift, der Grad der Arbeitsteilung, die Einführung des Geldes, die Herausbildung einer sozialen Schichtung, die Verdichtung der »great chain of mutual dependence«.147 Gewiß begrüßte Gibbon den Zustand, den Europa im späten 18. Jahrhundert, zumindest bis zur Französischen Revolution, erM. Baridon, Edward Gibbon et le mythe de Rome: Histoire et idéologie au siècle des Lumières., Bd. 2, Lille 1975, S. 490ff. 144 Im 50. Kapitel (Decline and Fall, Bd. 5, S. 333ff.). Zu Gibbons Deutung der Araber vgl. G. Giarizzo, Eduard Gibbon e la cultura europea del settecento, Neapel 1954, S. 478–512. Über Gibbons Muhammad-Portät auch W. B. Carnochan, Gibbon’s Solitude: The Inward World of the Historian, Stanford 1987, S. 117–121. 145 Gibbon, Decline and Fall, Bd. 3, S. 418ff., 43ff. 146 Das hat schon Meinecke, Entstehung des Historismus, S. 229f., gewürdigt: »Das ist einmal die universalhistorische Umgreifung, Durchdringung und Gliederung seines Gegenstandes, die sich nirgends mit der äußerlich-kriegerisch verherrenden Einwirkung fremder Völker auf das Schicksal Roms begnügt, sondern jedes dieser Völker auch mit seinem eignen Wesen und Schicksal auftreten läßt.« Gibbon selbst setzte sich das Ziel, »to introduce the nations, the immediate or remote anthers of the fall of the Roman empire« (Decline and Fall, Bd. 5, S. 273). 147 Ebd., Bd. 1, S. 212f., S. 215.

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reicht hatte; ja, der langsame Aufstieg der Zivilisation im Europa der Neuzeit war ein Thema, das ihn zum Ende seines Lebens und Werks hin immer mehr beschäftigte. Von Robertson übernahm er die Vorstellung, das plurale europäische Staatensystem schütze vor einem militärischen Despotismus, von Adam Smith den Gedanken, die »commercial society« sei stabiler als frühere Gesellschaftsformen, beruhe sie doch mehr auf den handfesten Interessen als auf den prekären Tugenden ihrer Mitglieder. Gleichzeitig billigte er dem Leben der »Barbaren« nicht nur, mit relativistischer Toleranz, einen eigenen Wert zu. Er versuchte, ihre Lebensform aus den Bedingungen der natürlichen Umwelt ursächlich zu erklären. Bei den Schotten ist die von ihnen entdeckte und so genannte pastorale Subsistenzweise jene auf den Zustand der »Wildheit« folgende Stufe der Gesellschaftsentwicklung, in der sich Privateigentum, politische Unterordnung, aristokratische Hierarchie und eine Milderung von »manners« herausbilden: ein Schritt zu »politeness« und Kapitalismus. Bei Gibbon bleiben die Hirtengesellschaften ohne teleologisches Potential; die Zivilisierung beginnt für ihn erst im Stadium des Ackerbaus. Eben wegen dieser Isolierung eines »Stadiums« aus dem Entwicklungsprozeß kann Gibbon es als geschlossene Gesellschaftsformation analysieren.148 Dies macht ihn – mehr noch als Ferguson oder Millar – zu einem historischen Ethnographen. Die Geschichte der europäischen Zivilisation wird verbunden mit einer Analyse ihres wirkungsmächtigen Gegenteils. So trägt Gibbon eine größere Kontingenz in die Geschichte, und es gelingt ihm in der Komplexität seiner Erzählung eine Verdichtung der Erklärung. Der jüngste Aufstieg der Zivilisation in Europa wird um so erstaunlicher, je weniger er heilsgeschichtlich verbürgt und evolutionär vorbestimmt ist. Darin, daß er es nicht ist, stimmt Gibbon mit Hume überein.

V. Sucht Edward Gibbon, der nicht allein einer der größten Historiker Roms und der kunstvollste Artist unter den europäischen Geschichtsschreibern des 18. Jahrhunderts war, besonders auch ein theoretisch versierter Vertreter der »philosophischen« Geschichtsschreibung der Aufklärung, in einer Synthese von Montesquieu, Tacitus und schottischer Sozial- und Geschichtstheorie nach den inneren Bewegungskräften jeweils besonderer vormoderner Gesellschafts148 Nach einer Methode, die später Mill empfehlen sollte: »[...] before we can trace the filiation of states of society one from another, we must rightly understand and clearly conceive them, each apart from the rest.« J. S. Mill, Michelets »History of France« [Edinburgh Review 1844], in: The Collected Works of John Stuart Mill, hg. v. J. M. Robson, Bd. 20, Toronto 1985, S. 225. Pocock, Ancient Constitution, S. 95–104, 120, findet ein ähnliches Verfahren schon 1626 bei Sir Henry Spelman.

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formen, so gingen andere einen zweiten Weg vom schottischen Stadiendenken zur Konkretion der Geschichte. In der nächsten und übernächsten Generation dominierte gegenüber dem weltoffenen kulturellen Relativismus, der Aufklärern und Romantikern, der David Hume und Edmund Burke, Adam Ferguson und Walter Scott gemeinsam war, die Vorstellung von einem kumulativen, sich in den Errungenschaften des gegenwärtigen Nordwesteuropa erfüllenden Zivilisationsprozesses. Vormoderne Gesellschaftsformen wurden fortan weniger in der Perspektive ihres Eigenwertes und ihrer Eigenlogik betrachtet als unter dem Gesichtspunkt ihres zivilisatorischen Mangels und ihrer Rückständigkeit. Deutlich wird dies bei James Mill und Thomas Babington Macaulay: der eine nach dem Zeugnis seines Sohnes »le dernier survivant« der schottischen Schule149 und Verfasser eines Werkes, der »History of British India«, das als die ausführlichste materiale Ausarbeitung der schottischen »philosophical history« gelten kann150, der andere schon weiter von der schottischen Tradition entfernt, aber nach Herkunft und Neigung einigen ihrer geschichtsphilosophischen Überzeugungen weiterhin verbunden. Mill wie Macaulay schrieben nicht länger wie Hume, Robertson und Gibbon vor dem Horizont eines aufklärerischen Kosmopolitismus, sondern im ganz anderen Kontext der britischen nationalen und imperialen Situation. Beide schrieben nach der Französischen Revolution, die das geistige Leben in Großbritannien tief beeinflußte.151 Sie gab auch dem Zivilisationsproblem eine neue Wendung. Seit Edmund Burke die französischen Revolutionäre 1790 mit »barbarous conquerors« verglichen hatte152, stellte sich das Problem der »inneren« Barbaren in den fortgeschrittensten Gesellschaften Europas. Es wurde zu einem zentralen Topos konservativ-romantischer Zeitdeutung im 19. Jahrhundert.153 Burkes innere Barbaren waren noch weniger die rabiaten Volksmassen, die später in Carlyles »French Revolution« zum historischen Subjekt erhoben werden sollten, als die machthungrigen Advokaten und Abenteurer einer sozial wie kulturell wurzellosen Mittelklasse: eine finstere Umdeutung jener »midd149 J. S. Mill an Auguste Comte, 28. Januar 1843, in: Collected Works of John Stuart Mill, Bd. 13, S. 566. 150 Burrow, Evolution and Society, S. 48. 151 Vgl. dazu C. Crossley u. I. Small (Hg.), The French Revolution and British Culture, Oxford 1989. Darin bes. J. Clive, Macaulay and the French Revolution, S. 103–122. 152 E. Burke, Reflections on the Revolution in France, in: The Writings and Speeches of Edmund Burke, Bd. 8, hg. v. L. G. Mitchell, Oxford 1989, S. 165. Macaulay übernimmt diesen Vergleich 1848 am Ende seines zweiten Bandes, wo er die gelungene Revolution von 1688 als Ursache für das Ausbleiben einer Revolution im Jahre 1848 deutet: »Europe has been threatened with subjugation by barbarians, compared with whom the barbarians who marched under Attila and Alboin were enlightend and humane« (Macaulay, History of England, Bd. 3, S. 1312). 153 Vgl. für die französische Literatur die grundlegende Untersuchung: P. Michel, Un Mythe romantique: Les barbares 1789–1848, Lyon 1981. Auch D. Oehler, Ein Höllensturz der Alten Welt. Zur Selbsterforschung der Modernen nach dem Juni 1848. Frankfurt a, M. 1988.

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ling ranks«, in denen die Schotten von David Hume bis zu den Edinburgh Reviewers der Jahrhundertwende ein progressives Element der Geschichte gesehen hatten. Bei Thomas Robert Malthus, der 1798 vor den verhängnisvollen Folgen des Multiplikationstriebs der Unterschichten warnte, erhielt das Problem der inneren Barbaren dann seine für Großbritannien zunächst charakteristische Gestalt, die des demographischen und ökonomischen Pessimismus. Fast gleichzeitig stellte indessen, auf Burke antwortend, Thomas Paine das Problem in neuer Weise. Hatte er noch 1792 in seinen »Rights of Man« ganz im Geiste von Hume und Adam Smith die Wohltaten der modernen Zivilisation gepriesen154, so verkehrte er drei Jahre später in »Agrarian Justice« seine frühere Position geradezu in ihr Gegenteil: Primitivität und Barbarei müsse man weder in ferner Vergangenheit noch unter den Wilden Amerikas und Afrikas suchen, auch würden sie nicht durch Burkesche Verschwörer von außen in die europäische Gesellschaften hineingetragen. Die moderne Zivilisation selbst produziert notwendig Massenelend, sie erzeuge in sich selber eine neue Art von »savagery«: »Poverty, therefore, is a thing created by that which is called civilized life [...] Civilization, therefore, or that which is so called, has operated two ways: to make one part of society more affluent, and the other more wretched, than would have been the lot of either in a natural state.«155 Diese Umdefinierung des Zivilisationsproblems unter dem Eindruck von Französischer Revolution und industriellem Frühkapitalismus, der Übergang von der Frage nach den Bedingungen des Aufstiegs zivilisierter Vergesellschaftungsformen aus primitiveren Stadien zum Problem der inneren Zerrissenheit der modernen Zivilisation und ihrer Bedrohung durch ihre inneren Widersprüche, hat die britische Geschichtsschreibung nur indirekt berührt. Aus Thomas Carlyles »Chartism« von 1839 spricht die Stimme des Sozialkritikers, nicht die des Historikers. Bei James Mill und Macaulay, den Nachfahren der schottischen Aufklärung, lebte das schottische Entwicklungsdenken fort. Es tat dies allerdings mit charakteristischen Verschiebungen: Die Vorstellungswelt der »conjectural history«, im Zeitalter des »evangelical revival« verstärkt durch ein missionseifriges Christentum156, erlaubt es, eine wertende Rangordnung der gesellschaftlichen Formen aufzustellen, eine »Stufenleiter der Zivilisiertheit«157, wie sie bei den stärker kulturrelativistischen schottischen Klassikern noch nicht so deutlich ausgeprägt war; namentlich Adam Ferguson war keineswegs von der vergleichslosen Vortrefflichkeit der modernen Gesellschaft überzeugt und 154 T. Paine, The Rights of Man (Teil 2), Harmondsworth 1969, S. 163–167. 155 Ders., Agrarian Justice, in: The Life and Works of Thomas Paine, hg. v. W. M. Van der Weyde., Bd. 10, New Rochester 1925, S. 10. 156 Auch der streng puritanisch erzogene Atheist James Mill konnte sich dieser Prägung nicht entledigen. Vgl. Thomas, Philosophic Radicals, S. 100f. 157 »Scale of civilization«: Mill, History of British India, Bd. 1, S. 458. Dort S. 481f. zu den Kriterien von Zivilisiertheit.

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maß auch früheren Entwicklungsstadien, nicht zuletzt in außereuropäischen Erscheinungsformen, einen eigenen Wert bei. Zudem wurde das schottische Stadiendenken jetzt national, ja, nationalistisch verengt.158 Die schottischen Sozial- und Geschichtsphilosophen hatten sich von der alten und neuen WhigIdeologie der englischen politischen Diskussion durch ihr geringes Interesse für den englisch-britischen Sonderweg unterschieden. Seit Humes Kritik am »vulgar Whiggism« seiner englischen Zeitgenossen hatte man immer wieder die gemeineuropäische Erfahrung im globalen Rahmen betont. Von diesem schottischen Universalismus findet sich nichts mehr bei den Historikern Mill und Macaulay. England nicht bloß als Hort ehrwürdiger Freiheit, sondern als Inbegriff zivilisatorischer Vollendung in allen Lebensbereichen wird nun an die Spitze der Zivilisationsleiter gesetzt. Die Briten, schreibt Macaulay 1835, »have become the greatest and most highly civilized people that ever the world saw«.159 Sowohl die – freilich zunächst durch Erschöpfung gedämpfte – Triumphstimmung nach dem siegreichen Ende der napoleonischen Kriege und die weitgehende Durchsetzung einer maritimen Pax Britannica als auch die Erfahrung eines Wirtschaftsaufschwungs im zweiten Quartal des Jahrhunderts und die Genugtuung über die Durchsetzung der Wahlrechtsreform von 1832 trugen zu diesem selbstzufriedenen Urteil bei. In der Objekte aus aller Welt ausbreitenden Kristallpalast-Ausstellung von 1851 samt ihren propagandistischen Begleiterscheinungen kulminierte dann der Zivilisationschauvinismus der hochviktorianischen Epoche.160 So erlebte eine Art von »vulgar Whiggism« seine Wiedergeburt in einer ganz unromantischen Herablassung mehr noch als zum kontinentalen Europa zu den außereuropäischen Kulturen und – bei englischen Autoren – zunehmend auch zu denjenigen des innerbritischen »Celtic fringe«.161 Sofern sie britischem Regiment unterstanden, waren sie, anders als Gibbons frei schweifende Steppen- und Wüstenkrieger, durchaus eine beondere Spielart von inneren Barbaren. Niemand bot sich für diese Rolle offensichtlicher an als die Untertanen der East India Company. James Mills »History of British India« kombinierte das schottische Stadiendenken in der besonderen Spätform der »scale of civilization« mit dem unhistorischen, jede kulturelle Relativierung ausschließenden 158 Eine neuere Studie erkennt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einen »English quest for national identity«, der um 1830 das Stadium eines ausgebildeten nationalistischen Popularbewußtseins erreicht habe: G. Newman, The Rise of English Nationalism: A Cultural History 1740–1830, London 1987, S. 127. Vgl. auch H. Cunningham, The Language of Patriotism, 1750–1914, in: History Workshop, Jg. 12, 1981, S. 8–33; L. Colley, Whose Nation? Class und National Consciousness in Britain 1750–1830, in: P&P, Nr. 113, 1986, S. 97–117; J. Dinwiddy, England, in: O. Dann u. J. Dinwiddy (EHg.), Nationalism in the Age of the French Revolution, London 1988, S. 53–70. 159 Macaulay, Sir James Mackintosh, S. 443. 160 Vgl. die schöne Skizze bei G. W. Stocking. Victorian Anthropology, New York 1986, S. 1–6. 161 Über die rassistische Aufwertung der »angelsächsischen Rasse« gegenüber ihren keltischen Nachbarn in der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts vgl. ebd., S. 62f.

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Rationalismus Jeremy Benthams. Das Werk war in jenen Partien, mit denen es in der Öffentlichkeit und auf die Ausbildung von Kolonialbeamten wirkte, eine Aburteilung des hinduistischen Indien nach dem Maßstab utilitaristischer Ethik und Gesellschaftslehre, ein nach eigenem Verständnis »wissenschaftlicher« Beweis der barbarischen Zivilisationslosigkeit der indischen Tradition und ihrer Stagnation auf einer primitiven Entwicklungsstufe.162 An Indien vermißte Mill alles, was in seiner Sicht die Substanz der führenden Zivilisation, der britischen, ausmachte: Naturwissenschaft in Newtonscher Manier, eine von Magie und Kult gesäuberte Religion, eine akkumulationsorientierte Marktwirtschaft und die Regelung der gesellschaftlichen Verhältnisse – idealiter – im Sinne von Benthams allgemeinen Prinzipien der Nützlichkeit. Mills Urteilsspruch über das einheimische Indien schuf maßgeblich jenes sendungsüberzeugte Tabula-rasa-Bewußtsein, mit dem Macaulay, der Mills »History« 1832 mit freudiger Zustimmung studierte und sie pries als »the greatest historical work which has appeared in our language since that of Gibbon«163, ab 1834 als einer der leitenden Kolonialregenten in Kalkutta die Anglisierung von Rechtsordnung und Erziehungswesen in Britisch-Indien buchstäblich in Angriff nahm. Trotz der ganz offen kolonialistischen Position, die Mill und Macaulay in Theorie und Praxis bezogen, nahmen sie jedoch nur wenig vorweg von den imperialen Sentiments der zweiten Jahrhunderthälfte. Weder der Vertreter eines Universalität erheischenden utilitaristischen Menschenbildes noch der Sohn des rabiaten Sklavereigegners Zachary Macaulay waren Rassisten. Fremd war ihnen, dabei Macaulay mehr noch als Mill, die Vorstellung von einem – einerlei ob biologisch oder kulturell bedingten – grundsätzlich unaufhebbaren Zivilisationsdefizit, auf das sich immerwährende Herrschaftsansprüche der Fortgeschrittenen und Überlegenen gründen ließen. So wie David Hume im Parteiengezänk, das die Raufereien mittelalterlicher Barone fortsetzte, so sah Macaulay in innergesellschaftlichen Zivilisationsdifferenzen ein für Wohlstand und politische Stabilität in der Gegenwart bedrohliches Erbe früherer Zustände. Dies galt generell. Es galt für die britische Geschichte, besonders für eine ihrer archaischen Erblasten, die rechtliche Diskriminierung der Katholiken, deren Aufhebung 1828 Macaulay lebhaft begrüßte, ebenso wie für das zeitgenössische Indien. In seiner indischen Erziehungspolitik setzte Macaulay die prinzipiell uneingeschränkte Bildbarkeit auch der Inder voraus. Mit der zivilisatorischen ging keine anthropologische Differenz einher. Als durchaus realistisches Ziel sah er die planmäßige Heranbildung einer kulturell und politisch 162 D. Forbes, James Mill and India, in: Cambridge Journal, Jg. 5, 1951, S. 28. 163 Zitiert in Clive, Macaulay, S. 310. Offenbar las Macaulay während seiner Schiffspassage nach Indien das Werk noch einmal. Macaulay an Thomas Flower Ellis, 1. Juli 1834, in: Macaulay, Letters, Bd. 3, S. 62.

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aktionsfähigen anglophonen indischen Vermittlerschicht, »Indian in blood and colour, but English in taste opinions, in morals and in intellect«.164 Diese Schicht, das Produkt einer wohltätigen britischen Erziehungsdiktatur, sollte in wachsendem Maße selbst zum Träger der verwestlichenden Reform in Indien werden und in ferner Zukunft das Land zu einem Verhältnis freundschaftlicher Unabhängigkeit von Großbritannien führen. »It may be«, vermutete Macaulay schon 1833, kurz vor seinem Aufbruch in den Osten, »that the public mind of India may expand under our system till it has outgrown that system.«165 Macaulay beharrte auf der Überlegenheit, ja, der alleinigen Gültigkeit der europäischen Zivilisation; er fand nichts Bewahrenswertes im einheimischen Indien. Gleichwohl lag ihm die Vorstellung mancher seiner Zeitgenossen und vieler seiner Nachfolger unter den Administratoren Indiens vollkommen fern, die Inder seien – wie alle »natives« – Kinder, die niemals erwachsen werden und stets der Bevormundung bedürfen würden. Das Ziel seiner indischen Erziehungspolitik war es, der einheimischen Elite den völlig unbehinderten Zugang zu den Bildungsinstitutionen der modernen »commercial society« zu öffnen und dadurch die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die Erosion der überkommenen Barbarei zu schaffen. Demselben Zweck diente das indische Strafgesetzbuch, das Macaulay auf der Grundlage flexibel gehandhabter Benthamscher Prinzipien mit einem geradezu Montesquieuschen Wirklichkeitssinn und mit schottischem Vertrauen in die Tragfähigkeit gradueller Modernisierungsprozesse in den dreißiger Jahren fast ganz allein entwarf, das dann 1860 in Kraft gesetzt wurde und das weitgehend noch heute gilt: die größte Leistung des Staatsmanns und législateur Thomas B. Macaulay.166 Das schottische Fortschritts- und Stadiendenken setzte sich um in ein Programm der zivilisierenden Reform.

VI. Auch als sich allenthalben und selbst auf den Seiten der »Edinburgh Review« das Zivilisationsproblem nicht länger in erster Linie als eine Frage des schottischen Nachholens, sondern als eine der Abstufungen von Barbarei und Zivilisation innerhalb des formellen und informellen Weltreichs der Briten zu stellen schien167, behielt dennoch auch das Thema des innerbritischen Entwicklungsgefälles für viele Historiker seine Faszination und aktuelle Bedeutung. 164 T. B. Macaulay, Minute on Indian Education [2. Februar 1835], in: Ders., Selected Writings, hg. v. J. Clive u. T. Pinney, Chicago 1972, S. 249. 165 Macaulay Unterhausrede über die Regierung Indiens vom 10. Juli 1833, zit. in Edwards, Macaulay, S. 23. 166 Vgl. ausführlich Clive, Macaulay, S. 427–478; E. Stokes, The English Utilitarians and India, Oxford 1959, S. 184–233.

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David Hume hatte sich nur knapp dazu geäußert. Er überließ die Darstellung der schottischen Nationalgeschichte seinem Zeitgenossen William Robertson, mit dem er in den großen Linien der Interpretation einig ging. Beide beklagten die feudale Anarchie und die Exzesse des religiösen Fanatismus aller konfessionellen Schattierungen. Nirgendwo im mittelalterlichen Europa, erläuterte Robertson 1759, sei die Balance zwischen König und Adel derart gestört gewesen wie in Schottland.168 Im 16. Jahrhundert sei dann Schottland das prototypische Land des politischen Mordes169; und Hume weist grimmig darauf hin, daß noch in der Mitte des 17. Jahrhunderts, als derlei in England schon lange unbekannt war, in Schottland große Hexenverbrennungen stattgefunden hätten.170 Hume demontiert, unterstützt von Robertson, die Legende von Maria Stuart als Nationalheldin und Symbolfigur der Jakobiten. Beide begrüßen jeden erfolgreichen englischen Versuch, mit harter Hand die Willkür des schottischen Adels zu brechen. Hume lobt Cromwell, der ihm sonst suspekt ist, dafür171; und Robertson feiert begeistert die Union von 1707, mit der die schottische Aristokratie entmachtet worden sei und Schottland endlich seine »pecularities« verloren und Anschluß nicht nur an die britische Nation, sondern an die gesamteuropäische Kulturbewegung gewonnen habe.172 Für Hume und Robertson, die jedweden schottischen Separatismus verurteilen, war der politische Anschluß an England die Voraussetzung für eine gesellschaftliche Entwicklung und kulturelle Blüte in den schottischen Lowlands, von der dann wiederum der Süden profitieren sollte. Nach etwa 1760 wurde die Transformation der Highlands zum Kern der Schottlandproblematik. Charakteristischerweise äußert sich Adam Smith in den »Lectures on Jurisprudence« von 1752/63, in der er die Vier-Stadien-Theorie entwickelt, noch kaum dazu, dann aber 1776, als die Veränderungen in den Highlands schon offensichtliche Ergebnisse gezeigt hatten, ausführlich im »Wealth of Nations«. Das Verhältnis Schottlands, besonders seines rückständigen Nordens, zum Süden wurde zum Paradigma der »rich country – poor country«-Debatte in der politischen Ökonomie.173 Es wurde auch zu einem der zentralen Themen in den Romanen Sir Walter Scotts. Scott war weder durchweg ein sentimentaler Verklärer eines verlorenen Mittelalters, noch war er ein 167 Zu einer solchen symptomatischen Akzentverlagerung in der »Edinburgh Review« vgl. Fontana, Rethinking the Politics of Commercial Society, S. 68. 168 W. Robertson, The History of Scotland [1759], Bd. 1. London 17614, S. 25. 169 Ebd., S. 367. 170 Hume, History of England, Bd. 4, S. 27f. 171 Ebd., S. 91. 172 Robertson, History of Scotland, Bd. 2, S. 298–307. Mit 1707 beendet Robertson denn auch seine Darstellung. Vgl. auch M. Fearnley-Sander, Philosophical History and the Scottish Reformation: William Robertson and the Knoxian Tradition, in: HJ, Jg. 33, 1990, S. 323–338. 173 Vgl. I. Hont, The »Rich Country-Poor Country« Debate in Scottish Classical Political Economy, in: Ders. u. Ignatieff (Hg), Wealth and Virtue, S. 271–315.

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Fürsprecher triumphierender Modernität. In einigen seiner besten Romane, am wirkungsvollsten wohl in »Waverley« von 1814, einer Verbindung von Gesellschaftsgeschichte und Bildungsroman, behandelte er in einer Haltung, die besonders an Adam Ferguson erinnert, die Auswirkungen des Übergangs von einem gesellschaftlichen Stadium zum nächsthöheren auf Menschen zwischen den Klassen und zwischen den Zeiten. Den Fortschritt von primitiven zu höher organisierten Gesellschaftsformen erfaßte er in den Spannungen zwischen sozialen Lagen: dem Klan-System, der feudalen Adelsgesellschaft, dem neuen Tausch- und Arbeitszusammenhang der »commercial classes«.174 Scott war mit den schottischen Verhältnissen auf das genaueste vertraut, und er verschaffte sich zusätzliche Einsichten durch Befragung älterer Landsleute.175 Dies verlieh seinen im neueren Schottland spielenden fiktionalen Werken einen hohen Grad an Authentizität, ebenso wie die Sprache der Stadientheorie, deren sich Scott bisweilen bediente, sie kategorial mit dem Projekt schottischer Geschichts- und Gesellschaftsdeutung verband. Der »Romantiker« Scott hatte die Vorstellungswelt der schottischen Aufklärung noch nicht verlassen. Auch bei den wichtigeren Historikern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts blieb das Thema Schottland weiter gegenwärtig. Für den schottischen Steinmetzsohn Thomas Carlyle hörte sein rauhes Heimatland niemals auf, ein Fixpunkt seiner Kritik an der englischen Gegenwart zu sein. Carlyle, zeit seines Erwachsenenlebens ein »alienated Scotsman in London«176, kultivierte als erste einflußreiche Figur im britischen Geistesleben bewußt den Habitus eines Magus des Nordens. Henry Thomas Buckles beste Kapitel galten dem Versuch einer soziologischen Geschichte Schottlands und des schottischen Geistes. Dabei interessierte ihn weniger die Bändigung des archaischen Schottland in der aufsteigenden Linie der Gesellschaftsentwicklung als der eigentümliche Kampf zwischen Aufklärung und religiösem Obskurantismus, der im evangelikalen »revival« des frühen 19. Jahrhunderts erneut zu einem Sieg des Aberglaubens über die »Wissenschaft« geführt habe. Für Buckle war Schottland ein Beweis für die Schwäche der Aufklärung und die Fragilität des Zivilisierungsprozesses.177 Auch Macaulay, dessen Familie aus den Highlands stammte und der von 1839 bis 1846 und erneut von 1852 bis 1856 die Wähler von Edinburgh in 174 Das Nicht-Romantische bei Scott hat als erster herausgearbeitet: D. Forbes. The Rationalism of Sir Walter Scott, in: Cambridge Journal, Jg. 7, 1953, S. 20–35; dann auf dieser Linie D. Brown. Walter Scott and the Historical Imagination, London 1979, S. 183f., 189f., 203; Culler, Victorian Mirror, S. 23–27. 175 Sir Walter Scott, Waverley; or, Tis Sixty Years Since, hg. v. C. Lamont, Oxford 1981, S. 352f. (General Preface [1829]). 176 Rosenberg, Carlyle and the Burden of History, S. 26. 177 Buckle, History of Civilization, Bd. 3; dazu der Kommentar bei Hanham, Editor’s Introduction, S. XXVII–XXXIII.

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Westminster vertrat, kehrte immer wieder zur historischen Problemlage Schottlands zurück. Seine »History of England« ist in einem ungewöhnlichen Maße britische Geschichte, das Verhältnis der »races« auf den britischen Inseln zueinander ein roter Faden, der sie von Anfang bis Ende durchzieht. Die Sprache der »conjectural history« und ihrer »comparative method« war für Macaulay ein hilfreiches Mittel, um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Geschichte des 17. Jahrhunderts sichtbar zu machen. Die Fremdartigkeit schottischer und irischer Politik und gesellschaftlicher Spannungen ließ sich recht gut dadurch erklären, daß diese Völker auf einer anderen Zivilisationsstufe als die Engländer verharrt seien. So wird etwa, um ein Beispiel unter vielen möglichen zu nennen, die Belagerung des irischen Londonderry durch die Engländer 1689 als Ausdruck eines Konflikts zwischen Zivilisationen erklärt: »It was a contest, not between engineers, but between nations; and the victory remains with the nation which, though inferior in number, was superior in civilisation, in capacity for selfgovernment, and in stubbornness of resolution.«178 Im 13. Kapitel der »History« schildert Macaulay in grellen Farben die Primitivität und Brutalität des schottischen Hochlandlebens während des 17. Jahrhunderts. Nicht ohne Verständnis registriert er die Sicht aus dem Süden: »It is not strange that the Wild Scotch, as they were sometimes called, should, in the seventeenth century, have been considered by the Saxons as mere savages.«179 So sehr er den Untergang der bardischen Poesie, der er selbst in seinen »Lays of Ancient Rome« von 1842 ein Denkmal gesetzt hatte, als Opfer des Fortschritts bedauerte180 und so entschieden er die Exzesse englischer Eroberungspolitiker verurteilte181, so uneingeschränkt begrüßte er doch die Auflösung der schottischen Klangesellschaft und die zivilisierende Aufnahme der nördlichsten Britannier in den nationalen Zusammenhang: die Integration von Angelsachsen und Kelten gleichermaßen in einen modernen britischen Staat. Hier steht Macaulay ganz auf dem Boden der von Hume und Robertson ein Jahrhundert zuvor verfochtenen Anglisierungsstrategie. Bezeichnend ist, daß er, der Kenner und Liebhaber bardischer Poesie, der Sammlung gaelischer Manuskripte durch staatliche Archive seine Unterstützung verweigerte; er hielt das Unternehmen für verderblich, nährte es doch einen Folklorismus, der den Schotten ihre voll-

178 Macaulay, History of England, Bd. 3, S. 1522. 179 Ebd., Bd. 4, S. 1583–1598, Zitat S. 1585. 180 Ebd., Bd. 4, S. 1588. Schon in seinem ersten großen Essay greift Macaulay diesen Topos auf: T. B. Macaulay, Milton [1825], in: Ders., Works, Bd. 7, S. 5: »[...] as civilisation advances, poetry almost necessarily declines.« Edwards, Macaulay, S. 74, sieht Macaulays »History« in alter schottischer Tradition: »the last of the great bardic achievements«, der Triumph des Schotten Macaulay mit einem kanonischen Meisterwerk der Erzählkunst in englischer Sprache. 181 Besonders am notorischen Fall des Massakers von Glencoe, 13. Februar 1692. Macaulay, History of England, Bd. 5, S. 2146–2166. Zum Hergang P. Hopkins, Glencoe and the End of the Highland War, Edinburgh 1986.

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kommene kulturelle Gleichwertigkeit vorenthalten würde.182 Daß die Söhne solcher schottischen »selfmade-men« wie Zachary Macaulay und James Mill es zu höchsten Ehren in der Metropole bringen können, ist ihm einer der schlagendsten Beweise für den Fortschritt der Zivilisation auf den britischen Inseln. Nationalgeschichte als Zivilisationsgeschichte: mit dieser leitenden Idee steht Macaulay in einer smithianisch bereicherten, einer schon 1759 von William Robertson am Ende seiner »History of Scotland« ausgebreiteten, einer letztlich Humeschen Tradition, erweist er sich als Erbe der schottischen Aufklärung. Die Gegenprobe darauf zeigt, wie mächtig das nach Schottlands geglückter Zivilisierung scheinbar triviale Prinzip auch noch Macaulays Gegenwart ergreift. Die Gegenprobe waren nicht so sehr die »inneren Barbaren« aus den niederen Klassen. Ihren Ansprüchen in Gestalt des Chartismus trat Macaulay mit Gelassenheit entgegen.183 Ganz anders als Carlyle und die liberal-anglikanischen Historiker um Thomas Arnold ließ sich Macaulay von sozialen Krisenerscheinungen seiner Gegenwart kaum berühren, zumal nicht in seiner Sicht der Geschichte. Die Gegenprobe war Irland, der düstere Schauplatz ethnischen Hasses und religiösen Fanatismus’, resistent gegen die zarten Wohltaten des Zivilisationsprozesses, beinahe ein geschichtsloser Ort.184 Schon David Hume hatte das englisch-irische Verhältnis einer schonungslosen Analyse unterzogen. Auch wenn er mit dem brutalen Aufstand der Iren gegen die englischen Kolonisatoren von 1641, den er maßgeblich auf die Hetze katholischer Priester zurückführte, seine Sympathie für die eingeborene irische Bevölkerung verlor185, so hatte er immerhin dargelegt, daß bis in die Zeiten James I. die Barbarei der Iren nicht allein naturwüchsig, sondern durchaus auch ein Ergebnis englischer Unterdrückung gewesen sei: »Being treated like wild beasts, they became such.«186 Macaulay ist in seinem Urteil über die englische Irlandpolitik weitaus schärfer. Über kaum ein anderes Thema hat er mit ähnlicher Eindringlichkeit geschrieben. Schon in der Einleitung zum Gesamtwerk unterstreicht er die Bedeutung, die er Irland beimißt. In einer Epoche glorreicher nationaler Entwicklung seit 1688, in der auch Schottland »after ages of enmity, was at length united to England, not merely by legal bonds, but by the

182 Edwards, Macaulay, S. 74. 183 1832 war Macaulay noch ein Gegner sozialpolitischer Maßnahmen des Staates gewesen (Macaulay, Letters, Bd. 2, S. 117f.). Aber 1846 trat er in einer Parlamentsrede gegen die Mehrheit der parlamentarischen Whigs für die Ten Hours Bill ein, die 1847 Gesetz wurde. Vgl. Ders., Works, Bd. 12, S. 199–221. 184 So sahen es schon manche Elisabethaner. Vgl. L. Jardine, Mastering the Uncouth: Gabriel Harvey, Edmund Spenser and the English Experience in Ireland, in: J. Henry u. S. Hutton (Hg.), New Perspectives on Renaissance Thought: Essays in the History of Science, Education and Philosophy, London 1990, S. 68–82. 185 Hume, History of England, Bd. 5, S. 343. 186 Ebd., Bd. 4, S. 311.

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indissoluble ties of interest and affection«187, habe die englische Politik allein auf zwei Gebieten, aber solchen von außerordentlichem Gewicht, katastrophal versagt: Sie habe die amerikanischen Kolonien verloren und die Zivilisierung und Befreiung Irlands versäumt. So stellt sich der Autor der »History« an deren Beginn die Aufgabe zu zeigen, »how Ireland, cursed by the domination of race over race, and of religion over religion, remained indeed a member of the empire, but a withered and distorted member, adding no strength to the body politic; and reproachfully pointed at by all who feared or envied the greatness of England«.188 Schon im Jahre nach der Veröffentlichung dieser Zeilen besucht er Irland und schildert entsetzt seine Eindrücke von »a people, the most miserable that I ever fell in with in any part of world [...] Then the clothes of the people: – you never saw a beggar in such things.«189 Er hatte immerhin Indien gesehen. Macaulay war sich des Außerordentlichen des irischen Phänomens deutlich bewußt. Das zivilisierteste Volk der Welt – und das waren ihm die Engländer unter Queen Victoria – habe in seinen Grenzen die schlimmste Barbarei als Dauerzustand geduldet, ja, sie durch eine törichte und rachsüchtige Politik perpetuiert. Nirgends im modernen Europa habe es eine Konfrontation zwischen »dominant race« und »subject race« in ähnlicher Schärfe und Langlebigkeit gegeben, nirgends eine vergleichbare Herrschaft von »Spartanern« über »Heloten«.190 Im Gegensatz zu Hume mißbilligte er die harte Pazifikation nach 1641 und dann abermals nach 1691. Die grausame Knechtung der Iren nach dem Fehlschlag von James II. Versuch, die Insel zu einer katholischen Bastion gegen die protestantischen Monarchen in London auszubauen, mochte er selbst den verehrten Monarchen William und Mary nicht verzeihen. Macaulay beschönigte hier nichts. Er schildert die englische Kolonialherrschaft191 ohne Apologie und nimmt vor seiner Kritik selbst die Urheber der Glorious Revolution nicht aus. Die Behandlung der Iren sei ein Schandfleck auf den Leistungen von 1688, die Rechtfertigung solcher Behandlung ein Ausdruck von Zynismus und Heuchelei: »[...] the Protestant masters of Ireland, while ostentatiously professing the doctrines of Locke and Sidney, held that the people who spoke the Celtic tongue and heard mass could have no concern in those doctrines.«192 Hinter der Emphase des Historikers steht die Einsicht des Politikers in die fortdauernde Virulenz des Irlandproblems. In den Überschwang des selbstzufriedenen und zukunftsfrohen Whig-Ideologen mischt sich die düstere Prognose des realitätskundigen Betrachters der Gegenwart. Nachdem die Beziehung zu 187 Macaulay, History of England, Bd. 1, S. 1. 188 Ebd., S. 2. 189 Macaulay an Lady Hannah Trevelyan, 26. August 1849, in: Macaulay, Letters, Bd. 5, S. 67. 190 Macaulay, History of England, Bd. 3, S. 1486. 191 Er nennt sie so: Zur Zeit der Glorious Revolution sei Irland allgemein als »a mere colony« angesehen worden; ebd., Bd. 3, S. 1428. 192 Ebd., Bd. 4, S. 2078.

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den ehemaligen amerikanischen Kolonien längst ins reine gebracht sind, bleibt Irland als das eine große Fiasko der neueren britischen Geschichte. »The seventeenth century has«, schreibt Macaulay in der Sprache David Humes, »in that unhappy country, left to the nineteenth a fatal heritage of malignant passions.«193 Und er fürchtet, daß ein künftiger Historiker, selbst wenn die rechtliche Emanzipation der Iren gelingen sollte, kein sanftes Ende des Konflikts zu schildern, vielmehr zu vermelden hätte, »that it proved far less easy to eradicate evil passions than to repeal evil laws; and that, long after every trace of national and religious animosity had been obliterated from the Statute Book, national and religious animosities continued to rankle in the bosoms of millions.«194

VII. Macaulay war der letzte britische Historiker des 19. Jahrhunderts, der die Nationalgeschichte Großbritanniens vor dem Hintergrund der europäischen und universalen Zivilisationsentwicklung sah, wenngleich der Zivilisationsaspekt bei ihm schon eine weitaus geringere Rolle spielt als bei den Klassikern der Aufklärung: Hume, Smith und Gibbon. Seine besonderen biographischen Umstände als Sohn einer schottischen Familie, Schüler der schottischen Spätaufklärung und Sir Walter Scotts, Meister einer praktisch-pädagogischen Geschichtsschreibung und aktiver Kolonialpolitiker in Indien begünstigten diesen späten Zusammenfall zunehmend einander widerstrebender Aspekte. Nach etwa 1860 traten die Gesichtspunkte auseinander, die von den Begründern der schottischen Aufklärung zu einer haltbaren und ertragreichen Formel zusammengeschmiedet worden waren. Die neue Fachhistorie bemächtigte sich des national-historischen Themas. Sie reduzierte es auf politische Ereignisgeschichte und die Geschichte der rechtlich-administrativen Institutionen. Beides wurde mit bis dahin unerhörter Breite der Dokumentation und Sorgfalt des Verfahrens unter Verzicht auf jegliche »philosophische« oder gegenwartspolitisch relevante Kommentierung auf das Gründlichste erforscht und für den Gebrauch der Fachgenossen in akademischer Form dargestellt. Vergleichende Bezüge über Großbritannien hinaus fehlten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ebenso wie Versuche des Brückenschlags zu Nachbardisziplinen; zu einer allgemeinen Historisierung der Geisteswissenschaften – wie in Deutschland – kam es in Großbritannien nicht. Auch verlor sich, trotz der politischen Virulenz der irischen Dauerkrise, das Thema des innerbritischen Zivilisationsgefälles aus dem Blickfeld der Geschichtsforschung.

193 Ebd., Bd. 2, S. 782. 194 Ebd., Bd. 4, S. 2082.

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Gleichzeitig wanderte die Zivilisationsproblematik in zwei andere geschichtsferne Bereiche des intellektuellen Lebens ab: Das Unbehagen in der englischen Kultur des hochviktorianischen Zeitalters artikulierte sich in einer literatur-, religions-, und sozialkritischen Publizistik, deren herausragender Vertreter Matthew Arnold war. Arnolds wichtigste Bücher erschienen in den Jahren unmittelbar nach Macaulays Tod: »On Translating Homer« 1861, »Essays in Criticism« 1865, »Culture and Anarchy« 1869, in einer Zeit beschleunigten politischen und gesellschaftlichen Wandels. Das drängende Thema war nun weniger der Aufstieg von Nation und Zivilisation bis hin zur fast geglückten Vollendung in der Gegenwart als vielmehr die Frage der kulturellen Substanz, aus der sich die Lebensführung des einzelnen in einer von Materialismus und Vulgarität bedrohten Massengesellschaft speisen könne. Dazu war aus der Geschichte, zumal der neueren der Briten, kaum Rat zu erhoffen. Gerade am maßgebenden Historiker der voraufgegangenen Generation, an Macaulay, mißfiel Matthew Arnold »a dash of intellectual vulgarity [...] in all his performance«.195 Die Problematik der Zivilisation in der britischen und europäischen Gegenwart wurde nach etwa 1860 nicht mehr vornehmlich als historische Frage gestellt. Die andere Seite dieser Umdefinition des Zivilisationsproblems nach der Jahrhundertmitte war die Entstehung eines besonderen Diskurses vom »Primitiven« und einer Wissenschaft, die sich seiner professionell annahm, der Anthropologie. Auch hier wieder belegen Publikationsdaten den ideengeschichtlichen Bruch. Die Hauptwerke der neuen Anthropologie und Völkerkunde wurden ebenfalls unmittelbar nach dem Ende der mit Macaulays und Buckles Tod abgeschlossenen historiographischen Epoche veröffentlicht: 1861 Sir Henry Maines »Ancient Law«, 1865 John F. McLennans »Primitive Marriage«, ebenfalls 1865 John Lubbocks »Pre-historic Times« und 1870 sein »Origin of Civilisation and the Primitive Condition of Man«, 1871 Edward B. Tylors »Primitive Culture«. Fortan war die Zivilisation vormoderner und, wie es nun hieß, »prä-historischer« Gemeinwesen, ungeachtet möglicher evolutionistischer Rahmenkonzepte, das Betrachtungsobjekt einer spezialisierten Literatur vom »Anderen«.196 Die universale sozialökonomische Geschichte der Zivilisation in aufsteigender Linie, die Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft, wie sie die schottische Aufklärung entworfen hatte und wie sie noch zwischen manchen von Macaulays Zeilen zu lesen waren, hatte als Bezugstheorie endgültig ausgedient.

195 Zit. in S. Collini, Arnold, Oxford 1988, S. 66. 196 Vgl. Stocking, Victorian Anthropology, S. 144–273; A. Kuper, The Invention of Primitive Society: Transformations of an Illusion, London 1988, S. 15ff.; G: Daniel u. C. Renfrew, The Idea of Prehistory, Edinburgh 1988, S. 41ff.; B. G. Trigger, A History of Archaeological Thought, Cambridge 1989, S. 73ff.; P. Bowler, The Invention of Progress: The Victorians ad the Past, Oxford 1989, S. 75ff.

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So verteilten sich nach 1860 die Probleme neu auf der Matrix des Wissens. Die Nationalgeschichte, entblößt von ihren universelleren zivilisationshistorischen Beiklängen, wurde zum Reservat der Fachhistorie. Das Thema der Zivilisation fiel teils in die Zuständigkeit einer weithin historisch indifferenten, unmittelbar gegenwartsbezogenen Kulturkritik, teils in das einer neuen Wissenschaft vom Primitiven.197

197 Wie das Thema Zivilisation gegen Ende des 19. Jahrhunderts – bei Nietzsche und anderen Autoren Kontinentaleuropas – wiederaufgegriffen wurden, wie es dann in die Soziologie hinüberwanderte (vgl. A. Bogner, Zivilisation und Rationalisierung. Die Zivilisationstheorien Max Webers, Norbert Elias’ und der Frankfurter Schule im Vergleich, Opladen 1989) – das wäre die Fortsetzung der hier aufgezeigten Entwicklung.

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6. Raumerfassung und Universalgeschichte

I. Das universalgeschichtliche Denken wird im 20. Jahrhundert von vier unterschiedlichen Betrachtungsweisen bestimmt: (1) Zyklenmodellen des Aufstiegs und Niedergangs großer Kollektive, seien es ganzheitlich-morphologisch aufgefaßte Zivilisationen (Oswald Spengler, Arnold J. Toynbee), seien es nach dem Vorbild der konjunkturtheoretischen »langen Wellen« kausalmechanisch interpretierte Imperien und Großmächte (George Modelski, Paul Kennedy); (2) Stufenmodellen der Menschheitsgeschichte, wie sie jenseits eines teils marxistisch, teils modernisierungstheoretisch inspirierten Evolutionismus etwa von Kurt Breysig und Ernest Gellner entworfen wurden; (3) dem von Max Weber, Otto Hintze und Marc Bloch klassisch ausgeprägten typologisierenden Vergleich zwischen (Teil-) Strukturen in distinkten zivilisatorischen Einheiten; (4) einer räumlich-beziehungsgeschichtlichen Perspektive, die eine »Vorgeschichte des gegenwärtigen globalen Zusammenhangs«1 anstrebt. Ernst Schulin hat 1974 in seinem großen Überblick über die Universalgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts die dritte und die vierte dieser »Grundformen« als die in der Gegenwart maßgebenden herausgestellt, und er hat insbesondere die strukturell-vergleichende Betrachtungsweise als die »weitest anerkannte universalgeschichtliche Methode (oder Ersatzform einer gesamten Weltgeschichte)« hervorgehoben.2 Diese Richtung hat unterdessen ihre Position weiter festigen können. Ein neues Interesse an historischer Soziologie universalen Zuschnitts, das um 1974 erst in Spuren zu beobachten war, hat während der letzten zwanzig Jahre zu einer Reihe von bemerkenswerten Entwürfen auf dem Gebiet transkultureller historischer Komparatistik geführt.3 Allerdings haben Vertreter der strukturellvergleichenden Betrachtungsweise Mühe, drei Fragen überzeugend zu beantworten: Wie lassen sich die Einseitigkeiten einer Sicht »von oben« vermeiden – einer Definition von Kulturen durch ihre »großen Texte«, einer Deutung politischer Verhältnisse von den Machtkonfigurationen im jeweiligen Zentrum

1 E. Schulin, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Universalgeschichte, Köln 1974, S. 11–65, hier S. 44. 2 Ebd., S. 43. 3 Vgl. zur Übersicht über diese Literatur Kapitel 1 in diesem Band.

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her? Wie können sodann die unterschiedlichen Chronologien und diachronen Verlaufsmuster regionaler Kulturen in einen Zusammenhang zueinander gebracht werden, der sie nicht einer europäisch bestimmten Weltzeit und Einheitsperiodisierung unterwirft? Schließlich: Wie ist eine isolierende Abgrenzung von Analyseeinheiten – »Ethnien«, »Kulturen«, »Zivilisationen«, »Kulturkreisen«, »Nationalstaaten«, usw. – möglich, die sowohl der im neuzeitlichen Geschichtsprozeß zunehmenden Berührung und Durchdringung zwischen ihnen gerecht wird als auch die Fallstricke einer »essentialistischen« Kulturauffassung umgeht, welche sich allzu selbstsicher zutraut, in höchster Verallgemeinerung das Wesen zum Beispiel »der islamischen Zivilisation« oder »des modernen Okzidents« aus langfristig konstanten Persönlichkeitstypen, kollektiven Werthaltungen oder tiefenstrukturellen »kulturellen Codes« herleiten zu können? Dieses Problem stellt sich um so nachdrücklicher, je mehr sich das, was zunächst als authentische Eigenart einer Zivilisation erscheinen mag, bei näherem Zusehen als Reaktion auf äußere Herausforderungen entpuppt. Die verschiedenen »Fundamentalismen« und neo-traditionalistischen »revivalist movements« in Asien, Afrika und Amerika sind dafür geläufige Beispiele. In ihnen drückt sich nicht das »Eigentliche« einer Kultur aus, das diese in ihrer markanten reinen Form mit anderen Kulturen vergleichbar macht, sondern der Widerstand gegen Globalisierungs- und Verwestlichungsvorgänge, die selber durch einen Strukturvergleich kaum zu erfassen sind. Derlei Schwierigkeiten der zunächst isolierenden, dann strukturell-vergleichenden Methode haben der vierten Grundform universalgeschichtlicher Betrachtung Auftrieb gegeben: der Untersuchung von interkulturellen Beziehungen und Transfervorgängen in Raum und Zeit. Zumindest ist diese Grundform grundsätzlich imstande, die Reduktion zivilisatorischer Einheiten auf Grundbestände überzeitlicher Wesensmerkmale zu relativieren, indem sie auf die Bedeutung von Migrationen, Eroberungen, Kolonisationsbewegungen und kollektiven Akkulturationsvorgängen, von ethnischen und kulturellen Überlagerungen, von Verlusten und neuen Synthesen aufmerksam macht. Die strukturell-vergleichende Sichtweise hingegen kann nur die Ergebnisse solcher Prozesse festhalten, methodisch konstruiert als »reine Typen«, die sich aber empirisch in der Regel aus durchaus gemischten Einflußlagen herauskristallisieren und sich gerade unter den Bedingungen des modernen Weltzusammenhangs wieder in diffuse Kraftfelder auflösen. So ließe sich möglicherweise der Strukturvergleich als ein methodisch anspruchsvoller Spezialfall in den Zusammenhang einer Sicht der Weltgeschichte einbetten, die den Akzent auf reale Kontakte im Raum und ihre Wirkungen legt. Schon Karl Lamprecht hat in diesem Sinne verlangt, über die unumgängliche »isolierende Methode« hinauszugehen und bereits für frühe Epochen den »unmittelbaren und offen sich aufdrängenden Zusammenhang der menschlichen Gemeinschaften« zum Gegenstand universalgeschichtlicher Untersuchung zu machen.4 152

Die räumlich-beziehungsgeschichtliche Betrachtungsweise profitiert heute von einer anderen Entwicklung in den Humanwissenschaften, zu der sie ihrerseits anregend beiträgt: dem Wiedereinrücken des Geographischen in den Gesichtskreis von Historikern und Sozialwissenschaftlern.5 So sehr räumliche Aspekte in Landesgeschichte und Wirtschaftsgeschichte gegenwärtig blieben, so unverkennbar fehlen sie doch – zumindest in Deutschland – unter den leitenden Gesichtspunkten der »allgemeinen« Neuzeithistorie – mit der vielleicht einzigen Ausnahme der historischen Wahlgeographie. Die Schreckgespenster einer chauvinistisch maßlosen »Geopolitik« und eines materialistischen »Geodeterminismus« haben ihre abstoßende Wirkung nicht eingebüßt.6 Die Rehabilitation des Geographischen nicht nur in regionalhistorischen, sondern auch in universalgeschichtlichen – am wenigsten bisher in nationalgeschichtlichen – Bezügen, wie sie vor allem in Frankreich und Italien zu beobachten ist, geht auf eine Reihe von Ursachen zurück. Sofern Geschichte, wie vor allem die AnnalesSchule es angeregt hat, in der »longue durée« gesehen wird, richtet sich die Aufmerksamkeit unweigerlich auf Faktoren, die von naturgeschichtlicher Beständigkeit und großer Trägheit der Entwicklung sind. Emmanuel Le Roy Laduries Geschichte des Klimas und seiner Wirkungen auf menschliche Gesellschaften ist daher ein geradezu denknotwendiges Komplement seines Konzepts einer »immobilen Geschichte«.7 Die Annäherung zwischen großräumig denkender Geschichtswissenschaft und Geographie wird umgekehrt dadurch erleichtert, daß aus der Geographie Theorieangebote kommen, die formal genug sind und sich von kausalen Erklärungsansprüchen hinreichend weit entfernen, um den Verdacht kurzschlüssiger Naturanalogien zu vermeiden. Dazu gehören Sacks Theorie der Territorialität sowie Modelle von Zentrum-Peripherie-Strukturen, wie sie nicht ausschließlich, aber doch in erheblichem Um4 K. Lamprecht, Universalgeschichtliche Probleme, in: Ders., Moderne Geschichtswissenschaft. Fünf Neu-Yorker Vorträge, Berlin 19092, S. 103–130, hier S. 103, 104. In gleichem Sinne W. H. McNeill, »The Rise of the West« after Twenty-Five Years, in: JWH, Jg. 1, 1990, S. 1–21, bes. S. 2, 47, 9f., 19. 5 Für die Geschichtswissenschaft vgl. den thematisch weit gefaßten Aufsatzband E. D. Genovese u. L. Hochberg (Hg.), Geographic Perspectives in History: Essays in Honour of Edmund Whiting Fox, Oxford 1989. Unter soziologischen Theoretikern, die über Räumlichkeit nachdenken, ist vor allem A. Giddens zu nennen. Vgl. etwa The Nation-State and Violence, Oxford 1985. 6 Die Diskussion um »Geopolitik« in ihren verschiedenen nationalen Varianten ist in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wieder aufgenommen worden. Vgl. J. Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: NPL, Jg. 43, 1998, S. 374–397; Ders., Raumbeziehungen. Internationale Geschichte, Geopolitik und historische Geographie, in: W. Loth u. J. Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München 2000, S. 287–308; I. Diekmann u. a. (Hg.), Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist, 2 Bde., Potsdam 2000; K. Dodds u. D. Atkinson (Hg.), Geopolitical Traditions: A Century of Geopolitical Analysis, London 2000. 7 Vgl. E. Le Roy Ladurie, Histoire du climat depuis l’an mil, Paris 1967; Ders., L’histoire immobile, in: Annales, E.S.C. Jg. 29, 1974, S. 673–692.

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fang von Geographen entwickelt wurden.8 Am wichtigsten für die Universalgeschichte ist jedoch ein dritter Gesichtspunkt: die Aufwertung einer ökologischen Denkweise von der Marotte naturschwärmerischer Außenseiter zu einer nahezu unumstritten anerkannten Überlebensfrage der Menschheit. Unter den bekannteren universalgeschichtlichen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts hat als erster Lewis Mumford das Thema der Unterminierung menschlicher Lebensgrundlagen durch zerstörerische Eingriffe in das, was später »Umwelt« genannt werden sollte, aufgegriffen,9 damit Gedanken aufnehmend, die der Universalgelehrte George Perkins Marsh bereits 1864 formuliert hatte.10 Mumford selbst erlebte noch die Anfänge eines breiteren Interesses an Umweltgeschichte (environmental history).11 Mittlerweile sind Problembewußtsein und Realkenntnisse an einem Punkt angelangt, an dem das Programm einer planetarischen Geschichte des Verhältnisses menschlicher Gesellschaften zu ihren natürlichen Lebensräumen umrissen werden kann.12 Der neben Fernand Braudel wohl am höchsten respektierte Universalhistoriker der letzten Jahrzehnte, William H. McNeill, hat bereits die Menschheitsgeschichte als Abfolge immer wieder durch Epidemien (»Mikroparasitismus«) und Krieg (»Makroparasitismus«) zerbrochener »ökologischer Gleichgewichte« neu interpretiert.13 Nicht punktuelle Einflüsse der Natur, vor allem des Klimas, auf den Menschen, wie sie der ältere Naturdeterminismus hervorhob, stehen im Mittelpunkt solcher Konzeptionen, sondern großräumige und seit der europäischen Eroberung der westlichen Hemisphäre sogar interkontinentale Wirkungszusammenhänge.

8 Vgl. zusammenfassend R. D. Sack, Human Territoriality. Its Theory and History, Cambridge 1986; J. Gottmann (Hg.), Centre and Periphery: Spatial Variations in Politics, Beverly Hills 1980. Vgl. auch E. W. Soja, Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Theory, London 1989. 9 Vgl. zu Mumford: P. Costello, World Historians and Their Goals: Twentieth-Century Answers to Modernism, DeKalb, Ill. 1993, S. 154–183. 10 G. P. Marsh, Man and Nature; or, Physical Geography as Modfied by Human Action, New York 1864. Dazu D. Lowenthal, George Perkins Marsh: Versatile Vermonter, New York 1958, S. 246–276. 11 Vgl. I .G. Simmons, Environmental History: A Concise Introduction, Oxford 1993; H. Jäger, Einführung in die Umweltgeschichte, Darmstadt 1994; H. Küster, Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. München 1995; alle frühere Literatur überragend: J. Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000. 12 Etwa bei D. Worster, The Vulnerable Earth: Toward a Planetary History, in: Ders. (Hg.), The Ends of the Earth: Perspectives on Modern Environmental History, Cambridge 1988, S. 3–20. 13 W. H. McNeill, The Human Condition: An Ecological and Historical View, in: Ders., The Global Condition: Conquerors, Catastrophes and Community, Princeton, N.J. 1992, S. 67–131. Über McNeills Entdeckung der »Biosphäre«, die in seiner berühmten Weltgeschichte von 1963, »The Rise of the West«, noch kaum eine Rolle spielte, vgl. das Vorwort, bes. S. XIII-XV.

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II. Eine von metaphysischen Schlacken und europa- bzw. nordatlantik-zentrischen Befangenheiten gereinigte Universalgeschichtsschreibung – neuerdings auch als »global history« bezeichnet14 –, steckt weitgehend noch in ihren überwiegend deklaratorischen Anfängen. Ältere universalhistorische Gedankengebäude vermögen ihr kaum Orientierung zu vermitteln. Die großen Visionen von Turgot bis zu Toynbee und Sorokin haben sich in ihrer inspirierenden Kraft verausgabt; Schlözers Programm von 1785 liest sich frischer als vieles Spätere,15 taugt aber nicht als Wegweiser für die Gegenwart. »Feierliche Rückbesinnungen auf die große Tradition der Universalhistorie verdeutlichen kaum ihren Erkenntniswert.«16 Von solcher historiographiegeschichtlichen Abstinenz soll eine Ausnahme gemacht werden. Denn die Annäherung zwischen Geschichte und Geographie, wie sie sich am Ende des 20. Jahrhunderts anbahnt, setzt, auch wenn sie dies nicht mit ausdrücklicher Traditionskritik tut, einen Dialog fort, der im späten 19. Jahrhundert angeknüpft wurde. Da er an der Peripherie der Fachhistorie stattfand, hat er die ihm zukommende Aufmerksamkeit bisher nicht gefunden. Er verdient sie aus einem zusätzlichen Grund: Es läßt sich die These formulieren, daß die weltgeschichtliche Erfassung des Orients und überhaupt aller außereuropäischen Zivilisationen, die auf dem Höhepunkt des klassischen Historismus als Aufgabe reputierlicher Universitätshistoriker diskreditiert und auch von den damals neu entstehenden orientwissenschaftlichen Fächern, die sich als Philologien definierten, nicht adoptiert wurde, in zwischendisziplinären Randzonen und intellektuellen Nischen gleichsam überwinterte: vor allem in historisch aufgeschlossenen Ausprägungen von Geographie und Völkerkunde. Wie Clarence J. Glacken in seinem ideengeschichtlichen Meisterwerk gezeigt hat, lassen sich drei Vorstellungen – in freilich oft unterbrochener Kontinuität – von den Hellenen bis ins Zeitalter Buffons und Herders verfolgen: »die Idee der zweckvoll eingerichteten Erde; die Idee des Umwelteinflusses; und die Vorstellung vom Menschen als geographischem Gestalter«.17 Bei Carl Ritter (1779–1859), dem auch in Frankreich, Rußland und den Vereinigten Staaten beachteten Berliner Geographen, bündeln sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts diese Motive zu einer physiko-theologisch überformten Lehre

14 Vgl. M. Kossok, Von der Universal- zur Globalgeschichte, in: Comparativ, Jg. 2, 1992, S. 92– 104. 15 A. L. Schlözer, WeltGeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszuge und Zusammenhange, 2 Bde., Göttingen 1785–89. 16 Schulin, Einleitung, S. 15. 17 C. J. Glacken, Traces on the Rhodian Shore: Nature and Culture in Western Thought from Ancient Times to the End of the Eighteenth Century, Berkeley 1967, S. VII.

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von der »Raumerfüllung« durch historische Bewegung und von der Erde als dem »Erziehungshaus des Menschengeschlechts«.18 Ritter trennt, darin Kant folgend, die Geographie systematisch von Geschichte und Staatenkunde und will sie als reine Wissenschaft von der Erdoberfläche konstituieren, öffnet aber in einem zweiten Schritt durch die vage bestimmte Idee des »Schauplatzes«, die zum Beispiel einen strikten Klimadeterminismus nach der Art Bodins oder Montesquieus ausschließt, neuen Raum für eine historische Betrachtung. Das hat die deutschen Historiker seiner Zeit wenig beeindruckt. Nur ausnahmsweise, etwa in Ernst Curtius’ vielgelesener »Griechischer Geschichte« (1852– 1867) finden sich Darstellungen der naturräumlichen Voraussetzungen historischen Geschehens im Stile landschaftsmalerischer Genrebilder. In der Generation nach Ritter wandten sich auch die Geographen von den Bestrebungen des Berliner Meisters ab, vor allem von seiner Aufmerksamkeit für die Geschichte. Die deutsche Geographie der Reichsgründungszeit, rasch an vielen Universitäten mit Lehrstühlen vertreten, suchte die Anerkennung der älteren Fächer durch streng naturwissenschaftliche Forschungsleistungen und die der Politik durch gegenwartsbezogenes kolonialkundliches Expertentum. Ein Außenseiter des Faches, der als Zoologe und Geologe ausgebildete Friedrich Ratzel (1844–1904), der seit 1876 als Professor an der Technischen Hochschule München, ab 1886 dann in Leipzig lehrte, knüpfte erneut an Herder und Ritter an. Eine Reihe umfangreicher Werke –«Anthropogeographie« (2 Bde., 1882–91), »Völkerkunde« (3 Bde., 1885–88), »Politische Geographie« (1897), »Die Erde und das Leben« (2 Bde., 1901-02) – fügen sich, ergänzt durch zahlreiche kleinere Abhandlungen, zwar nicht zu einem systematisch geschlossenen Œuvre, doch läßt sich über manche Widersprüchlichkeiten hinweg Ratzels Denkrichtung erkennen, die ihn als einen der originelleren akademischen »Mandarine« im deutschen Kaiserreich ausweist. Ratzel dachte von Voraussetzungen her, die sich von denen eines Carl Ritter oder Alexander von Humboldt beträchtlich unterschieden. Erstens fand er am Beginn seiner Laufbahn einen Wissenschaftsbegriff vor, der ihn als gelernten Naturwissenschaftler auf die Suche nach Regelmäßigkeiten, möglichst sogar »Gesetzen« in Natur und Menschenwelt verpflichtete. Ratzel war allerdings von seinem ganzen Habitus her kein Dogmatiker, so daß er die Verbindlichkeit der »Gesetze«, die er aufstellte – etwa der »Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten«19 – in ihrer Anwendung auf geographisch-historische Sachverhalte 18 Vgl. vor allem Ritters Akademievortrag von 1836 »Ueber das historische Element in der geographischen Wissenschaft«, in: C. Ritter, Einleitung zur allgemeinen vergleichenden Geographie, und Abhandlungen zur Begründung einer mehr wissenschaftlichen Behandlung der Erdkunde, Berlin 1852, S. 152–181. Vgl. auch meine Ritter-Interpretation: Geschichte, Geographie, Geohistorie, in: W. Küttler u. a. (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 3: Die Periode der Historisierung, Frankfurt a.M. 1997, S. 257–271. 19 F. Ratzel, Die Gesetze des räumlichen Wachstums der Staaten. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen politischen Geographie, in: Petermanns Geographische Mitteilungen, Jg. 42, 1896, S. 97–

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dann doch zugunsten einer geschmeidigen Analyse immer wieder erheblich einschränkte – viel stärker jedenfalls, als diejenigen es wahrhaben wollten, die sich nach seinem Tode auf ihn als den prophetischen législateur der »Geopolitik« beriefen.20 Zweitens konnte sich der gewissenhafte Enzyklopädist Ratzel bei seinen geographischen und völkerkundlichen Studien dank der beispiellosen Zunahme von Forschungsreisen in nahezu alle Teile der Welt auf eine viel breitere und akkuratere Materialbasis stützen, als sie den Gelehrten der ersten Jahrhunderthälfte zur Verfügung gestanden hatte. In Ratzels Generation wurde ein ethnographisch-historischer Universalismus erstmals nicht bloß denkbar – das war er schon bei Montesquieu und Voltaire, bei Herder und Schlözer gewesen –, sondern auch empirisch möglich. Drittens hatte Ratzel teil an einer Revolutionierung des Raumbewußtseins, deren Beginn man auf die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts datieren kann. Zumindest in der erdräumlichen Wahrnehmung begann sich der neuzeitliche Prozeß »von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum« (Alexandre Koyré) umzukehren. Zu Lande und zur See war der größte Teil der Erdoberfläche entdeckt und kartographisch erfaßt. Kabelsysteme erlaubten einen schnellen Telegraphenverkehr zwischen den Metropolen aller Kontinente. Als Jules Verne 1873 seinen Phileas Fogg in nicht mehr als achtzig Tagen um die Welt reisen ließ, hatte er realistisch kalkuliert. Erstmals stellte sich das Gefühl der Schließung und folgenden Geschlossenheit des planetarischen Zusammenhangs ein. Niemand gab ihm einen sinnfälligeren Ausdruck als im Jahre 1893 der amerikanischen Historiker Frederick Jackson Turner mit seiner These von der Erschöpfung der amerikanischen Pioniergrenze.21 Andere waren vornehmlich beeindruckt von der Erschließung der riesigen Gebiete Sibiriens und Zentralasiens durch die Eisenbahn. Den Begründer der britischen »New Geogra-

107; ausführlicher Ders., Politische Geographie, München 1897, S. 193–231. Zur Möglichkeit der Aufstellung historischer Gesetze äußert sich Ratzel grundsätzlich in: Die Zeitforderung in den Entwickelungswissenschaften. In: Annalen der Naturphilosophie, Jg. 1, 1902, S. 309–363, hier S. 333–341. 20 Die posthume Inthronisation Ratzels als Künder des deutschen Imperialismus erörtert M. Korinman, Quand l’Allemagne pensait le monde: Grandeur et décadence d’une géopolitique, Paris 1990, S. 84f., S. 272f. Ratzel wurde schließlich von französischen Geographen gegen seine deutschen Anhänger in Schutz genommen (ebd., S. 270f.). Vgl. auch W. D. Smith, The Ideological Origins of Nazi Imperialism, New York 1986, S. 146–152; K.-G. Faber, Zur Vorgeschichte der Geopolitik. Staat, Nation und Lebensraum im Denken deutscher Geographen vor 1914, in: H. Dollinger u. a. (Hg.), Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus. Festschrift für Heinz Gollwitzer zum 65. Geburtstag, Münster 1982, S. 389–406. 21 Ratzel hat Turners Arbeiten aufmerksam verfolgt: vgl. seine Notiz Ethnographie und Geschichtswissenschaft in Amerika, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, N.F. Jg. 2, 1897/98, S. 65–72, bes. S. 68f. 1895 lernte Ratzel durch Lamprecht Turners »frontier«-Konzept kennen. Umgekehrt kannte Turner seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts Ratzels Werk. (Ich danke Dr. Matthias Waechter für diese Mitteilung.)

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phy«, Halford J. Mackinder, drängte diese Erfahrung in Ratzels Todesjahr zu einer der einflußreichsten nicht nur zeit-, sondern auch universalgeschichtlichen Analysen der Epoche: seinem Vortrag »The Geographical Pivot of History«, in dem er die eurasiatische Geschichte seit Skythen und Hunnen Revue passieren ließ und zu der Prognose gelangte, künftige Konflikte um die Weltherrschaft würden sich auf die Kontrolle der innerasiatischen »pivot area« (später in »heartland« umbenannt) konzentrieren.22

III. Das Repertoire von Friedrich Ratzels eigener Raumerfahrung reichte von einem in gemütvoller Prosa zum Ausdruck gebrachten Heimatsinn23 bis zur Überwältigung durch die immensen Flächen und endlosen Horizonte der Neuen Welt. Während einer nordamerikanischen Forschungsreise, die ihn zwischen 1873 und 1875 kreuz und quer durch den Kontinent führte, ließ er sich von der Weite des amerikanischen Raumes faszinieren, einer Weite, die in einem deutlichen Kontrast zu der Kleinräumigkeit etwa der dicht bevölkerten chinesischen Küstenprovinzen stand, mit denen er sich zuvor beschäftigt hatte. Ratzel fragte nach den Zusammenhängen zwischen Raumverhältnissen und gesellschaftlicher Charakterbildung. Durch zahlreiche Beobachtungen fand er bestätigt, »dass der Geist des Nordamerikaners von keiner Eigenschaft seines Wohngebietes in so hohem Grade beeinflusst wird wie von der Weite desselben«.24 Die Umwelt prägt die Menschen, amerikanisiert etwa in kurzer Zeit Einwanderer verschiedenster Herkunft; sie lenkt aber nicht mechanisch deren Verhalten. Vielmehr stellt die Umwelt spezifische Aufgaben der »Raumbewältigung«, die unterschiedlich schwierig sind und mit unterschiedlichem Erfolg gelöst werden können. Wie Mackinder, so war auch Ratzel einer der Pioniere des Großraumdenkens im Zeitalter imperialistischer Weltpolitik. Aber er sah, anders als manche späteren politischen Geographen und Geopolitiker, keinen schicksalhaften Expansionszwang am Werke. Die besondere Raumaufgabe der Nordamerikaner sei die innere Kolonisation ihres Staatsgebietes bis hin zu des-

22 H. J. Mackinder, The Geographical Pivot of History, in: Geographical Journal, Jg. 23, 1904, S. 421–437. 23 Vgl. vor allem seine »Wanderbilder« aus den Jahren 1897–1898, gesammelt in F. Ratzel, Glücksinseln und Träume. Gesammelte Aufsätze aus den Grenzboten, Leipzig 1905, S. 261–292, 339–90. 24 F. Ratzel, Die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika. Bd. 2: Culturgeographie der Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, München 1880, S. 45f. Ausführlich zu diesem Motiv ebd., S. 542ff. Die Erfahrung der Weite war selbstverständlich bei europäischen Amerikareisenden verbreitet; sie findet sich etwa auch bei K. Lamprecht, Americana. Reiseeindrücke, Betrachtungen, geschichtliche Gesamtansicht, Freiburg i.Br. 1906, S. 19, 27f., 65.

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sen »natürlichen Grenzen« und die Sicherung seines politischen Zusammenhalts; das Festhalten an der Union bewunderte er, noch vor der Sklavenbefreiung, als die weltgeschichtliche Leistung des Nordens im Bürgerkrieg.25 Doch er warnte vor einer unangepaßten Übertragung des Großraumdenkens auf die dicht besiedelten Kulturlandschaften Mitteleuropas: Hier verlange gelingende Raumbewältigung, so hieß es 1898 in dem nationalpädagogischen Buch »Deutschland«, weniger ein extensives Ausgreifen, das unvermeidlich auf Kosten der Nachbarn erfolgen würde, als vielmehr ein intensives, »die eignen Kräfte zusammenhaltendes Wachstum« in den von Bismarck geographisch sachgemäß gewählten kleindeutschen Grenzen.26 Vermeidet Ratzel, der oft für seinen angeblichen Materialismus gescholten wurde, die Annahme einer eindeutigen Determination menschlichen Verhaltens durch natürliche Gegebenheiten, läßt er also einen Spielraum für die Meisterung von »Raumbewältigung« durch Staatskunst und langfristiges gesellschaftliches Kollektivhandeln, so ist es gerade die Vagheit und die im Spätwerk zunehmende Abstraktheit des Ratzelschen Raumbegriffs, die ihn universalhistorisch interessant werden läßt. Ratzel ist der erste Geograph, bei dem – vor allem in der »Politischen Geographie« von 1897 – sich die Kategorie »Raum« von ihrem gewohnten Bezug auf »Landschaft« löst. Wie in anderen Bereichen der Kultur der Jahrhundertwende von Physik und Biologie über Malerei (Cézanne) und Literatur (Proust) bis zur Durkheimschen Soziologie,27 so wird auch bei Ratzel der Raum abstrakt. Wenn Ratzel in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts von »Raum« spricht, meint er den »Raum an sich«, der nicht länger, wie in der Landschaftsgeographie Ritters und seiner Anhänger, durch jeweils besondere Oberflächenformen, klimatische Verhältnisse, Vegetation (usw.) charakterisiert werden kann, sondern nur noch durch die quasi-mathematischen Attribute »Weite« und »Enge«, wie sie als elementare Kategorien der »Raumauffassung« im Bewußtsein der Individuen und der Völker geschichtlich wirksam werden.28 Auch der zweite Schlüsselbegriff in Ratzels reifer politischer Geographie der neunziger Jahre ist kaum weniger formal: die »Lage«, die einen spezifischen Raum einerseits in Relation zu anderen, also andersartigen Räumen, zunächst in der Nachbarschaft, dann aber auch im weltweiten Zusammenhang, bestimmbar macht (z. B. »Mitteleuropa«), und andererseits zur Be25 F. Ratzel, Land und Landschaft in der nordamerikanischen Volksseele, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, Jg.1, 1902, S. 523–538, hier S. 526. 26 F. Ratzel, Deutschland. Einführung in die Heimatkunde, Leipzig 1898, S. 22, dort auch S. 218f., 285, 301f., 311. 27 Vgl. S. Kern, The Culture of Time and Space, 1880–1918, Cambridge, Mass. 1983, S. 137– 152, 177–179, 223–240; P. Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991, S. 88f., 102f., 116, 146–150. 28 Ratzel, Politische Geographie, S. 334ff.

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schreibung seiner Binnenstruktur, etwa der Verteilung von Großstädten, taugt.29 Ratzel gibt den älteren, den konkreten und spezifischen Raum- und Landschaftsbegriff keineswegs völlig auf. Dort, wo seine Kritiker eine Naturalisierung von Gesellschaft, Kultur und Politik wittern, ist im allgemeinen diese Raumvorstellung im Spiel. Die Übergänge werden unklar gehalten, und der oft erhobene Vorwurf terminologischer Wirrnis trifft Ratzel gewiß zu Recht. Das Neue des zweiten, des »amerikanisch«-abstrakten Raumbegriffs haben aber schon einige der Zeitgenossen deutlich erkannt.30 Eine einseitige Etikettierung Ratzels als Hauptvertreter eines »geodeterministischen« Denkens31 trifft daher nur eine Dimension seiner geographischen Anschauungen. Ratzel betrachtet seine Geographie als einen Beitrag zur geschichtlichen Erkenntnis. Da er seine theoretischen Konzepte auf der Grundlage von Anschauungsmaterial aus Vergangenheit und Gegenwart aller Weltgegenden entwickelt, kann diese Erkenntnis nicht anders als universalgeschichtlich sein. Die abstrakten Begriffe von Raum und Lage, die dem neuen Zeitalter der Globalisierung, des »Weltverkehrs«, der »Weltmächte« und ihrer »Weltpolitik« entsprechen, eignen sich am besten dazu, makrohistorische Kraftlinien und Gewichtsverschiebungen auf einer purifizierten Weltkarte einzutragen. Ratzel, mit zunehmendem Alter immer ungehemmter auf der Suche nach »the largest of possible frameworks«,32 wird damit, noch vor Mackinder, zum Begründer einer Denkweise, welche die (neuere) Weltgeschichte als Prozeß der Herausbildung und Verschiebung von Zentren und Peripherien deutet: von wechselnden Konzentrationszonen politisch-militärischer Macht, wirtschaftlicher Dynamik und kulturellen Einflusses. Die historisch orientierte Weltsystem-Theorie des amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein, die einer solchen Denkweise seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu großer Verbreitung verholfen hat, ruht, ohne es sich einzugestehen, auf Ratzelschen Fundamenten. Friedrich Ratzel selbst hat vor allem das Kernstück seiner Lehre, die Anthropogeographie, in großer Nähe zur Geschichte konzipiert. Der erste Band seines gleichnamigen Werkes, der 1882 erschien, trägt den Untertitel »Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte«. Damit ist in einem sehr entschiedenen Sinne eine »erdumfassend« verstandene Geschichte gemeint. Ratzel sucht nach der Verbindung von Geographie und Geschichtswissenschaft 29 Vgl. F. Ratzel, Über die geographische Lage. Eine politisch-geographische Betrachtung [1894], in: Ders., Kleine Schriften, hg. v. H. Helmolt, Bd. 1, München 1906, S. 284–290. 30 Eine unübertroffen scharfsichtige Analyse findet sich bei einem frühen Kritiker Ratzels: C. Vallaux, Géographie sociale. Le sol et l’état, Paris 1911, S. 145–173. Die Schlußfolgerung: »Ainsi compris, l’espace géographique devient une sorte d’entité métaphysique.« (S. 146) 31 So z.B. W. Köster, Artikel »Raum, politischer«, in: J. Ritter u. K. Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, Sp. 126. 32 W. D. Smith, Politics and the Sciences of Culture in Germany, 1840–1920, New York 1991, S. 223.

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mit den neuesten Ergebnissen der Völkerkunde. Die Geschichte dürfe nicht länger in jenem abendländischen Bereich gefangenbleiben, »in dem sie, über Europa und die Mittelmeerländer kaum hinausschauend, dargestellt zu werden pflegt«.33 Ratzel, der Johann Gottfried Herder über alle anderen universalhistorischen Autoren stellt,34 mißbilligt die europazentrische Verengung der deutschen Geschichtsphilosophie von Kant über Fichte bis zu Hegel. Bei Auguste Comte, der ebenfalls über die »Völker der weißen Rasse« kaum hinausblickt, findet er einen Ausweg aus solcher Beschränkung: in der Idee nämlich, die geschichtliche Entwicklung strebe hin zur »Bildung einer Gesellschaft aus der ganzen Menschheit« und es müsse daher eine stetig zunehmende Zahl von Völkern im Konzert der Weltgeschichte zu Gehör kommen.35 Ratzel hält es für selbstverständlich, in eine »allgemeine Kulturgeschichte« nicht nur »Mexikaner, Peruaner, Japaner und Malayen« einzubeziehen,36 sondern auch die »Naturvölker« aller Weltteile. In seiner »Völkerkunde«, die bezeichnenderweise unter dem Titel »The History of Mankind« übersetzt wurde (3 Bde., London 1896–98), wendet er sich gegen »den vorwiegenden Gebrauch negativer Benennungen für die Naturvölker, wie Kulturlose, Geschichtslose und ähnliche«, warnt: »nicht Klüfte, sondern Gradunterschiede trennen die Teile der Menschheit«,37 und formuliert programmatisch: »Es ist eine allgemeine Kulturgeschichte denkbar, welche die nationalen oder doch auf Einen Kulturstamm beschränkten Gesichtspunkte beiseite läßt, um einen hohen, erdbeherrschenden Standpunkt einzunehmen und von diesem aus die Geschichte der Verbreitung der Kultur durch die ganze Menschheit hin zu überschauen.«38

Ratzels energischer Einspruch gegen die biologischen Rassenlehren seiner Zeit – 1903/1904 wendet er sich mit einer solchen Vehemenz gegen Gobineau und Houston Stewart Chamberlain, daß der sonst loyale Herausgeber der »Kleinen Schriften« sich ängstlich von seinem Lehrer distanziert39 – verbindet sich frei33 F. Ratzel, Anthropogeographie, Bd. 1, Stuttgart 18992 S. 55. Die zweite Auflage des Werkes verstärkte gegenüber der ersten die historische Orientierung. 34 Vgl. den großen Würdigungsaufsatz: F. Ratzel, Das geographische Bild der Menschheit. Eine Centennialbetrachtung, in: Deutsche Rundschau, Jg. 48, 1886, S. 40–62, bes. S. 43, S. 45–48. 35 Ratzel, Anthropogeographie, Bd. 1, S. 56f. Sehr scharf dann auch die Reaktion Ratzels auf Eduard Meyers Erneuerung der These von der ausschließlichen »geschichtlichen Wirksamkeit« der »höherstehenden Kulturvölker«: »Was wäre das für eine Wissenschaft! Mit ihrer künstlichen oder vielmehr willkürlichen Abgrenzung im Grunde nicht viel besser als die Astrologie [...].« F. Ratzel, Geschichte, Völkerkunde und historische Perspektive, in: HZ, Jg. 57, 1904, S. 1–46, hier S. 22. 36 Ratzel, Anthropogeographie, Bd. 1, S. 55. 37 F. Ratzel, Völkerkunde, Bd. 1: Die Naturvölker Afrikas, Leipzig 1885, S. 6, 4; zur »Geschichtslosigkeit« auch S. 12f. Ratzel vermeidet übrigens den zu seiner Zeit gebräuchlichen Begriff »Primitive«. 38 Ebd., S. 5. 39 F. Ratzel, Nationalitäten und Rassen, in: Türmer-Jahrbuch 1904, Stuttgart, S. 43–77; Ders., Kleine Schriften, Bd. 2, hg. v. H. Helmolt, München 1906, S. 485–487, und die Anmerkung Hel-

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lich mit einem allenfalls gemäßigten kulturellen Relativismus: »Kulturlich bilden diese Völker [die Naturvölker] eine Schicht unter uns, während sie nach natürlicher Bildung und Anlage zum Teile, soweit sich erkennen läßt, uns gleichstehen.«40 Die hochkulturelle Normativität des modernen Europa wird bei Ratzel ebensowenig wie bei fast allen seiner Zeitgenossen in Zweifel gezogen. »Kulturarmut« und »Kulturlosigkeit« sind aber keine biologisch oder geographisch schicksalhaft und unausweichlich festgelegten Zustände: »[...] vieles, was sich heute zum Kulturvolke der Russen zählt, war zur Zeit Peters des Großen noch reines Naturvolk,«41 und umgekehrt finden sich in der Geschichte zahlreiche Beispiele für die Regression ganzer Völker hinab von hohen Zivilisationsniveaus.42 Ratzel entwirft Universalgeschichte in anthropogeographischer Sicht als Bewegungs- und Beziehungsgeschichte: als die Untersuchung von Migrationen auf allen Ebenen – von Völkerzügen größten Ausmaßes bis zum Auswanderungs- und Akkulturationsschicksal von Familien und Einzelpersonen – und als das Studium von kriegerischen Landaneignungen, herrschaftsbildenden Überlagerungen, wirtschaftlichen Erschließungs- und Kolonisationsvorgängen, ethnischen Vermischungen, kulturellen Übernahmen, Prägungen und Durchdringungen. Spätestens 1899 rückt »geschichtliche Bewegung« als Schlüsselbegriff ins Zentrum der Anthropogeographie.43 Zur Signatur der Geschichte wird Mobilität in Frieden und Krieg; Dynamik ist die Regel, Statik die Ausnahme. Falsch ist nach Ratzel jede Vorstellung von in sich ruhenden, klar voneinander abgegrenzten, unbeirrt ihrer eigenen Entwicklungslogik folgenden Kulturen, also das spätere Spengler-Toynbee-Konzept: Es gibt im Grunde überhaupt keine isolierten, säuberlich arrondierten Kulturbereiche; Geschichte bedeutet Mischung. Unzulänglich ist in seiner Sicht auch die Beschränkung auf die katastrophischen »Völkerstürme« nach Art der Invasionen von Hunnen, Mongolen und Arabern. Vielmehr sind die Menschen fortwährend in Bewegung: Sie breiten sich über den Boden aus und ziehen sich von ihm zurück, molts auf S. 486. Kritisch zu Ratzels Auffassung von menschlichen Rassen: C. Marx, »Völker ohne Schrift und Geschichte«. Zur historischen Erfassung des vorkolonialen Schwarzafrika in der deutschen Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, S. 252ff. 40 Ratzel, Völkerkunde, Bd. 1, S. 14. 41 Ebd., S. 10. 42 Vgl. dazu besonders F. Ratzel, Völkerkunde. Bd. 3: Die Kulturvölker der Alten und Neuen Welt, Leipzig 1888, S. 8–18. Über den anderen Fall der Zerstörung »kulturarmer« Völker durch die Berührung mit der westlichen Zivilisation vgl. Ratzel, Anthropogeographie, Bd. 2, Stuttgart 19122, S. 215ff. 43 Ratzel, Anthropogeographie, Bd. 1, S. 73–134; zusammengefaßt in: F. Ratzel, Die Erde und der Mensch, in: H. Helmolt (Hg.), Weltgeschichte. Bd. 1, Leipzig 1899, S. 63–104, bes. S. 69–74. Vgl. auch die sorgfältige Interpretation bei O. Schlüter, Die leitenden Gesichtspunkt der Anthropogeographie, insbesondere der Lehre Friedrich Ratzels, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Jg. 22, 1906, S. 581–630, bes. S. 599–605.

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hinterlassen in der Umwelt Spuren von ganz unterschiedlicher Tiefe und Dauerhaftigkeit, schaffen politische Gebilde von schwankender Stabilität. Wenn es eine große Tendenz der Geschichte gibt, dann die zu stabileren Bindungen zwischen Mensch und Erde. Mit »zunehmender Kultur« werden die Völker seßhafter und ihre Staaten beständiger, graben sich die Menschen durch Agrikultur und Industrie buchstäblich tiefer in den Boden hinein, steigern aber zugleich ihre Beweglichkeit mittels der technologischen Fortschritte des modernen Verkehrs.44 In Leipzig gehörte Ratzel mit Wilhelm Ostwald, Wilhelm Wundt, Karl Bücher und Karl Lamprecht dem berühmten »Kränzchen« an, das sich nur ungenau als eines von »Positivisten« charakterisieren läßt.45 Fachgrenzen waren ohne Bedeutung; Ratzel etwa hat sich in einigen späten Aufsätzen, die zweifellos aus den Gesprächen im Kollegenkreis hervorgingen, zu theoretischen Fragen der Geschichtswissenschaft geäußert. Es ist nach der Jahrhundertwende gerade im Dialog zwischen Lamprecht und Ratzel zum Einverständnis über eine Sicht der Geschichte gekommen, die sich von der orthodoxen Universitätshistorie erheblich unterschied: durch die Beachtung von Landschafts- und Raumstrukturen im Spektrum zwischen regionalem Schauplatz und kontinentaler Weite, durch ein Augenmerk auf neue Gesichtspunkte aus Völkerkunde, Soziologie sowie Ur- und Frühgeschichte, durch starke Vorbehalte gegen eine Fixierung der Historiker auf Staat, Nation und europäisches Mächtesystem, schließlich durch ein Interesse für materielle und geistige »Übertragungen« (Lamprecht) sowohl zwischen benachbarten als auch zwischen räumlich entfernten Gesellschaften: Lamprechts Lieblingsbeispiel dafür war die Rezeption des Westens in Japan.46 Dabei war an keine zwanghafte Schematisierung und Periodisierung der Weltgeschichte gedacht: Auch das Problem wechselnder Temporalstrukturen und Zeitwahrnehmungen, das gleichzeitig vor allem Kurt Breysig beschäftigte, wurde gesehen, die Auflösung von Universalgeschichte in »Multiversalgeschichte« (Odo Marquard) angedeutet. »So klein der Raum der Erde 44 Zur geschichtlichen Bedeutung des Verkehrs bes. F. Ratzel, Einige Aufgaben der politischen Ethnographie, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, Jg. 3, 1900, S. 1–19, hier S. 2, 9–11; Ders., Politische Geographie, S. 403–444. 45 Zum Verhältnis Lamprecht-Ratzel vgl. R. Chickering, Karl Lamprecht: A German Academic Life (1856–1915), Atlantic Highlands, N.J. 1993, S. 289–297. Hinzuzufügen wäre der Hinweis auf einen Text Lamprechts, der ungewöhnlich starke Anregungen durch Ratzels politische Geographie erkennen läßt: die Kapitel »Die Entwicklung des deutschen Volksgebietes, vornehmlich außerhalb des Reiches« und »Die Entwicklung der Auswanderung«, in: K. Lamprecht, Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. Bd. 2, Berlin 1913, S. 369–412, 413–455. Zur internationalen Situierung der Leipziger Allianz von Geschichte und Geographie siehe den wegweisenden Aufsatz K.-G. Faber, Geschichtslandschaft – Région historique – Section in History. Ein Beitrag zur vergleichenden Wissenschaftsgeschichte, in: Saeculum, Jg. 30, 1979, S. 4–21. 46 Vgl. P. Griss, Japan und Karl Lamprechts universalgeschichtliche Anschauung 1900–1914. In: Comparativ, Jg. 4, 1991, S. 94–107, bes. S. 95–97, 102–104.

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ist,« schrieb Ratzel 1904 in seinem wichtigsten geschichtstheoretischen Aufsatz, »er ist doch groß genug, um mehrere Geschichten nebeneinander sich abspielen zu lassen«.47

IV. Die Leipziger Anregungen haben am stärksten in der deutschen Landesgeschichte fortgewirkt, eine universalgeschichtliche Denkrichtung haben sie nicht zu gestalten vermocht. Ratzels Schüler Hans F. Helmolt gab zwischen 1899 und 1907 eine geographisch-ethnologisch ausgerichtete, alle Kontinente umfassende »Weltgeschichte« in neun Bänden heraus, deren Autoren sich jedoch eher an den gröberen geodeterministischen »Gesetzes«-Proklamationen Ratzels als an seiner feinsinnigen Kasuistik von Mensch-Natur-Beziehungen orientierten. Die Entscheidung, das Werk nach geographischen Regionen zu gliedern, zum Beispiel die Geschichte Nord-, Mittel- und Südamerikas von den »Naturvölkern« über Mayas und Azteken bis hin zur Gegenwart in einem kontinuierlich erzählten Kapitel behandeln zu lassen, machte es den Gegnern leicht. Selbst Kurt Breysig, der vielleicht am wenigsten europazentrische unter den deutschen Historikern, fand wenig mehr zu loben als die gute Absicht.48 Mit den Mängeln der Ausführung sind dann auch die leitenden Gesichtspunkte, wie sie Ratzel im ersten Band vorstellte, der Kritik verfallen. Ein Vierteljahrhundert später nahm Walter Goetz in den Einleitungsband seiner »Propyläen-Weltgeschichte« einen Beitrag »Boden und Geschichte« auf, den der Berliner Geograph Walther Vogel geschrieben hatte. Der Niveauunterschied zwischen Vogel und Ratzel ist unverkennbar. Vogel war ein Vertreter der Politischen Geographie; seine Abhandlung beschränkt sich auf eine taxonomische Übersicht der Zusammenhänge zwischen Topographie, Klima und Formen staatlicher Organisation. Eine humangeographische Kulturgeschichte interessierte ihn wenig, und es ist nicht ersichtlich, daß sein Beitrag dem Goetzschen Unternehmen bedeutendere Impulse verliehen hätte.49 Die Einladung an den Geographen war kaum mehr als eine Pflichtübung des umsichtigen Herausgebers. Geschichte und Geographie waren sich in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg so fremd geworden wie niemals seit den Tagen Carl Ritters.

47 Ratzel, Geschichte, Völkerkunde und historische Perspektive, S. 43. 48 Vgl. K. Breysig, Die Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Berlin 1907, S. 63. 49 Kulturgeschichtlich orientiert sind zwei andere Werke namhafter Geographen jener Zeit: A. Hettner, Der Gang der Kultur über die Erde, Leipzig 19292, und vor allem H. Hassinger, Geographische Grundlagen der Geschichte, Freiburg i.Br. 1931. Hassinger setzt sich in seinem Werk u.a. das Ziel, die geographischen Kruditäten der Helmoltschen »Weltgeschichte« durch den »historischen Gesichtspunkt der leitenden Ideen und Kräfte« zu korrigieren (S. 10).

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Ihre stärkste Resonanz fand die deutsche Anthropogeographie in Frankreich. Paul Vidal de Blache (1845–1918), das Haupt der »Ecole française«, und seine Schüler begleiteten in ihrer bahnbrechenden Zeitschrift »Annales de Géographie« Ratzels Arbeiten mit respektvoller Kritik. Sie wurden zum Maß, das es wissenschaftlich zu übertreffen galt. In den entschiedenen Widerspruch der maßgebenden französischen Geographen gegen die publikumswirksam agitierende deutsche »Geopolitik« der zwanziger und dreißiger Jahre wurde aber schließlich auch Ratzel einbezogen, auf den sich Karl Haushofer und sein Kreis verehrungsvoll beriefen. Ratzels Werk berge, so faßte ein namhafter Gelehrter seine eingehende Auseinandersetzung vor allem mit der »Politischen Geographie« kurz und bündig zusammen, zwei Gefahren: »déterminisme physique, nationalisme politique«.50 Als verhängnisvoll abgelehnt wurde insbesondere das deutsche Großraumdenken, dem Ratzel in der Tat mit manchen seiner Äußerungen Vorschub geleistet hatte. Die französische Geographenschule stand der Geschichte ambivalent gegenüber: Vidal de la Blache hatte Carl Ritters geographisch-historische Werke studiert und verdankte der Lektüre Michelets ein beständiges Interesse an Lebensformen der Vergangenheit.51 Er illustrierte seine systematisch angelegten humangeographischen Schriften mit Daten aus einem reichen universalhistorischen Wissensschatz.52 Zugleich wehrte er sich aber dagegen, die Geographie der Geschichte unterzuordnen; seine Schüler fühlten sich der Soziologie näher als der Geschichtsschreibung. Diese suchte ihrerseits den Anschluß an die Geographie. Lucien Febvre, neben Marc Bloch der zweite Gründer der »AnnalesSchule«, sah eine Klärung des Verhältnisses zur Geographie als Voraussetzung für die Neubegründung der französischen Geschichtswissenschaft. In einem umfangreichen Buch nahm er 1922 die Geographie gegen Angriffe seitens der Durkheimschen Soziologie in Schutz, erläuterte die Bedeutung der Vidalschen Geographie der »cadres naturels« und »genres de vie«, die er als eine »possibilistische« Lehre interpretierte, für das Verständnis der Geschichte und wandte sich zugleich mit polemischem Schwung gegen Ratzel und dessen Anhänger, vor allem die amerikanische Geographin Ellen Churchill Semple, denen er Staatsfixierung und Geodeterminismus vorwarf.53 So wurde etwa zur selben Zeit, als Geschichte und Geographie in Deutschland weiter denn je auseinanderstrebten, im innovativsten Winkel der französischen Geschichtswissenschaft die Geographie, gewissermaßen neo-ritterianisch, als eine unerläßliche Partnerwissenschaft begrüßt, die nicht weniger – aber auch nicht mehr! – bereitzustellen habe als den »Rahmen« der historisch zu analysierenden Phänomene. 50 51 52 53

J. Ancel, Géopolitique, Paris 19385, S. 9. Vgl. V. Berdoulay, La formation de l’école française de géographie, Paris 1981, S. 187. Z.B. P. Vidal de la Blache, Principes de géographie humaine, Paris 1922, bes. S. 199ff. L. Febvre, La terre et l’évolution humaine, Paris 1922 (vor allem S. 58ff. zur Kritik an Ratzel).

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Fernand Braudel, der maßgebende Universalhistoriker der »Annales«-Gruppe, ist über Lucien Febvres vorsichtige Kompetenzabgrenzung weit hinausgegangen und hat sich dessen Vorbehalten gegen einen geographischen Determinismus nur bedingt angeschlossen. Braudel hatte unter anderem bei Emmanuel de Martonne studiert, dem Schüler und Schwiegersohn Paul Vidal de la Blaches. Er war mit der deutschen geographischen Literatur vertraut und nutzte bei seinen Studien über das Mittelmeer ausgiebig die Forschungen des vielleicht wichtigsten historischen Geographen in der Generation nach Ratzel, Alfred Philippson. Es mag durchaus sein, daß Ratzels Ausführungen über Räume und Grenzen Braudel beeinflußt haben;54 ohne Zweifel trägt die im großen Einleitungsteil von »La Méditerranée et le monde mediterranéen à l’époque de Philippe II« entwickelte historische Geographie des Nomadisierens, der Inseln und der Küsten Ratzelsche Züge. Aber die Behandlung der Geographie durch den Historiker Braudel ist in seinen drei großen Werken ganz originell, in keiner Weise schulorthodox oder epigonal. Als »La Méditerranée« 1949 veröffentlicht wurde, war sie einzigartig.

V. Genealogien von Wirkungen und Einflüssen sind von begrenztem Erkenntniswert, und so mag es müßig sein, in der neueren Literatur nach Ratzel- (und vielleicht Lamprecht-) Spuren zu fahnden. In Friedrich Ratzels Schriften wurden viele der Zusammenhänge zwischen menschlichen Gesellschaften und ihren natürlichen Umwelten vorweggenommen, die in neueren universalhistorischen Studien wiederentdeckt und zum Teil ausgearbeitet worden sind. Dies verdient bemerkt zu werden, auch wenn Ratzels speziellere theoretische Beiträge, etwa der von ihm erstmals seriös vorgetragene ethnologische »Diffusionismus«, zumeist der wissenschaftlichen Kritik nicht standhalten konnten. Von Ratzel stammt die erste Vision, keineswegs aber eine zureichende Ausführung einer transkontinentalen Universalgeschichtsschreibung vom räumlich-beziehungsgeschichtlichen Typ. In der Gegenwart versprechen mindestens vier Ausprägungen einer solchen Geschichtsschreibung diskutable Ergebnisse: Erstens hat Braudels »La Méditerranée«, ein Werk, von dem man gesagt hat, es vermöge »wie kaum ein anderes Buch zuvor, seinen Lesern einen Eindruck von

54 Das vermutet P. Burke, Offene Geschichte: Die Schule der Annales, dt. v. M. Fienbork, Berlin 1991, S. 42. Zu Braudels »géohistoire« vgl. kritisch S. Kinser, The Geohistorical Structuralism of Fernand Braudel, in: AHR, Jg. 86, 1981, S. 63–105; Y. Lacoste, Braudel géographe, in: Ders., Paysages politiques: Braudel, Gracque, Reclus, Paris 1990, S. 83–149; G. Gemelli, Fernand Braudel e l’Europea universale, Venedig 1990, S. 45–50.

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der Bedeutung des Raumes für die Geschichte zu vermitteln,«55 den Anstoß zu historischen Längsschnitten durch solche maritimen und kontinentalen Großräume gegeben, in denen unterschiedliche Zivilisationen aufeinandertreffen.56 Allerdings hat nur eine der bedeutenderen Arbeiten aus jüngerer Zeit Braudels kulturgeographische Tiefenschärfe wiederholen können und einen historischen Anschauungsraum ähnlich dicht mit Landschaftsbildern und konkreten Details belebt.57 Es scheint Abstufungen von Schwierigkeiten in der Durchführung großräumiger Synthesen zu geben: Am einfachsten lassen sich offenbar überseeische Zusammenhänge von Handel und Verkehr darstellen; an zweiter Stelle folgen Migrationen sowie Siedlungs- und Kolonisationsvorgänge; noch anspruchsvoller ist die Aufgabe, küstennahe und binnenländische Gebiete in ihrer Wechselwirkung zu zeigen; am schwierigsten dürfte schließlich die Erfassung der kulturellen Kontakte zwischen den an der Großregion partizipierenden Zivilisationen sein. Zweitens haben Immanuel Wallerstein in seinem Werk »The Modern WorldSystem« und abermals Fernand Braudel im dritten Band seiner Trilogie »Civilisation matérielle, économie et capitalisme« den abstrakten und formalen Raumbegriff, der auf Ratzels Idee des »reinen Raumes« zurückgeht und der seither in der Siedlungs- und Wirtschaftsgeographie eine gewisse Rolle gespielt hat, für die Universalgeschichtsschreibung nutzbar gemacht.58 Hier geht es nicht um den »Einfluß« der Natur auf die Geschichte und um die spezifische 55 Burke, Offene Geschichte, S. 46. 56 O. H. K. Spate, The Pacific since Magellan, 3 Bde., Canberra 1979–88; D. W. Meinig, The Shaping of America: A Geographical Perspective on 500 Years of History, 4 Bde., New Haven, bisher erschienen: Bd. 1 (1986), Bd. 2 (1993), Bd. 3 (1998); K. N. Chaudhuri, Trade and Civilisation in the Indian Ocean: An Economic History from the Rise of Islam to 1750, Cambridge 1985; Ders., Asia before Europe: Economy and Civilisation of the Indian Ocean from the Rise of Islam to 1750, Cambridge 1990. Zum Atlantik vgl. die Problem- und Literaturübersicht: H. Pietschmann, Geschichte des atlantischen Systems, 1580–1830. Ein historischer Versuch zur Erläuterung der »Globalisierung« jenseits nationalgeschichtlicher Perspektiven, Hamburg 1998; Ders., Geschichte der europäischen Expansion – Geschichte des atlantischen Raumes – Globalgeschichte, in: T. Beck u.a. (Hg.), Überseegeschichte. Beiträge der jüngeren Forschung, Stuttgart 1999, S. 21–39. Grundlegend zum Atlantik bleibt C. Verlinden, Les origines de la civilisation atlantique: De la Renaissance à l’Age des Lumières, Neuchâtel 1966. 57 C. O. Sauer, The Early Spanish Main, Berkeley 1966. Sauer (1889–1975) war allerdings viel weniger ein »environmentalist« als Braudel; ihn interessierte vor allem die Einwirkung des Menschen auf die Natur, nicht die umgekehrte Prägung. Vgl. D. N. Livingstone, The Geographical Tradition: Episodes in the History of a Contested Enterprise, Oxford 1992, S. 294–298. 58 I. Wallerstein, The Modern World-System, New York, bisher 3 Bde.: Bd. 1 (1974), Bd. 2 (1980), Bd. 3 (1989); F. Braudel, Civilisation matérielle, économie et capitalisme, XVe-XVIIIe siècle, Paris 1979, bes. Bd. 3: Le Temps du monde. Zu beiden wichtige Beiträge in: H.-J. Nitz (Hg.), The Early-Modern World-System in Geographical Perspective, Stuttgart 1993. Die zunächst eher versteckte geographische Dimension seiner Theorie hat Wallerstein im Titel eines seiner neueren Aufsatzbände deutlich zum Ausdruck gebracht: Geopolitics and Geoculture: Essays on the Changing World-System, Cambridge 1991.

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Wechselwirkungen zwischen Menschen und Landschaften, sondern um die Verteilung ökonomischer Funktionen in Räumen jeglicher Größenordnung. Beinahe geometrisch unterscheidet Wallerstein zwischen den funktionalen, ihre geographischen Orte von Epoche zu Epoche wechselnden Positionen von Zentrum, Semiperipherie, Peripherie und »external arena«, und Braudel stellt sogar sehr allgemein gehaltene »Regeln« auf – etwa die der »hierarchischen« Staffelung der Zonen der Weltwirtschaft –, die Ratzels räumlichen »Gesetzen« verblüffend ähnlich sehen. Drittens hat das klassische Ratzelsche Thema der Wanderungen einen neuen Sinn durch die Entdeckung der Historiker – Naturwissenschaftlern waren solche Gedanken geläufig – erhalten, daß nicht allein Völker, Gruppen und menschliche Individuen ihre Lebensräume wechseln, sondern auch Tiere, Pflanzen, Mikroorganismen und Viren. Die Einführung von Pferd und Schwein in Amerika, die des Schafes in Australien und Neuseeland, die Ansiedlung der Kartoffel in Europa oder die Übertragung des Zuckerrohres in die amerikanischen Tropen waren Transfervorgänge von außerordentlicher Bedeutung für die Geschichte der Menschheit. Nicht weniger wichtig und überhaupt nur im interkontinentalen Maßstab erfaßbar ist die Geschichte der Epidemien und ihrer parasitären Erreger.59 Der entstehende globale Zusammenhang ist auch ein solcher der pathologischen Konvergenzen. Viertens hat sich die Vorstellung der »Grenze« (frontier/frontière, boundary) als eines der fruchtbarsten geo-historischen Gedankenbilder erwiesen. Ihren Ursprung hat die Idee der Grenze als einer beweglichen Zone der Interaktion und Interpenetration von Gesellschaften bei den humangeographischen Klassikern des Fin de siècle. Sie findet sich dann breit ausgeführt in Braudels Portrait des »größeren« Mittelmeerraumes und versteckt bei Wallerstein dort, wo von der »Inkorporation« externer Gebiete in das expandierende kapitalistische Weltsystem die Rede ist. Grenzbildungen und Grenzsituationen lassen sich an den Rändern aller Expansionsprozesse beobachten: nicht nur der europäischen Überseekolonisation und imperialen Landnahme, sondern auch weltweit der Ausbreitung von Religionen, Sprachen, Lebensformen (»urban frontier«), politischen Ordnungen, usw. Expansionen können auch zu langfristig relativ stabilen grenzartigen Gleichgewichtszustände führen, die zum Teil geographischen Gegebenheiten folgen: zu denken wäre an die Polarität von städtischem Leben und Wüstenexistenz im nahöstlichen Raum, wie sie Ibn Chaldûn im 14. Jahrhundert tief durchdachte, oder an das von Owen Lattimore mustergültig analysierte Verhältnis von chinesischer Ackerbaukultur und innerasiatischem Nomadismus.60 Grenzsituationen eignen sich besonders gut für einen kom59 Vgl. W. H. McNeill, Plagues and People, Garden City 1976; A. W. Crosby, Ecological Imperialism: The Biological Expansion of Europe, 900–1900, Cambridge 1986. 60 Vgl. O. Lattimore, Inner Asian Frontiers of China, London 1940; seither vor allem T. J. Barfield, The Perilous Frontier: Nomadic Empires and China, Oxford 1989.

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parativen Zugang.61 Die räumlich-beziehungsgeschichtliche Spielart universalhistorischer Betrachtung kann sich zumindest an dieser Stelle mit der zweiten in der Gegenwart maßgebenden Grundform verbinden: dem strukturellen Vergleich.

61 Siehe Kapitel 9 in diesem Band.

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7. »Höherer Wahnsinn«: Universalhistorische Denkstile im 20. Jahrhundert

I. Dort, wo er am Ende des Methodikkapitels seiner Trilogie die »Vollendung der Forschung in der Geschichtsschreibung« erörtert, weist Jörn Rüsen der Historik die Aufgabe zu, die Exzesse der Praktiker zu korrigieren. Die blindwütigen Szientisten und forschenden Maulwürfe bringt sie zur kommunikativen Raison, verweist aber auch den Erzeugern wurzellosen Sinns ihre Unarten. So schreibt nämlich Jörn Rüsen: »Umgekehrt kann die Historik eine Vorstellung narrativer Sinnbildung, die von der Anstrengung theoriegeleiteter und methodisch geregelter Erkenntnisprozesse dispensiert (zumindest abstrahiert), nur als die Form eines höheren Wahnsinns kritisieren, in der man glaubt, den methodischen Verstand verlieren zu müssen, um die Vergangenheit historisch lebendig werden zu lassen.«1

Nur wer Verstand besitzt, kann ihn verlieren. Man sieht: die Historik geht freundlich und pädagogisch mit Dilettanten und Phantasten um. Solche Nachsicht haben die wissenschaftlichen Richter keineswegs immer geübt. Wenn der Historiker, Macaulay zufolge, das Amt des »hanging judge« verwaltet, dann nicht allein im nachträglichen Vollzug an den Verbrechern und Dummköpfen der Vergangenheit. Auch Kollegen oder, unfreundlich gesagt, Konkurrenten auf dem Buchmarkt und in der Publikumsgunst, mußten sich Kapitales sagen lassen. Einige Historiker, allen voran der Amerikaner J. H. Hexter, der sich für »the funniest historian of his age« hielt,2 haben Ruf und Laufbahn geradezu auf Kritik und Polemik aufgebaut. Niemandem haben solche historiographischen Inquisitoren im 20. Jahrhundert schlimmer mitgespielt als den Universalhistorikern, Leuten, die Bücher schrieben, deren Thema – wenn auch nicht immer ihr agierendes Subjekt – die Menschheit als ganze war.3 Karl Lamprecht fiel nicht allein wegen seiner universalhistorischen Inter1 J. Rüsen, Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung, Göttingen 1986, S. 150. 2 J. Cannon (Hg.), The Blackwell Dictionary of Historians, Oxford 1988, S. 187. 3 Im Hintergrund des folgenden steht die allgemeine Übersichtsliteratur: E. Schulin, Universalgeschichtsschreibung im 20. Jahrhundert, in: Ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen

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essen in Ungnade, aber sie lagen erschwerend auf der Wagschale. Arnold J. Toynbee, der Verfasser von »A Study of History« (1934–61), war, als Forschungsdirektor am Royal Institute of International Affairs außerhalb der historischen Zunft tätig, von der Fachhistorie lange kaum beachtet worden, wurde jedoch seit etwa 1947 zum Ziel einer oft rabiaten Kritik.4 Es war nicht einfach, ihm, einem der belesensten Menschen seiner Zeit, wirklich gravierende Sachfehler nachzuweisen. Aber ein immer deutlicher zur Schau getragenes Überlegenheitsgefühl über den ameisenhaft begrenzten Gesichtskreis historischer Spezialisten und der seherische Gestus seiner späteren Bände, die zudem Spuren hastiger Produktion trugen, zogen gestrenge Zurechtweisung an. Dabei gab Toynbee seinen Kritikern, deren Urteil ihn stets berührte, oft erstaunlich weit nach. Die Korrektur durch Experten war ihm wichtig, die Haltung eines »Um so schlimmer für die Tatsachen« fremd. Oswald Spengler allerdings, dessen »Untergang des Abendlandes« (1918–22) in einem maßgebenden Lexikon immerhin noch zu den 228 »Hauptwerken der Geschichtsschreibung« gerechnet wird,5 stand mit seinem lebensphilosophischen Willen zu Schau und Ausdruck und seiner Selbststilisierung als goethescher Dilettant der Fachhistorie so fern, daß ihre Einwände ihm wenig anzuhaben vermochten. Für die gedichtete Geschichte galten Maßstäbe, die sich dem Fassungsvermögen der Kathederhistoriker zu entziehen schienen. Mit großem Takt hat kein geringerer als Marc Bloch die Urteilskriterien für Weltgeschichtsschreibung formuliert. Bloch, der wie kaum ein zweiter Historiker des Jahrhunderts Forschung und Gedanke, Arbeit und Anmut zu verbinden wußte, bespricht 1922 die einbändige Weltgeschichte »An Outline of History« des englischen Romanciers H. G. Wells.6 Marc Bloch begegnet dem Werk nicht ohne Sympathie, keineswegs mit der Herablassung des Meisters gegenüber einem geschwätzigen Amateur. Er würdigt Wells’ aufklärerische Motive, den ernsten Pazifismus, mit dem einer der meistgelesenen Intellektuellen Europas nach den Schrecken des Weltkriegs Lehren aus der Geschichte zu ziehen 1979, S. 163–202; P. Costello, World Historians and Their Goals: Twentieth-Century Answers to Modernism, DeKalb, Ill. 1993; J. Galtung u. S. Inayatullah (Hg.), Macrohistory and Macrohistorians: Perspectives on Individual, Social and Civilizational Change, New York 1997; R. I. Moore, World History, in: M. Bentley (Hg.), Companion to Historiography, London 1997, S. 941–959; W. J. Mommsen, Geschichte und Geschichten. Über die Möglichkeiten und Grenzen der Universalgeschichtsschreibung, in: Saeculum, Jg. 43, 1992, S. 124–135. Die marxistische Universalgeschichtsschreibung, im besten Fall der übrigen intellektuell ebenbürtig, ist ein Fall für sich, der hier leider vernachlässigt werden muß. 4 Die niveauvollste Kritik stammt von P. Geyl, vgl. dessen Debates with Historians, Groningen 1955, Kap. 5–8. Vgl. auch W. H. McNeill, Arnold J. Toynbee: A Life, Oxford 1989. 5 V. Reinhardt (Hg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997. 6 M. Bloch, Une nouvelle histoire universelle: H. G. Wells historien, in: La Revue de Paris, Jg. 29, 1922, S. 860–876, hier zit. nach Ders., Histoire et historiens, hg. v. É. Bloch, Paris 1995, S. 219– 231.

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sucht. Wie Wells so sieht auch Bloch die Geschichte als den wichtigsten Erfahrungsraum der Sozialwissenschaften.7 Bloch erkennt hinter Wells’ Verhältnis zur Universalgeschichte die Schulung des Verfassers in den Naturwissenschaften. Wells macht es sich mit dem Erklären oft allzu einfach, doch verschmäht er – und Bloch vermerkt es mit Achtung – ebenso die Verlockung, großspurig historische Gesetzmäßigkeiten aufstellen zu wollen, wie die Flittereffekte der pittoresken Historie, die dem erfahrenen Autor fiktionaler Literatur leicht zu Gebote gestanden hätten. »M. Wells est loin de Walter Scott.«8 Daß Wells von Frankreich wenig weiß und sich manche schlimme Fehleinschätzung vor allem des französischen Geisteslebens leistet, kreidet Bloch, der übrigens die Mittelalterdarstellung des Engländers vornehm übergeht, ihm kräftig an, aber er verzichtet auf ein kleinkrämerisches Irrtumsregister. Auch an der Idee, eine Geschichte der Welt schreiben zu wollen und an den Allzuständigkeitsansprüchen, die damit verbunden sein müssen, nimmt Bloch keinen Anstoß. Was ihn an H. G. Wells’ Buch wirklich stört, ist etwas anderes: ein Übermaß an moralischer und ein Mangel an wissenschaftlicher Kritik. Wells verteilt unentwegt gute oder schlechte Noten. Er urteilt, bevor er überhaupt versucht hat, zu verstehen. Wertungen, die Bloch durchaus bis zu einem gewissen Punkt zu teilen scheint (etwa die Ablehnung des Imperialismus), werden auch politisch stumpf, wenn man sie zu krassen Einseitigkeiten vorantreibt: Es widerspricht jeder historischen Einsicht, Napoleon als nichts als ein Monster darzustellen.9 H. G. Wells – und das ist Marc Blochs zweiter gewichtiger Einwand gegen ihn – wendet seine schulmeisterliche Strenge indessen nicht auf das eigene Schreiben an. Seine methodische Sorglosigkeit sei viel schlimmer als seine faktischen Fehler. »Le travail critique qui est à la base de nos recherches lui est évidemment tout à fait étranger.«10 Nicht nur, daß Wells sogar den alten Gibbon als nach wie vor gültige Autorität zitiert: Er redet auch dort weiter, wo er schweigen müßte. Selbstverständlich kann, wie Bloch sieht, eine Weltgeschichte nicht aus den Quellen geschöpft werden, aber dann, wenn dem Geschichtsschreiber nicht aufzulösende Widersprüche zwischen seinen Gewährsleuten auffallen, sollte er sich einer Entscheidung enthalten. »L’impression que ›Le Dessin général de l’histoire‹ fera toujours aux professionnels ressemble à celle qu’un biologiste recevrait vraisemblablement d’un traité de physiologie écrit par un philosophe excellent qui n’aurait jamais mis les pieds dans un laboratoire.«11 7 Ebd., S. 224. 8 Ebd., S. 223. 9 Ebd., S. 228f. Vgl. auch Blochs spätere Warnung vor leichtfertigem Urteilen: M. Bloch, Apologie pour l’histoire ou Métier d’historien, hg. v. É. Bloch, Paris 1993, S. 156–159. 10 Bloch, Une nouvelle histoire universelle, S. 222. 11 Ebd., S. 222f. Mit Blochs Rezension von Wells wäre diejenige E. Troeltschs zu vergleichen: Eine angelsächsische Ansicht der Weltgeschichte, in: HZ, Jg. 126, 1922, S. 271–279.

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II. Marc Blochs vorsichtiges Urteil über ein Werk, das vielen Angehörigen des historischen Berufsstandes als Irreführung eines Millionenpublikums erschien, deutet auf ein Trilemma hin, in dem sich die Universalgeschichtsschreibung im frühen 20. Jahrhundert befand. Erstens war ihr Sitz im Leben so gesichert wie niemals seit der großen Blüteperiode der Gattung, der Zeit zwischen etwa 1730 und 1830. Kaum eine andere Reflexionsform kam dem Universalismus der Völkerbundsepoche weiter entgegen. Zweitens war die Universalgeschichtsschreibung dennoch eine Methodisierungsverliererin. Autoren wie Spengler, Wells oder Toynbee erschienen als Fossilien einer Geschichtsbetrachtung, die im besten Fall intellektuell anregend, aber niemals wissenschaftlich diskussionswürdig sein konnte. Drittens wollten sich die besten Universalhistoriker nicht auf die Einfachheiten des Erzählens zurückziehen. Wie Bloch richtig beobachtete, hätte H. G. Wells durchaus der Walter Scott der Weltgeschichte werden können, der Erzähler genrehafter Bilder aus der menschlichen Vergangenheit. Ganz bewußt entschied er sich dagegen. Andere wählten einen ähnlichen Weg. Oswald Spengler bemühte sich um Anschaulichkeit und um eine »Sprache, welche die Gegenstände und die Beziehungen sinnlich nachzubilden sucht, statt sie durch Begriffsreihen zu ersetzen«,12 doch mutete er den Lesern seiner »Kulturmorphologie« dann doch eine nicht immer leicht zugängliche, eine zuweilen sogar hermetische Begriffswelt (»Pseudomorphose«, »zweite Religiosität«, usw.) zu. Ein Geschichts- und Geschichtenerzähler war Spengler noch weniger als Wells. Arnold Toynbee, nur neun Jahre jünger als Spengler und von diesem stark beeinflußt, war erst recht ein ausgesprochener Anti-Narrativist, ein Autor, der seine großen Visionen in streng konstruierte Formschemata faßte und sich mehr um terminologische Genauigkeit bemühte als vielleicht jeder andere angelsächsische Historiker seiner Zeit. Es gibt auf Toynbees Tausenden von Seiten kaum eine denkwürdige Personencharakterisierung, das Salz narrativer Geschichtsschreibung, und eben dies faszinierte seine anspruchsvollsten Leser – wie den jungen William H. McNeill: »ideas, expressed abstractly and without the mediation of imaginary human characters«.13 So hatte also die Universalgeschichtsschreibung, ob mit optimistischer (Wells) oder pessimistischer Botschaft (Spengler), nach dem Ersten Weltkrieg politisch Konjunktur und fand viel Anklang beim Publikum (nur der Ruhm des sprödenToynbee ließ noch auf sich warten), machte es aber unter den profes12 O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 192348–52, Bd. 1, S. VIII. 13 W. H. McNeill, Historians I have known: Arnold J. Toynbee, in: Ders., Mythhistory and Other Essays, Chicago 1986, S. 174–198, hier S. 176.

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sionellen Geschichtsschreibern weder denjenigen recht, die Clio für eine Muse hielten, noch denen, die sie lieber als eine methodische Zuchtmeisterin sahen. Wells, Spengler, Toynbee: Diese drei Namen standen zwischen 1918 und 1939, dem Jahr der Erscheinens der Bände 4 bis 6 der »Study of History«, im öffentlichen Bewußtsein zumindest Europas für Universalgeschichte schlechthin. Man hätte wenige andere Autoren außerhalb der marxistischen Theorietradition hinzufügen können, jedenfalls dann, wenn man Geschichten Europas im Weltzusammenhang nicht für genuine Beiträge zur Universalgeschichtsschreibung halten möchte. Das Genre war hochindividualisiert; von Traditionen, die man aus dem 18. und 19. Jahrhundert fortsetzte, konnte im Grunde keine Rede sein; die Unterschiede zwischen den einzelnen Autoren waren mindestens so groß wie ihre Gemeinsamkeiten. Dabei läßt sich die singuläre Rolle Arnold J. Toynbees nicht übersehen. Toynbee war der erste Historiker seit Herder und der Spätaufklärung, der jeglichen Europazentrismus hinter sich ließ.14 Allein deshalb und ganz unabhängig von der Qualität und Beständigkeit seiner Untersuchungen und konzeptionellen Vorschläge gebührt ihm ein Ehrenplatz in der Geschichte der modernen Geschichtsschreibung. H. G. Wells’ Weltgeschichte hingegen war konvergent und fortschrittsorientiert angelegt. Ihn interessierten außereuropäische Zivilisationen nur dann und nur dort, wo sie seiner Ansicht nach zu »the general shaping of human destinies« beitrugen.15 Weltgeschichte war die allmähliche Ausweitung der Sphäre der Geschichtlichkeit. Spengler ließ Außereuropäisches noch weniger gelten. Er schweifte gern ins Islamische oder Indische ab, doch hat er nur über die »arabische Kultur« im längeren Zusammenhang geschrieben. Zweifel an der Universalität seiner Kenntnisse sind angebracht, vor allem wenn man ihn mit mit einem wirklich die Forschung überblickenden Zeitgenossen wie Max Weber vergleicht. Toynbee hingegen legte ebenso Wert auf Unterschiede innerhalb Europas und wirkte so der Ideologisierung eines homogenen »Abendlandes« entgegen wie er auch verborgene Ecken der außereuropäischen Welt jenseits des Mittelmeerraumes und des Alten Orients ausleuchtete; etwa das frühe Indien oder die MayaKultur Mittelamerikas. Nach Toynbee ist ein Buchtitel wie Hans Freyers »Weltgeschichte Europas« eigentlich nur noch ironisch möglich. Eine solche Schlußfolgerung wurde erst allmählich gezogen. In den fünfziger Jahren erreichte Toynbee den Höhepunkt seines Einflusses, machte es aber auch durch die Pose des Weltorakels, in die ihn seine Verehrer und die Medien drängten, seinen professionellen Kritikern allzu leicht. Paradoxerweise war es derselbe Toynbee, der mit seinen Bänden der dreißiger Jahre die Universalge14 Zum Verlust von Universalität und Raffinesse in der Weltgeschichtsschreibung seit der Aufklärung vgl. A. Pigulla, China in der deutschen Weltgeschichtsschreibung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wiesbaden 1996, S. 155ff. Studien zu Frankreich und England würden zu ähnlichen Ergebnissen gelangen.

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schichtsschreibung so kraftvoll vorangebracht hatte, der sie mit seinem schwächeren Spätwerk wieder in Mißkredit zog. Universalgeschichte überwinterte einstweilen als historische Kultursoziologie, etwa in den späten Werken Alfred Webers (dessen »Kulturgeschichte als Kultursoziologie« von 1935 im Jahre 1950 neu aufgelegt wurde)16 oder in Harvard bei Pitirim A. Sorokin, dessen empirisch breit fundiertes und immer noch erinnernswertes Werk »Social and Cultural Dynamics« bereits zwischen 1937 und 1941 erschienen war.17 Als Neubegründung der Universalgeschichtsschreibung kann erst das Erscheinen von William H. McNeills »The Rise of the West: A History of the Human Community« im Jahre 1963 gelten.18 Das Buch wurde anfangs wenig beachtet, auch deshalb, weil die Abneigung der Historiker gegen Toynbee um diese Zeit einen Höhepunkt erreicht hatte19. Es entfaltete seine Wirkung erst später. William McNeills einbändige Weltgeschichte – 828 Seiten neben Toynbees 5.500 –, an welcher der in Kanada geborene Verfasser seit 1954 gearbeitet hatte, erscheint im Rückblick als ein epochales Ereignis: nicht wegen sensationeller Thesen oder besonders virtuoser Schreibkünste des Autors, sondern deshalb, weil McNeill mehr als alle seine Vorgänger Marc Blochs Unbehagen an der Universalgeschichte beherzigte. Er hielt sich mit Wertungen, zumal solchen über ganze Zivilisationen und Epochen, gewissenhaft zurück und bemühte sich um größtmögliche Nähe zur avancierten Forschung. Die bedeutendste Leistung McNeills, dessen erste Bücher der neugriechischen Geschichte und dem Zweiten Weltkrieg gegolten hatten, liegt mehr noch als in der Informations- und Deutungssubstanz seines Hauptwerkes in der Haltung, die darin zum Ausdruck kommt. McNeill verschmähte das Prophetentum seines Mentors Toynbee und behauptete nicht, Universalhistoriker seien zu tieferen Einsichten in die Geschichte oder gar in die Zukunft der Menschheit befähigt als andere Zeitgenossen oder gar ihre eigenen Fachkollegen. Universalgeschichte sollte nicht die Krone des historischen Wissens sein, die große Synthese dessen, was andere sinnblind erschuftet hatten. Der Universalhistoriker McNeillscher Art war und ist kein höheres Wesen, sondern ein Historiker, der auf einer logisch 15 H. G. Wells, The Outline of History, Being a Plain History of Life and Mankind. The Definitive Edition, London 1923, S. 525 (im Zusammenhang des Eintritts Japans in die Weltgeschichte). 16 Vgl. H. G. Nutzinger (Hg.), Zwischen Nationalökonomie und Universalgeschichte. Alfred Webers Entwurf einer umfassenden Sozialwissenschaft in heutiger Sicht, Marburg 1995. 17 Sorokin, einer der originellsten unter den Pionieren der historischen Kultursoziologie wurde nach dem Krieg wenig diskutiert. Ein beachtlicher Versuch, sein Denken fortzuführen, ist A. Glyn-Jones, Holding up a Mirror: How Civilizations Decline, London 1996. 18 Heute in 5. Auflage u. d. T. A History of the Human Community: Prehistory to the Present, Englewood Cliffs, N.J. 1999. Das einzige qualitativ vergleichbare Werk, das seitdem erschienen ist, ist J. M. Roberts: The History of the World, London 1976. 19 Interview mit W. H. McNeill, 1979, in: L. Blussé u. a. (Hg.): Pilgrims to the Past: Private Conversations with Historians of European Expansion, Leiden 1996, S. 69.

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oder moralisch in keiner Weise privilegierten Makroebene arbeitet und dabei graduell andere Fragen stellt als seine Fachkollegen, ohne deren eigenen Fragen den Respekt zu verweigern. Die Distanz zu den Quellen empfindet McNeill nicht als philosophischen Vorteil, sondern als Preis, der leider für den großen Überblick zu zahlen sei. Immunisierungsstrategien gegenüber der Erfahrung sind ihm fremd. Im Unterschied zu früheren Universalhistorikern, so hat Raymond Grew in einer einsichtsvollen Würdigung gesagt, findet McNeill bei professionellen Historikern Gehör und Anerkennung, weil »he poses the kinds of questions that historians recognize as historical ones and uses evidence in the ways they recognize and know how to vet«.20 Es paßt zu dieser undramatischen Haltung, daß McNeill nicht – wie einige andere Autoren21 – den buchhändlerischen Erfolg seines Opus Maximum durch neue Weltgeschichten zu wiederholen versuchte. Er ist der Makroebene und dem Anspruch, alle großen Weltkulturen zusammenzudenken, treu geblieben, hat sich aber seither immer wieder mit begrenzteren Themen beschäftigt: der Geschichte der Epidemien, des Militärs, des Tanzes.22 Während Toynbee seinen Kritikern in Einzelheiten recht gab, ohne die Basis seines Systems in Frage zu stellen, hat McNeill sein Konzept der Weltgeschichte von 1963 inzwischen einer gründlichen Revision unterzogen, auch dadurch seine Nähe zu neuen Forschungen und Diskussionen unterstreichend (allerdings gestattet er weiter die Verbreitung des wenig veränderten Texts von 1963).23 Heute bezeichnet er »The Rise of the West« als eine zu stark europazentrierte Geschichte der Sieger: »[it] shows scant concern for the sufferings of the victims of historical change«.24 Er sei Toynbee immer noch zu sehr in der Vorstellung isolierter Zivilisationen und überhaupt in der Bevorzugung von »Zivilisation« als der fundamentalen Analyseeinheit gefolgt und habe die interkulturellen Beziehungen unterschätzt, sehe aber seine alte Annahme bestätigt, »that reaction to contacts with strangers was the major motor of historical change«.25 Den Hauptdefekt seines alten Buches erkennt McNeill darin, das allmähliche Zusammenwachsen der Welt – er spricht von einem »ecumenical process«,26 20 R. Grew, Review of P. Costello, »World Historians and their Goals«, in: H&T, Jg. 34, 1995, S. 371–394, hier S. 385. 21 Etwa L. S. Stavrianos, der mehrere Anläufe zu einer Weltgeschichte unternommen hat, zuletzt: Lifelines from Our Past: A New World History, London 1990. 22 Vgl. W. H. McNeill, Plagues and Peoples, Oxford 1976; Ders., The Pursuit of Power: Technology, Armed Force and Society since A.D. 1000, Oxford 1982; Ders., Keeping Together in Time. Dance and Drill in Human History, Cambridge, Mass. 1996. 23 W. H. McNeill, ‘The Rise of the West’ after Twenty-Five Years, in: JWH, Jg. 1, 1990, S. 1– 21. 24 Ebd., S. 3, ähnlich S. 7f. 25 Ebd., S. 7. McNeills Begriff der Zivilisation war mit dem Toynbees nicht ganz identisch. Stärker als Toynbee war er von der Ethnologie beeinflußt, insbesondere von R. Redfield. 26 Ebd., S. 10. Seine neue Vision der Weltgeschichte skizziert McNeill in: The Global Condition. Conquerors, Catastrophes, and Community, Princeton, N.J. 1992, sowie in Diffusion in Hi-

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der Tiefendimension von Globalisierung – nicht zureichend herausgearbeitet zu haben. Die Entmystifizierung von Weltgeschichtsschreibung zumindest in den Vereinigten Staaten, ihre Veralltäglichung zu so etwas wie einer Bindestrichhistorie unter anderen ist in erster Linie das Werk William McNeills, der dafür auf einem renommierten Lehrstuhl an der Universität Chicago auch strategisch hervorragend plaziert war. Seit den neunziger Jahren ist »world history« nicht nur ein Standardbereich der Lehre an amerikanischen Schulen und Colleges landauf und landab,27 sondern auch eine akademische Wachstumsbranche mit eigenen Zeitschriften, Buchreihen und Kommunikationsnetzen. Einige namhafte Historiker wie Philip D. Curtin, Michael Adas oder Michael Geyer haben ihren Namen mit diesem Programm verbunden.28 In der Weltgeschichtseuphorie, die da und dort schon ausgebrochen ist, werden allerdings nicht immer McNeills strenge Disziplinarregeln beachtet: engster Kontakt mit der Spezialforschung, Literaturstudium in möglichst vielen Sprachen, Einsicht in das Hypothetische gerade makrohistorischer Aussagen, Mißtrauen gegen allzu simple Schemata und Supertheorien, selbstkontrollierende Vorsicht gegenüber Allwissenheitsphantasien.

III. Was aber, wenn das Absinken des höheren zu so etwas wie niederem Wahnsinn auch eine Verlustgeschichte wäre, eine Domestizierung wilder, unprofessioneller Impulse, eine Kapitulation vor dem Szientismus? Die Frage soll hier unbeantwortet bleiben. Es ist aber vielleicht nicht ganz unangebracht, das Feld universalhistorischer Erwägung in der Gegenwart so weit wie möglich zu überblicken. Erst dann wird der Kontext einzelner Beiträge sichtbar und eine Wahl zwischen ihnen rational begründungsfähig. Das Feld strukturiert sich (noch) nicht nach »Schulen« oder nach methodologisch klar profilierten Zugangsweisen. Auch die begriffliche Abgrenzung zwischen »Universalgeschichte« und »Weltgeschichte« ist im Fluß, zumal am Beginn der neunziger Jahre »Globalgeschichte« hinzugetreten ist und um Anerkennung kämpft.29 Anstatt solche Etistory, in: P. J. Hugill u. D. B. Dickson (Hg.), The Transfer and Transformation of Ideas and Material Culture, College Station, Tex. 1988, S. 75–90. 27 Vgl. P. D. Curtin, Graduate Teaching in World History, in: JWH, Jg. 2, 1991, S. 81–89. 28 Vgl. etwa die Interviews mit Curtin und Adas in Blussé u.a., Pilgrims to the Past, S. 33–40, S. 271–282; M. Geyer u. C. Bright, World History in a Global Age, in: AHR, Jg. 100, 1995, S. 1034– 1060; C. Bright u. M. Geyer, Globalgeschichte und die Einheit der Welt im 20. Jahrhundert, in: Comparativ, Jg. 4, 1994, S. 13–45; M. Geyer u. M. Middell, Weltgeschichte vor den Herausforderungen der Globalisierung, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde, Jg. 28, Sondernummer, 1998, S. 21–34. 29 Vgl. B. Mazlish, An Introduction to Global History, in: Ders. u. R. Buultjens (Hg.), Concep-

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ketten mit präzisen Bedeutungen zu versehen, soll im folgenden der weniger strikt systematische Versuch unternommen werden, am Beispiel ihrer markantesten Vertreter einige universalhistorische »Denkstile« zu unterscheiden. Die ersten beiden bleiben unbeeindruckt von William McNeills empirischer Wende und gehen buchstäblich aufs Ganze. Erstens ist die philosophische Geschichte, wie sie im 18. Jahrhundert – vor allem bei Turgot, Adam Smith, Adam Ferguson, Condorcet, Johann Christoph Adelung und Isaac Iselin – als innerweltliche Deutung der Menschheitsentwicklung ihren Höhepunkt erreichte, noch nicht völlig verschwunden. Unter »philosophical history« kann heute die Absicht verstanden werden, Form und Richtung der gesamten Menschheitsgeschichte unter wenigen allgemeinen Prinzipien zu fassen. Das aufklärerische Vertrauen in die Erzählbarkeit der Gattungsgeschichte hat sich längst verzehrt, doch hält es zumindest Ernest Gellner, der eindrucksvollste Vertreter dieser Richtung, für möglich, die Stadientheorien der Aufklärung wiederzubeleben und sie mit den klassischen Einsichten der Soziologie, insbesondere Durkheims und Max Webers, zu verbinden. Philosophische Geschichte, wie sie der Philosoph, Anthropologe und Soziologe Gellner ausgearbeitet hat, lebt von der Offenheit ihres Entwurfs. Sie bindet sich weder an narrative Muster der Sinnentwicklung noch an weitgehende kausale Erklärungsansprüche und betont den kontingenten Charakter historischer Innovationen.30 Dies ermöglicht einen spielerisch-undogmatischen Umgang mit dem Gegenstand. Vom Hauptstrom der westlichen Universalgeschichte im 20. Jahrhundert unterscheidet sie sich auch dadurch, daß die Analyseeinheit »Zivilisation« verworfen wird.31 Gellner verbleibt in einer suprazivilisatorischen Allgemeinheit, die er mit Beispielen aus dem Okzident und daneben aus Indien und der islamischen Welt illustriert. Sein Kulturbegriff, ohne den auch er nicht auskommt, ist bewußt offen und idealistisch (»systems of concepts or ideas which guide thought and conduct«)32 und dient vor allem der Erfassung kognitiver Entwicklungen. Wie die Werke aus der heroischen Zeit der Universalgeschichte, so kann auch Gellners Buch nicht schulbildend wirken. Es ist das solitäre Unternehmen eines großen Einzelgängers.33 tualizing Global History, Boulder, Col. 1993, S. 1–24; B. Mazlish: Comparing Global History to World History, in: JIH, Jg. 28, 1998, S. 385–395. 30 E. Gellner, Plough, Sword and Book: The Structure of Human History, London 1988, S. 16–18. 31 Neben Toynbee und dem frühen McNeill ist ein anderes Beispiel des Zivilisationsansatzes: F. Braudel, Grammaire des civilisations, Paris 1963. 32 Gellner, Plow, Sword and Book, S. 14. 33 Ein neuerer Versuch aus ganz anderer (und bei weitem empiriefernerer) Richtung ist G. Graham, The Shape of the Past, Oxford 1997. Vgl. auch den neo-hegelianischen Entwurf bei F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, London 1992; Ders., On the Possibility of Writing a Universal History, in: A. M. Melzer u. a. (Hg.), History and the Idea of Progress, Ithaca, N.Y. 1995, S. 13–29.

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Zweitens trauen sich neuere Ausprägungen des sozialen Evolutionismus zu, die Weltgeschichte als ganze erklären zu können. Der anglo-amerikanische Evolutionismus war in vieler Hinsicht der große Gegenentwurf zu Hegelianismus und Historismus, freilich mit manchen Zusammenführungen, vor allem bei Karl Marx. Im 20. Jahrhundert fand er in sehr abstrakter Form Eingang in die soziologische und anthropologische Theoriebildung, hatte jedoch wenig Einfluß auf die Geschichtswissenschaft, noch nicht einmal auf die Universalgeschichte. In den siebziger Jahren begann dann Immanuel Wallerstein, seine historische Theorie des »modernen Weltsystems« vorzulegen, bei der es sich im Kern um eine evolutionistische Interpretation der großräumigen Umstrukturierung von Arbeitsteilung und Herrschaft seit etwa 1500 handelt. Wallerstein wurde unter Historikern beachtet, weil er die Forschung kannte und respektierte und weil seine Terminologie (»Zentrum-Peripherie-Semiperipherie«) so einfach und formal war, daß sie sich der »normalen« Arbeit an engen Themen gleichsam zwanglos überstülpen ließ. Schließlich gewann Wallerstein den pontifikalen Segen Fernand Braudels, der sich im dritten Band von »Civilisation matérielle, économie et capitalisme« (1979) ähnlicher Systembegriffe bediente. Der neueste Evolutionismus, vor allem bei Stephen K. Sanderson, verallgemeinert Wallersteins epochal begrenztes Schema, reichert es durch weitere Theoriestücke an und gelangt schließlich zu einer »general theory of historical development«, die die Weltgeschichte seit der neolithischen Revolution kausalanalytisch erfassen will.34 Das Ziel ist noch ehrgeiziger als das der philosophischen Geschichte Gellnerscher Provenienz, die Distanz zur Denkweise von Historikern größer, da Sanderson einen totalisierenden Allerklärungsanspruch erhebt und die historische Empirie fast ausschließlich über bereits synthetisierende Tertiärliteratur zur Kenntnis nimmt. Gellner macht Historikern ein offenes Gesprächsangebot, Sanderson konfrontiert sie mit einer geschlossenen Geschichtstheorie. Drittens bindet sich ein neuerdings viel Beachtung findender naturwissenschaftlicher Blick auf die Geschichte oft, aber nicht immer an evolutionistische Voraussetzungen. Dieser Denkstil steht in der Spannung zwischen Determinismus und Kontingenzannahmen. Mit dem sozialen Evolutionismus Sandersons und (weniger gut begründeten) Versuchen einer rückwärtigen Verlängerung der Weltsystemanalyse35 hat er eine Vision sehr langer Zeiträume gemeinsam. Einer seiner überzeugendsten Vertreter, der Physiologe und Evolutionsbiologe Jared Diamond, stellt in einem großen universalgeschichtlichen 34 S. K. Sanderson, Social Transformations: A General Theory of Historical Development, Oxford 1995; Ders., Social Evolutionism: A Critical History, Oxford 1990. Zum Verhältnis von Geschichte und Evolution vgl. auch mehrere Beiträge in F. Welz u. U. Weisenbacher (Hg.), Soziologische Theorie und Geschichte, Opladen 1998. 35 Etwa bei A. G. Frank u. B. K. Gills (Hg.), The World System: Five Hundred Years or Five Thousand?, London 1993. Vgl. meine Kritik in: VSWG, Jg. 84, 1997, S. 221f.

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Entwurf die Frage, warum die Gleichheit der Lebensverhältnisse von Menschen auf allen Kontinenten, wie sie gegen Ende der letzten Eiszeit (ca. 11.000 v. Chr.) herrschte, um das Jahr 1500 einer Ungleichheit gewichen war, die Amerika, Afrika und die pazifische Inselwelt zu Opfern Europas werden und Asien gegenüber Europa zurückfallen ließ.36 In einer empirisch sehr sorgfältig abgesicherten Beweisführung schließt Diamond, dem es nebenei auch um eine historische Entkräftung des Rassismus geht, jegliche anthropologische Unterschiede zwischen den Populationen der Welt als Erklärungsursache aus. Eurasien und insbesondere Europa wurde begünstigt durch die Fortpflanzung besonders aggressiver Krankheitskeime, gegen die sich mit der Zeit eine weitgehende Immunität ausbildete, durch eine relativ große Zahl domestizierbarer Pflanzen und Tiere – wären Nashörner domestizierbar, dann hätte eine europäische Pferdekavallerie gegen die Afrikaner keine Chance gehabt – sowie durch die Tatsache, daß biologische Arten und kulturelle Innovationen viel leichter auf der für Eurasien charakteristischen Ost-West-Achse, also in verwandten Klimazonen, verbreitet werden können als in Nord-Süd-Richtung. Bereits Wilhelm von Humboldt hatte bedauert, »dass man die Geschlechter der Menschen zu sehr als Vernunft und Verstandeswesen, zu wenig als Naturproducte betrachtet«.37 Die neuen Überlegungen bei Jared Diamond und anderen Naturwissenschaftlern revidieren die historistische Abwehr naturalistischer Geschichtsinterpretationen und schlagen willkommene Brücken zwischen den »zwei Kulturen«.38 Weder Toynbees Vorstellung von sich unverbunden nebeneinander entfaltenden Zyklen von Aufstieg, Blüte und Niedergang noch eine linear-konvergente Sicht, die den gesamten Geschichtsprozeß seine Erfüllung im »Aufstieg des Westens« finden sieht, spielen in den gegenwärtig wieder beginnenden Debatten um Weltgeschichtsschreibung eine nennenswerte Rolle. Wichtig sind hingegen Versuche, diese beiden Modelle miteinander zu verbinden. Dies kann etwa durch den an Hegel anschließenden Gedanken geschehen, weltgeschichtliche Bewegung sei in »shifts of initiative« erkennbar.39 Diese Initiativen müssen nicht als kumulative Progressionen aufgefaßt werden, bei denen ein Neue36 J. Diamond, Guns, Germs, and Steel. The Fate of Human Societies, New York 1997. Eine Pionierarbeit der biologisch-ökologischen Makrogeschichte ist A. W. Crosby, Ecological Imperialism: The Biological Expansion of Europe, 900–1900, Cambridge 1986. Schon länger gibt es eine historische Klimaforschung. Vgl. etwa E. Le Roy Ladurie, Histoire du climat depuis l’an mil, Paris 1967; H. H. Lamb, Klima und Kulturgeschichte, Reinbek 1994; W. Weischet, Die ökologische Benachteiligung der Tropen, Tübingen 1977; R. Ruppert, Klima und die Entstehung industrialisierter Volkswirtschaften, in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie, Jg. 31, 1987, S. 1–11. 37 W. v. Humboldt, Betrachtungen über die Weltgeschichte, in: Ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. A. Flitner u. K. Giel, Bd. 1, Darmstadt 19692, S. 567–577, hier S. 576. 38 Dies tut auch die universalhistorisch angelegte Umweltgeschichte. Vgl. kritisch synthetisierend: J. Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000. 39 F. Fernández-Armesto, Millenium, London 1995, S. 6.

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rungsschub den nächsten vorbereitet. Ebenso interessant sind abgebrochenen Entwicklungen, kulturelle Verluste oder Gedächtnisbrüche und das Überleben alter Strukturen – etwa der katholischen Kirche – in dynamischen Umwelten. Man könnte hier von einem vierten, dem divergent-konvergenten Denkstil sprechen. McNeills »Rise of the West« war in mancher Hinsicht ein prägendes Beispiel dafür, allerdings mit starker konvergenter Tendenz zu einer Großen Erzählung, die sich immer wieder durchsetzt. Ein bemerkenswerter Repräsentant dieses Denkstil ist heute Felipe Fernández-Armesto. Man hat seine Weltgeschichte der letzten tausend Jahre – »Millenium« (1995) – als postmodern bezeichnet, weil der Autor eine Geschichte der Sieger im Stile von H. G. Wells oder, weniger extrem, auch des frühen McNeill durch ein Augenmerk auf Außenseiter, kleine Zivilisationen, entlegene Weltgegenden und ungewöhnliche Quellen auszugleichen versteht. Bei Fernández-Armesto ist von Äthiopien im 15. Jahrhundert, von den Biographien deutscher Amerikaauswanderer oder von Argentinien unter Péron die Rede. Der Gefahr disparater Zerstreuung und bloß anekdotischer Veranschaulichung versucht Fernández-Armesto dadurch zu entgehen, daß er Expansions- und Kolonisationsvorgänge besonders stark betont, ohne dabei die formale Theorie des Weltsystems zu bemühen. Expansionen von der Ausbreitung des Islam in Zentralasien bis zur Amerikanisierung der Welt im 20. Jahrhundert folgen in dieser Sicht keinen wiederkehrenden »patterns«, wie sie die Sozialevolutionisten zu sehen glauben. Der divergentkonvergente Ansatz führt nicht zu Modellen der Weltgeschichte. Er ist eine Denk- und Darstellungsweise, die bewußt in der Spannung zwischen unverbundener Gleichzeitigkeit des Partikularen und übergreifenden, verknüpfenden Prozessen verharrt.40 Eine solche Balance zwischen Geschichte und Geschichten ist nur durch literarische Kunstgriffe auf der Grundlage außerordentlicher Quellenkenntnis möglich. Erreichbar ist sie nur einzelnen, etwa auch Fernand Braudel in seiner Trilogie zur Weltgeschichte der Frühen Neuzeit.41 Der vierte Denkstil läßt sich daher ebensowenig wie die philosophische Geschichte in ein Brevier lernbarer Regeln gießen. Anders verhält es sich, fünftens, bei der ökumenischen Perspektive, wie sie der spätere McNeill und die heutigen Vertreter der »global history« empfehlen. Hier wird nicht vordringlich nach dem Innenleben von Zivilisationen gefragt, sondern nach den Vernetzungen, nach Diffusion, Austausch und Lernprozessen zwischen ihnen – oft mit dem Ziel, der Geschichte der heute offenkundigen »Globalisierung« auf die Spur zu kommen.42 Dies geschieht in der Regel 40 Auch E. Hobsbawm, Age of Extremes: The Short Twentieth Century 1914–1991, London 1994, könnte hier genannt werden. Hobsbawm stellt sich viel deutlicher als Fernández-Armesto auf die Seite der Konvergenz. 41 F. Braudel, Civilisation matérielle, économie et capitalisme, XVe-XVIIIe siècle, 3 Bde., Paris 1979. 42 Ein frühes Beispiel ist E. R. Wolf, Europe and the People without History, Berkeley, Cal. 1982.

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nicht mit der Absicht, epochale Gesamtbilder zu zeichnen. Einzelne Vernetzungsbereiche werden mit den in der Geschichtswissenschaft allgemein üblichen Methoden weltweit untersucht: Handel, Migration, Verkehr, Kommunikation, Kulturtransfer, usw.43 Die Vorgehensweise ist vornehmlich synchron in dem Sinne, daß langfristige Systembildungsvorgänge, wie sie der soziale Evolutionismus thematisiert, außerhalb der Betrachtung bleiben. Dieser Denkstil ist nicht genuin universalgeschichtlich, da er die langfristige Diachronie hintanstellt, vom gattungsgeschichtlichen Pathos der klassischen Universalgeschichtsschreibung, das noch bei Autoren wie McNeill, Gellner und Diamond kräftig zu spüren ist, wenig übrigläßt und die »großen« Fragen, etwa die nach dem europäischen Sonderweg in der Neuzeit allenfalls deskriptiv in Angriff nimmt. Vom niederen Wahnsinn gerät man hier in die Nähe der normalen Geistesverfassung professioneller Historikerinnen und Historiker. Vernetzungsanalysen erfordern keine Allwissenheit, keine visionäre Begabung und keine herausragenden schriftstellerischen Fähigkeiten. Sie erfüllen zu einem erheblichen Teil William H. McNeills Anforderungen an einen nüchternen und selbstkritischen globalhistorischen Professionalismus. Legitimität als Teilbereich der Geschichtswissenschaften kann sich Weltgeschichtsschreibung heute am besten durch die methodisch disziplinierte Denkform des ökumenischen Ansatzes erwerben. Sie sollte sich indessen nicht zu beflissen disziplinieren lassen. Die größten intellektuellen Herausforderungen gehen am Ende des 20. Jahrhunderts von naturwissenschaftlich-ökologischen Geschichtsinterpretationen aus. Historiker können sie freilich nicht in all ihren Aspekten sachkundig beurteilen.44 Dem sozialen Evolutionismus, der sich überwiegend der Forschungsergebnisse von Historikern bedient, kommt man leichter auf die Schliche. Er ist vielseitig anregend, gelangt aber letzten Endes über schematische Makromodelle kaum hinaus und erreicht nicht die geschmeidige Argumentationsqualität der Gellnerschen »philosophical history«. Die ansprechendsten Werke universaler Geschichtsschreibung dürften nach dem Vorbild Fernand Braudels und Felipe Fernández-Armestos auch in Zukunft dem divergent-konvergenten Denkstil entspringen, der letztlich in dialektischen Traditionen steht. Es wird sich dabei immer um forschungsbetrieblich nicht organisierbare Einzelleistungen handeln: oft oder meist um uninspirierte Datenkollagen, im Ausnahmefall um maßgebende Texte der historischen Literatur.

43 Auch P. Burke sieht in einem transkulturellen »encounter model« die größte Zukunftschance der Kulturgeschichte: Varieties of Cultural History, Cambridge 1997, S. 201ff. 44 Dies gilt besonders für solche anspruchsvollen Bereiche wie die historische Genetik, die eine beispiellose Genauigkeit etwa in der Rekonstruktion von Wanderungen und Diffusionsprozessen erreicht: L. L. Cavalli-Sforza u. a., The History and Geography of Human Genes, Princeton, N.J. 1994.

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8. Entdeckung und Eroberung, Neugier und Gewalt. Modelle frühneuzeitlichen Kulturkontakts

I. Kaum war der große Mann gestorben, da erschienen in ganz Europa nicht bloß Nachrufe auf ihn: Broschüren, Bücher schienen nötig, um seine Lebensleistung zu erfassen. Auch in Deutschland griff man unverzüglich zur Feder. Was herauskam, klang dann etwa so: »Von wessen Unternehmungen und Taten, kann man fragen, haben neuerlich alle Menschen von Erziehung über ganz Europa mit so vieler Teilnahme gelesen und gesprochen als von den seinigen? Wessen Mannes Bildnis, der weder ein Prinz, noch ein Eroberer, noch ein Rebelle war, hat man mit so allgemeiner Neugierde angesehen und angestaunt? Alles, was er getan hat, hat er zum Dienst seines Vaterlandes und zur Erweiterung nützlicher Kenntnisse getan. Feuer und Schwert haben keinen Anteil. Daher auch mancher, der ihm in unseren Tagen an Ruf gleichkam, ihm an Ruhm nachstehen möchte, und wessen Tod, läßt sich also endlich fragen, ist neuerlich so allgemein beklagt worden als der seinige?«1

Das Vaterland war Großbritannien, der Verewigte war der Sohn eines Tagelöhners aus Yorkshire und hieß James Cook, und sein Tod war etwas ungewöhnlicher, als Georg Christoph Lichtenberg hier zu verstehen gibt, denn der Kapitän war am 14. Februar 1779 in einem Handgemenge mit Einheimischen an der Bucht von Kealakekua auf Hawaii ums Leben gekommen. Cooks Reisegefährten brannten zur Strafe ein Dorf nieder und entfernten sich, nachdem sie die bereits nach hawaiischen Totenbräuchen zugerichteten sterblichen Überreste ihres Chefs an sich genommen hatten.2 An eine Kolonisierung Hawaiis – ge1 G. C. Lichtenberg, Einige Lebensumstände von Capt. James Cook, grösstenteils aus schriftl. Nachrichten einiger seiner Bekannten gezogen von G.C.L. [1780], in: Schriften und Briefe, hg. v. W. Promies, Bd. 3, Darmstadt 1972, S. 57. 2 Captain Cooks Ende beschreibt J. C. Beaglehole, The Life of Captain James Cook, London 1974, S. 637ff. Zur Interpretation des Vorfalls von einheimischer Seite vgl. M. Sahlins, Der Tod des Kapitain Cook. Geschichte als Metapher und Mythos als Wirklichkeit in der Frühgeschichte des Königreiches Hawaii, dt. v. H. Medick u. M. Schmidt, Berlin 1986; kritisch dazu G. Obeyesekere, The Apotheosis of Captain Cook: European Mythmaking in the Pacific, Princeton 1992. Vgl. auch D. Kaufmann, Die »Wilden« in Geschichtsschreibung und Anthropologie der »Zivilisierten«. Historische und aktuelle Kontroversen um Cooks Südseereisen und seinen Tod auf Hawaii 1779, in: HZ, Jg. 260, 1995, S. 49–73.

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nauer: der Sandwich-Inseln, wie Cook sie nach dem Ersten Lord der Admiralität genannt hatte – dachte niemand. Dazu hatte die Expedition ohnedies kein Mandat. Der Kolonialismus kam später nach Hawaii: 1820 auf missionarischen Samtpfoten, 1887 in Gestalt der amerikanischen Kriegsflotte. Die unvermeidliche Annexion folgte 1898.3 James Cook also: ein Entdecker, aber kein Eroberer; ein Europäer, der, wie Lichtenberg sagt, »ohne Feuer und Schwert« in die Ferne hinausfuhr, der Leiter einer von gelehrten Männern begleiteten wissenschaftlichen Expedition. Waren die Zeiten sanfter geworden seit der spanischen Mordbrennerei in Amerika, »where a world conquered was so soon to be a world destroyed«?4 Hatten die Briten jener Gewalttätigkeit abgeschworen, die sie im Umgang mit Iren und nordamerikanischen Indianern an den Tag gelegt hatten?5 In gewissem Sinne schon. James Cook und seine Gefährten besaßen eine militärische Überlegenheit gegenüber den Einheimischen der pazifischen Inseln, die sie nicht einsetzten. Im Zeitalter der Aufklärung war man bereit, auch mit den »Wilden« zivilisiert umzugehen. Dennoch wäre es übereilt, für die Jahrhunderte der frühen Neuzeit generell eine stetige Milderung europäischen Verhaltens gegenüber dem Rest der Welt anzunehmen. Neugier und Gewalt blieben Zeitgenossen. Während Cook die geographisch-naturkundlichen Kenntnisse vertiefte, lagen Briten und Inder, Russen und Türken im Krieg; der Transport afrikanischer Sklaven über den Atlantik erreichte seinen Höhepunkt;6 und die Lage der nordamerikanischen Indianer verschlechterte sich in dem Maße, wie sie als Bundesgenossen bei den Konflikten der Weißen untereinander entbehrlicher wurden. Das »zweite Zeitalter der Entdeckungen« war zugleich eine Epoche fortgesetzter europäischer Gewaltanwendung in Übersee. Die Spannung zwischen Entdeckung und Eroberung ist somit ein Thema, das die ganze Zeitspanne vom späten 15. Jahrhundert bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts unter sich faßt. Zu welchen Mischungen von friedfertiger Neugier und raubendem Zugriff es im einzelnen kam, hing mehr noch als von den Absichten der Europäer von den militärischen und kulturellen Widerständen ab, die sie in Amerika, Asien und

3 1959 wurde Hawaii der 50. Bundesstaat der USA. Vgl. den Überblick bei I. C. Campbell, A History of the Pacific Islands, Berkeley 1989; G. Daws, Shoal of Time: A History of the Hawaian Islands, Honululu 1974. Ein älteres Standardwerk über die Region als ganze ist W. P. Morrell, Britain in the Pacific Islands, Oxford 1960. Zur inneren Geschichte Hawaiis insbes. D. Scarr, The History of the Pacific Islands: Kingdoms of the Reefs, Melbourne 1990, S. 124ff. 4 J. H. Elliott, The Spanish Conquest and Setttlement of America, in: L. Bethell (Hg.), The Cambridge History of Latin America, Bd. 1, Cambridge 1984, S. 172. 5 Dabei nahmen sich britische »empire builders« in Nordamerika bisweilen ausdrücklich die Methoden der verhaßten Spanier zum Vorbild. Vgl. N. Salisbury, Manitou and Providence: Indians, Europeans, and the Making of New England, 1500–1643, New York 1982, S. 99. 6 Nach den Schätzungen bei P. D. Curtin, The Atlantic Slave Trade: A Census, Madison, Wisc. 1969, S. 266.

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Afrika antrafen. So erklärt sich das breite Formenspektrum des europäischüberseeischen Kontakts in der Frühen Neuzeit.7

II. Im Anfang waren Kolumbus und Cortés, der Seefahrer und der Conquistador. Das Amerikanische Muster prägt unser Verständnis von frühneuzeitlicher europäischer Expansion. Es ist freilich ein von historischen Sachverhalten kaum ablösbarer Mythos, ein erst im frühen 19. Jahrhundert im Spannungsfeld älterer »schwarzer« und »weißer« Legenden gehärteter imaginativer Komplex. Die romantischen Schriftsteller Washington Irving (1783–1859)8 und William H. Prescott (1796–1859),9 bezeichnenderweise beide Nordamerikaner, sind im wesentlichen seine Urheber. Mindestens fünf untrennbar miteinander verbundene Merkmale, die sich fest in der Vorstellungswelt Europas eingenistet haben, kennzeichnen dieses Amerikanische (genauer mittel- und südamerikanische) Muster. Sie sind zugleich Grundkategorien, auf die stets wieder zurückzukommen sein wird: (1) das Pathos des Unverhofften, des Ent-Deckens im engsten Sinne: der Entdecker findet, was er in dieser Form gar nicht gesucht hat; (2) der anthropologische Schock: die Europäer treffen auf »nackte Wilde«, auf Menschen, für die im eigenen Weltbild keine Leerstelle vorgesehen war, auch wenn antike und mittelalterliche Lesefrüchte eine erste Hilfestellung leisten konnten; (3) die Korruption des Erstkontakts: auf friedliche Entdeckung folgt gewaltsame Eroberung, ja, schon im Falle des Aztekenreiches wird beides geradezu identisch;10 (4) die Magie der Minderheit: eine winzige Zahl von Europäern treibt komplex organisierte und menschenreiche Staatswesen in kurzer Zeit in Niederlage und Zusammenbruch; die Cortés-Romantik, etwa bei Prescott, nährt sich großenteils aus diesem Wunder der kleinen Zahl; 7 Vgl. dazu auch in anderer Perspektive Kapitel 9 in diesem Band. 8 W. Irving, The Life and Voyages of Columbus, 4 Bde., London 1828. Vgl. dazu K. Sale, The Conquest of Paradise: Christopher Columbus and the Columbian Legacy, London 1991, S. 342– 348. 9 W. H. Prescott, History of the Conquest of Mexico, 3 Bde., New York 1843; Ders., History of the Conquest of Peru, 2 Bde., New York 1847. Vgl. R. A. Humphreys, William Hickling Prescott: The Man and the Historian, in: HAHR, Jg. 39, 1959, S. 1–19. 10 U. Bitterli nennt dies den »Umschlag von der Kulturberührung zum Kulturzusammenstoß«: Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegenung, München 1976, S. 130; vgl. auch Ders., Alte Welt – Neue Welt, Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1986, S. 77ff.

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(5) die Verstaatlichung und Ideologisierung der Eroberung: sie erfolgt durch umgehende Errichtung territorialer Kolonialherrschaft und das Ingangsetzen eines Legitimationsapparates (der im 16. Jahrhundert naturgemäß ein theologischjuristischer sein mußte); neben den Seefahrer und den Conquistador treten im expansionshistorischen Typenkabinett der Priester und der Kronbürokrat. Dieses Amerikanische Muster wäre auf seine weltgeschichtliche Verallgemeinerbarkeit zu überprüfen. Die Schwierigkeiten beginnen mit dem Begriff der »Entdeckung«. Verfasser von sogenannter entdeckungsgeschichtlicher Literatur definieren ihn in der Regel nicht, und sie mögen gut daran tun. Denn zwischen zwei extrem unterschiedlichen Begriffen von »Entdeckung«, einem sehr engen und einem sehr weiten, bewegen wir uns in einer Zone semantischer Anarchie. In einem engen und empiristischen Sinne bedeutet »Entdeckung« den reisend gewonnenen geographischen Augenschein, der zur Korrektur kosmographischer oder noch konkreter: kartographischer Unsicherheiten und Irrtümer führt. Idealiter ist dies eine geradezu Popperianische Laborsituation, in der auch eine Nicht-Entdeckung wertvoll sein kann: James Cook falsifizierte durch Beobachtung die alte Hypothese »Es gibt eine Terra Australis«, einen Riesenkontinent südlich von Afrika.11 Das oft bewußt experimentelle Suchen nach brauchbaren Schiffahrtsrouten und die entsprechende Präzisierung von Seekarten ist ein anderes klares Beispiel. Einige der besten Entdeckungshistoriker haben neben Dokumentenkenntnis auch eine solche Sinnlichkeit der Raumerfassung angestrebt. Der große Samuel Eliot Morison (1887–1976) etwa, übrigens ein Bewunderer Prescotts, ist fast sämtliche frühen Amerikareisen persönlich nachgesegelt.12 Am anderen Ende des Spektrums steht der ganz weite Begriff von »Entdekkung«, wie ihn 1983 der Historiker Daniel J. Boorstin, in seinem Buch »The Discoverers« verwendet, wenn auch nicht ausdrücklich erläutert, hat: »Man the discoverer«.13 Hier wird der kolumbianische Moment zu einer geradezu anthropologischen Metapher gesteigert. Welterfassung ist kühne Ausfahrt ins Unbekannte: in den Makrokosmos des Weltraums, den Mikrokosmos der Elementarteilchen, die Tiefen der Erdgeschichte. Dieser gleichsam gesamtabendländische Begriff ist selbstverständlich älteren Ursprungs. Wir finden ihn im frühen 17. Jahrhundert bei dem englischen Philosophen Francis Bacon: Die Neue Philosophie segele aus der geschlossenen mittelmeerischen Welt verstaubter Gelehrsamkeit zu einem Neufund-Land der Naturerkenntnis. 11 Zum Motiv der Terra Australis vgl. N. Broc, La géographie des philosophes: Géographes et voyageurs français au XVIIIe siècle, Paris 1975, S. 173–185. 12 Dies bereichert seine klassische Darstellung der Entdeckung Amerikas: S. E. Morison, The European Discovery of America. Bd. 1: The Northern Voyages, A.D. 500–1600, New York 1971; Ders., The European Discovery of America. Bd. 2: The Southern Voyages, 1492–1616, New York 1974, sowie Ders., Admiral of the Ocean Sea: A Life of Christopher Columbus, London 1942. Vgl. G. M. Pfitzer, Samuel Eliot Morison’s Historical World: In Quest of a New Parkman, Boston 1991. 13 D. J. Boorstin, The Discoverers, New York 1983.

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Zwischen diesen beiden Extrembegriffen bedarf es sorgfältiger Abwägung. Ist schon der ein Entdecker, der sieht, oder erst derjenige, der begreift? Im weiten Fall wäre wohl, wie Boorstin vorschlägt, am ehesten Amerigo Vespucci als der wahre Entdecker Amerikas zu bezeichnen. Hilft uns die Unterscheidung, wie sie oft getroffen wird, zwischen primärer, eher zufälliger und naiv verarbeiteter »Entdeckung« und sekundärer, planvoller und reflektierter »Erkundung«?14 Wird »Entdeckung« dann nicht zu einem punktuellen Spezialfall solcher »Erkundung« und sollten wir vielleicht John H. Parry folgen, der »discovery« und »exploration« ohne genaue Differenzierung dem Oberbegriff »reconnaissance« unterordnet?15 Oder hatte nicht vielleicht schon Alexander von Humboldt die angemessene philosophische Anschauung gewonnen, als er im »Kosmos« nicht die Stufen von primärer und sekundärer Wahrnehmung betonte, sondern gerade die Einheit von empirischer Fülle und synthetischer Zusammenschau? Sehen und Begreifen wären dann sowohl individual wie epochal kaum voneinander zu trennen. Humboldt schreibt über das späte 15. und frühe 16. Jahrhundert: »Wie in Alexanders Heerzügen, aber mit noch überwältigenderer Macht, drängte sich jetzt die Welt der Objekte in den Einzelformen des Wahrnehmbaren wie im Zusammenwirken lebendiger Kräfte dem kombinierenden Geist auf. Die zerstreuenden Bilder sinnlicher Anschauung wurden trotz ihrer Fülle und Verschiedenartigkeit allmählich zu einem konkreten Ganzen verschmolzen, die irdische Natur in ihrer Allgemeinheit aufgefaßt, eine Frucht wirklicher Beobachtung, nicht nach bloßen Ahnungen, die in wechselnden Gestalten der Phantasie vorschweben.«16

Humboldt stellt übrigens die ersten Amerikareisen in einen Zusammenhang, der sie entschieden relativiert. Er betont die vorbereitenden Leistungen der arabischen Astronomie und Erdbescheibung, verfolgt die empirische Erkenntnishaltung der Entdeckergeneration in die Spätscholastik zurück und zeigt, wie Europa durch die Asienberichte Marco Polos und der Mönchsdiplomaten im Mongolenreich auf Nachrichten vom Fremden schon vorbereitet war. Und Humboldt sieht auch, bei aller geschichtsphilosophischen Bestimmtheit, das Kontingente am Verlauf des Entdeckungsprozesses: die »wundersame Verkettung kleiner Begebenheiten und den nicht zu verkennenden Einfluß einer solchen Verkettung auf große Weltschicksale«17. Wäre nicht am Abend des 7. Oktober 1492 eine Schar Papageien über die Schiffe der Spanier hinweggeflogen, hätte Martín Alonso Pinzón sie nicht gesehen und hätte Kolumbus nicht auf 14 So bei U. Bitterli, Die Entdeckung Amerikas. Von Kolumbus bis Alexander von Humboldt, München 1991, S. 11–24, jedoch ohne klare Definitionen. 15 J. H. Parry, The Age of Reconnaissance: Discovery, Exploration and Settlement 1450–1650, London 1963, bes. S. 17. 16 A. v. Humboldt, Kosmos, hg. v. H. Beck (= Studienausgabe, Bd. 7, Teilbd. 2), Darmstadt 1993, S. 209. 17 Ebd., S. 243.

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den Rat des Kapitäns der »Pinta« gehört und den Kurs nach Südwesten korrigiert, dann wäre man vermutlich in Florida oder Virginia gelandet, und Nordamerika wäre katholisch-romanisch besiedelt worden.18 Die Annäherung der Alten an die Neue Welt stand, so Alexander von Humboldt, auf der historischen Tagesordnung, aber wie sie geschah, blieb sie vom Zufall regiert. Wenn der Begriff der Entdeckung sich in Wolkendunst zu verflüchtigen scheint, so birgt ein robusteres Merkmal des Amerikanischen Modells, die Eroberung, weniger Schwierigkeiten. Charakteristisch für das europäische Vorgehen in allen Teilen Amerikas, einschließlich der Karibik, war, wie Urs Bitterli sagt, die »Gleichsetzung von Entdeckung und Aneignung«.19 Aneignung hieß stets Verfügung über Menschen und Sachen. Der herrschaftsfreie Kulturkontakt, von dem irenisch gesinnte Geister immer wieder geträumt haben, die paradiesische Frische beiderseitiger Freundlichkeit: Es hat dergleichen in Amerika nicht gegeben und später als einen länger andauernden Zustand nirgends, wo Europäer in zielstrebigen Kollektiven auftraten. Humboldt hat dies gesehen: »Die Fortschritte des kosmischen Wissens wurden durch alle Gewalttätigkeiten und Greuel erkauft, welche die sogenannten zivilisierenden Eroberer über den Erdball verbreiten.«20 Er selbst kritisierte in seinem großen Reisewerk, das auf der Grundlage seines Amerika-Aufenthalts der Jahre 1799 bis 1805 entstand, das spanische Kolonialsystem mit einer Detailkundigkeit und Präzision, die seine Analyse viel gefährlicher machte als noch so volltönende antikolonialistische Gesinnungsbekundungen. Die englische East India Company wußte, was sie tat, als sie Humboldts Gesuch um Genehmigung einer Reise nach Indien und Zentralasien abschlug.21

III. Humboldt hätte in Indien koloniale Zustände angetroffen, die sich bei manchen Gemeinsamkeiten von denen in Spanisch-Amerika erheblich unterschieden. Auch war im europäischen Bewußtsein und in der europäischen Literatur eine Auffassung von Indien verankert, die derjenigen von Amerika nicht nur inhaltlich kaum nahestand. Denn es hatte kein indisches Gegenstück zu den beiden großen Amerikadebatten der frühen Neuzeit gegeben: der theologisch-juristischen Mönchskontroverse des 16. Jahrhunderts22 und der Diskussion unter 18 Ebd., S. 244. 19 Bitterli, Entdeckung Amerikas, S. 14. 20 Humboldt, Kosmos, S. 276. 21 Vgl. zu dieser strittigen Episode: H. Beck, Alexander von Humboldt. Bd. 2: Vom Reisewerk zum »Kosmos«, 1804–1859, Wiesbaden 1961, S. 52. 22 Vgl. aus einer umfangreichenen Literatur zusammenfassend A. Pagden, The Fall of Natural Man: The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge 1982, bes. Kap.

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Aufklärungsphilosophen um die physische und anthropologische Minderwertigkeit Amerikas.23 Die Eroberung großer Teile Indiens durch die Briten, die um 1818 einen vorläufigen Abschluß fand, war von eher kolonialpragmatischen Meinungsverschiedenheiten begleitet, bei denen es weniger um das Wesen der Inder und ihrer Kultur als darum ging, wie man sie zum Nutzen der britischen Nation behandeln solle.24 Erst nach der Jahrhundertwende, als man mit dem Sanskritstudium hinreichende Fortschritte machte, entbrannte ein ins Grundsätzliche gehender Streit zwischen den romantischen Lobrednern des alten brahmanischen Indien und seinen utilitaristischen Verächtern.25 Der indische Fall weicht so deutlich vom lateinamerikanischen ab, daß man von einem zweiten »Muster« der europäischen Expansion sprechen kann. Gemeinsam ist beiden die militärische Gewaltanwendung großen Stils,26 verbunden mit der vorübergehenden Prominenz von Conquistadortypen, die vom Streben nach Ruhm und Reichtum getrieben wurden. Robert Clive, der den Höhepunkt seiner Laufbahn zwischen 1757 und 1765 erreichte, ist das prägnanteste britisch-indische Beispiel. Das demographische Netto-Ergebnis solcher Gewaltanwendung war freilich weniger dramatisch als im amerikanischen Fall. Ein wichtiger Grund liegt darin, daß sich in Indien – wie überall in der Alten Welt – der »Mikrobenschock« oder überhaupt die schädlichen Folgen eines »ökologischen Imperialismus« viel weniger krass bemerkbar machten als in Amerika, wo mehr Indianer durch Krankheiten als durch das Schwert umkamen. Auch vermieden die Briten in der Regel solche genozidähnlichen Greueltaten, wie ihre eigene Propaganda sie den Spaniern gerne vorwarf.

4–5. Grundlegend immer noch: L. U. Hanke, Aristotle and the American Indians, Bloomington 1959; J. Hoeffner, Kolonialismus und Evangelium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 19723. Ein bedeutender interpretierender Aufsatz ist J. H. Elliott, The Discovery of America and the Discovery of Man, in: Ders., Spain and Its World 1500–1700: Selected Essays, New Haven 1989, S. 42–64. 23 Vgl. A. Gerbi, The Dispute of the New World: The History of a Polemic, 1750–1900, transl. by J. Moyle, Pittsburgh 1973; S. Landucci, I filosofi e i selvaggi 1580–1780, Bari 1972, bes. Kap. 5. 24 Nicht zufällig wurde diese Diskussion weithin auf dem Felde der Politischen Ökonomie geführt. Vgl. W. J. Barber, British Economic Thought and India 1600–1858: A Study in the History of Development Economics, Oxford 1975; S. Ambirajan, Classical Political Economy and British Policy in India, Cambridge 1978; R. Guha, A Rule of Property for Bengal: An Essay on the Idea of Permanent Settlement, Paris 1963. 25 Vgl. E. Stokes, The English Utilitarians and India, Oxford 1959; G. D. Bearce, British Attitudes towards India 1784–1858, London 1961; L. Zastoupil, John Stuart Mill and India, Stanford 1994, S. 31–50; Ders. u. M. Moir (Hg.), The Great Indian Education Debate: Documents Relating to the Orientalist-Anglicist Controversy, 1781–1843, London 1999; J. Clive, Macaulay: The Shaping of the Historian, New York 1973, S. 342–399; J. Rosselli, Lord William Bentinck: The Making of a Liberal Imperialist, Berkeley 1974, S. 208–221. 26 Vgl. für Indien S. Förster, Die mächtigen Diener der East India Company. Ursachen und Hintergründe der britischen Expansionspolitik in Südasien 1793–1819, Stuttgart 1992.

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Die militärische, auf planmäßige Reichsbildung abzielende Phase des europäischen Vordringens steht in Indien am Ende eines langen Infiltrationsprozesses. Gleich nach der Ankunft Vasco da Gamas in Calicut 1498 hatte der europäische Seehandel mit Indien begonnen, in den sich nach der Gründung der East India Company im Jahre 1600 langsam auch die Engländer einschalteten. Dieser Handel war ein bewaffneter Handel von militärisch gesicherten Stützpunkten aus, der vielfach ohne Duldung und Mitwirkung örtlicher Machthaber an der Küste nicht möglich gewesen wäre. Der großen Landmacht des Mogulreiches konnte er wenig anhaben.27 Erst als seit dem frühen 18. Jahrhundert die Macht des Großmoguls in Agra zerfiel und sich in Indien ein dezentrales, ziemlich instabiles System der politischen Kräfte herausbildete, eröffnete sich für die europäischen Handelsgesellschaften die Chance, bei diesem Machtspiel mitzumischen.28 Die Basis ihrer jeweiligen militärischen Apparate bildeten indische Hilfstruppen. Die einheimische Kollaboration, die schon bei der Eroberung Mexikos und Perus eine gewisse Rolle gespielt hatte, wurde in Indien entscheidend. Hier finden wir deutlich, wenngleich in den Berichten nicht mit der gläubigen Emphase der spanischen Chronisten vermerkt, die Magie der Minderheit. Die Europäer, namentlich die schließlich die Oberhand behaltenden Briten, fielen also nicht – wie die Leute des Cortés – aus heiterem Himmel über eine ahnungslose einheimische Bevölkerung her, sondern waren in Indien bestens bekannt. Indien wurde nicht durch eine Invasion von außen erobert, sondern – ein wenig nach dem Prinzip des Kuckucks im fremden Nest – durch eine (gewisse wirtschaftliche und taktische Vorteile genießende) Regionalmacht, die sich von ihrem peripheren Stützpunkt Bengalen aus Hegemonie und Herrschaft über den Subkontinent erkämpfte. Europäische Gewalt kam also recht allmählich ins Spiel – und dies in einer ohnehin militarisierten einheimischen Umwelt. Von einer Korruption eines friedfertig-unbefangenen Erstkontakts kann daher kaum gesprochen werden. Überhaupt fehlt im europäischen Verhältnis zu Indien das Pathos des Unverhofften. Von verläßlichem imaginativem Reiz ist die Szene, in der das makedonische Heer sich 326 v. Chr. im Norden des heutigen Pakistan den Kriegselefanten des Königs Poros gegenüber sah.29 Aber wir haben keinen Bericht von einem »Erstkontakt« zwischen Europäern und Indern in historischer Zeit. Dafür ist der indische Abschnitt des Alexanderzuges bei antiken Autoren verhält27 Vgl. als Zusammenfassung einer reichen Forschung K. N. Chaudhuri, Trade and Civilisation in the Indian Ocean: An Economic History from the Rise of Islam to 1750, Cambridge 1985, S. 80– 118. 28 Dies zeigt am wichtigsten regionalen Beispiel: P. J. Marshall, Bengal: The British Bridgehead. Eastern India 1740–1828, Cambridge 1987. 29 Die Szene schildert, nach dem Bericht des Arrian: A. B. Bosworth, Conquest and Empire: The Reign of Alexander the Great, Cambridge 1988, S. 127–129.

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nismäßig breit dokumentiert. Vasco da Gama brauchte also Indien nicht zu »entdecken«. Es genügte, daß er eine praktikable Schiffsroute dorthin fand. Wenn es so etwas wie eine »Entdeckung« – Urs Bitterli würde sicher sagen: »Erkundung« – Indiens gegeben hat, dann in einem ganz anderen, einem doppelten Sinne. Die am Ende des 18. Jahrhunderts beginnende Vermessung des Subkontinents war eine der großen Leistungen moderner Geodäsie und Kartographie. Gleichzeitig, sogar in ihrem Beginn genau datierbar mit der Gründung der Asiatic Society of Bengal durch den genialen Philologen und Oberrichter von Kalkutta Sir William Jones im Jahre 1784, kam es zur Erschließung der altindischen literarischen und religiösen Überlieferung.30 Allein der Buddhismus, eine für Europäer offenbar besonders schwer zugängliche Religion, wurde erst im 19. Jahrhundert aus den originalen Schriftquellen dargestellt. Die Literatur spricht hier mit Bedacht von »discovery« des Buddhismus und auch des Hinduismus.31

IV. Wiederum anders gestaltet sich das Verhältnis zwischen Entdeckung und Eroberung in einem dritten Muster. Es ist gekennzeichnet durch eine ziemlich abrupte und spektakuläre geistige »Entdeckung«, die eine ganz eigentümliche Welt für Europa erschloß, in der Dramatik der Neuheit nur dem AmerikaErlebnis ebenbürtig. Zugleich fehlen jedoch Gewaltanwendung, Eroberung, Besiedlung und Koloniebildung völlig. Haben wir es in Indien, grob gesagt, mit verzögertem Imperialismus ohne eigentliche »Entdeckung« zu tun, so jetzt mit ausgiebiger Entdeckung und Erkundung ohne Imperialismus. Gemeint ist Ostasien, Japan mehr noch als China. Über China wußte man am Beginn der Frühen Neuzeit einiges recht Genaue aus Marco Polos Bericht, über Japan eigentlich kaum mehr, als daß es existierte und ein ungemein reiches Land sein mußte. Dort war anscheinend nie ein Europäer gewesen. Die Entdeckung oder Wieder-Entdeckung der ostasiatischen Reiche – Korea blieb bis 1876, als Japan die Öffnung von drei

30 Vgl. G. Cannon, The Life and Mind of Oriental Jones: Sir William Jones, the Father of Modern Linguistics, Cambridge 1992, S. 195ff. Über die Sonderentwicklung des romantischen Indienbildes in Deutschland vgl. A. L. Willson, A Mythical Image: The Ideal of India in German Romanticism, Durham, N.C. 1964; W. Halbfass, Indien und Europa. Perspektiven ihrer geistigen Begegnung, Basel 1981, S. 86ff. Unübertroffen als inspirierte Synthese ist R. Schwab, La renaissance orientale, Paris 1950. Vgl. auch M. Adas, Machines as the Measure of Men: Science, Technology, and Ideologies of Western Dominance, Ithaca 1989, S. 95–108. 31 P. J. Marshall (Hg.), The British Discovery of Hinduism in the Eighteenth Century, Cambridge 1970; P. C. Almond, The British Discovery of Buddhism, Cambridge 1988; daneben immer noch H. de Lubac, S.J., La recontre du Bouddhisme et de l’Occident, Paris 1952.

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Hafenstädten erzwang, völlig verschlossen!32 – ist ein Verdienst der Jesuiten. Schon 1548, fünf Jahre nachdem erstmals portugiesische Seeleute nach Japan verschlagen worden waren und davon kurz berichteten, traf Franz Xaver, einer der Mitbegründer der Societas Iesu, über Goa und Malakka in Japan ein. Damit begannen intensive Missionsanstrengungen, die um die Jahrhundertwende durch erste Christenverfolgungen behindert und in den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts durch eine brutale Unterdrückung alles Christlichen und die Abschottung des Landes abrupt beendet wurden.33 Auch in China profitierten die Europäer, wie in Japan, zunächst von der politisch wie kulturell plastischen Situation am Ende einer Dynastie. Hier begann die Jesuitenpräsenz mehr als eine Generation später.34 1582 traf Matteo Ricci, eine der großen Gelehrtengestalten des Zeitalters, an der chinesischen Küste ein. Nach gründlichen Sprachstudien begab er sich 1601 an den Hof des Kaisers zu Peking. Die Jesuiten blieben bis zur Aufhebung ihres Ordens 1773 durch den Papst in China, verloren dort aber seit spätestens 1720 an Einfluß und hatten mit wachsender Christenfeindlichkeit zu kämpfen. Es kam freilich in China niemals zu Verfolgungen vom Ausmaß der japanischen. Auch wurde das chinesische Kaiserreich nie ganz so gründlich gegen die Außenwelt abgeschlossen wie Japan.35 In Japan durfte seit 1639 allein die Holländische Ostindische Kompanie unter extrem restriktiven Bedingungen Handel treiben. In China handhabte man die Kontrolle der Fremden um einiges lockerer, ließ Kaufleute aber nicht aus den südchinesischen Küstenstädten hinaus; nur der russische Karawanenhandel hatte Zutritt zur Hauptstadt. Abgesehen von wahnwitzigen spanischen Plänen, von Manila aus in einer Art von Conquistadoren-Hand32 Ki-baik Lee, A New History of Korea, Cambridge, Mass. 1984, S. 268f. Die ersten direkten Nachrichten aus Korea stammten von dem Holländer Hendrik Hamel, den 1653 ein Schiffbruch nach Korea verschlug. Vgl. seinen Bericht in G. Ledyard, The Dutch Come to Korea, Seoul 1971, S. 171–226. 33 Vgl. die monumentale Dokumentation P. Kapitza (Hg.), Japan in Europa. Texte und Bilddokumente zur europäischen Japankenntnis von Marco Polo bis Wilhelm von Humboldt, 2 Bde. und Begleitband, München 1990. Zur Jesuitenmission im Überblick: J. Elisonas, Christianity and the Daimyo, in: J. W. Hall (Hg.), The Cambridge History of Japan. Bd. 4: Early Modern Japan, Cambridge 1991, S. 301–372. Zur Präsenz europäischer Kaufleute vgl. D. Massarella, A World Elsewhere: Europe’s Encounter with Japan in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, New Haven 1990; G. K. Goodman, Japan: The Dutch Experience, London 1986. Vgl. auch J. Kreiner, Das Bild Japans in der europäischen Geistesgeschichte, in: Japanstudien, Jg. 1, 1990, S. 13–42. 34 Über die Jesuiten in China gibt es eine außergewöhnlich umfangreiche Literatur. Als Überblick vgl. J.-P. Duteil, Le mandat du ciel: Le rôle des Jésuites en Chine, Paris 1994; Umfassend zum europäischen Chinabild R. Étiemble, L’Europe chinoise, 2 Bde., Paris 1988–89; W. Demel, Als Fremde in China. Das Reich der Mitte im Spiegel frühneuzeitlicher europäischer Reiseberichte, München 1992; D. F. Lach u. E. K. Van Kley, Asia in the Making of Europe, Bd. 3: A Century of Wonder. Teilbd. 4: East Asia, Chicago 1993. 35 Zu den chinesischen Außenbeziehungen vor der »Öffnung« durch den Opiumkrieg von 1840–42 vgl. J. Osterhammel, China und die Weltgesellschaft. Vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit, München 1989, S. 86–124.

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streich das Imperium der Ming-Dynastie zu bezwingen,36 dachte kein Europäer der Frühen Neuzeit an Militäraktionen gegen Japan und China. Sie hätten nicht die mindeste Chance gehabt. Daß in Ostasien auf die Entdeckung keine Eroberung folgte, liegt nicht an einer gebremsten europäischen Aggressionsdynamik, sondern an der Stärke der einheimischen Regime. Beide bewältigten die Dynastiewechsel um 1600 zur Tokugawa-Dynastie und 1644 von den einheimischen Ming zu den mandschurischen Qing zwar nicht ohne größere Turbulenzen, aber doch so, daß nicht, wie in Indien nach dem Tode des Großmoguls Aurangzeb 1707, ein Machtvakuum entstand, das die Ausländer sich hätten zunutze machen können. Keine Chance also für die europäische Ritterschaft. Die Jesuiten – zunächst Spanier, Portugiesen und Italiener, seit den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts in China vornehmlich Franzosen – berichteten mit ungemeiner Akribie und Ausführlichkeit aus dem Fernen Osten. Sie erlernten die einheimischen Sprachen passiv und aktiv und fertigten Wörterbücher und Grammatiken an.37 Sie übersetzten europäische Texte, vorab natürlich die Bibel, in die Landessprachen und umgekehrt Chinesisches und Japanisches ins Lateinische. In detaillierten Briefen an die Ordenszentralen berichteten sie von Land, Leuten und politischen Zuständen. In China konnten Jesuiten zu hohen Hofwürden aufsteigen, besonders im Astronomischen Amt; der Kaiser Kangxi ließ sie um 1700 sein gesamtes Reich kartographieren. In Japan hatten sie zwar keinen Zugang zu den Shogunen, also zur zentralen Staatsmacht, dafür aber einen direkteren Kontakt zur einfachen Bevölkerung. Viel von diesem Material, besonders über Japan, blieb unveröffentlicht; manches andere aber wurde redigiert, publiziert, in andere europäische Sprachen übersetzt und europaweit verbreitet. Seit 1615 lag Matteo Riccis empirisch gesättigte chinesische Landeskunde vor: das erste einer langen Reihe ähnlicher Werke.38 Selbstverständlich teilten die Jesuiten viele Vorurteile ihrer Zeitgenossen; unzuverlässig wurden sie oft dann, wenn es um einheimische Religionen ging, mit Ausnahme des Konfuzianismus, der eher eine innerweltliche Lebensführungslehre als ein transzendentes Glaubenssystem ist. Den36 Vgl. C.-L. de la Vega y de Luque, Un proyecto utópico: La conquista de China por España, in: Boletin de la Asociación Española des Orientalistas, Jg. 18, 1982, S. 3–46. 37 Vgl. etwa als Fallstudie: M. Cooper, S.J., Rodrigues the Interpreter: An Early Jesuit in Japan and China, New York 1974. 38 Die deutsche Ausgabe erschien zwei Jahre nach dem lateinischen Original: Matteo Ricci u. Nicholas Trigault, Historia von Einfuehrung der Christlichen Religion in das grosse Königreich China durch die Societet Iesu [...], Augsburg 1617. Leicht zugänglich ist heute eine französische Ausgabe: Dies., Histoire de l’expédition chrétienne au royaume de la Chine 1582–1610. Etablissement du texte et annotations par G. Bessière, Paris 1978. Die wichtigsten unter den späteren Werken: Martin Martini, Novus Atlas Sinensis, Antwerpen 1655; Louis Le Comte, Nouveaux mémoires sur l’état present de la Chine, 2 Bde., Paris 1696; Jean-Baptiste Du Halde, Description géographique, historique, chronologique et politique de l’Empire de la Chine et de la Tartarie chinoise, 4 Bde., Paris 1735; Abbé Grosier, Description générale de la Chine, ou Tableau de l’état actuel de cet empire, Paris 1785.

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noch erhielt die europäische Gelehrtenwelt ein ziemlich akkurates Bild Ostasiens. Dazu trug im Falle Japans der Umstand bei, daß über dieses Land auch Nicht-Missionare sorgfältig berichteten. Die Vertreter der Holländischen Ostindischen Kompanie standen zwar im Hafen von Nagasaki unter einer Art von permanentem Hausarrest, waren aber verpflichtet, zweimal jährlich dem Shogun, dem wahren Herrscher des Landes, in Edo, dem heutigen Tokyo, ihre Aufwartung zu machen. (Den westlichen Kaufleuten in Südchina war dergleichen, wie gesagt, verwehrt). Wer bei diesen Hofreisen aufpaßte und wer zudem noch japanische Informanten auszuhorchen verstand, der konnte eine Menge erfahren. So entstanden einige vorzügliche Japanberichte auch noch aus der Zeit nach der Vertreibung der Missionare.39 Der berühmteste und einflußreichste ist der des westfälischen Arztes und Naturforschers Engelbert Kaempfer. Kaempfer hielt sich von 1692 bis 1694 in Japan auf. Seine »Geschichte und Beschreibung Japans« erschien 1727 zunächst in einer englischen Fassung und wurde ein Jahrhundert lang als landeskundliches Standardwerk konsultiert.40 Welche Bilder von Japan und China diese Texte im einzelnen zeichneten, soll hier nicht interessieren. Es genügt, die Abweichungen vom Amerikanischen Modell zu verzeichnen. Gewiß gab es einen Kulturschock, aber keinen »anthropologischen Schock« wie in Amerika. Die Ostasiaten wurden nie als »Wilde« und selten – die Japaner offenbar niemals – als »Barbaren« bezeichnet. Es verstand sich von selbst, daß man es mit Zivilisationen zu tun hatte, die der europäischen zumindest ebenbürtig waren – abgesehen von der Religion, versteht sich. Das ethnisch-rassische Element kam nur sehr langsam ins Spiel. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Chinesen und vor allem die Japaner, die man anfangs für das helle Weiß ihr Haut anschwärmt, sich in den europäischen Texten allmählich verfärben, bis sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts in europäischen Augen »gelb« geworden sind.41 Der Erstkontakt mit allem, was in Amerika an Wünschen und Ängsten an ihm hing, scheint in der rückblickenden Rechenschaft keine besondere Rolle gespielt zu haben. Franz Xaver und Matteo Ricci konnten niemandem, wie Kolumbus den Bewohnern der Bahamas, mit Glasperlen und bunten Kappen imponieren oder damit rechnen, als Weiße Götter bestaunt zu werden. Sie mußten achtgeben, daß sie nicht im nächstbe39 Aus dem frühen 17. Jahrhundert vor allem der 1645 auf Holländisch erschienene Japanbericht des für die Holländische Ostindienkompanie in Japan tätigen Hugenotten François Caron: F. Caron, Beschreibung des mächtigen Königreichs Japan, hg. v. D. Haberland, Stuttgart 2000; Auszüge (in zeitgenössischer deutscher Übersetzung) auch in Kapitza, Japan in Europa, Bd. 1, S. 533– 563. 40 E. Kaempfer, Geschichte und Beschreibung Japans. Aus den Originalhandschriften des Verfassers hg. v. C. W. Dohm, 2 Bde., Lemgo 1777–79, Nachdruck Stuttgart 1964. Vgl. auch D. Haberland, Von Lemgo nach Japan. Das ungewöhnliche Leben des Engelbert Kaempfer 1651 bis 1716, Bielefeld 1990. 41 Vgl. W. Demel, Wie die Chinesen gelb wurden. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Rassentheorien, in: HZ, Jg. 255, 1992, S.625–666.

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sten Gefängnis landeten. Dies oder noch Schlimmeres hatten Fremde bis 1842 in China und bis 1854 in Japan zu gewärtigen. Der alte Immanuel Kant, der 1795 für eine allgemeine Hospitalität auf der Welt warb, hatte dennoch ein gewisses Verständnis für die strenge Fremdenpolitik der Chinesen und Japaner: »Vergleicht man hiemit [mit dem Idealzustand friedlicher Gastlichkeit] das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Weltteils, so geht die Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen, bis zum Erschrecken weit.«42

Die Ostasiaten hätten »weislich« den Zugang zu ihren Ländern beschränkt und aus guten Gründen das Prinzip der Freizügigkeit außer Kraft gesetzt.43 Kant – wie vor ihm Voltaire44 – folgt hier Kaempfers Ansicht, der seinem Japanwerk einen (schon 1713 vorab auf Lateinisch veröffentlichten) »Beweis, daß im Japanischen Reiche aus sehr guten Gründen den Eingeborenen der Ausgang, fremden Nationen der Eingang, und alle Gemeinschaft dieses Landes mit der übrigen Welt untersagt sey« beigefügt hatte.45 Zweifellos handelt sich bei der »Begegnung« zwischen Ost und West in Ostasien primär um »Kulturkontakt«, wie man heute oft sagt. Aber die Kultur konnte nur deshalb so stark in den Vordergrund treten, weil die einheimischen Herrscher das politische Heft in der Hand behielten. Ein weiteres ist an Ostasien bemerkenswert. So genau wie nirgendwo sonst in der Frühen Neuzeit kann man hier die oft eingeklagte »Sicht der Anderen« rekonstruieren. Wir wissen inzwischen nicht nur, was die Jesuiten von den chinesischen Mandarinen dachten, sondern auch, wie man die Dinge in umgekehrter Richtung sah.46 Noch reicher ist das Bild für Japan. Schon 1952 veröffentlichte Donald Keene seine Pionierarbeit »The Japanese Discovery of Europe«.47 Er meint damit nicht die Eindrücke des ersten Japaners, der – im Jahre 1555 – nach Rom gelangte,48 sondern die Europastudien, die seit etwa 42 I. Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Ders., Werke in zehn Bänden, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1970, Bd. 9, S. 195–251, hier S. 214. 43 Ebd., S. 216. 44 Zitiert bei Kapitza, Japan in Europa, Bd. 2., S. 468f. 45 Kaempfer, Geschichte und Beschreibung, Bd. 2, S. 394–414. 46 Vgl. J. Gernet, Chine et christianisme: Action et réaction, Paris 1982; J .B. Henderson, Ch’ing Scholars’ Views of Western Astronomy, in: HJAS, Jg. 46, 1986, S. 121–148. 47 D. Keene, The Japanese Discovery of Europe, 1720–1830, Stanford 19692. Vgl. auch Goodman, Japan, Kap. 5–15; M. B. Jansen, Japan in the Early Nineteenth Century, in: Ders. (Hg.), The Cambridge History of Japan. Bd. 5: The Nineteenth Century, Cambridge 1989, S. 50–115, bes. S. 87–111. 48 Kapitza, Japan in Europa, Bd. 1, S. 100f. 1582 brachen dann vier japanische Adlige auf, um dem Papst in Rom ihre Aufwartung zu machen. Die Gesandtschaft war ein großer publizistischer Erfolg für die Jesuitenmission. Vgl. A. Boscaro, Sixteenth-Century European Printed Works on the First Japanese Mission to Europe: A Descriptive Bibliography, Leiden 1973.

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1720 in Japan gründlich betrieben wurden. Die Japaner besorgten sich über die Holländische Ostindien-Kompanie in beträchtlichem Umfang medizinische, naturkundliche und technologische Fachliteratur in holländischer, später auch in englischer Sprache. Sie wurde systematisch ausgewertet. Die Japaner haben die Europäer gewiß belustigt angestaunt, aber sich nicht allzu tief von ihnen beeindrucken lassen. Letztlich sind die Weißen ihnen aber wohl doch als arge Barbaren und obendrein als ziemlich häßlich erschienen. Anders als die Chinesen, die sich von den Missionaren Kalender ausrechnen, Bilder malen und Stücke auf dem Cembalo vorspielen ließen, ohne sich danach selbst um die Aneignung solcher Fertigkeiten zu bemühen, haben es die Japaner aber nicht verschmäht, von den Fremden nützliche Dinge zu lernen und sie praktisch anzuwenden. Als 1860 die erste japanische Delegation in die USA reiste, waren ihr zur Überraschung der Gastgeber viele der technischen Verfahren, die sie zu sehen bekamen, bereits aus der Literatur vertraut.49 Einiges an westlicher Technologie war bereits vor der Öffnung des Landes im Jahre 1854 nachgebaut, installiert und in Betrieb genommen worden.50

V. Ein viertes Muster findet sich vornehmlich im nahöstlich-islamischen Raum. Gegensatz wie Verbindung zum amerikanischen Fall sind hier besonders groß. Die Verbindung ist offensichtlich und wohlbekannt: Die Eroberung Amerikas setzte in vielem die spanische Reconquista gegenüber den Mauren auf der iberischen Halbinsel fort. Ähnliche gesellschaftliche Interessen, persönliche Motive und ideologische Rechtfertigungen finden sich auf den Schauplätzen beiderseits des Atlantik. Im gesamteuropäischen Rahmen indessen verlagern sich die Gewichte ein wenig. Nur in Spanien und nirgendwo sonst konnten die christlichen Mächte nach der Vertreibung der letzten Kreuzfahrer aus Palästina um 1300 nennenswerte Erfolge verbuchen.51 Im östlichen Mittelmeer sahen sie sich seit langem in der Defensive. Die Wiederbelebung der Reconquista war nicht allein eine Folge der Vereinigung der Kronen von Kastilien und Aragon im Jahre 1479, sondern auch eine Reaktion auf die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen ein Vierteljahrhundert zuvor: das machtpolitische Ende des Mittelalters. Erst spät im 17. Jahrhundert – 1683 mißriet den Türken die

49 Dies berichtet ein prominenter Teilnehmer der Gesandtschaftreise: Fukuzawa Yukichi, Eine autobiographische Lebensschilderung, dt. v. G. Linzbichler, Tokio 1971, S. 133–137. 50 Vgl. E. Pauer, Japans industrielle Lehrzeit, Bonn 1983. 51 Einen Überblick über die zahlreichen Schauplätze christlich-islamischen Konflikts im Spätmittelalter gibt J. Riley-Smith, The Crusades: A Short History, London 1987, S. 208–240; vgl. auch N. Housley, The Later Crusades 1274–1580: From Lyons to Alcazar, Oxford 1992.

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Belagerung Wiens – begannen sich allmählich die machtpolitischen Verhältnisse zuungunsten der muslimischen Welt zu verschieben. Das christliche Europa hat in der Frühen Neuzeit den Islam nicht imperial beherrschen können. Nirgendwo gerieten islamische Populationen nennenswerten Umfangs unter christliches Regiment. Auf dem Balkan war sogar das Gegenteil der Fall. Der osmanische Sultan wurde zum Oberherrn zahlreicher nichtmuslimischer Völker, denen in der Regel weder der Islam noch die türkische Kultur aufgezwungen wurden.52 Erst mit der französischen Besetzung von Algier 1830 begann, sehr allmählich, die Epoche direkter europäischer Herrschaft in der islamischen Welt. Ebensowenig gelang es der katholischen oder protestantischen Mission, im Orient Fuß zu fassen. Der Abfall vom Islam wird bekanntlich mit dem Tode bestraft. Renegatentum war selten, viel seltener als der Übertritt von Christen im Osmanischen Reich und in den (dem Sultan nominell unterstehenden) Barbareskenstaaten Nordafrikas zum Islam. In der Regel haben islamische Staaten in ihrem Herrschaftsbereich christliche (d.h. meist ostkirchliche) Gemeinschaften gegen Zahlung der im Koran (Sure 9, 29) vorgesehenen Sondersteuer für Nichtmuslime (gizya) geduldet.53 Wie das Schicksal der Araber auf Sizilien oder der Mauren und später der Morisken in Spanien zeigt, hatten umgekehrt muslimische Bevölkerungsgruppen in christlichen Ländern längerfristig keine Überlebenschancen. Wie Europa den Islam nicht zu beherrschen vermochte, so hat es ihn eigentlich auch nicht »entdeckt«. An geographischen »Entdeckungen« im kolumbianischen Sinne bestand im Bereich der antiken Hochkulturen des Mittelmeerraumes ohnedies kein Bedarf. Bis hin zu den Wüsten Nordafrikas und Arabiens waren diese Gegenden im Groben bekannt. Der im frühen 7. Jahrhundert entstehende Islam selbst wartete nicht auf Europäer, die ihm zufällig begegneten oder die den Kontakt zu ihm suchten. Er rückte den Bewohnern des Nordens direkt auf den Leib. Hundert Jahre nach dem Auszug des Propheten von Mekka nach Medina überschritten muslimische Heere die Straße von Gibraltar und errichteten bald darauf eigene Staatswesen auf der iberischen Halbinsel. Italien, Südfrankreich und selbst der Alpenraum waren bis zur Jahrtausendwende immer wieder den Übergriffen sarazenischer Kommandotrupps ausgesetzt. Zu einem tieferen Interesse am Islam als Religion und Lebensform fehlte einstweilen der Anlaß. Drastische Erfahrungen nährten das Feindbild von der »gens perfida Saracenorum«.54

52 R. Mantran u.a., Histoire de l’Empire Ottoman, Paris 1989, S.136; E. Hösch, Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 1988, S. 94–96. 53 Vgl. A. Noth, Früher Islam, in: U. Haarmann (Hg.), Geschichte der arabischen Welt, München 1987, S. 64–66. 54 Vgl. dazu grundlegend: E. Rotter, Abendland und Sarazenen. Das okzidentale Araberbild und seine Entstehung im Frühmittelalter, Berlin 1986.

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Auch als dann 1095 mit dem Aufruf zum Ersten Kreuzzug christliche Kirche und Ritterschaft zum Gegenangriff übergingen, blieb eine intellektuelle Entdeckungserfahrung auf seltene inviduelle Ausnahmen beschränkt. Aus den Kreuzfahrerstaaten in Palästina – europäischen Kolonien avant la lettre55 – ging weder eine vertiefte Islamkenntnis56 noch gar eine europäisch-arabisch-jüdische Kultursynthese hervor, wie sie zeitweise – und stets auf prekären Grundlagen – in Spanien gelang.57 Ein tieferes Interesse am Islam ergab sich erst, als der Angriffsschwung der Kreuzzüge durch den Widerstand der Muslime gebrochen war und die Kirche sich auf eine sorgfältigere Apologie des Christentums einzulassen begann.58 Von der ersten Übersetzung des Korans ins Lateinische 1142 bis in die frühen Jahre des 14. Jahrhunderts dauerte eine Phase der ersten partiellen Entdeckung des Islam im christlichen Europa. Einige Autoren der Hochscholastik setzten sich ernsthaft und gründlich mit der gerade durch ihre theologische Nähe zum Christentum so bedrohlichen Religion der Araber auseinander. Im Spätmittelalter kam es zu einer Entdifferenzierung der Islamwahrnehmung. Erst im 16. Jahrhundert knüpfte man wieder an das Niveau des 13. Jahrhunderts an, nun aber weniger von der Theologie als von der neu entstehenden arabischen Philologie ausgehend, wie sie in Holland, Frankreich und England betrieben wurde.59 Viele Stereotype und Irrtümer über den Islam und seinen Propheten hielten sich jedoch zäh. Erst das 18. Jahrhundert gelangte hier zu einem offeneren Urteil.60 Mehr als für die Religion der Muslime interessierte man sich in der Frühen Neuzeit allerdings für die weltlichen Quellen ihrer Macht. Während man die politische Ordnung Chinas, verstanden als Herrschaft weiser Mandarine unter bewährten Gesetzen, zeitweise mit der Absicht studierte, ihre Vorzüge für Eu55 Diesen Aspekt hat in vielen seiner Schriften Joshua Prawer betont, präzise zusammenfassend in: J. Prawer, The Roots of Medieval Colonialism, in: V. P. Goss (Hg.), The Meeting of Two Worlds, Kalamanzoo, Mich. 1986, S. 23–38. 56 Mit der einzigen Ausnahme des Wilhelm von Tyrus, in den Jahren 1174–84 Kanzler des Königreichs Jerusalem. Vgl. R. C. Schwinges, Kreuzzugsideologie und Toleranz. Studien zu Wilhelm von Tyrus, Stuttgart 1977. 57 Vgl. R. I. Burns, Muslims, Christians, and Jews in the Crusader Kingdom of Valencia: Societies in Symbiosis, Cambridge 1984, S. 174ff. Vgl. die umfassende Enzyklopädie der muslimischen Erfahrung in Spanien: S. K. Jayyusi (Hg.), The Legacy of Muslim Spain, Leiden 1993 (= Handbuch der Orientalistik, Abt. 1, Bd. 12). 58 Zur Islamsicht des Hochmittelalters vgl. N. Daniel, Islam and the West: The Making of an Image, Edinburgh 1960; R. W. Southern, Das Islambild des Mittelalters, dt. v. S. Höfer, Stuttgart 1981; W. M. Watt, Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter, dt. v. H. Fließbach, Berlin 1988. 59 J. Fück, Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955, S. 29ff. 60 Vgl. etwa D. A. Pailin, Attitudes to Other Religions: Comparative Religion in 17th- and 18th-Century Britain, Manchester 1984, S. 81–104; M. Rodinson, Die Faszination des Islam, dt. v. I. Riesen, München 19912, S. 64–71.

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ropa nutzen zu können, betrachtete man das näher liegende Osmanische Reich mit dem kühlen Blick des militärischen Gegners.61 Erst als sein Stern zu sinken begann und es auf scharfe Realitätswahrnehmung nicht mehr so sehr ankam, konnte man sich ein eher romantisierendes Orientbild leisten. So war die europäische Annäherung an die benachbarte islamische Zivilisation keine plötzliche Offenbarung einer neuen Welt wie im Falle Japans oder dem der Entschleierung des sanskritischen Indien seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, sondern ein Jahrhunderte währender, diskontinuierlicher Prozeß.

VI. Das fünfte Modell im Spannungsfeld von Neugier und Gewalt ist jenes, mit dem dieser Aufsatz begann. Nach Lateinamerika, Indien, Ostasien und dem Islamischen Bereich nun abermals die Südsee und die sogenannten Wilden. James Cook und die Mitreisenden auf seinen drei Expeditionen in den Südpazifik, darunter der berühmte deutsche Naturforscher Johann Reinhold Forster – Lichtenberg nennt ihn »den außerordentlichsten Mann, den ich fast in England gesehen habe«62 – und sein Sohn Georg, waren Profis der Exploration: Leute, die wußten, was sie wollten, ahnten, was sie erwartete, und die auf beinahe alle geistigen und logistischen Eventualitäten vorbereitet waren. Cook reiste zu einer Zeit, als England die nordamerikanischen Kolonien noch nicht ganz verloren hatte und gleichzeitig im Begriffe stand, Indien zu gewinnen. Sein exakter Generationsgenosse war Warren Hastings: nicht der militärische Gründer (das war der bereits erwähnte Robert Clive), aber doch der politische Schöpfer des indischen Empire. Mithin war Cook ein Agent der führenden kolonialistischen Macht der Erde. Sein Auftrag war indessen ein primär wissenschaftlicher. Zunächst sollten astronomische Beobachtungen angestellt werden, dann standen botanische und zoologische Untersuchungen auf dem Programm, und schließlich wollte man die Gelegenheit nutzen, so viel wie möglich über die »Sitten und Gebräuche« der Bewohner der Südsee zu erfahren. Daß die Kartographierung der südlichen Meere der führenden Seemacht der Welt auch irgendwie nützlich sein würde, war offensichtlich, doch hatte 61 Zur europäischen Wahrnehmung des Osmanischen Reiches vgl. R. Schwoebel, The Shadow of the Crescent: The Renaissance Image of the Turk (1453–1517), Nieuwkoop 1967; B. Beck, From the Rising of the Sun: English Images of the Ottoman Empire to 1715, New York 1987; K. Kreiser (Hg.), Germano-Turcica. Zur Geschichte des Türkisch-Lernens in den deutschsprachigen Ländern, Bamberg 1987; H. Laurens, Les origines intellectuels de l’expédition d’Égypte: L’orientalisme islamisant en France, 1698–1798, Istanbul 1987; S. Yerasimos, Les voyageurs dans l’Empire Ottoman, XIVe-XVIe siècles, Ankara 1991. 62 Lichtenberg an Johann Andreas Schernhagen, 16. Oktober 1775, in: G. C. Lichtenberg, Schriften und Briefe, Bd. 4, München 1967, S. 249. Vgl. M. E. Hoare, The Tactless Philosopher: Johann Reinhold Forster (1729–98), Melbourne 1976 (S. 77ff. über die 2. Cook-Reise).

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Cook darüber hinaus keine direkten »imperialistischen« Aufträge – mit Ausnahme der Generalklausel in den Instruktionen für seine erste Reise, »with the Consent of the Natives to take possession of Convenient Situations in the Country in the Name of the King of Great Britain«.63 Seine Reisen standen in Konkurrenz zu gleichzeitigen Unternehmungen der Franzosen, aber auch ihnen ging es damals nicht um koloniale Landnahme.64 Cook ist in den Augen der späten frühen Neuzeit der Entdecker schlechthin gewesen: das, was Kolumbus oder vielleicht noch deutlicher Magellan für die frühe frühe Neuzeit waren. Sein junger Reisegefährte Georg Forster hat ihm einen der schönsten Essays der deutschen Aufklärungsliteratur gewidmet: »Cook der Entdecker«.65 Vermutlich haben nur der Afrikareisende David Livingstone im 19. Jahrhundert und die Polarforscher der Jahrhundertwende seinen Ruhm wieder erreicht.66 Dieser Ruhm gründet teilweise auf der sehr sorgfältigen literarischen Aufarbeitung der drei Expeditionen, von Cooks eigenen ausführlichen Tagebüchern über Georg Forsters Bericht »Reise um die Welt« bis zu den Erinnerungen des pfälzischen Seemanns Heinrich Zimmermann. Auch mit Stift und Pinsel wurde das Gesehene umfassend festgehalten.67 Das Cooksche Muster unterscheidet sich vom Amerikanischen Modell nicht nur darin, daß die Entdeckung ohne direkte koloniale Folgen blieb, sondern auch in der mentalen Einhegung des Erstkontakts. Cook und seine Leute sind nicht eigentlich überrascht, als sie auf die Bewohner der Südsee treffen. Sie waren auf der Suche nach ihnen, hatten ein ziemlich klares Konzept vom »Wilden« im Kopf und brachten den aufgeklärten Vorsatz mit, diesen »Wilden« behutsam und mit Sympathie entgegenzutreten. Der »Wilde« wird zum Forschungsgegenstand, die Südsee zu einer Art von anthropologischem Freilichtmuseum.68 Die gelehrten Reisenden kontrollieren ihre Gefühle und einige von ihnen, besonders Forster junior, führen Buch über die Zustände ihrer Seele angesichts einer allenthalben als »ursprünglich« empfundenen Natur- und Menschenwelt. Infolge solch wohlpräparierter Reflexivität fehlt bei Cook, den Forsters, Sir Joseph Banks und manch anderen literarisch faßbaren Teilnehmern der Expeditionen im Grunde der »anthropologische Schock«, den wir in 63 Zitiert nach Beaglehole, Life of Captain James Cook, S. 149. 64 Detailliert zur Entdeckungsgeschichte des Pazifik: H. R. Friis (Hg.), The Pacific Basin: A History of Its Geographical Exploration, New York 1967. 65 In: G. Forster, Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. 5, Berlin 1985, S. 191– 302. 66 Am deutschen Beispiel: L. Bodi, James Cook in der deutschen Literatur, in: W. Griep u. H.W. Jäger (Hg.), Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1983, S. 218– 235. 67 Vgl. R. Joppien u. B. Smith, The Art of Captain Cook’s Voyages, 2 Bde., New Haven 1986; B. Smith, Imagining the Pacific: In the Wake of the Cook Voyages, New Haven 1992. 68 Vgl. etwa J. Gascoigne, Joseph Banks and the English Enlightenment: Useful Knowledge and Polite Culture, Cambridge 1994, S. 160ff.

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Amerika feststellten. Er wird zu einer im eigenen europäischen Weltbild genau zu verortenden anthropologischen Differenzwahrnehmung geläutert, der Voraussetzung vergleichender Kulturforschung.69 Von einem sehr grundsätzlichen Standpunkt lassen sich die Cookschen Unternehmungen natürlich kritisieren. Schon Georg Forster beobachtete die Korruption des Erstkontakts: nicht durch Feuer und Schwert, sondern durch die Zügellosigkeiten des Schiffspersonals. Und er seufzt auf: »Es ist würklich im Ernste zu wünschen, daß der Umgang der Europäer mit den Einwohnern der Süd-See-Inseln in Zeiten abgebrochen werden möge, ehe die verderbten Sitten der civilisirten Völker diese unschuldigen Leute anstecken können, die hier in ihrer Unwissenheit und Einfalt so glücklich leben.«70 Die Südsee-Bewohner haben Cook dennoch durchweg günstig beurteilt und seine schonungsvolle Freundlichkeit gelobt.71 Sein Tod auf Hawaii war, je nach Sichtweise, ein Unfall oder die zwangsläufige Folge eines interkulturellen Mißverständnisses, auf jeden Fall kein antikolonialistischer Tyrannenmord, und so wird es in der Region selbst bis heute meist gesehen. Zu Cooks fortwirkender Faszination gehört der Pioniercharakter seiner Unternehmungen am Beginn einer Epoche der wissenschaftlichen Erkundung der Weltmeere, die bis etwa 1840 reicht. Die Cookschen Reisen waren keine Wagnisse unabhängiger Einzelgänger wie gleichzeitig oder wenig später die Reisen von James Bruce zu den Quellen des Nil (1768–73) und von Alexander von Humboldt nach Spanisch-Amerika (1799–1805), sondern aufwendige und kostspielige Projekte des britischen Staates. Wenn er gesollt und gewollt hätte, wäre es Cook vermutlich ein Leichtes gewesen, englische Südseekolonien oder zumindest Missionsstationen zu gründen. Das unterscheidet das Cooksche Muster vom Japanischen. Auch dort sahen wir sozusagen »reine« Entdeckung ohne kolonisatorische Beimischung. Freilich aus ganz anderen Gründen. Der hochgerüstete japanische Feudalismus, verbunden mit so etwas wie einem unerschütterlichen Nationalgefühl, ließ eroberungswütigen Ausländern keine Chance.

VII. Im Spannungsfeld zwischen Entdeckung und Eroberung lassen sich zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert fünf verschieden kombinierte Muster erkennen. Weitere wären denkbar, etwa das Siedlertum in Südafrika und in Nordamerika, eine Situation der landnehmenden Grenzverschiebung mithin, die 69 Vgl. etwa für Georg Forster: E. Berg, Zwischen den Welten. Über die Anthropologie der Aufklärung und ihr Verhältnis zu Entdeckungs-Reise und Welt-Erfahrung mit besonderem Blick auf das Werk Georg Forsters, Berlin 1982. 70 G. Forster, Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. 2, Berlin 1965, S. 254. 71 Vgl. Campbell, History of the Pacific Islands, S. 55.

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weniger zur Conquista lateinamerikanischen oder indischen Typs als zur Verdrängung der Einheimischen führte. Ganz schematisch kann man die fünf Typen so charakterisieren: 1. Entdeckung plus unverzüglicher Eroberung: Süd- und Mittelamerika. 2. Entdeckung ohne Eroberung im Kontakt mit »Wilden«: die Südsee. 3. Entdeckung ohne Eroberung im Kontakt mit »Zivilisierten«: Japan und China. 4. Eroberung ohne zeitlich präzisierbare Entdeckung: Indien. 5. Weder Eroberung noch Entdeckung: der islamische Raum. Die Geschichte hat uns den Gefallen getan, eine Epoche säuberlich abzuschließen und eine neue akkurat zu eröffnen. 1798 erobert Napoleon, um den Erzfeind England an seiner mittelmeerischen Flanke zu treffen, das islamische Ägypten, ohne es zu kolonisieren. Ihn begleitet ein Stab von mehreren Dutzend hochkarätigen Gelehrten aus vielen Disziplinen. Napoleon will ein lebendes Archiv seiner Heldentaten anlegen. Zugleich soll der Feldzug wissenschaftlich organisiert werden. Vor allem will der Korse die ägyptische Oberschicht für sich gewinnen, indem er zu beweisen versucht, daß er für den Islam und nicht gegen ihn kämpft. Landeskunde steht im Dienst von Propaganda und Machtpolitik. Die Forschungsarbeiten, die der General in größtem Stil in Auftrag gibt und die in der gigantischen »Description de l’Égypte«72 münden, führen zu einer zweiten Entdeckung eines Landes, das im Norden zwar geographisch bekannt, aber von Mythen umwoben war. Als erstes außereuropäisches Land liegt Ägypten vor den Augen der fortgeschrittenen europäischen Wissenschaft wie ein aufgeschlagenes Buch. Genau hier sind die Anfänge des modernen imperialistischen Bewußtseins greifbar: in der Verbindung von Macht und Wissenschaft, beim General der Französischen Revolution im Kreise seiner Professoren vor der Pyramide von Gizeh.73

72 Erschienen zwischen 1809 und 1828 in 23 Bänden. Die Bildtafeln des Werkes sind nachgedruckt worden: Description de l’Égypte, Köln 1997. 73 Vgl. H. Laurens u. a., L’Expédition d’Égypte 1798–1801, Paris 1989; Y. Laissus, L’Égypte, une aventure savante 1798–1801, Paris 1998; A. Raymond, Égyptiens et Français au Caire 1798–1801, Kairo 1998. Zur Bedeutung der napoleonischen Expedition vgl. die Bemerkungen bei E. W. Said, Orientalism, London 1978, S. 81–85.

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9. Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas

I. Kulturkontakt Die frühen europäischen »Entdecker« der überseeischen Welt und die philosophischeren unter ihren Eroberern, Hernán Cortés zum Beispiel, waren sich der Tatsache bewußt, nicht auf transhumane Fabelwesen oder auf unstrukturierte Primitivität gestoßen zu sein, sondern auf menschliche Kollektive, deren Lebensführung Zusammenhang und Regelhaftigkeit erkennen ließ, kurz: auf andere Kulturen.1 Gelehrte der Hochrenaissance wie José de Acosta, der Verfasser einer »Historia natural y moral de las Indias« (vollendet 1590)2 und Matteo Ricci, der erste unbefangen analysierende europäische Augenzeuge der chinesischen Zivilisation,3 vermochten den systemischen Zusammenhang einer nichteuropäischen Kultur zu erkennen und wurden so zu Vorläufern oder Begründern einer komparativen Ethnologie. Aber schon aus den ersten Kontakterfahrungen entstand vielfach der Eindruck, die Fremdartigkeit der Anderen sei nicht allein eine Zerrspiegelung des Eigenen, nicht bloß Ausdruck einer absurd verkehrten, die natürliche Ordnung pervertierenden Welt; sie sei vielmehr mit durchaus komplexen Sinngebungen verbunden. Wie diese zu bewerten seien, blieb eine zweite Frage, die von Anfang an in der Spannung zwischen Relativismus und Universalismus strittig beantwortet wurde. So ließen sich die Menschenopfer der Azteken schon im 16. Jahrhundert nicht nur als Verbre1 Im folgenden wird ohne eigenen Definitionsversuch ein weitgefaßter nicht-normativer und pluraler Begriff von Kultur/Kulturen im Sinne der Anthropologie verwendet, genauer: im Sinne der dritten von drei Hauptrichtungen des Verständnisses von »Kultur«: als Akkumulation von Wissen, als Ensemble von Institutionen, als kollektiv entworfener, verbindlicher Sinnkosmos. Diese Unterscheidung nach R. G. D’Andrade, Cultural Meaning Systems, in: R. A. Shweder u. R. A. LeVine (Hg.), Culture Theory: Essays on Mind, Self, and Emotion, Cambridge 1984, S. 88–119, hier S. 115. »Zivilisation« wird davon nicht terminologisch scharf unterschieden. Vgl. dazu als begriffsgeschichtliche Begründung J. Fisch, Zivilisation, Kultur, in: O. Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 679–774, bes. S. 771f. 2 J. de Acosta, Historia natural y moral de las Indias, hg. v. E. O’Gorman, Mexico-Stadt 1962. Vgl. zum Werk und seinem Autor: A. Pagden, The Fall of Natural Man: The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge 1982, S. 146–197. 3 Die maßgebende Textgrundlage ist P. d’Elia (Hg.), Fonti Ricciane. Documenti originali concernanti Matteo Ricci e la storia delle prime Relazioni tra l’Europa e la Cina (1579–1615), 3 Bde., Rom 1942/49.

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chen, die »über das Maß an jeder menschlichen Verderbtheit hinausgehen« und hinreichende Gründe für einen Unterwerfungskrieg lieferten, interpretieren (Juan Ginés de Sepúlveda),4 sondern schwächer auch als ein eher auf Verstandesträgkeit zurückführbares Mißverständnis des göttlichen Naturgesetzes (Francisco de Vitoria)5 oder verständnisvoll als »wenig mehr als irregeleitete Frömmigkeit« (Bartolomé de las Casas).6 Um die fremden Sinnwelten zu erschließen, wandten die Europäer eine transkulturelle Hermeneutik an. Diese konnte unterschiedlichen Zwecken dienen. Hernán Cortés, wie Tzvetan Todorov ihn porträtiert, vermochte seine militärische Schwäche gegenüber der Aztekenmacht dadurch zu kompensieren, daß er urteilstrübende und handlungshemmende Rigiditäten im aztekischen Weltbild durch ein virtuoses Spiel mit Symbolen für sein unbeirrt verfolgtes Eroberungsziel instrumentalisierte.7 Missionare gingen bei der spirituellen Seelennahme im Prinzip ähnlich vor. Ihr vornehmstes Medium war die Sprache. Sie erlernten einheimische Idiome, um sich in ihnen predigend verständlich zu machen und, unterstützt durch den Einsatz bildlichen Materials, ein religiöses Deutungsmonopol zu erlangen.8 Dort, wo sie, wie in Japan und insbesondere in China, auf widerständige Elitekulturen stießen, unternahmen sie heroische Anstrengungen philologischer Gelehrsamkeit mit dem Ziel, durch behutsame »Akkomodation« Elemente des christlichen Glaubens in die Diskurse der selbstbewußten Gastzivilisationen hineinzuschmuggeln.9 Meist, aber keineswegs immer gelang es, die hermeneutischen Vorteile des Europäers erfolgreich auszuspielen. Der Tod von Kapitän James Cook in der KealakekuaBucht am 14. Februar 1779 ist, selbst wenn man einige der Einwände gegen Marshall Sahlins’ berühmte Interpretation gelten läßt, ohne Zweifel durch Fehlinterpretationen hawaiianischer »Zeichen« ausgelöst worden, die dem sonst so urteilssicheren Entdecker-Ethnographen unterliefen.10 4 J. G. de Sepúlveda, Democrates segundo o De las justas causas de la guerra contra los Indios [verfaßt ca. 1544], zit. nach C. Strosetzki (Hg.), Der Griff nach der Neuen Welt. Der Untergang der indianischen Kulturen im Spiegel zeitgenössischer Texte, Frankfurt a.M. 1991, S. 210–269, Zitat S. 239. 5 Vgl. Pagden, The Fall of Natural Man, S. 90. 6 Ebd., vgl. auch S. 143–145. 7 Vgl. T. Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, dt. v. W. Böhringer, Frankfurt a.M. 1985, S. 69ff. 8 Vgl. S. Gruzinski, La colonisation de l’imaginaire: Sociétés indigènes et occidentalisation dans le Mexique espagnol XVIe-XVIIIe siècle, Paris 1988, S. 15ff. 9 Zur Bedeutung von Sprachstudien für die europäische Expansion vgl. W. Reinhard, Sprachbeherrschung und Weltherrschaft. Sprache und Sprachwissenschaft in der europäischen Expansion, in: Ders. (Hg.), Humanismus und neue Welt, Weinheim 1987, S. 1–36; R. Wendt (Hg.), Wege durch Babylon. Missionare, Sprachstudien und interkulturelle Kommunikation, Tübingen 1998. 10 Allerdings hatten Cook und seine Begleiter die größten Schwierigkeiten der Kommunikation in der Begegnung mit Australiern und Tasmaniern, weniger mit den Bewohnern Hawaiis, die dem Kapitän zum Verhängnis wurden.

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Es bedurfte also nicht erst des modernen anthropologischen Kulturbegriffs, der den distinkten Ensemblecharakter von Symbolen, Verhaltensregeln und materieller Existenzsicherung betont, um unter Europäern die Einsicht zu fördern, daß man nicht mit einem willkürlichen Chaos, sondern anderen Ordnungen menschlicher Lebensgestaltung konfrontiert war: seien es nun diejenigen von schriftlosen »Wilden«, schriftbesitzenden »Barbaren« oder gar andersartig »Zivilisierten«. Schon viele Praktiker der Expansion erkannten also, was ihre Historiker erst langsam lernen sollten: Die Ausbreitung von Europäern über den Globus führte zu Kulturkontakten mannigfaltiger Art. Die europäische Expansion, von ihren Wirkungen her betrachtet, war ein umfassendes Phänomen interkultureller Begegnung.11 Die Überseegeschichtsschreibung hat dies lange nicht hinreichend gewürdigt. Als Entdeckungsgeschichte war sie auf die Taten heroischer Einzelner fixiert, als Kolonisationsgeschichte auf die Leistungen siedelnder und staatengründender Gemeinschaften, als Kolonialgeschichte auf politische Form und wirtschaftliche Funktionsweise von Kolonialreichen, als Imperialgeschichte auf die Auseinandersetzungen der Großmächte im Zuge der Globalisierung europäischer Politik. Zuständig für Kulturelles war überwiegend die Missionsgeschichte, die jedoch bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein einem engen Evangelisierungsparadigma verhaftet blieb und die über Christianisierung hinausweisenden Aspekte eines von Missionaren geplanten oder ungewollt in Gang gesetzten Kulturtransfers nur beiläufig behandelte. Von der neuen Differenziertheit, welche die Expansionsgeschichte während etwa der letzten beiden Jahrzehnte erlangt hat,12 hat eine kulturgeschichtliche Perspektive bis vor kurzem, als die Analyse »kolonialer Diskurse« in den Vordergrund trat, wenig profitiert. Nur im Falle Lateinamerikas, wo seit den frühen achtziger Jahren der überkommenen Vorstellung von der »Entdeckung Amerikas« mit politischem Nachdruck der Begriff der »Begegnung zweier Welten« (encuentro de dos mundos) entgegengesetzt wurde,13 hat sich ein breiteres Arbeitsfeld interkultureller Beziehungsgeschichte entwickelt. 11 Unter Expansion soll hier, dem üblichen Sprachgebrauch folgend, die überseeische Ausbreitung von Europäern seit Kolumbus verstanden werden. Daß freilich schon im Mittelalter dem Prozeß des Vordringens in Peripherien maßgebende Bedeutung bei der homogenisierenden Formierung des christlichen Europa zukommt, ist neuerdings von Mediävisten bekräftigt worden, vor allem von R. Bartlett, The Making of Europe: Conquest, Colonization and Cultural Change, 950– 1350, London 1993. Vgl. auch die universalhistorische Interpretaton mittelalterlicher Expansionsvorgänge bei A. R. Lewis, Nomads and Crusaders, A.D. 1000–1368, Bloomington 1988. 12 Eine Summe dieser neueren Forschung zieht W. Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, 4 Bde., Stuttgart 1983–90. 13 Vgl. H. Pietschmann, Die Iberische Expansion in Amerika in der neueren Forschungsdiskussion, in: Periplus. Jahrbuch für außereuropäische Geschichte, Jg. 2, 1992, S. 72–80, hier S. 72; W. L. Bernecker, »Rauchender Spiegel«. Das Jubiläum der »Entdeckung« Amerikas im Widerstreit der Meinungen, in: W. Reinhard u. P. Waldmann (Hg.), Nord und Süd in Amerika. Gemeinsamkeiten – Gegensätze – europäischer Hintergrund, Freiburg i.Br. 1992, Bd. 2, S. 1299–1316, hier S. 1302f.

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Die Gründe für den relativen Rückstand liegen in den Widerspenstigkeit des Sache: Erstens fordert interkulturelle Beziehungsgeschichte im Idealfall von Historikerinnen und Historikern eine bikulturelle Kompetenz, das Vermögen also, die Perspektive nicht allein der Entdeckenden, sondern auch die der Entdeckten (und meist rasch Eroberten) einzunehmen.14 Zweitens sind kulturelle Phänomene eigensinniger, lokaler, partikularer, schwieriger einem strukturierenden Zugriff zu unterwerfen als etwa die Zusammenhänge des interkontinentalen Handels oder des organisatorischen Aufbaus kolonialer Staatsapparate. Drittens machen sich konzeptionelle Defizite besonders nachteilig bemerkbar. Die anspruchsvollere Wirtschafts- und Politikgeschichte der europäischen Expansion kann von einem Ideenbestand profitieren, der, gemeinhin unter dem Titel »Imperialismustheorien« subsumiert, sowohl »große« Theorien der Weltentwicklung als auch für Spezialfragen der Expansionsgeschichte begrenztere Erklärungsmodelle (»Sozialimperialismus«, »unruhige Grenze«, »Kollaboration«, usw.) bereithält. Ähnliches fehlt für das, was man pauschal und vorläufig als »kulturellen Imperialismus« bezeichnen kann.15 Soll ein Rückfall in eine bloß illustrierende, ihr bildkräftiges Material stoffhuberisch auf den bunten Effekt hin arrangierende Kulturgeschichtsschreibung vermieden werden, so sind umfassende und kritisch auswählende Sichtungen des Theorieangebotes, wie es vornehmlich von der Kulturanthropologie, daneben neuerdings auch von der Literaturwissenschaft bereitgestellt wird, unerläßlich. Angesichts dieser Schwierigkeiten hat ein kulturgeschichtliches Interesse an der europäischen Expansion zunächst den Weg der Untersuchung europäischer Perzeptionen außereuropäischer Gesellschaften gesucht. Die ungeheure Fülle überlieferter Äußerungen von Europäern über außerokzidentale Gesellschaften in Reiseberichten sowie in deren Anthologisierungen und sekundären Verwertungen, in Akten von Diplomatie und Kolonialregierungen, dazu ein reiches Bildmaterial haben hier einen fruchtbaren Forschungszweig eröffnet. Allerdings stehen Untersuchungen dieser Art in einem schwer auflösbaren Dilemma. Suchen sie, auf dem Wege über die europäischen Quellen zu einem Verständnis realer interkultureller Kontaktsituationen vorzudringen, so verstricken sie sich, wenn keine unabhängigen Zeugnisse der »anderen« Seite herangezogen werden oder wenn nicht mit äußerster textkritischer Vorsicht zu

14 Vgl. etwa die große Synthese von Weltsicht und Geschichtsbewußtsein im vor- und frühkolonialen Amerika bei G. Brotherston, Book of the Fourth World: Reading the Native Americas through their Literature, Cambridge 1992. 15 Die unter diesem Schlagwort geführten Diskussionen lassen oft historischen Tiefgang vermissen. Ein Beispiel dafür ist J. Tomlinson, Cultural Imperialism, London 1991. Anregender ist etwa der Versuch des philippinischen Historikers Renato Constantino, die sozialökonomische Dependenztheorie auf den Bereich der Kultur zu übertragen. Vgl. R. Constantino, Neocolonial Identity and Counter-Consciousness: Essays on Cultural Decolonization, London 1978.

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Werke gegangen wird,16 zirkulär in den Befangenheiten der zeitgenössischen europäischen Beobachtungsquellen. Zieht man jedoch, wie einige Autoren des »new historicism«, aus dieser Schwierigkeit den Schluß, europäische Texte über Außereuropäisches überhaupt nicht mehr auf ihren möglichen Sachgehalt hin zu lesen, sie also ausschließlich als Spiegelkabinett okzidentaler Vorurteile und Phantasmagorien aufzufassen, als eine Sonderform von »fiction«, dann verschwindet die Realität des Kulturkontakts hinter dem Vorhang ihrer textlichen Verschleierung. Was in der Tendenz der wertenden Aussage zu einer ungemilderten Verurteilung europäischer Verblendung führt, resultiert methodisch dann häufig in nichts als deren Verdoppelung: einem Narzißmus, der nicht länger nach der Wirklichkeitsadäquatheit europäischer Fremdbilder und nach ihren realen Folgen fragt, sondern nur noch nach ihren innertextuellen Generierungsregeln und ihrem ideologischen Gehalt. Selbst wenn eine solche »reduction of experience to the meanings that shape it«17 mit der Brillanz ihrer virtuosesten Praktiker geschieht,18 läßt sich darauf schwerlich eine Kulturgeschichte der europäisch-außereuropäischen Begegnung aufbauen. Die historische Untersuchung tatsächlicher Kontakte zwischen Europäern und Nicht-Europäern unter dem Gesichtspunkt ihrer kulturellen Voraussetzungen und Konsequenzen bedarf anderer konzeptioneller Hilfen, als der »new historicism« sie anbieten kann. Ein bewährter Ausgangspunkt ist die Taxonomie von Formen der »Kulturbegegnung«, die Urs Bitterli vorgeschlagen hat.19 Bitterli unterscheidet 1. die »Kulturberührung«, d.h. den punktuellen Erstkontakt, »das in seiner Dauer begrenzte, erstmalige oder mit großen Unterbrechungen erfolgende Zusammentreffen einer Gruppe von Europäern mit Vertretern einer überseeischen Kultur«;20 2. den aus der friedlichen Kulturberührung oft durch unmittelbare oder von den Einheimischen (vermeintlich) provozierte Gewaltanwendung der Europäer hervorgehenden »Kulturzusammenstoß«;

16 A. Jones, Zur Quellenproblematik der Geschichte Westafrikas 1450–1900, Stuttgart 1990, S. 30ff. 17 J. E. Toews, Intellectual History after the Linguistic Turn: The Autonomy of Meaning and the Irreducibility of Experience, in: AHR, Jg. 92, 1987, S. 879–907, hier S. 906. 18 Für den Bereich interkultureller Wahrnehmung etwa S. Greenblatt, Marvelous Possessions: The Wonder of the New World, Oxford 1991. 19 U. Bitterli, Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 1976, S. 81ff.; Ders., Alte Welt – Neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontaktes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1986, S. 17–54. 20 Bitterli, Alte Welt, S. 17.

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3. als relativ gewaltfreien Dauerzustand die »Kulturbeziehung«, also »ein dauerndes Verhältnis wechselseitiger Kontakte auf der Basis eines machtpolitischen Gleichgewichts oder einer Patt-Situation«;21 schließlich 4. als selten erreichten irenischen Extremzustand die aus Akkulturationsprozessen hervorgehende »Kulturverflechtung«.22 Bitterli benutzt, ohne größere theoretische Ambitionen daran zu knüpfen, diese Klassifikation von Kontakttypen, um ein weltweit gesammeltes, zumeist aus einer naiven, also auf die Raffinessen von Diskursanalyse und dekonstruktivistischer Literaturwissenschaft verzichtenden Lektüre von Reiseliteratur geschöpftes Belegmaterial zu ordnen. Innerhalb dieses Rasters lassen sich dann die Geschichten einzelner Kulturbegegnungen erzählen. Den Chancen einer durchkomponierten Gesamtgeschichte der europäischen Expansion muß Bitterli von seiner typisierenden Vorgehensweise her skeptisch gegenüberstehen, wenngleich aus anderen Gründen, als die Kritiker von »master narratives« sie vorbringen. Seine Perspektive ist bewußt europazentrisch; Kulturkontakte werden vor dem Hintergrund der europäischen Geistesgeschichte betrachtet. Bitterlis einfache und einleuchtende Taxonomie, die im Hinblick auf die Epoche zwischen Kolumbus und Cook entwickelt wurde und deren Brauchbarkeit für spätere Phasen stabiler Kolonialverhältnisse noch nicht geprüft worden ist, unterscheidet Grundformen des Kulturkontakts nach den beiden Kriterien von Dauer und Gewaltsamkeit. Die Skala reicht vom genozidalen Überfall bis zur dauerhaften Symbiose der Kulturen. Die Trennung zwischen Europa und Nicht-Europa, die den Rahmen aller erfaßten Kontaktsituationen bildet, wird dabei als unproblematisch vorausgesetzt. Die Abgrenzung zwischen Europäern und den »Anderen« scheint den Zeitgenossen wie auch dem Historiker unmittelbar evident zu sein. Der Kontakt findet statt zwischen den Angehörigen deutlich identifizierbarer zivilisatorischer Einheiten. Gerade dies jedoch müßte überprüft werden. Differenzen und Distanzen zwischen Kulturen sind historisch variable Größen, Konstrukte wechselnder Selbst- und Fremdzuschreibungen. Auf beiden Seiten des interkulturellen Zusammentreffens kommt es zu Prozessen von Identitätsveränderung und Gruppenbildung, von Abgrenzung und Annäherung. Imaginative Entwürfe vom Anderen – »Bilder« keinesfalls im schlichten Sinne von Abbildungen – unterliegen, was auch Bitterli anerkennt, keinem langfristigen Entwicklungsgesetz der allmählichen mentalen Annäherung zwischen Kulturen im Zuge der Herausbildung eines kommunikativen Globalzusammenhangs. Mit zunehmendem Wissen voneinander kann die Verständnislosigkeit wachsen. Kulturelle Unterschiede, darauf hat Fredrik Barth in einem einflußreichen Aufsatz hingewiesen, können durchaus trotz intensiver interkultureller Beziehungen und Abhängigkeiten dauer21 Ebd., S. 42. 22 Bitterli, Die »Wilden«, S. 161–173.

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haft fortbestehen.23 »Kulturbeziehung« kann leicht zum »Kulturzusammenstoß« regredieren. »Bilder« vom jeweils Anderen formieren und verändern sich in einem engen Wechselverhältnis mit den tatsächlichen Umgangsweisen. Perzeptionen und Interaktionen bedingen einander auf eine Weise, die nicht in lineare Kausalitätsrelationen aufzulösen ist. Zum Spektrum der Möglichkeiten gehört sowohl die Stabilisierung und lernpathologische Radikalisierung anfänglicher »Mißverständnisse« im Sinne von »self-fulfilling prophecies«, die Umsetzung also von Differenzwahrnehmungen in Differenzierungspraktiken, als auch umgekehrt die nachträgliche Ideologisierung konkreter Macht- und Herrschaftsverhältnisse; beides läßt sich etwa an den verschiedenen Ausprägungen von Rassismus beobachten. Urs Bitterlis Typologie von Kulturbegegnungen im Zuge der neuzeitlichen Expansion Europas kann in dreifacher Weise weitergedacht werden: in Richtung auf 1. eine Verfeinerung der Mischformen und Übergänge zwischen den Grundtypen, 2. die historisierende Problematisierung von Ver- und Entfremdungsprozessen zwischen Kulturen und 3. die flexiblere Zuordnung zueinander von Perzeptionen und Praktiken. Als theoretischer Fokus kann dabei das Konzept der »kulturellen Grenze« dienen.

II. Drei Begriffe von »Grenze« Die Vorstellung von »Grenzen« – mit dem semantischen Feld Begrenzung, Entgrenzung, Grenzüberschreitung – gehört zu den schillerndsten Metaphern-Konzepten in den heutigen Sozial- und Kulturwissenschaften, zugleich zu denen, von welchen man sich neuerdings zusammenfassende Orientierungen in der Gegenwart zu erhoffen scheint. Als Begriff ist sie teils der Philosophie, teils der Geographie entlehnt worden. Georg Simmel, der wiederholt auf die »Raumbedeutung der Dinge und Vorgänge« hinwies,24 übersetzte die Vorstellung räumlicher Begrenzung in die Idee der »soziologischen Grenze« und postulierte in einem oft zitierten Satz: »Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.«25 Die Systemtheorie, insbesondere bei Niklas Luhmann, sieht die Bestimmung von Grenzen als »das wichtigste Erfordernis der Ausdifferenzierung von Systemen«.26 Eine solche Grenzbestimmung sei nicht 23 F. Barth, Introduction, in: Ders. (Hg.), Ethnic Groups and Boundaries: The Social Organization of Cultural Difference, Bergen 1969, S. 9–38, hier S. 10. 24 G. Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], hg. v. O. Rammstedt (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt a.M. 1992, S. 689. 25 Ebd., S. 697. 26 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 54, 177f. Vgl. die übersichtliche Darlegung bei H. Willke, Systemtheorie. Eine Einführung in die Grundprobleme der Theorie sozialer Systeme, Stuttgart 19934, S. 56–75.

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allein eine analytische Leistung des unterscheidenden Betrachters, sondern werde bereits von den Systemen selbst geleistet. Der Ethnologe Fredrik Barth sieht in »boundary maintenance« die wichtigste Anpassungsstrategie einer ethnischen Gruppe; charakteristisch für eine solche sei ihr Grenzverhalten, nicht so sehr ihre durch konstante Merkmale beschreibbare kulturelle Substanz.27 Es ist wichtig, sich solche allgemeinen und abstrakten Bestimmungsmöglichkeiten von »Grenze« zu vergegenwärtigen, wenn man nach den spezielleren Verwendungen des Begriffs als geschichtswissenschaftliche Kategorie fragt. Vor allem drei Grenzformen sind zu unterscheiden, auch wenn sich in historischen Situationen die Reinheit der Typen selbstverständlich nicht durchhalten läßt: die imperiale »Barbarengrenze«, die nationalstaatliche Territorialgrenze und die Erschließungsgrenze.28 Die imperiale »Barbarengrenze, wie sie sich an der Peripherie des Imperium Romanum, an der durch die Große Mauer gesicherten Nahtstelle zwischen chinesischer Ackerbau- und innerasiatischer Hirtenkultur, in Gestalt der habsburgischen Militärgrenze gegenüber dem osmanischen Reich29 oder am nordwestlichen Rand Britisch-Indiens (der »North-West frontier« gegenüber Afghanistan) findet,30 ist eine defensive Sicherheitszone, durch welche sich Imperien am Punkt ihrer maximalen Ausdehnung gegen zumeist tribal organisierte, eine hochmobile Kriegführung praktizierende Nachbarvölker zur Wehr 27 Barth, Introduction, S. 14f. Vgl. auch R. Jenkins, Social Anthropological Models of Interethnic Relations, in: J. Rex u. D. Mason (Hg.), Theories of Race and Ethnic Relations, Cambridge 1986, S. 170–186, hier S. 170–178. Auch Turners Theorie des Liminalen und des Liminoiden ist in diesem Zusammenhang von Interesse: V. Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, dt. v. S. M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M. 1989, S. 28–94. 28 Andere, wesentlich kompliziertere Typologien sind vorgeschlagen worden, so etwa in einer noch immer anregenden Abhandlung von S. B. Jones, Boundary Concepts in the Setting of Place and Time, in: Annals of the Association of American Geographers, Jg. 49, 1959, S. 241–255. Zur Grenzliteratur vgl. auch J. Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes. Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: NPL, Jg. 43, 1998, S. 374–397, bes. S. 375–379; Ders., Raumbeziehungen. Internationale Geschichte, Geopolitik und historische Geographie, in: W. Loth u. J. Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000, S. 287– 308. 29 Die Militärgrenze wurde von österreichischer Seite vielfach als »Barbarengrenze« interpretiert, war aber tatsächlich ein Verteidigungsgürtel gegenüber einem hochorganisierten Nachbarimperium. Vgl. G. E. Rothenberg, Die österreichische Militärgrenze in Kroatien 1522 bis 1881, Wien 1970; J. Nouzille, Histoire des frontières: L’Autriche et l’Empire ottoman, Paris 1991, bes. S. 57ff. In manchen der neuzeitlichen Imperien treten die drei Grenzformen nebeneinander auf. So besonders ausgeprägt im Falle des Russischen Reiches. Vgl. D. R. Brower (Hg.), Russia’s Orient: Imperial Borderlands and Peoples, 1700–1917, Bloomington, Ind. 1997; J. P. LeDonne, The Russian Empire and the World, 1700–1917: The Geopolitics of Expansion and Containment, New York 1997. 30 Die North-West Frontier war allerdings nicht mit durchgehenden Verteidigungsanlagen befestigt. Sie war »a zone or belt of mountainous country of varying width, stretching over a distance of about 1,200 miles from the Pamirs to the shores of the Arabian sea«. P. Mehra, A Dictionary of Modern Indian History 1707–1947, Delhi 1985, S. 525.

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setzen. Diese Grenze kann über längere Zeiträume stabil sein, muß also nicht als Sprungbrett zu weiteren Eroberungen dienen. Sie ist oft durch aufwendige militärische Grenzanlagen vom linearen »Limes«-Typ charakterisiert, denen, unabhängig von ihrer tatsächlichen Wirksamkeit, eine hohe symbolische Bedeutung als Trennungslinie zwischen imperialer, kosmisch geordneter »Zivilisation« und frei schweifendem, anarchischem »Barbarentum« zugemessen wird.31 Trotz ihrer spektakulären Undurchdringlichkeitssymbolik ist die imperiale »Barbarengrenze« in der Praxis meist durchlässig für kleinen Grenzverkehr aller Art; ohnehin staffelt sie sich diesseits sichtbarer Mauern, Wälle und Palisaden in die Tiefe eines bikulturell durchdrungenen Hinterlandes. In Phasen, die auf imperiale Expansion und erste Grenzsicherung folgen, kann es zum wichtigsten Zweck linearer Barrieren werden, die »Barbaren« jenseits der Grenze von denjenigen auf imperialem Gebiet zu trennen, die im Begriffe sind, sich kulturell zu romanisieren, zu sinisieren, usw.32 Schon für die römische Republik ist bemerkt worden, »daß die Römer eher versuchten, die Einheimischen in Römer zu verwandeln, als ihre eigenen Leute in verlassene Landstrichen zu bringen«.33 Ähnliches ließe sich für China sagen. Oft dienen Orte entlang der Grenze als diplomatische Stützpunkte für ein »Management« militärisch nicht dauerhaft pazifizierbarer tribaler Nachbarn, die als Klienten in Reziprozitätsverhältnisse eingebunden werden; Ziel solcher Politik ist oft die Transformation von militärischem Gleichgewicht in kulturelle Abhängigkeit. Die imperiale »Barbarengrenze« ist kein antiquarisches Konzept. Sie ist Anfang der neunziger Jahre als geopolitische Leitmetapher zum Verständnis der Weltlage nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wiederbelebt worden: der reiche Norden repräsentiere das neue, sich vom Elend des Südens abschottende und sich zugleich normativ auf einen halbierten Universalismus zurückziehende Imperium.34 Die nationalstaatliche Territorialgrenze ist demgegenüber eine Demarkationslinie zwischen zwei im Prinzip ähnlich organisierten politischen Gebilden. Grenzen sind in diesem Verständnis nicht Distanzierungszonen zwischen Imperien und ihren Umwelten, sondern Staatsgrenzen,35 genauer: durch Ho31 Die – je nach Zuschreibung wechselnde – symbolische Bedeutung der Grenzbauwerke betont am chinesischen Beispiel A. Waldron, The Great Wall of China: From History to Myth, Cambridge 1990. 32 E. N. Luttwak, The Grand Strategy of the Roman Empire: From the First Century A.D. to the Third, Baltimore 1976, S. 78. 33 S. L. Dyson, The Creation of the Roman Frontier, Princeton 1985, S. 5. 34 J.–.C. Rufin, L’empire et les nouveaux barbares: Rupture Nord-Sud, Paris 1991 (S. 225 über den halbierten Universalismus des Nordens). Ähnlich S. Huntington, The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs, Jg. 72, 1993, S. 22–49. 35 Diesen Grenzbegriff verwenden die meisten Beiträge in A. Demandt (Hg.), Deutschlands Grenzen in der Geschichte, München 19912. Eine weltweite historische Übersicht über den »découpage du monde« gibt M. Foucher, Fronts et frontières: Un tour du monde géopolitique, Paris

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heitssymbole und Organe staatlicher Machtpräsenz markierte Linien zwischen territorialen politischen Verbänden, oder noch anders: Maximalpunkte durchsetzbarer Jurisdiktions- und Souveränitätsansprüche – spätestens seit dem 19. Jahrhundert in der Regel von Nationalstaaten.36 Ihre Festlegung erfolgt als Kodifizierung der Ergebnisse von Wanderung, Krieg und Staatsbildung meist durch rechtsförmige Übereinkünfte zwischen Regierungen. Schon der Geograph Friedrich Ratzel machte jedoch darauf aufmerksam, daß neuzeitliche politische Grenzen trotz mitunter früher vertraglicher Festlegung sich vielfach erst allmählich von »Grenzsäumen« zu eindeutigen und allgemein anerkannten Grenzlinien präzisieren.37 Ratzel betonte auch die vielfältigen Funktionen der Grenze als »peripherisches Organ« eines zentralisierten Staatsgebildes: »Durch diese Funktionen wird die Grenze zu einem höchst eigentümlichen Organ des Gebietes, das von ihr umschlossen wird, und nimmt zu seinen anderen Teilen eine Stellung ein, die sich durchaus nicht in der Vorstellung erschöpft, daß in ihr die äußersten Punkte des Gebietes gelegen seien.«38 Der Grenze wird damit als randständigem Raum trotz des Bezugs auf dominierende Zentralstaatlichkeit ein gewisses Eigenleben als Folge »peripherischer Auflockerung«39 zugesprochen. Oft sind es solche schwächer kontrollierten Zwischengürtel, an denen sich politische und ethnische Neubildungen ergeben und mitunter zu Herausforderungen für die beiderseitigen Zentren entwickeln. In Auseinandersetzung mit Ratzel und seinen Nachfolgern in der deutschen politischen Geographie und Geopolitik haben besonders Lucien Febvre und die französischen Geographen Albert Demangeon und Jacques Ancel ein umfassendes kulturhistorisches Konzept der zwischenstaatlichen Grenze entwickelt.40 Neu19912, S. 99–134; daneben immer noch P. Guichonnet u. C. Raffestin, Géographie des frontières, Paris 1974, S. 82–145, sowie das klassische Werk eines Grenzen ziehenden Praktikers: Sir Thomas Holdich, Political Frontiers and Boundary Making, London 1916. 36 Grundlegend P. Sahlins, Boundaries: The Making of France and Spain in the Pyrenees, Berkeley 1989; Ders., Natural Frontiers Revisited: France’s Boundaries since the Seventeenth Century, in: AHR, Jg. 95, 1990, S. 1423–1451. Foucher (Fronts et frontières, S. 115) weist darauf hin, daß im Zeitalter des Imperialismus weitere Typen politischer Grenzen entstanden: zwischen Kolonien verschiedener Mächte (z.B. Nigeria-Kamerun), zwischen Bestandteilen desselben Kolonialreichs (z.B. Indien-Burma), zwischen Kolonien und selbständigen Staaten (z.B. Vietnam-China). Zu neuen kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten vgl. T. M. Wilson u. H. Donnan (Hg.), Border Identities: Nation and State at International Frontiers, Cambridge 1998. 37 F. Ratzel, Politische Geographie, München 1897, S. 457–468. Von Grenzsäumen spricht auch J. R. V. Prescott, Einführung in die politische Geographie, München 1975 (engl. 1972), S. 70ff. 38 Ratzel, Politische Geographie, S. 510. 39 Ebd., S. 513. 40 Auf die Bedeutung der französischen Beiträge weist H. Medick hin: Zur politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Neuzeit Europas, in: Sozialwissenschaftliche Informationen für Wissenschaft und Unterricht, Jg. 20, 1991, S. 157–163, bes. S. 158f. Das Pionierwerk war A. Demangeon u. L. Febvre, Le Rhin: Problèmes d’histoire et d’économie, Paris 1935.; von Febvre auch »Frontière« – Wort und Bedeutung [1928], in: Ders., Das Gewissen des Historikers, hg. v. U. Raulff, Berlin 1988, S. 27–37.

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ere Beiträge betonen die Ambivalenzen in Begriff und Wirklichkeit zwischenstaatlicher Grenzen (»borders«, »boundaries«), deren jeweilige Geschichte aufgefaßt werden könne als »ein komplexes Wechselspiel zwischen zwei Grenzkonzepten – zonal und linear – und zwei Ideen von Souveränität – jurisdiktional und territorial«.41 Grenzen haben zur Formierung von Identitäten und Gegenidentitäten Anlaß gegeben; sie sind nicht selten zu Kristallisationssträngen für besondere Grenzgesellschaften geworden.42 Die Erschließungsgrenze oder »frontier« ist die Expansionsgrenze par excellence. Sie ist in der Regel eine agrarische Siedlungsgrenze,43 kann aber etwa auch die Form einer Grenze der bergbaulichen Ressourcenerschließung annehmen oder etwa als »commercial frontier«44 oder Urbanisierungsgrenze verstanden werden.45 Sie ist, anders als die im Grunde defensive und stationäre imperiale »Barbarengrenze«, in ständiger Bewegung, eine »wandernde Grenze«.46 Die Expansion kann durch staatliche Instanzen gesteuert oder gefördert werden, etwa mittels rechtlicher Garantien für den Landerwerb und in extremen Fällen sogar durch Zwangsansiedlung. Oft wird sie militärisch abgesichert: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war der Kampf an der Indianergrenze 41 Sahlins, Boundaries, S. 7. Vgl. auch D. Nordman, Frontières de France: De l’espace au territoire, XVIe-XIXe siècle, Paris 1998. 42 Leider gibt es noch keine neuzeitliche Entsprechung solch neuer mediävistischer Untersuchungen wie R. Bartlett u. A. MacKay (Hg.), Medieval Frontier Societies, Oxford 1989; A. Goodman u. A. Tuck (Hg.), War and Border Societies in the Middle Ages, London 1992 (bes. über die angloschottische Grenze). 43 Dies ist die hauptsächliche Begriffsverwendung in der Kulturgeographie. Vgl. etwa H.-J. Nitz, Landerschließung und Kulturlandschaftswandel an den Siedlungsgrenzen der Erde: Wege und Themen der Forschung, in: Göttinger Geographische Abhandlungen, Jg. 66, 1976, S. 11–24. Vgl. auch die mit der Frontier-Problematik verwandte wirtschaftsgeschichtliche Fragestellung bei S. Pollard, Marginal Europe: The Contribution of Marginal Lands since the Middle Ages, Oxford 1997, bes. S. 9–17. 44 Die »trading frontier« ist seit Turners klassischem Aufsatz oft als Merkmal der französischen Kolonisation in Nordamerika verstanden worden, im Gegensatz zur englischen »farming frontier«: F. J. Turner, The Significance of the Frontier in American History [1893], in: Ders., The Frontier in American History, Tucson 1986, S. 1–38, hier S. 13f. Heute wird der Begriff weit über den ursprünglichen amerikanischen Bezugsbereich hinaus verwendet. Eine zentrale Rolle spielt er etwa bei R. Austen, African Economic History: Internal Development and External Dependency, London 1987, S. 31–102. 45 Vgl. etwa D. Hamer, New Towns in the New World: Images and Perceptions of the Nineteenth-Century Urban Frontier, New York 1990. Manche andere Arten von »frontiers« sind ausfindig gemacht worden – bis hin zu M. Melbin, Night as Frontier: Colonizing the World after Dark, New York 1987. 46 D. Gerhard, Neusiedlung und institutionelles Erbe. Zum Problem von Turners »Frontier«, eine vergleichende Geschichtsbetrachtung [1957], in: Ders., Alte und neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung, Göttingen 1962, S. 108–140, Zitat S. 108. Dieser Aufsatz bleibt einer der anregendsten Beiträge zum Phänomen der »frontier«. Zu Turner und der Wirkung seiner These vgl. M. Waechter, Die Erfindung des amerikanischen Westens. Die Geschichte der Frontier-Debatte, Freiburg i.Br. 1996.

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die wichtigste reguläre Aufgabe der Armee der USA. In der Regel geht die eigentliche Erschließungs- und Kolonisierungsdynamik aber »anarchisch« von privaten Individuen und Gruppen aus. Im Gegensatz zum Imperium, das gegenüber den externen »Barbaren« das Recht der Eroberung für sich in Anspruch nimmt und sich oft auch selbst zivilisatorische Missionsaufträge erteilt, beruft sich eine landnehmende Siedlerschaft auf die naturalistische Vorstellung, »unberührte Wildnis«47 durch Arbeit zurückzudrängen und sich damit einen Rechtstitel auf vorgeblich herrenloses Land, terra nullius, zu erwerben.48 Die Existenz von Rechten der Ureinwohner wird bestritten, ihre »Zivilisierung« oft für aussichtslos gehalten.49 Die Erschließungsgrenze als bewegliche »frontier« im engeren Sinne ist noch weniger als die beiden anderen Grenztypen eine deutliche Demarkationslinie. In der neueren Grenzforschung wird sie betrachtet »nicht als Grenzlinie, sondern als ein Territorium oder eine Zone gegenseitiger Durchdringung von zwei zuvor getrennten Gesellschaften«.50 Zu einer Frontier-Situation gehören drei Elemente: »ein Territorum, zwei oder mehr ursprünglich voneinander unabhängige Völker und der Prozeß, durch den Beziehungen zwischen den Völkern innerhalb des Territoriums entstehen, sich entwickeln und schließlich zu Kristallisationen führen.«51 »Frontiers«, so heißt es in ähnlicher Tendenz in David J. Webers vorbildlicher Darstellung der spanischen Grenze in Nordamerika, seien aufzufassen als »Zonen der Interaktion zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen, als 47 Daß er keine Spuren in der Landschaft hinterlasse, ist ein alter europäischer Topos bei der Identifikation des »Wilden«. Er findet sich schon früh bei der Beurteilung der Indianer. Vgl. etwa B. Sheehan, Savagism and Civility: Indians and Englishmen in Colonial Virginia, Cambridge 1980, S. 68. 48 Vgl. J. Fisch, Der Mythos vom leeren Land in Südafrika oder Die verspätete Entdeckung der Afrikaner durch die Afrikaaner, in: H. Duchhardt u. a. (Hg.), Afrika: Entdeckung und Erforschung eines Kontinents, Köln 1989, S. 143–164. Wie zäh sich der Mythos von der unbewohnten Wildnis des vor- und frühkolonialen Amerika bis heute in der Geschichtsschreibung der USA behauptet, zeigt J. H. Merrell, Some Thoughts on Colonial Historians and American Indians, in: William & Mary Quarterly, 3rd ser., Jg. 46, 1989, S. 94–119, hier S. 98f., 101f., 112. 49 Dies gilt besonders deutlich für Nordamerika bis etwa zum Bürgerkrieg. – Eine solch brutale Naturalisierung von Zivilisationsdifferenzen hat an der östlichen »frontier« Europas eine geringere Rolle gespielt. Die vielleicht bekannteste neuere Interpretation des Phänomens der »Ostkolonisation« (in einem sehr weiten Sinne) hat vielmehr gerade die kulturelle Transformation Osteuropas unterstrichen. Vgl. O. Halecki, Europa: Grenzen und Gliederung seiner Geschichte, Darmstadt 1957 (zuerst engl. 1950), bes. S. 74ff. Vgl. im Überblick: Klaus Zernack, »Ostkolonisation« in universalgeschichtlicher Perspektive, in: G. Hübinger u. a. (Hg.), Univeralgeschichte und Nationalgeschichten. Ernst Schulin zum 65. Geburtstag, Freiburg i.Br. 1994, S. 105–116. Das Problem der kulturellen Grenze im Osten und Südosten Europas wird im folgenden nicht vertieft werden. Es ist schon früh beachtet worden, etwa bei J. Ancel, Peuples et nations des Balkans, Paris 1930. 50 H. Lamar u. L. Thompson, Comparative Frontier History, in: Dies. (Hg.), The Frontier in History: North America and Southern Africa Compared, New Haven 1981, S. 3–13, hier S. 7f. 51 Ebd.

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Orte, wo die Kultur der Invasoren und die ihrer Opfer [the invaded] miteinander ringen und im Rahmen ihrer physischen Umwelt eine nach Zeit und Ort spezifische Dynamik hervorbringen«.52 Im Gegensatz zu einer solch doppelseitigen, anthropologisch interessierten Grenzauffassung, die voraussetzt, daß eine wandernde Grenze unweigerlich auf die eigene Grenze einer anderen Zivilisation stoßen wird, nahm die ältere Geschichtsschreibung in der Nachfolge Frederick Jackson Turners ausschließlich die Perspektive der siegreichen Weißen ein. Turner sah die amerikanische Frontier lakonisch als »the meeting point between savagery and civilization« und als tief in die »Wildnis« ausstrahlende Zerstörerin der »primitiven indianischen Lebensweise«.53 Ihn interessierte nicht die zwischenkulturelle Grenzgesellschaft, sondern die weiße Grenzergesellschaft, in der sich, die gesamte Nation beeinflussend, die Eigentümlichkeiten Amerikas ausprägten.54 Die Turnersche Vorstellung von der voranrückenden Pioniergrenze ist zur vielleicht bildkräftigsten Metapher der europäischen Welteroberung geworden. Walter Prescott Webb, einer der frühesten umwelthistorischen Interpreten der amerikanischen Frontier, gab dem Konzept der »Great Frontier« eine universale Bedeutung und erklärte das neuzeitliche Westeuropa zur globalen Metropolis, die ihre Grenzen in Übersee suche.55 Diese Denkfigur übernahm der Soziologe Immanuel Wallerstein in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in seine historische Theorie des »modernen Weltsystems«. Die wichtigste Funktion der Außengrenze dieses zyklisch expandierenden Systems besteht, Wallerstein zufolge, in der »Inkorporation« bisher unberührter Zonen in die globale Arbeitsteilung. Eine solche Einvernahme ist nicht nur mit einer sozialökonomischen Umwälzung in den erfaßten Gebieten verbunden, sondern auch mit dem Umbau ihrer staatlichen Strukturen, in der Regel der Aufzwingung kolonialer Herrschaft.56 Deutlicher als Wallerstein hat schließlich der führende amerikani-

52 D. J. Weber, The Spanish Frontier in North America, New Haven 1992, S. 11. 53 Turner, Significance, S. 3, 13. Eine besonders einflußreiche Formulierung Turnerscher Orthodoxie ist R. A. Billington, Westward Expansion: A History of the American Frontier, New York 19825. 54 Die Kritik an Turner setzte allerdings schon bald nach seinem Tod im Jahre 1932 ein. Die heutige Forschung zur amerikanischen Frontier – vgl. als Synthese: C. A. Milner u. a. (Hg.), The Oxford History of the American West, New York 1994 – baut vielfach auf solchen frühen Alternativen zur Turner-These auf. Vgl. J. M. Faragher, The Frontier Trail: Rethinking Turner and Reimagining the American West, in: AHR, Jg. 98, 1993, S. 106–117, hier S. 109. Zur Turner-Diskussion vgl. auch die kritischen, originell weiterführenden Übersichten bei D. Worster, New West, True West: Interpreting the Region’s History, in: Western Historical Quarterly, Jg. 18, 1987, S. 141–156; W. Cronon, Revisiting the Vanishing Frontier: The Legacy of Frederick Jackson Turner, in: ebd., S. 157–176. 55 W. P. Webb, The Great Frontier, Austin 1951, S. 7f. 56 Eine besonders prägnante Formulierung bei I. Wallerstein, The Politics of the World-Economy: The States, the Movements and the Civilizations, Cambridge 1984, S. 80f.

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sche Universalhistoriker der Gegenwart, William H. McNeill, seine Überlegungen zu einer weltweiten »Great Frontier« in die Turner-Webbsche Tradition gestellt.57 Er definiert die Erschließungsgrenze insofern enger als Wallerstein, als er darunter nicht jede Einbeziehung marginaler Gebiete in das von Europa geformte kapitalistische Weltsystem versteht, sondern nur die Ausdehnung europäischer Kontrolle über dünn besiedeltes Land zum Zweck seiner unmittelbaren Nutzung; dies zog in der Regel Formen von Arbeitszwang nach sich, wie sie in der europäischen Metropolis selbst nicht länger vorkamen.58 McNeill geht indes dadurch über Wallerstein hinaus, daß er die kulturellen Aspekte der Expansion zumindest am Rande bedenkt. Die Erschließungsgrenze war eine Front kulturellen Anpassungsdrucks und kultureller Zerstörung. Der »drastisch einseitige Charakter der kulturellen Begegnung, der entlang der Great Frontier vorherrschte«,59 sei um die Mitte des 20. Jahrhunderts zu seinem Ende gekommen. Der Offensive der okzidentalen Zivilisation träten nunmehr andere Weltkulturen aktiv entgegen.

III. Kulturelle Grenzen Der konkreteste Gehalt des Begriffs der kulturellen Grenze ist derjenige der Sprachgrenze. Nur die räumliche Verteilung von Sprachverwendung kann einigermaßen exakt ermittelt und auf Karten festgehalten werden; schon die Geographie der Religionen ist ein schwierigeres Unternehmen. Phantasieprodukte waren die suggestiven »Kulturgrenzen« des »Deutschtums«, die die pangermanische Geopolitik der Zwischenkriegszeit entwarf. Deren schärfster zeitgenössischer Kritiker bemerkt denn auch, die deutschen Geographen seien mit ihrem Bemühen um die Spiritualisierung von Grenzen »Meister in der Kunst der Kartographie des Ungreifbaren« gewesen.60 Der im folgenden dargelegte Begriff der kulturellen Grenze bezieht sich nicht auf flächige kulturelle Kolonisation und die daraus abgeleiteten nationalpolitischen Herrschaftsansprüche, sondern in einem umfassenden Sinne auf das Problem der Konstruktion von Differenz zwischen zivilisatorischen Einheiten. So gesehen kann jeder der drei geschichtswissenschaftlichen Grenzbegriffe mit Konnotationen kultu57 W. H. McNeill, The Great Frontier: Freedom and Hierarchy in Modern Times [zuerst 1983], in: Ders., The Global Condition: Conquerors, Catastrophes, and Community, Princeton 1992, S. 3–63. 58 »Before 1750 the freedom and equality we like to associate with frontier life were marginal. The norm was enslavement since only in that way could thinly populated frontier lands participate actively in the world market, and, if need be, also sustain a costly military establishment.« Ebd., S. 33. 59 Ebd., S. 62. 60 J. Ancel Geographie des frontières, Paris 19383, S. 106.

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reller Unterscheidung aufgeladen werden: Die territoriale Grenze, meist von beiden Seiten her geformt, trennt neuzeitliche Nationalkulturen. Die um ein dominierendes Zivilisationszentrum gezogene imperiale »Barbarengrenze« vom Limes-Typ ist selber schon sichtbarer Ausdruck einer Kluft zwischen kulturellen Welten. Die erschließende »frontier« treibt im Namen von überlegener Naturbeherrschung und höherem Daseinsrecht des weißen Mannes schwächere Kulturen, die als Elemente natürlicher Wildnis betrachtet werden, vor sich her. An der Great Frontier der europäischen Expansion – also der universal verallgemeinerten Erschließungsgrenze – kommt es teils zu so etwas wie »kultureller Inkorporation«, teils zu Abwehrhaltungen sowohl der Europäer wie der Einheimischen. Ökonomische und politische Inkorporation im Sinne Wallersteins kann mit kultureller Abgrenzung und Ausschließung einhergehen. Kulturelle Grenzen verlaufen häufig entlang sichtbarer Scheidelinien: Man überschreitet eine Staatsgrenze und befindet sich in einem anderen Sprachgebiet. Ebenso oft sind sie jedoch unsichtbare Grenzen, wie sie sich in Denk- und Verhaltensweisen ausdrücken, nicht aber in Grenzanlagen und Siedlungssäumen. Zu unterscheiden ist weiterhin zwischen den Binnengrenzen einer Zivilisation, also ihrer inneren Strukturierung nach räumlichen Verteilungen, sozialen Lagen, ethnischen Identitäten, Religionszugehörigkeiten sowie Geschlechtsmustern, und ihren Außengrenzen. Krzysztof Pomian meint beides, wenn er erklärt: »Die Geschichte Europas ist die Geschichte seiner Grenzen.«61 Durch die Expansion Europas, jenen Prozeß, der im Zeitalter von Kreuzzügen und Ostkolonisation begann, und im 20. Jahrhundert mit der universalen Verbreitung europäisch-amerikanischer Kulturformen Höhepunkt und Ende erreichte, ist die Bestimmung des Unterschiedes zwischen Europa und NichtEuropa zu einer konstitutiven Frage der Herausbildung eigener und fremder Identitäten geworden. Europäer beginnen dort, über sich selbst nachzudenken, wo sie auf Zivilisationen treffen, mit denen sie wenig unmittelbar Selbstverständliches verbindet.62 Was »Europa« ausmacht, erweist sich erst aus der Kontrasterfahrung. Umgekehrt beschränken sich die Reaktionen der Bewohner Asiens, Amerikas und Afrikas nicht auf die polaren Möglichkeiten von schroffer Abwehr des Europäischen und völliger Kapitulation vor ihm; die machtgestützte Herausforderung gibt vielmehr oft Anlaß zu kulturellen Neubestimmungen. Die Erfahrung des Fremden ist Voraussetzung für die Bewußtwerdung des Eigenen. Dabei ist »das Fremde« keine der Geschichte enthobene Vorstellung: Was als »andersartig« und »fremd« wahrgenommen wird, ist nicht anthropologisch festgelegt, sondern kulturspezifisch nach Ort und Zeit variabel: Die Chinesen, um ein deutliches Beispiel zu nennen, sind 61 K. Pomian, Europa und seine Nationen, Berlin 1990, S. 7. 62 Vgl. auch R. Wendorff, Dritte Welt und westliche Zivilisation. Grundprobleme der Entwicklungspolitik, Opladen 1984, S. 413.

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nicht »gelb«, sie werden es im Auge des frühneuzeitlichen europäischen Betrachters.63 In Situationen des Kulturkontakts werden Abgrenzungen vorgenommen, die es zuvor nicht gab; zugleich kann es zum Abbau von Grenzen und zu Vorgängen gegenseitiger kultureller Anpassung kommen. »Kulturzusammenstoß« und »Kulturbeziehung«, um an Urs Bitterlis Begrifflichkeit zu erinnern, liegen dicht beieinander, sie können koexistieren und von einem zum anderen abrupt oder allmählich übergehen. Kulturelle Grenzen stimmen keineswegs immer mit geographischen oder politischen Grenzen, mit »borders« und »boundaries«, überein. Selbst im Ausnahmefall Japans, wo sich Nationalstaat und Zivilisationsraum zu decken scheinen, hat die Ausgrenzung der auf der Nordinsel Hokkaido lebenden Ainu und ihre Distanzierung als das fremdethnische Andere während der TokugawaZeit eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des frühmodernen Staates und seiner Selbstauffassung als Garant ethnischer Homogenität gespielt.64 Erst recht deckt sich das Europa der Historiker nicht unbedingt mit dem der Geographen.65 »In der Tat gehen uns Neuyork und Lima näher an als Kiew oder Smolensk«, schreibt 1824 der junge Leopold Ranke.66 Ranke artikuliert hier – mit anti-russischer, auch anti-türkischer Tendenz – ein atlantisches Selbstbewußtsein: Amerika nicht als eine »andere«, eine auch indianisch geprägte Welt, wie sie kurz zuvor Alexander von Humboldt porträtiert hatte,67 sondern als eine transozeanische Erweiterung des romanischen und germanischen Europa. Demographisch und kulturell war das nicht unrichtig beobachtet; ökonomisch wird Wallersteins Idee des »modernen Weltsystems« vorweggenommen. Das christliche Europa hat sich wie keine andere Zivilisation in die Welt hinaus projiziert. Umgekehrt beherbergte es in seinem geographischen Umfang kulturell Fremdes, als nicht-europäisch Aufgefaßtes: den Islam auf dem osmanisch beherrschten Balkan, namentlich in Bosnien, wo die Islamisierung beträchtlicher Bevölkerungsgruppen im späten 15. Jahrhundert begann, und bis zur Vertreibung der Morisken 1614 auch in Spanien; als Europas »innere Wilde« betrachtete tribale Gesellschaften in Randzonen wie Lappland, dem »celtic fringe« 63 Vgl. W. Demel, Wie die Chinesen gelb wurden. Ein Beitrag der Frühgeschichte der Rassentheorien, in: HZ, Jg. 255, 1992, S. 625–666. 64 Vgl. D. L. Howell, Ainu Ethnicity and the Boundaries of the Early Modern Japanese State, in: P&P, Nr. 142, 1994, S. 69–93, bes. S. 72–74. 65 Vgl. auch H.-D. Schultz, Europa als geographisches Konstrukt, Jena 1999 (= Jenaer geographische Manuskripte, 20). 66 L. v. Ranke, zit. nach E. Schulin, Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke, Göttingen 1958, S. 160. 67 Vor allem in A. v. Humboldt, Essai sur le royaume de La Nouvelle Espagne, 3 Bde., Paris 1811; sowie in Ders., Vues de Cordillères, et monumens des peuples indigènes de l’Amérique, 2 Bde., Paris 1810. Vgl. auch J. Osterhammel, Alexander von Humboldt: Historiker der Gesellschaft, Historiker der Natur, in: AKG, Jg. 81, 1999, S. 105–131.

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(Irland, Schottland, Wales) der britischen Inseln und den östlichen und südlichen Gebieten des Russischen Reiches (Baschkiren, Kalmücken, Krimtataren). Für Reisende des 17. und 18. Jahrhunderts waren umgekehrt die großen Kolonialmetropolen wie Batavia (Jakarta), Mexiko-Stadt oder Kalkutta, von Boston ganz abgesehen, kaum weniger »europäisch« in ihrem äußeren Erscheinungsbild als osmanische Städte wie Athen oder Sarajevo, wo die Kirchenglocken schwiegen und allenthalben Minarette anzutreffen waren. Die klassizistische Architektur des Hochkolonialismus bekräftigte dann die zumindest symbolische Europäisierung überseeischer Brückenköpfe mit sichtbarem Nachdruck. Die kulturellen Außengrenzen Europas lagen also durchaus zum Teil auf dem Kontinent selbst hinter dessen geographischen Umrissen, während sie in Übersee ungefähr den Frontlinien von Besiedlung, militärischer Eroberung und kommerzieller Durchdringung entsprachen. Jenseits solcher Kontaktzonen, die sich vor 1800 in Asien und Afrika mit wenigen Ausnahmen auf Küstenregionen beschränkten und in Amerika zumindest bis zur Mitte des 18. Jahrhundert den kontinentalen Kern selten erreichten,68 sorgten allein Missionare für eine punktuelle europäische Kulturpräsenz.69 So dramatisch aber in den Erfahrungen und Schicksalen einzelner Ordensmänner im kanadischen Urwald, in Japan (bis zum Beginn der großen Christenverfolgungen 1614) oder am Hofe des Kaisers von China die Begegnung zwischen christlich-europäischer Kultur und derjenigen der »Anderen« ausgetragen wurde, so wenig kann doch von einer »Missionsgrenze« gesprochen werden. Nirgendwo kam es während der frühen Neuzeit außerhalb der (iberischen) Kolonialreiche zu dauerhafter Christianisierung und zur Prägung größerer Kollektive durch säkulare europäische Kultureinflüsse.70 Dies änderte sich erst im späten 19. Jahrhundert, als die Mission etwa in China beträchtliche Konversionserfolge erzielte. Eine Kultur erreicht dort ihre Grenze, wo die ihr eigentümlichen Regeln und Symbole die Lebensführung und die Weltbilder der Menschen nicht länger bestimmen. Reisende machten diese Erfahrung im Übergang etwa von der 68 Vgl. zur Geographie der frühen Erschließung Amerikas durch Europäer jetzt umfassend D. W. Meinig, The Shaping of America: A Geographical Perspective on 500 Years of History, Bd. 1: Atlantic America, 1492–1800, New Haven 1986. Eine Übersicht über die Präsenz von Europäern in Asien gibt H. Furber, Rival Empires of Trade in the Orient 1600–1800, Minneapolis 1976, S. 298–329. 69 Vgl. H. Gründer, Welteroberung und Christentum. Ein Handbuch zur Geschichte der Neuzeit, Gütersloh 1992. Vorzüglich zur Mission auch die Regionalkapitel A. Hastings (Hg.), A World History of Christianity, London 1999. 70 Wie stark eine solche Prägung im kolonialen Rahmen nicht nur in Amerika sein konnte, zeigt das für die Kulturgeschichte der europäische Expansion überaus instruktive Beispiel der Philippinen. Vgl. R. Wendt, Fiesta Filipina. Koloniale Kultur zwischen Imperialismus und neuer Identität, Freiburg i.Br.1997; Ders., Kultureller Konflikt, kulturelle Mischung. Die Philippinen unter spanischer und amerikanischer Kolonialherrschaft, in: J. Osterhammel (Hg.), Asien in der Neuzeit. Sieben historische Stationen, Frankfurt a.M. 1994, S. 47–64.

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christlichen in die islamisch-osmanische Welt oder dort, wo man eine geschützte Kolonialmetropole verließ und sich den Ungewißheiten ihres Hinterlandes aussetzte. An ihren Grenzen verliert eine Kultur ihre Verbindlichkeit. Sie tritt in ein Spannungsverhältnis zu den andersartigen Verbindlichkeiten einer als »fremd« empfundenen Umwelt. Diese Spannung kann auch in kulturellen Mehrdeutigkeiten aufgelöst werden:71 im verhältnismäßig seltenen Phänomen eines religiösen »Synkretismus« oder – charakteristischer – in der Mehrsprachigkeit und den multiplen Identitäten, wie sie in vielen der großen vormodernen Imperien verbreitet waren.72 Angehörige von Völkern, die nicht der mehrheitlichen ethnischen Kerngruppe angehörten, vermochten dort zu hohen Positionen in Staat und Gesellschaft aufzusteigen: Deutsche im Zarenreich, Mongolen unter der mandschurischen Qing-Dynastie in China, Angehörige von Balkanvölkern im Osmanischen Reich, Kaukasier im Iran der Safawiden. Die kulturelle Grenze trennt vom Fremden. Sie ist meist eine Zone des Übergangs, manchmal eine scharfe Linie. Kulturen unterscheiden sich zu bestimmten Zeitpunkten durch das Maß an Schroffheit, mit dem sie sich vom Fremden abgrenzen, durch ihre Exklusivität. Einige sehen eine radikale Opposition – Christ oder Heide: tertium non datur; andere nehmen Abstufungen von Differenz in Beziehung zur Maßstäblichkeit des Eigenen an, so etwa die alte chinesische Hochkultur, die fein abgewogene Grade des »Barbarentums« unterschied;73 wieder andere sind so inklusiv, daß sie Außenstehende mühelos in die Wir-Gruppe integrieren und ihnen Möglichkeiten zur kulturellen und ethnischen Konversion eröffnen. Kulturen variieren in den Kriterien, nach denen sie Fremdes vorzugsweise definieren – religiös als Unglauben oder Ketzerei, säkular-zivilisatorisch als Barbarentum, biologisch als rassische Minderwertigkeit, usw. Sie unterscheiden sich in der Intensität der Widerstände, die sie dem Eintritt Fremder in den eigenen zivilisatorischen Kreis entgegensetzen, insbesonders dem religiösen Glaubenswechsel: So sind Religionen, die Ahnenkult oder Reinkarnation betonen, »geschlossener« als solche, die auf individuellem Bekenntnis und der Anerkennung von Schriftautoritäten be-

71 Man hat für die Grenze zwischen christlichem und islamischem Spanien von »cultural confusion« gesprochen: A. MacKay, Religion, Culture and Ideology on the Late Medieval CastlianGranadian Frontier, in: Bartlett u. MacKay (Hg.), Medieval Frontier Societies, S. 219–243, hier S. 222. 72 Im Osmanischen Reich war das Türkische vorwiegend Amtssprache, das Arabische die Sprache der Religion und der wissenschaftlichen Kommunikation, das Persische das Idiom der Dichtung. Ein Mikrokosmos solch multiplen Sprachgebrauchs war das islamische Bosnien. Vgl. S. Balic, Das unbekannte Bosnien. Europas Brücke zur islamischen Welt, Köln 1992, S. 212–214. 73 Vgl. G. Linck, Die Chinesen und das Fremde, in: H. u. R. Breuninger (Hg.), Der Umgang mit dem Fremden. Symposium vom 12. bis 14. Juni 1992 in Titisee, Stuttgart 1993, S. 10–18; F. Dikötter, The Discourse of Race in Modern China, London 1992, S. 1–17.

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ruhen. Schließlich lassen Kulturen in unterschiedlichem Maße Übergänge, schwebende Zwischenzustände, Ambivalenzen oder mehrfache Identitäten zu. Grenzgängertum und Grenzüberschreitung in der umgekehrten Richtung – vom Eigenen zum Fremden hin – wird teils geduldet, teils scharf sanktioniert:74 Der Abfall vom Islam galt und gilt als todeswürdiges Verbrechen, während die Ausschließlichkeitsansprüche im Buddhismus viel schwächer entwickelt sind. Britische Kolonialherren hielten eine deutlich größere Distanz zu den Kolonisierten als zum Beispiel portugiesische, spanische und selbst holländische: Als Niederländisch-Ostindien 1811 vorübergehend unter britische Verwaltung geriet, zeigten sich die neuen Regenten entsetzt über die asiatisierten »Mestizo manners« der Holländer (und namentlich ihrer Betel kauenden Frauen); die sozialen Gräben zwischen Europäern und Asiaten wurden mit langfristigen Folgen tiefer gezogen.75 Überhaupt unterschieden sich die europäischen Kolonisatoren durch das Ausmaß, in dem sie gemischtrassige Verbindungen und das daraus folgende Mestizentum duldeten, sowie auch darin, ob Geld, Bildung oder Macht den Makel »unreiner« Geburt tilgen und Farbige sozial zu »Weißen«, Indianer zu Spaniern, Afrikaner zu Franzosen machen konnten.76 Pauschal gesagt, spannte sich der Bogen von den in hohem Maße (allerdings in Asien stärker als in Afrika) inklusiven Portugiesen bis zu den extrem exklusiven Briten, die bis zum Ende der Kolonialzeit von rassistischer Brüskierung etwa jener anglisierten indischen Oberschicht nicht abließen, der man im übrigen relativ günstige kulturelle und auch politische Entwicklungschancen einräumte. Kulturelle Grenzen sind nicht etwa als selbstverständlicher Bedingungsrahmen von Kultur natürlich gegeben. Sie sind selber als Teil einer Kultur deren Artefakte. Deshalb verändern sich Abgrenzungen historisch. Dies zeigt zum Beispiel die außerordentliche Beweglichkeit von Feindbildern. Es kann VerFremdungen von vordem friedlich Benachbartem geben wie auch umgekehrt einen raschen Abbau von Fremdheit und negativen Wahrnehmungsstereotypen; die jüngere Geschichte Europas gibt für beides Beispiele. Im gesamteuropäischen Verhältnis zum Rest der Welt ist im späten 18. Jahrhundert ein neuartiges, nicht mehr auf religiöse Heilsgewißheit, sondern auf materiell-zivilisatorische Überlegenheit gestütztes Superioritätsbewußtsein zur Geltung ge74 Vgl. K.-H. Kohl, »Travestie der Lebensformen« oder »kulturelle Konversion«? Zur Geschichte des kulturellen Überläufertums, in: Ders., Abwehr und Verlangen. Zur Geschichte der Ethnologie, Frankfurt a.M. 1987, S. 7–38. 75 Vgl. J. G. Taylor, The Social World of Batavia: European and Eurasian in Dutch Asia, Madison,Wisc. 1983, S. 100–102; P. J. Marshall, British Assessments of the Dutch in Asia in the Age of Raffles, in: Ders. (Hg.), Comparative History of India and Indonesia, Bd. 3: India and Indonesia during the Ancien Regime, Leiden 1989, S. 1–13. 76 Vgl. G. V. Scammell, The First Imperial Age: European Overseas Expansion c. 1400–1715, London 1989, S. 185–190.

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kommen, das überall die kulturellen Grenzen vertiefte.77 Nachdem sich im frühen 19. Jahrhundert das von einigen europäischen Intellektuellen – im Gedächtnis geblieben ist vor allem Goethes Programm der »Weltliteratur« – verfochtene Ideal einer pluralistischen Weltkultur nicht durchsetzen konnte,78 kam es zur Antiquarisierung und Musealisierung der orientalischen Kulturen, die sich mit der Abwertung außereuropäischer Gegenwartskultur verband. Im späteren 19. Jahrhundert setzte dann der in manchen kolonialen Milieus virulente Rassismus durch eine verstärkte Biologisierung sozialer Distanzen diese Tendenz zur Abgrenzung zwischen Europäern und Nicht-Europäern verschärfend fort. Dies machte sich nicht nur innerhalb des kolonialen Herrschaftsverhältnisses in den »farbigen« Kolonien selbst bemerkbar, wo sich etwa die Aufstiegschancen von Einheimischen im kolonialen Staatsapparat verminderten, sondern zunehmend auch in den »weißen« Siedlungskolonien, die sich gegen asiatische Überfremdung zur Wehr zu setzen versuchten. Eine hysterische, freilich auch mit politischem Kalkül manipulierte Furcht vor der »gelben Gefahr« erfaßte gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem pazifische Anrainerländer wie Kanada und Australien (sowie Kalifornien) und führte dort zu einer Politik der rassischen Exklusion, die wiederum zu Protesten von Öffentlichkeit und Regierungen in asiatischen Ländern führte.79 Als nach dem Ersten Weltkrieg infolge einer langsam einsetzenden Immigration aus den Kolonien der Anteil von Nicht-Europäern an der Bevölkerung der Metropolen allmählich stieg, wurden kulturelle Grenzen und rechtliche Schranken auch in den sich vordem liberal gebenden imperialen Mutterländern – Inder machten immer wieder die Erfahrung, in Großbritannien selbst zuvorkommend behandelt zu werden, nicht aber von den Kolonialbriten in ihrem eigenen Land – verstärkt.80 Dies geschah zu einer Zeit der wissenschaftlichen Diskreditierung von Rassedoktrinen;81 auf eine rassisch begründete Einwanderungspolitik blieb dies ohne Wirkung. An einer kulturellen Grenze kommt es, wie diese Beispiele zeigen, zu Grenzverhalten: zu Abgrenzungspraktiken oder umgekehrt zur Verringerung einer zunächst großen Distanz. Gesellschaften steht dabei ein Grundrepertoire des Umgangs mit dem Fremden zur Verfügung:82 77 Vgl. M. Adas, Machines as the Measure of Men: Science, Technology, and Ideologies of Western Dominance, Ithaca 1989. 78 Vgl. grundlegend: R. Schwab, La renaissance orientale, Paris 1950. 79 Vgl. den konzisen Überblick bei A. Offer, The First World War: An Agrarian Interpretation, Oxford 1989, S. 164–175, 198–214. 80 Vgl. für Großbritannien P. B. Rich, Race and Empire in British Politics, Cambridge 19902, S. 120ff. 81 Vgl. E. Barkan, The Retreat of Scientific Racism: Changing Concepts of Race in Britain and the United States between the World Wars, Cambridge 1992. 82 Ich greife modifizierend ein Schema auf, das Christoph Marx vorgeschlagen hat (in: Breuninger u. Breuninger [Hg.], Der Umgang mit dem Fremden, Anhang).

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1. seine Inklusion (oder Integration): das friedliche, mit keinem Bekehrungsoder Anpassungsdruck verbundene Hineinnehmen des Fremden, wie es ist, unter Sicherung seiner Rechtssphäre: gastfreundliche Aufnahme, strukturelle (nicht unbedingt auch gesinnungsmäßige) Toleranz, ethnisch-kultureller Pluralismus; 2. seine Akkomodation: die Herausbildung eines auf gegenseitigem Nutzen beruhenden modus vivendi zwischen selbständig bleibenden Gruppen, die sich lernend aufeinander einstellen, aber ihre jeweilige Identität im Kern nicht aufgeben; 3. seine Assimilierung: die Angleichung des Fremden an das Eigene bis mitunter hin zur Auflösung einer eigenen Identität der Fremdgruppe: religiöse Missionierung, weltliche Zivilisierung – nicht immer mit gewaltlosen Mitteln;83 4. seine Exklusion: die Abschottung der eigenen Gesellschaft durch Abwehr von Fremden, obrigkeitliche Schließung der Grenzen (so Japan zwischen 1639 und 1854), scharfe ausländerrechtliche und fremdenpolizeiliche Maßnahmen, Immigrationskontrollen; 5. seine Segregation: die Ausgrenzung des Fremden, seine Isolierung von der einheimischen Umwelt – typischerweise unter Bedingungen rechtlicher und materieller Benachteiligung: also Vertreibung, Zwangsumsiedlung, Ghettoisierung, Apartheid, Einrichtung von Reservaten, usw.; manchmal aber auch in konfliktmildernder Absicht die Einkapselung des Fremden z.B. in Handelsenklaven (wie den chinesischen Treaty Ports des 19. Jahrhunderts), die zum beiderseitigen Vorteil den Austausch zwischen inkompatiblen Wirtschaftskulturen ermöglichen; 6. seine Extermination: durch Pogrome und Genozid (z.B. die fast vollständige Vernichtung der Tasmanier oder zahlreicher indigener Völker in Nord- und Südamerika), aber auch – schwächer – Kulturzerstörung durch radikale Zwangsassimilation oder durch Entzug der Chancen für kulturelle Reproduktion der Gruppe (»cultural genocide«),84 ein Schicksal, das bis in die jüngste Vergangenheit etwa den australischen Aborigines widerfahren ist; Ameri83 »Assimilierung« wird hier als Oberbegriff für eine ganze Klasse von Angleichungsvorgängen eingeführt. Üblicher ist die Verwendung von »Akkulturation« als übergeordneter Kategorie. Vgl. die Diskussion bei F. Heckmann, Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie interethnischer Beziehungen, Stuttgart 1992, S. 167–172, S. 176–78. Gegen den Begriff der »Akkulturation« spricht nicht allein der babylonische Definitionswirrwarr, der ihn umgibt, sondern auch seine Belastung als Teil der Ideologie eines »aufgeklärten« Kolonialismus in der Zwischenkriegszeit. Vgl. G. Leclerc, Anthropologie und Kolonialismus, Frankfurt a.M. 1976 (frz. 1972), S. 52–61. 84 L. Thompson u. H. Lamar, The North American and Southern African Frontiers, in: Lamar u. Thompson (Hg.), Frontier in History, S. 14–40, hier S. 32. Das bekannteste Beispiel ist die Politik der totalen Assimilation, die die amerikanische Bundesregierung zwischen den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts und den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts gegenüber den Indianern des amerikanischen Westens betrieb. Vgl. dazu F. P. Prucha, The Great Father: The United States Government and the Indians, Bd. 2, Lincoln, Nebr. 1984, S. 609ff.

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ka und Ozeanien, nicht Asien und Afrika, waren die wichtigsten Schauplätze solcher extremen Entwicklungen. Jede dieser Formen kann im übrigen eine reflexive Note erhalten, also SelbstIntegration, Selbst-Assimilierung, auch Selbst-Abkapselung als Schutz vor einer feindseligen Umwelt. Im Prozeß der weltweiten Expansion Europas haben Europäer jeden der sechs Grundtypen praktiziert: von der seltenen Haltung einer kulturelle Barrieren auf ein Minimum abflachenden Integrationsbereitschaft bis zum ebenso seltenen anderen Extrem der Herstellung von grenzen-loser Homogenität durch Auslöschung des Fremden. Zwischenformen und zeitliche Sequenzen verschiedener Formen – von der Akkomodation zum partiellen Genozid in der Erfahrung der nordamerikanischen Indianer – sind für die historische Realität charakteristisch. In manchen Fällen hat die überseeische Welt als Laboratorium für Verhaltensweisen gedient, die später nach Europa re-importiert wurden.

IV. Kontaktsituationen Welche der Möglichkeiten des Umgangs mit dem Fremden an der kulturellen Grenze in einem besonderen Fall in Erscheinung tritt, welche also in Verhalten, Handeln oder gar Politik umgesetzt wird, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, zunächst von den demographischen Relationen zwischen Selbst- und Fremdgruppe und von den inneren Dispositionen derjenigen Gruppe, die mit dem Fremden umgeht. Wichtig ist daneben die Art der Kontaktsituation, vornehmlich die Machtverteilung, die in ihr manifest wird. Die Spezifik interkultureller Grenzziehung bestimmt sich maßgeblich nach dem, was man das jeweilige Grenzregime nennen könnte. Kulturkontakt ist kaum von den harten Realitäten des Machtkonflikts, in den er in aller Regel eingebettet ist, zu isolieren. Im Prozeß der Expansion Europas, vornehmlich während der frühen Neuzeit, findet man vor allem vier typische Situationen: 1. Die Begegnung europäischer Kaufleute, Missionare und Diplomaten mit geschlossenen Reichen (z.B. China, Japan, Korea) führte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu verfestigten Fronten, die sich bereits in der physischen Einschränkung der Mobilität der Fremden ausdrückten. Die Gastkulturen wahrten ihre politische Souveränität und ihre symbolische Autonomie, bestätigt in der erzwungenen Befolgung einheimischer Rituale durch die Europäer, die nie anders denn als zeitweilig geduldete Gäste verstanden wurden. Kulturelle Grenzen wurden teils stabilisiert (durch Christenverfolgungen oder durch Verbote, Ausländer die Landessprache zu lehren), teils kontrolliert durchbrochen (die »Hollandstudien«, die in Japan am Anfang des 17. Jahrhunderts begannen, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts intensiviert wurden, und die erhebliche 224

Kenntnisse über Wissenschaft und Technik des Westens erbrachten).85 Die Segregation der Fremden konnte gelegentlich durch pragmatische Zugeständnisse seitens der einheimischen Machthaber gemildert werden, so im Handelsstützpunkt Macau, der sich freilich nie zu einem Brennpunkt von Kulturtransfer entwickelte.86 Kulturelle Grenzen waren als Folge einheimischer Widerständigkeit in diesem Situationstyp klar gezogen. Sie waren aber keine wandernden »frontiers« der Verwestlichung, sondern eher exklusive imperiale »Barbarengrenzen«, die bis zur machtpolitischen »Öffnung« im Zeitalter des Freihandelsimperialismus von den asiatischen Staaten gegenüber dem Westen aufrechterhalten wurden. 2. In semi-permeablen außereuropäischen Ländern, also lockerer strukturierten pluri-ethnischen Agglomeraten, wie vor allem den islamischen Imperien der frühen Neuzeit, standen Europäer unter weniger strenger Kuratel. Ähnliches gilt für große Teile Süd- und Südostasiens. Die vorherrschende Form europäischer Anwesenheit war – neben einer großen Zahl von Einzelreisenden (wie sie in Ostasien undenkbar war)87 – die »Handelsdiaspora«,88 die unter Umständen zum Kristallisationskern regionaler wirtschaftlicher Vorherrschaft werden konnte.89 Im islamischen Bereich wurden die alten christlichen Ostkirchen zwar mit dem für Nicht-Muslime vorgesehenen Minderstatus geduldet, es gab aber keinen Spielraum für die katholische oder protestantische Mission. Die religiösen Außengrenzen waren höher, die Barrieren zwischen unterschiedlichen kommerziellen Kulturen niedriger als etwa in China. Wo ethnisch-kulturelle Vielfalt an der Tagesordnung war, wo etwa (wie im Osmanischen Reich) Griechen, Armenier oder Albaner bereits eine große Rolle spielten und es eine gewisse Tradition der Integration von ethnisch und religiös Fremden gab (im Osmanischen Reich etwa durch die Rekrutierung von Militärkadern aus dem Knabentribut unterworfener christlicher Grenzbevölkerun85 Vgl. T. Yoshida, Rangaku – Die Holländischen Wissenschaften, in: D. Croissant u. L. Ledderose (Hg.), Japan und Europa 1543–1929, Berlin 1993, S. 94–106. Die Ambivalenz von Abgrenzung und partieller Öffnung wird deutlich in den »Neuen Thesen« des japanischen Konfuzianers Aizawa Seishisai, vgl. B. T. Wakabayashi, Anti-Foreignism and Western Learning in Early Modern Japan: The »New Theses« of 1825, Cambridge, Mass. 1986. 86 Vgl. W. Demel, Als Fremde in China. Das Reich der Mitte im Spiegel frühneuzeitlicher europäischer Reiseberichte, München 1992, S. 52–73. 87 Die außerordentliche Zahl europäischer Reisender im osmanischen Reich belegt eine detaillierte Studie, die allein für die Zeit vor 1700 ca. 450 Reisebeschreibungen nachweisen kann: S. Yerasimos, Les voyageurs dans l’Empire ottoman (XIVe-XVIe siècles): Bibliographie, itinéraires et inventaire des lieux habités, Ankara 1991, S. 9. 88 Zum Begriff »trade diaspora« vgl. P. D. Curtin, Cross-Cultural Trade in World History, Cambridge 1984, 1–3. Eine etwas andere Deutung des Phänomens bei F. Mauro, Merchant Communities, 1350–1750, in: J. D. Tracy (Hg.), The Rise of Merchant Empires: Long-Distance Trade in the Early Modern World, 1350–1750, Cambridge 1990, S. 255–286. 89 Dies zeigt an einem Beispiel B. Masters, The Origins of Western Economic Dominance in the Middle East: Mercantilism and the Islamic Economy in Aleppo, 1600–1750, New York 1988.

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gen), waren West- und Nordeuropäer weniger unvertraut als in Ostasien. Die geographische Nähe trug zu solcher Vertrautheit bei, der militärische Antagonismus zum Reich des Sultans minderte sie wiederum. Insgesamt geriet für beide Seiten der »choc de mondes« weniger dramatisch als bei der Begegnung mit Amerika und dem ferneren Asien im 16. und 17. Jahrhundert. Kulturelle Grenzen waren also nicht so sehr sichtbar demarkierte und statische Umrisse fremder Enklaven (wie in Ostasien) als vielmehr von Fall zu Fall virulent werdende kulturelle Distanzen, die durch den Kosmopolitismus des Fernhandels gemildert wurden. Erst der Philhellenismus des frühen 19. Jahrhunderts konstruierte die islamisch-türkische Zivilisation erneut als anti-abendländische Gegenwelt. 3. In kolonialen Herrschaftsverhältnissen90 verläuft die offensichtlichste kulturelle Grenze zwischen den kolonisierenden Invasoren und der altansässigen kolonisierten Bevölkerungsmehrheit. Die Kanarischen Inseln im spanischen, Irland im englischen Expansionsbereich bieten dafür die Urbilder der neuzeitlichen Kolonialgeschichte. Einen Sonderfall stellen die Immigrantengesellschaften der Karibik dar, deren abhängig arbeitende nicht-weiße Bevölkerung überwiegend aus Afrika zwangsimportiert wurde.91 Die Grenze zwischen Herren und Unterworfenen kann mit ganz unterschiedlicher Eindeutigkeit gezogen sein. Der Abgrenzungspegel hängt ab von den exklusionistischen oder inklusionistischen Dispositionen der beteiligten Kulturen, ihren demographischen Proportionen zueinander, von Zweck und Intensität der Herrschaftsausübung, der Art der naturräumlichen Umgebung, der ideologischen Begründung kolonialer Herrschaft und den Beziehungen der Kolonisierer zu ihrem Mutterland.92 In der Regel bilden sowohl die Kolonisierer als auch die Kolonisierten distinkte, in sich jeweils hierarchisch geordnete Gesellschaften, die jedoch an Nahtstellen miteinander verknüpft sind. Im iberischen Kolonisationsbereich, am ausge-

90 Vgl. dazu die definitorischen Überlegungen bei J. Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 20013, S. 7–28. 91 Vgl. die konzise Analyse der karibischen Sklavereigesellschaften bei F. W. Knight, The Caribbean: The Genesis of a Fragmented Nationalism, New York 19902, S. 66–158. Unter Verwendung neuester Forschungen: B. Brereton, Caribbean Race Relations, in: S. Drescher u. S. L. Engerman (Hg.), A Historical Guide to World Slavery, New York 1998, S. 119–125. Brasilien zeigt eine Verwandtschaft mit diesem Typ. Ribeiro spricht übergreifend von »neuen Völkern« als solchen, »die in den letzten Jahrhunderten aus der Vermischung und Akkulturation von indianischen, afrikanischen und europäischen Elementen als Nebenprodukt der europäischen Expansion entstanden sind«. Er zählt dazu auch Chilenen und »Groß-Columbianer« (d.h. die Bewohner Kolumbiens und Venezuelas): D. Ribeiro, Amerika und die Zivilisation. Die Ursachen der ungleichen Entwicklung der amerikanischen Völker, Frankfurt a.M. 1985 (zuerst span. 1969), S. 108 (Zitat), 350, überhaupt S. 264–482. 92 Ein ähnliches, etwas einfacheres Faktorenmodell verwendet: R. W. Winks, A System of Commands: The Infrastructure of Race Contact, in: G. Martel (Hg.), Studies in British Imperial History: Essays in Honour of A. P. Thornton, London 1980, S. 8–48, hier S. 20ff.

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prägtesten in Brasilien, Chile und dem Nordosten Südamerikas, aber auch in Mexiko, entstanden nach langen Integrationsprozessen relativ einheitlich hierarchisierte »mestizische« Mischgesellschaften, deren Eliten schon in kolonialer Zeit eine (proto-) nationale, die verschiedenen Ausgangselemente überwölbende Kultursynthese propagierten.93 Die vor allem auf dem Lande lebende indianische Unterschicht, die zwar in irgendeiner Weise christianisiert war, aber die spanische Sprache nicht erlernte, blieb jedoch aus dieser gesellschaftlichen Integration ausgeschlossen. Zwischen der kaum akkomodierten oder assimilierten Indiobevölkerung und der spanischen bzw. hispanisierten höheren Gesellschaftshierarchie verlief die tiefste kulturelle Kluft, die Spanisch-Amerika durchzog.94 Erst sie ermöglichte, daß sich eine Identität des »Indianischen« herausbildete, wie es sie vor der Kolonialzeit nicht gegeben hatte. Generell gilt, daß in der Klammer des kolonialen Herrschaftsverbandes separate Gesellschaften fortexistierten, die durch bikulturell kompetente Vermittler, »cultural brokers«,95 miteinander in Verbindung traten: Dolmetscher, Missionare, sprachkundige Angehörige der Kolonialverwaltung, kommerzielle Zwischenschichten vom Typus des indischen Banian oder des chinesischen Kompradors,96 westlich erzogene »evolués«. In sozio-kulturellen Grenzzonen kam es zu Akkomodations- oder gar Assimilationsvorgängen, deren sinnfälligster Ausdruck die Herausbildung von Kreol- und Pidginsprachen sein dürfte.97 Kulturelle Angleichung muß dabei nicht notwendig soziale und ethnische Homogenisierung bedeuten. Sie kann mit zunehmender Beachtung der Hautfarbe, mit der Insistenz auf »racial prestige« und der Errichtung neuer Schranken einhergehen, wenn sozial aufsteigende Farbige Status, Bildungsprivilegien und Marktpositionen sowohl der kreolischen Oberschicht als auch von »poor whites« zu bedrohen scheinen.98 93 Für Mexiko zeigt dies A. Pagden, Identity Formation in Spanish America, in: N. Canny u. A. Pagden (Hg.), Colonial Identity in the Atlantic World, 1500–1800, Princeton 1987, S. 51–93, bes. S. 66ff. Eine besonders deutliche Formulierung der These vom neuartigen Integrationscharakter der mexikanischen Gesellschaft findet sich bei C. M. MacLachlan u. J. E. Rodriguez O., The Forging of the Cosmic Race: A Reinterpretation of Colonial Mexico, Berkeley, Los Angeles 1980. 94 Vgl. C. Gibson, Indian Societies under Spanish Rule, in: L. Bethell (Hg.), The Cambridge History of Latin America, Bd. 2, Cambridge 1984, S. 381–414; M. A. Burkholder u. L. L. Johnson, Colonial Latin America, New York 1990, S. 190f. 95 B. Bailyn u. P. D. Morgan, Introduction, in: Dies. (Hg.), Strangers within the Realm: Cultural Margins of the First British Empire, Chapel Hill 1991, S. 1–31, hier S. 21. 96 Vgl. P. J. Marshall, Masters and Banians in Eighteenth-Century Calcutta, in: B. B. Kling u. M.N. Pearson (Hg.), The Age of Partnership: Europeans in Asia before Dominion, Honululu 1979, S. 191–213; Hao Yen-p’ing, The Comprador in Nineteenth-Century China: Bridge between East and West, Cambridge, Mass. 1970. 97 Vgl. S. Romaine, Pidgin and Creole Languages, London 1988; P. H. Mühlhäusler, Pidgin and Creole Linguistics, London 19972. 98 Für historische Analysen von Situationen dieser Art wären die Überlegungen bei M. Banton, Racial and Ethnic Competition, Cambridge 1983, fruchtbar zu machen.

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Kulturelle Grenzen verliefen auch zwischen Segmenten der kolonialen Untertanenbevölkerung. Nicht wenige Kolonialregime verstärkten nach dem »Divide-et-impera«-Prinzip bestehende ethnische und kulturelle Differenzen oder gaben Anlaß zur Entstehung neuer Gegensätze innerhalb von »plural societies«, in denen ethnische Gruppen auf dem Markt in Wettbewerb miteinander treten. Die Ethnisierung einheimischer Politik ist vielfach erst ein Ergebnis kolonialstaatlicher Eingriffe gewesen: des Ausspielens begünstigter Minderheiten gegen eine Bevölkerungsmehrheit (wie in Burma),99 der Trennung zwischen »Stämmen«, die zum Teil erst »erfunden« oder zumindest zu Verwaltungseinheiten konsolidiert wurden, und zwischen direkt und indirekt verwalteten Landesteilen, der Vertiefung von Konflikten zwischen religiös definierten »communities« (wie in Indien).100 Ebensowenig homogen wie die unterworfene Bevölkerung war die Front der europäischen Invasoren. In Regionen intensiver inter-imperialer Rivalität – der Karibik, Nordamerika, Südostasien, Westafrika – trafen katholische und protestantische Mächte aufeinander und bekämpften sich auch Konfessionsgenossen mit oft großer Brutalität, häufig unter Mobilisierung einheimischer Verbündeter.101 Ein Beispiel dafür sind die Allianzen, die sowohl Franzosen als auch Briten seit etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts und vor allem während des Siebenjährigen Krieges mit nordamerikanischen Indianerstämmen eingingen.102 Die Vorstellung einer natürlichen zivilisatorischen und/oder rassischen Solidarität der Weißen, wie sie trotz aller machtpolitischen Konflikte bei der Aufteilung Afrikas oder der Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstandes (1900) zum Ausdruck kam, ist ein Produkt erst des 19. Jahrhunderts. Kulturelle Grenzen trennten schließlich auch die überseeischen Siedler 99 Vgl. R. Bless, »Divide et impera«? Britische Minderheitenpolitik in Burma 1917–1948, Stuttgart 1990. 100 Dies ist oft dargestellt worden, etwa bei J. Iliffe, A Modern History of Tanganyika, Cambridge 1979, S. 318 ff., K. Beck, Stämme im Schatten des Staats: Zur Entstehung administrativer Häuptlingstümer im nördlichen Sudan, in: Sociologus, Nr. 39, 1989, S. 19–35, bes. S. 25ff.; C. Lentz, »Tribalismus« und Ethnizität in Afrika. Ein Forschungsbericht, in: Leviathan, Jg. 23, 1995, S. 115–145; Dies., Die Konstruktion von Ethnizität. Eine politische Geschichte Nordwestghanas 1870–1990, Köln 1998. Der weitere Zusammenhang ist derjenige der Schaffung spezieller Staatsstrukturen für die »Eingeborenen«. Vgl. M. Mamdami, Citizen and Subject, Contemporary Africa and the Legacy of Late Colonialism, Princeton 1996, S. 62ff. 101 Meinig betrachtet in seiner bemerkenswerten geographischen Interpretation des Imperialismus »a complex and unstable fragmentation of every broad tropical region of imperial interest« generell als charakteristisch für die frühneuzeitliche Expansion Europas. D. W. Meinig, A Macrogeography of Western Imperialism: Some Morphologies of Moving Frontiers of Political Control, in: F. Gale u. G. H. Lawton (Hg.), Settlement and Encounter: Geographical Studies Presented to Sir Grenfell Price, Melbourne 1969, S. 213–240, hier S. 223. 102 Vgl. vor allem F. Jennings, The Ambiguous Iroquois Empire: The Covenant Chain Confederation of Indian Tribes with English Colonies, New York 1984; Ders., Empire of Fortune: Crowns, Colonies and Tribes in the Seven Years War in America, New York 1988.

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(»Kreolen« in einem weiten Sinne) von ihren Herkunftsgesellschaften. Häufig bildeten sich besondere koloniale Identitäten unter überseeischen Gruppen in offener oder stillschweigender Abgrenzung von der Kultur des Mutterlandes. In Fällen einer großenteils absentistischen, die eigenen tropischen Betriebe durch Agenten bewirtschaftenden Herrenschicht, die sich – wie in der britischen Karibik – nicht oder erst spät zu einem stabilen Kreolentum entwickelte,103 spielte dies kaum eine Rolle, und in reinen Beherrschungskolonien ohne ein nennenswertes permanentes Siedlerelement (wie z.B. in Britisch-Indien) konnte sich allenfalls ein besonderer esprit de corps der Kolonialbürokratie entwickeln.104 In Siedlungskolonien hingegen wurde die Abgrenzung von jener Heimatgesellschaft, deren einfache Reproduktion in Übersee zunächst beabsichtigt gewesen war, für die kollektive Bewußtseinsbildung geradezu konstitutiv. Immer wieder folgte dabei auf die kulturelle Entfremdung vom Mutterland die politische Sezession.105 Dabei verstanden sich die Kolonisten nur ausnahmsweise, wie die neuenglischen Puritaner, als Schöpfer einer utopisch visionierten »new world«; viel häufiger waren sie Träger traditioneller, im Mutterland bereits überlebter politischer Vorstellungen und kultureller Werte – nicht nur in der frühneuzeitlichen atlantischen Welt,106 sondern auch in den afrikanischen Siedlermilieus des 20. Jahrhunderts – in Kenia, Algerien und zuletzt in Süd-Rhodesien (Zimbabwe).107 4. Welche Kontaktvorgänge sich im einzelnen an einer Erschließungsgrenze (»frontier« im engeren Sinne) abspielen, hängt u. a. davon ab, ob es sich um eine von Ackerbau oder Viehzucht bestimmten Siedlungsgrenze (Britisch-Nordamerika, Südafrika, Australien), eine Handelsgrenze (Pelzhandel in Französisch-Nordamerika),108 eine Beutegrenze (im Inneren Brasiliens)109 oder eine andere Variante handelt. Das Voranschieben der Grenze geht oft der Etablierung kolonialer Herrschaftsverhältnisse voraus. In anderen Fällen zieht die

103 Vgl. E. Brathwaite, The Development of Creole Society in Jamaica, 1770–1820, Oxford 1971, der Kreolisierung als die Herausbildung einer eigenständigen »great tradition« definiert. Vgl. als vorzügliche Übersicht: M. Craton, Reluctant Creoles: The Planters’ World in the British West Indies, in: Bailyn u.Morgan (Hg.), Strangers within the Realm, S. 314–362. 104 Vgl. P. Mason, The Men Who Ruled India, London 1985, S. 234ff.; C. Dewey, Anglo-Indian Attitudes: The Mind of the Indian Civil Service, London 1993. 105 L. Hartz hat in einem einflußreichen Buch von der »Fragmentierung der europäischen Kultur und Ideologie« gesprochen: The Founding of New Societies: Studies in the History of the United States, Latin America, South Africa, Canada, and Australia, New York 1964, S. 3ff. 106 So die These von A. Pagden u. N. Canny, Afterword: From Identity to Independence, in: Dies. (Hg.), Colonial Identity, S. 267–278, hier S. 275. 107 In diesen Zusammenhang gehört auch die kulturelle Grenze zwischen dem burisch und dem britisch geprägten weißen Südafrika, die den »Burenkrieg« (South African War) von 1899– 1902 ermöglichte. 108 Von fur trade frontier« spricht W. J. Eccles, The Canadian Frontier, 1534–1760, Albuquerque 19832, S. 103ff.

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Grenzkolonisation die Verdrängung der Einheimischen bzw. die Segregation verbliebener Minderheitsgruppen in Reservaten nach sich. Eine Frontier-Situation unterscheidet sich von einem kolonialen Verhältnis dadurch, daß diejenigen Völker, in deren Lebensraum hinein die Grenze vorangetrieben wird, sich nicht durch direkte Fremdherrschaft in ihrer Existenzweise eingeschränkt sehen. Sie sind, solange sie jenseits der Grenze bleiben, im Prinzip im Besitz ihrer politischen Autonomie, also »frei«. Die zersetzenden Wirkungen der vordringenden »weißen« Zivilisation, die die Völker der »Wildnis« vielfach zu unfreiwilligen Agenten weltweiter Handelsinteressen machte, stehen außer Frage. Doch hat es über die Grenze hinweg nicht nur Übernahmen in die jeweiligen kulturellen Codes gegeben, etwa Entlehnungen aus dem Vokabular des Gegenübers,110 sondern auch pragmatische Anpassungen, welche die konkrete Grenzsituation unmittelbar bestimmten. So haben die neuseeländischen Maori, die chilenischen Araukaner, die Chichimeken im Norden Mexikos und manche Indianervölker Nordamerikas europäische Methoden der Bewaffnung und Kriegführung zeitweise erfolgreich für die eigene Verteidigung einzusetzen vermocht. Umgekehrt wiesen schon früh weitsichtige Kolonialtheoretiker darauf hin, wie wichtig es sein würde, den Einheimischen die Geheimnisse etwa ihrer Landwirtschaft abzuschauen.111 Solche Übernahmen erfolgten auf beiden Seiten meist selektiv und in rationaler Auswahl: Indianer in Nordamerika zum Beispiel bemächtigten sich des unmittelbar Nützlichen, verzichteten aber auf eine umfassende Assimilation und verhielten sich meist ablehnend gegenüber christlichen Missionierungsversuchen, zumal dann, wenn diese – wie die protestanische Mission – einen radikalen Bruch mit dem Herkunftsmilieu verlangten.112 Erst die »Schließung« der Grenze und die Immobilisierung der eingeborenen Amerikaner als »captive minority« setzte diese wehrlos den Assimilierungsprogrammen der Weißen aus. Die neuere ethnohistorische Forschung zur nordamerikanischen Indianergrenze hat das Turnersche Bild eines unvermeidlichen Zusammenstoßes unvereinbarer Lebenswelten in Frage gestellt und unterstrichen, daß nicht a priori eine kulturelle Inkompatibilität von Weißen und Indianern bestand.113 109 Vgl. J. Hemming, Red Gold: The Conquest of the Brazilian Indians, Cambridge, Mass. 1978, S. 217ff. 110 Eine Bilanz solcher kulturellen Wechselwirkungen zwischen Engländern und Indianern zieht J. Axtell, The European and the Indian: Essays in the Ethnohistory of Colonial North America, New York 1981, S. 245–315. 111 So Thomas Hariot und die beiden Hakluyts in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts. Vgl. K. O. Kupperman, Roanoke: The Abandoned Colony, Savage, Md. 1984, S. 104f. 112 Vgl. J. H. Merrell, »The Customes of Our Countrey«: Indians and Colonists in Early America, in: Bailyn u. Morgan (Hg.), Strangers Within the Realm, S. 117–156, hier S. 152, S. 155; J. Axtell, The Invasion Within: The Contest of Cultures in Colonial North America, New York 1985, S. 131ff. 113 Vgl. etwa N. Salisbury, Manitou and Providence: Indians, Europeans, and the Making of

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Konflikte erwuchsen aus Mißverständnissen und wurden nicht selten auch provoziert. Aus ihrer Eskalation, meist angetrieben von dem Bestreben der Europäer, Situationen unter ihre eigene Kontrolle zu bringen, entwickelten sich dann Feindbilder und verhärtete Stereotype,114 die wiederum zu Segregation und schließlich beiderseits zum Willen zum Vernichtungskrieg führten, in dem die Weißen obsiegten. Dies geschah schon anfangs des 17. Jahrhunderts in Neuengland und Virgina.115 Unter anderen Bedingungen war es aber auch möglich, daß sich in der Art von Urs Bitterlis »Kulturbeziehung« über längere Zeiträume stabile Machtgleichgewichte einstellten, in deren Schatten es zu Akkomodation, Assimilation und sogar zur Entstehung einer integriertinklusiven Grenzzivilisation kam, zur Abflachung kultureller Grenzen durch kulturelle Kompromisse.116 Derlei konfliktarme Lösungen konnten sich indessen auf längere Sicht nicht behaupten. Der langfristige Trend seit etwa dem späten 18. Jahrhundert begünstigte an fast allen Erschließungsgrenzen des expandierenden Europa die Aufstockung kultureller Barrieren. Ein Ergebnis dieser Prozesse scheint die Entdifferenzierung der Fremdwahrnehmung gewesen zu sein: Die Amerika-Siedler des 17. Jahrhunderts unterschieden noch genau zwischen den einzelnen indianischen Völkern und Gruppen, mit denen sie sich auseinandersetzten. Immer mehr wurde ein solch vielfältiges, lokaler Erfahrung entstammendes Bild durch das abstrakte Klischee des Indianers überdeckt, dem ebenso wie dem Afro-Amerikaner der Anspruch bestritten wurde, Teil der amerikanischen Nation zu sein.117 Nicht erst bei Frederick Jackson Turner sah er sich von der Bühne der amerikanischen Geschichte verwiesen und auf eine Statistenrolle als abschreckendes Emblem von »savagery« reduziert. Die Kontaktsituation der Erschließungsgrenze ist, insgesamt gesehen, diejenige mit der weitesten Amplitude von Abgrenzungspraktiken. Im interkulturellen Zwischenreich der Pelzhändler, coureurs de bois, Jesuitenmissionare und indianischen Diplomaten lösten sich die Grenzen zwischen Kulturen auf; von New England, 1500–1643, New York 1982, S. 12; Jennings, The Ambiguous Iroquois Empire, S. 83. 114 Das große Gebiet der Grenz-Mythologeme und Indianer-Feindbilder erkundet: R. Slotkin, Regeneration through Violence: The Mythology of the American Frontier, 1600–1860, Middletown, Ct. 1973. 115 Vgl. die Fallstudie einer solchen Eskalation von Mißverständnissen und Machtkalkülen im frühen Virginia bei J. Axtell, The Rise and Fall of the Powhatan Empire, in: Ders., After Columbus: Essays in the Ethnohistory of Colonial North America, New York 1988, S. 182–221. 116 R. White zeigt dies für das Gebiet zwischen Lake Michigan und Lake Superior in seinem Buch The Middle Ground: Indians, Empires, and Republics in the Great Lakes Region, 1650– 1815, Cambridge 1991. 117 Vgl. R. F. Berkhofer, Jr., The North American Frontier as Process and Context, in: Lamar u. Thompson (Hg.), Frontier in History, S. 43–75, hier S. 45, 49, 52, 61f., 74; A. T. Vaughan, From White Man to Redskin: Changing Anglo-American Perceptions of American Indians, in: AHR, Jg. 87, 1982, S. 917–953, hier S. 936.

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»Kulturbegegnung« kann hier allenfalls als persönliches Zusammentreffen von Individuen unterschiedlicher Herkunft gesprochen werden. Die Erschließungsgrenze hat aber auch kulturelle Barrieren ermöglicht, höher als in jedem Kolonialsystem. Die weißen »frontier societies« der Neuzeit haben Menschengruppen, deren Arbeitsleistung für die Produktion an der äußersten Peripherie des ökonomischen Weltsystems nicht ausbeutbar war und deren Subsistenzansprüche auf ihre gewohnte natürliche Umwelt dem Landhunger von Siedlern und Bergbaupionieren im Wege standen, in einer Fremdzuschreibung als »Wilde« eingekapselt, ihnen jene minimalen Rechtsgarantien, wie sie fast überall nicht-versklavte koloniale Untertanen genossen, verweigert und ihnen die Chance zur kulturellen Reproduktion genommen. Der »Kulturzusammenstoß« endete in solchen Fällen mit der Ausgrenzung der Unterlegenen aus jeglichem normativen Verständnis von Kultur.

V. Reflexionsformen kultureller Abgrenzung Kulturelle Grenzen an den Rändern der weltweit expandierenden europäischen Zivilisation fanden konkret faßbaren Ausdruck in Sprachverwendung und religiösen Praktiken, in Bildungseinrichtungen und Formen von alltäglicher Geselligkeit und öffentlicher Kommunikation,118 in Festen und Ritualen,119 in Siedlungsmustern, Stadtanlagen und Architektur, im Zusammentreffen unterschiedlicher Systeme praktischen Wissens (etwa europäischer und einheimischer Medizin),120 in unvereinbaren Rechtssystemen samt ihrer realen Auswirkungen, in Weisen der Kriegführung und überhaupt der Konfliktaustragung, usw. Alle diese Aspekte stellen Aufgaben für eine Geschichte interkultureller Beziehungen, die zugleich eine komparative Perspektive nicht außer acht läßt. Die außerordentliche Vielzahl kultureller Grenzsituationen wäre am einzelnen Fall zu studieren, der dann wiederum in diachrone Verlaufsmuster und synchrone Vergleichsraster eingefügt werden müßte. Die Untersuchung interkultureller Perzeptionen fände ebenfalls hier ihren Ort. Durch die leitende Frage nach den Arten und Weisen der Konstruktion kultureller Differenz vor dem Hintergrund tatsächlicher Kontakterfahrungen 118 Zu denken ist hier auch an die verborgenen Gegenöffentlichkeiten der Unterdrückten, wie sie J. C. Scott sichtbar gemacht hat: Domination and the Arts of Resistance: Hidden Transcripts, New Haven 1990, S. 4f. 119 Vgl. zur Herstellung von Distanz durch exotisierende Rituale am Beispiel der Staatsaudienzen in Britisch-Indien die mustergültige Analyse bei B. S. Cohn, Representing Authority in Victorian India, in: E. Hobsbawm u. T. Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 165–209, bes. S. 179–207. Den umgekehrten Fall, die Anverwandlung eines Kulturimports durch die einheimische Bevölkerung, zeigt Wendt, Fiesta Filipina. 120 Am Beispiel Indiens: D. Arnold, Colonizing the Body: State Medicine and Epidemic Disease in Nineteenth-Century India, Berkeley 1993, bes. S. 43ff.

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ließe sich eine theorielose Inventarisierung von Textstücken vermeiden, wie sie manche Studien über die »Spiegelung« fremder Sachverhalte in europäischen Schriften so unergiebig macht.121 Auf diesem Weg wäre der Anschluß sowohl an die neuere Mentalitätsgeschichte als auch an jene Ansätze der »intellectual history« zu finden, die von der Interpretation kanonischer Klassikertexte zur Darstellung quasi-transzendentaler »Diskurse« oder rhetorisch bestimmter überindividueller Idiome und Denkstile übergegangen ist. Es wäre zu beginnen mit der Beobachtung, daß nahezu alle Europäer – selbst die Verfechter eines nach den Maßstäben der jeweiligen Zeit weitgehenden kulturellen Relativismus – seit dem Beginn der überseeischen Expansion um 1500 den Angehörigen anderer Zivilisationen im Bewußtsein eigener Höherwertigkeit gegenübertraten.122 Die gesteigerte Weltoffenheit im Zeitalter der Aufklärung hat daran grundsätzlich nichts geändert; anschließend wurde im 19. Jahrhundert das größte Ausmaß an »weißer« Distanzierung von den übrigen Kulturen erreicht. Dieses europäische Sonderbewußtsein, welches sein Universalitätsanspruch über einen beliebigen, selbstverständlichen Ethnozentrismus heraushebt, speist sich ursprünglich aus vorneuzeitlichen Quellen: einer Kombination von hellenischem Barbarendiskurs und christlicher Heilsgewißheit, die später durch neue Bestätigungsstrategien ergänzt oder ersetzt wird: den Stolz auf die eigene Überlegenheit in der wissenschaftlich-technischen Beherrschung der Natur, die Überzeugung von der Beglaubigung der okzidentalen Ausnahmestellung durch idealistische oder materialistische Fortschrittsphilosophien, die Selbstzuschreibung eines globalen Zivilisierungs- und Modernisierungsauftrags in der Vorstellungswelt des entwickelten Imperialismus. Wie auch immer begründet, beruht das europäische Sonderbewußtsein, das sich in interkulturellen Kontaktsituationen am deutlichsten ausprägt und dort zu realen Abgrenzungspraktiken beiträgt, auf Ansichten darüber, was im einzelnen die kritische Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden ausmache. Auch werden aus den Varianten hierarchischer Weltentwürfe unterschiedliche Schlußfolgerungen gezogen. Das europäische Sonderbewußtsein hat also eine eigene Geschichte, die in der Antike beginnt, sich über die Translatio des Aristotelismus in die Neue Welt neuzeitlich fortsetzt123 und mit dem Ende der Kolonialreiche keineswegs abgebrochen ist. 121 Ein Muster an theoretischer Umsicht ist dagegen G. Dharampal-Frick, Indien im Spiegel deutscher Quellen der Frühen Neuzeit (1500–1750). Studien zu einer interkulturellen Konstellation, Tübingen 1994, bes. S. 1–15. Vgl. auch J. Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998. 122 Vgl. für den Humanismus auch die Schlußfolgerungen bei W. Reinhard, Missionaries, Humanists and Natives in the Sixteenth-Century Spanish Indies – A Failed Encounter of Two Worlds? in: Renaissance Studies, Jg. 6, 1992, S. 360–376, bes. S. 376. 123 Diese Zusammenhänge haben viel Interesse gefunden. Vgl. zusammenfassend W. Nippel, Altertum und Neue Welt, in: Ders., Griechen, Barbaren und »Wilde«. Alte Geschichte und Sozialanthropologie, Frankfurt a.M. 1990, S. 30–55.

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So wäre denn das Problem des europäischen Sonderbewußtseins, wie es sich nirgends so extravagant artikulierte wie in der Kontemplation anderer Zivilisationen, in eine Reihe von Untersuchungsfragen aufzuschlüsseln, die, an Texte wie Reisebeschreibungen, Missionarsrelationen, (proto-) ethnographische Untersuchungen, diplomatische Berichte oder gelehrte und künstlerische Verarbeitungen des primären Beobachtungsmaterials gestellt, zu differenzierten Einsichten in die Reflexionsformen kultureller Distanz und Abgrenzung führen können: 1. Wie fremd ist jeweils das Fremde? Nach welchen Kriterien wird Andersartigkeit bestimmt? Worin sehen Europäer, möglichst mit unmittelbarer Kontakterfahrung, die spezifische Differenz zwischen der beobachteten nichteuropäischen Zivilisation und dem kulturell Eigenen? Worin erblickt man die Besonderheit und immer mehr auch die Überlegenheit Europas? In der Religion, in der Stärke seiner Waffen, im Stand seiner Technik und Wissenschaft, seiner produktiven Kraft, der Zivilisiertheit seiner Lebensformen, in seinen relativ freiheitlichen Zuständen, in der biologischen Beschaffenheit seiner Menschen? Wer wendet diese Kriterien unter welchen Umständen an? Wie verschieben sich über längere Zeiträume die maßgebenden Parameter? 2. Welches ist die dominante Bezugsgröße individueller Selbstwahrnehmung, etwa des Conquistadors, Reisenden oder Missionars, angesichts einer unmittelbar erfahrenen fremden Umwelt? Fühlt man sich primär – oder in welchem Mischungsverhältnis und mit welchem Rollenrepertoire? – als Christ, Europäer, Angehöriger einer bestimmten Konfession, sozialen Schicht, Nation? 3. Mit welchen sprachlich-rhetorischen und bildlichen Mitteln wird die Grenze zwischen Europa und Nicht-Europa bestimmt? Welche »rhétorique de l’altérité« wird verwendet?124 Welches sind die semantischen Leitposten: »Zivilisation«, »Barbarei«, »Wildheit«, »Orient«, »Exotik«, usw.? Unter welchen Bedingungen werden solche Vorstellungen, etwa auch als »asymmetrische Gegenbegriffe«,125 auf eine deskriptive Erfassungsweise fremder »Sitten und Gebräuche« projiziert? Werden sie dynamisiert (Zivilisierung als transitiver Prozeß, umgekehrt Verwilderung und »Versinken in Barbarei«, Orientalisierung

124 Der Ausdruck findet sich in einer methodisch vorbildlichen Studie zur »Konstruktion« von fremdkulturellen Welten: F. Hartog, Le miroir d’Hérodote: Essai sur la représentation de l’autre, Paris 1980, bes. S. 225ff. Zur Analyse von bildlichen Repräsentationen des Fremden vgl. etwa B. Bucher, La sauvage aux seins pendants, Paris 1977, eine Untersuchung der Kupferstiche in Theodor de Brys »Collectiones peregrinationum in Indiam orientalem et Indiam occidentalem« (1590–1634); B. F. Tobin, Picturing Imperial Power: Colonial Subjects in Eighteenth-Century British Painting, Durham 1999. 125 R. Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 211–259, bes. S. 218ff.

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und Exotisierung)? Welche Bedeutung wird historischen Bewegungsdifferentialen beigemessen (»geschichtslose Völker«, dynamischer Westen versus stagnierender Osten)? 4. Wie sind Abgrenzungskonstrukte in der Spannung zwischen »Abwehr und Verlangen«126 affektiv besetzt? Paradiesisch-utopische Erwartung und Furcht vor dem Unbekannten; der naturhafte »Wilde« als Projektionsobjekt der eigenen Triebnatur, usw. 5. Welche Theorien europäischer Besonderheit entstehen aus primären Kontakterfahrungen und bei deren sekundärer Verarbeitung durch europäische Gelehrte und »armchair travellers«? Wie werden Differenzen – wertend als Manifestationen europäischer »Überlegenheit« verstanden – erklärt? Zu denken wäre an frühe ethnologische Systematisierungsversuche angesichts süd- wie nordamerikanischer Indianerkulturen, an Vorstellungen von »asiatischem Charakter« und »orientalischer Gesellschaft«, an Rassedoktrinen und Ansätze zu einer politischen Ökonomie der Unterentwicklung. Dieser letzte Gesichtspunkt läßt sich weiter ausführen, wenn man versucht, die möglichen Reflexionsformen kultureller Abgrenzung in einer unabgeschlossenen Systematik von Diskursen zu ordnen. Für die Neuzeit wären dabei die folgenden Weisen des Redens über andere Kulturen idealtypisch zu unterscheiden: Der ethnographische Diskurs, wie er sich bereits bei Herodot findet,127 zieht kulturelle Grenzen dort, wo Zivilisationen sich durch »customs and manners« in ihrer alltäglichen Lebensführung und in öffentlicher Zurschaustellung unterscheiden. Darunter kann Verschiedenes verstanden werden, fast immer gehören zum Repertoire ethnographischer Aufmerksamkeit aber Fragen nach Nahrung, Kleidung und Wohnung, nach Sexualverhalten und Familienbeziehungen, der Stellung von Frauen in der Gesellschaft, der Erziehung der Kinder, nach Formen von Abhängigkeit (besonders Sklaverei), Begräbnisriten, Strafjustiz und der Unterscheidung von sozialen Rängen.128 Hervorstechende Eigenarten der jeweils kommentierten Gesellschaft ziehen ein besonderes Augenmerk auf sich: die Jagd- und Kriegsmethoden der nordamerikanischen Indianer, das Kastenwesen in Indien, die herausgehobene Stellung der Gelehrten in China. Der ethnographische Diskurs führt vor dem Ende des 19. Jahrhunderts so gut wie nie zu einer Überzeugung von der völligen Gleichwertigkeit aller Zivilisationen, doch enthält er das Potential zu einer Dämpfung des

126 Vgl. Kohl, Abwehr und Verlangen. 127 Vgl. W. Nippel, Ethnographie und Anthropologie bei Herodot, in: Ders., Griechen, S. 11– 29. 128 Eine für die frühe Neuzeit repräsentative Systematik läßt sich einer enthnographischen Enzyklopädie entnehmen: J.-N. Demeunier, L’esprit des usages et des coutumes des différens peuples, ou Observations tirées des voyageurs & des historiens, 3 Bde., London 1776.

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europäischen Sonderbewußtseins, da sich nach der Art von Montesquieus »Lettres persanes« (1721) die Perspektive umkehren und der ethnographisch distanzierende Blick sich auf Europa zurücklenken läßt.129 Zu den Sitten und Gebräuchen gehören auch Praktiken der Religionsausübung, die sich ohne eine Bewertung der jeweiligen religiösen Gültigkeitsansprüche darstellen lassen. Dies ist bereits im 16. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit den Indianerkulturen Mittelamerikas möglich gewesen130 und hat seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zu einer umfangreichen quasi-religionsethnographischen Literatur geführt.131 Davon zu unterscheiden ist der theologische Diskurs über das Fremde, der in seinen Grundfiguren aus der Abwehr der islamischen Herausforderung entstand, aber dann auch offensiv zur Rechtfertigung von Kreuzzug und Mission dienen konnte.132 Die theologische Erfassung des Fremden muß nicht unbedingt ein schroffer Abgrenzungsdiskurs sein. Viele der rabiatesten anti-islamischen Äußerungen richteten sich nicht gegen den Glaubensgehalt des Islam, sondern gegen den angeblich unmoralischen Lebenswandel des Propheten Muhammad.133 Im Hochmittelalter war eine Haltung großer theologischer Offenheit gegenüber dem Islam möglich, die auf der Hoffnung gründete, die Überlegenheit des Christentums lasse sich den Muslimen in rationaler Argumentation plausibel machen.134 Die frühe Neuzeit hat der theologischen Beurteilung des Islam wenig Neues hinzugefügt, sie gegenüber dem Hochmittelalter vielmehr deutlich entdifferenziert und den Islam abermals der Pauschalkategorie des »Heidentums« zugeschlagen.135 Überhaupt wurde die Auseinandersetzung mit der islamischen Welt, die sich vornehmlich in Gestalt der türkischen Militärmacht präsentierte, kaum auf theologischem Gebiet geführt. Ein theologischer Umgang mit dem Fremden 129 Vgl. zu dieser Art von Literatur umfassend W. Weisshaupt, Europa sieht sich mit fremdem Blick. Werke nach dem Schema der »Lettres persanes« in der europäischen, insbesondere der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1979. 130 Zuerst bei Bartolomé de las Casas. So C. Bernand u. S. Gruzinski, De l’idolâtrie: Une archéologie des sciences religieuses, Paris 1988, S. 41ff. 131 Ein Monument dieses Interesses ist das aus verschiedenen Quellen kompilierte Werk B. Picard, Cérémonies et coutumes religieuses de tous les peuples, 8 Bde., Amsterdam 1723–43. 132 Vgl. B. Z. Kedar, Crusade and Mission: European Approaches toward the Muslims, Princeton 1984, bes. S. 97ff. 133 Vgl. N. Daniel, Islam and the West: The Making of an Image, Edinburgh 1960, S. 79–108. 134 Etwa bei Roger Bacon und Ramon Lull. Vgl. A. Schimmel, Europa und der islamische Orient, in: Der Islam, Bd. 3: Islamische Kultur – Zeitgenössische Strömungen – Volksfrömmigkeit (= Die Religionen der Menschheit, Bd. 25/3), Stuttgart 1990, S. 336–387, hier S. 351–353. Vgl. auch den bemerkenswert friedfertigen Kreuzzugskritiker Radulfus Niger und sein Werk De re militari et triplici via peregrinatoris ierosolimitane (1187/88). Einleitung und Edition von L. Schmugge, Berlin 1977. 135 Man hat diesen Umbruch schon auf den frühen Zeitpunkt von 1290 datiert: J. Muldoon, Popes, Lawyers, and Infidels: The Church and the Non-Christian World, 1250–1550, Philadelphia 1979, S. 52, 69.

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erlangte dann neue Bedeutung in der Debatte um die verborgenen Glaubenswahrheiten der chinesischen Religion, die seit dem späten 17. Jahrhundert geführt wurde.136 Auch hier wieder wurde, wie im Islam-Räsonnement des Hochmittelalters, theologischer Scharfsinn auf den Nachweis kultureller Konvergenzen verwandt. Die gelehrten Missionare des 17. und 18. Jahrhunderts – ob Jesuiten in China, Japan und Amerika, ob dänisch-hallesche Pietisten in Indien137 – äußerten sich über die Kulturen, die sie studierten, ohnehin eher in ethnographischer als in theologischer Hinsicht. Die entschiedenste Verdammung des Fremdkulturellen und damit zugleich die Begründung eigener Besitzansprüche in theologischer Sprache, die es in der Frühphase der europäischen Expansion gab, findet sich bei den Pilgervätern und Puritanern in Nordamerika: Satan benütze die Indianer als seine Werkzeuge.138 Erst das »Evangelical Revival«, das große Teile der protestantischen Mission in Asien, Afrika und Ozeanien während des 19. Jahrhundert bestimmte und Parallelerscheinungen im katholischen Bereich fand, radikalisierte dann wieder – wenngleich nicht mit der genozidalen Konsequenz puritanischer Extremisten – den theologischen Diskurs zur rigiden Exklusion des verworfenen »Heidentums«. Der juristisch-politische Diskurs drehte sich im Kern um drei Probleme: Sind die Bewohner außereuropäischer Länder vollwertige Rechtssubjekte und halten sie insbesondere gültige Rechtstitel an ihrem Grund und Boden? Wird in diesen Gesellschaften Herrschaft legitim ausgeübt? Unter welchen Umständen sind Eroberungskriege gegen diese Völker »gerechte Kriege«? Die meisten Versatzstücke dieses Diskurses, der selbstverständlich wie die bereits genannten ebenfalls antike Grundlagen hat, wurden bereits im 16. und frühen 17. Jahrhundert ausgebreitet: zum einen in den Amerikadebatten der spanischen Spätscholastik,139 zum anderen in den Begründungen des englischen Dominium über das gälische Irland. Das anglo-irische Beispiel ist besonders interessant, weil hier an der innereuropäischen Peripherie die Demarkation einer kulturellen Kluft, teilweise ethnographisch begründet, zwischen dem gälischen Recht der Iren, also dem Brehon Law, und dem englischen Common Law durch engli136 Vgl. aus einer sehr umfangreichen Literatur: C. v. Collani, Die Figuristen in der Chinamission, Frankfurt a.M. 1981; [R.] Etiemble, L’Europe chinoise. Bd. 1: De l’Empire romain à Leibniz, Paris 1988, S. 280ff. 137 Vgl. J. E. Gründler u. B. Ziegenbalg, Die Malabarische Korrespondenz. Tamilische Briefe an deutsche Missionare, hg. v. K. Liebau, Sigmaringen 1998. 138 Vgl. R. H. Pearce, Rot und Weiß. Die Erfindung des Indianers durch die Zivilisation, dt. v. W. Bick, Stuttgart 1991, S. S. 46–52. 139 Vgl. im Überblick Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, Bd.2, S. 64–67; O. Kimminich, Die Entstehung des neuzeitlichen Völkerrechts, in: I. Fetscher u. H. Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, München 1985, S. 73–100, hier S. 79–90. Allgemein grundlegend für die gesamte Neuzeit ist J. Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht. Die Auseinandersetzungen um den Status der überseeischen Gebiete vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1984.

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sche Kronjuristen unmittelbar zur Rechtfertigung umfassender kolonialer Landenteignungen benutzt wurde.140 Juristisch-politische Diskurse sind offenbar meist dichotomisierender Natur gewesen. Die Gegenüberstellung von außereuropäischen kollektiven und europäischen individuellen Eigentumskonzepten hat ebenso bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein eine große – auch kolonialpolitische – Rolle gespielt wie die zwischen den legitimen Herrschaftsformen der europäischen Tradition und der angeblich illegitimen »Despotie« in Asien und Afrika. Ein historischer Diskurs141 wird überall dort geführt, wo fremdkulturelle Gesellschaften in Beziehung zu Entwicklungsmodellen gesetzt werden. Er wird in ausgeprägter Form erst möglich, nachdem es zu einer Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung gekommen ist. Die fundamentale Grenzziehung ist die um die Sphäre des Historischen herum, also die Ausgrenzung einiger oder der meisten nicht-okzidentalen Gesellschaften als »Völker ohne Geschichte«. Diese Exklusion gewinnt erst im 19. Jahrhundert größeres Gewicht. Bis dahin ist das frühneuzeitliche europäische Geschichtsverständnis, wie es bei Autoren der französischen und schottischen Aufklärung in Stadienmodellen der universalen Gesellschaftsentwicklung seinen Höhepunkt erreicht, eher inklusiv. Eine Zwischenstufe der Abgrenzung ist die Unterscheidung zwischen »jungen« und »alten«, zwischen stagnierenden oder gar niedergehenden und dynamischen Völkern, zwischen sterilen und kreativen Kulturen. Sie läßt aber die Möglichkeit von Wiederbelebung und Zivilisierung offen, die den vollkommen »geschichtslosen« menschlichen Gemeinschaften abgesprochen wird. Ein biologisch-rassischer Diskurs schließlich,142 dessen Ursprung in der Antike strittig ist,143 geht in seinen Sachaussagen über den Bereich kultureller Abgrenzungen hinaus, postuliert er doch die Existenz von Unterschieden, die vorkulturell gegeben und kulturellen Einwirkungen entzogen sind. Ein Denken in biologischen Rassekategorien gewinnt dort an Virulenz, wo nicht länger nur innerhalb von Gesellschaften einzelne Gruppen nach ihrer Hautfarbe unterschieden werden, wie dies mit einer zunehmend verfeinerten Rassentermino140 Vgl. H. S. Pawlisch, Sir John Davies and the Conquest of Ireland: A Study in Legal Imperialism, Cambridge 1985; R. G. Asch, Kulturkonflikt und Recht. Irland, das »Common Law« und die »Ancient Constitution«, in: Ius Commune, Jg. 21, 1994, S. 169–212. 141 Vgl. Kapitel 4 in diesem Band. 142 Er muß nicht in jedem Fall auch rassistisch sein, also deskriptiv erfaßte Unterschiede der menschlichen Physis wertend und hierarchisierend interpretieren. Die Abolitionsbewegung zum Beispiel argumentierte teilweise auf derselben biologisch-anthropologischen Ebene wie die Befürworter der Sklaverei. Vgl. P. D. Curtin, The Image of Africa: British Ideas and Action, 1780–1850, Madison, Wisc. 1964, S. 228ff. Zur Einführung in die Rassismusproblematik vgl. M. Bulmer u. J. Solomos (Hg.), Racism, Oxford 1999. 143 Vgl. F. M. Snowden, Jr., Before Color Prejudice: The Ancient View of Blacks, Cambridge, Mass. 1983.

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logie etwa im spätkolonialen Mexiko geschah, sondern ganze Zivilisationen auf ihren unveränderlichen biologischen »Rassecharakter« als ihre alles determinierende Grundeigenschaft reduziert werden. Sobald dies geschieht, ist der Schritt vom vormodernen Rassedenken zum modernen exklusionistischen Rassismus getan. Diese fünf Diskurse – und womöglich noch andere, die hinzuzufügen wären – bilden das Grundrepertoire von Reflexionsformen kultureller Abgrenzung. Mehrere von ihnen können sich in einem einzigen Text zusammenfinden; manche der großen Reisebeschreibungen etwa kombinieren Elemente aus verschiedenen Redeweisen über das Fremde. Es lassen sich separate Geschichten der einzelnen Diskurse schreiben, doch manchmal um den Preis der willkürlichen Auflösung komplexer Gemengelagen. Mit Mut zur Spekulation mag es sogar denkbar sein, die epochale Dominanz einzelner Diskurse herauszuarbeiten: vielleicht des juristisch-politischen im 16. und 17., des ethnographischen und historischen im 18., des biologisch-rassischen im 19. Jahrhundert. Auch kann gefragt werden, welche Erfahrungen Anlaß zum Rückgriff auf welchen Reflexionstyp gaben. So fällt auf, daß ein ethnographisches Interesse früh in Amerika geweckt wurde, dann in der Völkervielfalt Süd- und Südostasiens Ansatzpunkte fand und schließlich die Südsee und Afrika zu Schwerpunkten erkor, daß ein biologisch-rassisches sich zuerst an die schwarzen Afrikaner knüpfte, daß der Islam und später der Buddhismus zu besonders wichtigen Herausforderungen für die Theologie wurden, während sich das Osmanische Reich samt seiner europäischen und nordafrikanischen Ausläufer, den einst glorreichen Ruinenländern Griechenland und Ägypten, im 18. Jahrhundert als klassisches Beispiel für »Rückständigkeit« und »Niedergang« in ein Lieblingsobjekt für historisches Räsonnement verwandelte. Doch sollte die Suche nach den großen Konfigurationen nicht davon ablenken, daß Sonderbewußtsein und Abgrenzungspraktiken an den kulturellen Grenzen Europas vor allem in der Besonderheit des einzelnen Falles studiert werden müssen.

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10. Wissen als Macht. Deutungen interkulturellen Nichtverstehens bei Tzvetan Todorov und Edward Said

Daß Wissen Macht ist, haben Eroberer und koloniale Herren immer schon verstanden. Wer erobert, braucht Information. Je besser er unterrichtet ist, desto erfolgreicher wird er auf Unvorhergesehenes reagieren können. Daten können Waffen nicht ersetzen, doch vermögen sie, deren Wirksamkeit zu steigern. Der informierte Eroberer wird zum Herrn der Überraschungen. Der Widerstand der Angegriffenen ihrerseits kann um so wirksamer sein, je besser es ihnen gelingt, dem Aggressor seine Informationsüberlegenheit streitig zu machen. Zumindest können sie sich seinem Wissensdrang verweigern, können schweigen, sich dumm stellen, täuschen, eine Taktik der Spurenlosigkeit verfolgen.1 Hat die Eroberung zur Errichtung eines kolonialen Herrschaftssystems geführt, dann bedarf dieses System der ständigen Zufuhr von Geld, Arbeit und Wissen. Steuern, Arbeitskraft und Informationen sind die Ressourcen, die es der unterworfenen Gesellschaft entzieht. Es kann nicht verwundern, daß die Archive der spanischen Kolonialbürokratie und der englischen und holländischen Ostindienkompanien weltweit zu den größten der Frühen Neuzeit zählen. Im 19. und 20. Jahrhundert haben Kolonialverwaltungen – etwa die britische oder die japanische – gigantische Kataster angelegt und aufwendigste kartographische und geographisch-geologische Erhebungen anstellen lassen. Befreiungsbewegungen versuchten, ihre Gegner am empfindlichen Datennerv zu treffen und Netze des Gegenwissens aufzubauen. Die Macht der Kolonialherren ist gebrochen, wenn sie nicht mehr erfahren, was im Lande geschieht. Manch ältere Herrschaftssysteme gerieten ins Wanken, als Höflinge und Kollaborateure ungestraft zu lügen begannen; neuere sind am eigenen Wissensdurst ertrunken. Die sammelnde Kontrollmanie eines sich permanent bedroht fühlenden Staates kann – unter kolonialen Bedingungen wie unter denen eines totalitären Polizeiregimes – zum Informationsinfarkt führen. Dann weiß man alles, aber erkennt nicht länger, was davon wichtig ist. Rationales Handeln

1 Vgl. J. C. Scott, Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts, New Haven 1990.

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wird fatal erschwert. So ließe sich die Geschichte der europäischen Expansion nach Asien und des späteren europäischen Rückzugs von dort als eine der Aneignung, Akkumulation und Verarbeitung, der Instrumentalisierung, Manipulation und Monopolisierung von Wissen schreiben, schließlich auch als eine des Kampfes um Informationshegemonie, den die Befreiungsbewegungen am Ende gewannen.2 Die Qualität einer Information bemißt sich daran, in welchem Maße sie mit der Wirklichkeit übereinstimmt.3 Korrektes Wissen über Tatsachen oder richtige Einsichten in Denk- und Verhaltensstrukturen anderer Individuen und Gruppen bilden die Grundlage rationaler Entscheidungen.4 Anders gesagt: die Meisterung unvorhergesehener Situationen hängt wesentlich von einer Prognosefähigkeit ab, die durch angemessene Einstellung auf Kommendes die eigenen materiell begrenzten Handlungsmöglichkeiten optimiert. Nun wäre es ein naiver rationalistischer Trugschluß, zu glauben, den Unwissenden und den Gutgläubigen, den Wahnhaften und den Lügner bestrafe das Leben. Gerade wenn sich Realitätsverlust und Furcht verbinden, sind die Folgen unabsehbar. Deshalb können Gerüchte und ihre paranoiden Aufbauschungen geschichtsprägende Wirkungen entfalten. Manchmal glauben die Menschen dabei an das bedrohliche Gerücht und steigern sich in einen Zustand der Panik, der in politische Aktion umschlagen kann: Nicht nur in der Französischen Revolution und in der chinesischen Boxer-Bewegung von 1900 hat die »grande peur« eine bedeutende Rolle gespielt. In anderen Fällen werden Gerüchte manipuliert, werden sie von denen ausgestreut, die sowohl um ihre Haltlosigkeit als auch um ihre Wirkung wissen. Die Resultate nähern sich einander an. Die normative Kraft der Illusion gehört zu den großen Mächten der Geschichte. In kolonialen Situationen treffen unterschiedliche Kulturen aufeinander, die der Kolonisierten und die der Kolonisatoren. Wie bei allen Formen der Berührung verschiedenartiger Sinnsysteme sind dabei »Mißverständnisse« an der Tagesordnung. Was aber ist ein kulturelles Mißverständnis? Diese Frage läßt sich allein durch eine noch so »dichte« Beschreibung einzelner Fälle nicht zurei-

2 Einen Anfang macht C. A. Bayly, Knowing the Country. Empire and Information in India, in: MAS, Jg. 27, 1993, S. 3–43; Ders., Empire and Information: Intelligence Gathering and Social Communication in India, 1780–1870, Cambridge 1996. 3 »‘Wissen’ definieren wir als die Gewißheit, daß Phänomene wirklich sind und bestimmbare Eigenschaften haben.« P. L. Berger u. T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1970, S. 1. 4 Die Rationalitätsdebatte in Philosophie und Sozialwissenschaften, die im Hintergrund dieser Überlegungen steht, kann hier nicht explizit einbezogen werden. Vgl. für grundsätzliche Positionsbestimmungen, die noch vor der postmodernen Herausforderung geschrieben wurden: B. R. Wilson (Hg.), Rationality, Oxford 1970; M. Hollis u. S. Lukes (Hg.), Rationality and Relativism, Oxford 1982.

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chend klären. Die kulturtheoretischen Voraussetzungen solcher Beschreibungen bedürfen einer vorgängigen Erörterung.5

I. Der Begriff des interkulturellen Mißverständnisses läßt sich jenseits der Ebene individueller Orientierung in zwei Weisen auffassen. Wir wollen sie das aufklärerische und das romantische Modell nennen. Nach dem Aufklärungsmodell kann man Mißverständnisse als situative Fehlverständnisse betrachten. Man nimmt Einverständnis oder korrektes Verstehen zwischen einzelnen und Gruppen als den Normalfall an und hebt davon vorübergehende Kommunikationsstörungen oder hermeneutische Pannen als Ausnahmen ab. Mißverständnisse in diesem Sinne sind beweglich und flüchtig. Sie können sich rasch aufbauen und vermögen ebenso schnell wieder zu verschwinden. Im besten Fall genügt eine Nachfrage, um ein solches Mißverständnis zu korrigieren. Die Lernfähigkeit und Lernwilligkeit aller Beteiligten wird in diesem Modell der vorübergehenden Verständnistrübung vorausgesetzt. Selbst Gerücht und Lüge sind verderbliche Güter. Nur dann gewinnen sie ein alphaftes Eigengewicht, wenn sie sich wahnhaft stabilisieren. Doch sogar in solchen Fällen ist Korrektur durch Belehrung und vernünftiges Zureden nicht unmöglich. Die Idee des situativen Fehlverständnisses setzt die Therapierbarkeit von Mißverständnissen, so schwer sie auch zu verwirklichen sei, immer schon voraus. Dies betrifft auch Mißverständnisse zwischen Angehörigen unterschiedlicher »Kulturen«, also von Menschen, deren Erwartungshorizonte weiter voneinander entfernt sind als das, was der einzelne als den Normalfall seiner Lebenspraxis betrachtet. Aus dem aufklärerischen Modell folgt das Ideal des Auf-einander-Zugehens. Da die anthropologische Beschaffenheit des Homo sapiens im Prinzip überall die gleiche ist, kann nach dieser Auffassung der »zivilisierte« Europäer den »Barbaren« oder »Wilden« durchaus verstehen – wenn er es nur will, wenn er von Unarten wie der Reduktion von Komplexität durch »Stereotypisieren« abläßt, wenn er sich selbstkritisch auf Ethnozentrismus und Vorurteile prüft. Zog der Entwicklungsstand europäischer Welterfassung solchen Bemühungen Grenzen, die der einzelne in früheren Epochen nicht übersteigen konnte, so ermöglicht doch zumindest der Fortschritt in den Kulturwissenschaften die allmähliche Annäherung an das unverstellte Verständnis des Anderen. Das höchste Ideal eines solchen pädagogisch abgestützten transkulturellen Konvergenzglaubens ist die Fähigkeit, sich in Angehörige fremder Kulturen »hineinzuversetzen«. Toleranz steigert sich zu Identifikation: Man 5 Der Verfasser war von den Herausgebern des Bandes, in dem dieser Aufsatz zuerst erschien, um theoretische Überlegungen zum Thema »interkulturelle Mißverständnisse« gebeten worden. Der Text variiert also ein gestelltes Thema.

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läßt im Idealfall den anderen nicht nur leben, wie dieser es will, sondern erwirbt sogar die Fähigkeit, die Welt »durch die Brille« des anderen zu betrachten und dadurch die Gründe für dessen Verhalten zu erkennen. Wo durch beliebigen Perspektivenwechsel alles relativ wird, bestätigt sich der absolute Glaube an die Einförmigkeit der menschlichen Natur. Die Welt tendiert zur Transparenz des völligen Einverständnisses. Ein solches Ergebnis ist indessen interpretierbar. Es kann sich mit tiefstem weltbürgerlichem Humanismus verbinden, aber auch mit der Überzeugung, im Zeitalter von Globalisierung, amerikanischer Kulturhegemonie und schrankenloser Kommunikation nivellierten sich die Unterschiede zwischen den Kulturen bis zur Unkenntlichkeit. Anhänger dieses Modells vertreten die Auffassung von der Universalität zumindest eines Grundstocks von Werten, aus heutiger Sicht besonders der Menschenrechte. Das zweite Modell, das romantische, geht von anderen Voraussetzungen aus. Es findet Mißverständnisse nicht erst im situativen Handlungsvollzug, sondern bereits in den Tiefenkodierungen der einzelnen Kulturen. Statt um situatives Verständnis geht es hier um substantielle Kulturdistanz. Interkulturalität und Mißverständnis sind in dieser Sicht unauflöslich miteinander verbunden. Während Modell I sich nicht ohne weiteres zutraut, die Grenzen zwischen Kulturen deutlich zu erkennen und eher Vorstellungen wie Durchlässigkeit, Anpassungsfähigkeit und Akkulturation betont, nimmt das romantische Modell die Ganzheitlichkeit und Geschlossenheit von Kulturen an. Jede Kultur ist einzigartig, deutlich profiliert, nach innen homogen und von der Spezifik von Sprache, Religion und Ritus geprägt, kurz: ein in sich abgerundetes Ganzes. Kulturen sind von außen klar voneinander unterscheidbar, doch gibt es keinen kulturübergreifenden Werte- und Sinnkosmos. Der kulturellen Pluralität auf der Phämonenebene entspricht ein Relativismus der Werte. Jede Kultur weiß selbst, was für sie gut und richtig ist, und sie hat ihre eigenen Rationalitätsstrukturen. Überlegenheitsansprüche gegenüber anderen sind illegitim. Keine Religion, keine Rechtslehre, keine Ethik, kein Begriff von Wissen und Wissenschaft ist wertvoller als andere, obwohl sich selbstverständlich im realen Kampf der Kulturen Starke und Schwache herausbilden. Jede Kultur pflegt ihren eigenen Ethnozentrismus. Die Geltungsansprüche der einzelnen Ethnozentrismen neutralisieren sich gegenseitig und lassen keinen Raum des Universalen jenseits der Relativität der Normen und Lebensformen. Wenn Angehörige unterschiedlicher Kulturen aufeinander treffen, sind nach diesem Modell Mißverständnisse der Normalfall; sie sind durch unterschiedliche zivilisatorische Codes »vorprogrammiert«. Harmonische Koexistenz und verstehende Würdigung der Eigenart des Fremden kann nur unter seltenen und meist nicht dauerhaften Ausnahmebedingungen gelingen. Dergleichen ist eher eine Leistung besonders einfühlsamer Ausnahmepersönlichkeiten als eine Kulturkonvergenz, die von ganzen Völkern getragen würde. Kulturkontakt manifestiert sich selten anders denn als Kulturkonflikt. Ein »clash of cultures« 243

wird sich allenfalls dämpfen und aufschieben, aber nicht verhindern lassen. Mißverständnis ist nach dem romantischen Modell kein behebbares Fehlverständnis, sondern ein unumgängliches Unverständnis. Die Kulturen schweigen sich an. Im schlimmsten Fall werden sie Opfer ihrer Wahnbilder vom Anderen und fallen gewalttätig übereinander her. Da inviduelle Wahrnehmung und individuelles Handeln nach dem zweiten Modell viel stärker als nach dem ersten kulturell determiniert sind, lassen sich Kontakte kaum situationslogisch interpretieren. Das Primäre an einem Europäer ist danach, daß er »europäisch« wahrnimmt, denkt und handelt, an einem Chinesen, daß er all dies »chinesisch« tut. Es gibt keine gemeinsame Schnittmenge einer kulturneutralen Rationalität. Das erste Modell tendiert dazu, kaum veränderliche kulturelle Prägungen zu unterschätzen, das zweite Modell, sie zu verabsolutieren. Da das romantische Modell deterministischer ist und daher wenig Raum für erklärbares Handeln vorsieht, läßt es sich weniger gut mit der eingangs entworfenen Informationsperspektive auf die Geschichte des Imperialismus verbinden. Wenn die Menschen an den Marionettenfäden ihrer jeweiligen Kultur zappeln, hält ihr Verhalten kaum Überraschungen bereit. Ereignisgeschichte ist daher in diesem Konzept nur am Rande vorgesehen. Umgekehrt kann das aufklärerische Modell die Kollision von Weltbildern, verkörpert in den handelnden Personen, nur unzureichend erfassen. Mißverständnisse werden dann leicht zu kurzatmig gedeutet, zu sehr aus Zufällen, persönlichen Eigenarten, aus der Taktik des Augenblicks, zu wenig vor dem Hintergrund stabiler Ideologien, Dogmen und Werthaltungen. Historiker düften solche Überlegungen, die eher in das Revier von Philosophen und Anthropologen gehören, selten anstellen. Sie mögen aber hilfreich sein, weil sie davor schützen können, einen schillernden Begriff wie den des »kulturellen Mißverständnisses« allzu sorglos zu verwenden. Es gibt, wie zu zeigen versucht wurde, mindestens zwei ganz verschiedene Auffassungen von Mißverständnis, die sich bei genauerer Betrachtung durch die gesamte europäische Ideengeschichte verfolgen ließen. Dabei macht es einen nicht unwichtigen philosophischen Unterschied aus, ob man annimmt, Mißverständnisse seien Ausnahmen oder sie seien der Normalfall im Kontakt der Kulturen. Was unter Kultur zu verstehen wäre, ist eine weitere, noch viel schwierigere Frage, an die sich Folgeprobleme anschließen: Wie kann man Grenzen zwischen Kulturen erkennen? Wie eindeutig ist die Zuordnung von Subjekten zu »ihrer« Kultur? Wie wichtig sind »kulturelle« im Kontrast zu anderen Unterschieden zwischen den Menschen? Wie lassen sich die einzelnen Differenzkriterien voneinander unterscheiden: Sind wir uns z.B. deutlich darüber im Klaren, wann wir von »kulturellen«, wann von »ethnischen« oder »rassischen« Konflikten sprechen sollen? Die suggestive Kraft des Begriffs »kulturelles Mißverständnis« sollte nicht vergessen machen, daß er recht Unterschiedliches bedeuten kann. 244

II. Es lohnt zu fragen, wo in der bisherigen Literatur Zusammenhänge zwischen Imperialismus auf der einen, kulturellen Mißverständnissen auf der anderen Seite mit besonderer Eindringlichkeit und öffentlicher Wirkung aufgezeigt worden sind. Dies ist nicht bei Fachhistorikern geschehen: Eine Kulturgeschichte des Imperialismus steckt erst in den Anfängen. Vielmehr wird die Debatte seit geraumer Zeit im Zeichen einer Postmoderne, die Fächergrenzen nonchalant mißachtet, von Literaturwissenschaftlern bestimmt. Zwei international besonders einflußreiche Entwürfe sollen im folgenden diskutiert werden. Sie stammen von Tzvetan Todorov und Edward Said. Beide Autoren vertreten Spielarten des »romantischen« Deutungsmodells. Beide gelangen dabei an die Grenzen dieses Modells. In seinem Buch »Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen« (im Original 1982)6 hat der bulgarisch-französische Literaturtheoretiker und Philosoph Tzvetan Todorov nicht als Historiker, wie er sagt, sondern als »Moralist« unter anderem die Frage nach den Ursachen der Überwältigung einer komplexen Kriegerkultur wie derjenigen der Azteken durch eine kleine Schar spanischer Ritter gestellt. Er entwickelt dabei einen Erklärungsansatz, der mit gewissen Anpassungen auch auf Fälle imperialer Reichsbildung in Asien und Afrika übertragen werden könnte. Todorov ist sich der Gründe, denen üblicherweise der spanische Erfolg zugeschrieben wird, wohl bewußt:7 das zögernde Verhalten des Aztekenherrschers Moctezuma, die Überlegenheit der spanischen Bewaffnung und insbesondere die Schockwirkung der in Amerika unbekannten Pferde, die Ausnutzung der inneren Streitigkeiten der mexikanischen Völker durch Cortés, die Schwächung der amerikanischen Bevölkerung durch Epidemien, usw. Als Semiotiker konzentriert er aber seine Aufmerksamkeit auf einen einzigen Aspekt: die Beherrschung der Zeichen. Cortés begreift rasch, daß die Azteken, durch Prophezeiungen vorbereitet, die Wiederkehr des Gottes Quetzalcoatl erwarten, und er nutzt die Chance, diese Rolle für sich zu reklamieren.8 Auch in vielen anderen Situationen entdeckt Todorov die Fähigkeit der Spanier und vor allem die ihres genialen Anführers, Worte strategisch einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Mehr noch als Cortés der Kämpfer ist es Cortés der Rhetor, der für die Spanier den Sieg erringt. Die Spanier besitzen ein Übergewicht an kommunikativer Kompetenz, nicht zuletzt durch ihre Schriftlichkeit; stets übernehmen sie die aktive Rolle im Kommunikationsprozeß; sie inszenieren mit großer Verschlagenheit ein Machttheater, das die Azteken blufft 6 T. Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, dt. v. W. Böhringer, Frankfurt a.M. 1985. Ich kommentiere nur Kapitel 2 dieses Buches. 7 Ebd., S. 71–79. 8 Ebd., S. 92–95.

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und blendet und sie von der realen Schwäche der Invasoren ablenkt.9 Alles bei Cortés ist Kalkül und Manipulation, alles bei den Azteken Naivität und Hilflosigkeit. So kommt Todorov, ein lupenreiner Vertreter des »romantischen« Modells des Mißverständnisses, zu dem Schluß, daß die Azteken zwangsläufig unterliegen mußten. Ihre eigene Kultur ließ ihnen keine Chance. »Den Indianern wird nicht bewußt, daß Worte eine ebenso gefährliche Waffe sein können wie Pfeile.«10 Denn für sie ist Sprache Ausdruck, nicht Instrument. Ihre Kultur bindet, ja, lähmt sie durch Rituale, während die Spanier freie, handlungsfähige Akteure sind. Allein die Spanier agieren, sie diktieren den Gang der Dinge; die Indianer, die keine offensiven Ziele haben, keine andere Vision als die, daß der spanische Albtraum zu Ende gehen möge und alles wieder so werde, wie es war, können nichts als reagieren.11 Eine geschlossene und »überdeterminierte«12 wird von einer offenen Zivilisation notwendigerweise bezwungen. Nur die Spanier durchschauen das kulturelle Mißverständnis und setzen es listig für ihre Zwecke ein. Bei den Indianern reduziert sich das Mißverständnis auf eine dumpfe Irritation durch das unbegriffene Fremde. Cortés aber, der Hermeneut und Anthropologe, versteht alles. Die Idee siegt über die Mentalität. Soweit Todorovs auf den ersten Blick sehr überzeugende Interpretation. Dank Todorovs großer literarischer Begabung ist ihm eine ungemein plausible Erklärungsskizze gelungen, die immer wieder als Beweis für die Leistungsfähigkeit einer semiotischen Analyse zitiert wird. Tatsächlich ist kein besseres Beispiel denkbar für die Vervielfachung dürftiger eigener Machtmittel durch Erringung von Hegemonie im Reich der Symbole. So ähnlich, möchte man glauben, muß Kolonialeroberung und später koloniale Herrschaft überall funktioniert haben: als gigantischer Bluff. Ein Unbehagen an Todorovs Interpretation wird jedoch schon den beschleichen, der sich nicht die Mühe macht, die Quellen, die Todorov gründlich studiert hat, selber zu prüfen. Denn man staunt, alle jene selbstgefälligen anthropologischen Mythen von der angeborenen Überlegenheit des Renaissance-Europäers und umgekehrt von der naturhaften Befangenheit des »primitiven Denkens«, die seit Jahrhunderten die Kolonialapologie bestimmen, nunmehr im Modegewand semiotischer Theorie wiederholt und bekräftigt zu finden. Nur in Nuancen unterscheidet sich Todorov etwa von William H. Prescotts hochdramatischem Bestseller »History of the Conquest of Mexico« von 1843. Waren aber die Azteken wirklich so irrational, wie Todorov sie darstellen muß, damit sie in seine Theorie passen? Öffnete sich zwischen den beiden Kulturen (oder vielmehr ihren Vertretern) 9 Ebd., S. 138–51. 10 Ebd., S. 112. 11 Ebd., S. 135. 12 Ebd., S. 83. Zur Kritik an Todorov vgl. auch B. Mitlewski u. S. M. Schomburg-Scherff, Das Problem des Anderen in der Darstellung ethnologischen Verstehens, in: Anthropos, Jg. 85, 1990, S. 558–564.

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tatsächlich ein derart tiefer anthropologischer Graben? Könnte die Asymmetrie zwischen naiven Eingeborenen und sentimentalisch-reflektierten Europäern nicht vielleicht doch weniger kraß gewesen sein? Und waren, wie Todorov meint, die kulturellen Mißverständnisse nach 1519 von einer Art, die die Azteken geradezu zum Untergang verdammte? Eine bedenkenswerte Kritik an Todorov, in die sympathische Form einer voll ausgearbeiteten Alternative gekleidet, stammt von Inga Clendinnen. Da sie ein vielgelobtes ethnologisches Standardwerk über die Azteken geschrieben hat13, steht sie über dem Verdacht, es fehle ihr das Verständnis für historische Anthropologie.14 Clendinnen geht kritischer an die Quellen heran als Todorov. So kommt sie zunächst zu der Vermutung, die Theorie von der »Rückkehr der Götter«, die sich so elegant in Cortés’ Selbstinterpretation einfügte, sei auch in den auf indianischen Informationen beruhenden Quellen, etwa der Enzyklopädie des Bernardino de Sahagún, eine erst nach der Eroberung ernstgenommene Rationalisierung gewesen.15 Vor allem gelingt es Inga Clendinnen, die Logik hinter dem Verhalten des Aztekenherrschers und seiner Aristokratie sichtbar zu machen. So kann auch Cortés seinerseits als jemand erscheinen, der die von den Azteken ausgesandten Signale mißdeutet. »In diesem Durcheinander verpaßter Hinweise und falsch verstandener Botschaften,« folgert Clendinnen, »scheint die ›Kontrolle über die Kommunikation‹ [ein TodorovZitat] beiden Seiten gleichermaßen entglitten zu sein.«16 Damit ist die Symmetrie zwischen Spaniern und Indianern wiederhergestellt und Todorovs einseitige Aktion-Reaktion-These korrigiert. In den ersten Phasen des Konflikts manipulierten die Azteken die Spanier mindestens ebenso erfolgreich wie umgekehrt. Todorov übersieht dies, weil er der geschickten Ex-post-Selbststilisierung des Cortés aufsitzt. Die Azteken, so Clendinnen, waren keineswegs durch die Rigiditäten einer andersartig-exotischen Kultur gelähmt; rationales taktisches Kalkül gehörte durchaus zu ihrem Verhaltensrepertoire. So war der Sieg der Spanier auch keineswegs durch Entwicklungsdifferenz zwischen den Kulturen schon garantiert – wie eine Geschichtsschreibung der Triumphatoren es allzu gerne sieht. Er war weitgehend ereignisgeschichtlich kontingent, also vom Zufall bestimmt: »a very close-run thing«.17 Was schließlich am Ende einer langen Auseinandersetzung den »moralischen Zusammenbruch«18 der aztekischen Verteidiger auslöste, war nicht ihre mentale Unbeweglichkeit, sondern die schiere Brutalität und Hemmungslosigkeit der spanischen Kriegführung, 13 I. Clendinnen, The Aztecs: An Interpretation, Cambridge 1991. 14 Dies., »Fierce and Unnatural Cruelty«: Cortés and the Conquest of Mexico, in: S. Greenblatt (Hg.), New World Encounters, Berkeley 1993, S. 12–47. 15 Ebd., S. 16. 16 Ebd., S. 18. 17 Ebd., S. 24. 18 Ebd., S. 33.

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die jeden aztekischen Begriff von militärischer Auseinandersetzung verletzte: Schlächtereien unter der Zivilbevölkerung, Mißachtung einer rituellen Zeitordnung (z.B. durch nächtliche Angriffe), Hungerblockaden und eine Taktik der verbrannten Erde. Daß Cortés immer mehr seine Zuflucht zu solchen Exzessen nahm, daß er ohne militärische Notwendigkeit die glanzvolle Stadt Tenóchtitlan, die er eigentlich seinem Kaiser unversehrt darbieten wollte, dem Erdboden gleichmachte, deutet Clendinnen eben nicht als Ergebnis gekonnter Manipulation, sondern als das genaue Gegenteil: Die Azteken hatten sich als geschickte, der Manipulation letztlich unzugängliche Gegner erwiesen; der Herr der Zeichen war am Ende seiner Kunst angelangt. Nur der schrankenlose Terror, den Cortés mit Hilfe seiner einheimischen Hilfstruppen entfesselte, schien als ultima ratio zu bleiben.19 Die Eroberung Mexikos war die Ursituation des neuzeitlichen europäischen »empire-building«, Cortés der Prototyp aller späteren Konquistadoren. Deshalb sind die Kontroversen, die sich an den Ereignissen von 1519–21 entzündeten, auch unmittelbar für die Thematisierung kultureller Mißverständnisse in Asien lehrreich. Ob nun Todorov oder Clendinnen oder vielleicht keiner von beiden »recht hat«, ist für unseren Zweck unerheblich. Es kam darauf an, zwei ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen nebeneinanderzustellen: hier die »romantische« Position eines Holismus, der geschlossene und einander von Anfang an fremde Kulturwelten aufeinanderprallen sieht, dort eine »aufklärerische« Auffassung, die Andersartigkeit und vorgegebene Konfliktpotentiale nicht leugnet, aber eine kulturalistische Argumentation a priori zugunsten einer Untersuchung der sich von Situation zu Situation entwickelnden Auseinandersetzung vermeidet. Hier wird, was Urs Bitterli den »Umschlag der Kulturberührung in den Kulturzusammenstoß« nennt,20 als Prozeß deutlich. Die Mißverständnisse nehmen zu, und sie gewinnen erst mit der Zeit eine stärker kulturelle Akzentuierung. Nicht am Anfang, sondern am Ende einer längeren Phase der Interaktion steht die Selbstabschottung der Kulturen. Dies ist fraglos nicht überall so gewesen. Doch ergeben sich, wie die historische Forschung zu bestätigen scheint, kulturelle Mißverständnisse nicht schon aus der Zerstreuung und Partikularisierung der Völker, wie sie der Mythos vom Turmbau zu Babel ausdrückt. Mißverständnisse sind nicht zwangsläufige Produkte einer zersplitterten Welt. Sie werden – und daran erinnert uns das »aufklärerische« Modell – von Menschen gemacht.

19 Ebd., S. 36–41. 20 U. Bitterli, Alte Welt – neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1986, S. 28.

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III. Die Anregungen und Provokationen, die von Edward W. Saids Buch »Orientalism« seit seinem Erscheinen im Jahre 1978 ausgehen21, sind von einer anderen Größenordnung als die Impulse Tzvetan Todorovs. Auch untersucht Said nicht die realen Kontakte zwischen Europäern und Nicht-Europäern, sondern ausschließlich die westliche Wahrnehmung und Beurteilung anderer Zivilisationen, vor allem der islamischen Welt. Said, der an der Columbia University Vergleichende Literaturwissenschaft lehrt und auch als Musikkritiker hervorgetreten ist, hat, vor allem in den USA, eine der stürmischsten Kulturdebatten der Nachkriegszeit ausgelöst.22 Hinter Said hat sich eine große Anhängerschar formiert, die gegen jegliches Anzeichen einer imperialistisch-«orientalistischen« Gesinnung zu Felde zieht und die Analysen des Meisters – nicht immer ganz auf dessen eigenem Niveau – auf immer neue Gebiete überträgt. Von seiner Wirkung her gesehen, gehört »Orientalism« gewiß zu den »great books« der letzten Jahrzehnte. Die Asienwissenschaften, die im akademischen Leben des angelsächsischen Raumes eine weitaus größere Rolle spielen als in Deutschland, sind durch Saids polemische Attacken zur Überprüfung ihrer unbefragten Voraussetzungen, ja, sogar zur Rechtfertigung ihrer Existenz gezwungen worden. Niemand wagt es zum Beispiel nach Said, wie es noch 1970 ein namhafter Orientforscher tat, von der »Überlegenheit der westlichen Methode historischer Forschung über ihre muslimischen oder chinesischen Äquivalente« zu sprechen.23 Alles, was nach westlicher Arroganz und Besserwisserei aussieht, ist unter den Bannfluch der Saidianer geraten. Vor allem die Auffassung, außereuropäische Kulturen seien zur wissenschaftlichen Reflexion über sich selbst unfähig und bedürften der geistigen Stellvertretung – vielleicht die lange Zeit verbreitetste der Haltungen, die Said kritisiert – ist unhaltbar geworden. Eine zweite Konsequenz von »Orientalism« besteht darin, daß das Verhältnis des »Westens« zu nichtwestlichen Zivilisationen erstmals zu einem zentralen Thema auch nicht-asienbezogener 21 E. W. Said, Orientalism, London 1978. Da die deutsche Übersetzung (Frankfurt a.M. 1981) nur einen matten Abglanz des Originals bietet, zitiere ich nach dem englischen Text. Daß Said inzwischen manche seiner radikaleren These gemildert oder zurückgenommen hat, soll hier nicht interessieren. Weltweit gewirkt haben die Formulierungen von »Orientalism«. 22 Als Gesamtübersicht über Saids Werk vgl. G. H. Lenz, Edward W. Said, in: H. Heuermann u. B.-P. Lange (Hg.), Contemporaries in Cultural Criticism, Frankfurt a.M. 1991, S. 443–470. Ergänzende Überlegungen zum vorliegenden Beitrag in: J. Osterhammel, Edward W. Said und die »Orientalismus«-Debatte. Ein Rückblick, in: Asien Afrika Lateinamerika, Jg. 25, 1997, S. 597–607. 23 D. Sinor, Introduction in: Ders. (Hg.), Orientalism and History, Bloomington, Ind. 19702, S. XVII. Ähnlich, aber milder im Ton, B. Lewis: Eurozentrismus. in: Merkur, Jg. 49, 1995, S. 644– 651, bes. S. 650. Leider hat der Siegeszug der Orientalismuskritik die berechtigte (und auch in Asien und Afrika gestellte) Frage nach der Universalisierbarkeit eines westlichen Wissenschaftsverständnisses unter das Tabu imperialistischer Anmaßung gestellt.

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Kulturwissenschaften geworden ist, jedenfalls in den USA. In seinem Buch »Culture and Imperialism »von 1993 versucht Said weitergehend zu zeigen, wie die Abwehr und Fehldeutung des orientalischen Fremden nahezu die gesamte hohe Literatur Europas von Jane Austen bis Albert Camus durchzieht.24 Auf Saids Spuren haben sich Scharen von Literaturwissenschaftlern dem Studium westlicher Orientauffassungen verschrieben. Wo in einem von Said erst wenig betroffenen Wissenschaftsmilieu wie dem deutschen immer noch bieder von »Bildern« die Rede ist, die man sich in einer Kultur von einer anderen macht, reden Autorinnen und Autoren, die sich als »post-orientalistisch« oder »postkolonial« verstehen, von der »orientalistischen Konstruktion des Anderen«. Der Saidsche Impetus hat der amerikanischen Literaturwissenschaft zur expansiven Erschließung neuer Themenfelder verholfen; darunter der Reiseliteratur und sogar der Wissenschaftsgeschichte der Orientalistik. Inzwischen sind Edward Said und seine Ansichten nicht nur zu einem Objekt teils der Verehrung, teils verbitterter Ablehnung geworden, sondern auch zum Gegenstand einer wachsenden Sekundärliteratur.25 Man kann Saids Theorie des »kulturellen Mißverständnisses« – er selbst würde, wie sogleich verständlich werden wird, diese Formulierung vermutlich für sich ablehnen – nicht vorstellen und diskutieren, ohne den öffentlichen Einfluß anzusprechen, den seine Ideen erlangt haben. Selbst entschiedene Gegner gestehen Said zu, daß er es wie kein anderer Autor der Gegenwart vermocht hat, die Frage der Haltung des Okzidents zum Islam und darüber hinaus auch zu den anderen Zivilisationen Asiens als ein zentrales Problem der Selbstbestimmung des Westens ins allgemeine Bewußtsein zu heben. Kulturelle Mißverständnisse erlangen dadurch eine ganz neue Bedeutung. Sie treten nicht nur in punktuellen Kommunikationsproblemen zutage, die Reisende oder Imperialagenten in der Ferne erfahren. Der Westen als ganzer ist in Saids Augen seinem Wesen nach unfähig, andere Kulturen unverzerrt wahrzunehmen. Das Mißverständnis des Fremden und damit letztlich auch die Schwierigkeit, mit sich selbst ins Reine zu kommen, ist seit dem Beginn des modernen Imperialismus – Said zufolge um 1800 – ein zentrales Merkmal der westlichen Zivilisation. Wie erklärt sich die immense Wirkung von »Orientalismus«, nachdem das Buch 1978 erschien? Zunächst sicher aus den unmittelbaren Zeitumständen. Drei Jahre nach dem Ende des Vietnamkriegs und angesichts neuer Wirrnisse im Libanon schien ein Sündenbock für das Versagen des Westens (einschließ24 E. W. Said, Culture and Imperialism, London 1993. 25 Vgl. etwa zwei (extrem Said-freundliche) Übersichten über die bisherige Kritik: L. Mani u. R. Frankenberg, The Challenge of »Orientalism«, in: Economy and Society, Jg. 14, 1985, S. 174–192; G. Prakash, »Orientalism« Now, in: H&T, Jg. 34, 1995, S. 199–212. Zahlreiche Arbeiten der SaidSchule werden vorgestellt und diskutiert bei J. M. MacKenzie, Orientalism: History, Theory and the Arts, Manchester 1995, S. 1–42. Vgl. auch M. Sprinker (Hg.), Edward Said. A Critical Reader, Oxford 1992; Z. Sardar, Orientalism, Buckingham 1999.

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lich Israels) gegenüber den Nationalismen in der Dritten Welt gefunden zu sein: ein kollektiv pathologischer Verblendungszusammenhang, eine Verschwörung von Wissen und Macht, die unbeschädigt das Zeitalter der politischen Dekolonisation überstanden hatte. Ein Meinungsführer der liberalen amerikanischen Kulturszene, noch dazu politisch engagierter Palästinenser und daher Kolonialismuskritiker mit Authentizitätsanspruch, hatte den Anti-Imperialismus (und Anti-Zionismus) zum Kulturproblem veredelt und damit salonfähig gemacht. Saids Thesen allein erklären den Kultstatus, den »Orientalismus« rasch erlangte, noch nicht. Ganz neu waren sie keineswegs. Mit dem Vorwurf des Ethnozentrismus oder Eurozentrismus, gar dem ihrer kolonialistischen Verstrickung hatte die Wissenschaft vom kulturell Anderen längst zu leben gelernt; er war beinahe so alt wie sie selbst. Um 1978 hatte zum Beispiel die Ethnologie die Diskussion um ihre Beziehungen zu imperialer Herrschaftspraxis weitgehend hinter sich.26 Auch waren die Orientwissenschaften keineswegs durchweg so selbstgefällig, wie Said sie mit seiner nicht allzu profunden Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte darstellt. Der große russische Orientforscher Vasilij Vladimirovic Bartol’d zum Beispiel, den Said an keiner Stelle nennt, hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg zahlreiche der ideologischen Beschränkungen seiner Fachkollegen kritisiert, etwa »die Geringschätzung der Geschichte der modernen orientalischen Völker«.27 Und der nicht minder bedeutende, ebenfalls klassische Studien und Gegenwartsinteresse verbindende Islamist Carl Heinrich Becker, bekannt als preußischer Kultusminister, war gleichzeitig einer der schärfsten Kritiker der Kolonialpolitik des kaiserlichen Deutschland.28 Neu war bei Edward Said zweierlei: Zum einen begnügte er sich nicht damit, die offensichtliche Indienstnahme der Wissenschaft für die Zwecke imperialistischer Herrschaftssicherung abermals nachzuweisen. Er zeigte vielmehr, wie »hinter dem Rücken der Subjekte« eine machtverwandte Denkweise am Werke war, die auch noch die vorgeblich reinste und interessenfernste Wissenschaft 26 Die Argumente faßt zusammen: G. Leclerc, Anthropologie und Kolonialismus, dt. v. H. Zischler, München 1973. Zur späteren Diskussion um Ethnologie und Kolonialismus vgl. H. Kuklick, The Savage Within; The Social History of British Anthropology 1885–1945, Cambridge 1991, S. 182–241, sowie die Gegenposition bei J. Goody, The Expansive Moment: Anthropology in Britain and Africa 1918–1970, Cambridge 1995, S. 3, S. 191–208. 27 V. V. Barthold:, Die geographische und historische Erforschung des Orients unter besonderer Berücksichtigung der russischen Arbeiten, Leipzig 1913, S. 88. Hervorh. J.O. 28 Vgl. Verhandlungen des Deutschen Kolonialkongresses 1910 zu Berlin, Berlin 1910, S. 638–651; G. Müller, Weltpolitische Bildung und akademische Reform. Carl Heinrich Beckers Wissenschafts- und Hochschulpolitik 1908–1930, Köln 1991. Zu Becker und anderen Orientalisten des frühen 20. Jahrhunderts vgl. auch J.-J. Waardenburg, L’Islam dans le miroir de l’Occident, Den Haag 1962. Zu den Mängeln von Saids Wissenschaftsgeschichtsschreibung vgl. G. Stauth, Islam und westlicher Rationalismus. Der Beitrag des Orientalismus zur Entstehung der Soziologie, Frankfurt a.M. 1993, S. 57 f.

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infizierte. Die Unschuldsvermutung, welche die akademische Orientforschung vom Trivialschrifttum der Pseudo-Experten zu unterscheiden schien, wurde radikal in Zweifel gezogen. Zum anderen bediente sich Said bei seinem polemischen Unternehmen der Termini und Argumentationsmuster fortgeschrittener Kulturkritik. A. L. Tibawi und Albert Hourani, Maxime Rodinson und Anouar Abdel-Malek, Frantz Fanon und Aimé Césaire mochten längst – und wenig gehört – Ähnliches gesagt haben:29 Said wiederholte es, rhetorisch brillant, theoretisch anspruchsvoll und mit reichem Material illustriert, auf eine Weise, die das Problem aus den Berechenbarkeiten angeblicher Dritte-WeltRessentiments heraushob und Kennern des frühen Lukács, des späten Gramsci und des mittleren Foucault schmackhaft machte. Wer auf der Höhe der Zeit sein wollte, redete nun über »Orientalism«.30 Was außerdem noch – abgesehen von einigen polemischen Attacken auf bekannte Islamforscher wie Bernard Lewis31 – an dem Buch faszinierte, war die nahtlose Verbindung von grandiosen Allgemeinaussagen mit der genauen Lektüre einzelner Texte. Attraktiv war auch die Vermischung der Gattungen, denn »Orientalismus« ist für Said eine Bewußtseinshaltung, die sich gleichermaßen in Reiseberichten, Romanen und Opernlibretti, in historischen Abhandlungen, Grammatiken und Politikerreden auffinden läßt. Der »Diskurs« kennt keine Gattungsgrenzen. Er ist allgegenwärtig, und ebenso ubiquitär sind die Bewußtseinsblockaden, die er produziert. Am engsten verbindet sich Edward Said den theoretischen Vorlieben und kulturkritischen Stimmungslagen der siebziger Jahre dort, wo er das, was er bewußt uneindeutig »Orientalismus« nennt, in Gegensatzpaaren oder »binären Oppositionen« beschreibt. Es war dies eine Denkform des Spätstrukturalismus, die Said mit großem Erfolg anwendet. Vor allem drei solcher Gegensätze charakterisieren ihm zufolge den »orientalistischen« Diskurs. Erstens: Monolog, nicht Dialog. Der Orientalismus redet über die zur Stummheit verdammten Orientalen so, wie bei Michel Foucault die Psychiater über die bloß murmelnden Irren reden.32 Der Orient war »nicht Europas Ge29 Kurz vor dem Erscheinen von Saids Buch etwa: A. Hourani, The Present State of Islamic and Middle Eastern Historiography [1976], in: Ders., Europe and the Middle East, London 1980, S. 161–196; M. Rodinson, The Western Image and Western Studies of Islam, in: J. Schacht u. C. E. Bosworth (Hg.), The Legacy of Islam, Oxford 1974, bes. S. 44–54; ähnlich Ders., Die Faszination des Islam, dt. v. I. Riesen, München 19912. Andere (auch arabische) Autoren stellt vor: U. Freitag, The Critique of Orientalism, in: M. Bentley (Hg.), Companion to Historiography, London 1997, S. 620–638. Said hat in »Culture and Imperialism« einige dieser Vorgänger anerkannt und gewürdigt. 30 Ein Teil der großen Resonanz auf »Orientalism« erklärt sich daraus, daß Said das Denken Foucaults und anderer französischer Philosophen in der angelsächsischen Welt popularisierte. Vgl. B. S. Turner, Orientalism, Postmodernism and Globalism, New York 1994, S. 4. 31 Vgl. Said, Orientalism, S. 315 ff., und Lewis’ verschiedene Repliken, z.B. B. Lewis, Islam and the West, New York 1993, S. 99–118. 32 Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, dt. v. U. Köppen, Frankfurt a.M. 1969.

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sprächspartner, sondern sein schweigendes Anderes.«33 Der Orientalismus ist ein Monolog, ein von jeder Erfahrung nicht-okzidentaler Lebenswirklichkeit entfremdetes, besserwisserisches, ein unentwegt etikettierendes, klassifizierendes und methodisierendes Geschwätz. Anders gesagt: er ist ein geschlossener, mit sich selbst rückgekoppelter, ein homogener und im Bezug auf selbstgeschaffene Prinzipien reduktionistischer Wissenskosmos. Fakten vermag er mühelos zu verarbeiten, Erkenntnisse kann er nicht gewinnen. Einmal, im frühen 19. Jahrhundert, durch eine Generation von einflußreichen Gründern etabliert, wird der Orientalismus zu einem die ganze Gesellschaft durchdringenden »System von Wahrheiten«34 (also von Glaubenssätzen), das durch Erfahrungen nicht mehr korrigiert werden kann. Auch die Reisenden, selbst der geniale Schriftsteller Gustave Flaubert, »sehen« im Orient nur, was sie zuvor bei den Orientalisten gelesen haben. So kommt Said zu dem Schluß, »daß [im 19. Jahrhundert] jeder Europäer, in dem, was er über den Orient sagen konnte, ein Rassist, ein Imperialist und ein fast vollkommener Ethnozentriker war«.35 Zweitens: Konstruktion, nicht Abbild. Die selbstgeschaffenen Prinzipien des Orientalismus sind solche der Objektivierung und Distanzierung. Objektivierung bedeutet, die östlichen Kulturen ohne jeden persönlichen Enthusiasmus auf den Seziertisch der Wissenschaft zu legen. Die Schlüsselprozedur des orientalistischen Monologs aber ist die Konstruktion von Differenzen. Die allgemeinste dieser Differenzen ist die zwischen uns und dem Fremden, zwischen »West« und »Ost«, »Abendland« und »Morgenland«, »Okzident« und »Orient«.36 Diese Erfindung eines Erkenntnisobjekts namens »Orient« erfolgt nicht willkürlich, subjektiv und regellos. Der Orient der Orientalisten ist kein reines Wahngebilde. Er entsteht nach 1800 – Said sieht Napoleons Invasion Ägyptens (1798) als einen epochalen Einschnitt37 – vor dem doppelten Hintergrund einerseits der realen Beherrschung östlicher Völker durch die europäischen Großmächte, andererseits eines neuartigen Wissenschaftsbegriffs, der, wie Ronald Inden später präzisiert, am Vorbild der positivistischen Naturwissenschaften orientiert ist.38 Wenn Edward Said den Orient der Orientalisten als Konstrukt begreift, dann impliziert er, was dieser nicht ist: ein Abbild der Wirklichkeit. Aus Saids Sicht ist dies kein Einwand gegen die Orientalisten; einige der erfolgreichsten unter ihnen waren selbst stolz darauf, den Orient aus Trümmern und Texten überhaupt geschaffen oder re-konstruiert zu haben.39 Er 33 E. W. Said, Orientalism Reconsidered, in: S. K. Farsoun (Hg.), Arab Society: Continuity and Change, London 1985, S. 105–122, hier S. 109. 34 Said, Orientalism, S. 204. 35 Ebd., S. 204. 36 Ebd., S. 43f. 37 Ebd., S. 79–88, 122. 38 Vgl. R. Inden, Imagining India, Oxford 1990, S. 12–21. 39 Said, Orientalism, S. 86f.

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wirft ihnen vieles vor, aber nicht, die Realität verzerrt oder verkehrt wiedergegeben zu haben. Die in der Literatur über Fremdbilder beliebte Konfrontation von europäischen Texten, etwa älteren Reiseberichten, mit dem »tatsächlichen« Orient, wie wir ihn heute zu kennen glauben, wäre im Rahmen des Saidschen Denkens absurd. Denn nach dem Diskursbegriff Michel Foucaults, dem Said hier folgt,40 ist es unzulässig, eine Aussage über den Orient als empirisch »falsch« zu bewerten. Wo es keine Bilder gibt, kann auch nicht von falschen Bildern und Fehlrepräsentationen die Rede sein. Saids Erkenntnistheorie ist konstruktivistisch; sie ist also gegen die Vorstellung eines subjektiven Bewußtseins gerichtet, das sich einen bildlichen Eindruck von einer unabhängig von ihm existierenden Realität schafft. Übrigens berührt sich Said hier mit einem gleichzeitig erschienenen vielbeachteten philosophischen Entwurf: Richard Rortys »Philosophy and the Mirror of Nature« (1979), einer Kritik am cartesianischen Dualismus von subjektivem Bewußtsein und objektiver Außenwelt.41 Drittens: Essenz, nicht Kontingenz. Saids Denken – und noch konsequenter das von Ronald Inden in seinem Buch »Imagining India«, das Saidsche Analysemethoden auf Indien zu übertragen versucht42 – ist anti-essentialistisch. Was ist darunter zu verstehen? Zu den Axiomen des orientalistischen Diskurses gehört die Vorstellung, es gebe durch unveränderliche Attribute bezeichenbare kulturelle Substanzen, die sich eindeutig voneinander abgrenzen und womöglich in Relation zueinander bewerten ließen; sie gingen dem Handeln der Menschen bindend und gleichsam transzendental voraus. Überall, wo z.B. von der seinsmäßigen Andersartigkeit des Morgenlandes, vom »Wesen« der indischen Zivilisation, vom »islamic mind« oder von der »konfuzianischen Persönlichkeit« die Rede ist, stellt sich der Verdacht auf solches verdinglichende Substanzdenken ein.43 Es ist ein Markenzeichen für das, was oben das »romantische« Modell des kulturellen Mißverständnisses genannt wurde; Tzvetan Todorovs Aussagen über die Besonderheiten der aztekischen Zivilisation sind ein gutes Beispiel dafür. Über mögliche Alternativen zu einer solchen Denkweise äußern sich Said und die übrigen Orientalismuskritiker nur höchst vage: Ronald Inden will mit vielen anderen »human agency«, also die Handlungsinitiative von Individuen und Gruppen, in den Vordergrund stellen, verrät aber nicht, wie er dabei die Rückkehr zu einer schlichten Ereignisgeschichte ver40 Vgl. über Saids Verhältnis zu Foucault: J. Clifford, Rezension von E. W. Said, »Orientalism«, in: H&T, Jg. 19, 1980, S. 204–223, insbes. S. 212–219; L. Binder, Islamic Liberalism: A Critique of Development Ideologies, Chicago 1988, S. 109–122. 41 R. Rorty, Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a.M. 1981. 42 Inden, Imagining India. Die Thesen des Autors sind leichter zugänglich in R. Inden, Orientalist Constructions of India, in: MAS, Jg. 20, 1986, S. 401–446. 43 Ein krasses Beispiel ist O. Weggel, Die Asiaten, München 1989, wo mit unkritischer Selbstgewißheit die wildesten Pauschalbehauptungen über »die Asiaten« aufgetischt werden.

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meiden kann.44 Gyan Prakash, der einen inhaltlich umgekehrten Essentialismus auch in der nationalistischen indischen Geschichtsschreibung findet, fordert eine »relational historiography«, die die Freiheit und Wandelbarkeit kultureller Formen betont.45 Monolog, Konstrukt, Essenz und die Gegenbegriffe Dialog, Abbild und (je nachdem) Kontingenz, Relation oder »human agency«: dies sind drei Kernkonzepte bei Edward Said. Sie verbergen sich hinter dem sichtbareren Begriff des »Diskurses«.46 Der orientalistische Diskurs, so kann man im Anschluß an Said definieren, ist ein interessengestütztes Konstrukt, das in monologisierender Form die essentielle Andersartigkeit, oft sogar die Minderwertigkeit des Fremdkulturellen bekräftigt und daraus häufig politische Herrschaftsansprüche, mindestens aber die kulturelle Hegemonie des Westens ableitet. Von den Konsequenzen aus diesen Überlegungen für die Untersuchung interkultureller Wahrnehmung sei nur eine genannt: Nach strenger Foucaultscher Diskurstheorie dürfte eigentlich von individuellen Autoren gar nicht, von einzelnen Texten nur ausnahmsweise und im Grunde allein von »diskursiven Formationen« die Rede sein.47 So weit geht der Polemiker Edward Said nicht. Ausdrücklich gegen Foucault bekennt er sich zu »der maßgeblichen Einwirkung einzelner Schriftsteller auf das ansonsten anonyme Kollektiv-Corpus von Texten, das eine diskursive Formation wie den Orientalismus ausmacht«.48 Eindeutig ist aber, daß subjektive Einstellungen, Haltungen und Motive von Bilder-Produzenten in dieser Denkweise keinen Platz haben dürfen. Ausdrücke wie »Vorurteil«, »Befangenheit«, »Objektivität«, »Sympathie« und »Antipathie«, ja selbst ein wertender Begriff von »Toleranz« haben in einer Diskursananalyse nichts zu suchen. Hier liegt einer ihrer großen Vorzüge: sie ist anti-intentional und anti-hermeneutisch und ermöglicht dadurch eine große Genauigkeit in der strukturellen Beschreibung von Äußerungen. Daraus ergibt sich aber auch: Die Werthaltungen von Autoren und die Metaphorik und Argumentationsweise ihrer Texte stehen in keinem eindeutigen Verhältnis zueinander. Gute und fortschrittliche Menschen sind nicht immer und unbedingt die besseren 44 Inden, Imagining India, S. 23f., 52. 45 G. Prakash, Writing Post-Orientalist Histories of the Third World. Perspectives from Indian Historiography. in: CSSH, Jg. 32, 1990, S. 383–408, bes. S. 399. Dazu der Diskussionsbeitrag von R. O’Hanlon u. D. Washbrook, After Orientalism: Culture, Criticism, and Politics in the Third World, in: CSSH, Jg. 34, 1992, S. 41–67. Zur Essentialismusproblematik allg. vgl. C. Calhoun, Social Theory and the Politics of Identity, in: Ders. (Hg.), Social Theory and the Politics of Identity, Oxford 1994, S. 9–35, bes. S. 12–20. 46 Vgl. zur Problematik und vielfältigen Auslegbarkeit dieses Begriffs M. Frank, Zum Diskursbegriff bei Foucault, in: J. Fohrmann u. H. Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 25–44. 47 So vor allem M. Foucault, Archäologie des Wissens, dt. v. U. Köppen, Frankfurt a.M. 1973, S. 48–60. 48 Said, Orientalism, S. 23.

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Beobachter – und umgekehrt. Sympathie klärt nicht unweigerlich den Blick. Wenn Edward Said selbst bei der Analyse einzelner Autoren und vor allem im dritten, dem polemischen Teil seines Buches, die Diskursanalyse gesinnungsethisch, ja geradezu voluntaristisch unterläuft, indem er die Möglichkeit vorsieht (etwa am Beispiel der pro-islamischen Leidenschaft des großen Islamisten Louis Massignon), durch einen Akt interkultureller Solidarität in die Authentizität der anderen Zivilisation hineinzuspringen, dann unterminiert er seine eigenen theoretischen Voraussetzungen49 und öffnet Tür und Tor für die alten wertenden Klischees, nach denen »positive« und »negative« Bilder fremder Kulturen auseinandersortiert werden. Und im übrigen: Gibt es eine essentialistischere Kategorie als »Authentizität«? Das »wahre Wesen« einer Kultur muß nach Said unerkannt bleiben, weil Kulturen kein »wahres Wesen« besitzen. Das ist ein Grundsatz jeder Orientalismuskritik.

IV. Die Debatte über Saids Thesen, seine eigene Entwicklung seit 1978 sowie die zahlreichen Versuche seiner Schüler und Anhänger, die Fahndung nach orientalistischen Splittern in immer neue Zonen der europäischen Bewußtseinsgeschichte voranzutreiben, brauchen hier nicht im einzelnen nachgezeichnet zu werden. Auch genügt es, pauschal auf Autorinnen wie Gayatri Chakravorty Spivak50 und Autoren wie Homi K. Bhabha51 hinzuweisen, die Saids Anregungen und daneben vor allem die des Philosophen Jacques Derrida zu eigenständigen, freilich in ihrer Empirieferne oft für Historiker wenig nützlichen kulturtheoretischen Entwürfen weitergeführt haben.52 Bei der Kritik an Said kann es nicht darum gehen, den Saidschen Ansatz pauschal zu verwerfen oder ihn ebenso pauschal zu der Weisheit letztem Schluß zu erklären. Weder die Abweisung jeglichen Selbstzweifels durch manche Vertreter der orientalistischen Fächer noch die eifernde Gesinnungsinquisition 49 Vgl. die Kritik von Clifford, Review, S. 216–218. 50 Vgl. D. Landry u. G. MacLean (Hg.), The Spivak Reader: Selected Works of Gayatri Chakravorty Spivak, London 1996; G. C. Spivak, A Critique of Post-Colonial Reason: Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge, Mass. 1999; dazu die fulminante Kritik von T. Eagleton, in: London Review of Books, 13. 5. 1999, S. 3–6. 51 Vgl. H. K. Bhabha, The Location of Culture, London 1994. Weithin berechtigte Kritik daran bei N. Thomas, Colonialism’s Culture: Anthropology, Travel and Government, Cambridge 1994, S. 39ff. 52 Parallele Bestrebungen für Afrika finden sich etwa bei V. Y. Mudimbe, The Invention of Africa. Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge, Bloomington, Ind. 1988. Einen guten Überblicke über die Weiterführungen der Saidschen Anregungen geben die 15 Kapitel in: K. Ansell-Pearson u.a. (Hg.), Cultural Readings of Imperialism: Edward Said and the Gravity of History, London 1997.

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und die anti-westliche Aggressivität einiger Said-Jünger verdienen Sympathie. So hat der Philosoph und Anthropologe Ernest Gellner gegen die bei Said verborgen angelegte und bei einigen Said-Anhängern ausgesprochene Auffassung, um ein angemessenes Verständnis einer Kultur zu garantieren, dürfe z.B. nur ein Muslim den Islam interpretieren, nur ein Afrikaner die Geschichte Afrikas schreiben (usw.), die aufklärerischen Prinzipien eines erkenntnistheoretischen Universalismus geltend gemacht: »[...] Muslime und alle anderen Arten von Leuten haben manchmal recht und manchmal nicht. Man kann dies nur beurteilen, wenn man sich ansieht, was sie sagen, und nicht, wer es sagt. Es gibt keine natürlichen Wahrheitsbringer und keine natürlichen Bringer des Irrtums.«53 Gerade die leidenschaftliche Reaktion Ernest Gellners, eines der wichtigsten Denker der Gegenwart, beweist die Bedeutung der Probleme, die Said anspricht. Am Grunde der Kontroverse, die Gellner und Said 1993 in scharfer Form austrugen,54 lag die Frage nach Relativismus oder Absolutismus in der Wahrnehmung und Bewertung von Kulturen. Die Frage hat eine kognitive und eine moralische Seite. Kognitiv ist sie so zu stellen: Soll jede Kultur einzig und allein »aus sich heraus« verstanden werden können, oder gibt es allgemeinere Perspektiven von Wissenschaftlichkeit, die (auch) eine Sicht von außen legitimieren?55 Ist Wissen universal oder existieren unterschiedliche und unvergleichbare kulturelle Wahrheiten? Moralisch geht es um die Frage, ob Kulturen universalen Wertmaßstäben unterworfen werden dürfen und ob eine Kritik von außen an Staaten und Kulturen, die z. B. den Menschenrechtsvorstellungen der UN-Charta in ihrer Praxis nicht folgen, gerechtfertigt werden kann. Gellners letztes Wort – er starb im November 1995 – war eine Warnung vor dem intellektuellen Nihilismus und der politischen Anarchie, die ein ungebremster Kulturrelativismus im Zeichen von Postmoderne und permissiver Multikulturalität nach sich ziehen würde: »Kognitiver Relativismus ist Unsinn, moralischer Relativismus tragisch.«56 Was folgt aus solch grundsätzlichen Positionen für das viel engere Problem, wie der Zusammenhang zwischen kulturellen Mißverständnissen und europäischem Imperialismus theoretisch einigermaßen anspruchsvoll thematisiert 53 Leserbrief in: Times Literary Settlement, 9.4.1993. 54 1994 ging es in einem Disput zwischen Gellner und dem Anthropologen Clifford Geertz um dieselbe Problematik. Vgl. B. Tibi, Posthysterisch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.6.1994, Seite N 5. Die Positionen sind ausführlich formuliert in E. Gellner, Postmodernism, Reason and Religion, London 1992, und C. Geertz, Anti Anti-Relativism, in: American Anthropologist, Jg. 86, 1984, S. 263–278. 55 Orientalisten, in Saids Verständnis, sind stolz darauf, außen zu stehen, und suchen ihre »Objektivität« dadurch zu erhalten, daß sie Begegnungen mit der Wirklichkeit der Ländern des Ostens möglichst vermeiden. Vgl. etwa Said, Orientalism, S. 21. 56 E. Gellner, Anything Goes. The Carnival of Cheap Relativism which Threatens to Swamp the Coming »fin de millénaire«, in: Times Literary Supplement, 16.6.1995, S. 6–8, hier S. 8. Vgl. auch Gellner, Postmodernism, S. 24ff.

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werden kann? In Gellners Auffassung läßt sich eine Bekräftigung des aufklärerischen Modells kultureller Mißverständnisse sehen: Solche Mißverständnisse kommen vor, auch hat sie sich der Westen bei seiner Expansion immer wieder auf Kosten nicht-europäischer Völker zunutze gemacht, doch sind sie kein unausweichliches Schicksal, sondern durch ein aktives Bemühen um überkulturelle Vernünftigkeit grundsätzlich (wenngleich in der Praxis oft unter großen Schwierigkeiten) therapierbar. Edward Said, der in kognitiven wie moralischen und ästhetischen Universalitätsansprüchen stets den alten imperialistischen Überlegenheitswahn wittert, läßt sich auf den ersten Blick dem romantischen Modell kultureller Mißverständnisse zuordnen. Da er aber ein Kernelement dieses Modells, den »Essentialismus«, welcher eine Kultur als organisches Ganzes auffaßt und glaubt, Aussagen über ihr »Wesen« machen zu können, entschieden ablehnt, ist seine Position ambivalenter und weitaus weniger eindeutig romantisch als diejenige zum Beispiel Tzvetan Todorovs. Dies macht sie besonders interessant. Bei reinen Romantikern treten Mißverständnisse schon allein deswegen auf, weil es zwischen unterschiedlichen, als voneinander isoliert gedachten Kulturen mit je eigenen Lebensformen und Weltbildern zunächst keinen Boden für Gemeinsamkeiten geben kann. Ein strukturelles Mißverständnis bildet die Ausgangslage; es kann nur durch sehr beschwerliche Anstrengungen vorübergehend abgeschwächt werden. Todorov verfeinert dieses Modell, indem er zeichentheoretisch den jeweiligen kommunikativen Handlungsspielraum zur unterscheidenden Variablen im Kulturkontakt erhebt. Als überlegen erweist sich, wer nicht im Mißverständnis gefangen bleibt, sondern sich über es erhebt und es instrumentell zugunsten eigener Ziele und auf Kosten der anderen zu nutzen weiß. Der erfolgreiche Imperialist ist einer, der das Mißverständnis versteht. Todorov verbindet also den Determinismus des romantischen Modells mit einem gewissen situativen Handlungsspielraum, wie ihn das aufklärerische Modell annimmt. Bei Said wird das Mißverständnis allgegenwärtig. Da der Westen in weltgeschichtlich einzigartiger Weise politisch-wirtschaftlichen Expansionismus mit kulturellem Autismus verbindet, kann es zu wirklichen Kultur-Kontakten nicht kommen. Die Herrschaftsbeziehung, die der Westen (aus Gründen, die Said nicht erörtert) offenbar überall und geradezu zwanghaft gegenüber Nichteuropäern aufzubauen bestrebt ist, vereitelt von vornherein eine kulturelle Begegnung auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung. Macht gebiert Mißverständnis. Jeder westliche Spiegel des Fremden muß ein Zerrspiegel sein, jeder Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität entlarvt sich als Selbsttäuschung. Während sich bei Todorov kommunikative Kompetenz deshalb in Macht umsetzen kann, weil ein Hernan Cortés – praktisch-intuitiv, nicht wissenschaftlich – eine im Prinzip »richtige« Einsicht in das Funktionieren des aztekischen Bewußtseins gewinnt, fehlt bei Said die Chance der manipulativen Begegnung. 258

Auch aus unvollständigem, falschem oder übertriebenem Wissen (etwa dem Gerücht) kann unter besonderen Umständen Macht erwachsen, doch ist nach Said alles westliche Wissen über das konstruierte Erkenntnisobjekt »Orient« Trug und Schein. Manipulieren kann nur der, der über empirisch korrektes (Herrschafts-) Wissen verfügt. Das aber ist Europäern spätestens nach dem imperialistischen Sündenfall (Napoleon, nicht schon Cortés!) nicht länger zugänglich. Nun führt eine solche Position, die Said nach 1978 in manchen Stellungnahmen gemildert hat, zu vielen zweifelnden Fragen und zu einigen offensichtlichen Widersprüchen und Absurditäten. Erstens: Wie konnte ausgerechnet ein amerikanischer Literaturprofessor dem universalen Zwangs- und Verblendungscharakter der westlichen Kultur entrinnen? Zweitens: Wie läßt sich der reale europäische Imperialismus erklären, den Said nicht, marxistisch gesprochen, aus dem »Überbau« ableitet (allenfalls habe der Orientalismus koloniale Herrschaft »vorauseilend gerechtfertigt«),57 sondern den er als unabhängige Variable bereits voraussetzt, ohne ihn jemals auch nur andeutungsweise zu untersuchen?58 Drittens: Übersieht Said bei seiner Konzentration auf die innere Struktur und die selbstreferentiellen Eigenschaften des Diskurses nicht das, was am Beginn dieses Aufsatzes umrissen wurde: den Umstand, daß imperiales Wissen vor allem dann für das Imperium nützlich sein kann, wenn es empirisch gehaltvoll ist? Daß Wissen, welches aus der systematischen Beobachtung kolonialer Realität hervorgeht, später doktrinär erstarren und die Wahrnehmung einer sich verändernden Wirklichkeit behindern kann, steht auf einem anderen Blatt. Said aber geht so weit, die Beziehung zwischen Texten und Realität, zwischen der Geschichte des Wissens und derjenigen des Imperialismus ganz zu kappen.59 Viertens: Ist es wirklich so – es widerspricht jeder historischen Kenntnis und Erfahrung –, daß sich der Westen dem Osten ohne Vermittlung, ohne einheimische Helfer, ohne kulturelle Kompromisse aufgezwungen hat? Handelt es sich hier nicht um eine Dämonisierung angeblicher westlicher Allgewalt (wie sie auf individueller Ebene Todorov bei seinem heroisierenden Cortés-Portrait unterläuft), um eine Art von Identifikation von Edward Said, dem Sprecher der verstummten Dritten Welt, mit dem Aggressor? Fünftens: Wie selbstsicher waren die Träger des orientalistischen Diskurses, wie triumphal waren sie tat57 Said, Orientalism, S. 39. 58 Auch in »Culture and Imperialism« bleibt Said bei allgemeinsten Aussagen stehen, ebenso in E. W. Said, Secular Interpretation, the Geographical Element, and the Methodology of Imperialism, in: G. Prakash (Hg.), After Colonialism: Imperial Histories and Postcolonial Displacements, Princeton 1995, S. 21–39. 59 Vgl. D. Ludden, Orientalist Empiricism: Transformations of Colonial Knowledge, in: C. A. Breckenridge u. P. v. d. Veer (Hg.), Orientalism and the Postcolonial Predicament: Perspectives on South Asia, Philadelphia 1993, S. 250–278, bes. S. 252–263.

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sächlich gestimmt? Neuere Studien haben, zum Teil in bewußter Fortführung Saids, die Zweifel und Ängste herausgearbeitet, mit denen sich weniger die Schreibtisch-Orientalisten, aber doch große Teile des kolonialen Personals vor Ort herumschlagen mußten.60 Sechstens: Begeht Said nicht selber ausgerechnet jenen Kardinalfehler, den er dem Orientalismus vorwirft – die Essentialisierung des Anderen? Said lehnt ein Denken in Substanzkategorien ab; er will Essenzen in Relationen und Praktiken auflösen. Nicht zuletzt darin soll die erstrebte »neue Art des Wissens« bestehen.61 Indes schreibt Said Europa eine ganze Reihe von Fähigkeiten und Eigenschaften zu, die so etwas wie sein unveränderliches »Wesen« auszumachen scheinen, etwa das Vermögen, den Orient in ideologische Herrschaftsstrukturen (»dominating frameworks«) einzuzwängen.62 Der imperialismuskritische Schwung kippt zuweilen um in die geradezu bewundernde Beschwörung einer offenbar einzigartigen Zivilisation, die nicht nur die Welt real beherrschte, sondern dazu noch die enorme geistige Ordnungsleistung aufbrachte, sie zum Wissensobjekt zu degradieren. Frühere Kolonisatoren, so könnte man Karl Marx’ elfte Feuerbachthese abwandeln, haben die Welt bloß verändert, das moderne Europa hat es auch geschafft, sie zu interpretieren. Der Dekonstruktion des europäischen Orientdiskurses müßte nun aber die Anwendung desselben Verfahrens auf Europa folgen: die Entzauberung des Okzidents, der aus »Orientalism« noch in seinem ganzen finsteren Glanze hervortritt.63 Erst danach dürfte eine post-orientalistische Geschichtsschreibung möglich sein. Siebentens schließlich: Ist das Bedürfnis nach Identitätsstabilisierung durch Abgrenzung und Differenzkonstruktion wirklich nur für das moderne Europa charakteristisch? Findet es sich nicht auch in China, Japan, im Mittleren Osten – wo auch immer? Hier hat Said selbst später eingeräumt: »[...] die Entwicklung und Bewahrung jeder Kultur verlangt die Existenz eines anderen von ihr unterschiedenen und mit ihr in Wettbewerb tretenden alter ego.«64 60 Vgl. etwa S. Suleri, The Rhetoric of English India, Chicago 1992; K. Teltscher, India Inscribed: European and British Writing on India 1600–1800, Delhi 1995. 61 Said, Orientalism Reconsidered, S. 107. 62 Said, Orientalism, S. 40. 63 Dies fordert zu Recht R. Schulze, Das islamische 18. Jahrhundert. Versuch einer historiographischen Kritik, in: Die Welt des Islams, Jg. 30, 1990, S. 140–159, hier S. 148. Said spricht selbst neuerdings von »Western civilization« als »in large measure an ideological fiction«. E. W. Said, East Isn’t East: The Impending End of the Age of Orientalism. In: Times Literary Supplement, 3.2.1995, S. 3–6, hier S. 5. Ein Versuch einer solchen »Dekonstruktion« Europas ist J. Nederveen Pieterse, Unpacking the West: How European is Europe? in: A. Rattansi u. S. Westwood , Racism, Modernity, Identity: On the Western Front, Cambridge 1994, S. 129–149. Wahrnehmungen und Konstruktionen des Okzidents aus »anderer« Sicht werden heute unter dem Stichwort »Okzidentalismus« behandelt, vgl. J. G. Carrier, Occidentalism: The World Turned Upside-Down, in: American Ethnologist, Jg. 19, 1992, S. 195–212; Ders. (Hg.), Occidentalism: Images of the West, Oxford 1995 – ein vielversprechendes Forschungsfeld. Siehe auch unten Anm. 79–81. 64 Said, East Isn’t East, S. 3. Man hat zeigen können, wie sich Japan seit dem späten 19. Jahr-

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Zu diesen sieben Nachfragen kommen eine Reihe speziellerer Kritikpunkte hinzu: Said habe sich der Fülle westlicher Anregungen aus dem Orient in Literatur, Kunst und Musik gar nicht geöffnet, sondern das historische Material voreingenommen in seine a priori gegebenen Denkschablonen gepreßt.65 Er habe die Rolle der Orientalisten, die ja im 19. Jahrhundert zumeist Sprachforscher waren, als ideologischer Kadertruppe des Imperialismus66 bei weitem überschätzt und nicht gesehen, daß ein orientalistischer Diskurs, der politisch wirksam wurde67, sich eher außerhalb der Orientalistik fand, etwa bei Historikern und Geographen.68 Außerdem lassen sich manche der Thesen Saids, die am Verhältnis zwischen Europa und der islamischen Welt entwickelt wurden, auf die Beziehungen zwischen Europa und den fernerliegenden asiatischen Zivilisationen nur mit erheblichen Modifikationen anwenden. Fassen wir zusammen, so läßt sich sagen, daß Edward Saids Vision, um nicht zu sagen Theorie, von der machtberauschten Selbstbezogenheit des modernen Europa für interkulturelle Begegnungen und damit auch für Mißverständnisse, die bei ihnen auftreten können, keinen Raum läßt. Erst Demütigung und Selbstkritik Europas und des Westens überhaupt, zu dem Said auch Israel zählt, würden die Voraussetzungen dafür schaffen. Vom aufklärerischen Modell kultureller Mißverständnisse unterscheidet Said sich radikal. Das romantische Modell steht diesem Vertreter eines eigentümlichen kulturellen Relativismus wesentlich näher, doch führt die Verbindung von Herder und Foucault zu der These, das offenbar von vornherein gegebene unerhörte Machtgefälle zwischen Europa und den Anderen ermögliche Europa den Luxus, andere Kulturen gar nicht verstehen zu müssen und sich einer Phantasiewelt des sich selbst als Wissenschaft mißverstehenden Mißverstehens hingeben zu dürfen. Saids Übertreibungen und Ungereimtheiten lassen seine Ideen als seriöse theoretische Basis für interkulturelle Studien wenig geeignet erscheinen. So wundert es nicht, daß aus der Eloquenz und Brillanz des Meisters rasch der enge Dogmatismus von Epigonen geworden ist. Dennoch kommt Said ein mehrfaches Verdienst zu, das sich nicht überschätzen läßt und das »Orientalism« den Rang eines Schlüsseltextes für das letzte Quartal des 20. Jahrhunderts verleiht: Erstens hat Said die unverwüstliche Debatte um Wesen und Identität Europas im buchstäblichen Sinne geöffnet: Es genügt fortan nicht mehr, darüber zu hundert im kolonial bedrängten China seinen eigenen »Orient« schuf: S. Tanaka, Japan’s Orient: Rendering Pasts into History, Berkeley 1993. 65 Mackenzie, Orientalism. In sympathetischer Auseinandersetzung mit Said auch: A. Gerstle u. A. Milner (Hg.), Recovering the Orient: Artists, Scholars, Appropriations, Chur 1994. 66 Dazu Said, Orientalism, S. 122. 67 Inden, Imagining India, S. 43, würde von einem »hegemonic account« eines außereuropäischen Landes sprechen. 68 Vgl. B. Johansen, Politics and Scholarship: The Development of Islamic Studies in the Federal Republic of Germany, in: T. Y. Ismael (Hg.), Middle East Studies: International Perspectives on the State of the Art, New York 1990, S. 71–130, bes. S. 79–83.

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spekulieren, was das gemeinsame »Erbe« des Abendlandes sei und darüber den weiteren Zusammenhang zu übersehen. Europa hat sich stets durch Abgrenzung von anderen Kulturen definiert. Das Studium der Texte und Kunstwerke, in denen es dies tut, bedeutet daher keine Erkundung exotischer Randzonen des europäischen Bewußtseins, sondern führt zu zentralen Fragen der immer erneuten europäischen Vergewisserung über sich selbst. Das Thema ist daher zu wichtig, um es akademischen Randgruppen wie »Außereuropahistorikern«, »Reiseforschern« (usw.) zu überlassen. Zweitens. Saids gering entwickeltes Gespür für Ambivalenzen und Ironie69 führt zu einem Freund-Feind-Weltbild, das dann in den Kulturwissenschaften verheerende Konsequenzen haben kann, wenn die Entlarvung und Denunziation der vermeintlichen Träger eines falschen Bewußtseins zum Hauptzweck akademischer Bemühung wird.70 Immerhin hat Said aber ganz zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Eurozentrismus nicht allein dort zu finden ist, wo er als imperialistische Ideologie und Rassismus offen zutage liegt. Dort läßt sich er sich isolieren, als uncharakteristisch abtun und als historisch überholt ins Museum menschlicher Narrheiten einordnen. Said weist aber mit Recht auf die weite Verbreitung und das zähe Nachleben einer abwertenden Auseinandersetzung mit den Menschen anderer Zivilisationen und ihren Leistungen hin. Drittens. Auf der Grundlage von Foucaults Diskurstheorie hat Edward Said mit großer Berechtigung die hausgemachten Erkenntnistheorien in Zweifel gezogen, mit denen in der Literatur über europäische »Bilder« vom Fremden üblicherweise umgegangen wurde. Nach Said wird man mit der Möglichkeit rechnen müssen, daß solche »Bilder« nicht nur Abbildungen von Wirklichkeit sind, sondern auch Konstrukte und Projektionen. »Verzerrte« Spiegelungen des Fremden lassen sich nicht einfach individualpsychologisch durch »Vorurteile« und »stereotype« Wahrnehmungsrasterung der Beobachter oder gar durch deren Gesinnungen erklären. »Kulturelle Mißverständnisse« unterliegen einer überindividuellen Regelhaftigkeit, ohne vollkommen determiniert und daher vorhersehbar zu sein (wie der Vulgär-Saidianismus glaubt). Viertens. Said hat sich an seine eigene Kritik an der essentialistischen Verdinglichung anderer Kulturen nicht immer selbst gehalten. Sie bleibt aber einer seiner wichtigsten Beiträge. Es ist wichtig und lohnend, nicht nur ältere Texte, sondern auch heutige Kommentare zu nicht-europäischen Zivilisationen darauf zu befragen, inwieweit sie durch voreilige Pauschalaussagen über die Japaner, den Islam, den Konfuzianismus (usw.) alte Klischees über Volkscharaktere, Religionen und Kulturen perpetuieren oder neue Feindbilder aufbauen. Solcher Essentialismus ist für viele attraktiv, weil er schnelle Antworten auf 69 Vgl. dazu J. M. MacKenzie, Edward Said and the Historian. in: Nineteenth-Century Contexts, Jg. 18, 1994, S. 9–25, hier S. 20f. 70 Etwa bei M. L. Pratt, Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation, London 1992; R. Kabbani, Europe’s Myths of Orient: Devise and Rule, Basingstoke 1985.

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komplizierte Fragen zu gewährleisten scheint. Wer zum Beispiel glaubt, das Wesen des Islam verstanden zu haben, wird sich mit Einzelheiten nicht lange aufhalten wollen. Solcher Essentialismus ist eine der stärksten Quellen kultureller Mißverständnisse und interkultureller Gewalt. Er ist kein europäisches Monopol, sondern findet sich weltweit in nationalistischen, religiösen und ethnischen Sammlungsideologien und identitätsstiftenden Bewegungen.71 Fünftens. Foucaults Diskurstheorie beansprucht als einen ihrer großen Vorzüge, Texte und Praktiken, also tatsächliches Handeln, gleichermaßen berücksichtigen zu können. Said sieht diesen Zusammenhang selber vor, wenn er in einem von zahlreichen Definitionsversuchen »Orientalismus« bestimmt als »das Wissen vom Orient, das orientalische Dinge in Klassenräume, Gerichtshöfe, Gefängnisse oder Lehrbücher sperrt, um sie analysieren, studieren, aburteilen, diszplinieren oder regieren zu können«.72 Allerdings liegt bei Literaturwissenschaftlern wie Edward Said und den meisten seiner Anhänger der Akzent doch einseitig auf Texten. Man versucht in dieser Schule kaum, reale Begegnungen zu analysieren, wie etwa Todorov und Inga Clendinnen es mit der Eroberung Mexikos getan haben. Saids Konzeption läßt aber eine solche Erweiterung durchaus zu. Es kann dann zum Beispiel untersucht werden, wie Kolonialregime ihre Untertanen nach den Vorstellungen zu formen versuchten, die sich orientalisierende Theoretiker73 zuvor gebildet hatten. So betrachteten die Briten ihre indischen Untertanen nach dem großen Sepoy-Aufstand von 1857 viel mehr als in der Zeit davor als fremde »Orientalen« und bemühten sich in vielfältiger Weise, sie zu »orientalisieren«.74 Von der Aufgabe, die Inder zu »zivilisieren« und ihnen westliche Denk- und Lebensweisen nahezubringen, war fortan weniger Rede. Die Inder sollten sich gefälligst so »indisch« benehmen, wie die Briten es sich vorstellten. Der westlich akkulturierte Inder, noch in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts ein erstrebtes Ideal, verwandelte sich nun in einen verunglimpften Negativtyp.75 Eine aufwendig betriebene Kolonialanthropologie gewann normative Kraft.76 Auch waren die Briten nun stärker als zuvor bestrebt, ihre Herrschaft mit der Symbolik einheimischer Tradition zu umgeben: Das britische Regime sollte den Indern als legitimer Nachfolger des untergegangenen Kaisertums der Mogul-Dynastie nahegebracht 71 Vgl. etwa W. Reinhard (Hg.), Die fundamentalistische Revolution. Partikularistische Bewegungen der Gegenwart und ihr Umgang mit der Geschichte, Freiburg i.Br. 1995. 72 Said, Orientalism, S. 22. 73 Ein Beispiel gibt R. Owen, Imperial Policy and Theories of Social Change: Sir Alfred Lyall in India, in: T. Asad (Hg.), Anthropology and the Colonial Encounter, London 1973, S. 223–243. 74 Vgl. T. R. Metcalf, Ideologies of the Raj, Cambridge 1994, S. 66–112; hervorragend: L. D. Wurgraft, The Imperial Imagination: Magic and Myth in Kipling’s India, Middletown, Ct. 1983. 75 Ebd., S. 105f.; M. Sinha, Colonial Masculinity: The »Manly Englishman« and the »Effeminate Bengali« in the Late Nineteenth Century, Manchester 1995, S. 17–19. 76 Vgl. C. Pinney, Colonial Anthropology in the »Laboratory of Mankind«, in: C. A. Bayly (Hg.), The Raj: India and the British 1600–1947, London 1990, S. 252–263.

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werden.77 Dabei kam es zu einer camouflierenden Selbst-Orientalisierung der Kolonialmacht. Solche Differenzkonstruktion größten Stils – Beispiele lassen sich überall in der kolonialen Welt finden78 – wurde dann selbstverständlich zu einer »self-fulfilling prophecy«. Sechstens. Bei Said ist der Osten stumm, weil der mächtige Westen ihn zum Schweigen verurteilt hat. Dies dramatisiert gewiß die historisch faßbaren Asymmetrien. Der Eindruck des schweigenden Orients entsteht zu einem beträchtlichen Teil aus dem Versäumnis westlicher Historiker, sich auf Quellen nicht-europäischer Herkunft einzulassen. Saids Absicht, die intellektuelle Hegemonie des Westens erst zu denunzieren und dann zu brechen, würde aber durch kaum etwas so wirkungsvoll unterstützt wie durch das Hörbarmachen der Anderen. Erstaunlicherweise hat Said selbst, der nicht müde wird, die epochale Bedeutung der napoleonischen Ägyptenexpedition hervorzuheben, die Chance nicht genutzt, daß gerade dazu ein umfassendes einheimisches Dokument vorliegt: die zeithistorische Chronik des cAbdarrahman Al-Gabarti (1754–1829).79 Die Spurenlosigkeit der schriftunkundigen »Wilden«, wie sie etwa die Begegnungen zwischen westlichen Reisenden und den Völkern Sibiriens oder der Südsee kennzeichnet, ist keineswegs der Normalfall. Osmanische, persische, chinesische, japanische und viele andere Begegnungen mit Europäern sind von der Seite der Anderen her durchaus rekonstruierbar. So existieren zum Beispiel ausführliche chinesische Quellen zur Gesandtschaftsreise des Lord Macartney zum Kaiser Qianlong 1792–94, die erst in jüngster Zeit neben der reichen westlichen Dokumentation ausgewertet wurden.80 Die kurzfristige britische Besetzung Javas (1811–16) erscheint dank der Veröffentlichung der Chronik eines javanischen Aristokraten und Hofbeamten nun in einem neuen Licht.81 Die Dokumentation wird um so dichter, je näher man 77 Vgl. B. S. Cohn, An Anthropologist among the Historians and Other Essays, Delhi 1987, S. 632ff. Alle Texte Cohns lohnen gründliche Lektüre, auch Ders., Colonialism and Its Forms of Knowledge: The British in India, Princeton 1996. 78 Ausgesprochen saidianisch geht z.B. vor: T. Mitchell, Colonising Egypt, Cambridge 1988; Ders., The World as Exhibition, in: CSSH, Jg. 31, 1989, S. 217–236. 79 Vgl. Al-Gabarti’s History of Egypt, hg. v. T. Philipp u. M. Perlman, 4 Bde., Stuttgart 1994; Auszüge in: Al-Gabarti, Bonaparte in Ägypten, übers. v. A. Hottinger, Zürich 1983. 80 Vgl. A. Peyrefitte u. P.-H. Durand, Un choc de cultures: La vision des Chinois, Paris 1991 (ein umfangreicher Band mit übersetzten chinesischen Quellen); S. Dabringhaus, Einleitung, in: J. C. Hüttner, Nachricht von der britischen Gesandtschaftsreise nach China, Sigmaringen 1996. Nötig und verdienstvoll sind spezielle Studien zur Rezeption des Westens, z.B. D. Sachsenmaier, Die Aufnahme europäischer Ideen in die chinesische Kultur durch Zhu Zongyuan (ca. 1616–1660), phil. Diss. Freiburg 1999. 81 P. Carey (Hg.), The British in Java 1811–1816: A Javanese Account, Oxford 1992. Sechs Kapitel in einem umfangreichen Sammelband behandeln »Europeans in the vision of other people«: S. B. Schwartz (Hg.), Implicit Understandings: Observing, Reporting, and Reflecting on the Encounter. between Europeans and Other Peoples in the Early Modern Era, Cambridge 1994. Vgl. auch T. Nagel (Hg.), Asien blickt auf Europa. Begegnungen und Irritationen, Beirut 1990; A. Burton, At the Heart of the Empire: Indians and the Colonial Encounter in Late-Victorian London,

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sich auf die Gegenwart zubewegt. Wo einheimische Quellen rar sind oder ganz fehlen, kann, wie Inga Clendinnens Interpretation der Azteken zeigt, die Ethnohistorie zwischen den Zeilen westlicher Texte Aufschlüsse über die Beschriebenen finden, die den rein literaturwissenschaftlich geschulten unter ihren Lesern entgehen. Über Said hinauszukommen, heißt auch, kulturelle Mißverständnisse nicht nur zum zahllos wiederholten Male in den Irrtümern, Befangenheiten und Obsessionen von Europäern zu suchen, sondern ebenso in Begegnungssituationen, in denen jede Seite das Recht auf ihre eigenen Mißverständnisse behält.

Berkeley 1998; N. Parsons, King Khama, Emperor Joe, and the Great White Queen: Victorian Britain through African Eyes, Chicago 1998; sowie zahlreiche Arbeiten von M. Harbsmeier, vor allem: Schauspiel Europa: Die außereuropäische Entdeckung Europas im 19. Jahrhundert am Beispiel afrikanischer Texte, in: Historische Anthropologie, Jg. 2, 1995, S. 331–350; Introduction: European Media in the Eyes of 19th Century Muslim Observers, in: Culture & History, Jg. 16, 1997, S. 5–28; M. Harbsmeier u. P. U. Møller, Europe as ethnographic object: How Japan discovered the West, in: Folk. Journal of the Danish Ethnographic Society, Jg. 34, 1992, S. 5–41.

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11. Markt und Macht in der Modernisierung Asiens: Japan, China und Indien im Vergleich*

I. Die vier Innovationsschübe der Moderne Die weltweite wirtschaftliche Entwicklung während des letzten halben Jahrtausends ist vor allem durch vier Innovationsschübe geprägt worden: (1) die Herstellung eines interkontinentalen Tauschzusammenhanges während der Frühzeit der europäischen Expansion (seit etwa 1480); (2) die Industrielle Revolution, also den Beginn eines durch Maschinentechnologie ermöglichten kontinuierlichen und stetigen Wachstums des durchschnittlichen Pro-Kopf-Realeinkommens in den davon erfaßten Regionen (seit etwa 1780); (3) die »corporate revolution«, also die Erfindung und Verbreitung der bürokratisch organisierten, horizontal wie vertikal integrierten, teilweise durch breit gestreute Publikumsbeteiligung finanzierten Kapitalgesellschaft, kurz: des modernen »Großkonzerns« (seit etwa 1880);

* Dieser Aufsatz ist eine Skizze, die zur Erklärung der unterschiedlichen wirtschaftsgeschichtlichen Wege von drei der größten Länder der Welt beitragen soll. Die detaillierte Ausarbeitung muß einer späteren Gelegenheit überlassen bleiben. Angesichts der Fülle der Literatur wäre eine Annotation willkürlich. Genannt seien nur im Sinne weiterführender Leseempfehlungen einige allgemeinere Werke zur Wirtschaftsgeschichte der drei behandelten Länder. Zu Indien: D. Rothermund, Indiens wirtschaftliche Entwicklung. Von der Kolonialherrschaft bis zur Gegenwart, Paderborn 1985; D. Kumar (Hg.), The Cambridge Economic History of India, Bd. 2: c. 1757 to c. 1970, Cambridge 1983; B. R. Tomlinson, The Economy of Modern India 1860–1970, Cambridge 1993 (mit guter bibliographie raisonnée). Zu China: L. E. Eastman, Family, Field, and Ancestors: Constancy and Change in China’s Social and Economic History, 1550–1949, New York 1988; A. Feuerwerker, Economic Trends 1912–1949, in: J. K. Fairbank (Hg.), The Cambridge History of China, Bd. 12, Cambridge 1983, S. 78–127; J. Osterhammel, Shanghai, 30. Mai 1925: Die chinesische Revolution, München 1997. Zu Japan: E. S. Crawcour, Economic Change in the Nineteenth Century, in: M. B. Jansen (Hg.), The Cambridge History of Japan, Bd. 5, Cambridge 1989, S. 571– 617; die Kapitel von E. S. Crawcour, T. Nakamura u. Y. Kôsai, in: P. Duus (Hg.), The Cambridge History of Japan, Bd. 6, Cambridge 1988; immer noch brauchbar ist W. W. Lockwood, The Economic Development of Japan, Princeton, NJ 19682; R. Minami, The Economic Development of China: A Comparison with the Japanese Experience, London 1994. Informativ zu neueren Forschungstrends: F. B. Tipton, Neuere Arbeiten zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Asiens, in: GG, Jg. 22, 1996, S. 267–298.

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(4) die elektronische Revolution, also die Steuerung von Produktion, Märkten und Kommunikationsvorgängen durch global vernetzte, den Zeitfaktor minimierende Datenverarbeitung (seit etwa 1960). Die ersten beiden dieser vier Prozesse gingen von Europa aus, der dritte von den USA und Europa, der vierte von den USA mit starker europäischer und japanischer Beteiligung. Alle vier Prozesse hatten weltweite Auswirkungen. Durch sie wurden die »entwickelten« Weltgegenden oder, wie man in der Theorie der internationalen Beziehungen sagt, »Metropolen«, von denen die Impulse jeweils ausgingen, mit »rückständigen« Empfängerregionen oder »Peripherien« verbunden. Die frühe europäische Expansion schuf einen Handelszusammenhang, der Europa, Nordamerika (Pelzhandel), Süd- und Mittelamerika (Edelmetallausfuhr, Sklaveneinfuhr), die Karibik (Sklavenimport, Zuckerexport), Afrika (Sklavenhandel) und Asien (Edelmetalleinfuhr, Export von Gewürzen, Seide, Textilien) miteinander verknüpfte. Die globalen Warenströme – auch Sklaven zählten allein als Waren – waren in der damaligen Welt unübersehbar: Sie materialisierten sich in militärisch geschützten Handelsflotten auf den Weltmeeren, in dem lebhaften Treiben in den Überseehäfen aller Kontinente, in den Kolonialwaren, die die Europäer nun konsumierten. Daneben gab es aber auch nahezu unsichtbare Zusammenhänge, die den Zeitgenossen verborgen blieben. Ein gutes Beispiel sind die Silberzuflüsse nach Ostasien, die auf unterschwellige Weise etwa die chinesische Binnenkonjunktur des 16. bis 18. Jahrhunderts regulierten und deren vorübergehendes Stocken man sogar für die terminale Krise der 1644 gestürzten Ming-Dynastie mitverantwortlich gemacht hat. Die Industrialisierung, also der zweite Innovationsschub, führte zunächst dazu, daß die Produkte der europäischen Leichtindustrie, vornehmlich Textilien, in alle Welt verkauft wurden. In einer zweiten und folgenreicheren Phase exportierten Europa und die USA die Erzeugnisse ihrer Schwerindustrie: Fertigungsmaschinen und komplette Fabriken, Dampfschiffe, Artillerie sowie die weltgeschichtlich wichtigste Apparatur des 19. Jahrhunderts: die Dampfmaschine auf Rädern, die Eisenbahn. 1906, am Ende der heroischen Phase der Schienenerschließung des Inneren aller Kontinente, besaßen nur wenige kleine, randständige oder dünn besiedelte Länder keine Bahnen: Finnland, das Baltikum, Albanien, Britisch-Borneo, Französisch-Marokko, Neukaledonien. Nach den USA (dem nach dem Umfang seines Streckennetzes mit Abstand führenden Land), Deutschland, Rußland und Frankreich verfügte Indien über das fünftgrößte Eisenbahnsystem der Welt: ein Beispiel massiven Techniktransfers in ein »unterentwickeltes« Land. Von Technologietransfer kann allerdings weniger die Rede sein. Zwar waren indische Werke seit 1865 imstande, Lokomotiven herzustellen, doch kam es nicht zum Aufbau einer nennenswerten indischen Eisenbahnindustrie. Bis 1941 wurden nur siebenhundert 267

Lokomotiven in Indien gefertigt, aber zwölftausend aus Großbritannien importiert. Prozesse Nummer drei und Nummer vier waren und sind weniger anschaulich faßbar. Die »corporate revolution« kann man, wenn man den Begriff sehr weit faßt, schon in der frühen Neuzeit beginnen lassen: die am weitesten ausgebauten unter den europäischen »Chartered Companies«, nämlich die englische East India Company (EIC) und die holländische Verenigde Oostindische Compagnie (VOC), waren auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, etwa in dem Jahrhundert nach 1680, die größten und am kompliziertesten organisierten Einrichtungen des nichtstaatlichen Handels auf der Welt. Sie waren bereits bürokratisch organisiert, multinational und sogar transkontinental tätig und durch Finanzierung über Frühformen des Kapitalmarktes von Familienvermögen und politischer Gunst unabhängig. Mit anderen Worten: Sie konnten nicht ohne weiteres bankrott gehen. Die eigentliche »corporate revolution« war jedoch diejenige, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Entstehen riesiger Industriekonzerne führte. Sie waren nicht länger Familienbetriebe, sondern wurden von angestellten Managern im Namen und Auftrag einer oft breitgefächerten Eigentümerschaft geführt. Diese Konzerne mußten nicht notwendig »multinational« sein, wurden es aber häufig im Zuge der enormen Expansion der Weltwirtschaft, die im achten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einsetzte. Anders als die Charter-Kompanien in der Epoche des frühneuzeitlichen Merkantilismus, verfügten sie nicht über staatlich verbriefte Monopole, konnten sich aber oft durch schiere Marktmacht monopolartige oder oligopolistische Stellungen sichern. Im Unterschied zu EIC und VOC brachten sie nicht nur den Handel, sondern vielfach auch die Urproduktion unter ihre Kontrolle, indem sie selber in die Gewinnung und Herstellung von Handelsgütern investierten. Mit oft erheblichem Kapitalaufwand legten sie Plantagen und Fabriken an, Bergwerke und Ölförderinstallationen. Die frühen multinationalen Konzerne der Zeit zwischen etwa 1880 und 1920 tätigten also in großem Umfang Direktinvestitionen in den Ländern, die man um die Mitte des 20. Jahrhunderts als »Dritte Welt« bezeichnen würden. Spezielle Kolonial- und Überseebanken wurden gegründet, um neben dem Handel mit Lateinamerika, Asien und Afrika auch das Anleihengeschäft mit diesen Ländern und den direkten Kapitalexport in sie zu organisieren. Schließlich waren diese multinationalen Konzerne viel besser als frühere Unternehmensformen geeignet, überseeische Märkte tiefenwirksam zu »erobern«. Zu diesem Zweck bauten sie eigene große Vermarktungsnetze auf. Dadurch wurden sie von einheimischen Händlern unabhängig und konnten zugleich durch Reklame und Serviceangebote ihre Markenartikelnamen bekannt machen und durchsetzen. Imperial Chemical Industries (ICI) unterhielt für den Verkauf von Kunstdünger und Farben in Indien Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts über den ganzen Subkontinent verstreut 1.500 Depots und beschäftigte 2.500 Angestellte und 15.000 268

Verteiler. Die British-American Tobacco Corporation (BAT) betrieb in China ein noch umfangreicheres Vertriebssystem für Zigaretten. Sie verkaufte auf diesem Wege in zunehmendem Maße Produkte, die sie in sieben großen Tabakfabriken in Shanghai und anderen chinesischen Städten herstellte – ein Lehrbuchbeispiel konzerninterner Importsubsitution. Die neue Gewohnheit des Zigarettenrauchens brachte sie den Chinesen in aufwendigen Werbekampagnen nahe. Mao Zedong, einer der rabiatesten Anti-Imperialisten des 20. Jahrhunderts, war bekanntlich ein großer Freund des Nikotins. Ob er ausländische Zigaretten konsequent verschmähte, ist nicht bekannt. Der vierte der großen Innovationsschübe, die elektronische Revolution der letzten Jahrzehnte, bedarf keiner näheren Erläuterung und fällt auch aus dem Rahmen unserer Diskussion. Es mag aber daran erinnert werden, daß die für diesen Prozeß charakteristische Reduzierung des Zeitfaktors in der weltweiten Informationsübermittlung, die es heute ermöglicht, große Datenmengen innerhalb von Sekunden um den Globus zu schicken, einen Vorläufer hat: die Verkabelung des Erdballs durch transozeanische Tiefseeleitungen für den Telegraphenverkehr. Sie begann 1866 mit einer Verbindung zwischen Irland und Neufundland, also zwei britischen Besitzungen. Einen wichtigen Anstoß zur Einrichtung von Telegraphenverbindungen zwischen den Kontinenten gab ein offen imperiales Motiv: der Wunsch, die Verbindung zwischen London und Indien zu verbessern. Dies gelang 1870. Wenige Jahre später wurden Australien und Neuseeland, also der fünfte Kontinent, von Indonesien (Holländisch-Indien) aus an das Kabelnetz angeschlossen, nach 1879 schließlich die Zentren des europäischen Kolonialismus in Afrika. Die Einführung der interkontinentalen Telegraphie kam einer frühen Nachrichtenrevolution gleich: Waren Briefe von London nach Hongkong 1860 noch im günstigsten aller Fälle – auf einem schnellen Teeklipper bei guten Winden – 43 Tage unterwegs, so verkürzte sich nach der Verkabelung der südchinesischen Kronkolonie im Jahre 1871 die Übermittlungszeit auf wenige Stunden. Die telegraphische Erreichbarkeit der außereuropäischen Peripherien legte eigenwillige Kolonialbeamte an die Kandare ihrer Vorgesetzten in den Hauptstädten; es war nun schwieriger, Willkürlichkeiten durch das Fehlen von Instruktionen aus London oder Paris zu entschuldigen. Sie verbesserte die Chancen aktueller Reportage: Über den gigantischen Taiping-Aufstand, der in den Jahren 1850 bis 1864 das Chinesische Kaiserreich erschütterte, erfuhr man in Europa verhältnismäßig wenig; spektakuläre Ereignisse der Jahrhundertwende wie der chinesische Boxeraufstand von 1900, der Burenkrieg oder der Spanisch-amerikanische Krieg von 1898 konnten hingegen dank fleißig kabelnder Korrespondenten in den neuesten Ausgaben der Tageszeitungen mitverfolgt werden. Auch für den Wirtschaftsverkehr bedeutete die Telegraphie einen tiefen Einschnitt. Die Märkte in Übersee reagierten fortan weitaus schneller und empfindlicher auf Signale aus den Metropolen; Zahlungsmodalitäten ließen sich 269

durch telegraphische Anweisung erheblich vereinfachen; und die Möglichkeit des raschen Bestellens beim Erzeuger verminderte die Kosten teurer Lagerhaltung und öffnete manche Geschäftszweige für gering kapitalisierte Neueinsteiger. So trug auch schon die »kleine« – die elektrische vor der elektronischen – Kommunikationsrevolution des späten 19. Jahrhunderts dazu bei, daß Europa und die USA ihren Zugriff auf Lateinamerika, Asien und Afrika um einen weiteren Schritt verstärken konnten. Es gibt keine anschaulichere Illustration der Macht des britischen Empire als eine Weltkarte, die zeigt, daß am Vorabend des Ersten Weltkriegs 60 % der Seekabel, darunter die wichtigsten, zwischen Stationen verliefen, die dem Schutz der Royal Navy unterstanden.

II. Kolonie – Halbkolonie – souveräne Nation Der zweite und der dritte Innovationsschub sind besonders wichtig und interessant, weil sie in engem Zusammenhang mit der Entstehung und Entwicklung eines einheimischen Kapitalismus in den größeren Ländern Asiens stehen. Unter Universalhistorikern ist es ein beliebtes Gedankenspiel darüber zu spekulieren, warum vor Nordwesteuropa nicht zum Beispiel die Region am Unterlauf des Yangzi, also das Hinterland Shanghais und Nanjings, den Durchbruch zur Industrialisierung schaffte. Oder man mag Phantasien darüber ausspinnen, was passiert wäre, wenn in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts die großen See-Expeditionen des chinesischen Admirals Zheng He im Indischen Ozean fortgesetzt und zum Aufbau eines chinesischen Überseeimperiums vorangetrieben worden wären: Hätte China, nicht Europa das »moderne Weltsystem« (Immanuel Wallerstein) geschaffen? Solche Überlegungen sind reizvoll, bringen aber letztlich keinen größeren Erkenntnisgewinn. Es bleibt eine Tatsache, daß die Industrialisierung asiatischer Länder erst durch die Einwirkung Europas während des 19. Jahrhunderts angestoßen wurde. Dies freilich geschah nicht im Kunstraum eines Laborexperiments, sondern auf der Grundlage jeweils besonderer Voraussetzungen: zum einen der Verhältnisse in den einzelnen Regionen Asiens vor dem Kontakt mit dem europäischen Kapitalismus, zum anderen der spezifischen Formen des politischen Vorgehens der Westmächte. In dieser zweiten Hinsicht finden sich große Unterschiede zwischen den historischen Erfahrungen Indiens, Chinas und Japans. Indien (im Sinne von Südasien, also unter Einschluß der nachkolonialen Staaten Pakistan und Sri Lanka) wurde zum Prototyp der tropischen Kolonie. Es war nicht nur die bevölkerungs- und ressourcenreichste aller europäischen Kolonien, sondern auch ein besonders lange von Fremden regiertes Land. Nach einer Periode sich stetig verstärkender Handelsbeziehungen erlangten die Briten in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts den unmittelbaren Zugriff auf die Reichtümer Bengalens und begannen dann von dort aus eine 270

Politik des Krieges und der Intrige, die sie gegen 1820 zu Herren über die wirtschaftlich leistungsfähigsten Regionen des Subkontinents gemacht hatte. Sie blieben es bis 1947. China konnte sein Territorium länger und erfolgreicher gegen die Europäer verteidigen. Bis zum Opiumkrieg von 1840–42 gestattete es den europäischen Ostindienkompanien einen regen Handel, aber zu seinen eigenen Konditionen. Die europäischen Kaufleute, die vorwiegend an Tee, Seide und Porzellan interessiert waren, mußten sich in der südlichen Hafenstadt Kanton aufhalten, durften das Landesinnere nicht betreten und hatten es mit einem halbstaatlichen chinesischen Monopol zu tun, das im allgemeinen die eigene Position zu wahren verstand. Nach seiner Niederlage im Opiumkrieg wurde China »geöffnet«, jedoch nur in kleinen Schritten. In »Ungleichen Verträgen« ließen sich die Ausländer Sonderrechte verbriefen: Zulassung ausländischer Handelstätigkeit in einigen genau festgelegten Städten, den sogenannten »Treaty Ports«; Extraterritorilität, d.h. die Immunität von Angehörigen der Vertragsmächte gegenüber chinesischem Recht und gegenüber Steuerforderungen des chinesischen Staates; Einräumung von städtischen Gebietsenklaven, den »Konzessionen« oder »Niederlassungen«, die de facto von ausländischen Behörden regiert wurden; Verzicht Chinas auf selbständige Festlegung seiner Außenzölle, also Freihandel. Dieses Privilegiensystem wurde in seinen Grundzügen bis 1860 aufgebaut. Es galt mit seinen Kernbestimmungen zumindest auf dem Papier bis 1943. Auch wenn sich nach der Niederlage Chinas im Krieg gegen Japan 1895 der Zugriff der Ausländer festigte und man für die Zeit von da an bis zum japanischen Überfall auf das chinesische Küstenland 1937, ja, bis zum Zusammenbruch des japanischen Raubimperiums im Sommer 1945 ohne Übertreibung von der Epoche des Imperialismus in China sprechen kann, wurden nur Randgebiete des chinesischen Reiches für längere Zeit offener Kolonialherrschaft unterworfen: Hongkong (1842–1997), Taiwan (1895–1945), die Mandschurei (1905/31– 1945). China war nicht, wie Indien, eine Kolonie, sondern ein eigentümliches Gebilde gemischter Souveränitäten, das man mangels einer besseren Alternative als »Halbkolonie« bezeichnen kann. Kein Teil Japans – sieht man von den Kurilen ab, um die Rußland und Japan sich seit langem streiten – ist jemals kolonial besetzt worden. Auch eine »Halbkolonie« im chinesischen Sinne ist Japan nie geworden. Es hatte sich unter den Shogunen aus dem Hause Tokugawa (1603–1868) während der frühen Neuzeit eher noch stärker von der Außenwelt abgeschottet als das Reich der Qing-Dynastie (1644–1911) und war nach einer friedlichen Kontaktaufnahme amerikanischer Kriegsschiffe im Jahre 1853 dann 1858 ebenfalls »geöffnet« worden. Auch Japan mußte Ungleiche Verträge unterzeichnen, Treaty Ports einräumen sowie Extraterritorialität und Freihandel zugestehen. Doch schon 1895 war es dieser Bürden so gut wie ledig und konnte sich mit seinem Vorgehen gegen seinen alten kulturellen Lehrmeister China selber unter die imperialistischen 271

Mächte einreihen. Der Chinesisch-japanische Krieg von 1894/95 war ein Scheidepunkt in der Entwicklung beider Länder. Sie drifteten nun nicht mehr, wie in den Jahrzehnten zuvor, langsam auseinander, sondern gerieten auf einen Konfrontationskurs, der im Grunde erst mit der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen 1972 beendet wurde. Die Befreiung von ausländischem Druck war Japan aus mehreren Gründen möglich gewesen: Die Westmächte erhofften sich von dem kleinen japanischen Markt weniger als von dem großen chinesischen und vertraten daher ihre Forderungen mit geringerer Nachdrücklichkeit. Die japanischen Machthaber hatten das Schicksal Chinas nach 1840 vor Augen und verhandelten deshalb von Anfang an vorsichtiger. Vor allem nutzte Japan nach einem Machtwechsel innerhalb seiner politischen Klasse, der sog. Meiji-Restauration von 1868, das Intermezzo eines vorübergehend nachlassenden europäisch-amerikanischen Interesses an Ostasien, um sich durch Reformen dem Westen ähnlicher zu machen und sich ihm als Partner eher denn als Unterdrückungs- und Ausbeutungsobjekt anzubieten. Diese Strategie gelang. Drei Fälle also: eine Kolonie, eine Halbkolonie und ein im wesentlichen souverän bleibendes asiatisches Land, das in den Jahren seiner größten wirtschaftlichen Transformation selber zur Kolonialpolitik überging. Das langfristige Resultat ist bekannt: Japan, das um 1850 seine »industrielle Lehrzeit« begonnen hatte, überschritt Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts die Schwelle zu »modernem«, industriell angetriebenem Wirtschaftswachstum und wurde innerhalb eines Jahrhunderts zum größten industriellen Produzenten der Erde, zu einem Land, das seine »nachholende« Modernisierung längst abgeschlossen hat und inzwischen die Konkurrenz einer neuen Generation asiatischer Aufsteiger – Südkorea, Taiwan, Singapore, Malaysia, u.a. – fürchten muß. Indien hat sich aus dem schlimmsten Elend befreit, kämpft aber seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts weiterhin ohne hoffnungerweckende Wachstumsperspektiven mit Problemen, die nicht mehr alle dem Erbe des Kolonialismus angelastet werden können. China – genauer: die Volksrepublik China – hat nach Jahrzehnten von Krieg, Bürgerkrieg und wirtschaftlich ruinösen kommunistischen Experimenten Wachstumsraten erreicht, die Respekt, aber noch kein Vertrauen in ihre Dauerhaftigkeit und in die Stabilität der sie tragenden Strukturen einflößen. Das relative Gewicht der Industrie innerhalb seiner Volkswirtschaft ist größer als in Indien, das Bruttosozialprodukt pro Kopf liegt geringfügig höher als dort, beträgt aber nur ein Sechzigstel des japanischen. Nach dem »Human Development Index« der Vereinten Nationen, der die Merkmale Lebensdauer der Menschen, Bildung und materiellen Lebensstandard kombiniert, rangierte Japan 2000 auf Platz 9 der Weltliste, die VR China auf Platz 99, Indien an 128. Stelle. Seit China in erheblichem Umfang marktwirtschaftliche Elemente zugelassen hat und vom »Sozialismus« zu einer Art von fragmentiertem Staatskapitalismus übergegangen ist, unterscheiden 272

sich die drei Länder nicht mehr grundsätzlich nach der Art ihrer wirtschaftlichen Systeme: Es handelt sich um drei Spielarten vor organisiertem Kapitalismus.

III. Kaufleute Es kann in einem kurzen Aufsatz nicht darum gehen, komplette Erklärungen dafür anzubieten, warum Japan die Impulse aus dem Westen nahezu umgehend verarbeitete und zur Überwindung einer Krise nutze, in die das Ancien Régime des Tokugawa-Feudalismus seit etwa dem Ende des 18. Jahrhunderts geraten war, warum hingegen in Indien und China im 19. und frühen 20. Jahrhundert für ähnliche Krisen keine konstruktiven und tragfähigen Lösungen gefunden wurden. Diese höchst diffizilen Fragen sind unter Fachleuten nach wie vor heftig umstritten. Es sollen hier allein einige vergleichende Überlegungen zum Thema »Macht« und »Markt« angestellt werden. Sofern man den polyzentrischen, multikulturellen Flickenteppich Indien, das nur mit größter Anstrengung von einer kleinen Bürokratie zentralistisch regierte Kaiserreich China und den ethnisch und kulturell homogenen, relativ wohlgeordneten Inselstaat Japan mit seiner Bevölkerung von weniger als einem Zehntel der chinesischen überhaupt miteinander vergleichen kann, läßt sich feststellen: Alle drei Länder konnten im 18. Jahrhundert ihre Bevölkerung auf demjenigen niedrigen Niveau auskömmlich ernähren, das man auch vom vormodernen Kontinentaleuropa kennt. Dem japanischen oder chinesischen Bauern ging es um 1750 nicht schlechter als dem französischen. Alle drei Länder kannten starke marktwirtschaftliche Elemente. Ein erheblicher Teil der bäuerlichen Produktion ging auf den Markt; Fernhandel wurde von leistungsfähigen Kaufmannsfamilien und -organisationen über große Distanzen erfolgreich organisiert. In Indien waren die Handelsnetze vielfach infolge der chaotischen politischen Zustände zerrissen worden, die nach dem Tod des letzten zentralisierenden Mogulkaisers, Aurangzeb, im Jahre 1707 um sich gegriffen hatten. Die indische Marktwirtschaft war daher stärker lokalisiert, während sich in den innerlich befriedeten Herrschaftsgebieten der Qing- und der Tokugawa-Dynastie (samt der ihr untertänigen Territorialfürsten) gegenläufige Tendenzen in Richtung auf die Integration eines »nationalen Marktes« abzeichneten. In allen drei Ländern kann von einem »asiatischen Despotismus«, der den Handel systematisch unterdrückt und ausgesaugt hätte, im 18. Jahrhundert keine Rede sein. Überall griff der Staat allenfalls punktuell in die Wirtschaft ein, gab es große Spielräume für die freie Entfaltung von Privatinteressen. Innerhalb der japanischen Gesellschaft der Tokugawa-Zeit bereiteten sich zahlreiche Entwicklungen vor, die sich später beim Kontakt mit dem Westen günstig auswirken sollten. Vier davon sind besonders wichtig. Erstens erlebte 273

Japan seit etwa der Mitte des 17. Jahrhunderts einen Urbanisierungsboom, der es nach England und den Niederlanden zu der Gegend der Welt mit dem dritthöchsten Anteil von städtischer Bevölkerung machte. Die großen Städte, besonders Edo/Tokyo und Osaka, wurden zu dynamischen Kraftpunkten des Wirtschaftslebens. In China hingegen waren die großen Städte meist primär Verwaltungssitze. Das kommerzielle Leben spielte sich eher in Städten kleinerer Größenordnung ab, es war weniger konzentriert, breiter verteilt. Zweitens war die Kaufmannschaft, die in den Städten saß, in Japan eine stabilere soziale Schicht als in China. Die chinesischen Kaufleute waren meist Zuwanderer von auswärts: Die einzelnen Branchen des Fernhandels lagen in den Händen von Händlern aus jeweils besonderen Landesteilen: Die meisten Bankiers stammten aus der Provinz Shanxi, die meisten Salzhändler aus der Stadt Yangzhou, usw. Außerhalb ihrer Heimatprovinz waren sie daher nur Gäste und konnten sich nicht zu einem ortsansässigen Patriziat entwickeln. Auch wollte der chinesische Kaufmann nicht Kaufmann bleiben. Er strebte für sich selbst, zumindest aber für seine Söhne nach Lebensstil und Prestige eines grundbesitzenden Gelehrten, der in den staatlichen Beamtenprüfungen einen Titel erlangt oder ihn sich gekauft hatte. Paradoxerweise führte das in unseren Augen moderner erscheinende chinesische Gesellschaftssystem, in dem es keine feudale Aristokratie gab und sozialer Auf- wie Abstieg an der Tagesordnung war, dazu, daß eine Kaufmannschaft kaum Profil gewinnen konnte. Sie war eine flüchtige Zwischenschicht. Drittens war der japanische Handel ohne die vielen Zwischenhändler und Makler organisiert, die in Indien und China die Handelsketten in die Länge streckten und jede Übersicht verhinderten. In Japan hingegen gab es integrierte Systeme: Ein und dasselbe Handelshaus besorgte sich die Ware beim Erzeuger und brachte sie ohne zusätzliche Makler und Vermittler an den Endverbraucher. Die Folge war ein hohes Maß an Markttransparenz. Dies wirkte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders günstig auf Produktion und Export von Seide aus, einen der großen Wachstumsmotoren der Meiji-Zeit: Durch niedrige Preise, regelmäßige Lieferung und gleichbleibend hohe Qualität fegte Japan die bis dahin dominierende chinesische Seidenwirtschaft, die all das nicht bieten konnte, vom Weltmarkt. Viertens schließlich lag ein wichtiger Vorteil Japans darin, daß ein größerer Teil der bäuerlichen Bevölkerung als in China und Indien Bekanntschaft mit »proto-industriellem« Hausgewerbe gemacht hatte. Die Initiative dazu lag hauptsächlich bei eher ländlichen Händlern, die sich eine neue Betätigung als semi-kapitalistische »Verleger« schufen. Dadurch entstand ein Reservoir an erfahrenen Arbeitskräften, auf das die Industrie des 19. Jahrhunderts zurückgreifen konnte.

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IV. Japan Lange herrschte die Ansicht vor, die wirtschaftliche Modernisierung Japans nach der Landesöffnung sei ausschließlich eine Leistung des Staates, also einer kleinen Gruppe weitsichtiger Ex-Samurai, die 1868 als Parteigänger des bis dahin machtlosen Kaisers die Macht ergriffen hatten. Das ist nicht falsch. Aber es muß gesehen werden, daß zum Zeitpunkt dieser »Meiji-Restauration« in Japan als einzigem Land Asiens eine soziale Schicht existierte, die starke Ähnlichkeiten mit dem westeuropäischen Bürgertum aufwies. Um überzogene Parallelen zu vermeiden, ist es vielleicht besser, sich mit der Vorsicht des Ökonomen auszudrücken: In Japan gab es eine relativ große Anzahl von Menschen, überwiegend Kaufleuten und reichen Farmern im städtischen Umfeld, die gelernt hatten, unternehmerisch zu handeln, sich also (im Sinne Joseph A. Schumpeters) neue wirtschaftliche »Kombinationen« auszudenken. Zugleich verfügten viele von ihnen über angehäufte Kapitalien oder über Zugang zu den Institutionen des Bankgewerbes. Es waren vornehmlich diese »bürgerlichen« Proto-Unternehmer und erst an zweiter Stelle wirtschaftlich wagemutige Mitglieder des niederen Adels, der Samurai, aus denen die erste Generation japanischer Unternehmer hervorging. Als die Landesöffnung neue Chancen des Außenhandels bot und als man in Japan direkten Kontakt mit westlicher Technologie fand, die man bis dahin hauptsächlich über holländische und englische Bücher kennengelernt hatte, da war in höherem Maße als in China und Indien das unternehmerische Potential vorhanden, um eigene moderne Wirtschaftsorganisationen aufzubauen. Die Impulse des industriellen Innovationsschubs fanden daher rasch ein Echo in der japanischen Wirtschaftskultur. Ohnehin war der Staat in der letzten Phase (1853–1868) des Tokugawa-Shogunats kaum mehr handlungsfähig. Die frühesten wirtschaftlichen Reaktionen auf die Landesöffnung beruhten nahezu alle auf privaten Initiativen. Freilich darf der Gegensatz »staatlich-privat« nicht übertrieben werden. Man neigt dazu vor dem Hintergrund der europäischen Erfahrung. Weder vor noch nach 1868 gab es in Japan eine neutral über den Niederungen der Privatgeschäfte schwebende Bürokratie. Die wirtschaftlich aktiven (Ex-) Samurai und die um politische Protektion ersuchenden Kaufleute und Finanziers brauchten einander; es kam im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einer in ganz Asien einmaligen Symbiose von Geschäft und Politik. Die für Meiji-Japan charakteristischen großen Familienkonzerne, die zaibatsu (der berühmteste war und ist Mitsubishi), gingen überwiegend auf politisch besonders wohlverbundene Kaufleute zurück. Ihnen übertrug der Staat zeitlich befristete Monopole. In der nächsten Phase betrieb er dann eine aktive Industriepolitik: Der Staat initiierte und finanzierte Pilotprojekte, um sie preiswert zu verkaufen, sobald sie in Gang gekommen waren und das Interesse privater Geschäftsleute gefunden hatten. Weiterhin kümmerte sich der Staat im Rahmen einer umfassenden Reform, die 275

auch für die Modernisierung der Verwaltung, des Rechtswesens, des Militärs, des Bildungssystems und vieler anderer Bereiche sorgte, um den Ausbau der Infrastruktur. Die Meiji-Regierungen setzten zudem geld- und währungspolitische Instrumente bereits zu einer Zeit gezielt ein, als dies in Europa noch keineswegs üblich war. So wurde Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts das Mittel der Deflation benutzt, um die Wirtschaftsstruktur auf eine gesunde Basis zu stellen. Trotz solcher Interventionen lag der Schwerpunkt der Meiji-Reformen auf der Bereitstellung eines institutionellen Rahmens, der möglichst günstige Bedingungen für die Privatwirtschaft schaffen sollte. Die Meiji-Politik war also nicht dirigistisch im heutigen Sinne, und sie strebte nicht nach staatlicher Wirtschaftsmacht als Selbstzweck. In China hingegen haben Regierungen immer wieder versucht, die ihnen verdächtige Sphäre des privaten Unternehmertums unter ihre Kontrolle zu bringen. Da dies vor 1949 nicht mit positiven Vorstellungen von einer Entwicklungsaufgabe des Staates verbunden war, löste es unweigerlich Verwirrung aus. Zu den erstaunlichsten Seiten Japans im 19. Jahrhundert gehört die Fähigkeit eines unkorrupten Staates, bei aller Nähe zu privaten Interessen immer wieder eine Politik zu konzipieren und auszuführen, die gemeinwohlorientiert war, also – soweit das in einer Klassengesellschaft möglich ist – den nationalen Vorteil im Auge behielt. Um dies zu erklären, muß man über die Ökonomie hinausblicken: Die Meiji-Oligarchen segelten geschickt unter dem Banner der wiederbelebten kaiserlichen Institution, konnten aber dennoch nicht vergessen machen, daß sie die Macht im Grunde ohne Mandat usurpiert hatten. Niemand hatte sie beauftragt oder gewählt, und um ihre Legitimität stand es keinen Deut besser als um diejenige der abgesetzten Tokugawa-Dynastie. Dieses Defizit versuchten die kleinen Herrscherzirkel der frühen Meiji-Zeit dadurch auszugleichen, daß sie sich als Leistungselite definierten. Ein weiteres kommt hinzu: Der japanische Nationalismus prägte sich früher aus als der indische und erst recht als der chinesische und stellte schon bald den Gedanken in den Mittelpunkt, daß die Kräfte der Nation auf den wirtschaftlichen Aufbau konzentriert werden müßten. Daher erhielt jedes staatliche Reformdekret und jede private Firmengründung die Weihe einer patriotischen Tat. Diese Verbindung von Kapitalismus und Nationalismus findet sich in keinem der anderen großen Länder Asiens. Den ersten, den industriellen Innovationsschub nutzte Japan, um zu lernen. Ausländische Fachleute wurden ins Land geholt, aber niemals in Positionen installiert, von denen sie wirkliche Macht hätten ausüben können. Sie blieben hochbezahlte Berater. Anders als gleichzeitig die ägyptischen oder osmanischen Modernisierer, hüteten sich die Meiji-Strategen vor der Abhängigkeit von ausländischen Krediten. Bis zur Jahrhundertwende finanzierte sich das japanische Wirtschaftswunder weitgehend selbst. Als die »corporate revolution« Asien erreichte, traf sie in Japan auf beträchtlichen Widerstand. Die großen zaibatsu276

Unternehmen konnten es mit den westlichen Konzernen durchaus aufnehmen und kapitulierten keineswegs vor deren Organisationskraft. Sie fanden dabei staatliche Unterstützung. In Japan ging daher der Einfluß ausländischer Firmen während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich zurück; sie wurden marginalisiert. In China verlief ein umgekehrter Prozeß. Erst die um die Jahrhundertwende auftretenden multinationalen Konzerne durchdrangen den chinesischen Markt in seiner Tiefe und überrollten die schwache einheimische Konkurrenz. Auf dem Höhepunkt der ausländischen Wirtschaftspräsenz in China, ca. 1920–1937, bedurften die stärksten »Multis« schon nicht mehr der Instrumente des alten Imperialimus, also der Privilegien der Ungleichen Verträge. Sie wußten ihre Interessen mittels ihrer Marktmacht selbständig zur Geltung zu bringen. Die »corporate revolution«, die an Japan abprallte, ergriff China mit Vehemenz, ohne allerdings zu nennenswerten Lerneffekten zu führen.

V. China Wie verhielten sich Markt und Macht im China des 19. Jahrhunderts zueinander? Die Macht der bewaffneten Europäer hatte den Opiumkrieg für sich entschieden, konnte aber den chinesischen Markt nicht öffnen. Mit Kanonenbooten ließ sich erzwingen, daß der chinesische Hof einen Ungleichen Vertrag nach dem anderen unterschrieb, immer neue Städte zu »Treaty Ports« erklärte und schrittweise wichtige Souveränitätspositionen räumte. Ein Kanonenboot im Hafen, das droht und schlimmstenfalls ein Massaker anrichtet, ist jedoch nicht unbedingt ein guter Werbeträger für europäische Exporte. Das Gegenteil war oft genug der Fall, und die chinesische Bevölkerung gewöhnte sich mit der Zeit an die Methode des Boykotts, um dies auch deutlich zu machen. War also erst einmal der Rahmen fremder Wirtschaftsbetätigung festgesetzt, vor allem durch die Einführung eines Freihandelsregimes mit extrem niedrigen Zöllen, dann wollte der Markt auch mit marktkonformen Mitteln erobert werden. Unter »halbkolonialen« Bedingungen gerieten außerökonomische Einwirkungsmöglichkeiten bald an ihre Grenzen. Hier traten nun für die Europäer einige Probleme auf. Zwar wurden die wachsenden Treaty Ports, vor allem Shanghai, selbst bald zu Absatzmärkten für europäische Produkte, doch war es schwierig, Märkte im Landesinneren zu erreichen. Das Problem hatte zwei Aspekte. Auf der einen Seite blieb die Nachfrage nach Importgütern begrenzt. Es ist eine Legende, daß Importe aus Lancashire die hausgewerbliche Spinnerei und Weberei von Baumwolle in China zerstört hätten. Die Hausindustrie, die auf grenzenloser Selbstausbeutung der Bauernfamilien beruhte, konnte allemal billiger produzieren als die europäischen Anbieter. Diese fanden sichere Absatzchancen nur bei den feinsten und teuersten Qualitäten, im Prestigekonsum der chi277

nesischen Oberschicht. Auf der anderen Seite war der Importeur, der den Fuß niemals über Shanghai, Tianjin oder Hongkong hinaussetzte, für alle Transaktionen mit Chinesen auf einheimische Vermittler, die sog. Kompradore, und auf binnenländische Händler angewiesen, über deren Geschäftspolitik er keine Kontrolle hatte. Kurz: Die importierten Waren wurden in den (großen) Treaty Ports an chinesische Händler verkauft, die damit machen konnten, was sie wollten. Das Resultat war aus der Sicht der Ausländer statt der erhofften »offenen« nur eine angelehnte Tür zum chinesischen Markt. So weit entsprechen die Verhältnisse in China ungefähr denen in Japan. Auch dort fanden Ausländer nur schwer den direkten Zugang zum einheimischen Markt. Die chinesische Wirtschaftskultur schien aber damit zufrieden zu sein, das Fremde abzuwehren. Gewiß war Japan seit Jahrhunderten auf das Lernen vom Ausland eingestellt, hatte es doch wesentliche Elemente seiner Zivilisation – vor allem die Schrift – von dem lange bewunderten großen Bruder China übernommen. Aber das erklärt noch nicht die Lernunwilligkeit Chinas. Warum beließ man es dort bei einigen staatlichen Rüstungsbetrieben und Werften und baute nicht, wie in Japan, in Windeseile Fabriken, um die Ausländer mit ihren eigenen Waffen zu schlagen? In den Ungleichen Verträgen war dies nicht verboten worden. In der Regel haben Interpretationsversuche kulturell-ideologische Entwicklungshemmnisse in den Vordergrund gestellt worden. So hat man China – sicher nicht zu Unrecht – vorgeworfen, es habe sich nur partiell modernisieren wollen und den »Paketcharakter« der Moderne übersehen. Oft wird in diesem Zusammenhang die zeitgenössische Formel »Chinesisches Wissen für die grundlegenden Dinge, westliches Wissen für die [technische] Anwendung« zitiert. Aber Meiji-Japan folgte demselben Motto. Die Meiji-Führer hielten gar nichts von einer totalen Verwestlichung, wie sie etwa zur gleichen Zeit die ägyptische Elite unter dem Khediven (König) Ismail (reg. 1863–1879) unternahm, einem traditionsfeindlichen Radikal-Europäisierer. Die Anpassung des Fremden an das Eigene zeichnete die Modernisierung Japans von Anfang an aus. Eine weiter gefaßte Erklärung macht die Erwerbsfeindlichkeit der konfuzianischen »Wirtschaftsethik« für das chinesische Desinteresse an westlicher Modernität verantwortlich. Aber auch das ist problematisch. Niemand weiß heute mehr genau zu sagen, was »Konfuzianismus« eigentlich ist: Die Worte des Meisters Kong und die Kommentare seiner Interpreten? Eine außerreligiöse Mentalitätslage, die zu Arbeitsfleiß, Genügsamkeit, Familiensinn und Gehorsamkeit gegenüber der Obrigkeit verpflichtet? Einerlei – seit man den Konfuzianismus neuerdings als das Erfolgsgeheimnis vieler ost- und südostasiatischer Schnellentwickler (Taiwan, Singapore, Korea) entdeckt hat, ist nicht einzusehen, weshalb derselbe Konfuzianismus, der heute angeblich die wirtschaftliche Entwicklung vorantreibt, sie im 19. Jahrhundert behindert haben soll. 278

Man wird also anderen Erklärungsfaktoren größeres Gewicht beimessen müssen: Die chinesischen Kaufleute, darunter die Gruppe der Kompradore in den Treaty Ports, wußten die neuen Chancen des erweiterten Außenhandels so geschmeidig zu nutzen, daß sie die Risiken industriellen Unternehmertums wenig anziehend fanden. Anders gesagt: handelskapitalistischer Erfolg stand einer industriekapitalistischen Neuorientierung im Wege. Auch änderte sich nichts an ihrem traditionellen Streben über das Handelsmilieu hinaus. Sie wollten auf längere Sicht nicht zu Wirtschaftsbürgern werden, sondern fühlten sich aufgehoben in einer wachsenden Nähe zu der dem kaiserlichen Beamtenapparat verbundenen landbesitzenden Oberschicht (»gentry«). Während der chancenreichen Jahre zwischen etwa 1865 und 1895 fehlte zudem in China der Wirtschaftsnationalismus, der damals Japan beflügelte. Die Idee der Sammlung aller Anstrengungen zur Rettung der Nation wurde erst durch den Kriegsschock von 1895 und die damit geöffnete Pandorabüchse des allerneuesten Imperialismus geweckt. Jetzt begann die Gentry-Kaufmanns-Elite zum Beispiel, ausländisch finanzierte Eisenbahnlinien zurückzukaufen. Doch das war eher eine Tat patriotischer Symbolpolitik als ökonomischer Zweckmäßigkeit. Und der Staat? Zwischen 1644 und 1949 erlebte China keinen Bruch seiner politischen Ordnung – sagen wir: keine Revolution – von der Dramatik der Meiji-Restauration. Der Sturz des Kaisertums 1911 und die Errichtung einer Republik im folgenden Jahr tauschten die Spitzenetage des politischen Personals aus, führten aber nicht zu einer Zentralisierung des politischen Systems. Den die Kräfte bündelnden, zielstrebigen, entwicklungsorientierten Staatsapparat, den Japan 1868 erhielt, gab es in China erst nach 1949 unter dem Vorzeichen sozialistischer Marktfeindschaft. Alle Regierungen Chinas – die kaiserliche einschließlich ihrer seit etwa 1850 immer selbständiger werdenden Provinzgouverneure, die der »Warlords« zwischen 1916 und 1927, dann die der Nationalpartei (Kuomintang) des Generals Jiang Kaishek in Nanjing (1928– 1937) – fanden keine Mitte zwischen zwei Extremen: Untätigkeit und willkürliche Gängelung der Wirtschaft. Niemand in China betrieb die von dem Revolutionsführer Sun Yatsen (1866–1925) in seinen letzten Lebensjahren geforderte vorausschauende Aufbaupolitik – in der Art etwa, wie Kemal Atatürk sie seit 1923 in der Türkei praktizierte. Nach 1895 verengte der wachsende Druck des Imperialismus ohnehin die Handlungsspielräume chinesischer Politik. Sobald sich Nischen auftaten, etwa infolge des ausländischen Rückzugs vom chinesischen Markt während des Ersten Weltkriegs, machte sich im frühen 20. Jahrhundert ein vitaler einheimischer Kapitalismus neuer Industrieller und Bankiers bemerkbar. Er verband in einigen Fällen mit eindrucksvollem Erfolg importierte Technologie und Managementtechniken mit den Solidartugenden der traditionellen chinesischen Familienfirma. Aber zwischen ausländischem Kapital und einer entwicklungsindifferenten oder -feindlichen, in sich zersplitterten Staatsmacht konnte sich diese Unternehmerklasse niemals ent279

falten. Sie wurde durch den Krieg von 1937 und die kommunistische Revolution von 1949 aufgerieben – ein Opfer politisch-militärischer Macht. Wer sich in Sicherheit bringen konnte, trug zum Aufschwung Hongkongs und später Taiwans bei. Einige der alten, auf das »goldene Zeitalter der chinesischen Bourgeoisie« (1915–1922) zurückgehenden Unternehmerfamilien spielen in der Volksrepublik seit dem Beginn der wirtschaftlichen Liberalisierung 1979 wieder eine gewisse Rolle.

VI. Indien Auch der indische Staat, der ein britisches Implantat war, hat sich mindestens bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht als Entwicklungsinstanz verstanden. Neben wirtschaftlichen Interessen spielten Strategie und Prestige eine große Rolle bei Aufbau und Bewahrung der britischen Herrschaft in Indien und verhinderten, daß das Ökonomische einen zentralen Platz im Selbstverständnis der aristokratischen britischen Machthaber gewann. Der koloniale Staat hielt etwa die Mitte zwischen dem Aktivismus des souveränen MeijiStaates und der orientierungslosen Wirrnis chinesischer Politik unter halbkolonialen Bedingungen. Wie der Meiji-Staat setzte er einen Ordnungsrahmen – ohne ihn aber durch eine konstruktive Politik zu füllen. In der Wirtschaftspolitik der Kolonialmacht standen administrative Ziele an erster Stelle; Entwicklungsinitiativen waren nachrangig. Die offiziellen Vertreter der britischen Herrschaft, des Raj, waren hauptsächlich darum bemüht, die Selbstfinanzierung ihres Apparates sicherzustellen, also einen regelmäßigen Steuerfluß von den indischen Untertanen in die Kassen von Kalkutta, Delhi und London zu gewährleisten. Wenn die Interessen britischer Privatfirmen dem entgegenstanden, wurden sie ignoriert. So nahm es die britisch-indische Regierung mit dem geheiligten Prinzip des Freihandels nicht so genau, wenn sie durch Zölle ihre Einnahmen verbessern konnte. Überhaupt trat der koloniale Staat selten in offener Weise als Agent metropolitaner Wirtschaftsinteressen oder als Förderer und Erfüllungsgehilfe britischer Firmen, die in Indien niedergelassen waren, in Aktion. Daß er umgekehrt indische Unternehmen begünstigte, geschah noch weniger häufig. Das industrielle Musterunternehmen des modernen Indien, die 1907 gegründete Tata Iron and Steel Company, genoß Wohlwollen und Förderung der Kolonialmacht; andere Firmen und Branchen machten gegenteilige Erfahrungen. Insgesamt war der private Industriesektor in Indien vor dem Zweiten Weltkrieg größer und dynamischer als der chinesische. Der Krieg selbst war dann für die moderne chinesische Privatwirtschaft, deren Zentren entlang der Küste von der japanischen Armee überrannt und fast acht Jahre lang besetzt gehalten wurden, eine Katastrophe, während die indische Industrie, vom Kriegsgeschehen unbehelligt, prosperierte. 280

Der koloniale Staat sorgte in Indien immerhin für die friedlichen Umstände und den rechtlichen Rahmen privatindustrieller Tätigkeit, die in China fehlten. Der industrielle Innovationsschub führte trotz der bereits erwähnten Erfahrungen mit einheimischer Eisenbahnproduktion zu einem umfangreicheren Technologietransfer als in China. In beiden Ländern schwächte das reichhaltige und billige Angebot an Arbeitskräften den Drang, fortgeschrittene Technik einzusetzen. Immerhin: Es gab den modern ausgestatteten Stahlkonzern der Tata-Familie, dem China nichts Privatwirtschaftliches – sondern nur die staatlich-militärische Schwerindustrie in der von Japan kolonisierten Mandschurei – an die Seite zu stellen vermochte. Die »corporate revolution« machte sich in Indien noch stärker als in China bemerkbar. Zum Zeitpunkt der indischen Unabhängigkeit (1947) befand sich die Hälfte der britischen Direktinvestitionen in Indien unter der Kontrolle der Tochtergesellschaften multinationaler Konzerne. Anders als in China, war aber nicht die einheimische Industrie das Hauptopfer der Konzern-Invasion, sondern die ältere Generation der britischen Kolonialfirmen. Mit den leistungsfähigeren unter den indischen Konkurrenten mußten sich die Multis arrangieren. Das kam in China vor 1937 seltener vor. Es wäre frivol, aus den verschiedenen in diesem Aufsatz vorgestellten Beispielen aus der Geschichte eine Ergebnisformel herausdestillieren zu wollen. Die drei Fälle sind viel zu facettenreich, und die Möglichkeiten des Vergleichs konnten nur angedeutet werden. Riskiert man aber Frivolität, dann läßt sich sagen: Die leistungsfähige vormoderne Marktwirtschaft der asiatischen Gesellschaften hat sich nicht zuletzt aufgrund unterschiedlichen Eingreifens politischer Machtträger in verschiedene Richtungen entwickelt. In Japan, dem großen Sonderfall, der als Maßstab für Entwicklungen in anderen Ländern nur sehr bedingt taugt, konnte ein »starker«, aufgeklärter und nationalistisch-entwicklungsorientierter Staat in symbiotischer Verflechtung mit einem in der vormodernen Epoche bereits keimhaft entstandenen einheimischen Unternehmertum die relative Schwäche äußeren Drucks während der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts für eine energische Industrialisierungspolitik nutzen. In Indien war der Staat »schwächer«; als koloniale Fremdinstanz war er in einem schwer zu bemessenden Umfang parasitär; als bürokratischer Richter über den Parteien schuf er einen Ordnungsrahmen, den er selbst nicht füllen konnte und wollte. Indische Unternehmer nutzten diese Möglichkeiten, aber in einer zufälligeren, anarchischeren Weise als in Japan. In China gab es seit dem schleichenden Verfall der Qing-Dynastie und erst recht nach ihrem Zusammenbruch 1911 keine handlungsfähige politische Zentralgewalt. Wenn sich Machthaber in die Wirtschaft einmischten, dann in der Regel aus Motiven des Augenblicks und mit schädlichen Folgen. Die sich später als in Japan und Indien zu so etwas wie einer modernen Geschäftsbourgeoisie herausbildenden Unternehmer waren noch stärker als die indischen der ausländischen Konkur281

renz ausgesetzt. Der industrielle Innovationsschub des 19. Jahrhundert machte sich in China gedämpfter bemerkbar als anderswo, die »corporate revolution« der Jahrhundertwende dafür umso vehementer. In ihr verschmolzen die beiden Elemente unseres Gedankenspiels: zu Markt-Macht. Sie wurde 1949 von revolutionären Führern gebrochen, die sich eines nicht träumen ließen: die triumphale Rückkehr der multinationalen Konzerne nach China am Ende des 20. Jahrhunderts.

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12. Krieg im Frieden. Zu Form und Typologie imperialer Interventionen

I. Imperialismus und Intervention Eine Geschichtsschreibung jenseits des Nationalstaates kann alles Mögliche sein: Geschichte des Weltsystems und der ökonomischen Globalisierung, interkulturelle Transfergeschichte, vergleichende Geschichte, globale Kultur- oder Sozialgeschichte. Aber sie wird immer und vorrangig auch etwas sein müssen, das seit langem aus deutschen Theoriedebatten verschwunden ist: Geschichte der internationalen Beziehungen oder Internationale Geschichte.1 DieVerleugnung des Internationalen durch die intellektuell tonangebenden Strömungen der deutschen Geschichtswissenschaft – von der neo-weberianischen Gesellschaftsgeschichte bis zur »neuen« Kulturgeschichte – hat vier bedenkliche Folgen: Erstens ist das Gebäude der Historischen Sozialwissenschaft lange auf einer ausnahmsweise ungeprüft gebliebenen Voraussetzung errichtet worden: der Prämisse vom Nationalstaat als dem naturgegebenen Gehäuse gesellschaftlicher Prozesse. Das aber war ein stillschweigendes Erbe viel eher der deutschen historiographischen Tradition als der klassischen Sozialwissenschaften, auf die man sich sonst mit so viel Erfolg berief. Keiner der Meisterdenker der Soziologie seit Montesquieu oder Comte hat nationalgesellschaftlich gedacht. Zweitens hat die Historische Sozialwissenschaft ein riesiges Feld sozialwissenschaftlicher Theoriebildung unbeachtet und ungenutzt gelassen: »international relations« im weitesten Sinne. Die neue Globalisierungsdiskussion hat die deutschen Historiker, abgesehen von Migrationsforschern und wenigen Wirtschaftshistorikern vornehmlich der älteren Generation, daher unvorbereitet erwischt. Daß Nationalgesellschaften in vielfältige Austauschprozesse eingebunden sind, daß kulturelle Transfers allenthalben in der Neuzeit zu Mischungen, Überlagerungen und »Hybridität« geführt haben, bleibt im Grunde erst zu entdecken.

1 Vgl. als Versuch einer neuen Kartographierung dieses Feldes: W. Loth u. J. Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen, Ergebnisse, Aussichten, München 2000. »Internationale Geschichte« soll an die englische Bezeichnung »international history« anschließen. Damit ist erheblich mehr gemeint als Diplomatiegeschichte oder Staatengeschichte.

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Drittens hat die endlose deutsche Debatte um den »Primat« der äußeren oder der inneren Verhältnisse zu einem halbierten Verständnis von Macht geführt. Das eine historiographische Lager hielt an dem abstrakten und engen Machtbegriff der Diplomatiegeschichte und des außenpolitischen »Realismus« fest, das andere ließ Macht nur als Derivat sozialer Lagen und eventuell noch als manipulativ eingesetzte Ressource von Elitenpolitik gelten. Die großen Machtumbrüche der Gegenwart aber – auch die deutsche Wiedervereinigung – lassen sich, wie etwa Charles S. Maier gezeigt hat,2 ohne ein Verständnis für die Verschränkung innerer und äußerer Faktoren überhaupt nicht erfassen. Im Zeitalter einer Internationalisierung aller Lebensbereiche, nicht zuletzt auch der Entmächtigung nationalstaatlicher Politik, ist die Primatfrage im Sinne eines kontradiktorischen Widerspruchs gegenstandslos geworden. Viertens – und dies folgt verallgemeinernd aus dem letzten Punkt – kann es spätestens nach der Rückkehr des Krieges auf den europäischen Kontinent nicht länger angehen, daß die Geschichtswissenschaft sowohl in ihrer sozialgeschichtlichen wie in ihrer kulturgeschichtlichen Variante Fragen von Krieg und Frieden weiterhin ignoriert. Solche Fragen in einer allgemeinen Kulturgeschichte und historischen Anthropologie von Gewalt aufgehen zu lassen,3 ist ein Fortschritt gegenüber strikter Verweigerung und bringt viele wichtige Einsichten in Gewaltursachen und Kriegserfahrungen hervor, riskiert aber die Entpolitisierung der Konfliktproblematik und die Einschränkung von Gewaltwahrnehmung auf anthropologische Grundbefindlichkeiten. Man kann nicht über Kriegserfahrung reden und gleichzeitig über Kriegsursachen schweigen. Die Historische Sozialwissenschaft ist in einem einzigen Fall von ihrer Geringschätzung des Internationalen abgewichen: Die Erklärung des Imperialismus, insbesondere des deutschen, amerikanischen und russischen, war eine Weile eine ihrer bevorzugten Aufgaben. Dies war dadurch möglich, daß die Imperialismusthematik seit den »klassischen« Imperialismustheorien des frühen 20. Jahrhunderts außerhalb des Machtstaatparadigmas auf hohem Niveau theoretisch behandelt worden war. Da die imperiale Expansion der Zeit zwischen etwa 1880 und 1914 jenseits des europäischen Staatensystems stattfand, war es zudem nicht nötig, sich mit den Mechanismen der Allianzsysteme, also mit Diplomatiegeschichte in einem engen Sinne, zu beschäftigen. Eine sozialökonomische Interpretation lag daher besonders nahe, zumal im deutschen Fall die Verbindung zur wilhelminischen »Weltpolitik«, an der innovative Vorläufer wie Eckart Kehr die Vorzüge des »Primats der Innenpolitik« bereits demonstriert hatten, auf der Hand lag. Was die USA betraf, so fand man dort in den Arbeiten von William Appleman Williams ein Muster für die kritische Über2 Vgl. C. S. Maier, Dissolution: The Crisis of Communism and the End of East Germany, Princeton 1997. 3 Z.B. R. P. Sieferle (Hg.), Kulturen der Gewalt, Frankfurt a.M. 1998.

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windung diplomatiegeschichtlicher Konventionen vor. Die kurze Blüte der deutschen Imperialismusforschung währte von Hans-Ulrich Wehlers »Bismarck und der Imperialismus« (1969) über Dietrich Geyers »Der russische Imperialismus« (1977) bis zu einer Synthese, die Gustav Schmidt 1989 veröffentlichte. In diese Zeit fallen auch wichtige Aufsätze von Wolfgang J. Mommsen und Gilbert Ziebura über britischen und französischen Imperialismus.4 Daß sich gleichzeitig, angeregt durch Rudolf von Albertini in Heidelberg und später in Zürich, eine ganze Schule einer eher »peripher«, also auch an den Verhältnissen in Übersee interessierten Erforschung von Kolonisation – auf zuweilen höchstem internationalen Niveau – etablierte, wurde in der Historischen Sozialwissenschaft – mit Ausnahme Wolfgang J. Mommsens – ebensowenig wahrgenommen wie die grandiose Syntheseleistung, die Wolfgang Reinhard mit seiner vierbändigen »Geschichte der europäischen Expansion« (1983–1990) erbrachte.5 Unterdessen hat die Imperialismusforschung international eine Renaissance erlebt.6 Das hat verschiedene Gründe: die Globalisierungsdiskussion, zu deren frühesten historischen Beiträgen Immanuel Wallersteins Theorie des »modernen Weltsystems« (1974) gehörte; die Entdeckung rassistischer und eurozentrischer Gehalte in den Texten der westlichen Tradition durch eine postmoderne Literaturwissenschaft; eine neue sozialhistorische Aufmerksamkeit für koloniale und nachkoloniale Gesellschaften als soziale Formationen sui generis;7 schließlich die Erweiterung des Gesichtskreises auf den zuvor kaum beachteten, dabei aber hochbedeutenden Fall des japanischen Imperialismus und Kolonialismus.8 Die ältere Frage nach dem Warum der intensivierten Aneignung 4 Vgl. H.-U. Wehler, Bismarck und der Imperialismus. Köln 1969; Ders., Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865–1900, Göttingen 1974; Ders., Grundzüge der amerikanischen Außenpolitik 1750–1900, Frankfurt a.M. 1983; D. Geyer, Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860–1914, Göttingen 1977; W. J. Mommsen (Hg.), Der moderne Imperialismus, Stuttgart 1971; Ders., Der europäische Imperialismus. Aufsätze und Abhandlungen, Göttingen 1979; G. Schmidt, Der europäische Imperialismus, München 1989. 5 W. Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, 4 Bde., Stuttgart 1982–1990. Mehr als eine Zusammenfassung ist Ders., Kleine Geschichte des Kolonialismus, Stuttgart 1996. 6 Vgl. neue Aufgabenstellungen bei A. G. Hopkins, Back to the Future: From National History to Imperial History, in: P&P, Nr. 164, August 1999, S. 198–243. 7 Vgl. zusammenfassend J. Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 20013, S. 89–99. 8 Zum Stand der Imperialismusforschung vgl. P. Wolfe, History and Imperialism: A Century of Theory from Marx to Postcolonialism, in: AHR, Jg. 102, 1997, S. 388–420; J. Osterhammel, Jenseits der Orthodoxie. Imperium, Raum, Herrschaft und Kultur als Dimensionen von Imperialismustheorie, in: Periplus, Jg. 5, 1995, S.119–131; Ders., Imperialgeschichte, in: C. Cornelißen (Hg.), Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2000, S. 221–232; B. Barth, Internationale Geschichte und europäische Expansion: Die Imperialismen des 19. Jahrhunderts, in: Loth u. Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte, S. 309–327. Vorbildlich ist die Aufarbeitung der Literatur zum größten der neuzeitlichen Imperien in: W. R. Louis (Hg.), The Oxford

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von Kolonien durch die industrialisierten Nationalstaaten im Zeitalter des »Hochimperialismus« spielt heute längst nicht mehr die dominierende Rolle, die ihr in den sechziger und siebziger Jahren zukam. Stärker beachtet als das Problem des »colonial take-over« werden Zusammenhänge zwischen »formal« und »informal« empire,9 langfristige Kontinuitäten hinter 1870 zurück und über 1914 hinaus sowie kulturgeschichtliche Aspekte aller Art. Bei all ihrem innovativen Schwung hat jedoch gerade die unter »postcolonial studies« firmierende Kulturgeschichte von Imperialismus und Kolonialismus den Eindruck einer hermetischen Sonderwelt des Kolonialen eher noch verstärkt und damit auch die übliche Isolierung der Expansionsproblematik von der allgemeinen Geschichte der internationalen Beziehungen betont. Das Koloniale erscheint als eine exotische Sphäre für sich, Imperialismus als eine – trotz andauernder Langzeitfolgen – abgeschlossene Epoche. Einer solchen Sicht kann man nicht nur mit jenen Argumenten der marxistischen Imperialismusdeutung, einschließlich der zeitweise populären Dependenztheorien, widersprechen, die in der gegenwärtigen Entwicklung der Weltwirtschaft nur eine Verlängerung jenes Trends zu immer schärferen Nord-Süd-Gegensätzen sehen, der bereits im »ersten« Kolonialzeitalter einsetzte und dann vor allem im 19. Jahrhundert deutlich hervortrat. Auch ein jedes Radikalismus unverdächtiger Zeuge hat sich in einem ähnlichen Sinne geäußert. Zbigniew Brzezinski, der Sicherheitsberater Präsident Jimmy Carters, sieht in der heutigen Vormachtstellung der USA die Krönung einer Geschichte des »empire-building«, die er bis zum Imperium Romanum zurückverfolgt. In seiner Sicht hat das »American global system« das Erbe des von ähnlichen ideologischen Überzeugungen getragenen britischen Imperialsystems angetreten. Selbst Großbritannien mit seinem weltumspannenden Reich sei niemals »a truly global power« gewesen. »It did not control Europe, but only balanced it.«10 Die USA hingegen seien nach dem Ende des Kalten Krieges »the only comprehensive global superpower« der Weltgeschichte11 – in Brzezinskis Augen selbstverständlich ein Reich des Guten, das der Welt Frieden und Wohlstand bringt. Wenn man hier einiges an selbstzufriedener Rhetorik und kruder Geopolitik zu übersehen geneigt ist, dann bleibt festzustellen, daß Brzezinski eine politische und auch eine historische Wahrheit ausspricht. Die historische Wahrheit besteht darin, den weltpolitischen Aufstieg der USA – eine der elementaren Tatsachen des 20. Jahrhunderts – in die Geschichte der neuzeitlichen Reichsbil-

History of the British Empire. Bd. 5: Historiography, hg. v. R. W. Winks, Oxford 1999, ein Band von über 700 Seiten. 9 Vgl. vor allem P. J. Cain u. A. G. Hopkins, British Imperialism, 2 Bde., Harlow 1993. 10 Z. Brzezinski, The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives, New York 1997, S. 21. 11 Ebd., S. 24, ähnlich D. Cannadine, Ornamentalism, London 2001, S. XIII.

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dungen einzuordnen. Dies läßt sich ohne polemischen Anti-Amerikanismus tun. Es ist auch eine eher scholastische Frage, ob man die Begriffe »Imperium« und »Imperialismus« so weit dehnen möchte, daß sie auch das internationale Verhalten der »comprehensive global superpower« einschließen. Der analytische Befund dürfte kaum zu bestreiten sein: Die USA übernahmen trotz ihres traditionellen, zuletzt von Franklin D. Roosevelt in der Konfrontation mit Winston Churchill artikulierten Anti-Kolonialismus seit dem Beginn des Kalten Krieges an vielen Stellen der Welt die Ordnungsrollen der Briten und Franzosen, auch wenn sie die Inhalte dieser Rollen zumeist neu definierten.12 Oder in etwas anderer Sicht: die USA imitierten und perfektionierten jenes liberalkapitalistische Globalsystem, das Großbritannien im 19. Jahrhundert aufgebaut hatte. Die Methoden der Einflußsicherungen waren andere, und der formelle Kolonialismus spielte kaum eine Rolle, doch wurden die Ziele, die sich mit dem viktorianischen »British imperial system«13 verbanden, ins Amerikanische Zeitalter hinein übernommen und den technischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts angepaßt: (1) eine freihändlerische Weltwirtschaftsordnung, in der das »imperiale« Zentrum die Spielregeln bestimmt, (2) eine selbstauferlegte Zivilisierungsmission zur Verbreitung westlicher (britischer/amerikanischer) Werte und Lebensformen; (3) die Fähigkeit zu punktueller Machtentfaltung weltweit. Eine solche Fähigkeit zu globaler punktueller Machtentfaltung sicherte sich Großbritannien durch die Allgegenwart seiner Kriegsflotte, die wiederum durch die Kontrolle von Marinebasen an nahezu allen strategischen Punkten des Erdballs ermöglicht wurde. Das Innere der Kontinente war der britischen Macht jedoch weitgehend entzogen. Geopolitische Theorien über den welthistorischen Gegensatz von Land- und Seemächten, die von Hegel über Sir Halford Mackinder bis zu Carl Schmitt entwickelt wurden,14 waren daher für die Zeit der britischen Hegemonie und insbesondere für die Zeit des britisch-russischen Gegensatzes nicht aus der Luft gegriffen. Unter den technischen Bedingungen des 20. Jahrhunderts konnten die USA ihrem Arsenal die interkontinental operierende Luftwaffe hinzufügen. Prinzipiell ist jeder Punkt der Erde heute aus der Luft angreifbar. Das British Empire vermochte demgegenüber

12 Eine interessante Diskussion der Verschiebung von britischer zu amerikanischer Hegemonie ist: T. Smith, The Pattern of Imperialism: The United States, Great Britain and the LateIndustrializing World since 1815, Cambridge 1981; auch W. R. Louis u. R. Robinson, The Imperialism of Decolonization, in: JICH, Jg. 22, 1994, S. 462–511. Vgl. auch U. Lehmkuhl, Pax Anglo-Americana. Machtstrukturelle Grundlagen anglo-amerikanischer Asien- und Fernostpolitik in den 1950er Jahren, München 1999. 13 Zu diesem Begriff vgl. J. Darwin, Britain and Decolonisation: The Retreat from Empire in the Post-war World, Basingstoke 1988, S. 25–33. 14 Vgl. G. Parker, Western Geopolitical Thought in the Twentieth Century, London 1985; R. Sprengel, Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs 1914–1944, Berlin 1996.

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erst in der letzten Phase seiner Existenz die Flugtechnologie zu Zwecken imperialer Kontrolle zu nutzen.15 Der terminus technicus im strategischen wie im völkerrechtlichen Sinne für punktuelle Machtentfaltung außerhalb der eigenen Grenzen lautet Intervention. Es ist der Hauptzweck dieses Aufsatzes, auf das Phänomen der Intervention aufmerksam zu machen und Historikern zu empfehlen, es in jener universalen Breite zu studieren, die ihm angemessen ist. Stanley Hoffmann übertreibt nur wenig, wenn er sagt, das Thema sei »practically the same as that of international politics in general from the beginning of time to the present«.16 Ob man sich mit Interventionen unter dem Dach der Imperialismusforschung oder an anderem systematischem Ort beschäftigt, ist eine Frage von nachrangiger Bedeutung. Wie wir sehen werden, hat Interventionismus immerhin manches mit Imperialismus zu tun. Er ist eine Verhaltensform von Stärkeren. Wichtiger als solche Klassifikationen ist die Sache selbst. Interventionen sind ein Strukturmerkmal des 20. Jahrhunderts, jedem Beobachter der Weltlage geläufig, aber selten von Historikern zum Thema erhoben. Das Studium von Interventionen kann, wenn man es sehr ehrgeizig entwirft, Bausteine zu einer noch nicht geschriebenen Geschichte der Machtausübung im internationalen Rahmen bereitstellen. Macht tritt dabei in mehrfachem Sinne in Erscheinung. Zunächst ist eine Intervention die dramatische Geltendmachung des Nationalstaates als Machtund Militärstaat unterhalb der Schwelle zum Krieg. Sie bewegt sich in einer Übergangszone, in der Diplomatie- und Militärgeschichte zusammenspielen müssen. Sodann sind Interventionen in Ländern demokratischer Öffentlichkeit stets Anlässe für innenpolitische Auseinandersetzung. Oft wirken sie wie ein Lackmustest innerer politischer Konfigurationen. Auch sind ihre Rückwirkungen oft erheblich, vor allem dann, wenn sie zu Kriegen eskalieren. So hat das sowjetische Eingreifen in Afghanistan 1979 zweifellos zur inneren Schwächung der Sowjetunion beigetragen. Schließlich bedeutet eine Intervention für das Land, das zu ihrem Ziel und Opfer wird, immer einen Eingriff nicht nur in die augenblickliche Regierungssituation, sondern auch in gesellschaftliche Kräfteverhältnisse. Kaum eine Intervention ist ohne Unterstützung durch bestimmte soziale Kräfte geblieben und von anderen Kräften bekämpft und abgelehnt worden. Dies gilt ganz besonders, wenn in Bürgerkriege hinein interveniert wird oder Regimes gestürzt werden, wie es etwa mit amerikanischer Hilfe 1973 in Chile geschah.17 Das Studium von Interventionen erschöpft sich also 15 Vgl. D. E. Omissi, Air Power and Colonial Control: The Royal Air Force, 1919–39, Manchester 1990. 16 S. Hoffmann, The Problem of Intervention, in: H. Bull (Hg.), Intervention in World Politics, Oxford 1984, S. 7–28, hier S. 7. Dieser Sammelband ist immer noch die bei weitem beste Darlegung des Interventionsproblems. 17 Zahlreiche weitere Beispiele dazu in Z. Karabell, Architects of Intervention: The United States, the Third World, and the Cold War, 1946–1962, Baton Rouge 1999.

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nicht in Diplomatie- und Militärgeschichte. Es unterläuft die »Primat«-Frage und kommt gar nicht umhin, »metropolitane« und »periphere« Ansätze zu verbinden. Schließlich bietet es der neuen Kulturgeschichte weiten Raum, denn wo spielen Perzeptionen und Repräsentationen, Feindbilder und »kulturelle« Konstruktionen von Souveränität und Erlösungsbedürftigkeit eine größere Rolle als in der Sphäre des Internationalen und Interkulturellen, besonders in seiner Zuspitzung im Phänomen der Intervention?18 Dieser Aufsatz setzt sich maßvolle Ziele. Er wird weder eine geschlossene Systematik von Interventionen anbieten, noch eine globale Entwicklungsgeschichte der Macht skizzieren. Das erste würde das Feld zu herrisch strukturieren und Entdeckungen an seinen Rändern erschweren. Für das zweite ist es noch zu früh. Ein großer Teil der Literatur über Interventionen geht nicht über die Beschreibung von Ereignisabläufen hinaus und bietet keine gute Grundlage für weitergehende Schlußfolgerungen. Neue Studien sind nötig. Dazu möchten die folgenden Überlegungen und Funde anregen.

II. Zum Begriff der Intervention Die Balkankriege der neunziger Jahren begannen im Juni 1991 mit dem Eingreifen Jugoslawien-Serbiens in Slowenien und erreichten im März 1999 mit dem Bombardement serbischer Militäranlagen und Städte durch eine NATOLuftflotte ihren Höhepunkt. In beiden Fällen sprachen journalistische und wissenschaftliche Kommentatoren von »Intervention«. Gemeint war damit ungefähr »das militärische Eingreifen eines Stärkeren zur Erreichung begrenzter Ziele«. Betrachtet man die Weltgeschichte der Nachkriegszeit als ganze, dann fällt auf, daß Intervention in diesem zunächst vage bestimmten Sinne der vorherrschende Modus des gewaltförmigen Umgangs der Staaten miteinander gewesen ist. Nicht die Invasion nach Art des Beginns der beiden Weltkriege ist das vorherrschende Kriegsmuster gewesen, sondern die Intervention, die allerdings in einigen Fällen, vor allem in Vietnam, zu einem langwierigen Krieg eskalierte. Die Militärplanungen der Großmächte stellen sich immer mehr auf intervenierende Einsätze durch hochprofessionelle »rapid deployment forces« ein.19 In ihrem näheren oder manchmal auch weiteren Umfeld interveniert haben nach 1945 bis auf Deutschland, Japan, Italien, Kanada und Australien 18 Vgl. beispielhaft C. Weber, Simulating Sovereignty: Intervention, the State and Symbolic Exchange, Cambridge 1995. Zur Bedeutung von Weltsichten in der Internationalen Geschichte vgl. allgemein J. Agnew, Geopolitics: Re-visioning World Politics, London 1998. 19 Zum »neuen Interventionismus« nach dem Ende des Kalten Krieges gibt es bereits eine nahezu uferlose Literatur. Vgl. etwa R. Connaughton, Military Intervention in the 1990s: A New Logic of War, London 1992; R. G. Haass, Intervention: The Use of American Military Force in the Post-Cold War World, Washington, D.C. 1994.

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sämtliche größeren Staaten. Die USA griffen weltweit ein, die UdSSR versuchte es ihr mit weitaus geringeren Mitteln und begrenztem Erfolg nachzutun. Frankreich war ein eifriger Intervenient in Afrika; Großbritannien verhielt sich nach dem Abschluß der Dekolonisation seines Empire zurückhaltender, aber auch erst dann. Israel machte die permanente Interventionsdrohung zum Grundstein seiner Sicherheitspolitik. Die Volksrepublik China griff in Vietnam ein, dieses wiederum in Kambodscha. Kuba schickte Soldaten nach Angola, die Türkei ihre Truppen nach Zypern, Syrien die seinen in den Libanon. Die Liste der Fälle ist lang, und ihre Länge hängt im einzelnen davon ab, wie man Intervention definiert und von benachbarten Phänomenen abgrenzt. So hat man zum Beispiel für die Zeit von 1945 bis 1985 insgesamt 591 Fälle von »overt military intervention« in 269 »international armed conflicts« identifiziert.20 Listen dieser Art sind auch deswegen nützlich, weil sie an »kleine« Fälle erinnern, die sogar Historiker zu übersehen oder zu vergessen pflegen. Die geschichtswissenschaftliche Kriegsursachenforschung konzentriert sich weiterhin auf die berühmten Exempla, allen voran den Ersten Weltkrieg. Die kleineren verdienen indes nicht geringere Beachtung. Zum einen macht erst die möglichst vollständige statistische Erfassung die Gewaltdichte einer Periode anschaulich, zum anderen sind viele Konflikte von enger zeitlich-räumlicher Beschränkung und geringer Destruktivität potentielle große Kriege und können daher unter dem lehrreichen Gesichtspunkt der Kriegsvermeidung studiert werden.21 Im übrigen bleibt ein Hinweis von Hedley Bull zu beherzigen: Der Eindruck einer während der letzten Jahrzehnte steigenden Interventionsbereitschaft der Großmächte sei nicht zuletzt die Folge einer geschärften Wahrnehmung der internationalen Öffentlichkeit für Souveränitätsverletzungen; der Interventionsbegriff sei mit der Zeit weiter gefaßt und deutlicher mit einer negativen moralischen Bedeutung belegt worden.22 Wie der Kosovo-Krieg von 1999 gezeigt hat, wird die Diskussion um Intervention heute aus guten Gründen vorzugsweise als eine normative geführt, als eine Debatte um Recht und Moral internationaler Ordnungseinsätze, besonders dann, wenn sie humanitären Zielen dienen. Selbst Politikwissenschaftler, die ansonsten historischen Vorgehensweisen nicht abhold sind, nehmen gegen-

20 H. K. Tillema Foreign Overt Military Intervention in the Nuclear Age, in: Journal of Peace Research, Jg. 26, 1989, S. 179–195. »Foreign overt military intervention« wird definiert als »all combat-ready foreign military operations undertaken by regular military forces« (S. 181, vgl. S. 190–195 für die Liste der Fälle). Dazu auch Ders., International Armed Conflict since 1945: A Bibliographic Handbook of Wars and Military Interventions, Boulder, Col. 1991. 21 Vgl. die wertvolle Studie J. Dülffer u. a., Vermiedene Kriege. Deeskalation von Konflikten der Großmächte zwischen Krimkrieg und Erstem Weltkrieg (1856–1914), München 1997. 22 H. Bull, Intervention in the Third World, in: Ders. (Hg.), Intervention in World Politics, S. 135–156, hier S. 141.

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über der Interventionsfrage eine normative Haltung ein.23 Sofern Interventionen empirisch untersucht worden sind, überwiegt, unabhängig von der Fachzugehörigkeit der Autoren, die monographische Fallstudie, also die detaillierte Untersuchung einzelner Interventionsakte und ihrer Hintergründe auf der Grundlage eines möglichst breiten Spektrums von Quellen. Dies ist ohne Zweifel die angemessenste Methode des empirischen Studiums von Interventionen. Dennoch bleibt es bedauerlich, daß nicht mehr Versuche unternommen worden sind, in systematisch testender Absicht eine große Zahl von Interventionsfällen über einen längeren Zeitraum hinweg zusammenzustellen und nach Mustern ihrer Verteilung in Zeit und Raum zu befragen. Auf diese Weise könnten manche Korrelationen zwischen Bedingungen, Formen und Folgen von Interventionsakten sichtbar gemacht werden. Auch ließen sich näherungsweise die relative Häufigkeit und die Intensität von Interventionen ermitteln. Es sollte auf einer solchen Grundlage möglich sein zu erkennen, in welchen Zeiten und Räumen mehr, in welchen weniger interveniert wurde. Strukturen und Zyklen des internationalen Systems könnten dadurch klarer in Erscheinung treten. Die Sozialwissenschaften haben zwar seit langem und mit Recht ein naives Vertrauen in Gesetzmäßigkeiten aufgegeben, sollten aber an der Möglichkeit der Ordnung großer Fallmengen festhalten. Die Ergebnisse solcher Untersuchungen bestätigen allerdings oft nur die Vermutungen, die schon eine nicht-quantitative Betrachtung nahelegt. Raymond und Kegley haben 1987 eine Studie veröffentlicht, die für die Zeit zwischen 1816 und 1980 eine besondere Art von Intervention seriell untersucht: die äußere Einmischung in Bürgerkriege. Die Ergebnisse waren zum Teil wenig überraschend: Interventionen würden in der Regel von einem »preponderant state« zugunsten der ursprünglich herrschenden, von Rebellen angegriffenen Bürgerkriegspartei, also dem Ancien régime, unternommen. Raymond und Kegley zeigen aber auch – und dies ist aufschlußreicher-, daß überhaupt nur in 21 von insgesamt erfaßten 106 Bürgerkriegssituationen eine Intervention von außen stattgefunden hat.24 Keineswegs wirkten also die Bürgerkriege der Vergangenheit durchweg als Interventionsmagneten. Auch Herbert Tillema betont – für den Untersuchungszeitraum von 1946 bis 1971 – die Häufigkeit der Nicht-Intervention in Fällen, in denen eine Intervention militärisch möglich und aus der Sicht der Interventionsmacht politisch aussichtsreich gewesen wäre.25 23 Etwa E.-O. Czempiel, Die Intervention. Politische Notwendigkeit und strategische Möglichkeiten, in: PVS, Jg. 35, 1994, S. 402–422. Eine interessante Diskussion normativer Aspekte ist M. Donelan, Elements of International Political Theory, Oxford 1990, S. 137–156. 24 Vgl. G. A. Raymond u. C. W. Kegley, Long Cycles and International Civil War, in: Journal of Politics, Jg. 49, 1987, S. 481–499. 25 Vgl. H. K. Tillema, Appeal to Force: American Military Intervention in the Era of Containment, New York 1973. S. 131ff.; Ders. u. J. Van Wingen, Law and Power in Military Intervention:

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Zwischen solchen Generalisierungen und der sorgfältigen Rekonstruktion von einzelnen Fällen steht das, was der strukturgeschichtlich vorgehende Historiker als seinen spezifischen Beitrag anbieten kann: eine offene, also nicht vollständige Typologie von Interventionen zu entwerfen und zugleich in gröbsten Strichen die Entwicklung der Interventionspraxis aufzuzeigen. Vor jeder weiteren Diskussion muß aber der Begriff geklärt werden, von dem sie ausgeht. Wie könnte – als provisorisches Arbeitswerkzeug verstanden – eine Definition von »Intervention« aussehen, die für das 19. und das 20. Jahrhundert bis hin zur Epoche von Dekolonisation und Ost-West-Konflikt brauchbar zu sein verspricht? Der amerikanische Politikwissenschaftler Peter J. Schraeder formuliert sehr allgemein, Intervention sei »the calculated use of political, economic and military instruments by one country to influence the domestic or the foreign policies of another country«.26 Diese Bestimmung des Begriffs hat den Vorteil, daß sie nicht ausschließlich am extremen Bild der militärischen Invasion orientiert ist. Andere Instrumente werden eingeschlossen: Wirtschafts- und Militärhilfe, massive Propaganda, ökonomische Sanktionen, Geheimdienstoperationen, Unterstützung für einheimische Insurgenten (»freedom fighters« in der Sprache der Reagan-Administration). All dies war charakteristisch für das breite Interventionsinstrumentarium in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, findet sich aber teilweise auch schon in früheren historischen Situationen.27 Allerdings grenzt diese Definition den Merkmalskomplex »Intervention« nicht deutlich genug an seinen beiden Rändern ab: gegen regelrechten »Krieg« einerseits, andererseits gegen Verwicklungen von schwacher Intensität und geringer Zielgerichtetheit – »involvement« oder »interference«, um die Termini der englischen Sprache zu verwenden, in der das Thema bisher vor allem diskutiert worden ist.28 Interventionen können sich zu Kriegen ausweiten – Vietnam wäre ein Beispiel dafür –, aber es widerstrebt dem Sprachempfinden, von der deutschen Intervention in Polen am 1. September 1939 oder der japanischen Intervention in Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 zu sprechen. Beides waren kriegsauslösende Aggressionsakte. Wo liegt der Unterschied? Intervention ist in einem

Major States after World War II, in: International Studies Quarterly, Jg. 26, 1982, S. 291–303. Vgl. als Überblick über die empirische Forschung: R. Little, Recent Literature on Intervention and Non-Intervention, in: I. Forbes u. M. Hoffman (Hg.), Political Theory, International Relations, and the Ethics of Intervention, New York 1993, S. 13–31, bes. S. 14–21. 26 P. J. Schraeder, Studying U.S. Intervention in the Third World, in: Ders. (Hg.), Intervention into the 1990s: U.S. Foreign Policy in the Third World, Boulder, Col. 19922, S. 1–19, hier S. 3. 27 Vgl. etwa die spezielle Literatur zu verdeckten Aktionen, etwa G. F. Treverton, Covert Action: The Limits of Intervention in the Postwar World, New York 1987. 28 Zu der wichtigsten Spielart nicht-militärischen Eingreifens, der ökonomischen Intervention, vgl. J. A. Frieden, The Economics of Intervention: American Overseas Investments and Relations with Underdeveloped Areas, 1890–1950, in: CSSH, Jg. 31, 1989, S. 55–80.

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doppelten Sinne asymmetrisch: Zum einen setzt sie ein allgemeines, d.h. nicht unbedingt auch im Interventionsgebiet lokal wirksames, Machtgefälle voraus. Zum anderen hat sie in der Regel asymmetrische Folgen: Im Unterschied zu einem Krieg zwischen Staaten, der unter modernen Bedingungen von tendenziell totalem Krieg tiefgreifende Auswirkungen auf beide (oder alle) beteiligten Gesellschaften hat, trifft die Intervention in voller Schwere nur den Zielstaat, während sie dem intervenierenden Staat allenfalls Kosten verursacht; niemals wird der Zielstaat selbst imstande sein, über Abwehr und Widerstand hinaus zum Gegenangriff auf das Heimatterritorium des Aggressors überzugehen. In der Luftschlagsphase der Kosovo-Intervention von 1999 wurden sogar Verluste unter den NATO-Alliierten vollständig vermieden; auch die Sowjetunion erlitt 1968 in der Tschechoslowakei keinerlei Verluste. Intervention ist niemals eine Form des Umgangs unter Gleichen. Interventionen werden in der Regel als begrenzte Aktionen unternommen. Wenn sie sich dennoch in einigen Fällen zu Kriegen steigern, geschieht dies durch eine Eskalationslogik, die über die ursprünglichen Motive hinausführt. Dies läßt sich sowohl in Vietnam als auch in Afghanistan beobachten.29 Hier wie dort es war der Widerstand einheimischer politischer Kräfte bis hin zu einem Volkskrieg gegen die Invasoren, der zum Hochschaukeln des Konflikts in Kriegsdimensionen führte. Interventionen unterbleiben deshalb in der Regel dort, wo ihre kriegsauslösende Wirkung von Anfang an feststeht. Es gab sie in der starken Form des militärischen Eingreifens daher relativ selten in delikat ausbalancierten Gleichgewichtssystemen: weder im multipolaren Konzert der Mächte während des 19. Jahrhunderts noch in der bipolaren Welt der Nachkriegszeit. Spätestens seit der Kubakrise vom Oktober 1962 intervenierten die Supermächte nur in dem, was sie für ihre eigenen Hinterhöfe hielten (die Sowjetunion sprach vom »Nahen Ausland«), außerdem vorübergehend im noch nicht eindeutig zugeordneten Afrika, nicht aber im Hegemonialbereich der jeweils anderen Macht. Intervention findet sich daher häufig in weniger stabilen historischen Perioden von reduziertem weltpolitischem Ordnungszwang, so etwa wieder nach dem Ende des Kalten Krieges. Sie ist – nun recht eng definiert – eine Weise nicht des Umgangs von hochgerüsteten Nationalstaaten miteinander, sondern die Aktionsform eines imperialen Zentrums gegenüber einer machtpolitischen Peripherie, die zumeist auch wirtschaftlich dem Zentrum untergeordnet ist. Nichts anderes soll mit imperialer Intervention gemeint 29 Vgl. zum Überblick unter dem Gesichtspunkt der Interventionsproblematik vor allem L. Berman, From Intervention to Disengagement: The United States in Vietnam, in: A. E. Levite u. a. (Hg.), Foreign Military Intervention: The Dynamics of Protracted Conflict, New York 1992, S. 23–64; R. S. Litwak, The Soviet Union in Afghanistan, in: ebd., S. 65–94, sowie R. Hilsman, Vietnam: The Decisions to Intervene, in: J. R. Adelman (Hg.), Superpowers and Revolution, New York 1986, S. 112–144; C. L. Gibson, The Soviet Invasion of Afghanistan: Pursuing Stability and Security, in: ebd., S. 266–285.

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sein – in gewisser Weise ein Pleonasmus, jedenfalls bis zum Auftreten der humanitären und friedenswahrenden multilateralen Interventionen der Gegenwart.30 Alle Interventionen, von denen in diesem Aufsatz die Rede sein wird, waren in diesem Sinne »imperial«. Einzelne Fälle unterschieden sich nach Raum, Zeit, Akteuren und Ausmaß. Vor allem aber müssen vier analytische Dimensionen beachtet werden: (1) das Verlaufsmuster der Intervention, (2) die Motive und Ziele der Intervenierenden, (3) die möglicherweise davon abweichenden offiziellen Rechtfertigungsgründe, also die dahinter stehende »Ideologie«, (4) die Folgen für alle Beteiligten. Diese Kriterien verbinden sich nicht säuberlich zu einer kleinen Zahl von Grundtypen. Eine große Menge von Kombinationen findet sich in der historischen Wirklichkeit. Die elementare Typologie von vier Grundformen, die im Folgenden vorgeschlagen wird, ist daher mit einem guten Maß an Willkür und Vereinfachung behaftet. Die größte Unsicherheit der Interpretation entsteht aus der Nicht-Kongruenz von Zielen, Ideologien und Ergebnissen. Die wahren Absichten waren oft nicht die öffentlich proklamierten und plakatierten, und das tatsächliche Resultat konnte in der Weise unbeabsichtigter Handlungsfolgen in eine abermals andere Richtung führen. Wie zum Beispiel die kollektive Somalia-Intervention von 1992–1994 zeigte, kann eine Intervention, die zur Herstellung von Ordnung unternommen wird, am Ende das Chaos noch weiter vergrößern.31

III. Interventionsbindung und Interventionsfreiheit im Staatensystem nach 1815 Vor einer Erörterung imperialer Interventionen ist ein Blick auf die innereuropäischen Verhältnisse erforderlich. In der neuzeitlichen europäischen Staatenordnung wurde die Frage der Intervention normativ geklärt und praktisch in einer Weise geregelt, die bis zur heutigen Interventionsdebatte maßgeblich geblieben ist. Das Völkerrecht zunächst in seiner naturrechtlichen, dann in seiner positivistischen Ausprägung entwickelte das Prinzip der Souveränität und Unabhän-

30 Vgl. auch Überlegungen aus anderer Richtung: D. Slater, Situating Geopolitical Representations: Inside/Outside and the Power of Imperial Interventions, in: D. Massey u.a. (Hg.), Human Geography Today, Cambridge 1999, S.62–84. 31 Zu Versuchen, diesen Vorgang zu erklären, vgl. D. D. Laitin, Somalia: Civil War and International Intervention, in: B. F. Walter u. J. Snyder (Hg.), Civil Wars, Insecurity, and Intervention, New York 1999, S. 146–180.

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gigkeit eines Staates im Verhältnis zu seinen Nachbarn unter der Bedingung des Fehlens einer übergeordneten Autorität. Es leitete daraus den Imperativ der Nichteinmischung ab, der freilich in einem Spannungsverhältnis zum Kriegführungsrecht souveräner Staaten stand.32 Daß sich solche Nichteinmischung zusätzlich sowohl pragmatisch aus der Interessendefinition einzelner Staaten wie prinzipiell aus Vernunftgründen begründen ließ, legte weitere Sinnschichten über den juristischen Interventionsdiskurs.33 Obwohl der Frieden von Münster und Osnabrück die Idee der Herrschaft des Rechts in die internationalen Beziehungen Europas einführte, begründete er keinen programmatischen Konsens zwischen den Staaten, der sich über etablierte Ansprüche zugunsten der Normierung eines für alle erträglichen Systems kollektiver Sicherheit hinweggesetzt hätte; auch wurde die Anarchie der Staaten durch keinerlei Sanktionsmechanismus abgemildert.34 Europa trat daher nach 1648 keineswegs in ein goldenes Zeitalter der Friedens ein. Interventionen geschahen häufig und führten zum Verschwinden ganzer Staaten – man denke vor allem an Polen – von der Landkarte. Wesentlich erfolgreicher war die Friedensstiftung des Wiener Kongresses. Keineswegs war das 19. Jahrhundert – unter internationalem Aspekt die Zeit zwischen 1815 und 1914 – eine Epoche irenischer Seligkeit. Aber die großen kollektiven Gewaltexzesse fanden außerhalb Europas statt: als Bürgerkriege wie in China zwischen 1850 und 1864 oder in Mexiko nach 1910, als Sezessionskriege wie in den Vereinigten Staaten oder um die Jahrhundertwende in Südafrika, als koloniale Eroberungskriege wie zwischen 1825 und 1830 auf Java, nach 1830 in Algerien (und später in vielen anderen Teilen Afrikas) und das ganze Jahrhundert über im Verdrängungs- und Vernichtungskampf weißer Siedler und ihrer staatlichen Organe gegen die Ureinwohner Nordamerikas, schließlich in Gestalt eines Falls von außereuropäischem Großmächtekonflikt: dem folgenreichen Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05. Währenddessen herrschte in Europa Frieden. Zwischen 1815 und dem Beginn des Krimkrieges 1854 wurde überhaupt kein Krieg geführt, und der Krimkrieg selbst sowie die deutschen Einigungskriege stehen an Gewaltsamkeit hinter vielen außereuropäischen Militäraktionen und vor allem hinter den großen Kriegen der Frühen Neuzeit und erst recht des 20. Jahrhunderts deutlich zurück. Unter den zehn verlustreichsten Kriegen zwischen Großmächten seit 1500 fand kein einziger zwischen 1815 und 1914 statt. Es gab keine Parallele etwa zum Spanischen

32 Vgl. R. J. Vincent, Nonintervention and International Order, Princeton 1974, S. 20–44. 33 Ebd., S. 45–63. Seine Revision wird heute vor allem auf der Grundlage einer (auch historischen) Kritik am Souveränitätsbegriff betrieben. Vgl. etwa das Spektrum der Positionen in G. M. Lyons u. M. Mastanduno (Hg.), Beyond Westphalia? State Sovereignty and International Intervention, Baltimore 1995. 34 Vgl. A. Osiander, The States System of Europe 1640–1990, Oxford 1994, S. 38–43.

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Erbfolgekrieg der Jahre 1701–1714, der auf zahlreichen Schlachtfeldern 1,2 Millionen Todesopfer gefordert haben soll. Vollends überwältigend ist der Kontrast zu den Kriegen zwischen 1792 und 1815, die vermutlich zu 2,5 Millionen militärischen Opfern führten.35 Insgesamt gab es im 18. Jahrhundert siebenmal mehr Kriegstote in Relation zur Gesamtbevölkerung Europas als im 19. Jahrhundert.36 Die Ordnung des Wiener Kongresses erneuerte nicht die internationalen Zustände des 18. Jahrhunderts.37 Es war die vielleicht wichtigste Einsicht der politischen Klasse Europas nach einem Vierteljahrhundert von Revolution und Krieg, daß nicht der innere Umsturz allein den Zusammenbruch der alten Ordnung herbeigeführt hatte. Vielmehr war die vorrevolutionäre Staatenwelt selbst labil gewesen und hatte immer wieder mit Notwendigkeit Kriege aus sich hervorgetrieben. Der Mechanismus des Machtgleichgewichts hatte nur die Konfliktmuster immer wieder neu gemischt, die Konflikte selbst aber nicht verhindert. Napoleons hemmungslose Kriegspolitik hatte ihn zerstört. Nun hieß es Konsequenzen zu ziehen. Sobald man sich entschlossen hatte, Frankreich nicht einem Strafdiktat zu unterwerfen, sondern ihm mit einem Versöhnungsfrieden entgegenzukommen, war das alte Akteurspersonal europäischer Politik wieder beieinander: die fünf Großmächte England, Frankreich, Preußen, Österreich und Rußland. Aber zwischen ihnen wurden nun ganz neuartige Beziehungen aufgebaut. An die Stelle einer anarchischen Gelegenheitsbalance von Staaten, die nur dem folgten, was sie als ihren momentanen Nutzen ansahen, traten – wie Paul W. Schroeder gezeigt hat – Idee und Wirklichkeit eines rechtlich gebundenen, systemisch verstrebten Gleichgewichts.38 Es war dies noch keine Ordnung kollektiver Sicherheit, sondern ein Konstrukt, das auf dem Prinzip des Auswiegens von Machtressourcen beruhte.39 Doch wurde nun aus dem labilen ein stabiles Gleichgewicht.

35 Zahlen nach J. S. Levy, War in the Modern Great Power System, 1494–1975, Lexington 1983, S. 90; auch K. A. Rasler u. W. R. Thompson, War and State Making: The Shaping of the Global Powers, Boston 1989, S. 13 (Tab. 1.2). 36 P. W. Schroeder, The Nineteenth-Century International System: Changes in the Structure, in: WP, Jg. 39, 1986, S.1–26, hier S. 11. 37 »Gleichgewicht und Restauration waren eben nicht dasselbe,« bemerkt mit Recht T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 363. 38 Vgl. P. W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763–1848, Oxford 1994, S. 443ff. 39 Nur vorübergehend (1820–22) hatte die Wiener Ordnung durch das »Kongreßsystem« eine einigermaßen feste institutionelle Basis. Es wurde aber bald durch das lockerere »Concert of Europe« abgelöst: Vgl. A. Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815–1856, Göttingen 1991, S. 52f. Vor allem der britische Premier Canning torpedierte nach 1822 das Kongreß-System. Schroeder stellt Canning als egoistischen Machtpolitiker alten Stils dar, der im Konzert nicht mitspielen will. So Schroeder, Transformation, S. 640.

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Die Vorstellung, ein polyzentrisches Mächtesystem könne seine Fortexistenz und im Idealfall sogar den Frieden dadurch gewährleisten, daß alle beteiligten Staaten zweckrational ihr jeweiliges Eigeninteresse verfolgen, wurde in Wien verworfen. An die Stelle eines vagen und immer wieder enttäuschten Vertrauens auf Vorsehung, Mächtemechanik und das geheime Walten einer invisible hand trat eine andere Leitidee, die bis dahin eher in der utopischen Literatur beheimatet gewesen war: Frieden ergibt sich nicht automatisch aus dem freien Spiel der Konkurrenz; er muß politisch gestiftet werden. Aus dem zwischenstaatlichen Naturzustand des 18. Jahrhunderts heraus, wie ihn Napoleon genutzt und imperial überwunden hatte, wurde in Wien durch eine Art von internationalem Gesellschaftsvertrag eine rudimentäre Ordnung konstituiert: selbstverständlich kein Weltstaat und noch nicht einmal die europäische Föderation, die Kant sich 1795 gewünscht hatte, aber doch ein Konsenszusammenhang, wie es ihn gesamteuropäisch bis dahin nicht gegeben hatte. Auf Napoleons Integration Europas im Zeichen von Krieg und Revolutionsexport folgte nun ein friedlicher Integrationsschritt mit maßvoll gegenrevolutionärem Akzent. Dies geschah in einer Atmosphäre allgemeiner Kriegsmüdigkeit und wirtschaftlicher Erschöpfung, die allenthalben Demobilisierung und Abrüstung unabweisbar machte.40 Die Völker waren ausgeblutet, die Staatskassen leer. Eine weitere Voraussetzung für den postnapoleonischen Konsens war eine vorübergehend ungewöhnlich große weltanschauliche Harmonie unter bedingt reformwilligen konservativen Machthabern und Oligarchien. Konfessionelle Gegensätze spielten keine große Rolle mehr;41 der nicht nur in Frankreich schon vor 1815 öffentlich sichtbare oder gar politisch wirksame Nationalismus war außenpolitisch einstweilen neutralisiert; und eine ideologische Blockbildung zwischen liberalen West- und autoritären Ostmächten, wie man sie – ohne dies überbewerten zu dürfen – etwa seit der gesamteuropäischen Revolutionsbewegung von 1830 feststellen kann,42 zeichnete sich noch nicht ab. Eine Übereinstimmung dieses Ausmaßes hat es bei den anderen großen Friedensregelungen der Neuzeit – 1648, 1714, 1763, 1919, 1945 – nicht gegeben.43

40 Zu den Kriegsverwüstungen vgl. G. Best, War and Society in Revolutionary Europe, 1770– 1870, London 1982, S. 193ff., am Beispiel Preußens: H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen »Deutschen Doppelrevolution« 1815–1845/49, München 1987, S. 380ff. 41 Zu einer der seltenen Ausnahmen vgl. E. H. Kossmann, The Low Countries 1780–1940, Oxford 1978, S.154. 42 Vgl. H. Gollwitzer, Ideologische Blockbildung als Bestandteil internationaler Politik im 19. Jahrhundert, in: HZ , Jg. 201, 1965, S. 306–333, der aber betont, daß sich im Zweifelsfalle doch weniger die Ideologie als die Machtpolitik durchsetzte (S. 328f.). 43 Schon die imperiale Machtpragmatik Napoleons und seines Hauptwidersachers, der konservativen englischen Oligarchie, hatte dem ideologischen Weltbürgerkrieg, wie er dort von den Jakobinern, hier von Edmund Burke propagiert worden war, die Spitze genommen.

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Der wichtigste systematische Verbindungspunkt in Theorie und Praxis zwischen Innen- und Außenpolitik wurde nach 1815 das Problem der Intervention. Nach 1815 wurde der Intervention eine klare Funktion zugeordnet. Es ist wichtig zu sehen, daß dies nicht schon in den Wiener Regelungen selbst geschah, sondern erst in den Versuchen der folgenden Jahre, sie in Politik umzusetzen.44 Wenn neue Staatenkollisionen planvoll vermieden werden sollten, dann mußten, so dachten die Interventionsbefürworter, begrenzte Ordnungsmaßnahmen möglich und legitimierbar sein. Da innere Unruhe in den Staaten des Mächtesystems als potentiell bedrohlichste Kriegsursache galt,45 ja, da man die Revolution als Krieg fürchtete, würde die Beseitigung von Aufstandsherden zugleich der Friedenserhaltung dienen. Der kleine Krieg sollte zum Ersatz für den vermiedenen großen werden. Die konservativen Mächte Rußland, Österreich und Preußen, die 1815 die Heilige Allianz – ursprünglich eine hochromantische Caprice des sonst durchaus realistischen Zaren Alexander I., die von Metternich geschickt ins Realpolitische umgebogen wurde46 – ins Leben riefen, sahen durchaus richtig, daß nach der Zähmung des Gleichgewichtsautomatismus die größte Gefahr für die Stabilität der bestehenden gesamteuropäischen Ordnung weniger von zwischenstaatlichen Konflikten als »von unten« ausgehen würde. Deshalb wurde die Heilige Allianz als ein Instrument der kollektiven Aufstandsunterdrückung konzipiert. Die Betonung muß auf »kollektiv« liegen, denn der Intervenient sollte keineswegs auf eigene Initiative handeln, sondern im Gesamtauftrag der sich bedroht fühlenden Mächte.47 Der Konsenscharakter, der das Neue der Wiener Ordnung ausmachte, bewies sich also auch in der Frage der inneren Defensive. Wer immer den Gendarmen Europas jeweils spielen mochte, er legte nunmehr Wert auf ein Mandat, zumindest ein stillschweigendes. Dies galt weniger als für andere für Großbritannien, das ein Interventionsrecht, vor allem in der je eigenen Einflußsphäre (für die Engländer etwa Portugal) anerkannte, aber schon 1820 Metternichs weitergehende Vorstellung einer Interventionspflicht abgelehnt hatte.48 Doch auch Groß44 Der Ausgangspunkt war das Protokoll von Troppau (19. November. 1820) aus Anlaß der italienischen Revolution (Schroeder, Transformation, S. 610f.). Text in W. G. Grewe (Hg.), Fontes Historiae Iuris Gentium, Bd. 3/1: 1815–1945, Berlin 1991, S. 110–113. 45 Zur Semantik von »Ruhe« und »Unruhe« in der Denkwelt des Wiener Kongresses vgl. R. Rie, Der Wiener Kongreß und das Völkerrecht, Bonn 1957, S. 77–97. 46 R. Koselleck, Die Restauration und ihre Ereigniszusammenhänge 1815–1830, in: L. Bergeron u. a., Fischer Weltgeschichte, Bd. 26: Das Zeitalter der europäischen Revolutionen 1780–1848, Frankfurt a.M. 1969, S. 199–229, hier S. 218 (eine unübertroffene Analyse der Restaurationsperiode). Sehr gut auch H. Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. 1, Göttingen 1972, S. 347–64. 47 So geschehen 1820/21 bei der Intervention Österreichs in Italien, vergleichbar auch 1823 das Eingreifen Frankreichs in Spanien sowie die britische Unterstützung der liberalen Kräfte in Portugal 1826/27. 48 Vgl. M. E. Chamberlain, »Pax Britannica«? British Foreign Policy 1789–1914, London 1988, S. 57.

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britannien trieb Politik in den Kategorien von Intervention und Nicht-Intervention.49 Wie sah die Interventionspraxis in der Zeit zwischen 1815 und den frühen dreißiger Jahren aus? Sie folgte keinem eindeutigen Muster. Ein Sonderkomplex ist zunächst die Orientalische Frage. Es ging dabei darum, wie man sich auf Kosten des angeblich zerfallenden Osmanischen Reiches (es hat bis 1923 weiterbestanden) saturieren könne.50 In zwei Fällen von großer Tragweite und Brisanz kam es zu klassischen militärischen Eingriffen in die inneren Angelegenheiten eines Drittstaates: Zum einen vernichteten England, Rußland und Frankreich 1827 in einer gemeinsamen Aktion bei Navarino eine türkischägyptische Flotte, die den aufständischen Griechen den Garaus machen wollte und dies vermutlich auch geschafft hätte. Die Gründung eines unabhängigen griechischen Staates unter tatkräftiger Mithilfe besonders Großbritanniens wurde danach unausweichlich.51 Zum anderen schritt während der Orientkrise von 1839–41 eine Mächtekoalition unter britischer Führung zugunsten des osmanischen Sultans gegen Muhammad cAli, den von Frankreich unterstützten abtrünnigen Pascha von Ägypten, ein, damit übrigens einen erfolgversprechenden frühen Versuch eigenständiger wirtschaftlicher Modernisierung am Rande Europas vereitelnd.52 Die gesamte europäische Orientpolitik war ein zynisches Mächtespiel außerhalb von Wiener System und Heiliger Allianz. Die realpolitische Kontinuität von den russisch-türkischen Kriegen des 18. Jahrhunderts bis zu den europäischen Rivalitäten im Osmanenreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde durch keine normative friedenspolitische Läuterung unterbrochen. Daß es in Amerika nicht zu ähnlichen Manövern kam, verhinderten die USA mit der 49 Vgl. K. Hildebrand, No Intervention. Die Pax Britannica und Preußen 1865/66–1869/70. Eine Untersuchung zur englischen Weltpolitik im 19. Jahrhundert, München 1997. 50 Deutsche Liberale rechneten seit 1840 mit dem bevorstehenden Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und spekulierten über die Verteilung der Beute. Vgl. H. Fenske, Imperialistische Tendenzen in Deutschland vor 1866. Auswanderung, überseeische Bestrebungen, Weltmachtträume, in: Historisches Jahrbuch, Jg. 97/98, 1978, S. 336–383, hier S. 351, 357, 360f., 365. Zur Orientalischen Frage vgl. M. S. Anderson, The Eastern Question 1774–1923: A Study in International Relations, London 1966; W. Baumgart, Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830–1878, Paderborn 1999, S. 287–301. In größeren, geradezu geschichtsphilosophischen Zusammenhängen: D. Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999, S. 12–16; C. V. Albrecht, Geopolitik und Geschichtsphilosophie 1748–1798, Berlin 1998. 51 Vgl. J. C. K. Daly, Russian Seapower and »The Eastern Question«, 1827–41, Basingstoke 1991, Kap. 1. 52 Vgl. A. L. al-Sayyid Marsot, Egypt in the Reign of Muhammad Ali, Cambridge 1984; K. M. Cuno, The Pasha’s Peasants: Land, Society and Economy in Lower Egypt, 1740–1858, Cambridge 1992; F. H. Lawson, The Social Origins of Egyptian Expansion during the Muhammad cAli Period, New York 1992; K. Fahmy, All the Pasha’s Men: Mehmed Ali, his Army and the Making of Modern Egypt, Cambridge 1997.

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Monroe-Doktrin von 1823.53 Selbstverständlich unterlagen auch die Angriffskriege, die in dieser Epoche etwa gegen Algerien, China, Burma, den unabhängigen Sikh-Staat im Panjab und die nordamerikanischen Indianer geführt wurden, keinerlei moralisch-rechtlicher Mäßigung. Man brauchte diese sogenannten »Pazifikationen« nicht zu zivilisieren, da sie ja angeblich im Namen der Zivilisation geschahen. Innerhalb Europas fällt im Gegensatz zur turbulenten Peripherie auf, wie zurückhaltend vom Instrument der Intervention Gebrauch gemacht wurde. Mangels solide fundierter Revolutionen fehlte es zunächst an konterrevolutionären Anlässen. Klassische, kollektiv abgesegnete Eingriffe zugunsten des status quo ante erfolgten 1820/21 durch Frankreich in Spanien54 und durch Österreich in Neapel und Sizilien.55 Die dortigen Aufstände waren freilich nicht immer tief verwurzelte Sozialrevolutionen, ihre Führer, darunter zahlreiche Militärs, waren oft hoffnungslos zerstritten. Allzu großen langfristigen Schaden haben diese Interventionen trotz erheblicher Brutalitäten wohl auch nicht angerichtet.56 Was aber würde 1830 mit dem Frankreich der Julirevolution geschehen?57 Der Übergang von der minimal konstitutionellen Herrschaft der Bourbonendynastie zur parlamentarischen Monarchie des Bürgerkönigs Louis-Philippe verletzte das Legitimitätsprinzip, provozierte aber sogar den zwar doktrinären, doch taktisch geschmeidigen Metternich kaum zu ernsthaften Drohungen. Selbst er konnte nicht umhin, den offensichtlichen Willen der französischen Nation anzuerkennen; eine internationale Krise blieb aus. Die bürgerkriegsartigen Querelen in der Schweiz hielt man – mit gutem Ausgang – einvernehmlich unter der Glasglocke der Nicht-Intervention. Und diejenigen polnischen Patrioten und deutschen Liberalen, die aus der Unterstützung der Westmächte für den griechischen Unabhängigkeitskampf 1830/31 Hoffnung für ihren eigenen Widerstand gegen den Zaren schöpften, hatten die neue europäische Ordnung gründlich mißverstanden. Manche schreibende, aber keine kämpfende

53 Offenbar war dies ein Ausspielen der europäischen Mächte gegeneinander. Denn man wußte, daß Großbritannien nicht (aus legitimistischen Gründen) in Lateinamerika intervenieren würde, aber als einzige Macht die Mittel (Royal Navy) besaß, um eine Intervention der legitimistischen Mächte und Frankreichs zu verhindern. Die USA selbst waren dazu noch zu schwach. 54 Koselleck, Restauration, S. 225; Schroeder, Transformation, S. 627. Es handelte sich primär um eine symbolische Machtdemonstration der Bourbonen-Monarchie. 55 Vgl. T. G. Otte, Of Congresses and Gunboats: Military Intervention in the Nineteenth Century, in: A. M. Dorman u. T. G. Otte (Hg.), Military Intervention: From Gunboat Diplomacy to Humanitarian Intervention, Aldershot 1995, S. 20–52, hier S. 24–28. 56 Vgl. P. M. Pilbeam, Revolutionary Movements in Western Europe, in: Dies. (Hg.), Themes in Modern European History 1780–1830, London 1995, S.125–150, hier S. 140f. 57 Zur Debatte um die Intervention in Frankreich 1830 vgl. H. Müller, Die Krise des Interventionsprinzips der Heiligen Allianz. Zur Außenpolitik Österreichs und Preußens nach der Julirevolution von 1830, in: Jb. für Geschichte, Jg. 14, 1976, S. 9–56, hier S. 20ff. Zur britischen Haltung vgl. Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongreß, S. 64ff.

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Hand rührte sich für Polen; niemand riskierte den großen westeuropäischen Kreuzzug gegen den Zarismus.58 Bleibt der interessanteste Fall: die südlichen Niederlande. Hier gelang 1830 unter Mithilfe der preußischen Diplomatie, die dabei auf deutliche Distanz zu ihren Partnern in der Heiligen Allianz ging,59 die Schaffung des neuen Staates Belgien, wie ihn die Mehrheit des belgischen Volkes in revolutionärer Sezession von den Vereinigten Niederlanden gewollt hatte: eine höchst riskante Operation am Rande des Abgrundes.60 Das Interventionsprinzip wurde dieses Mal zugunsten einer nationalen Emanzipationsbewegung nicht an der Peripherie (wie die griechische), sondern im Herzen des europäischen Staatensystems interpretiert. Großbritannien, Frankreich und Preußen bewährten sich als Geburtshelfer eines Staates, der seine Legitimität aus nichts anderem als dem Volkswillen bezog. Österreich und schließlich Rußland akzeptierten die Tatsachen und erkannten ein politisches Gebilde an, das sich die freiheitlichste Verfassung des Kontinents gab. Diesen Spielraum erlaubte eine Ordnung, die den status quo schützen sollte, ohne ihn um jeden Preis in allen Einzelheiten zu konservieren. Insgesamt wurde in der politische Praxis das Mittel der Intervention in Drittstaaten restriktiv gehandhabt, ohne daß die Regime selbstverständlich vor massiven Zwangsmaßnahmen zu ihrer Selbstverteidigung im eigenen Herrschaftsbereich – wozu Metternich seit 1820 mit Billigung der außerdeutschen Mächte auch den Deutschen Bund zählen durfte – zurückgeschreckt wären. Es läßt sich, wenn man das Problem in seiner Entwicklung verfolgt, beobachten, wie sich allmählich eine Präferenz für Nicht-Intervention durchgesetzt hat. Dieser Standpunkt war nicht zufällig derjenige der französischen Julimonarchie, die ihre problemlose Etablierung einer solchen hands-off policy verdankte. Der alte Talleyrand, am Ende seiner diplomatischen Laufbahn (1830–1834) Botschafter in London, hat ihn maßgeblich formuliert.61 Ironischerweise konnte er hier zu seinen revolutionären Anfängen zurückkehren, denn der erste Staat, der den 58 Die Aufständischen erwarteten die Intervention; sie wußten, daß sie andernfalls keine Chance auf Erfolg hatten. In diesem Fall war Metternich selbstverständlich nicht für eine Intervention, sondern sah die Sache als eine innere Angelegenheit des Zarenreiches (Müller, Krise, S. 38ff., S. 47). Vgl. H. H. Hahn, Der polnische Novemberaufstand von 1830 angesichts des zeitgenössischen Völkerrechts, in: HZ, Jg. 235, 1982, S. 85–119, hier S. 105, 106, 116ff.; E. Kolb, Polenbild und Polenfreundschaft der deutschen Frühliberalen. Zur Motivation und Funktion außenpolitischer Parteinahme im Vormärz, in: Saeculum, Jg. 26, 1987, S. 111–127, bes. S. 113ff. 59 Vgl. I. Mieck, Preußen von 1807 bis 1850. Reformen, Restauration und Revolution, in: O. Büsch (Hg.), Handbuch der preußischen Geschichte. Bd. 2, Berlin 1992, S. 161. 60 Koselleck, Restauration, S. 267: Krieg wurde hauptsächlich vermieden, weil Preußen auf die britische Linie einschwenkte. Man einigte sich auch deshalb schnell, um einer neuerlichen Intervention, besonders Rußlands, zuvorzukommen. 61 Ebd., S. 266. Pikant darin ist, daß Talleyrand der eigentliche Urheber des Prinzips der »Legitimität« gewesen war.

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Grundsatz der Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten proklamiert hatte (und ihn schon zwei Jahre später, 1792, wieder verriet), war das revolutionäre Frankreich gewesen.62 Es ist interessant, daß die liberale Vormacht, seit 1830 nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder auch liberal regiert, Talleyrand dabei nur bedingt folgte. Ihr Außenminister Lord Palmerston sah sich entschiedener als seine weniger ideologisch inspirierten Vorgänger als »champion of liberty« und entsandte zum Beispiel die Royal Navy 1833 nach Portugal, um einen »liberalen«, also englandfreundlichen Kronprätendenten zu unterstützen.63 In Zentraleuropa mußte er vorsichtiger operieren, nahm sich aber immerhin das Recht zur verbal-propagandistischen »interference«. So protestierte er 1832 und wieder 1834 gegen die verschärfte innenpolitische Repression im Deutschen Bund.64 Nachdem dieser Protest abgeschmettert worden war, arrangierte sich Großbritannien erneut mit den Realitäten und fand zur ideologiearmen Kooperation der Großmächte im europäischen Mächtekonzert zurück. In der britischen Völkerrechtsauffassung und Staatspraxis entwickelte sich nun aber in der Folgezeit ein Interventionsverständnis, das über den Wiener Kongreß und die Heilige Allianz hinausführte: die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit »humanitärer« Interventionen.65 Die Urformulierung dieses Prinzips findet sich bereits im Londoner Vertrag vom 6. Juli 1827. Dort wird die Intervention der europäischen Mächte zugunsten der Griechen u.a. mit dem Wunsche begründet, »of putting an end to the sanguinary struggle which [...] abandons the Greek Provinces and the Islands of the Archipelago to all the disorders of anarchy«.66 Damit beginnt eine neue Epoche von Völkerrechtsdenken und Interventionspraxis. Das Humanitätspostulat wird dem Legitimitätsprinzip im Zweifelsfalle übergeordnet, die Zivilisation rüstet nicht nur faktisch, sondern auch moralisch gegen das, was sie zur »Barbarei« erklärt. Die Menschenrechte will man schützen, aber zugleich können mit denselben Argumenten alle Arten von imperialem Zugriff gerechtfertigt werden. Wir finden uns mitten in einer heute aktuellen politischen Diskussion. Sie gehört einer anderen Welt an als der moderat legitimistischen der Wiener Ordnung.

62 Vgl. W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 19882, S. 487f. 63 Vgl. K. Bourne, Palmerston: The Early Years 1784–1841, London 1982, S. 395ff.; zu Palmerstons Interventionismus auch E. Reibstein, Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, Bd. 2, Freiburg 1963, S. 659–669. 64 Vgl. Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongreß, S. 67–72. 65 Zur Genese des Prinzips vgl. C. Holbraad, The Concert of Europe: A Study on German and British International Theory 1815–1914, London 1970, S. 162ff. Holbraad unterscheidet zwei Formen: eine Intervention zur Reform des Unterdrückers innerhalb des Gleichgewichtssystems und eine solche zur Befreiung der Unterdrückten. 66 Franco-Anglo-Russian Treaty for the Pacification of Greece, London, 6. Juli 1827, zit. nach Grewe (Hg.), Fontes Historiae Iuris Gentium, Bd. 3/1, S. 150.

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IV. Besitzergreifende Interventionen Die Ordnung des Wiener Kongresses hatte einen Ort für Interventionen innerhalb des europäischen Staatensystems festgelegt, sie war aber keine Weltfriedensordnung; ihr geographischer Geltungsbereich war sogar noch enger umschrieben als derjenige früherer Friedensregelungen. Daher fehlte es für die außereuropäische Welt an rechtlichen und mächtesystemischen Beschränkungen der Intervention. Diese Zweiteilung der Handlungssphären stand in einem paradoxen Verhältnis zum gleichzeitigen Versuch, die ganze Welt von der Allgemeingültigkeit europäischer Völkerrechtsnormen zu überzeugen. Europa erlegte sich in Übersee keine Schranken auf, verlangte aber, daß sich die Regierenden außereuropäischer Länder dem »standard of civilization« des europäischen Völkerrechts unterwarfen, also etwa ihre Länder für Freihandel und christliche Mission öffneten, ihre Rechtsordnungen im westlichen Sinne reformierten und »normale« diplomatische Beziehungen zu den europäischen Großmächten aufnahmen.67 In diesem Widerspruch gediehen die imperialen Interventionen des 19. Jahrhunderts. Die besitzergreifende Intervention ist ein Instrument zur Befriedung turbulenter Grenzen und zur Expansion des imperialen Herrschaftsgebietes. Schon das antike Rom nutzte Instabilitäten und Nachfolgekrisen in seinen asiatischen und nordafrikanischen Klientelkönigtümern, um notfalls von »informal« zu »formal empire« überzugehen, von indirektem Einfluß zu direkter Herrschaft. Nicht selten wurden Instabilitäten, die zum Eingreifen einluden, manipulativ herbeigeführt. Meister darin waren die Briten, seitdem Warren Hastings, 1773– 1785 erster Generalgouverneur Britisch-Indiens, den britischen Einfluß durch kunstvolle Intrigen und darauf folgende Interventionen in benachbarte Herrschaftsgebiete ausgedehnt und gefestigt hatte.68 Die Position als »paramount power«, als Vormacht inmitten einer Vielzahl indischer Staaten, erreichte Großbritannien zwar letzten Endes durch ausgedehnte Kriege gegen einheimische Widersacher, Kriege, die erst 1818 in der Hauptsache abgeschlossen wurden; doch bediente man sich daneben auch weiterhin eines reichen Arsenals von Subversionstechniken, um indische Fürstentümer reif für den »imperial take-over« zu machen.69 Nach etwa 1830 genügte in Indien der Vorwurf der »Mißwirtschaft« gegenüber einem einheimischen Fürsten, um die Annexion durch die Briten zu rechtfertigen, so etwa 1856 im nordindischen Awadh, das 67 Vgl. G. W. Gong, The Standard of »Civilization« in International Society, Oxford 1984. 68 Vgl. immer noch K. Feiling, Warren Hastings, London 1966. Nicht zuletzt diese Methoden waren Anlaß des parlamentarischen Amtsenthebungsverfahrens, das Edmund Burke gegen Hastings anstrengte. Vgl. P. J. Marshall; The Impeachment of Warren Hastings, London 1965. 69 Vgl. S. Förster, Die mächtigen Diener der East India Company. Ursachen und Hintergründe der britischen Expansionspolitik in Südasien, 1793–1819, Stuttgart 1992; M. H. Fisher (Hg.), The Politics of the British Annexation of India, 1757–1857, New Delhi 1994.

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auch aus diesem Grunde zu einem der beiden Zentren des großen Aufstandes, der Indian Mutiny, des Folgejahres wurde.70 Die besitzergreifende Intervention ist ein besonderes, keineswegs das einzige Mittel imperialer Expansion. Sie setzt voraus, daß es überhaupt so etwas wie indigene Politik gibt, in die man sich einmischen kann. Die reine militärische Inbesitznahme, die pure Invasion, die keiner manipulativen Vorbereitung bedarf, wäre ein davon zu unterscheidender Fall. Zweck der besitzergreifenden Intervention ist die Annexion oder zumindest die längerfristige Okkupation eines fremden Gemeinwesens im Glacis des Imperiums. Meist geht ihr der Zusammenbruch bewährter Kollaborationsbeziehungen voraus, durch welche die Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen des Imperiums billiger gewährleistet worden waren als durch formellen Kolonialismus. Das Muster ist alt; seine Urform dürfte die Ausnutzung dynastischer Nachfolgekrisen sein.71 Wir finden es zum Beispiel im Jahre 25 v. Chr., als nach dem Tode des – aus römischer Sicht – fähigen und zuverlässigen Klientelkönigs Amyntas das inneranatolische Königreich Galatien, das indirekter römischer Kontrolle zu entgleiten drohte, kurzerhand in eine Provinz des Imperium Romanum umgewandelt wurde.72 Nicht selten wurde auch das benachbarte Reich von Prätendenten in Nachfolgestreitigkeiten zur Intervention eingeladen: Hilferufe, die selten unerhört blieben. Die Unterminierung von Randstaaten durch Intrigen und Under-coverAktivitäten schuf nicht selten selbst erst jenes »Chaos«, in das man dann ordnend eingreifen konnte. In anderen Fällen sah das Imperium bewährte Kollaborationsbeziehungen nicht durch Anarchie gefährdet, sondern durch national- und zugleich meist auch sozialrevolutionäre Herausforderungen des jeweiligen Klientelregimes in Frage gestellt. Der prototypische Fall in der neueren Geschichte ist der nationalistisch motivierte, von großen Teilen der Bevölkerung getragene Offiziersputsch gegen den ägyptischen Monarchen, den schwachen, dem Westen hörigen Khediven Tawfiq, im Jahre 1882. Dadurch sah sich ein eher widerwilliges Großbritannien zur Wiederherstellung von Ordnung und von Sicherheit für ausländisches Leben und Eigentum veranlaßt; ein weiterer Gesichtspunkt war die Prävention eines französischen Eingreifens.73

70 Vgl. M. H. Fisher, Indirect Rule in India: Residents and the Residency System 1764–1858, Delhi 1991, S. 385. 71 Ein Extremfall war die in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Indien propagierte und praktizierte »doctrine of lapse«, wonach die Briten automatisch das Erbe eines indischen Fürsten antraten. Vgl. ebd., S. 257–260. 72 Vgl. K. Christ, Geschichte der Römischen Kaiserzeit. Von Augustus bis zu Konstantin, München 1988, S. 122. 73 Vgl. J. R. I. Cole, Colonialism and Revolution in the Middle East: Social and Cultural Origins of Egypt’s cUrabi Movement, Princeton 1993; D. M. Reid, The cUrabi Revolt and the British Conquest, 1879–1882, in: M. W. Daly (Hg.), The Cambridge History of Egypt, Bd. 2: Modern Egypt, from 1517 to the End of the Twentieth Century, Cambridge 1998, S. 217–238.

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Die daraus entstehenden protektoratsähnlichen Verhältnisse führten dazu, daß Ägypten bis 1922 de facto wie eine Kolonie des British Empire regiert wurde. Daß besitzergreifende Interventionen vor der zeitgenössischen Öffentlichkeit einer Rechtfertigung bedurften, war nicht selbstverständlich. Oft, etwa im Rußland (Expansion im Kaukasus) und Frankreich (Eroberung Algeriens) des 19. Jahrhunderts, genügte die patriotische Vollzugsmeldung. Bei den britischen »reluctant imperialists« der Freihandelsära verhielt es sich etwas anders. Hier zwang ein verbreiteter Anti-Annexionismus und Anti-Interventionismus, wie ihn in extremer Form Richard Cobden vertrat,74 schon früh zu jenen verschleiernden Legitimationsbemühungen, die dann alle Interventionen des 20. Jahrhunderts begleiten sollten. »Peccavi«, soll in schöner Ambivalenz und cäsarischer Kürze 1843 Sir Charles Napier nach London gekabelt haben, nachdem er eigenmächtig mit einer Armee von sechstausend Mann dem Empire das Land Sind am Unterlauf des Indus zugeführte hatte: »Peccavi: I have Sind«. Ihm wurde vergeben.75 Symbolische Provokationen waren besonders willkommen: etwa der 1868 vom Emir von Buchara leichtfertig erklärte »Heilige Krieg« gegen Rußland76 oder der Schlag mit dem Griff eines Pfauenfederwedels, den der zuvor heftig beleidigte Dey Hussein von Algier am 29. April 1827 dem französischen Konsul Pierre Deval versetzte und der zum Auslöser für die französische Invasion Nordafrikas wurde.77 In diesem Fall kam indessen eine ernsthaftere Begründung hinzu: die Durchsetzung zivilisierter Rechtsnormen gegenüber einem – in der Sprache der amerikanischen Außenpolitik der 1980er Jahre – Schurkenstaat (»rogue state«). Zwar lag der Höhepunkt der Verschleppung christlicher Korsarenopfer in die nordafrikanische Sklaverei eine Weile zurück: 1816 hatte eine anglo-holländische Flotille Algier bombardiert und die Abschaffung der Sklaverei sowie die Freilassung der letzten 1.200 christlichen Sklaven erzwungen.78 Aber es war um 1830 durchaus noch möglich, den nominell weiterhin osmanischen Barbareskenstaat als ein »Piratennest« zu porträtieren, dessen Ausräucherung im humanitären Interesse der Völkergemeinschaft liege.79 Französische Großmachtambitionen verbanden sich elegant mit der Verbeugung vor dem liberalen Zeitgeist. 74 Vincent, Nonintervention, S. 46–54; Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. 1, S. 500–510. 75 Vgl. H. T. Lambrick, Sir Charles Napier and Sind, Oxford 1952, S. 134–176. Die Anekdote stand im Satireblatt »Punch« und ist nicht verbürgt – aber schlimmstenfalls gut erfunden. Vgl. J. Morris, Heaven’s Command: An Imperial Progress, Harmondsworth 1979, S. 180. 76 Vgl. D. Dahlmann, Zwischen Europa und Asien. Russischer Imperialismus im 19. Jahrhundert, in: W. Reinhard (Hg.), Imperialistische Kontinuität und nationale Ungeduld im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991, S. 50–67, hier S. 57. 77 J. M. Abun-Nasr, A History of the Maghrib in the Islamic Period, Cambridge 1987, S. 249. 78 J. B. Wolf, The Barbary Coast: Algeria under the Turks 1500 to 1830, New York 1979, S. 331. 79 Vgl. J. Ruedy, Modern Algeria: The Origins and Development of a Nation, Bloomington

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Ganz neu war diese humanitäre Denkweise freilich nicht. Schon bei der großen, in Kategorien von scholastischem Naturrecht und aristotelischer Anthropologie geführten Debatte in der Mitte des 16. Jahrhunderts, bei der es post festum um die Rechtmäßigkeit der spanischen Eroberungen in Amerika ging, hatten »Falken« wie der scharfsinnige Juan Ginés de Sepúlveda aus den Menschenopfern der Azteken, diesen »über das Maß an jeder menschlichen Verderbtheit hinausgehenden« Verbrechen,80 das Recht einer »Nation, die die Menschenwürde peinlich genau beachtet,«81 hergeleitet, die Mexikaner zu unterwerfen. Die Expedition des Cortés war keineswegs unternommen worden, um die rituellen Schlächtereien im Großen Tempel von Tenochtitlán zu unterbinden, von denen man am Beginn der Expedition nichts gewußt hatte. Aber im Rückblick fand sich hier ein recht starkes Argument für die spanische Conquista. »Welcher fromme Mensch,« so fragte der Interventions-Theoretiker Sepúlveda, »könnte behaupten, es sei nicht Aufgabe eines ausgezeichneten und frommen Fürsten, so viele unschuldige Menschen vor derartig großen Ungerechtigkeiten zu schützen, wenn er es vermag?«82 Dem konnte der Indianerfreund Bartolomé de Las Casas nur etwas gewunden widersprechen, wenn er die aztekischen Menschenopfer als »irregeleitete Frömmigkeit« interpretierte.83

V. »Big Stick«-Interventionen Der Übergang von diesem ersten zu einem zweiten Typus imperialer Intervention ist gleitend. Die Big-Stick-Intervention ist die vorherrschende Interventionsform des nicht- oder post-kolonialen Imperialismus.84 Man wird deshalb dafür Beispiele bis in die jüngste Zeit entdecken. Die reichste Fallsammlung findet man in der Haltung der USA gegenüber den Staaten Mittelamerikas und der Karibik – von der Entsendung amerikanischer Truppen zur Unterstützung der 1992, S. 47. Zur Vorgeschichte dieser Haltung vgl. A. Thomson, Barbary and Enlightenment: European Attitudes towards the Maghreb in the 18th Century, Leiden 1987. 80 Zit. in C. Strosetzki (Hg.), Der Griff nach der Neuen Welt. Der Untergang der indianischen Kulturen im Spiegel zeitgenössischer Texte, Frankfurt a.M. 1991, S. 239. 81 Ebd. 82 Ebd., S. 247. 83 A. Pagden, The Fall of Natural Man: The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge 1982, S. 90. Vgl. für spätere Phasen der Amerika-Debatte J. Muldoon, The Americas in the Spanish World Order: The Justification for Conquest in the 17th Century, Philadelphia 1994. 84 Man denke an den amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt (Amtszeit 1901–1909, und seinen Wahlspruch »speak softly and carry a big stick«). Rede in Chicago, 2. April 1903, hier nach: Addresses and Presidential Messages of Theodore Roosevelt, 1902–1904, New York 1971 (Reprint), S. 121.

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von einem Sklavenaufstand bedrohten französischen Siedler in Saint-Domingue (dem späteren Haiti) im Jahre 1791 bis zur Panama-Intervention gegen General Noriega von 1989 und zur Haiti-Operation vom September 1994.85 Die Big-Stick-Intervention wird von ihren Urhebern als eine zeitlich begrenzte Ordnungsmaßnahme zur Wahrung klar definierbarer Interessen konzipiert. Sie zielt nicht auf die Errichtung dauerhafter Kolonialherrschaft, also die direkte Übernahme staatlicher Funktionen durch den Großen Bruder. Sie ist ein Phänomen weniger der Herrschaftsausübung als der Machtdemonstration. Der eigentliche Interventionsakt ist der Intention nach von kurzer Dauer, auch wenn sich daraus gelegentlich – wie in Vietnam und Afghanistan – langwierige Kriege oder auch zählebige quasi-koloniale Okkupationen, so etwa die amerikanische Besetzung der Dominikanischen Republik 1915–1924 und Haitis 1915–1934,86 ergeben können. In anderer Hinsicht – und vor allem im unmittelbaren Hegemonialbereich einer Großmacht – kann die Big-Stick-Intervention freilich eine Art von Dauerzustand werden: Manifeste Interventionen und latente Interventionsdrohungen wechseln sich, oft kaum voneinander zu trennen, phasenweise ab. Das Schwert des Damokles bleibt in Position. Die verbliebenen indischen Fürstenstaaten vor 1947 oder Nicaragua seit spätestens 1894 machten diese Erfahrung.87 Die Big-Stick-Intervention wird grundsätzlich von zwei miteinander verbundenen Begründungsmustern getragen. Das spezifischere der beiden ist ein ideologisches: auf der einen Seite ein präventiver Antikommunismus, wie er seit dem amerikanisch-japanisch-britischen Eingreifen in den russischen Bürgerkrieg 1918 vielfach in Interventionsakte jeglicher Art umgesetzt wurde,88 auf der anderen Seite spiegelsymmetrisch der sich so nennende Anti-Imperialismus derselben Epoche: von der Besetzung Azerbajdschans durch die Rote Armee 1920 bis zum Eingreifen der Sowjetunion bzw. Kubas in Afghanistan und

85 In der allgemeinen Literatur zur Geschichte der US-Außenpolitik betont den Interventionsgesichtspunkt besonders: W. LaFeber, The American Age: United States Foreign Policy at Home and Abroad since 1750, New York 1989. Aus der riesigen Literatur zum Verhältnis der USA zu Lateinamerika: Ders., Inevitable Revolutions: The United States in Central America, New York 1984; A. F. Lowenthal, Exporting Democracy: The United States and Latin America, Baltimore 1991; P. H. Smith, Talons of the Eagle: Dynamics of US – Latin American Relations, New York 1996. 86 Vgl. E. Williams, From Columbus to Castro: The History of the Caribbean 1492–1969, London 1970, S. 424f.; W. L. Bernecker, Kleine Geschichte Haitis, Frankfurt a.M. 1996, S. 120ff. 87 Vgl. I. Copland, The British Raj and the Indian Princes: Paramountcy in Western India, 1857–1930, Bombay 1982; R. A. Pastor, Condemned to Repetition: The United States in Nicaragua, New Haven 1987. 88 Die Intervention in den russischen Bürgerkrieg wird im Folgenden nicht behandelt. Vgl. vor allem M. Kettle, Russia and the Allies 1917–20, 3 Bde., London 1981–92; D. S. Foglesong, America’s Secret War against Bolshevism: U.S. Intervention in the Russian Civil War, 1917–1920, Chapel Hill, NC 1995.

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Angola.89 Das allgemeinere und ältere – bis zum Imperium Romanum zurückreichende – Begründungsmuster ist die Sicherung des Lebens von Staatsangehörigen der Hegemonialmacht und ihres Eigentums sowie die Gewährleistung freier wirtschaftlicher Betätigung durch Ausländer. Diese Sicherung soll auf indirektem Wege durch »befreundete« einheimische Regierungen besorgt werden. Die Intervention dient der Beseitigung feindseliger Staatsautoritäten und der Installation bzw. Stützung von Kollaborationsregimen. Motive und Rechtfertigungsgründe nähern sich in diesem Punkt weitgehend an. Interventionen zur Abwehr unmittelbarer Gefahren für Leben und Besitz von Ausländern sind in der Regel unzweideutig als solche deklariert worden. Man denke dabei nicht allein an die notorischen »Banana Wars« der USA in ihrem südlichen »Hinterhof«,90 die durch einseitige Erklärungen wie die Monroe-Doktrin von 1823, das Roosevelt-Corollary von 1904, in dem sich die USA zum Polizisten der westlichen Hemisphäre erklärten,91 und die Reagan-Doktrin der frühen achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die weltweite Counterinsurgency-Aktivitäten absegnete,92 strategisch, wenn auch kaum völkerrechtlich abgesichert wurden. Die schrittweise Öffnung Chinas, Japans, Thailands und Koreas für Ansiedlung und Handelstätigkeit von westlichen Ausländern, die mit dem anglo-chinesischen Opiumkrieg von 1840–42 begann, wurde im Kern mit der Notwendigkeit der Einführung westlicher Rechtsvorstellungen und des Schutzes der durch sie geschaffenen Rechtssphäre begründet. Mehr noch als in den amerikanischen Fällen kam in Asien freilich noch eine fortschrittsphilosophische Verbrämung hinzu: Die Asiaten sollten zur Anerkennung »zivilisierter«, sprich: von Europa zur Norm erklärter, Umgangsweisen in internationalen Verkehr gezwungen werden. Der Eigentumsschutz ist auch noch in neuerer Zeit in flagranter Weise zur Geltung gebracht worden, besonders folgenreich durch eine indirekte BigStick-Intervention: 1953 den konspirativ von Großbritannien unter Mitwirkung der Eisenhower-Administration betriebenen Sturz des Ministerpräsiden89 Einen Überblick über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gibt: A. P. Schmid, Soviet Military Interventions since 1945, New Brunswick 1985, bes. S. 73ff. 90 Vgl. M. L. Cottam, Images and Intervention: U.S. Policies in Latin America, Pittsburgh 1994 (über die Zeit des Kalten Krieges); I. Musicant, The Banana Wars: A History of United States Military Intervention in Latin America from the Spanish-American War to the Invasion of Panama, New York 1990, sowie für Zentralamerika J. Dunkerley, Power in the Isthmus: A Political History of Modern Central America, London 1988; LaFeber, Inevitable Revolutions. 91 Die Literatur zu Theodore Roosevelts Interventionspolitik ist kaum noch überschaubar. Vgl. vor allem R. H. Collin, Theodore Roosevelt’s Caribbean: The Panama Canal, the Monroe Doctrine and the Latin American Context, Baton Rouge 1990 (S. 563–584 ein nützlicher »Bibliographical Essay«); vgl. auch Ders., Theodore Roosevelt, Culture, Diplomacy, and Expansion: A New View of American Imperialism, Baton Rouge 1985. Vgl. daneben auch H. K. Beale, Theodore Roosevelt and the Rise of America to World Power, Baltimore 1984. 92 Zur Reagan-Doktrin vgl. P. J. Schraeder, Paramilitary Intervention, in: Ders. (Hg.), Intervention into the 1990s, S. 131–151, bes. S. 137–149.

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ten der iranischen Nationalen Front, Muhammad Mussadiq, nachdem dieser 1951 die Anglo-Iranian Oil Company, die Vorläuferin von British Petroleum (BP), verstaatlicht hatte. An der Stelle eines halbwegs demokratischen Systems wurde die persönliche Autokratie von Schah Reza Pahlevi installiert, der sich als zuverlässiger Verbündeter und später auch größter Waffenkunde des Westens erweisen sollte und erst bei der Administration Präsident Jimmy Carters (1977– 1981) Anstoß wegen der Menschenrechtsverletzungen unter seinem Regime erregte.93 Man mag versucht sein, neben den Interventionen, die ihr Ziel erreichten, die mißlungenen zu übersehen. Bekanntlich gibt es wenige gescheiterte Aktionen vom Typ der besitzergreifenden Intervention; allenfalls Afghanen und Äthiopier haben sich dem vordringenden Kolonialismus dauerhaft widersetzen können. Big-Stick-Interventionen trafen wesentlich häufiger auf unüberwindliche Widerstände. Die Suez-Krise von 1956 ist ein Fall für sich; Briten und Franzosen scheiterten damals nicht nur am ägyptischen Widerstand, sondern auch an einer komplexen internationalen Situation, die die USA auf die Gegenseite trieb.94 Die Supermacht-Abenteuer Vietnam und Afghanistan schlugen nicht als Interventionen fehl, sondern im Stadium ausgewachsener Kriege. Spektakuläre Desaster waren John F. Kennedys Schweinebucht-Invasion von 1961 und Ronald Reagans Engagement im Libanon 1982/83. Folgenreicher war in den Jahren 1946–1948 das Mißglücken des Versuchs, durch Unterstützung Jiang Kaisheks den Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg zu verhindern.95 Insgesamt läßt sich sagen, daß die führende interventionistische Macht nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Ziele in den größten der Interventionsfälle nicht erreichte: Die kommunistischen Regimes in Nordkorea, Vietnam und Kuba wurden eben so wenig gestürzt wie Saddam Hussein und Slobodan Miloševic, die Hauptfeinde der USA in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, durch Kriege entmachtet werden konnten.96 Big-Stick-Interventionen sind in aller Regel realpolitisch motiviert gewesen und auch so begründet worden. Es ging um eigene Wirtschaftsinteressen und um die eigene Machtposition im internationalen System. Sie waren, anders als die Interventionen im Zeitalter der kolonialen Expansion, zumindest während 93 Über die Mussadiq-Affäre vgl. D. Yergin, The Prize: The Epic Quest for Oil, Money and Power, New York 1991, S. 456–478; J. A. Bill u. W. R. Louis (Hg.), Mussadiq, Iranian Nationalism, and Oil, New York 1988; R. Schulze, Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München 1994, S. 180–185; Karabell, Architects of Intervention, S. 50–91. 94 Vgl. W. R. Louis u. R. Owen (Hg.), Suez 1956: The Crisis and its Consequences, Oxford 1989; S. Lucas (Hg.), Britain and Suez: The Lion’s Last Roar, Manchester 1996 (mit Forschungsbericht: S. 118–130); A. Gorst u. L. Johnman, The Suez Crisis, London 1997. 95 Vgl. J. Osterhammel, China und die Weltgesellschaft. Vom 18. Jahrhundert bis in unsere Zeit, München 1989, S. 330–342. 96 Die Fälle vergleicht unter diesem Gesichtspunkt: G. A. Donaldson, America at War since 1945: Politics and Diplomacy in Korea, Vietnam, and the Gulf War, Westport, Ct. 1996.

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des 20. Jahrhunderts mindestens ebenso oft von defensiven wie von offensiven Absichten geprägt: Man könnte sagen, sie waren »Containment«-Interventionen, die vor allem der Abwehr von Nationalismen jedweder Couleur dienten – gewiß oft auch Reaktionen präventiver Defensive in der Art dessen, was Karl Kraus einmal »die verfolgende Unschuld« genannt hat. Dabei stand aber auf westlicher Seite stets jener fortschrittsfroh-universalistische Anspruch im Hintergrund, wie ihn zuerst die britische Außenpolitik des frühen 19. Jahrhunderts vertrat, und wie er dann von Präsident Woodrow Wilson – dessen Praxis, etwa gegenüber Mexiko, nicht immer auf der Höhe seiner Prinzipien stand – mit weltweiter Wirkung formuliert wurde.97 Großbritannien und erst recht die USA wollten nicht bloß ordnungsstiftende Büttel, sondern auch Geburtshelfer einer neuen Weltordnung sein, in der die Grundsätze der Zivilisation, des Völkerrechts und der Demokratie obwalten würden. Jeder lokale Eingriff ließ sich im Prinzip in universalistischer Sprache begründen. Es gibt schließlich eine Sonderspielart der Big-Stick-Intervention, die sich bereits mit dem noch zu besprechenden vierten Typ der hier vorgeschlagenen Typologie, der proto-humanitären Intervention, berührt: die Kommando-Aktion, die unter Verletzung der Souveränität des Fremdstaates das Leben – ganz unabhängig vom Eigentum – von bedrohten Ausländern rettet. Oft, besonders auf dem Höhepunkt des Imperialismus, sind Übergriffe auf Ausländer zum Anlaß für massive Interventionen genommen worden, deren Ziele dann weit über den Schutz von Individuen bzw. die Durchsetzung verhältnismäßiger Kompensationsforderungen hinausgingen. So reagierte das Deutsche Reich auf die Ermordung zweier deutscher Missionare in der nordchinesischen Provinz Shandong 1898 mit der Besetzung einer strategisch wichtigen Bucht und der Erzwingung kolonieähnlicher Gebietsabtretungen.98 Man scheint auf einen derartigen Zwischenfall gewartet zu haben, jedenfalls war man darauf eingestellt, ihn auszunutzen. »Operation Just Cause«, die lange vorbereitete Invasion von General Noriegas Panama, wurde am 17. Dezember 1989 in Gang gesetzt, nachdem am Tag zuvor ein amerikanischer Leutnant von Unbekannten erschossen worden war.99 Erst damit, nicht schon mit den Noriega vorgeworfe97 Aus der riesigen Literatur zu Wilson: F. S. Calhoun, Power and Principle: Armed Intervention in Wilsonian Foreign Policy, Kent (Ohio) 1986; außerdem J. M. Cooper, Jr., The Warrior and the Priest: Woodrow Wilson and Theodore Roosevelt, Cambridge, Mass. 1983; M. T. Gilderhus, PanAmerican Visions: Woodrow Wilson in the Western Hemisphere, 1913–1921, Tucson, Ariz. 1986. Grundsätzlich wichtig zu Wilsons Denken, aber ohne nähere Ausführungen zum Interventionsproblem: T. J. Knock, To End all Wars: Woodrow Wilson and the Quest for a New World Order, New York 1992. Zu Wilsons Eingreifen in Mexiko vgl. J. S. D. Eisenhower, Intervention! The United States and the Mexican Revolution 1913–1917, New York 1993. 98 Vgl. Osterhammel, China, S. 204 f. 99 M. E. Scranton, Panama, in: Schraeder (Hg.), Intervention into the 1990s, S. 357f. Vgl. ausführlich Dies., The Noriega Years: U.S.-Panamanian Relations, 1981–1990, Boulder, Col. 1991; B. W. Watson u. P. G. Tsouras (Hg.), Operation »Just Cause«: The U.S. Intervention in Panama, Boulder, Col. 1991.

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nen Verbrechen, schien ein vor der amerikanischen wie der internationalen Öffentlichkeit vorzeigbarer Interventionsgrund gegeben zu sein. In beiden – sonst wenig vergleichbaren – Fällen war der Tod eigener Staatsangehöriger der Auslöser größerer Militäraktionen. Ein Sonderfall ist in diesem Zusammenhang die befreiende Intervention. Französische und belgische Fallschirmjäger haben verschiedentlich Europäer aus afrikanischen Spannungsgebieten evakuiert. Im April 1980 scheiterte in der iranischen Wüste der Versuch, mehr als fünfzig in Teheran als Geiseln festgehaltene Amerikaner durch ein Kommandounternehmen zu befreien. Der Mißerfolg trug zur Niederlage Jimmy Carters in der folgenden Präsidentschaftswahl bei. In all solchen Aktionen schwingen Resonanzen des dramatischsten Ereignisses dieser Art mit: der Befreiung der im Gesandtschaftsviertel von Peking von sogenannten »Boxern«, d.h. Mitgliedern des Bauernbundes der Yihetuan, und chinesischen Regierungstruppen belagerten Ausländer durch ein 18.000 Mann starkes, von acht Nationen gemeinsam gestelltes Expeditionsheer im August des Jahres 1900. Die fremdenfeindlichen Übergriffe in Nordchina waren durchaus vom rücksichtslosen Vorgehen der Europäer provoziert worden; nach der Befreiung der Gesandtschaften kam es zu brutalen Strafmaßnahmen.100 Aber bei dem gewaltsamen Vorgehen gegen staatlich gebilligte Geiselhaft von Ausländern – und darum handelte es sich im Iran 1980 wie auch in China 1900 – scheint eine »chirurgische« Big-Stick-Intervention noch am ehesten vor moralphilosophischen und völkerrechtlichen Maßstäben bestehen zu können.

VI. Sezessionistische Interventionen Imperiale Interventionen des späteren 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts haben sich immer wieder gegen Revolutionen und nationale Unabhängigkeitsbestrebungen gerichtet.101 Dies gilt für die sowjetischen Einmärsche in Polen 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 ebenso wie für das Vorgehen der Vereinigten Staaten gegenüber Vietnam seit der Kennedy-Administration, gegenüber der Regierung Allende in Chile 1973 oder den Linkskräften in der Dominikanischen Republik 1965. Eine weniger bekannte Episode ist die große Geheimdienstaktion, mit der die Central Intelligence Agency (CIA) mittels Geld und Propaganda daran beteiligt war, 1948 einen Wahlsieg der Kommunisten in Italien zu verhindern.102 100 Vgl. S. Dabringhaus, An Army on Vacation? The German War in China, 1900–1901, in: M. Boemeke u. a. (Hg.), Anticipating Total War: The German and American Experiences, 1871–1914, Cambridge 1999, S. 459–476. 101 Vgl. dazu besonders Adelman (Hg.), Superpowers and Revolution. 102 Vgl. H. H. Ransom, Covert Intervention, in: Schraeder (Hg.), Intervention into the 1990s, S. 113–129, hier S. 120; Karabell, Architects, S. 37–49.

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Es gab aber auch den umgekehrten Fall von Interventionen zugunsten nationaler Unabhängigkeitsbewegungen. Er kam gelegentlich in der Auseinandersetzung der Imperien untereinander vor. Der realpolitische Zweck war dabei meist die Schwächung des Rivalen oder Gegners. Man kann von sezessionistischer Intervention sprechen. In neuerer Zeit würden dazu alle Versuche, fast ausschließlich verdeckter Art, gehören, periphere Elemente eines Imperiums oder einer Hegemonialsphäre zu Selbständigkeitsbestrebungen gegenüber dem Zentrum zu animieren. Viele, ja, die meisten solcher Autonomiebemühungen haben keine Unterstützung im Ausland gefunden. Die Tschetschenienkriege von 1995 und 1999/2000 sind dafür neuere Beispiele. Das Problem wurde bereits im 19. Jahrhundert ausgiebig und stürmisch diskutiert. Es war ein großes Thema unter den Liberalen der damaligen Zeit, insbesondere den britischen, ob und wie es grundsätzlich gerechtfertigt und praktisch möglich sei, kleinen Völkern bei ihren Versuchen Beistand zu leisten, »Völkergefängnissen« wie dem Zarenreich und dem Osmanischen Reich zu entrinnen. Was sollte, was konnte die westeuropäische Politik für freiheitsliebende Völker wie die Polen oder die Bulgaren tun? Der Philosoph und Ökonom John Stuart Mill etwa hat sich darüber in seiner Schrift »On Intervention« (1859) einflußreiche Gedanken gemacht.103 Mill vertrat, kurz gesagt, die Auffassung, eine Intervention zugunsten eines unterdrückten Volkes sei moralisch gerechtfertigt, sofern in jenem Volk ein politisch wirksam unterdrückter Freiheitswille walte und die Intervention als Geburtshelferin politischer Unabhängigkeit dienen könne. Mill verteidigte grundsätzlich das Prinzip der Nicht-Intervention, argumentierte aber, daß eine befreiende Intervention als Konter-Intervention gegen die Unterdrükkung des Freiheit suchenden Volkes durch seine eigene Imperialmacht zu verstehen sei. Eine mögliche britische Intervention zugunsten der Polen (die natürlich nicht erfolgte) sei zu rechtfertigen, um die repressive Intervention des Zarenreiches zu neutralisieren. Mill fügte allerdings hinzu, daß nicht alles, was moralisch legitim und völkerrechtlich legal sei, auch politisch klug sein müsse. Er vermied daher konkrete Empfehlungen zugunsten bestimmter Interventionspläne. Das Problem erreichte den Höhepunkt öffentlicher Dringlichkeit im Jahre 1876, als ein Aufstand bulgarischer Christen gegen den Sultan unter dem Verlust von bis zu 15.000 Menschenleben grausam unterdrückt wurde. William Ewart Gladstone, der führende liberale Staatsmann Europas und damals vorübergehend nicht Premierminister, sondern britischer Oppositionsführer,

103 J. S. Mill, A Few Words on Non-Intervention [1867], in: Collected Works of John Stuart Mill, hg. v. J. M. Robson, Bd. 21, Toronto 1984, S. 111–124. Vgl. die Diskussion von Mills Standpunkt bei M. Walzer, Just and Unjust Wars: A Moral Argument with Historical Illustrations, Harmondsworth 1980, S. 87–96; G. Varouxakis, John Stuart Mill on Intervention and Non-Intervention, in: Millenium. Journal of International Studies, Jg. 26, 1997, S. 57–76.

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nahm das Ereignis zum Anlaß, um das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker zu präzisieren, das er zuvor schon auf Italien angewendet hatte.104 Für die bulgarischen Christen konnte nichts getan werden. Überhaupt blieben Interventionen zugunsten freiheitlicher Kräfte unter den Bedingungen des festgefügten Mächtesystems so gut wie aus. Die Interventionsfrage hatte sich vornehmlich am Beginn des Jahrhunderts gestellt: in Lateinamerika und in Griechenland. Großbritannien hatte zwar auch nach 1815, als es den spanischen Verbündeten nicht länger im Kampf gegen Napoleon benötigte, die Unabhängigkeit der Lateinamerikaner nicht offiziell unterstützt. Es hatte aber stärker als die legitimistischen Mächte Europas seine Neutralität im Konflikt zwischen Spanien und den Kolonien bewahrt, auch wenn die britische Öffentlichkeit mit den Lateinamerikanern sympathisierte, ein englischer Admiral die junge chilenische Flotte gegen die Spanier kommandierte und sogar eine britische Legion an der Seite der Truppen Simon Bolívars kämpfte. Von einer britischen Intervention zugunsten der kolonialen Rebellen kann keine Rede sein, doch verhinderte die strikte Nicht-Interventionspolitik der im Atlantik dominierenden Seemacht umgekehrt die Einmischung dritter Parteien, etwa der restaurativen französischen Bourbonendynastie.105 Die Royal Navy schirmte mithin in den entscheidenden Jahren des Freiheitskampfes Lateinamerika von externen Kräften ab. Als erste der europäischen Mächte stellte sich Großbritannien dann auf die neuen Realitäten im spanisch sprechenden Amerika ein und erkannte (bald nach den USA) die jungen Republiken diplomatisch an. Sie wurden fortan zum Ziel energischer wirtschaftlicher Durchdringung durch britische Firmen.106 Politisch konkreter waren die Ergebnisse in Griechenland, dem deutlichsten Beispiel überhaupt für eine sezessionistische Intervention.107 Die schwachen Kräfte, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf eine Befreiung Griechen104 Vgl. H. C. G. Matthew, Gladstone 1809–1898, Oxford 1997, S. 266ff.; R. Shannon, Gladstone, Bd. 2: Heroic Minister 1865–98, London 1999, S. 164–195. 105 Vgl. D. A. G. Waddell, International Politics and Latin American Independence, in: L. Bethell (Hg.), The Cambridge History of Latin America. Bd. 3: From Independence to c. 1870, Cambridge 1985, S. 197–228, hier S. 210. 106 Vgl. A. Knight, Britain and Latin America, in: W. R. Louis (Hg.), The Oxford History of the British Empire. Bd. 3: The Nineteenth Century, hg. v. A. Porter, Oxford 1999, S. 122–145, bes. S. 127ff. 107 Das Folgende nach C. M. Woodhouse, Modern Greece: A Short History, London 19915, S. 125–156; R. Clogg, A Concise History of Greece, Cambridge 1992, S. 23–46; Ders. (Hg.), The Movement for Greek Independence 1770–1821: A Collection of Documents, London 1976; D. Dakin, The Greek Struggle for Independence 1821–1833, London 1973, S. 109–132. Zum Philhellenismus vgl. C. Hauser, Anfänge bürgerlicher Organisation. Philhellenismus und Frühliberalismus in Südwestdeutschland, Göttingen 1990; G. Heydemann, Philhellenismus in Deutschland und Großbritannien, in: A. M. Birke u. G. Heydemann (Hg.), Die Herausforderung des europäischen Staatensystems. Nationale Ideologie und staatliches Interesse zwischen Restauration und Imperialismus, Göttingen 1989, S. 31–60.

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lands von der Türkenherrschaft hofften, hatten bestenfalls gewisse Autonomierechte innerhalb des Osmanischen Reiches im Sinne, kaum aber die Utopie eines souveränen Staates. Die sehr heterogen zusammengesetzte griechische Unabhängigkeitsbewegung, die überwiegend vom Ausland her operierte, war sich des Umstandes bewußt, ohne die Unterstützung durch mindestens eine europäische Großmacht chancenlos zu sein. Zunächst hoffte man auf das griechisch-orthodoxe, traditionell anti-osmanische Rußland. Als 1821 der griechische Aufstand begann, kam Unterstützung jedoch weder von Rußland noch von Großbritannien, der seit Nelsons Sieg bei Trafalgar (1805) im Mittelmeer maßgebenden Seemacht, die ebenso wie Österreich den status quo favorisierte. Nicht das Freiheitsbegehren der Griechen, sondern die außerordentliche und über Jahre unvermindert andauernde Brutalität der osmanischen Repression – von der Hinrichtung des ehrwürdigen Patriarchen Georgios V. 1821 über das von Eugène Delacroix aufwühlend gestaltete Massaker an den Christen von Chios bis zum Terror, einschließlich »ethnischer Säuberungen«, des ägyptischen Heerführers Ibrahim Pascha auf der Peleponnes. Dank der teils politisch, teils kulturnostalgisch motivierten philhellenischen Agitation baute sich in der europäischen Öffentlichkeit ein Interventionsdruck auf, der 1826 einen Kurswechsel der Großmächte herbeiführte. Inoffiziell traten britische See-Offiziere in den Dienst der griechischen Sache, doch kann von einer Intervention – wohlgemerkt: einer multinationalen Intervention – erst gesprochen werden, als Großbritannien, Frankreich und Rußland im Vertrag von London vom 7. Juli 1827 die Durchsetzung eines Waffenstillstandes zwischen den griechischen Rebellen und dem Sultan verlangten und eine Lösung des Problems auf der Basis der Teilautonomie Griechenlands als eines Staates unter nomineller türkischer Oberhoheit ins Auge faßten.108 Vor allem die russische Politik fand sich in dem Dilemma, einerseits den alten Konkurrenten am Bosporus schwächen zu wollen, andererseits aber dem Hause Osman, einer der am längsten herrschenden und daher, formal gesehen, legitimsten Dynastien Eurasiens, das Recht zur Züchtigung rebellischer Untertanen nicht absprechen zu können.109 Am 20. Oktober 1827 nahmen die vereinigten Seeverbände der drei Mächte Ibrahim Paschas Angriff auf ein Boot mit Parlamentären zum Anlaß für die Vernichtung der osmanisch-ägyptischen Kriegsflotte; darauf folgte die Vertreibung türkischer Truppen von der Peleponnes. Griechenland war frei. Es schlossen sich langwierige Verhandlungen über Grenzen, innere Verfassung und internationalen Status des neuen griechischen Nationalstaates an, die 1832 in der Errichtung des Königreiches Griechenland mündeten. Zum Monarchen er108 Vgl. im einzelnen Dakin, Greek Struggle, S. 182f. 109 Vgl. F. W. Kagan, The Military Reforms of Nicholas I.:The Origins of the Modern Russian Army, Basingstoke 1999, S. 78f.

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wählten die Großmächte den siebzehnjährigen bayerischen Prinzen Otto. Der neue Staat, längst noch nicht in den viel weiteren Umrissen des heutigen Griechenland, wurde per Vertrag unter die Garantie der »Protecting Powers« gestellt, die dann rasch das Interesse an ihm verloren. Griechenland wurde dennoch auf Jahrzehnte hinaus nicht zum Herrn seines eigenen Geschicks, sondern verblieb unter einem faktischen Condominium der Großmächte.110

VII. Humanitäre Interventionen Der griechische Fall führte erstmals eine Reihe von Elemente zusammen, die in späteren Interventionsszenarien oft separate Rollen spielen sollten. Er traf in ein Klima genereller Interventionsbereitschaft der Großmächte, wie es im 18. Jahrhundert – jedenfalls vor der rabiat interventionistischen Agitation Edmund Burkes gegen die Französische Revolution – noch nicht bestanden hatte. Die europäischen Großmächte waren aus Gründen nicht primär der realpolitischen Machtexpansion, sondern der ideologisch begründeten Systemverteidigung gegen die französischen Revolutionäre eingeschritten, die selber – wie später ihr Erbe Napoleon – ohne Skrupel in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten eingriffen. Bonaparte überfiel 1798 sogar Ägypten, eine Provinz des Osmanischen Reiches, um angeblich sowohl den Sultan wie die ägyptische Bevölkerung von der usurpatorischen Herrschaft der Mamluken zu befreien. Nach dem Sturz des Kaisers zog sich die britische Außenpolitik unter Lord Castlereagh zunächst auf eine gleichgewichtspragmatisch begründete Position der Nicht-Intervention zurück,111 während die kontinentalen Großmächte ein Interventionsrecht gegen revolutionäre Bestrebungen zu universalisieren trachteten. Unter George Cannings Führung trat dann aber die britische Diplomatie für die Duldung oder bestenfalls vorsichtige Unterstützung nationaler Sezessionsbewegungen ein. Davon profitierten Griechen und Lateinamerikaner.112 Die Intervention im östlichen Mittelmeer war ein multinationales Unternehmen unter britischer Führung. Sie unterstützte eine Emanzipationsbewegung, die aus dem Lande selbst hervorgegangen war und breite Zustimmung unter der sich politisch artikulierenden einheimischen Bevölkerung fand. Damit erfüllte sie, was John Stuart Mill später als Grundbedingung legitimen Intervenierens herausstellen sollte. Schließlich spielte – vielleicht erstmals – die Öffentlichkeit eine bedeutende, vielleicht eine entscheidende Rolle. Ihr Ruf 110 So auch die Schlußfolgerung bei S. D. Krasner, Sovereignty: Organized Hypocrisy, Princeton 1999, S. 163. 111 Vgl. J. W. Derby, Castlereagh, London 1976, S. 209f. 112 Vgl. W. Hinde, Georg Canning, London 1973, S. 384ff., S. 405ff.

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nach einem Ende der türkischen Massaker gab wohl letztlich den Ausschlag für den Interventionsbeschluß. Weder wirtschaftliche noch strategische Interessen waren im griechischen Fall dominant. Großbritannien und Frankreich waren mit dem ohnehin geschwächten und militärisch wenig bedrohlichen Osmanischen Reich gut zurechtgekommen; sie benötigten es weiterhin als Gleichgewichtselement gegen ein erstarkendes Rußland und sahen keinen Grund, es unnötig zu demütigen. Als Absatzmarkt und Rohstoffquelle war Griechenland – im Gegensatz zu einigen der jungen Republiken Lateinamerikas – uninteressant, der Einsatz zu seinen Gunsten mithin ohne ökonomischen Sinn. Nur indirekt spielten wirtschaftliche Faktoren hinein: Die langwierigen Seekämpfe zwischen der türkisch-ägyptischen Flotte und griechischen Korsaren hatten die mediterrane Handelsschiffahrt in Turbulenz versetzt. Eine Pazifikation der Region war daher auf längere Sicht unvermeidlich. Daß sie aber politisch zugunsten der Griechen ausfiel, lag hauptsächlich an der durch die Presse bekanntgemachten Barbarei der türkischen Unterdrückungsmaschine. In dieser Hinsicht hatte die sezessionistische Intervention der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts einen humanitären Hintergrund. Sie kommt daher dem vierten und letzten Fall der hier entwickelten Typologie nahe: der humanitären Intervention sensu strictu. Eine solche mag zu definieren sein als ein äußeres Eingreifen in einen Staat, das nicht durch egoistische Absichten nationaler Machterweiterung oder Interessenwahrung motiviert ist, sondern allein durch die Absicht, entweder (1) die Bevölkerung eines anderen Staates vor dessen eigener, durch Handeln oder Unterlassen verbrecherischen Regierung zu schützen und die Ablösung dieser Regierung herbeizuführen oder (2) durch militärisch gestützte Zwangsschlichtung das Ende eines Bürgerkrieges oder ethnischen Konflikts zu erreichen. Humanitäre Interventionen in diesem Sinne hat es in der Geschichte sehr selten gegeben. Da einzelne Akteure der internationalen Politik nahezu per definitionem partikulare Interessen verfolgen und selbst bei universalistischer Rhetorik kaum je ihrem machtpolitischen Egoismus zuwiderhandeln, setzen humanitäre Interventionen im Grunde funktionierende internationale Organisationen sowie die Anerkennung entsprechender Völkerrechtsnormen voraus. Sie sind deshalb vor allem eine Angelegenheit der Gegenwart und vermutlich der Zukunft. Das Eingreifen der Staatengemeinschaft auf dem Balkan, insbesondere 1999 im Kosovo, hat diese Art der Intervention ins Zentrum der Debatten gerückt. Mehr Erfolg als die Suche nach ausschließlich humanitär motivierten Interventionen verspricht diejenige nach solchen, hinter welchen ein komplizierteres Motivgemenge verborgen liegt, das durchaus realpolitisch-egoistische Elemente enthält, die aber insgesamt zu humanitär wohltätigen Folgen geführt haben. Ein Beispiel dafür wäre das Eingreifen Vietnams im benachbarten Kambodscha im Januar 1979, das den Massenmord der Roten Khmer an der Bevöl316

kerung ihres eigenen Landes beendete.113 Vietnam begründete seine Invasion mit der Notwendigkeit, das Mordregime Pol Pots zu beenden. Tatsächlich aber hatte Vietnam zu den Menschenrechtsverletzungen in Kambodscha, die schon mit der Eroberung Phnom Penhs durch die Khmer Rouge im April 1975 und dem sich anschließenden Zwangstransport der städtischen Bevölkerung auf das Land begonnen hatten, so lange geschwiegen, bis es politisch opportun wurde, das humanitäre Argument zu aktivieren. Strategisch stand hinter der vietnamesischen Intervention eine Art von südostasiatischer Brešnev-Doktrin: die Vormacht Südostasiens habe das Recht und die Pflicht, im Interesse indochinesischer sozialistischer Solidarität innerhalb einer großräumigen Kontrollzone für Ordnung zu sorgen.114 Es hat denn auch in der Völkergemeinschaft an enthusiastischer Zustimmung durchaus gefehlt. Angeführt von China und den ASEAN-Staaten, die sonst ideologisch wenig miteinander verbindet, fanden sich während der achtziger Jahre wachsende Mehrheiten in der UN zusammen, um das vietnamesische Vorgehen zu verurteilen. Trotz der alles andere als lupenrein humanitären Motive der vietnamesischen Regierung und der ablehnenden Rechtsstandpunkte zahlreicher Drittstaaten muß aber anerkannt werden, daß die Intervention humanitär begrüßenswerte Ergebnisse zeitigte. Ob der Fall der Intervention Tanzanias 1978/79 gegen das Terrorregime Idi Amins in Uganda, die formal gesehen die Inanspruchnahme des Rechts auf Selbstverteidigung gegenüber einer militärischen Provokation Ugandas war, ähnlich zu beurteilen ist, bliebe zu diskutieren; jedenfalls war Tanzania selbst vorsichtig genug, seine Militäraktion nicht als humanitäre Maßnahme zu deklarieren.115 Auch die US-Invasion Grenadas im Oktober 1983 ist trotz ihres offensichtlichen Big-Stick-Hintergrundes von der großen Mehrheit der Bevölkerung der Karibik-Insel offenbar als Befreiung, in diesem Fall von einer einheimischen Links-Diktatur, empfunden worden.116 Die Beendigung der Menschenopfer in Mexiko durch Hernán Cortés in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts würde in denselben Zusammenhang gehören. 113 Vgl. M. Leifer, Vietnam’s Intervention in Kampuchea: The Rights of State vs. the Rights of People, in: Forbes u. Hoffman (Hg.), Political Theory, S. 145–156. Zur Internationalisierung des Kambodscha-Problems vgl. S. R. Ratner, The United Nations in Cambodia: A Model for Resolution of Internal Conflicts? in: L. F. Damrosch (Hg.), Enforcing Restraint: Collective Intervention in Internal Conflicts, New York 1993, S. 241–273; M. W. Doyle, War and Peace in Cambodia, in: Walter u. Snyder (Hg.), Civil Wars, S. 181–217. Zum kambodschanischen Hintergrund vgl. D. P. Chandler, The Tragedy of Cambodian History: Politics, War, and Revolution since 1945, New Haven 1991, S. 236ff. 114 Leifer, Vietnam’s Intervention, S. 146. 115 Den Fall stellt vor: C.Thomas, New States, Sovereignty and Intervention, Aldershot 1985, S. 90–121, bes. S. 119. 116 Vgl. M. W. Doyle, Grenada: An International Crisis in Multilateral Security, in: A. R. Day u. M. W. Doyle (Hg.), Escalation and Intervention: Multilateral Security and Its Alternatives, Boulder, Col. 1986, S. 138.

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Schließlich wäre ein vielfältiger und bei den Zeitgenossen ebenso wie noch in der heutigen Forschung umstrittener Komplex zu diskutieren: die Unterdrückung von Sklavenhandel und Sklaverei. Es können kaum Zweifel daran bestehen, daß das von Großbritannien angeführte Vorgehen gegen den Sklavenhandel seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht kurzschlüssig auf die Modernisierungsbedürfnisse der »first industrial nation« zurückgeführt werden kann, die ihre weltweiten Interessen der Kapitalverwertung ohne Sklaverei besser zu realisieren hoffte.117 Am Ursprung der Abolitionsbewegung steht vielmehr ein genuin humanitäres Interesse, das sich aus den Werten der Spätaufklärung und viel stärker noch aus dem religiösen »evangelical revival« seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts speiste.118 Daß die politischen Entscheidungsträger auf diese Linie eingeschworen werden konnten, verdankte sich nicht zuletzt intensiver und beharrlicher Lobby-Bemühungen der Sklavereigegner in Westminster. Die konkrete Folge war das Verbot des Sklavenhandels mit nicht-britischen Kolonien 1806, mit britischen Kolonien 1807 und schließlich 1832 die Abschaffung der Sklaverei als Rechtsinstitut im gesamten britischen Kolonialreich. Nach dem Parlamentsbeschluß von 1807 übernahm die britische Kriegsmarine auf allen Weltmeeren Polizeiaufgaben, brachte Sklavenschiffe auf, beschlagnahmte sie und befreite ihre menschliche Fracht. Der Kampf gegen die Sklaventransporte verband sich besonders vor Nordafrika und im Indischen Ozean mit dem gegen irreguläre bewaffnete Kräfte zur See, die pauschal unter dem Sammelnamen »Piraten« rubriziert wurden. Ebenso wie das Imperium Romanum sah sich das britische Weltreich als Ordnungsmacht der Meere. Der Kampf gegen die Sklaverei wurde dann im späten 19. Jahrhundert in Afrika fortgesetzt.119 Er führte immer wieder zu Eingriffen in einheimische Staaten, die des Sklavenraubs und der Sklavenhaltung bezichtigt wurden, ja, das Vorgehen gehen die Sklaverei wurde zu einem mehrfach verwendeten Legitimati117 Das dürfte das Ergebnis der langen Debatte um Eric Williams’ berühmtes Buch »Capitalism and Slavery« (1944) sein. Vgl. M. Conzillius, Eric Williams: Capitalism and Slavery. Geschichtsschreibung als Mittel zur kulturellen Dekolonisation, in: Periplus, Jg. 5, 1995, S. 85–97. 118 Noch frühere religiöse Anfänge können in der Kritik der Quäker an der Sklaverei gesehen werden. Vgl. A. Wirz, Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem, Frankfurt a.M. 1984, S. 188. Vgl. zum Diskussionsstand: S. Drescher, Trends in der Historiographie des Abolitionismus, in: GG, Jg. 16, 1990, S. 187–211; Ders., Whose Abolition? Popular Pressure and the Ending of the British Slave Trade, in: P&P, Nr. 143, Mai 1994, S. 136–166. Grundlegende Werke sind R. Blackburn, The Overthrow of Colonial Slavery 1776–1848, London 1988; D. B. Davis, The Problem of Slavery in the Age of Revolution, 1770–1823, Ithaca 1975; Ders., Slavery and Human Progress, New York 1984; S. Drescher, Capitalism and Antislavery: British Mobilization in Comparative Perspective, London 1986. Siehe auch Kapitel 14 in diesem Band. 119 Vgl. S. Miers, Britain and the Ending of the Slave Trade, London 1975; Dies. u. R. Roberts (Hg.), The End of Slavery in Africa, Madison, Wisc. 1988; R. Howell, The Royal Navy and the Slave Trade, London 1987. Vgl. auch H. Berding, Die Ächtung des Sklavenhandels auf dem Wiener Kongress, in: HZ, Jg. 219, 1974, S. 265–89.

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onsargument bei der territorialen Expansion im Zeitalter des Hochimperialismus. Die Deutschen benutzten es in Ostafrika, die Briten in Sansibar.120 Kolonialskeptische Teile der europäischen Öffentlichkeit, etwa viele deutsche Katholiken, konnten über die »humanitäre« Brücke der Antisklavereikampagne für die Kolonialpolitik gewonnen werden.121 Der vierte Typ imperialer Intervention läßt sich, so wäre zusammenzufassen, als grundsätzlich humanitär – also nicht bloß durch die Bedrohung des Lebens eigener Staatsangehöriger – inspirierter Eingriff einer Mächtegruppe in einen Drittstaat in der Geschichte kaum oder gar nicht finden. (Auch die Unparteilichkeit der Intervenienten hat sich stets als Illusion erwiesen.)122 Dies verwundert nicht angesichts des spätestens seit dem großen Völkerrechtler Emmeric de Vattel allgemein anerkannten Grundsatzes der Nicht-Intervention sowie der späten Einführung von Menschenrechtsnormen in das Völkerrecht, angesichts des Fehlens wirksamer übernationaler Organisation (gar mit eigener militärischer Exekutive) sowie angesichts der Tatsache, daß solche Interventionen in der Regel kostspielig und aufwendig gewesen wären und, wie heutige Beispiele zeigen, das Problem dauerhafter Stabilisierung offen gelassen hätten. Hingegen findet man reichlich Beispiele dafür, daß Regierungen ihre Untertanen, oft ethnische oder religiöse Minderheiten, unter den Augen des untätig zuschauenden Auslandes drangsalierten oder abschlachteten. Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs ist ein besonders krasses Beispiel aus einer größeren Klasse von Fällen. Die Antisklavereibewegung stellt insofern einen Sonderfall dar, als sich die Abolition rechtlich nur auf den eigenen Herrschaftsbereich beziehen konnte – das Parlament von Westminster verbot die Sklaverei nur im britischen Empire – und in der Durchführung oft gegen private Sklavenhändler exekutiert wurde. Sie ist aber deswegen für die heutige Interventionsdebatte nicht ohne Interesse, weil schon in den großen Auseinandersetzungen um die Abolition viele derjenigen Gedanken vorgetragen wurden, von denen die gegenwärtige Diskussion immer noch zehrt. Die Intervention ist die bevorzugte Aktionsform des Stärkeren in einer asymmetrischen Machtbeziehung. Genauer sollte es heißen: desjenigen, der sich für den Stärkeren hält, denn manche Intervention machte Groß-, Weltund Supermächten die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten schmerzhaft bewußt, entlarvte sie gar, nach einem berühmten Wort Mao Zedongs, als Papiertiger. Das Ideal der Intervention ist die möglichst verlustarme Blitzaktion, 120 Vgl. K. J. Bade, Antisklavereibewegung in Deutschland und Kolonialkrieg in DeutschOstafrika 1888–1890, in: GG, Jg. 3, 1977, S. 31–58; A. Sheriff, Slaves, Spices, and Ivory in Zanzibar, London 1987, S. 223–38. 121 Vgl. H. Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn 19912, S. 68 f. 122 Vgl. R. K. Betts, The Delusion of Impartial Intervention, in: FA, Jg. 73:6, Nov./Dez. 1994, S. 20–33.

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der »chirurgische« Zugriff, der mit möglichst geringem Mitteleinsatz die Machtverhältnisse zugunsten des Intervenienten korrigiert. Dieses Ideal ist nicht allzu häufig verwirklicht worden. Daß, wie 1956 in Ungarn oder 1989 in Panama, die Hauptziele innerhalb weniger Stunden erreicht wurden, ist uncharakteristisch. Interventionen haben sich zuweilen über Jahre oder gar Jahrzehnte hingezogen und zu hohen Opferzahlen geführt: Die USA verloren in Vietnam 58.159 Soldaten, die Sowjetunion in Afghanistan vermutlich um die 75.000.123 Die Verluste unter der einheimischen Bevölkerung der betroffenen Länder waren um ein Vielfaches höher. Man rechnet mit bis zu 1,7 Millionen vietnamesischen Toten durch Kriegseinwirkung für die Jahre zwischen 1964 und 1975.124 Sofern länger andauernde militärische Interventionen auf einheimischen Widerstand stoßen, ist Guerilla- oder Partisanenkrieg die vorherrschende Form. Besonders im städtischen Umfeld treten – vor allem im 20. Jahrhundert – daneben passiver Widerstand und ziviler Ungehorsam. Das Gewaltprofil der Intervention unterscheidet sich zwar nicht eindeutig, aber doch erkennbar von dem des zwischenstaatlichen Krieges. Die Intervention ist eine Art von Krieg im Frieden. Sie wird nicht unternommen, um die Gewichte innerhalb einer gegebenen internationalen Ordnung deutlich zu verändern, sondern überhaupt nur dann, wenn kriegerische Reaktionen anderer Großmächte nicht zu erwarten sind. Dies eben ist das Imperiale an der Intervention: Der Intervenient handelt nicht im spieltheoretisch faßbaren Interdependenzsystem von ungefähr gleichrangigen machtstaatlichen Akteuren; er verhält sich vielmehr als Zentrum zu einer Peripherie. Handelt es sich gar um eine innere Peripherie, der gegenüber ausschließliche Kontrolle oder gar Souveränität beansprucht wird – Rußland im Verhältnis zu Tschetschenien wäre ein Beispiel –, dann kann die Intervention im Inneren durch das Beharren auf Nicht-Intervention von außen abgeschirmt werden. Sie erscheint dann propagandistisch als intra-imperiale Polizeiaktion. Auch besitzergreifende Interventionen sind bisweilen auf diese Weise gerechtfertigt worden. So versuchte Japan, seine Okkupation der Mandschurei im Herbst 1931 als gleichsam stellvertretendes Eingreifen einer »zivilisierten« Ordnungsmacht in das »Chaos« und die »Barbarei« Chinas anzupreisen. Teile der Öffentlichkeit im Westen folgten ihm dabei und wiegten sich in der Illusion, die eigenen Interessen durch das japanische Militär angemessen vertreten zu sehen.125

123 S. I. Kutler (Hg.), Encyclopedia of the Vietnam War, New York 1996, S. 104; B. W. Jentleson u. A. E. Levite, The Analysis of Protracted Foreign Military Intervention, in: A. E. Levite u.a. (Hg.), Foreign Military Intervention: The Dynamics of Protracted Conflict, New York 1992, S. 1–22, hier S. 10. 124 J. P. Harrison, The Endless War: Fifty Years of Struggle in Vietnam, New York 1982, S. 301. 125 Dies zeigt am Beispiel Frankreichs J. Wieck, Weg in die »Décadence«. Frankreich und die mandschurische Krise 1931–1933, Bonn 1995.

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Der alte Streit zwischen politischen und sozio-ökonomischen Deutungen des Imperialismus ließe sich entschärfen, würde man der imperialen Intervention größere Aufmerksamkeit schenken. Interventionen gehen mitunter auf die lokale Initiative von »men on the spot« zurück, die sich von Tatendrang und Karrierehoffnung antreiben lassen; der Überfall auf die Mandschurei vom 18. September 1931 wäre dafür ein Beispiel.126 Interventionen können aber ebensogut explizit der Verteidigung und Ausweitung wirtschaftlicher Interessen dienen, zumal dann, wenn diese sich als Interessen der nationalen Sicherheit zu camouflieren verstehen. Die Intervention ist in der geschichtlichen Wirklichkeit oft ein polyvalenter Akt. Eben das macht sie geeignet, dogmatisch und mit Ausschließlichkeitsanspruch verfochtene Interpretationsmuster zu relativieren.

126 Vgl. die klassische Studie S. Ogata, Defiance in Manchuria: The Making of Japanese Foreign Policy 1931–1932, Berkeley 1964.

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13. Der europäische Nationalstaat des 20. Jahrhunderts. Eine globalhistorische Annäherung

Zu Nation, Nationalstaat und Nationalismus scheint einstweilen alles gesagt zu sein. Ein reichhaltiges Instrumentarium theoretischer Analyse, das zu eklektischem Umgang einlädt, liegt bereit.1 Daß der Nationalismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt seiner weltweiten Bedeutung erreicht hat, wird allgemein anerkannt. Zugleich haben der Zusammenbruch der DDR und die Osterweiterung der Bonner Republik das Problem des deutschen Nationalstaates und damit die Kontinuitätsfrage wieder auf die Tagesordnung politisch-historischer Debatten gesetzt, ohne daß sich gänzlich neue Bewertungen offenbart hätten. Die folgende Betrachtung will weder der Nationalismusforschung, die der Autor nur in Ausschnitten überblickt, ein neues Glanzlicht aufstecken noch zur Urteilsbildung über Nation und Nationalismus der Deutschen beitragen. Sie verdankt ihre Entstehung der ungewöhnlichen Idee Christian Meiers, einen Historiker Außereuropas und der Imperien um einen Kommentar zu Europa und seinen Nationalstaaten zu bitten. Ich nähere mich dieser nicht untückischen Herausforderung mit der respektlosen Naivität des Dilettanten, »welcher sich ein Vergnügen aus dem macht, woraus Andere sich eine Qual machen« (Jacob Burckhardt).2

I. Am 20. Mai 2000 schrieb das Londoner Wochenmagazin The Economist in einem Leitartikel: »Even the founding fathers of the European Union, France and Germany, seem unsure now what they want from it. The old imperative of post-war reconciliation has faded and nothing comparable has taken its place.«3

1 Es gibt inzwischen bereits eine umfangreiche Einführungsliteratur. Ein besonders breites Spektrum an theoretischen Positionen präsentiert J. Hutchinson u. A. D. Smith (Hg.), Nationalism, Oxford York 1994. Unentbehrlich ist D. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: NPL, Jg. 40, 1995, S. 190–236. 2 J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, h. v. P. Ganz, München1982, S. 122. 3 The Economist, 20. Mai 2000, S. 39.

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The Economist vertritt seit jeher eine europafreundliche Linie. Es spricht hier also nicht die Stimme des »British euroscepticism«. Auch spiegeln diese Sätze nicht allein die jüngste in einer langen Reihe unvermeidlicher Krisen der europäischen Gemeinschaftsbildung.4 Das Zitat, umfassender interpretiert, macht an der Jahrhundertwende deutlich, daß das 20. Jahrhundert keineswegs durch eine kontinuierliche und stetige Entwicklung vom Nationalstaat zu suprastaatlichen Verbünden gekennzeichnet war.5 Obwohl es einen solchen Trend unzweifelhaft gibt und er aus europäischer Sicht sogar als eine der bedeutendsten und erfreulichsten Entwicklungslinien der Epoche betrachtet werden könnte, besteht auch hier – wie in vielen anderen Hinsichten – kein Anlaß zu selbstgefälliger Fortschrittszufriedenheit. Es ist nämlich während des gesamten 20. Jahrhunderts weltweit zwar zu Verflechtungen aller Art und zur Entstehung unzähliger internationaler Organisationen gekommen, in keinem spektakulären Fall jedoch zu einer dauerhaft beständigen freiwilligen Amalgamation von Nationalstaaten und nur in Westeuropa seit den frühen fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu der historisch beispiellosen Erscheinung von Supranationalität, also der institutionell verankerten »verfassungsrechtlichen Durchsetzbarkeit öffentlicher Gemeinschaftsgewalt gegen Staatsgewalt«,6 anders gesagt: der Herausbildung einer bürokratisch teilautonomen Handlungssphäre oberhalb der Einzelstaaten, die Gesamtinteressen vertritt, Souveränitätsbefugnisse wahrnimmt, ohne dabei aber die Mitgliedsgesellschaften einem größeren soziokulturellen Homogenisierungsdruck zu unterwerfen.7 Man wird bei einem Thema wie diesem nicht ohne begriffliche Vorklärungen auskommen. Sie betreffen zum einen den »Nationalstaat«, zum anderen das Konzept der suprastaatlichen oder supranationalen Integration. Damit wird bereits etwas von der Argumentationsstrategie deutlich, die hier verfolgt werden soll: Ausgangspunkt sind nicht »Nation« und »Nationalismus«, von denen dann, wie es oft oder gar meist geschieht, »Nationalstaat« abgeleitet werden würde. Wir beginnen beim Nationalstaat. 4 Soeben hatte der französische Innenminister Jean-Claude Chevènement auf eine Europarede des deutschen Außenministers Joschka Fischer vom 12. Mai 2000 mit der Bemerkung reagiert, hinter den deutschen Föderationswünschen verberge sich der alte Traum von Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, ja sogar der Nationsbegriff des Nationalsozialismus. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.5.2000. Kurzfassung der Rede des Bundesaußenministers in: ebd., 15.5.2000. 5 Das diskontinuierliche Verlaufsmuster der wirtschaftspolitischen Integration Europas macht z.B. deutlich: G. Ambrosius, Wirtschaftsraum Europa. Vom Ende der Nationalökonomien, Frankfurt a.M. 1996, S. 64ff. 6 So die Definition von Supranationalität durch den Europarechtler H. P. Ipsen, zit. nach G. Thiemeyer, Supranationalität als Novum in der Geschichte der internationalen Politik der fünfziger Jahre, in: Journal of European Integration History, Jg. 4, 1998, S. 5–21, hier S. 5f. 7 Vgl. auch M. R. Lepsius, Die Europäische Gemeinschaft und die Zukunft des Nationalstaates, in: Ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen1993, S. 249–264.

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Mit welcher der zahlreichen Definitionen von »Nationalstaat« man anfängt, ist ziemlich gleichgültig. Kritik führt in jedem Fall zum Ziel. 1995 hat Otto Dann eine, wie er sagt, »definitorische Umschreibung« des Nationalstaates vorgeschlagen, die folgendermaßen lautet: »Der moderne Nationalstaat ist ein Staat, in dem die Nation als die Gesamtheit der Staatsbürger der Souverän ist, [der] die politische Herrschaft festlegt und kontrolliert. Die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger an den Institutionen, Leistungen und Projekten des Staates ist sein leitendes Prinzip.«8 Das ist eine wohldurchdachte und für viele Zwecke brauchbare Begriffsbestimmung, aber doch eine, die mit solch hohen normativen Ansprüchen an politische Partizipation daherkommt, daß sie eine übergroße Zahl von Fällen ausschließt. Polen unter kommunistischer Herrschaft, Spanien unter Franco, Südafrika bis zum Ende der Apartheid: das wären dann alles keine Nationalstaaten gewesen – eine Kategorisierung, die der Intuition zuwiderläuft. Und wie wäre Großbritannien einzustufen, das erst 1928 das allgemeine Wahlrecht für Frauen einführte, und das Frankreich der III. Republik, das dies erst 1944 tat?9 Für manche Argumentationszusammenhänge empfiehlt sich eine formalere und zugleich historisch konkreter verortete Definition. Hagen Schulze hat dargelegt, wie in Europa zuerst der »moderne Staat« auf den Plan tritt, wie sich in einer zweiten Phase »Staatsnationen« und dann »Volksnationen« herausbilden oder sich selbst als solche definieren und wie erst in der Zeit nach der Französischen Revolution ein gesellschaftlich breit fundierter Nationalismus – Schulze sagt »Massennationalismus« – das Formgehäuse des Staates annektiert. Hagen Schulze vermeidet eine explizite Definition von »Nationalstaat«, verdeutlicht aber, was er meint, in einem »grand récit«, das in säuberlicher Periodisierung den »revolutionären« (1815–1871), den »imperialen« (1871–1914) und schließlich den »totalen« Nationalstaat (1914–1945) aufeinander folgen läßt.10 In jedem Fall erscheint der Nationalstaat hier als das Kompositprodukt oder die aufhebende Synthese von Staat und Nation: nicht einer virtuellen, sondern einer mobilisierten Nation. Wolfgang Reinhard hat der Diskussion um den historischen Ort des Nationalstaates jüngst eine andere Wendung gegeben, wenn er, im Einklang mit einer offenbar erstarkenden Strömung in der neueren Nationalismustheorie, formuliert: »Die Nation war die abhängige, die Staatsgewalt aber die unabhängige 8 O. Dann, Zur Theorie des Nationalstaates, in: Deutsch-Norwegisches Stipendienprogramm für Geschichtswissenschaften, Bericht über das 8. deutsch-norwegische Historikertreffen in München, Mai 1995, Oslo 1996, S. 59–70, hier S. 69. Eine solche Definition fehlte noch unter den »Grundbegriffen« in O. Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, München 19942, S. 11–21. 9 In Italien und Belgien mußten Frauen sogar bis in die Nachkriegszeit auf ihr Wahlrecht warten. 10 Vgl. H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994.

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Variable der historischen Entwicklung.«11 Demnach wäre – ebenso allgemein gesagt – der Nationalstaat, den auch Reinhard erst im 19. Jahrhundert erkennen kann,12 nicht das nahezu unvermeidliche Resultat einer massenhaften Bewußtseinsbildung und Identitätsformierung »von unten« – so sah es schon die politische Romantik –,sondern das Produkt eines konzentrierenden Machtwillens »von oben«.13 Die Träger eines solchen Machtwillens bedienen sich dessen, was der Soziologe Craig Calhoun als »the rhetoric of the nation« in zehn Punkte oder Topoi zerlegt hat: (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10)

Idee der eindeutigen Grenzen; Souveränität nach außen;14 Unteilbarkeit; Ideal von Regierung als Ausdruck des »Volkswillens« (wie auch immer dieser sich artikuliert); Mobilisierung der Bevölkerung durch Propagierung nationaler Ziele; Unmittelbarkeitsstellung des Individuums zum Ganzen der Nation; Ideal einer homogenen Kultur; kollektive Überzeugung von einer gemeinsamen ethnischen Herkunft; zeitliche Tiefe und Kontinuität (suprahistorische nationale »Mythen«); Glaube an die besondere Bedeutung und Aura nationaler Orte.15

Der Nationalstaat wäre demnach nicht die staatliche Hülle einer gegebenen Nation. Er wäre ein »Projekt« von Staatsapparaten und machthabenden Eliten, auch, wie man ergänzen müßte, von revolutionären oder antikolonialen Gegeneliten. Der Nationalstaat knüpft meist an ein bereits vorhandenes Nationalgefühl an, instrumentalisiert es dann aber für eine Politik der Nationsbildung. Er setzt es sich zum Ziel, eine homogene Kultur mit eigenen Symbolen und Werten zu schaffen.16 Daher gibt es nicht nur Nationen auf der Suche nach 11 W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 443. 12 Zur Frage der »Modernität« von Nationsbildung und des Epochenbruchs um 1800 vgl. resümierend und zugunsten der Diskontinuitätsthese argumentierend: D. Langewiesche, »Nation«, »Nationalismus«, »Nationalstaat« in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz, in: Ders. u. G. Schmidt (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 9–30. 13 Man hat dies idealtypisch in einem Gegensatz zwischen Perennialismus (der romantischen Idee von der Ursprünglichkeit von Nationen) und Modernismus (der Vorstellung von Nationen als Konstruktionen) zu fassen versucht: A. D. Smith, Nationalism and Modernism: A Critical Survey of Recent Theories of Nations and Nationalism, London 1998, S. 22f.; Ders., The Nation in History: Historiographical Debates about Ethnicity and Nationalism, Hanover, NH 2000, S. 27– 51. 14 Man könnte mit Hobsbawm und Langewiesche verschärfen: »Fähigkeit zur Eroberung« (Langewiesche, Nation, S. 195) – in der Rhetorik bisweilen zur Drohung gesteigert. 15 C. Calhoun, Nationalism, Minneapolis 1997, S. 4f. 16 Vgl. M. Guibernau, Nationalisms: The Nation-State and Nationalism in the Twentieth Century, Cambridge 1996, S. 48. Mit dieser Betonung des inneren »nation-building« und überhaupt

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einem eigenen Nationalstaat, sondern umgekehrt auch Nationalstaaten auf der Suche nach der perfekten Nation, mit der sie sich im Idealfall zur Deckung bringen könnten. Wie Wolfgang Reinhard richtig beobachtet, sind die meisten Staaten, die sich heute als Nationalstaaten bezeichnen, in Wahrheit multinationale Staaten mit erheblichen Anteilen sich zumindest im vorpolitisch-gesellschaftlichen Raum organisierender Minderheiten.17 Diese Minderheiten unterscheiden sich vor allem dadurch voneinander, ob ihre politischen Führer die Existenz des Gesamtstaates separatistisch in Frage stellen wie Basken und Tamilen oder ob sie sich mit Teilautonomie zufriedengeben wie etwa Schotten, Katalanen oder Frankokanadier. Ein weiterer Fall sind die Diasporaminderheiten, wie sie vor allem durch Arbeitsimmigration entstanden sind, etwa die Polen im Deutschen Kaiserreich oder die türkische Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. Es bringt gewisse Vorteile mit sich, den Nationalstaat von seinen Zielen und seinen ideologischen Grundlagen (oder besser: seiner Rhetorik) her verstehen zu wollen. Erst dann gewinnt man, weltweit gesehen, eine hinreichend große Zahl von Fällen. Erst dann werden auch die allgegenwärtigen Spannungen zwischen Programm und Wirklichkeit sichtbar. Nicht zuletzt erleichtert ein solches Modell den Zugang zu Suprastaatlichkeit und Supranationalität. Noch mehr als Nationalstaatsbildung ist dies ein politisch angestoßenes Elitenprojekt, das keineswegs naturwüchsig aus wirtschaftlichen Zwangslagen und mentalen Substraten – etwa der vielbeschworenen europäischen Identität18 – emporsteigt. Ebenso stellt sich die Frage, in welcher Weise sich in der Rhetorik der Supranationalität die des Nationalstaates wiederfindet. Wodurch unterscheidet sich programmatisch – und viel weiter sind wir in Europa noch nicht – »nationbuilding« von der Formierung supranationaler Verbünde? Wie lassen sich Craig Calhouns zehn Topoi auf höherer Organisations- und Identifikationsebene wiederfinden? Welche Homogenitätsansprüche werden dort zum Beispiel erhoben? Dies führt zur zweiten Vorklärung, derjenigen des Integrationsbegriffs. Hier muß man grundsätzlich zwischen zwei Formen der Zusammenführung politischer Großverbände unterscheiden: von »objektiven«, nicht-askriptiven Faktoren unterscheide ich mich von W. Connor (Ethnonationalism: The Quest for Understanding, Princeton 1994), mit dessen restriktivem Begriff von »Nationalstaat« es ansonsten manche Berührungspunkte gibt. Vgl. die faire Einschätzung Connors bei Langewiesche, Nation, S. 202–204. 17 Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 443. 18 Vgl.etwa H. Kaelble, Europäische und nationale Identität seit dem Zweiten Weltkrieg, in: W. v. Kieseritzky u. K.-P. Sick (Hg.), Demokratie in Deutschland: Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Essays, München 1999, S. 394–419 (mit ausführlichen Literaturangaben). Vgl. aber auch die grundsätzliche Kritik am Identitätsbegriff bei L. Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000 (zu Europa S. 525–551).

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(1) Die erste Form ist die Zwangsintegration »von oben«, die im übrigen niemals ganz ohne die Mithilfe von einigen der Integrierten auskommt. Man kann sie die imperiale Integration nennen. Sie geht bei Lockerung der Bindung und größerer Selbständigkeit der Teileinheiten fließend in den Typus der hegemonialen Integration über. (2) Die zweite Form ist freiwilligen und assoziativen Charakters und zeigt größerere Anteile einer Initiative »von unten«, wobei auch hier meinungsbildende und organisierende Eliten unerläßlich sind. Es bietet sich dafür verfassungsgeschichtlich der Name der föderalen Integration an. Beide Formen kommen in der historischen Wirklichkeit oft in Verbindung miteinander vor. So haben sich in Kanada schrittweise seit 1867 und in Australien im Jahre 1901 unter dem imperialen Schirm des britischen Weltreichs einzelne Kolonien zu Föderationen zusammengeschlossen, die sich – in Australien deutlicher als in Kanada – von Anfang an als Nationalstaaten verstanden. Ähnlich vollzogen sich die Anfänge der europäischen Wirtschaftsintegration nach 1945 im Zusammenhang der hegemonialen Integrationspolitik der USA, deren Beginn man auf die Schaffung des Systems von Bretton Woods datieren kann. Geir Lundestad hat treffend von »«empire» by integration« gesprochen.19 Auch die deutschen und italienischen Nationalstaatsbildungen des 19. Jahrhunderts, die Theodor Schieder in einer vielverwendeten Typologie als »unifizierende« Nationalstaatsbildungen gekennzeichnet hat,20 geschahen im Zusammenspiel beider Integrationstypen: die preußischen »Einigungskriege« trugen einen deutlich imperialen Charakter und führten nicht grundlos zu einem deutschen »Reich«, nahmen aber Bestrebungen eines assoziativen deutschen (nicht preußischen) Nationalismus auf, so daß das Endresultat ein föderativ geordnetes Reich war. Alle diese Beispiele belegen auch, daß Integrationsvorgänge stets von innen wie von außen betrachtet werden müssen. Die europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts definierten sich maßgeblich durch souveräne Handlungsfreiheit im internationalen Raum, locker gebunden durch das ungeschriebene Regelwerk eines Gleichgewichtssystems, welches nach der Jahrhundertmitte zunehmend an Verbindlichkeit verlor.21

19 G. Lundestad, »Empire« by Integration: The United States and European Integration, 1945– 1997, Oxford 1998. 20 Vg. Th. Schieder, Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hg. v. O. Dann und H.-U. Wehler, Göttingen 1991, S. 69f. 21 Vgl. A. Doering-Manteuffel, Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815–1856, Göttingen 1991, S. 187ff.

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II. Das 19. Jahrhundert gilt im Rückblick der Historiker weithin als das »klassische« Zeitalter des Nationalstaates. Man denkt vor allem und zu Recht an die staatlichen Aspirationen von Nationalbewegungen22 und daran, wie sich innerhalb des europäischen Staatensystems den »alten« Nationalstaaten England und Frankreich die Neugründungen Deutschland und Italien hinzugesellten. Blickt man aber über diesen Kern hinaus, dann fällt es schwerer, eine Dominanz des Typus »Nationalstaat« festzustellen. Zum europäischen Staaten-»System« selbst gehörten neben den vier genannten Großmächten23 drei weitere, die sich kaum als Nationalstaaten apostrophieren ließen. Das Osmanische Reich, spät auch offiziell in das europäische Staatensystem kooptiert,24 war ein seit sechs Jahrhunderten bestehendes Vielvölkerimperium, in dem in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts nur etwa 60 % der Bevölkerung der muslimischen Glaubensgemeinschaft angehörten25 und unter den Muslimen ethnische Türken nur eine Gruppe unter mehreren bildeten. Ähnlich strukturiert war das durch nichts als das zarische Kaisertum und seine abhängigen Herrschaftsinstrumente Bürokratie und Militär zusammengehaltene russische Reich, in dem nach der Volkszählung von 1897 Russen nur einen Anteil von 44 % ausmachten – bei rückläufiger Tendenz.26 Die Modernisierung des Reiches, die nach der Jahrhundertmitte begann, führte keineswegs zu einer Angleichung von Lebensverhältnissen und Weltsichten unter den verschiedenen Völkerschaften, sondern bewirkte durch einen verstärkten internen Kolonialismus eine Zunahme von struktureller Heterogenität.27 Auch das Habsburgerreich war ein dynastisches Kontinentalimperium von polyethnischer Zusammensetzung. Es verdiente allerdings viel weniger als das Zarenreich das Etikett eines »Gefängnisses der Völker«, ließ es doch zumindest den magyarischen Magnaten nach 1867 Spielräume zu einer quasi-nationalstaatlichen Politik und den slawischen Völkern vergleichsweise große kulturelle Entfaltungschancen.28 Schließlich Großbritannien. Es wird gemeinhin 22 Die Zusammenhänge zwischen nationalen Bewegungen und der Schaffung von Staatlichkeit sind in der systematischen Literatur bisher wenig beachtet worden. Vgl. aber J. Breuilly, Die Voraussetzungen erfolgreicher Nationalbewegungen, in: Comparativ, Jg. 8, 1998, S. 14–46. 23 Auch einige kleinere Staaten gehörten dazu und spielten zeitweise sogar eine wichtige Rolle, man denke an Belgien. 24 Vgl. Th. Naff, The Ottoman Empire and the European States System, in: H. Bull u. A. Watson (Hg.), The Expansion of International Society, Oxford 1984, S. 143–169, hier S. 168. 25 D. Quataert, The Age of Reforms, 1812–1914, in: H. Inalcik (Hg.), An Economic and Social History of the Ottoman Empire, Bd. 2: 1600–1914, Cambridge 1994, S. 759- 943, hier S. 782. 26 A. Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1992, S. 323 (Tabelle). 27 Ebd., S. 264f. 28 Vgl. R. A. Kann, A History of the Habsburg Empire, 1526–1918, Berkeley 1974, S. 404f.; H. Mommsen, Die habsburgische Nationalitätenfrage und ihre Lösungsversuche im Licht der Gegen-

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mit Frankreich in einem Atemzug als eine der beiden »alten« Nationen Europas genannt. Anders als Frankreich war es jedoch das Zentrum eines weltumspannenden Großreichs, an dessen Eroberung und Regierung Angehörige der zweitwichtigsten Nation im United Kingdom, die Schotten, überproportional beteiligt waren. Die Machteliten in London pflegten mindestens ebenso sehr imperial-kosmopolitische wie kleinbritische oder gar europäische Identifikationen.29 Auch wird zu oft übersehen, daß Großbritannien eine der ältesten Nationen Europas, die Iren, in quasi-kolonialer Abhängigkeit hielt. Kurz: Großbritannien war durchaus kein lupenreiner »moderner« europäischer Nationalstaat. Blickt man über die Grenzen Europas hinaus, dann findet man gegen Ende des 19. Jahrhunderts: drei fast ganz von Europa kolonisierte Weltteile: nämlich Afrika, Süd- und Südostasien und Ozeanien; sowie ein altes polyethnisches Großreich: China. Hier gab es keine Nationalstaaten, wohl aber in Hispanoamerika, wo zumindest Brasilien, Chile, Argentinien und Mexiko so etwas wie »nation-building« in Gang brachten. Nahezu ein Bilderbuchfall für eine solche interne, anfangs auf Außenpolitik geradezu verzichtende Nationsbildung war Japan nach dem Beginn der Meiji-Restauration im Jahre 1868: ein ethnisch sehr weitgehend homogener, kulturell geschlossener, unitarisch regierter Nationalstaat, der dazu noch seit 1895 eine aggressive Machtpolitik betrieb und sich damit in den Augen seiner bedrohten Nachbarn und vor allem der Europäer als Großmacht qualifizierte. Vielleicht ist es nur mäßig übertrieben, in Frankreich und Japan die am deutlichsten ausgeprägten Nationalstaaten des späten 19. Jahrhunderts zu sehen. Schließlich der Sonderfall der Vereinigten Staaten von Amerika: Nach dem Ende des Bürgerkrieges im Jahre 1865 wurde dort unter dem Motto der »reconstruction« mit Eifer an jenem Ordnungs- und Zivilisationsmodell gearbeitet, das die Welt im 20. Jahrhundert trotz unterschiedlicher Wahrnehmungen und Wertungen als »typisch amerikanisch« identifiziert. Bis zum Bürgerkrieg freilich kann von einem Nationalstaat USA nicht die Rede sein. Um 1850 läßt sich eher mit einer Formel aus dem Kalten Krieg von »einem Land, zwei Systemen« sprechen. Global gesehen, war das 19. Jahrhundert nicht unbedingt das Zeitalter des Nationalstaates. Gab es dennoch jenseits der alten und neueren Imperien so etwas wie supranationale Neubildungen? Einige solcher Zusammenhänge – von den verschiedenen sozialistischen, pazifistischen und feministischen Internationalen über das Rote Kreuz bis zum Weltpostverein – werden heute unter dem Stichwort »Internationalismus« beachtet und erforscht.30 Es verdient dabei wart, in: H. A. Winkler u. H. Kaelble (Hg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalität, Stuttgart 1993, S. 108–122, hier S. 110. 29 Dies ist eine der zentralen Aussagen bei P. J. Cain u. A. G. Hopkins, British Imperialism, 2 Bde., London 1993. 30 Vgl. M. Herren, Hintertüren zur Macht: Internationalismus und modernisierungsorientierte

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übrigens Beachtung, wie Emanzipationsbewegungen auf nationaler und internationaler Ebene sich gegenseitig stärken konnten. Aber es fehlten supra-staatliche Organisationen. Daneben darf indes jener Internationalisierungsschub nicht übersehen werden, den die weltweite Verbreitung des Kapitalismus im Zeichen des Freihandels mit sich brachte. Zu den stillen Revolutionen des 19. Jahrhunderts gehört das Verschwinden nahezu sämtlicher Zollschranken in Europa von Portugal bis zu den Grenzen des Zarenreiches. Zwischen 1860 und 1871 entstand eine Freihandelszone, wie sie erst in der Gegenwart wieder geschaffen wird.31 Die britische Handels-, Finanz- und Seemacht exportierte das Freihandelsprinzip zudem auf andere Kontinente, und der – durchaus unter staatlicher Mithilfe und nicht allein als marktwirtschaftliche Jungferngeburt entstandene – Mechanismus des Goldstandards trug zusätzlich zur Integration der Weltwirtschaft bei.32

III. Mit der imperialen Implosion des frühen 20. Jahrhunderts beginnt das eigentliche Zeitalter des Nationalstaates. Das Zarenreich erlebt das Ende des Weltkriegs nicht. Der deutsche Traum von einem gigantischen Ostimperium währt nach dem Diktatfrieden von Brest-Litovsk nur wenige Monate.33 Die Doppelmonarchie geht als Verliererin des Weltkriegs unter. Das osmanische Sultanat, dessen bevorstehendes Ende in Europa seit dem 17. Jahrhundert immer wieder Außenpolitik in Belgien, der Schweiz und den USA 1865–1914, München 2000; M. H. Geyer u. J. Paulmann (Hg.), The Mechanics of Internationalism: Culture, Society, and Politics from the 1840s to World War I, Oxford 2001. Sehr gut zu den ökonomischen Zusammenhängen: J. Foreman-Peck, The Zenith of European Power 1870–1918, in: D. H. Aldcroft u. A. Sutcliffe (Hg.), Europe in the International Economy 1500 to 2000, Cheltenham 1999, S. 102–128, bes. S. 102–113. Zum Internationalismus im 20. Jahrhundert vgl. die konzise Skizze von A. Iriye, The International Order, in: R. W. Bulliet (Hg.), The Columbia History of the 20th Century, New York 1998, S. 229–247. Zu Internationalismus im engeren Sinne als eine auf die Jahrhundertwende zurückgehenden Strategie und Haltung amerikanischer Weltpolitik vgl. F. Ninkovich, The Wilsonian Century: U.S. Foreign Policy since 1900, Chicago 1999, S. 16ff. 31 Vgl. C. P. Kindleberger, The Rise of Free Trade in Western Europe, 1820 to 1875, in: JEH, Jg. 35, 1975, S. 20–44, wiederveröffentlicht in Ders., Comparative Political Economy: A Retrospective, Cambridge, Mass. 2000, S. 74–105. 32 Vgl. B. Eichengreen, Globalizing Capital: A History of the International Monetary System, Princeton 1996, S. 7–44. Die staatlichen Initiativen hinter der Entstehung des Goldstandards betont eine immer noch wertvolle Arbeit: M. de Cecco, Money and Empire: The International Gold Standard, 1890–1914, Oxford 1974, S. 39ff. Vgl. auch als sozialhistorische Ergänzung C. A. Jones, International Business in the Nineteenth Century: The Rise and Fall of a Cosmopolitan Bourgeoisie, Brighton 1987. 33 Vgl. K. Hildebrand, Das deutsche Ostimperium. Betrachtungen über eine historische »Augenblickserscheinung«, in: W. Pyta u. L. Richter (Hg.), Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin 1998, S. 109–124, bes. S. 114, 121f.

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vorhergesagt wurde, hält sich einige Jahre länger als die Häuser Habsburg und Romanov. Seine jungtürkischen Nachfolger leisten gegen die drakonischen Friedensbedingungen der Westmächte erfolgreichen militärischen Widerstand und sichern 1923 dem neuen türkischen Nationalstaat einen günstigen territorialen Rahmen für die bald beginnende Reformpolitik des Kemalismus.34 Die neuen Grenzen im vordem osmanischen Nahen und Mittleren Osten, wo jetzt – als britisches Mandat – die politische Einheit Palästina entsteht, waren schon während des Krieges gezogen worden. Während und nach der Pariser Friedenskonferenz läßt Präsident Woodrow Wilson von seinen Fachleuten die Grenzen in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan nach einer widerspruchsvollen Verbindung von Selbstbestimmung und Ethnopolitik neu bestimmen.35 Nach der globalen Krise der Jahre 1918 bis 1923 hat sich die Weltkarte deutlich verändert. Ein neuer Kranz von Klein- und Mittelstaaten erstreckt sich von Finnland bis zum Persischen Golf. Welchen dieser Staaten man welchen Grad von Nationalstaatlichkeit zusprechen möchte, wäre von Fall zu Fall zu erörtern. Nicht weniger wichtig ist jedoch das für viele unerwartete Überleben einiger der großen Imperien. Die Entente hat unter anderem deshalb den Weltkrieg gewonnen, weil es Großbritannien gelang, die Ressourcen seiner intern schon lange autonomen Dominions Kanada, Australien und Neuseeland heranzuziehen.36 Während Irland sich endlich selbständig macht und die britische Kontrolle über Ägypten reduziert wird, läßt sich der Rest des Empire bewahren; die indischen Unruhen von 1919 bleiben zunächst folgenlos. Frankreich verliert keine seiner Kolonien, gewinnt sogar, ebenso wie Großbritannien, ehemals deutsche und osmanische Kolonialgebiete hinzu. China, seit 1911 eine von den Großmächten bedrängte schwache Republik, bricht wider Erwarten nicht auseinander, sondern übersteht die folgenden kriegerischen Jahrzehnte und lebt unter kommunistischer Führung 1949/50 nahezu in den maximalen Grenzen des 18. Jahrhundert wieder auf: bis heute ein Mittelding zwischen Imperium und Nationalstaat. Schließlich die vielleicht folgenreichste dieser Entwicklungen: Die Bolschewiki gehen aus Bürgerkrieg und Großmächteintervention gestärkt hervor und bringen große Teile der alten zarischen Reichsperipherie wieder unter ihre Herrschaft: die Ukraine, den Transkaukasus, Mittelasien. Nationalstaatsentwicklungen werden überall im Keime erstickt. So hat sich im Widerstreit zwischen Nationalstaat und Imperium der Nationalstaat keineswegs so eindeutig durchzusetzen vermocht, wie es bei Kriegsende 1918/19 weithin erwartet worden war. Man könnte sogar die These wagen, der »imperiale Nationalstaat«, den Hagen Schulze 1914 verschwinden sieht, 34 Vgl. E. J. Zürcher, Turkey: A Modern History, London 1998, S. 158–170. 35 A. Sharp, The Versailles Settlement: Peacemaking at Paris, 1919, Basingstoke 1991. Eine zusammenschauende Interpretation der Neuordnung von Paris bietet D. Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999, S.79ff. 36 So die These bei A. Offer, The First World War: An Agrarian Interpretation, Oxford 1989.

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habe erst in der Zwischenkriegszeit seine wahre Blüteperiode erlebt, kaum gezügelt durch die schwache supra-staatliche Liga des Völkerbundes. Die Liberalisierung der Weltwirtschaft in der Mitte der zwanziger Jahre war von kurzer Dauer. Als 1929 die Weltwirtschaftskrise begann, wurde Autarkie zur beherrschenden Parole. Schrumpfende Märkte warfen die Metropolen auf ihre nunmehr durch Zölle und Handelspräferenzen bewehrten Kolonien zurück. Nie waren die Imperien für Großbritannien, Frankreich und die Niederlande ökonomisch so wichtig wie in den dreißiger Jahren.37 Gleichzeitig erlagen die »neuen« Nationalstaaten, die zwischen 1861 und 1871 entstanden waren – Italien, Japan und Deutschland – unter rechtsautoritär-faschistischen Regimen der imperialen Versuchung zur Eroberung und Ausbeutung benachbarter Großräume. Auch wenn es sich leider noch nicht eingebürgert hat, von einem »Nazi imperialism«38 zu sprechen, so ist doch unübersehbar, daß Deutschland spätestens seit dem Einmarsch in die Tschechoslowakei im März 1939, Italien seit dem Überfall auf Äthiopien 1936 und Japan bereits nach der Invasion der Mandschurei 1931 aufhören, »normale« Nationalstaaten zu sein. Nicht der Erste, sondern erst der Zweite Weltkrieg, vor dessen Beginn eine noch viel schlimmere internationale Anarchie herrscht als vor 1914, wird zum titanischen Kampf der Imperien.39

IV. Die Zäsur am Ende der nächsten Nachkriegszeit, um 1949, war mindestens so tief wie die von 1923. Das deutsch-nationalsozialistische und das japanische Imperium, die übelsten Exemplare dieser Spezies, welche die Geschichte kennt, waren zwischen Stalingrad und Hiroshima niedergekämpft, ihre einstmaligen Metropolen in amerikanische bzw. gesamtwestliche Protektorate verwandelt worden, allerdings solche eines ganz neuen Typs: nicht Ausbeutungsprotektorate oder geopolitische Pufferprotektorate, sondern Erziehungsprotektorate, in denen das Besatzungsregime demokratische Institutionen aufbaut. Die westeuropäischen Überseeimperien waren verschwunden (so das niederländische) oder dem Untergang geweiht. Die Sowjetunion hatte sich um ihr neo-zarisches Reichsgebiet herum einen Kranz von Satellitenstaaten zugelegt: Nationalstaaten, aber solche mit erheblich eingeschränkter Souveränität. 37 Vgl. J. Marseille, Empire colonial et capitalisme français: Histoire d’un divorce, Paris 1984, S. 159; D. K. Fieldhouse, The Metropolitan Economics of Empire, in: J. M. Brown u. Wm. Roger Louis (Hg.), The Oxford History of the British Empire. Bd. 4: The Twentieth Century, Oxford 1999, S. 88–113, bes. S. 89–98. 38 W. Smith, The Ideological Origins of Nazi Imperialism, New York 1986. 39 So auch die Perspektive bei A. D. Harvey, Collision of Empires: Britain in Three World Wars 1792–1945, London 1992.

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Die junge Volksrepublik China holte sich Tibet und Ost-Turkestan zurück, die im 18. Jahrhundert in das Kaiserreich eingegliedert worden waren. In einem Wort: nach 1945 setzte sich zwischen Elbe und Gelbem Meer noch einmal der imperiale Integrationsmodus durch. So jedenfalls sah es aus. Aber das im Westen so genannte »Sowjetimperium« war eine Merkwürdigkeit. Moskau konnte in dem Raum zwischen Ostdeutschland und der Mongolei bis 1989/90 kommunistische Statthalter- oder Kollaborationsregime im Sattel halten und seine eigene militärische Präsenz bewahren, ohne indessen dauerhafte ökonomische Abhängigkeitsbeziehungen aufzubauen. Die ostmitteleuropäische Peripherie innerhalb des »Ostblocks« war höher entwickelt als das russische Zentrum, und diese Differenz verstärkte sich mit der Zeit noch. Der »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe« (Council for Mutual Economic Assistance) war ein Zwangsverbund, in dem die Sowjetunion keineswegs immer ihren Willen durchzusetzen vermochte. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts lag nach Ansicht vieler westlicher Ökonomen kaum noch so etwas wie ein »koloniales« Dependenzverhältnis vor.40 Umgekehrt bemühte sich die Sowjetunion durch billige Energielieferungen um das Wohlwollen ihrer Satelliten. Mit Klaus von Beyme läßt sich daher von einer verfallenden hegemonialen Integration sprechen.41 Anders als westlich des Eisernen Vorhangs wurde im Ostblock keine supranationale politische Integration angestrebt. Wie tief eine gesellschaftliche und kulturelle »Sowjetisierung« jeweils vordrang, ist gegenwärtig Gegenstand der Forschung.42 Sie war wohl nur in geringem Ausmaß mit einer kulturellen Russifizierung von der Art verbunden, wie sie das späte Zarenreich praktiziert hatte. Da sich die ostmitteleuropäischen Nationalkulturen in der nachstalinschen Zeit einigermaßen frei entfalten konnten und nationalkommunistische Regime einen beträchtlichen Handlungsspielraum erlangten, blieben Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, das politisch besonders selbständige Rumänien und andere Länder im Satellitengürtel der UdSSR im Kern Nationalstaaten, auch wenn einige von ihnen, allen voran Polen, bedeutende Grenzverschiebungen erlitten. Sie konnten sich daher sofort nach dem Kollaps der Sowjetmacht ohne größere Schwierigkeiten als solche Nationalstaaten mit neuen politischen und wirtschaftlichen Ordnungen neu konstituieren. Einem 40 Vgl. K. von Beyme, Die hegemoniale Integration Osteuropas und ihr Verfall, in: Winkler u. Kaelble (Hg.), Nationalismus, S. 224–235, hier S. 232; P. Marer u. K. Z. Poznanski, Costs of Domination, Benefits of Subordination, in: J. F. Triska (Hg.), Dominant Powers and Subordinate States: The United States in Latin America and the Soviet Union in Eastern Europe, Durham, NC 1986, S. 371–399, hier S. 385f.; O. A. Westad u. a. (Hg.), The Soviet Union in Eastern Europe, 1945– 1989, Basingstoke 1994. 41 Vgl. v. Beyme, Die hegemoniale Integration, S. 224, 234. 42 Vgl. etwa K. Jarausch u. H. Siegrist (Hg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970, Frankfurt a.M. 1997.

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hartnäckigen Klischee und andauernden pessimistischen Erwartungen zum Trotz ist es im Zerfallsprozeß von Ostblock und Sowjetunion nicht zu nationalen und ethnischen Nachfolgekämpfen großen Stils gekommen. Die Krisen auf dem Balkan, zwischen Armenien und Azerbajdschan und zwischen Rußland und Tschetschenien haben jeweils spezifische lokale und historische Ursachen und beweisen nicht das Gegenteil.

V. Im »Westen«, also im Macht- und Einflußbereich der USA, wurde das Prinzip nationalstaatlicher Organisation nach 1945 auf beispiellose Weise gestärkt. In Palästina entstand nach dem Rückzug der Briten unter amerikanischem Patronat der ganz besondere Nationalstaat Israel als Heimstätte einer verfolgten »Diaspora-Nation«.43 Japan wurde unter der benevolenten Erziehungsdiktatur General Douglas MacArthurs reformiert, demilitarisiert (bald freilich teilweise remilitarisiert) und in einen unsinkbaren Flugzeugträger der USA verwandelt. Es wurde ihm gewissermaßen gestattet, seinen Entwicklungsweg als industrialisierter Nationalstaat in nunmehr demokratischen Verfassungsformen dort fortzusetzen, wo es spätestens 1931 mit dem Beginn seiner Kontinentalexpansion den Pfad politischer Tugend verlassen hatte. Gleichzeitig mit dem Abschluß eines Friedensvertrages war bereits 1951 einigen Indikatoren zufolge das ökonomische Vorkriegsniveau wieder erreicht.44 Besonders bemerkenswert waren die Entwicklungen in Westeuropa, dem historischen Entstehungsort des Nationalstaates. Der imperiale Nationalstaat der Deutschen hatte sich Anfang der vierziger Jahre zu einem kontinentalen Raub- und Mordimperium ausgewachsen, dem ein nur sekundär nationalistisches, primär aber rassistisches »Projekt« zugrunde lag: eine eigentümliche und anachronistische Mutation imperialer Ausgangsimpulse.45 Anders als das territorial so gut wie unversehrte Japan wurde Deutschland als trunkierter Weststaat in die amerikanische Hegemonialsphäre aufgenommen, als ein Staat allerdings, an dessen wirtschaftlicher Lebensfähigkeit von Anfang an niemand zweifelte. Den Westdeutschen wurde erlaubt – spätestens mit dem Ende der Besatzungs43 Zum Begriff der Diaspora-Nation vgl. H. Seton-Watson, Nations and States: An Enquiry into the Origins of Nations and the Politics of Nationalism, London 1977, S. 383ff. 44 Vgl. C. Tsuzuki, The Pursuit of Power in Modern Japan 1825–1995, Oxford 2000, S. 519. 45 In den überseeischen Kolonialreichen der westlichen Mächte läßt sich nach dem Ersten Weltkrieg generell eine allmähliche Abschwächung eines virulenten Rassismus beobachten. Zum Verhältnis von Nationalismus, Imperialismus und Rassismus verdient wiederentdeckt zu werden: H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a.M. 1951, Kap. 5–9. Vgl. auch die Überlegungen bei I. Geiss, Imperien und Nationen. Zur universalhistorischen Topographie von Macht und Herrschaft, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Jg. 28, 1999, S. 57– 91.

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zeit und dem Eintritt in die NATO 1955 war dies auch symbolisch vollzogen –, sich wie ein Nationalstaat zu benehmen. Tatsächlich ist die Bundesrepublik denn auch recht bald ein Als-ob-Nationalstaat geworden. Die kollektive Sehnsucht zurück nach dem Bismarckschen Reich, das überhaupt nur eine Existenzdauer von wenigen Jahrzehnten vorzuweisen hatte, hielt sich bei der Mehrheit der Bevölkerung ebenso in Grenzen wie ein täglich durchlittenes Mitgefühl mit den benachteiligten Landsleuten östlich der sogenannten Zonengrenze. Die Raison des Als-ob-Nationalstaates Bundesrepublik war westlich und präsentistisch. Für die politische Rhetorik nützliche Behelfe waren daneben die staatsrechtlichen Konstruktionen des »Provisoriums« und der »Rechtsnachfolge des deutschen Reiches«. Westdeutschland wurde ein Als-ob-Nationalstaat, weil die damalige Regierung der USA dies so wollte und weil die Mehrheit der deutschen politischen und wirtschaftlichen Elite sich diesen Wunsch zu eigen machte; die Mehrheit der Bevölkerung folgte ihr dabei bald. Die amerikanische Generosität gegenüber Deutschland war von Anfang an Teil einer Strategie für ganz Europa, die in den Beraterstäben des Präsidenten Harry S. Truman erdacht worden war. Diese Strategie ruhte auf drei Säulen: (1) der militärischen Abschreckung und Eindämmung des Kommunismus; (2) der institutionellen Absicherung einer freien kapitalistischen Weltwirtschaft; und (3) der dauerhaften Pazifizierung Westeuropas, konkreter: der radikalen Beseitigung von zwei Grundzügen des alten europäischen Mächtesystems – des deutsch-französischen Dauerkonflikts und der Distanz Großbritanniens vom Kontinent. Für das dritte dieser Ziele benötigte man keine hilflosen Vasallen, sondern ökonomisch vitale Nationalstaaten, die lernen mußten, ihre nationalen Interessen nicht-nationalistisch zu definieren und zu verfechten. Eine solche Politik hätte kaum Erfolg haben können, wäre sie nicht von post-nationalistischen Politikern wie Jean Monnet, Robert Schuman und Konrad Adenauer aufgegriffen und weitergeführt worden, politischen Gestaltern, die nationale Interessen in größeren Zusammenhängen am besten aufgehoben sahen. Es mag kleinere europäische Ländern, insbesondere die Skandinavier, wenig betreffen, aber wichtig ist es zu sehen, daß die renovierten Nationalstaaten Westeuropas auch post-imperiale Staaten zu sein hatten, die nicht länger den zentrifugalen Versuchungen überseeischer Bestandssicherung (von neuen Abenteuern war selbstverständlich nach 1945 keine Rede mehr) erliegen würden. Im Falle Deutschlands hatte sich das imperiale Problem 1945, im Falle der Niederlande 1949 erledigt.46 Die übrigen Imperien schleppten sich hin. Hier war die amerikanische Politik keineswegs immer in sich stimmig. Zwar hatte Präsident Roosevelt 46 Vgl. die brillante Skizze von H. L. Wesseling, Post-Imperial Holland, in: JCH, Jg. 15, 1980, S. 125–142, wieder abgedruckt in Ders., Imperialism and Colonialism: Essays on the History of European Expansion, Westport, Ct. 1997, S. 126–139.

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in der rhetorischen Tradition des amerikanischen Antikolonialismus während des Weltkrieges Druck auf das britische Empire ausgeübt,47 doch hatten die USA dann in einer fatalen Fehleinschätzung Stellung gegen die nationalkommunistische Revolution in Vietnam bezogen und die französische Rückeroberung der alten Kolonie unterstützt. Bis zum Debakel des Ersten Indochinakrieges 1954 in Dien Bien Phu waren der Realitätssinn der französischen Politik und ihr Handlungsvermögen in Europa erheblich eingeschränkt. Erst General de Gaulle beendete 1962 mit dem Rückzug aus Algerien die imperiale Epoche der französischen Geschichte. Nicht zufällig – aber mit ein wenig historischer Ironie – war die Symbolfigur des französischen Nachkriegspatriotismus, der Urheber der anti-amerikanischen Vision von einem »Europe des patries«, zugleich der Abwickler der außereuropäischen Erblasten. Die britische Kontraktion auf Europa hin und damit der Weg von der imperialen Metropole zu einem »normalen« Nationalstaat verlief langwieriger, weniger blutig und insofern undramatischer, als im Unterschied zu Frankreich ernsthafte Erschütterungen des politischen Systems in der Metropole ausblieben. Seit der Suezkrise von 1956 war unmißverständlich klar, daß die USA nichts zur Verteidigung des verbliebenen Empire gegen einheimische Nationalismen unternehmen würden, selbst dann nicht, wenn diese sich kommunismusfreundlich gerieren sollten. Trotz Suez hielt Großbritannien an der Überzeugung fest, mit den USA eine »special relationship« bewahren zu können – eine bis heute die britische Außenpolitik von Zeit zu Zeit bestimmende Illusion. 1961, mitten in der anlaufenden Dekolonisierungswelle in Afrika, bemühte sich Großbritannien dennoch, von den USA ermutigt, erstmals um Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.48 Auch wenn der Beitritt – man hat ihn »the most profound revolution in British foreign policy in the twentieth century« genannt49 – erst 1973 erfolgte und selbst wenn der frühen EWG-Politik der Briten auch Blockadeabsichten unterstellt werden dürfen, so läßt sich doch bereits für die sechziger Jahre von »post-imperial Britain« sprechen.50 Um auch den kleinen Kolonialmächten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Belgien hatte 1960 seine Kolonie im Kongo fluchtartig und ohne Vorkehrungen für die Zeit danach verlassen.51 Portugal hielt bis 1976 an Afrika fest und stellte im

47 Vgl. Wm. R. Louis, Britannia at Bay, 1941–1945: The United States and the Decolonization of the British Empire, Oxford 1977. 48 Vgl. D. Reynolds, Britannia Overruled: British Policy and World Power in the 20th Century, London 1991, S. 220. 49 Ebd., S. 238. 50 Es gibt einen gewissen Konsens unter Historikern, das Jahr 1959 als den Anfang vom Ende des britischen Empire zu betrachten. Vgl die Begründung bei J. Darwin, Britain and Decolonisation: The Retreat from Empire in the Post-war World, Basingstoke 1988, S. 235–256. 51 Vgl. G. Th. Mollin, Die USA und der Kolonialismus. Amerika als Partner und Nachfolger der belgischen Macht in Afrika 1939–1965, Berlin 1996, S. 361ff.

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folgenden Jahr sein Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft; der Beitritt erfolgte gemeinsam mit demjenigen Spaniens zum 1. Januar 1986. Der europäische Nationalstaat, wie er nach 1945 in zivilisierter Form wieder erstand, tat dies selbstverständlich nicht als Monade. Vor 1914 hatte es zwischen den Staaten und Reichen so etwas wie ein »System« gegeben, das aus zahlreichen zwischenstaatlichen Verträgen und einigen ungeschriebenen Verhaltensregeln oder, wie James Joll gesagt hat, »unspoken assumptions«52 bestand. Es war schon seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts in einen quasi-anarchischen Zustand abgeglitten, an dem nach Kriegsende auch die Ordnungsversuche von Paris 1919 und Washington 1922 dauerhaft nichts ändern konnten. Nach 1945 lebte diese Art von System nicht wieder auf. Das lag nicht ausschließlich an der Teilung der Welt durch den Kalten Krieg. Vielmehr geschah die Pazifizierung Westeuropas durch das Zusammenspiel zweier Integrationsvorgänge. Militärisch und sicherheitspolitisch erfolgte durch den Aufbau der NATO (an der seit 1952 – wie im 19. Jahrhundert das Osmanische Reich am »Konzert der Mächte« – auch die Türkei beteiligt ist) eine hegemoniale Integration unter amerikanischer Führung innerhalb eines atlantisch-mittelmeerischen Großraumes. Die wirtschaftliche Integration hingegen nahm die assoziative oder föderale Form eines freiwilligen Zusammenschlusses gleichrangiger Nationalstaaten an. Wie sich immer wieder erwiesen hat, wie General de Gaulle klar erkannte, als er 1966 Frankreich aus dem militärischen Bereich der NATO zurückzog und wie sich heute bei der zweigleisigen Erweiterung von NATO wie Europäischer Union abermals zeigt, bestehen zwischen beiden Integrationsstrukturen manche Widersprüche. Beide erscheinen jedoch im bilanzierenden Rückblick auf das 20. Jahrhundert als Teile eines einzigen Weltordnungskonzepts. Man muß nach dem heutigen Kenntnisstand feststellen, daß die assoziative Einigungsdynamik nach 1945 von den europäischen Vertretern eines entschärften und entsakralisierten Nationalstaatsbegriffs selbst ausging.53 Die Föderation Europas war nicht ursprünglich und in erster Linie ein amerikanisches Projekt. Dennoch darf nicht vergessen werden, daß die USA von einem frühen Stadium 52 J. Joll, 1914: The Unspoken Assumptions, London 1968; vgl. auch den Versuch einer Systemgeschichte der internationalen Beziehungen bei H. Kleinschmidt, Geschichte der internationalen Beziehungen. Ein systemgeschichtlicher Abriß, Stuttgart 1998, sowie A. Doering-Manteuffel, Internationale Geschichte als Systemgeschichte. Strukturen und Handlungsmuster im europäischen Staatensystem des 19. und 20. Jahrhunderts, in: W. Loth u. J. Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München 2000, S. 93–115. 53 Vgl. W. Loth, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939–1957, Göttingen 19912, S. 138, S. 140. Eine »starke« Fassung dieser These, die die erfolgreiche Durchsetzung europäischer Interessen betont und im Schuman-Plan statt im Marshall-Plan den Initialschub der europäischen Integration sieht, findet sich bei A. S. Milward, The European Rescue of the Nation-State, London 1992, S. 21–45; zuvor bereits Ders., The Reconstruction of Western Europe, 1945–1952, London 1984.

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an die europäische Integration unterstützten. (Strittig ist dabei etwa, ob sie es versäumt haben, das an einzelne Regierungen adressierte Marshallplanprogramm von 1947 mit der Schaffung supranationaler Institutionen zu verbinden.)54 Nicht zuletzt stand dahinter vielfach die Erwartung, die Europäer können dazu gebracht werden, eine den USA vergleichbare Föderation zu schaffen und damit ein historisches Erfolgsmodell zu kopieren.55 Auch die supranationale Rhetorik, die den Einigungsprozeß von Anfang an begleitete, war nicht ausschließlich europäischer Herkunft. Zu pragmatischen Argumenten und Abendlandparolen gesellte sich die amerikanische Vision einer weltweit verbreiteten Kultur der demokratischen Massen- und Konsumgesellschaft.56 Die Politik der USA, innerhalb ihres »Imperiums« oder ihrer Interessensphäre Kooperation und Zusammenschluß zu fördern und nicht per »divide et impera« Kontrolle auszuüben, war historisch ohne Vorbild.57

VI. Der europäische Nationalstaat erreichte seine Reifephase im Moment seiner post-imperialen Rekonstruktion nach dem Zweiten Weltkrieg. (Nebenbei sei angemerkt, daß gleichzeitig die Gesellschaften Europas einen beispiellosen Grad von ethnischer Homogenität erlangt hatten. Dies war die Folge von Völkermord, Zwangsumsiedlungen, Vertreibungen, Repatriierungen und Grenzveränderungen.58 Mit dem Beginn neuer Arbeitsmigrationen nahm dieser hohe Homogenitätsgrad wieder ab.) So wie der frühe Nationalstaat der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter bestimmten Wachstumsbedingungen von Staatlichkeit und kapitalistischer Produktionsweise binnen kurzem seinen Charakter imperial veränderte, so trat der Nationalstaat nach dem Zweiten Weltkrieg bereits im Anfangsstadium seiner post-imperialen Reife in die Phase der Supranationalität ein, ohne bislang in solcher Supranationalität aufgegangen zu sein. Es kann nicht die Aufgabe dieses Versuchs sein, auch noch die Entwicklung der europäischen Integration seit den Römischen Verträgen von 1957 zu kom54 Geschaffen wurde nur eine Organization for European Economic Co-operation (OEEC), in der allerdings manche die Keimzelle einer späteren europäischen Regierung sehen wollten (vgl. H. James, Rambouillet, 15. November 1975: Die Globalisierung der Wirtschaft, München 1997, S. 77). 55 Vgl. J. Heideking, Pragmatismus und kontinentale Vision. Der Marshall-Plan als Anstoß zur europäischen Integration, in: Pyta u. Richter (Hg.), Gestaltungskraft des Politischen, S. 305–327, hier S. 312. 56 So ebd., S. 321. 57 Lundestad, »Empire« by Integration, S. 3 (der in ähnlichem Sinne Jean Monnet, den »Vater der europäischen Einigung«, zitiert), auch S. 154ff. 58 Vgl. G. Therborn, European Modernity and Beyond: The Trajectory of European Societies 1945–2000, London 1995, S. 47.

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mentieren. In globalhistorischer Sicht ist es bemerkenswert, daß es nirgendwo sonst auf der Welt in ähnlichem Umfang zur Schaffung supranationaler Organe wie einer exekutiven Kommission, eines rechtsetzenden Parlaments und einer über den Einzelstaat hinauswirkenden Judikatur gekommen ist, sieht man einmal von dem heroischen Versuch der Indischen Union ab, den autoritären Rahmen des britischen Kolonialsystems nach 1947 halbwegs demokratisch zu füllen. Dies ist nichts als ein rein deskriptiver Befund, denn man hätte wohl nichts anderes erwarten dürfen. Kein anderer Großraum der Erde hat eine ähnlich dichte Geschichte von Gemeinsamkeit und Entzweiung erlebt wie Europa, nach Jacob Burckhardt »Stätte der Entstehung der reichsten Gestaltungen, [...] Heimat aller Gegensätze«.59 Überall außerhalb Europas ist der Nationalstaat ein Import gewesen.60 Strukturell ist er in den meisten Fällen zu schwach für eine supranationale Überwölbung; die verschiedenen Pan-Bewegungen sind niemals über wolkiges Ideologisieren hinausgedrungen. Einige der größten Staaten der Erde, China und Indien voran, halten Souveränitätsabtretungen jeglicher Art für undenkbar und schrecken vor nationalistischer Drohpolitik nicht zurück. Eine engere Zusammenarbeit zwischen den führenden Nationen Asiens – Japan, China und Indien – ist einstweilen aus historischen und politischen Gründen kaum vorstellbar. Hinsichtlich von ASEAN, der noch immer an den Folgen der dramatischen Wirtschaftskrise von 1997 leidenden Association of South East Asian Nations, die man am besten als einen »intergouvernementalen Kooperationsverbund« charakterisiert,61 sowie der regionalistischen Bestrebungen in Lateinamerika resümiert eine vergleichende Studie, man sei »bisher weder in Lateinamerika noch in Südostasien bereit gewesen, zumindest Teile nationaler Souveränität abzugeben«.62 Das Anfang 1994 von den USA, 59 J. Burckhardt, Historische Fragmente. Aus dem Nachlaß gesammelt von E. Dürr, Nördlingen 1988, S. 204. 60 »Europa hat den Staat erfunden.« Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, S. 15; vgl. auch W. Reinhard (Hg.), Verstaatlichung der Welt? Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Machtprozesse, München 1999; Ders., Europäische Staatsmodelle in kolonialen und postkolonialen Machtprozessen, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 1999, Heidelberg 2000, S. 43–61. 61 M. Mols, Integration und Kooperation in zwei Kontinenten. Das Streben nach Einheit in Lateinamerika und in Südostasien, Stuttgart 1996, S. 276; vgl. auch Ders., M. Wilhelmy von Wolff u. H. Gutiérrez, Regionalismus und Kooperation in Lateinamerika und Südostasien. Ein politikwissenschaftlicher Vergleich, Münster 1993. 62 Mols, Integration, S. 470. Vgl. auch Ansätze zu einem Vergleich zwischen der EU und ASEAN in: D. Mahncke u.a. (Hg.), ASEAN and the EU in the International Environment, BadenBaden 1999; M. T. Yeung u. a., Regional Trading Blocs in the Global Economy: The EU and ASEAN, Cheltenham 1999. Anders als im Falle der europäischen Doppelintegration muß sich ASEAN mangels anderer Strukturen auch um sicherheitspolitische Aufgaben bemühen: vgl. S. Feske, ASEAN: Ein Modell für regionale Sicherheit. Ursprung, Entwicklung und Bilanz sicherheitspolitischer Zusammenarbeit in Südostasien, Baden-Baden 1991. Programmatisch-optimistisch ist M. Antolik, ASEAN and the Diplomacy of Accomodation, Armonk, N.Y. 1990

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Kanada und Mexiko gegründete NAFTA (North American Free Trade Agreement) ist im Unterschied zu ASEAN eine Freihandelszone, erreicht aber nicht den Freizügigkeitsgrad des europäischen Binnenmarktes und bietet derzeit keine Grundlagen für politische Föderationspläne.63 Die Urimpulse hinter der europäischen Integration waren politischer Natur.64 Das Ziel war der Frieden in Europa durch Einbindung der Deutschen.65 Am Anfang stand die Einsicht, daß kein Gleichgewichtssystem, keine kollektive Sicherheit, keine Völkerbundsorganisation und kein Morgenthau-Plan dieses Ziel näherbringen würde, sondern nur die Koordination wachsender Volkswirtschaften. Diese Koordination ist mittlerweile bis zur Stufe der Währungsunion gediehen.66 Europa bietet damit ein vergleichsweise sehr erfolgreiches Beispiel für das, was Politikwissenschaftler »Regionalismus« nennen. Die staatlich-föderativen Momente sind in keinem anderen Fall von Regionalismus auch nur annähernd ähnlich weit entwickelt. Die Vereinigten Staaten von Europa sind zumindest vorstellbar geworden. In anderen Teilen der Welt mögen zwar die Kräfte der Globalisierung die ohnehin schon schwachen Staatsapparate weiter unterhöhlen; dennoch üben dort die Ideen von Nation und Nationalstaat eine Anziehungskraft aus, die sie in (West)-Europa verloren haben. Auch wenn immer wieder mit Recht betont wird, der europäische Nationalstaat sei nur als schwacher Abglanz seines klassischen Originals imitiert worden, so ändert dies doch nichts an der Tatsache, daß der wirtschaftliche Regionalismus außerhalb Europas eine Angelegenheit von Nationalstaaten ist, die ihre Souveränität eifersüchtig verteidigen. Heißt dies nun, daß Europa – wie es sich selbst zu sehen liebt – abermals an der Spitze des zivilisatorischen Fortschritts marschiert? Ja und nein. Ja, wenn man in der Befriedung Westeuropas ein Modell für den Rest der Welt sieht. Nicht unbedingt dann, wenn man Regionalismus skeptisch betrachtet. Wie der Politologe Robert Gilpin bemerkt hat, fördert die Vertiefung der europäischen Integration, namentlich seit der 1987 in Kraft getretenen Einheitlichen Euro63 Vgl. R. Kaiser, Regionale Integration in Europa und Nordamerika, Baden-Baden 1998, S. 22, S. 181ff. 64 So auch das Urteil des vielleicht führenden deutschen Historikers der Integration:«Sieht man einmal von dem niederländischen Interesse an einer Zollunion und einem europäischen Agrarmarkt für den Absatz niederländischer Produkte ab, so war die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft also vorwiegend ein politisches Unternehmen.« W. Loth, Von Potsdam nach Maastricht. Die Grundlagen der europäischen Einigung, in: 1945–1995, Anfänge und Erfahrungen. 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (= Schriften der Universitätsbibliothek ErlangenNürnberg, Bd. 84), Erlangen 1998, S.61–74, hier S. 68. 65 Daß damit auch versteckte französische Hoffnungen auf eine regionale Vorrangstellung verbunden waren, sollte nicht übersehen werden. 66 Originelle historische Parallelen eröffnet A. Lechner, Unpolitisches Geld. Die Wechselwirkungen von Währungsunion und Politischer Union am Beispiel des Deutschen Reichs vor 1914 und der Vereinigten Staaten, Frankfurt a.M. 2000.

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päischen Akte (Single European Act), rund um den Globus regionale Wirtschaftsabkommen und leistet eher der Rivalität von Wirtschaftsblöcken als globaler ökonomischer Offenheit Vorschub. »Regionalization«, so urteilt Gilpin, »actually incorporates national concerns and ambitions rather than provides an alternative to a state-centered international system.«67 Man mag dies anders sehen.68 Plausibel ist aber die Möglichkeit, daß sich supranationale Verbünde wenig anders verhalten werden als vordem Nationalstaaten in einem kompetitiven System.

67 Vgl. R. Gilpin, The Challenge of Global Capitalism: The World Economy in the 21st Century, Princeton 2000, S. 43. Auf US-Seite erkennt Gilpin Mitte der achtziger Jahre unter Präsident Reagan eine bis heute andauernde Abkehr von ökonomischem Multilateralismus zugunsten einer »multitrack trade policy« (S. 11, 232ff.). Den Hintergrund einer (Welt-) Geschichte von wirtschaftlichem Nationalismus liefert J. Mayall, Nationalism and International Society, Cambridge 1990, S. 70ff. 68 Nicht nur optimistischer, sondern auch in einer Variante von Pessismismus. Siehe etwa Spekulationen über einen »globalen Klassenkonflikt« nicht nur bei neo-marxistischen Autoren, sondern auch bei R. Münch, Das Projekt Europa. Zwischen Nationalismus, regionaler Autonomie und Weltgesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 243ff.

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14. Aufstieg und Fall der neuzeitlichen Sklaverei. Oder: Was ist ein weltgeschichtliches Problem?

I. Weltgeschichte, in Deutschland mit Karl Marx und Oswald Spengler oder auch mit dem Kultursoziologen Alfred Weber – eher als mit seinem älteren Bruder – assoziiert, hat hierzulande einen solch schlechten Ruf, daß es mit ihr nur noch bergauf gehen kann. Das ist ein großer Vorteil. Ein zweiter Vorzug der Lage am Beginn eines neuen Jahrhunderts ist es, daß man da und dort einen noch ungeformten guten Willen erkennen kann, nationalhistorische Selbstbeschränkungen zu überwinden und sich sogar mit Visionen einer europäischen Geschichte nicht zufrieden zu geben. Ob und wie man »Universalgeschichte«, »Weltgeschichte« und, wie neuerdings hinzukommt, »Globalgeschichte« unterscheiden kann und muß,1 ist ein reizvolles systematisches und ideenhistorisches Problem, soll uns aber hier nicht näher beschäftigen. Von »Makrogeschichte« zu sprechen, wäre eine weitere Möglichkeit,2 wenn das nicht unvermeidlich eine wolkige »Mesogeschichte« nach sich zöge und wenn man damit nicht den hochverdienten Mikrohistorikern den Verdacht suggerierte, man führe in offensiver Absicht das genaue Gegenteil dessen im Schilde, was ihnen selbst wert und teuer ist. Ein solches Mißverständnis sollte gleich anfangs aus dem Wege geräumt werden. »Weltgeschichte« darf nicht auf einer einförmigen und eintönigen Ebene des Großen und Allgemeinen verharren, sie muß sich im Kleinen und Spezifischen verankern. Einige Soziologen nennen das heute »glocalization«,3 aber es ist auch schon ein Gebot schlichter Darstellungstechnik.4 1 Eine diskutable Unterscheidung schlägt vor: B. Mazlish, Crossing Boundaries: Ecumenical, World and Global History, in: P. Pomper u.a. (Hg.), World History: Ideologies, Structures and Identities, Oxford 1998, S. 41–52. 2 Vgl. J. Schlumbohm (Hg.), Mikrogeschichte – Makrogeschichte: komplementär oder inkommensurabel?, Göttingen 1998; R. Collins, Macrohistory, Stanford 1989. 3 Zum Begriff »glocalisation« vgl. R. Robertson, Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: U. Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 192–220. 4 Das veranschaulicht als gelungenes Beispiel F. Fernández-Armesto, Millenium: A History of Our Last Thousand Years, London 1995; zuvor schon ein Meister des sprechenden Details: E. H. Gombrich, Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser [1935], Köln 1985.

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Das Etikett mag also cura posterior bleiben und der Ausdruck »Weltgeschichte« einstweilen genügen. Ebenso wird eine Letztbegründung aus dem Zeitgeist unterlassen. Denn es wäre von geschmackloser Einfalt, die Historiker zu ermahnen, doch bitte die Globalisierung nicht zu verschlafen, oder sie in eine Empirieferne zu locken, bei der ihnen im Zweifelsfall die besten Soziologen überlegen sind. Vorweg einige pragmatische Festlegungen: (1) Weltgeschichte benötigt kein sinnhaftes Apriori, also keine materiale Geschichtsphilosophie, etwa neo-hegelianischer, christlicher oder evolutionistischer Art. (2) Weltgeschichte muß nicht unbedingt eine Geschichte sehr langer Zeiträume sein; sie muß nicht zur »neolithischen Revolution« zurückgreifen und sich damit in die Tradition aufklärerischer Gattungsgeschichten »des Menschgeschlechts« stellen. Als Weltgeschichtsschreibung kann auch eine epochale Geschichte synchroner Zivilisationen gelten wie Fernand Braudels Kapitalismustrilogie5 oder eine Bestandsaufnahme des weltweit punktuell Gleichzeitigen.6 (3) Weltgeschichte ist kein besserwisserischer Metadiskurs, sondern eine besondere Weise der Hinsicht und Problemformulierung, die sich in eklektischer Manier aus der Vielfalt vorhandener Theorien und Zugangsweisen bedient. Weltgeschichte ist keine zusammenhängende Erzählung und darf nicht der Illusion der »scheinempirischen Synthese« verfallen.7 Daher lautet die entscheidende Frage: Was ist ein weltgeschichtliches Problem? (4) Die »Kunst« der Problemformulierung ist nur begrenzt methodisierbar und damit intersubjektiv übertragbar. Sie beruht auf spezifischem Vorwissen und einer – fraglos erlernbaren – kosmopolitischen Aufmerksamkeitsstruktur, anders gesagt: der Bereitschaft, sich immer und bei jedem kulturellen Phänomen dafür zu interessieren, wie sich Ähnliches anderswo verhält. (5) Der Horizont von Weltgeschichte ist die Welt. Darunter erstreckt sich aber die vertikale Stufung der Analyseeinheiten vom Großraum oder Kontinent über Nation, Region und Gemeinde bis hinab zu Haushalt, Familie und Individuum. Daher reden (gute) Welthistoriker nur selten von »Welt« an sich. (6) Die naheliegenden Großbausteine von Weltgeschichte sind Kontinente oder Zivilisationen. Deren Abgrenzung sowie Selbst- und Fremddefinition muß jedoch selbst zu einem geschichtswissenschaftlichen Problem werden. Was wann und von wem als »Europa« verstanden wurde, ist durchaus diskussionsbedürftig, und das gleiche gilt für Asien oder für Amerika, den Kontinent 5 F. Braudel, Civilisation matérielle, économie et capitalisme, 3 Bde., Paris 1979. Hinter Braudels Epochenabgrenzung verbergen sich seine berühmten Überlegungen zur historischen Zeit: Ders., La longue durée [1958], in: Ders., Les ambitions de l’Histoire, Paris 1997, S. 191–230 6 Etwa J. E. Willis, Jr., 1688: A Global History, New York 2001; F.-J. Brüggemeier u. W. Schenkluhn (Hg.), Die Welt im Jahr 1000, Freiburg i.Br. 2000. 7 L. Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989, S. 171.

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»neo-europäischer« Neubildungen.8 Die in Deutschland eingebürgerte Residualkategorie »Außereuropäische Geschichte« ist eurozentrisch grundiert; Unvereinbares zusammenzwingend und es zugleich marginalisierend. Sie sollte als Notbehelf verstanden und möglichst vermieden werden. (7) Weltgeschichte läßt sich in gewissem Maße über die Methode des Vergleichs von unten herauf aggregieren. Vergleich verlangt jedoch randscharfe Abgrenzungen zwischen den zu vergleichenden Einheiten (etwa »Kulturen«) und verführt oft auch zu problematischen Aussagen über deren »Wesenskern«, also zu einem gewissen Maß an »Essentialismus«. Eine bloß räumlich gedachte »Erweiterung« – von der deutschen zur europäischen, von dort zur atlantischen, von dort zur globalen Geschichte – verspricht wenig, da sie irrtümlich von der Möglichkeit linearer Maßstabvergrößerung nationalhistorischer Fragestellungen ausgeht. (8) Die Gewinne der anthropologischen Neuorientierung der Geschichtswissenschaft dürfen nicht verlorengehen. Diese Gefahr wird vermieden, sobald man von der Fixierung auf den monadischen Kulturbegriff extremer Richtungen innerhalb der amerikanischen Cultural Anthropology abrückt und Beeinflussung, Akkulturation, (modisch gesprochen) »Hybridität« mitbedenkt. (9) Die Anerkennung von Weltgeschichte nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb der Geschichtswissenschaft beruht weniger auf der Plausibilität von Grundsatzüberlegungen als auf Ergebnissen. Gelungene Weltgeschichtsschreibung ist (a) (b) (c) (d)

so forschungsnah wie möglich; multiperspektivisch, synthetisch, nicht additiv-enzyklopädisch,9 und kategorial konsistent auf der Grundlage einer universalistischen Begrifflichkeit (nach Art der Max Weberschen).

Sie hat nur dann eine Chance auf ernsthaftes Gehör, wenn es gelingt, die Berechtigung genuin und unverwechselbar weltgeschichtlicher Fragestellungen nachzuweisen. Möglichkeiten ihrer konkreten Bearbeitung werden sich dann schon finden. (10) »Unmöglichkeit für Einen Einzelnen, mit gleichmäßigem Recht von allen Dingen zu reden, daher wir auf Manches gerne und offen verzichten werden.«10

8 Vgl. M. W. Lewis u. K. E. Wigen, The Myth of Continents: A Critique of Metageography, Berkeley 1997. 9 Ein Beispiel für einen solchen Enzyklopädismus wäre die neue Brockhaus Weltgeschichte, 6 Bde., Mannheim 1997. 10 J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, hg. v. P. Ganz, München 1982, S. 122.

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II. Die Fragestellung, die im Folgenden skizziert werden soll, ist nicht willkürlich gewählt. An der politischen Bedeutung des Themas Sklaverei und an seinem Fortleben im historischen Gedächtnis vieler Völker dürfte kein Zweifel möglich sein. Man kann die Resultate eines der seit etwa drei Jahrzehnten vitalsten Gebiete der internationalen Geschichtsforschung nutzen.11 Und nicht zuletzt handelt es sich um ein Phänomen, das bereits den Zeitgenossen auffiel. Einige der unentwegt vergleichenden Asienreisenden des 18. Jahrhunderts wunderten sich darüber, daß es im Orient trotz der überall verbreiteten »Despotie« so wenige Sklaven gebe; die schlimmsten Sklavenhalter in Asien – und das war vermutlich richtig beobachtet – seien die Holländer auf Java. Am nachdrücklichsten wies dann 1770 der Abbé Raynal in seiner vielgelesenen Geschichte »der beiden Indien« darauf hin, daß die Europäer in größtem Stil Unfreiheit in die überseeische Welt exportiert hätten.12 Skizzieren wir also die Zusammenhänge! Mit der Entdeckung, Eroberung und Besiedlung der Europa zugewandten Küstenzonen des amerikanischen Kontinents und der gleichzeitigen punktuellen Festsetzung von Europäern entlang der westlichen Küsten Afrikas entstand im 16. Jahrhundert als historisches Novum ein atlantischer Interaktionsraum.13 Ähnliche kulturverbindende maritime Räume hatte es zuvor schon gegeben, vor allem die Mittelmeerwelt spätestens seit dem Auftreten der Phönizier sowie die Welt des Indischen Ozeans zwischen Mozambique, dem Persischen Golf und dem Indonesischen Archipel.14 Auch sie wurden durch Handel und Krieg, Migration und kulturellen Transfer zusammengehalten und verdichtet. Auch hier strahlten die meeresnahen Regionen und Metropolen tief in die angrenzenden Kontinentalzonen hinein und trafen dort auf eigenständige kulturelle Kräfte. Nicht in einer einzelnen Nationalgesellschaft, sondern in der atlantischen Welt des 16. bis 19. Jahrhunderts entstand in einem diskontinuierlichen und widerspruchsvollen Prozeß die westliche Moderne. Das mag in solcher Allgemeinheit trivial klingen, birgt aber eine methodische Pointe. Es ist vollkommen statthaft, wie es oft geschieht, die Eigenarten des euro-amerikanischen Okzi11 Eine Bilanz dieser Forschung zieht S. Drescher u. St. L. Engerman (Hg.), A Historical Guide to World Slavery, New York 1998. 12 Vgl. J. Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 322–325; G. Raynal u. D. Diderot, Die Geschichte beider Indien, hg. v. H.-J. Lüsebrink, Nördlingen 1988, S. 206ff. 13 Vgl. die anregende Forschungsbilanz und Problemskizze: H. Pietschmann, Geschichte des atlantischen Systems, 1580–1830. Ein historischer Versuch zur Erklärung der »Globalisierung« jenseits nationalgeschichtlicher Perspektiven, Hamburg 1998. 14 Dazu etwa A. Das Gupta (Hg.), India and the Indian Ocean: 1500–1800, Oxford 1987; R. Hall, Empires of the Monsoon: A History of the Indian Ocean and Its Invaders, London 1996; K. MacPherson, The Indian Ocean: A History of People and the Sea, Delhi 1993.

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dents durch Vergleich mit anderen großen Zivilisationen (etwa der chinesischen, der indischen oder der islamischen) zu bestimmen und dabei Merkmalslisten aufzustellen, die das »Wesen« und die »Besonderheit« des Okzidents erfassen sollen. Wenn man es nicht mit äußerster Delikatesse handhabt, bleibt ein solches kulturvergleichendes Verfahren indessen zu statisch und in Raum und Zeit zu ungenau. Auch lassen sich gegenseitige Beeinflussungen nicht leicht erfassen, da man für den Vergleich »reine« Typen benötigt. Und überhaupt: Historiker wissen nicht so genau, was die Dinge ihrer Natur nach sind. Sie beschreiben lieber, wie sie werden und vergehen. Dafür bietet der Atlantik seit Kolumbus ein faszinierendes Beobachtungsfeld. Reiche werden gestürzt, neue Gemeinwesen und Staaten gegründet. Menschen, Mikroben und Ideen überqueren einen Ozean. Die Geschichten von Völker, die niemals etwas miteinander zu tun hatten, verflechten sich. Im Rückblick von Historikern ordnen sich diese verflochtenen Geschichten zu einigen großen prozessualen Linien. Zu ihnen gehört der Aufstieg der modernen Freiheit – oder, um es weniger ideologisch und teleologisch zu formulieren: Aufstieg und Fall organisierter Unfreiheit. Damit ist das Thema der Sklaverei erreicht. Denn wenn etwas die atlantische Welt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zusammengehalten hat, dann war es die Sklaverei, ihre charakteristische, ihre einzige großräumig integrierende gesellschaftliche Institution. Durch ihre überseeischen Expansion nach Westen schufen Europäer am westlichen Atlantik Gesellschaften neuen Typs, die etwas anderes waren als bloße Kopien europäischer Vorbilder. Eine dieser neuen Gesellschaftsformen war die egalitäre Siedlergesellschaft, wie sie in den Neuengland-Kolonien entstand, eine andere die Sklavengesellschaft. Die Geschichte der Menschheit kennt zahlreiche Beispiele für Gesellschaften mit Sklaven; in nahezu allen Zivilisationsräumen hat es sie irgendwann einmal gegeben. Neben den vielen Gesellschaften mit Sklaven finden sich jedoch nur sehr wenige ausgesprochene Sklavengesellschaften. In Gesellschaften dieses Typs ist Sklaverei nicht eine Arbeitsform neben anderen, sondern steht im Mittelpunkt der (oft großbetrieblich organisierten) Produktion. Sklaverei äußert sich hier als ein weder durch Recht noch durch Herkommen begrenzter Arbeits- und Disziplinarzwang über Menschen, die als Eigentum betrachtet werden, also verkauft, verschenkt und vererbt werden können. Sklavinnen und Sklaven sind entwurzelte Außenseiter, oft Kriegsgefangene. Sie sind »sozial tot«, das heißt aus den Verwandtschaftsbeziehungen ihrer Herkunft herausgerissen und in ihrer neuen Lage bestenfalls auf Widerruf zur Familiengründung befugt.15 Die Beziehung zwischen Herr und Sklave ist das maßstabsetzende gesellschaftliche Verhältnis schlechthin und färbt auf alle anderen Lebensbereiche 15 Vgl. O. Patterson, Slavery and Social Death: A Comparative Study, Cambridge, Mass. 1982, S. 35ff. Zur »kinlessless« von Sklaven auch M. I. Finley, Ancient Slavery and Modern Ideology,

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ab.16 Bilden Sklavenhalter in Gesellschaften mit Sklaven nur eine unter mehreren Elitegruppen, so besitzen sie in Sklavengesellschaften ein unangefochtenes Herrschafts- und Gewaltmonopol. Sie sind die herrschende Klasse. Diesen Fall hat es äußerst selten gegeben. Nur fünf genuine Sklavengesellschaften lassen sich dokumentarisch belegen: zwei davon in der Antike – im klassischen Griechenland und im Italien der späten Republik und des frühen Prinzipats. Die drei anderen entstanden in der atlantischen Welt der Frühen Neuzeit: in Brasilien, auf den Inseln der Karibik sowie im südlichen Teil Nordamerikas.17 Diese drei vollkommen neuartigen, im 16. und 17. Jahrhundert geradezu künstlich kreierten Gesellschaften beruhten auf keinerlei vorgefundenen Strukturen. Dadurch unterschieden sie sich von einer konventionelleren Kolonialgesellschaft wie derjenigen Mexikos. Dort hatte sich eine spanische Soldaten- und Administratorenschicht über die entmachtete und teilweise vernichtete aztekische Aristokratie an die Spitze einer fortbestehenden hierarchischen Sozialordnung gesetzt, so wie es Eroberer in der Geschichte immer wieder getan haben. Die Sklavengesellschaften des Westatlantik hingegen waren das Ergebnis zielstrebiger Projektemacherei, eines traditionslosen Kombinationsexperiments, bei dem Amerika den Produktionsfaktor Boden, Europa Startkapital und Organisationsmacht und Afrika die Arbeitskräfte bereitstellte. Alle vier Ingredienzien vereinigten sich in einer Institution, die sowohl die Produktion wie das gesamte gesellschaftliche Leben dominierte: der Sklavenplantage.18 Der Plantagenkomplex – d.h. die Betriebsform Plantage mit all ihren Konsequenzen – entstand nach mittelmeerischen Vorformen in der Grundidee bereits um 1500 auf den portugiesischen Azoren und den Kapverdischen Inseln. Schon damals diente das neuartige Arrangement der Herstellung des wichtigsten interkontinentalen Exportgutes der Frühen Neuzeit, des Zuckers. Vom östlichen Atlantik gelangte der Plantagenkomplex um 1550 nach Brasilien, von dort wenige Jahrzehnte später in zielstrebigem Transfer durch niederländische Unternehmer auf die Antillen. Um 1630 war er voll ausgeprägt, zunächst auf dem englischen Barbados, das der Welt den Erfolg der neuen Betriebsform vor Augen stellte. Von dort verbreitete sich die »Plantagenrevolution« zu den übrigen englischen Karibikkolonien, vor allem dem 1655 in Besitz genommenen Jamaika, und zu den französischen Besitzungen Martinique, Guadeloupe und London 1980, S. 75–77; D. B. Davis, Slavery and Human Progress, New York 1984, S. 16f., spricht von »centrality of deracination« und grenzenloser Schutzlosigkeit als Grunderfahrungen der Sklaven. 16 I. Berlin, Many Thousands Gone: The First Two Centuries of Slavery in North America, Cambridge, Mass. 1998, S. 8. 17 Finley, Ancient Slavery, S. 9. 18 Eine Synthese der umfangreichen Literatur zur Betriebsform Plantage und ihren gesellschaftlichen Konsequenzen ist P. D. Curtin, The Rise and Fall of the Plantation Complex, Cambridge 1990.

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Saint-Domingue.19 Um 1789 erzeugte Saint-Domingue mit seinen 8.000 Plantagen und 500.000 Sklaven allein zwei Drittel des französischen Außenhandels und war damit eine der einträglichsten Kolonien der Geschichte.20 Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich die Plantage auch im tabakproduzierenden Virginia buchstäblich eingewurzelt. Am Vorabend der nordamerikanischen Unabhängigkeitsrevolution von 1776 findet man ungefähr nördlich von Baltimore Gesellschaften mit Sklaven, südlich davon – außer in Virginia auch in North Carolina, South Carolina (dem späteren ideologischen Zentrum der Südstaaten) sowie Georgia – Sklavengesellschaften karibischer Art. Diese Systeme bestanden – mit Ausnahme von Saint-Domingue, wo unter extrem gewaltsamen Umständen die Selbstbefreiung der Sklaven gelang und 1804 der unabhängige Staat Haiti gegründet wurde21 – ungeschwächt bis ins 19. Jahrhundert fort. Die unter Historikern eingebürgerte Epochenschwelle der sogenannten »Doppelrevolution« um 1800 hat für sie kaum eine Bedeutung. Gegen 1830 war ein weltgeschichtlicher Höhepunkt in der Verbreitung und Vitalität von Sklaverei erreicht. Das, von der Warte der Sklavenhalter gesehen, Goldene Zeitalter der Südstaatensklaverei in den USA begann überhaupt erst jetzt, als die europäische Frühindustrialisierung eine immense Nachfrage nach Baumwolle erzeugte.22 Gleichzeitig machten sich indessen sklavereifeindliche Gegentendenzen nicht länger bloß literarisch bemerkbar. Nachdem bereits mit Wirkung von 1808 der britische Sklavenhandel für illegal erklärt worden war, beschloß 1833 das britische Parlament die Sklavenbefreiung im British Empire, eine Maßnahme, die vorrangig die Karibikinseln und Südafrika betraf und erst nach einer Übergangsfrist 1838 wirksam wurde.23 1848 fiel die Sklaverei im französischen Herrschaftsbereich – eine wenig beachtete Weltwirkung des europäischen Re19 Zu Herausbildung und Verbreitung der Plantagenwirtschaft vgl. B. L. Solow (Hg.), Slavery and the Rise of the Atlantic System, Cambridge 1991; R. Blackburn, The Making of New World Slavery: From the Baroque to the Modern, 1492–1800, London 1997, Kap. 1–7. 20 D. P. Geggus, The Haitian Revolution, in; F. W. Knight u. C. A. Palmer (Hg.), The Modern Caribbean, Chapel Hill 1989, S. 21–50, hier S. 21. 21 Vgl. W. L. Bernecker, Kleine Geschichte Haitis, Frankfurt a.M. 1996, S. 2–46. Grundlegend ist C. E. Fick, The Making of Haiti: The Saint-Domingue Revolution from Below, Knoxville 1990, außerdem D. B. Gaspar u. D. P. Geggus (Hg.), A Turbulent Tiime: The Greater Caribbean in the Age of the French and Haitian Revolutions, Bloomington 1997. 22 Vgl. zusammenfassend zur Herausbildung des »Antebellum South«: P. Kolchin, American Slavery 1619–1877, London 1993, S. 93ff. 23 Vgl. W. A. Green, British Slave Emancipation: The Sugar Colonies and the Great Experiment, 1830–1865, Oxford 1976; G. Heuman, The British West Indies, in: Wm. R. Louis (Hg.), The Oxford History of the British Empire, Bd. 3, Oxford 1999, S. 470–493; J. Fisch, Geschichte Südafrikas, München 1990, S. 106. Die beste Gesamtdarstellung der Sklavenemanzipation bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist R. Blackburn, The Overthrow of Colonial Slavery 1776–1848, London 1988. Vgl. auch R. J.Scott, Comparing Emancipations: A Review Essay, in: JSH, Jg. 20, 1987, S. 565– 583.

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volutionsjahres. 1865 brach die Südstaaten-Konföderation, der mächtigste Sklavereistaat der Neuzeit, unter kriegerisch-revolutionären Umständen zusammen – revolutionär zum Beispiel deshalb, weil die Pflanzeroligarchie des Südens als Verräterin an der Union betrachtet wurde und ihre Sklaven, anders als zuvor die Sklavenbesitzer im britischen Empire, entschädigungslos verlor. Schließlich endete 1886 die Sklaverei in der spanischen Kolonie Kuba, der leistungsfähigsten Zuckerinsel des 19. Jahrhunderts. Zwei Jahre später wurden – die letzte große Etappe der Emanzipation – die Negersklaven Brasiliens befreit.24 Bedenkt man außerdem, daß 1861 mit der Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft im Zarenreich in vieler Hinsicht sklavereiähnliche Verhältnisse beseitigt wurden, die etwa gleichzeitig mit der Einführung der Zwangsarbeit in der Neuen Welt entstanden waren,25 dann wird eine der großen welthistorischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts erkennbar: das Verschwinden des Gesellschaftstypus »Sklavenhaltersystem«. David Brion Davis, der große Ideenhistoriker der neuzeitlichen Unfreiheit, übertreibt nicht mit seiner Behauptung: »[...] the progress of emancipation from the 1780s to the 1880s is one of the most extraordinary events in history.«26 Selten hat es innerhalb eines ähnlich kurzen Zeitraums eine ähnlich tiefgreifende Diskreditierung einer lange nahezu unangefochtenen Institution gegeben. So fügen sich Aufstieg und Fall der atlantischen Sklavenhaltergesellschaften zwischen etwa 1580 und 1880 zu einem Zyklus von geradezu klassischer Eleganz. Bei näherem Hinsehen findet man eine Vielzahl kleiner regionaler Zyklen, die sich dennoch einem epochalen Großmuster unterordnen lassen: In der von Europa geprägten atlantischen Welt verbreiten sich im Zeitalter von Descartes und Leibniz Formen atavistischen Arbeitszwanges, die sich mit einer der – formal gesehen – rationalsten Unternehmensformen der Epoche, der Plantage, verbinden. Diese erreicht den Höhepunkt ihrer Ausbeutungseffizienz zur Zeit der europäischen Spätaufklärung, in Nordamerika sogar noch später: in einer Epoche, die in Europa als die Blütezeit des Liberalismus gilt. Nirgendwo verliert dieser Plantagenkomplex seine innere Dynamik oder zer24 Vgl. R. J. Scott, Slave Emancipation in Cuba: The Transition to Free Labor, 1860–1891, Princeton 1985; R. E. Conrad, The Destruction of Brazilian Slavery, 1856–1888, Berkeley 1972; Ders. (Hg.), Children of God’s Fire: A Documentary History of Black Slavery in Brazil, Princeton 1983, S. 418–481. 25 Vgl. P. Kolchin, Unfree Labor: American Slavery and Russian Serfdom, Cambridge, Mass. 1987. Es ist eine von Kolchins Thesen, daß sich die russische Leibeigenschaft seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zunehmend einer Form von »chattel slavery« angenähert habe und die Gemeinsamkeiten zwischen den Arbeitsverfassungen in Rußland und den Südstaaten größer gewesen seien als die Unterschiede (etwa S. 10, 41–46, Unterschiede: S. 359–363). Zur typologischen Abgrenzung vgl. St. L. Engerman, Slavery, Serfdom and Other Forms of Coerced Labour: Similarities and Differences, in: M. L. Bush (Hg.), Serfdom and Slavery: Studies in Legal Bondage, London 1996, S. 18–41. 26 Davis, Slavery and Human Progress, S. 108.

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bricht an seinen Widersprüchen.27 Auch wird er nicht das Opfer einer Invasion von außen, so wie im frühen 20. Jahrhundert die einheimische Sklaverei in Afrika oder Südostasien von den Kolonialmächten unterminiert werden wird.28 Die Sklaverei endet im 19. Jahrhundert weder aus innerer Notwendigkeit noch aus äußerem Schicksal. Sie macht sich nicht selbst überflüssig, verdämmert nicht und wird auch nicht langsam und allmählich wegmodernisiert. In Haiti und den USA verschwindet sie in jenem apokalyptischen Tumult, den ihre radikalsten Feinde seit jeher ersehnten. In den übrigen Fällen wird sie durch politische Willensakte abgeschafft. Man hat es also mit zwei Bündeln von Erklärungsproblemen zu tun: den Ursachen für den Aufstieg und denjenigen für den Fall der kolonialen Sklaverei. Obwohl sich die Fachleute über beides alles andere als einig sind, sei dennoch hier eine eigene Sicht der Dinge umrissen.

III. Unter welchen Umständen entstanden die Sklavereisysteme des westlichen Atlantik? Am Vorabend der überseeischen Expansion existierten in Europa zwar Gesellschaften mit Sklaven, aber nirgendwo Sklavengesellschaften. Plantagensklaverei wurde durch Europäer wiederbelebt, nachdem sie aus Europa selbst verschwunden war. Zu jenem Zeitpunkt, als der Plantagenkomplex in der Neuen Welt Fuß faßte, gab es in den dynamischsten Welthandelsmächten, England und den Niederlanden, nur mehr bescheidene Reste von staatlichem und privatem Arbeitszwang, vor allem in Gestalt gewaltsamer Rekrutierungen zur Kriegsmarine. In Frankreich, das sich noch eine Weile die Einrichtung der staatlichen Galeerensklaverei leistete, verschwanden solche Rudimente bis zum Ende des Ancien régime. In Schottland wurden – als letzter Akt innereuropäischer Emanzipation – 1775 Bergarbeiter aus sklavereiartigen Arbeitsverhältnissen befreit.29 Gerade diejenigen ostatlantischen Länder, in denen wirtschaftliche Entwicklung, Rechtssicherheit und staatsbürgerliche Freiheit am weitesten fortgeschritten waren, errichteten am Westatlantik die drückendsten Zwangssysteme. 27 R. W. Fogel, Without Consent or Contract: The Rise and Fall of American Slavery, New York 1989, resümiert das nahezu einmütige Urteil der Forschung: »Slavery was profitable, efficient, and economically viable both in the United States and the West Indies, when it was destroyed [...].« S. 410. 28 Zu den sehr unterschiedlichen Ausformungen dieses Prozesses vgl. M. A. Klein (Hg.), Breaking the Chains: Slavery, Bondage, and Emancipation in Modern Africa and Asia, Madison, Wisc. 1993. 29 Vgl. D. Eltis, The Rise of African Slavery in the Americas, Cambridge 2000, S. 6.

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Erst mußten die Möglichkeiten einer profitversprechenden tropischen Landwirtschaft für den interkontinentalen Export, die den neuen Konsumerwartungen in Europa – Qualm und Süße – entgegenkam, erkannt werden.30 Dann stellte sich das Problem der Beschaffung von Arbeitskräften. Die vorkolonialen Ureinwohner des amerikanischen Festlandes und der karibischen Inseln waren teils dem Mikrobenschock der ersten europäischen Invasionswelle zum Opfer gefallen, teils erwiesen sie sich als ungeeignet für jene Art straffer Regimentierung, wie sie die Plantage verlangte. Auf jeden Fall ließen sie sich weniger mobil einsetzen und weniger leicht an der Flucht vor unerträglichen Arbeitsbedingungen hindern.31 Außerdem war aus den großen spanischen Debatten des 16. Jahrhunderts über die Behandlung der amerikanischen Indios das Prinzip hervorgegangen, die autochthonen Bewohner der Kolonien, als Untertanen der jeweiligen europäischen Krone, nicht der Sklaverei zu unterwerfen. Siedler haben sich an diesen Grundsatz selten gehalten. Doch die Kolonialregierungen, katholische wie protestantische, sind ihm im allgemeinen gefolgt. Dies galt sogar für die Kapkolonie der Holländer, deren schwarze Sklaven nicht aus Südafrika selbst, sondern vorwiegend aus Madagaskar und Mozambique stammten.32 Eine andere Möglichkeit wäre es gewesen, Europäer der Unterschichten zur Arbeit in die Kolonien zu schicken oder für den Dienst in den Tropen anzuwerben. Das ist auch geschehen, etwa anfangs in Barbados, doch mit begrenztem Erfolg. Die Versklavung von weißhäutigen Europäern war am Beginn der Frühen Neuzeit kulturell unmöglich geworden. Freiwillig wollten sich aber Europäer nicht der mörderischen Arbeit auf tropischen Plantagen unterziehen – Afrikaner später übrigens auch nicht. Ein Kompromiß war die schwächere Form der sogenannten »Indentur«, bei der sich ein Arbeiter als Gegenleistung für freie Schiffspassage für einen begrenzten Zeitraum zu nahezu ungemessenem Arbeitsdienst für einen Arbeitgeber verpflichtete. Dieses Verfahren brachte nicht die gewünschten Ergebnisse und war insgesamt zu teuer. Nachdem gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Konjunktur in Nordwesteuropa anzog und die Löhne dort kräftig stiegen, kam es nicht länger in Betracht.33 Als eine Alternative fast ohne Nachteile bot sich die Beschaffung von Arbeitskräften aus Afrika an. Dunkelhäutige Bewohner Afrikas waren bereits 30 Zur europäischen Nachfrage vgl. S. W. Mintz: Sweetness and Power: The Place of Sugar in Modern History, New York 1985, S. 74ff.; J. Goodman, Tobacco in History: The Culture of Dependence, London 1993, Kap. 4, 6; Ders., Excitantia: or, How Enlightenment Europe Took to Soft Drugs, in: Ders. u. a. (Hg.), Consuming Habits: Drugs in History and Anthropology, London 1995, S. 126–147. 31 Vgl. H. S. Klein, The Atlantic Slave Trade, Cambridge 1999, S. 20. 32 Vgl. R. Ross, Cape of Torments: Slavery and Resistance in South Africa, London 1983, S. 13. 33 Wir folgen hier Eltis, Rise of African Slavery, S. 262. Zu unterscheiden von der frühneuzeitlichen Indentur ist die Wiederbelebung dieser Institution im 19. Jahrhundert, vgl. D. Northrup, Indentured Labor in the Age of Imperialism, 1834–1922, Cambridge 1995.

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über den – vornehmlich die arabische Welt versorgenden – transsaharischen Sklavenhandel nach Europa gelangt, als Arbeitskräfte daher nicht unbekannt, auch wenn sie nördlich des Mittelmeeres nicht zu landwirtschaftlicher »gang labour« nach dem Muster des antiken Rom eingesetzt wurden.34 Der transatlantische Seeweg ermöglichte ein bedeutend höheres Transportvolumen. Voraussetzung dafür war ein hinreichendes afrikanisches Sklavenangebot. Europäer wurden zwar zu Sklavenhändlern, die bei der Überfahrt, der berüchtigten »middle passage« oft mit äußerster Herzlosigkeit vorgingen, aber sie taten so gut wie nie den Schritt, die Sklaven selbst zu fangen.35 In Afrika gab es selbstverständlich bereits zahlreiche Gesellschaften mit Sklaven, ohne daß Sklaverei, die dort, wo sie existierte, keinesfalls bagatellisiert oder gar idealisiert werden sollte, die alles prägende Grundbeziehung der sozialen Organisation gewesen wäre.36 Erst die europäische Nachfrage intensivierte die Sklaverei auch im Inneren Afrikas; seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts wurden sogar zahlreiche Kriege mit dem einzigen Ziel geführt, Sklaven für den Export zu erbeuten.37 Der transatlantische Sklavenhandel war daher von Anfang an eine kollaborative Veranstaltung, bei der afrikanische Fürsten und Händler die lebende Ware beschafften und bei den europäischen Handelsfaktoreien entlang der Küste anlieferten.38 Afrika lieferte verläßlich die in Amerika benötigte Muskelkraft und dies zu Preisen, die auf freien Märkten ausgehandelt und den Afrikanern keineswegs diktiert wurden.39 Die einheimische Dominanz auf afrikanischer Seite läßt sich als Zeichen der Abwehrstärke gegen eine europäische koloniale Invasion lesen.40 Hätte diese Stärke gefehlt, dann wäre es unter Umständen möglich gewesen, den Plantagenkomplex in Westafrika oder 34 Vgl. W. D. Phillips,jr., Slavery from Roman Times to the Early Transatlantic Trade, Manchester 1985, S. 81–87; R. A. Austen, Trans-Saharan Trade, in: Drescher u. Engerman (Hg.), Historical Guide, S. 367–370. 35 Zur afrikanischen Seite des Sklavenhandels nach wie vor grundlegend: A. Wirz, Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem, Frankfurt a.M. 1984, Kap. 2. 36 Zu Formen indigener Sklaverei in afrikanischen Gesellschaften vgl. J. Thornton, Africa and Africans in the Making of the Atlantic World, 1400–1680, S. 72–97; P. E. Lovejoy, Transformations in Slavery: A History of Slavery in Africa, Cambridge 1983; P. Manning, Slavery and African Life: Occidental, Oriental, and African Slave Trades, Cambridge1990. 37 Klein, Atlantic Slave Trade, S. 58, S. 71f. Ebd., S. 90ff., 103ff. über die afrikanische Kontrolle des Handels. 38 Eine weniger moralisierende als sozialgeschichtlich akzentuierte Interpretation, die die Interessen vermittelnder Kaufmannsgruppen betont: ebd., S. 54f. Thornton, Africa and Africans, kommt zu dem Schluß: »[...] we must accept that African participation in the slave trade was voluntary and under the control of African decision makers. This was not just at the surface level of daily exchange, but even at deeper levels. Europeans possessed no means, either economic or military, to compel African leaders to sell slaves.« S. 125. 39 Solche Gleichmäßigkeit des Arbeitskräfteangebots wäre bei mehr oder weniger freiwilliger Emigration aus Europa nicht aufrecht zu erhalten gewesen. 40 Dazu auch Herbert Kleins Konzept der »african autonomy« (Atlantic Slave Trade, S. 55). Vgl. auch Eltis, Rise of African Slavery, S. 138, 145ff. (bes. 149), 161f.

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Angola anzusiedeln.41 Während des gesamten atlantischen Sklavereizyklus gelangten elf bis zwölf Millionen Afrikaner in den Sklavenhandel – hinzu kommt eine nicht schätzbare Zahl derjenigen, die bei der Sklavenjagd und beim Transport zur Küste ihr Leben verloren.42 Diese Menschen waren Opfer eines Massenverbrechens; Afrika als Ganzes war dies nicht. Ökonomische Argumente liefern notwendige, aber noch keineswegs hinreichende Gründe für Plantagenwirtschaft und Afrikanersklaverei. Sie hätten sich nicht durchgesetzt, wäre ihnen die Vetomacht der Ideen kraftvoll entgegengetreten – in der Weise etwa, wie letzten Endes Juristen und Theologen der spanischen Spätscholastik die Anwendung des aristotelischen Konzepts eines »natürlichen« Sklavenschicksals auf die Indios Hispanoamerikas verhinderten. Man muß hier die Paßgenauigkeit von Gewinnkalkül, ethischen Normen und kulturellen Wertorientierungen besonders sorgfältig bedenken.43 Die Wiedergeburt der Sklaverei war keine schlichte Umsetzung von Ideen in Wirklichkeit. Selbstverständlich hatte man in der Frühen Neuzeit die antike Sklaverei nicht völlig vergessen, doch man interessierte sich wenig dafür. Die bekannteste Sklaventheorie des Altertums, diejenige des Aristoteles, wurde selten zur Rechtfertigung der Afrikanersklaverei herangezogen, während das römische Recht zwar als leere Muschelschale einer längst verschwundenen Institution die Denkmöglichkeit totaler Unterordnung konservierte, aber nicht zwangsläufig zur praktischen Realisierung solcher Konzepte führte. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, als sich abolitionistische Stimmen mehren, fallen weniger die Rechtfertigungsversuche der Sklaverei ins Gewicht als das Schweigen darüber. Sklaverei erschien nicht rechtfertigungsbedürftig zu sein. Eine vollausgebildete Apologie der Sklaverei – sie sei ein Schutz gegen die Tyrannei des Mob, die Garantie für eine harmonische Weltordnung und überhaupt die einzige Möglichkeit, die Schwarzen zu zivilisieren – trat erst nach 1830 in der Publizistik der amerikanischen Südstaaten in Erscheinung.44 Im Rückblick erscheint dies als eine Position der terminalen Defensive, formuliert zu einer Zeit, als die Delegitimation der Sklaverei weit vorangeschritten war. 41 Das Hauptproblem hätte vermutlich in der gesundheitlichen Unverträglichkeit Westafrikas für Europäer gelegen. 42 11 Millionen: Klein, Atlantic Slave Trade, S. 129. 12 Millionen: D. Richardson, Volume of Trade in: Drescher u. Engerman (Hg.), Historical Guide S. 389. 43 Zur Ideengeschichte des Themas Sklaverei in Europa vgl. D. B. Davis, The Problem of Slavery in Western Culture, Ithaca, N.Y. 1966; E. Flaig, Sklaverei, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt 1995, Sp. 976–985. 44 Vgl. L. E. Tise, Proslavery: A History of the Defense of Slavery in America, 1701–1840, Athens, Ga. 1987, S.261ff. Von der erzieherischen Wirkung der Sklaverei sind im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch noch jene Europäer überzeugt, die einen gegen arabische Sklavenhändler und -halter gerichteten Emanzipationsdruck ablehnen und die Notwendigkeit der Afrikanersklaverei betonen. Stimmen zitiert B. Lewis, Race and Slavery in the Middle East: An Historical Enquiry, New York 1990, S. 82–84.

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Insgesamt gesehen, ist die Ideengeschichte nur von eingeschränktem Nutzen, wenn es darum geht, die neuzeitliche Wiederbelebung von Sklaverei in ihrer extremsten Form zu erklären. Die wichtigsten Ursachen waren wirtschaftlicher Natur. Bei einem bestimmten Zusammentreffen von Nachfrage und Technologie, Landüberfluß und Arbeitskräftemangel, Zwangsmitteln und Gewaltbereitschaft hätte es kaum ein anderes Resultat geben können. Gleichzeitig waren die normativen Gegenkräfte zu schwach. Ein kulturelles Tabu – keine abendländische Spezialität, denn die Christenheit hat es wohl vom Islam übernommen – untersagte allein die Versklavung von Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern.45 Weder religiöse noch naturrechtliche Skrupel standen der Versklavung von Nichtchristen gegenüber. Die neuzeitliche Freiheitsidee, wie sie sich im 17. Jahrhundert in den fortgeschrittensten kapitalistischen Gesellschaften und Welthandelsmächten, den Niederlanden und England, herausbildete, implizierte einen sehr weit gefaßten individualistischen Eigentumsbegriff und zugleich eine beispiellos scharfe Ausgrenzung von Außenseitern. Dies machte sich schon im Raumbild bemerkbar. Die Sklavengesellschaften der Frühen Neuzeit unterschieden sich vom typologisch benachbarten Fall des antiken Italien dadurch, daß die Sklaverei ausgelagert und an die koloniale Peripherie verbannt war. Die Produkte der Sklaven wurden in der Metropole konsumiert, die Erzeuger dieser Güter waren unsichtbar. Der Sklavenhandel spielte sich unter Ausschluß der Öffentlichkeit ab, nur selten von Beteiligten oder reisenden Augenzeugen geschildert. Die Afrikaner, die man in England oder Frankreich sah, waren keine Sklaven. Umgekehrt blieben die Sklaven selbst verborgen, oft sogar ihren Eigentümern, die es sich als »absentee owners« auf südenglischen Landsitzen gut gehen ließen. Innerhalb der atlantischen Kolonialreiche entstand somit ein im Altertum unbekannter Gegensatz zwischen vollkommen sklavenlosen Metropolen und vollkommen von Sklaverei durchdrungenen Peripherien. Diese Polarität wiederholte sich in den Sklavengesellschaften der Neuen Welt. Der Sklavenstatus war, nirgendwo drastischer als in den englischen Kolonien, ein nahezu unentrinnbares Verhängnis. Individuelle Freilassung, die Manumission, so kennzeichnend für Rom (aber auch für das portugiesische Brasilien), war ungemein selten, eine rassische Kastenordnung die zwangsläufige Folge.46 Über einer Masse von Schwarzen, die keine Bürger und noch nicht einmal Untertanen sein durften, thronte eine weiße Herrenkaste, die sich – wie 45 Im Islam galt von Anfang an ein generelles Sklavereiverbot, das nur durch explizite Ausnahmen durchbrochen werden durfte. Sklave war nur, wer von Sklaveneltern abstammte oder als Ungläubiger in einem jihad gefangen wurde. So Lewis, Race and Slavery, S. 6. Nicht-islamische Schutzbefohlene (dhimmi) durften nur versklavt werden, wenn sie rebellierten oder die Kopfsteuer nicht zahlten. Damit brachte der Islam eine deutliche Verbesserung gegenüber der Antike. 46 Zu Manumission als Kriterium für die Härte von Sklavereisystemen: Davis, Problem of Slavery, S. 54–58; über die leichtere Manumission in Lateinamerika ebd., S. 262–281.

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später die unter sich sehr demokratischen Buren Südafrikas – die Wohltaten der Freiheit gönnte.47 Im 18. Jahrhundert waren die Lebenssphären der Weißen in den britischen Kolonien Amerikas die freiheitlichsten Gesellschaften der Welt. Man erkennt das an einem untrüglichen Indikator: der Stellung der Juden. Sie war in Virginia oder Barbados noch bedeutend günstiger als im vergleichsweise liberalen britischen Mutterland.48 Die Ausgrenzungslinien zwischen Eigenem und Fremdem wurden zunehmend nach ethnisch-rassischen Kriterien gezogen, Freiheit und Unfreiheit entlang dieser Linien verteilt. Hinter konfessionellen Feindseligkeiten und nationalen Antagonismen verbarg sich eine ungewöhnlich starke ethnische Solidarität der Weißen.49 Auch wenn biologische Lehren vom unterschiedlichen Wert der Menschenrassen erst seit dem späten 18. Jahrhundert deutlich formuliert wurden und Einfluß gewannen, waren frühneuzeitliche Vorstellungen von bürgerlicher Freiheit in eine dichotomische Rassenordnung eingeschrieben. Wohlgemerkt: Diese Vorstellungen waren nicht in ihrer Substanz rassistisch, sondern nur in ihrem Anwendungsbereich rassistisch eingeschränkt. Eben deshalb bargen sie ein Universalisierungspotential, das über ihren frühneuzeitlichen Geltungskreis hinauswies und zum Ende der Sklaverei beitragen konnte.

IV. Das Ende der Sklaverei sollte nicht als eine lineare Kette von Daten und Ereignissen aufgefaßt werden, sondern als ein Prozeß, der sich ein Jahrhundert lang – von den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts bis zu den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts – im Wechselspiel der Initiativen kreuz und quer über den Atlantik hinweg vollzog: ein ganz und gar nicht stetiger Prozeß, dem Vorstellungen von unaufhaltsamer Entwicklungslogik nur schwer gerecht werden. Allein der mit jedem Emanzipationsschritt geringer werdende Spielraum der verbliebenen Sklavenhalter deutet eine gewisse Richtung an. Damit scheiden zwei Erklärungsmuster aus: zum einen die Vorstellung, es handele sich um die zwangsläufige Entfaltung eines tief verwurzelten okzidentalen Freiheitsstrebens, zum anderen das Argument (das ausgerechnet von Wirtschaftshistorikern 47 In diesem Zusammenhang ist lange und heftig über den »Paternalismus« der Sklavenbesitzer in den Südstaaten gestritten worden. Die Grundpositionen umreißen P. J. Parish, Slavery: History and Historians, New York 1989, S. 50–52; P. Kolchin, Die südstaatliche Sklaverei vor dem amerikanischen Bürgerkrieg und die Historiker. Zur Debatte 1959–1988, in: GG, Jg. 16, 1990, S. 161–186, hier S. 174–176. 48 Vgl. Eltis, Rise of African Slavery, S. 239–242. 49 Dies ist im Zusammenhang kollektiver Identitätsbildungen in der atlantischen Welt zu interpetieren. Vgl. N. Canny u. A. Pagden (Hg.), Colonial Identity in the Atlantic World, 1500–1800, Princeton 1987.

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entkräftet wurde) die Sklaverei habe sich ökonomisch überlebt. Man gelangt zu einer geschichtstheoretisch recht aufschlußreichen Beobachtung: Wenn wir es mit einem zyklischen Verlauf wie dem Aufstieg und Fall der Sklaverei zu tun haben, dann trifft nicht unbedingt ein und dieselbe Erklärungsweise auf sämtliche Phasen des Zyklus zu. Kann die Ökonomie die Entstehung der atlantischen Sklaverei recht gut erklären, so bewährt sie sich wenig oder gar nicht bei der Rechenschaft über deren Untergang.50 Es war ironischerweise eine falsche wirtschaftstheoretische Lehrmeinung, die zur Diskreditierung der Sklaverei besonders wirkungsvoll beitrug: Adam Smiths 1776 geäußerte Überzeugung, freie Lohnarbeit sei per se produktiver und für Unternehmer rentabler als »gang labour« von Sklaven; Sklaverei sei weniger ein moralisches Übel als ein irrationaler Anachronismus und Atavismus.51 Heutige Wirtschaftshistoriker glauben, diesen Satz bestreiten zu können. Aber er wurde zu einem Dogma des Abolitionismus, »Free Labor« zu einem der beliebtesten Schlachtrufe des Nordens im Amerikanischen Bürgerkrieg. Zu diesem Impuls kamen weniger nutzenorientierte Überzeugungen hinzu. Man kann sie unter dem Sammelnamen des »Humanitarismus« bündeln. Die machtvollsten unter ihnen, aber keineswegs alle, waren religiös motiviert, zuerst bei den Quäkern, die man die erste »international pressure group« genannt hat,52 sodann beim »Evangelical Revival«, jener protestantischen Erneuerungsbewegung des späten 18. Jahrhunderts, der die Hauptvertreter des britischen Abolitionismus entstammten. Anders als man mit Blick auf das heutige Gewicht von Menschenrechtsfragen vermuten möchte, wurde die einflußreichste Kritik an der Sklaverei nicht in der Sprache der Menschen- und Bürgerrechte vorgetragen. Die amerikanischen und französischen Revolutionäre, die diese Sprache verwandten, kamen über die gespaltene Freiheitsvision des 17. Jahrhunderts nicht eindeutig hinaus. Die Verfassung der USA wurde von Sklavenhaltern mit schlechtem Gewissen geschrieben und war so unbestimmt gehalten, daß sie den weiteren Ausbau der Sklaverei im Süden nach der Jahrhundertwende nicht verhinderte.53 Daß sich dennoch während der Revolutionsperiode die Lage der Schwarzen in den nördlichen Staaten, die nur Gesellschaften mit Sklaven und keine Sklavengesellschaften waren, deutlich verbesserte, hat andere Gründe, etwa 50 Auch der undogmatische Marxist Blackburn vertritt diese These: »[...] slavery was not overthrown for economic reasons, but because it became politically untenable.« (Overthrow, S. 520, auch S. 522). 51 Zu Smith: Davis, Problem of Slavery, S. 434. 52 Ebd., S. 329, auch 292ff. 53 Die Verfassung selbst war ein mehrsinniges Instrument: »[...] the framers created an openended document that, while favorable to slavery in many respects, contained a reservoir of antislavery potential.« So D. G. Nieman, Promises to Keep: African-Americans and the Constitutional Order, 1776–1989, New York 1991, S. 13.

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den verbreiteten Einsatz schwarzer Soldaten (die dazu natürlich frei sein mußten) im Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien. Noch krasser waren die Widersprüche in Frankreich. Im Februar 1794 befreite der jakobinische Nationalkonvent die Sklaven im französischen Kolonialreich und schickte ihnen – Alejo Carpentier hat dies in seinem großartigen Roman »El siglo de las luces« (1962)54 wirklichkeitsnah dargestellt – mit dem Emanzipationsedikt zugleich auch die neue Errungenschaft der Guillotine. 1802 legte Bonaparte, bestrebt dem britischen Weltreich sein eigenes entgegenzusetzen, die Sklaven erneut in Ketten und gab sie ihren vormaligen Besitzern zurück. Nur im aufständischen Saint-Domingue kam er zu spät. Auch ein Expeditionsheer von 35.000 Mann, von denen 20.000 am Fieber umkamen, konnte das künftige Haiti nicht für Frankreich retten.55 Eindeutiger in ihrer Bewertung der Sklaverei als die großen Revolutionen mit ihrem Widerspruch zwischen Ideal und Realität war jene religiöse Empfindsamkeit, die sich in Großbritannien geradezu als Reaktion auf die Französische Revolution herausbildete. Nicht, daß Menschen ein allgemeines Recht darauf hätten, nicht gequält zu werden, war hier der zentrale Gedanke, sondern, daß es sündhaft und moralisch verwerflich sei, Qualen zuzufügen: also eine Ethik der heilenden Selbstreinigung und tatkräftigen Sühne, eher die Lösung eines Täter- als eines Opferproblems. Dieser Perspektivenwechsel, wie ihn – ohne religiöse Motive – als erster Montesquieu 1748 mit dem satirisch verpackten Vorschlag angeregt hatte, sich einmal in einen Sklaven hineinzuversetzen,56 erwies sich als außerordentlich handlungsbewegend. Nachempfindung und Mit-Leid – wichtige Themen auch in der keineswegs religiös grundierten Moralphilosophie der schottischen Aufklärung – verbanden sich auf eine geradezu explosive Weise mit dem durchaus egoistischen Interesse an den Vorzügen eines reinen Gewissens. Die Sklavenemanzipation ging nirgends (außer 1861 in Rußland und 1886 auf Kuba) auf die Einsicht von Regierungen zurück. Mit Blick auf das britische Abolitionsgesetz von 1833 sprach Alexis de Tocqueville zu Recht davon, es handele sich um eine Leistung der Nation, nicht ihrer Machthaber: »La vérité est que l’émancipation des esclaves a été, comme la réforme parlementaire, l’œuvre de la nation et non celle des gouvernants.«57 Unweigerlich war sie entweder, wie im Ausnahmefall Saint-Domingue, das Resultat revolutionärer Selbstmobilisierung der Farbigen oder der Mobilisierung außerparlamentarischer Öffent54 Dt. von H. Stiehl u.d.T. »Explosion in der Kathedrale«, Frankfurt a.M. 1977 55 Zur Entscheidung vom 20. Mai 1802 vgl. C. Wanquet, La France et la première abolition de l‘esclavage 1794–1802: Le cas des colonies orientales Îles de France et La Réunion, Paris 1998, S. 625–656. 56 Über Montesquieus Sicht der Sklaverei: Davis, Problem of Slavery, S. 402–408. 57 A. de Tocqueville, L’émancipation des esclaves [1843], in: Œuvres complètes. Bd. 3: Écrits et discours politiques, Paris 1962, S. 79–111, hier S. 90f.

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lichkeiten durch anfangs kleine Gruppen entschlossener Sklavereigegner. Die Massenresonanz, die diese auch infolge neuartiger Agitationstechniken fanden, vor allem in Großbritannien, verdankte sich nicht zuletzt dem Appell an moralische Empfindsamkeit und Schuldgefühl des Bürgers und vor allem auch der Bürgerin, die hunderttausendfach Petitionen unterschrieben.58 Die Sklaverei war in jenem Moment dem Untergang geweiht, als mit jedem Löffelgriff in die Zuckerdose das Seufzen der fernen Sklaven zu ertönen schien. Die Zuckerabstinenz, die radikale Abolitionisten sich auferlegten, ist das erste bekannte Beispiel für den politisch motivierten Konsumboykott, wie man ihn in unserer Zeit etwa gegen das Südafrika der Apartheid gerichtet hat. Auch in Nordamerika war die Politisierung des Gefühls eine der schärfsten Waffen gegen die Sklaverei. »So this is the little lady who made the big war,« soll Abraham Lincoln gesagt haben, als ihm mitten im Bürgerkrieg Harriet Beecher Stowe, die Verfasserin des melodramatischen Romans »Onkel Toms Hütte«, vorgestellt wurde.59 Lincoln, der Erzrationalist und religiöse Skeptiker, war sich der Macht der Emotionen wohl bewußt. Wie die Entstehung des frühneuzeitlichen Plantagenkomplexes die Macht der Ökonomie veranschaulicht, so ist die Sklavenemanzipation eines der besten Beispiele für das Zusammentreffen von normativem Wandel und politischen Systemkrisen als einem wichtigen Antrieb der Geschichte. Sie ist auch eine der folgenreichsten Etappen in der Formierung eines »westlichen«, transatlantischen, euro-amerikanischen Wertebewußtseins.60 Wirtschafts-, Kulturund Ideengeschichte spielen hier – wie so oft – auf eine nicht auflösbare Weise ineinander. »Britons never, never shall be slaves,« heißt es in der Hymne »Rule Britannia«.61 So äußerte sich im Entstehungsjahr des Textes 1740 der anti-absolutistische Affekt der Glorious Revolution; »Liberty« meinte in der Sprache dieser Revolution die bürgerliche Freiheit der Rechtssicherheit und des Eigentumsschutzes und die politische der Repräsentation, schloß aber zugleich auch unausgesprochen die Freiheit ein, anderen die ihre zu rauben. Hundert Jahre später war in Großbritannien und den Nordstaaten der USA aus der Maxime, Briten oder (weiße) Nordamerikaner dürften keine »Sklaven« sein, die weiter58 Allein 1833 wurden Anti-Sklaverei-Petitionen an das Parlament mit 1.309.913 Unterschriften versehen. C. Midgley, Women against Slavery: The British Campaigns, 1780–1870, London 1992, S. 67. 59 D. H. Donald, Lincoln, London 1995, S. 542 (»according to a family story«). 60 Zur Formierung eines transatlantischen Konsensus vgl. Davis, Slavery and Human Progress, S. 231ff. 61 In der Sprache der amerikanischen »patriots« vor 1776 bedeutete »slavery« das Gegenteil von Konstitutionalismus. Vgl. J. P. Reid, The Concept of Liberty in the Age of the American Revolution, Chicago 1988, S. 47ff. Über James Thomson, den Dichter der Hymne, vgl. Suvir Kaul, Poems of Nations, Anthems of Empire: English Verse in the Long Eighteenth Century, Charlottesville 2000 (zur Metaphorik von »slavery«: S. 2–7)

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gehende und nunmehr mit praktischem Nachdruck verfochtene Forderung geworden, kein Mensch, niemand, solle als Sklave leben. Trotz der zahlreichen Greuel des zweiten Kolonialzeitalters ist es denn auch nach der europäischen Invasion Afrikas in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts nirgends zur Einführung von Sklaverei als Rechtsinstitut gekommen. Der »Westen« des 19. Jahrhunderts definierte sich – im scharfen Gegensatz sowohl zum antiken Republikanismus wie zum neo-klassischen der Frühen Neuzeit – als sklavenfreie Zivilisation.62 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Herausforderung durch die Südstaaten der USA an weltgeschichtlicher Dramatik. Eine der führenden Wirtschaftsmächte der Erde konstituierte sich als unabhängiger Staat und bekannte sich auf dem Höhepunkt des liberalen Zeitalters selbstbewußt zu rassischer Ungleichheit, Sklavenhalterei und einer Demokratie für wenige bei Rechtlosigkeit der vielen. Die Unabhängigkeitserklärung der Konföderation vom 4. Februar 1861 war deshalb mehr als eine inneramerikanische Angelegenheit. Sie war eine innerokzidentale Rebellion gegen die gerade eben mühsam errungenen normativen Grundlagen des »Westens«. Man könnte den Amerikanische Bürgerkrieg – einen der heftigsten »clashes of civilizations«, die es in der Neuzeit gegeben hat – als einen verkappten Weltbürgerkrieg interpretieren. Wäre die Sezession gelungen, so hat der Historiker und Ökonomienobelpreisträger Robert William Fogel spekuliert, hätte dies weltweit einen Rückschlag für fortschrittliche Kräfte und »a drive for aristocratic privilege under the flags of paternalism and the preservation of order« bedeutet.63

V. Was also ist ein weltgeschichtliches Problem? Aufstieg und Fall der neuzeitlichen Sklaverei mögen als Beispiel dienen. Ein weltgeschichtliches Problem ist – um zum Anfang dieses Versuchs zurückzukehren – nicht ein Problem, das sich nur auf der Makroebene abhandeln ließe. Es geht nicht in schlechter Abstraktheit um nichts weniger als Jahrhunderte, Kontinente, Zivilisation. Die Sklaverei wurde hier gerade deshalb als Beispiel gewählt, weil ihre Erforschung, in Deutschland kaum bemerkt, zu den Pionierfeldern einer Mikro-Betrachtung 62 Bereits Elias hat auf Sklavenlosigkeit als Merkmal der nachantiken europäischen Gesellschaft hingewiesen: »Es fehlte in der Gesellschaft des Abendlandes die billige Arbeitskraft der Kriegsgefangenen, der Sklaven.« N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, Bern 1969, S. 69. 63 Fogel, Without Consent, S. 414. Fogel erkennt 1850/60 eine weltweite Krise der Demokratie. Ein Sieg der Südstaaten oder auch nur ein Remis in Nordamerika hätte die Sklavenbefreiung überall sonst in Frage gestellt und die politischen Bewegungen der Unterschichten in Europa gebremst. Dies wäre ein ernster Rückschlag für die Demokratisierung Europas gewesen.

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gehört. Sowohl in amerikanischen wie in afrikanischen Kontexten hat man lange, bevor man solche Sichtweisen auf die deutsche und europäische Geschichte anwandte, die Handlungsinitiative (»agency«, wie es später heißen sollte) der Unterdrückten entdeckt. Interviews mit und Autobiographien von früheren Sklavinnen und Sklaven haben dabei früh eine große Bedeutung erlangt.64 Die Sklavereiforschung hat bereits seit Kenneth Stampps großem Werk aus dem Jahre 1956 von individuellen Erfahrungen und vom Alltagsleben berichtet,65 früh bedeutende Beiträge zur historischen Familien- und Geschlechterforschung geleistet,66 sich die Fragen von Identitätsbildung und –zerstörung gestellt, bevor dies Mode wurde,67 und sich zeitig mit der Anthropologie verbunden.68 Auf kaum einem anderen Gebiet der internationalen Geschichtswissenschaft sind so früh, umfassend und erfolgreich Studien über kleinräumige Gemeinschaften und »face-to-face interaction« betrieben worden – von Untersuchungen einzelner karibischer Elitegruppen, wie sie schon in den zwanziger Jahren entstanden69, bis hin zu Analysen der ganz konkreten Vorgänge und Erfahrungen auf Sklavenmärkten.70 Übrigens haben sich Historiker der Sklaverei auch früher als viele andere sozialwissenschaftlicher Konzepte bedient und sie kreativ weiterentwickelt. Am Fall der britischen Karibik zum Beispiel sind die Theorie der multiethnischen »plural society« entfaltet, der soziologische Be-

64 Vgl. J. W. Blassingame, Using the Testimony of Ex-Slaves: Approaches and Problems, in: Journal of Southern History, Jg. 41, 1975, S. 473–492; W. L. Andrews, To Tell a Free Story: The First Century of Afro-American Autobiography, 1760–1865, Urbana, Ill. 1986. 65 K. M. Stampp, The Peculiar Institution: Slavery in the Ante-Bellum South, New York 1956. Ein geographisch weit ausgreifender repräsentativer Sammelband ist St. Palmié (Hg.), Slave Cultures and the Cultures of Slavery, Knoxville 1995. 66 Klassisch: H. G. Gutman, The Black Family in Slavery and Freedom, 1750–1925, New York 1976; neuerdings etwa L. E. Hudson,Jr., To Have and to Hold: Slave Work and Family Work in Ante-Bellum South Carolina, Athens, Ga. 1997; B. E. Stevenson, Life in Black and White: Family and Community in the Slave South, New York 1996; D. G. White, »Ar’nt I a Woman?« Female Slaves in the Plantation South, New York 1985. 67 Das Problem von (wie viele heute sagen würden) »Identitätsbildung« unter der Sklaverei findet sich bereits bei den großen schwarzen Bürgerrechtsautoren des 19. Jahrhunderts, etwa Frederick Douglass und Booker T. Washington, danach bei sozial- und kulturhistorischen Pionieren wie Stampp und Genovese. Später etwa M. Sobel, The World They Made Together: Black and White Values in Eighteenth-Century Virginia, Princeton 1987; St. Stuckey, Slave Culture: Nationalist Theory and the Foundation of Black America, New York 1987; über »slaveholder identity« vgl. etwa J. R. Young, Domesticating Slavery: The Master Class in Georgia and South Carolina, 1670– 1837, Chapel Hill 1999. 68 Am bekanntesten in Deutschland wurde C. Meillassoux, Anthropologie der Sklaverei, Frankfurt a.M. 1989 (zuerst Paris 1986). Maßgebend bleibt weiterhin Patterson, Slavery and Social Death. Schon einer der Pioniere der Sklavereiforschung, der Holländer H. J. Nieboer, war Ethnograph; vgl. sein Werk Slavery as an Industrial System: Ethnological Researches, New York 1900. 69 Das Pionierwerk war L. Ragatz, The Fall of the Planter Class in the British Caribbean, 1763– 1833, New York 1928. 70 W. Johnson, Soul by Soul: Life Inside the Antebellum Slave Market, Cambridge, Mass. 1999.

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griff der Anomie exemplifiziert und die Idee sozialer »Kreolisierung« ausgearbeitet worden.71 Ein weltgeschichtliches Problem läßt sich also nicht durch die Generalisierungshöhe seiner Behandlung definieren. Ein großes Problem verlangt nicht unbedingt eine pauschale Antwort. Die weltgeschichtliche Betrachtungsweise darf daher keinesfalls mit leichtfertigem Verallgemeinern verwechselt werden. Es sind vielmehr vier Merkmale, die eine Fragestellung als weltgeschichtlich auszeichnen. Erstens geht es – Historikern als Spezialisten für Veränderung liegt diese Sichtweise nahe – um Krisen (in dem weiten Sinne, den Jacob Burckhardt diesem Begriff gegeben hat), Umbrüche und tektonische Verschiebungen, die auch dann eine große Zahl von Menschen in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen berühren, wenn ihre Ausgangspunkte eng lokalisierbar sind. Werden Genesis und Wirkung zusammengedacht, dann ist die Entstehung des industriellen Kapitalismus kein Thema allein der britischen, die Französische Revolution keines nur der französischen, die nationalsozialistische Machtergreifung keines ausschließlich der deutschen Geschichte. Während Historiker sich in vielen Situationen vor der teleologischen Falle des Wissens um Folgen hüten müssen und gut beraten sind, den Sinnhorizont der historischen Subjekte verstehend zu erfassen, also etwa die Geschichte der vorletzten Jahrhundertwende nicht auf den Fluchtpunkt 1914 hin konstruieren sollten, macht die weltgeschichtliche Betrachtungsweise aus dieser Not eine Tugend. Sie bekennt sich zur nachträglich tieferen Kenntnis und Einsicht des Chronisten und lotet die Wirkungen und Wirkungspotentiale des Geschehenen umfassend aus. Weltgeschichtlich fragen, heißt sich für zeitliche wie räumliche Nah- und Fernwirkungen von Ereignissen und Prozessen zu interessieren. Die Summe ihrer Wirkungen macht jeweils deren »welthistorische Bedeutung« aus. Es liegt daher ganz in der Logik eines universalgeschichtlichen Zugriffs, daß Robin Blackburn, der bedeutende Synthetiker der neueren Sklavereiforschung, zuerst sein Buch über das Ende und erst danach eine Darstellung des Aufstiegs der neuzeitlichen kolonialen Sklaverei schrieb und veröffentlichte.72 Zweitens ist »Raum« für weltgeschichtliche Problemstellungen eine abgeleitete, eine sekundäre, eine abhängige analytische Variable. Solche Problemstellungen gehen nicht von deutlich umgrenzten Raumeinheiten aus, wie Landesund Regionalgeschichte, Nationalgeschichte oder selbst eine sich selbst als

71 Vgl. M. G. Smith, Some Aspects of Social Structure in the British Caribbean about 1820, in: Social and Economic Studies, Jg. 1, 1953, S. 55–79; Ders., The Plural Society in the British West Indies, Berkeley 1965; O. Patterson, The Sociology of Slavery: An Analysis of the Origins, Development and Structure of Negro Slave Society in Jamaica, London 1967; E. Brathwaite, The Development of Creole Society in Jamaica, 1770–1820, Oxford 1971. 72 Vgl. Blackburn, Overthrow; Ders., Making.

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räumlich unproblematisch empfindende Geschichte Europas dies oft unwillkürlich tun. Sie sind offen dafür, wie sich Wirkungsketten ihre eigenen Raumzusammenhänge schaffen. Besonders deutlich läßt sich dies an kolonisierenden und reichsbildenden Expansionsvorgängen erkennen. Auch ist es kein Zufall, daß sich weitblickende Historiker – in unserer Zeit etwa Fernand Braudel, K. N. Chaudhuri oder Oscar Spate – immer wieder von maritimen Großräumen angezogen fühlen. Solche Räume sind weniger durch feste Staats- und Zivilisationsgrenzen strukturiert als durch variable Gegensätze zwischen Küste und Binnenland. Der Atlantik, als Naturraum seit jeher gegeben, wird erst durch die Eroberung und Kolonisierung Amerikas und die Inkorporation Afrikas vermittels des Sklavenhandels zu einer historischen Interaktionsarena. Weltgeschichte hat es mit der Entstehung und Entwicklung solcher Interaktionsarenen zu tun. Da Eroberung und Krieg dabei von größter Bedeutung sind, kommt sie ohne Militärgeschichte nicht aus,73 aber ebensowenig ohne eine Geschichte der biologischen Artenverbreitung und der »unification microbienne du monde« durch Krankheitserreger.74 Aus dem zweiten Punkt ergibt sich, drittens, daß eine weltgeschichtliche Problemstellung nicht ein nationalhistorisches »Narrativ« zum Ausgangspunkt nimmt, sondern ein kategorial faßbares Phänomen von potentiell universaler Wirkung und Verbreitung. Auch dafür ist die Sklaverei ein gutes Beispiel, zumal sich hinter ihrer Geschichte fundamentale Fragen von Hierarchisierung, Exklusion, Gewaltausübung und normativem Selbstentwurf von Gesellschaften verbergen. Andere Themen liegen auf der Hand: Kapitalismus, Konstitutionalismus, der moderne Verwaltungsstaat, usw. Viertens ist keine andere Art der Geschichtsschreibung in höherem Maße der Gefahr der Trivialisierung durch Deskriptivismus ausgesetzt als Weltgeschichtsschreibung. Bunte und exotische Bilderbögen aufzublättern, ist für sie kinderleicht. Die Anthropologisierung der Geschichtswissenschaft, im Prinzip ein großer Fortschritt, kann dann in eine Sackgasse führen, wenn sie auf halbem Wege steckenbleibt, anders gesagt, wenn sie das Interesse am »Fremden« weckt, ohne dieses Interesse von der miterlebenden Empathie zur distanzierteren Analyse zu läutern. Demgegenüber muß darauf beharrt werden, daß ein weltgeschichtliches Problem als Erklärungsproblem gefaßt werden sollte. Gefragt wird nach dem Warum von Ereignissen und Prozessen welthistorischen Formats, nach Ursachen, Gründen und Motiven. Je klarer kausale Zusammenhän73 Vgl. die großen Überblicke bei W. H. McNeill, The Pursuit of Power: Technology, Armed Force, and Society, since A.D. 1000, Oxford 1983; J. Black, War and the World: Military Power and the Fate of Continents 1450–2000, New Haven 1998. 74 Seit W. H. McNeill, Plagues and Peoples, Oxford 1977, ist dazu eine immense Literatur entstanden. Vgl. neuerdings die klug abwägende Diskussion bei J. Radkau, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000, S. 182ff. (etwa S. 188ff. über Alfred Crosbys bekanntes Konzept des »ökologischen Imperialismus«).

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ge zumindest hypothetisch dargelegt werden, desto erfolgreicher beweist Geschichtswissenschaft – will sie sich nicht damit begnügen, zu unterhalten oder »kompensatorisch« Sinndefizite zu therapieren75 – in der heutigen Wissenschaftskultur ihre Daseinsberechtigung. Es dürfte kein Zufall sein, daß Jared Diamond, der vielleicht beste kausalanalytische Universalhistoriker unserer Tage, gelernter Naturwissenschaftler ist.76

Epilog Es gab im frühneuzeitlichen Europa ein großes Land, in dessen Staaten Afrikaner – trotz aller Alltagsdiskriminierung – als freie Menschen leben durften, in dem es keine mächtige Pflanzerlobby gab und aus dessen Häfen keine Sklavenschiffe ausliefen. Dieses Land war Deutschland. Es wird Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen. Der englische Philosoph Richard Mervyn Hare beginnt 1979 seinen Essay »What is Wrong with Slavery?« mit der gelassenen, aber den Leser schockierenden Bemerkung, er wisse wovon er rede, denn er sei selbst ein Sklave gewesen.77 Selbstverständlich kommt der namhafte Ethiker nicht dorther, wo man auch im 20. Jahrhundert – vielfach bis heute – noch Sklaverei findet.78 Es hatte ihn nicht vor 1962 (als dort die Sklaverei rechtlich abgeschafft wurde) nach SaudiArabien verschlagen, er war kein Schuldknecht in Indien oder Brasilien gewesen und auch nicht zu härtester Kinderarbeit mißbraucht worden. Hare, so teilt er einige Seiten später beiläufig mit, gehörte zu einem jener Kommandos britischer, australischer und niederländischer Kriegsgefangener, die 1942/43 für die Japaner eine Eisenbahn durch den burmesisch-siamesischen Dschungel bauen mußten; jeder vierte überlebte diesen Arbeitseinsatz nicht.79 Wäre der Philosoph zur gleichen Zeit als Russe in die Hände der Deutschen gefallen, hätte ihn Ähnliches und womöglich noch Schlimmeres ereilt. Wenn man genau liest, dann sagt Richard Hare, er sei nur »in a manner of speaking«, gewissermaßen also, ein Sklave gewesen: bloß vorübergehend und, formal gesehen, im Status eines Kriegsgefangenen. Die Rechte eines Kriegsgefangenen, also etwa die Verschonung von Zwangsarbeit, waren ihm aber ver75 Das Nötige dazu bei J. Mittelstraß, Die Geisteswissenschaften im System der Wissenschaft, in: W. Frühwald u.a., Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt a.M. 1991, S. 31– 39. 76 Vgl. J. Diamond, Guns, Germs and Steel: The Fates of Human Societies, London 1997. 77 R. M. Hare, What is Wrong with Slavery? in: T. L. Lott (Hg.), Subjugation and Bondage: Critical Essays on Slavery and Social Philosophy, Lanham 1998, S. 209–227, hier S. 209, 214. 78 Vgl. R. Sawyer, Slavery in the Twentieth Century, London 1986; K. Bales, Disposable People: Slavery in the New Global Economy, Berkeley 1999. 79 Vgl. J. W. Dower, War without Mercy: Race and Power in the Pacific War, New York 1986, S. 47f.

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weigert worden, und er hatte sich in der gelebten und erlittenen Situation nicht nur ähnlich wie ein Sklave, sondern als Sklave gefühlt. Vor einer solchen Erfahrung versagen spitzfindige Definitionen. Ob man die Gefangenen der Kaiserlich-japanischen Armee oder die Insassen sowjetischer oder chinesischer Straflager als »Sklaven« bezeichnen kann, ist von sekundärer Bedeutung und ohne Konsequenz. Geht es um das Leidensmaß, dann läßt sich sagen, daß die verschleißende Brutalität der alten Sklaverei, die im schlimmsten Fall Schonung nicht kannte, immerhin vor dem Gedanken einer planmäßigen »Vernichtung durch Arbeit« halt gemacht hatte. Der Sklave war eine Investition, der man zumindest ein Minimum an werterhaltender Sorge zuteil werden ließ und der der Buchstabe des Gesetzes ein Minimum an Schutz gewährte. In den amerikanischen Südstaaten wurden nach dem Versiegen der Zufuhr frischer Sklaven aus Afrika schwarze Arbeitskräfte zuweilen geradezu gehegt und gepflegt.80 Eine wichtige Besonderheit sklavereiartiger Zwangsarbeit im 20. Jahrhunderts besteht darin, daß sie post-emanzipatorisch ist. Sie wurde in Ländern und Zivilisationen (etwa auch in Japan während des Zweiten Weltkriegs und in China unter dem Kommunismus)81 wiedereingeführt, in denen sie bereits abgeschafft worden war. In jedem Fall trat sie zu einem Zeitpunkt in Erscheinung, zu dem die moralisch-politische Ablehnung der Sklaverei durch Eliten und Öffentlichkeit des Westens um ihre völkerrechtliche Ächtung ergänzt worden war. Dies war spätestens durch die internationale Konvention gegen Sklaverei von 1926 geschehen, auch wenn man sehen muß, daß gegen residuale Formen von Sklaverei in den Kolonialgebieten nicht immer mit der nötigen Entschlossenheit vorgegangen wurde.82 Damit kommen wir zu Deutschland. Elf bis zwölf Millionen Afrikaner wurden während dreier Jahrhunderte in die Neue Welt verschleppt. 9,5 bis zehn Millionen ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene (KZ-Häftlinge in Konzentrations-Stammlagern und Außenlagern, in der letzten Kriegsphase ebenfalls in großem Stil zur Arbeit eingesetzt, nicht gerechnet) arbeiteten während der sechs Jahre des Zweiten Weltkriegs innerhalb der Grenzen des Deut80 Dies läßt sich auch dann sagen, wenn man sich von übertriebenen Vorstellungen über die kulturelle und familiale Selbstbestimmung der Sklaven fernhält. Vgl. zur Kontroverse: Kolchin, Südstaatliche Sklaverei, S. 162–169. Einen plausiblen Mittelweg vertritt ein sozialhistorischer Klassiker: E. D. Genovese, Roll, Jordan Roll: The World the Slaves Made, New York 1972. 81 Vgl. B. Martin, Japanische Kriegsverbrechen und Vernichtungspraktiken während des Pazifischen Krieges (1937–1945), in: D. Dahlmann u. G. Hirschfeld (Hg.), Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945, Essen 1999, S. 133–151; J.-L. Domenach, Der vergessene Archipel. Gefängnisse und Lager in der Volksrepublik China, dt. v. C. Langendorf, Hamburg 1995; H. H. Wu, Laogai: The Chinese Gulag, Boulder, Col. 1992. 82 Eine wertvolle Fallstudie ist M. A. Klein, Slavery and Colonial Rule in French West Africa, Cambridge 1998; theoretisch wichtig zu Sklaverei und vergleichbaren Fällen: E. A. Nadelmann, Global Prohibition Regimes: The Evolution of Norms in International Society, in: International Organization, Jg. 44, 1990, S. 479–536.

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schen Reiches83 unter grausamsten Umständen für ein System, das einer seiner Urheber, Albert Speer, selbst als »Sklavenstaat« bezeichnet hat.84 Ulrich Herbert, der beste Kenner der Materie, urteilt: »Der nationalsozialistische ›Ausländer-Einsatz‹ zwischen 1939 und 1945 stellt den größten Fall der massenhaften, zwangsweisen Verwendung von ausländischen Arbeitskräften in der Geschichte seit dem Ende der Sklaverei im 19. Jahrhundert dar.«85 Das einzige große Land Europas ohne historisches Sklavereiproblem wird im 20. Jahrhundert zu einem Sklavenhalter sondergleichen. Dieses Paradox ist zunächst nichts als ein rein deskriptiver Befund. Anders als Spanier, Portugiesen, Niederländer, Engländer und Franzosen besaßen die Deutschen während der Frühen Neuzeit keine überseeischen Kolonien, in denen sie die Sklaverei hätten einführen können. Hätten sie die Chance dazu besessen, dann hätten auch sie in tropischen Besitzungen Sklavereisysteme errichtet; es gibt nichts in der älteren politischen Kultur der Deutschen, das derlei verhindert hätte. Anders als das Zarenreich wurde Deutschland nicht insgesamt, sondern nur an seinem ostelbischen Rand zu Beginn der Neuzeit von der Etablierung der »Zweiten Leibeigenschaft« erfaßt.86 Der größte Teil Deutschlands nahm in seiner Agrarverfassung einen »westlichen« Entwicklungsweg. Unter den vorwiegenden grundherrschaftlichen Verhältnissen war der deutsche Bauer kein Leibeigener und Quasi-Sklave. Man kann bei der Registrierung des Paradoxons stehen bleiben: Die Deutschen, die in der Frühen Neuzeit niemanden versklaven und selbst keine Sklaven sind, finden es in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts möglich, Millionen von Fremden einem allen Rechtsnormen und »westlichen« Werten widersprechenden sklavereiartigen Ausbeutungssystem innerhalb der eigenen Grenzen zu unterwerfen, in zahlreichen der militärisch eroberten Gebiete Osteuropas ähnliche Verhältnisse einzuführen und noch wesentlich weiter gehende Pläne zur Errichtung rassistisch begründeter Arbeitssklaverei nach einem gewonnenen Krieg zu schmieden.87 Zögert man, das Paradox als vollkom83 Nach U. Herbert, Das Millionenheer des modernen Sklavenstaats, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. März 1999, S. 54. 84 A. Speer, Der Sklavenstaat. Meine Auseinandersetzungen mit der SS, Stuttgart 1981. 85 U. Herbert, Der «Ausländer-Einsatz» in der deutschen Kriegswirtschaft, 1939–1945, in: Ders., Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1995, S. 135, hier S. 121. 86 Vgl. im Überblick: H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1987, S. 71–74. Vgl. auch gesamteuropäische Deutungen dieses Prozesses, etwa P. Anderson, Lineages of the Absolutist State, London 1974, S. 175ff.; J. Blum, The End of the Old Order in Rural Europe, Princeton 1978, S. 38ff. Es gab allerdings in einigen deutschen Rechtskodices, etwa in Bayern, Vorkehrungen für extreme Formen von Leibeigenschaft. 87 Die geplante Versklavung der unterworfenen Bevölkerung des Ostens muß im Zusammenhang noch weiter gehender Vernichtungspläne gesehen werden, wie sie in der Geschichte der atlantischen Sklaverei unbekannt waren. Vgl. zuletzt C. Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 44ff.

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men zufällig zu betrachten, sucht man also nach sinnhaften Zusammenhängen, dann ist zunächst Vorsicht vor Kurzschlüssen und Mißverständnissen angebracht. Selbstverständlich ist das Fehlen einer frühneuzeitlichen kolonialen Vergangenheit keine ursächliche oder dabei gar hinreichende Voraussetzung für entfesselten Terror in einer neo- oder post-kolonialen Epoche; wäre es anders, dann hätten die Schweiz oder Schweden im 20. Jahrhundert zu Sklavenhalternationen werden müssen. Schon daher wäre weder eine Apologie des vormodernen Kolonialismus als Immunisierung gegen moderne Staatsverbrechen denkbar noch gar eine historisierende Entlastung des Nationalsozialismus durch seine Einbettung in weltgeschichtliche Prozesse. Lassen sich also – vorbehaltlich gründlicherer Klärung – zumindest hypothetische Überlegungen über diesen eigentümlichen Aspekt eines deutschen Sonderweges – den Übergang von Sklavereiabstinenz zu Massenversklavung anstellen? Mir scheinen drei Vermutungen nachdenkenswert zu sein. Erstens ist die Wissenschafts- und Diskursgeschichte hier zumindest symptomatisch aufschlußreich. Die deutsche Althistorie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus hat, wie Moses Finley zeigen konnte, die Sklaverei bagatellisiert oder gar glorifiziert, sie mitunter sogar als unvermeidliche Voraussetzung hoher Kulturleistungen betrachtet.88 Das kann keineswegs als zeittypisch und selbstverständlich gelten, denn in Frankreich etwa war zuvor die Kritik an der kolonialen Sklaverei überhaupt erst der Anstoß für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Sklaverei der Antike gewesen.89 Ein zweite deutsche Eigentümlichkeit war ein Charaktermodell der Unerbittlichkeit und Härte, wie man es zum Beispiel in Großbritannien, dem Land des Gentleman-Ideals, nur ganz selten findet und das in gewisser Hinsicht als die deutsche Antwort auf den englischen Gentleman gelten kann. Vor allem Nietzsche, die Nietzscheaner und die deutschen Sozialdarwinisten haben in einer beispiellosen Weise Hohn und Spott über die angebliche »Sklavenmoral« des Christentums und überhaupt eines jeden Humanitarismus ausgegossen. Das Dritte ist eine noch weithin spekulative These: Außer in Rußland, wo eine – in der Durchführung halbherzige und unvollständige (»with the interest of the masters at heart«)90 – Emanzipation der Leibeigenen 1861 vom Zaren 88 Vgl. Finley, Ancient Slavery and Modern Ideology, Kap. 1. Finley rekonstruiert eine wissenschaftliche und moralische Verfallsgeschichte im Intervall vom frühen Theodor Mommsen (1854) zu Eduard Meyer (1901) und dessen deutschen Nachfolgern. In diesem Zusammenhang wäre die (durchaus ambivalente) Faszination der Althistoriker durch Sparta zu beachten. Vgl. K. Christ, Spartaforschung und Spartabild, in: Ders., Griechische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1996, S. 9–57. 89 Der große Henri Wallon, Verfasser der maßstäblichen »Histoire de l’esclavage dans l’Antiquité« (1847), war von einem starken abolitionistischen Impuls getrieben und schrieb sowohl über antike als auch über neuzeitliche Sklaverei. Er war Mitglied der Kommission, die 1848 das definitive Emanzipationsdekret formulierte. 90 Kolchin, Unfree Labor, S. 375.

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Alexander II. unter dem Eindruck des verlorenen Krimkrieges dekretiert wurde, war die Abschaffung der Sklaverei mit großen öffentlichen Konvulsionen und Kämpfen, mit Protestaktionen und intellektuellen Debatten verbunden.91 Die Deutschen haben niemals diese prägende kathartische Kollektiverfahrung der westlichen Demokratien durchlebt: die Erfahrung der Selbstbefreiung von einer Sklavenhaltervergangenheit.92 Die großen abolitionistischen Massenkampagnen zwischen 1823 und 1838 rüttelten die britische Öffentlichkeit auf, ja, waren überhaupt das erste Beispiel für einen außerparlamentarischen Protest nicht der radikalisierten Menge, des städtischen »Mobs«, sondern großer Teile des gesitteten Bürgertums. Das Thema rief zeitweilig die bedeutendsten Denker, Prediger und Parlamentsredner des Landes auf den Plan. Es war aufs engste in eine politische Systemkrise ersten Ranges eingebunden. Nicht zufällig siegten die Abolitionisten 1833 mit dem Rückenwind der großen Wahlrechtsreform des Vorjahres, mit der der moderne britische Parlamentarismus beginnt. »Anti-slavery« wurde zum Symbol politischen Fortschritts, sozialer Reform, moralisch-religiöser Erneuerung und nationaler Überlegenheit.93 In Frankreich baute sich der Reformdruck langsamer auf, zunächst während der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts in intellektuellen Zirkeln, dann seit etwa 1840 mit größerer agitatorischer Emphase. Führende Köpfe engagierten sich für die Sache der Sklaven: Benjamin Constant, Tocqueville, Lamartine, Victor Hugo. Die Energien entluden sich dann aber 1848 umso heftiger. Die Sklavenbefreiung gelang, nachdem der Sturz der Julimonarchie das Signal zu Aufständen auf den Antillen gegeben hatte. Die revolutionäre Fraternitätsrhetorik von 1789 brach wieder hervor; die Sklavenbesitzer verloren ihre Bundesgenossen im Mutterland. Im französischen Fall fehlten die religiösen Beiklänge des britischen Abolitionismus. Doch die politische Entscheidung gegen eine unhaltbare Institution war nicht weniger deutlich, und die Erleichterung darüber, daß das Land der Erklärung der Menschen91 Es gab Kritik von Intellektuellen an der Institution der Leibeigenschaft, aber keine Massenbewegungen gegen sie wie in Westeuropa und den USA. Vgl. zu den Kritikern um die Mitte des 19. Jahrhunderts: J. Blum, Lord and Peasant in Russia: From the Ninth to the Nineteenth Century, Princeton 1961, S. 566–568; zur Entscheidungsbildung der Autokratie dort S. 577ff. 92 Auch individualpsychologisch ist möglicherweise eine Art von Selbstbefreiung die Voraussetzung dafür, die eigene Position kritisch zu betrachten und sich selbst wie die »Gegenseite« nach den gleichen Kriterien zu beurteilen. 93 Einen anschaulichen Eindruck von der Dynamik der abolitionistischen Mobilisierung in Großbritannien vermittelt S. Drescher, Capitalism and Antislavery: British Mobilization in Comparative Perspective, New York 1987, bes. Kap. 3–6. Zur Forschungslage Ders., Trends in der Historiographie des Abolitionismus, in: GG, Jg. 16, 1990, S. 187–211. Vgl. auch eine Sammlung von Dreschers Aufsätzen: From Slavery to Freedom: Comparative Studies in the Rise and Fall of Atlantic Slavery, Basingstoke 1999. Zur inneren Welt des Abolitionismus vgl. D. Turley, The Culture of English Antislavery, 1780–1860, London 1991, zur Mobilisierung in der Anfangszeit: J. R. Oldfield, Popular Politics and British Anti-Slavery: The Mobilisation of Public Opinion against the Slave Trade 1787–1807, Manchester 1995, bes. Kap. 4–6.

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und Bürgerrechte nun um eine Heuchelei ärmer sei, nicht weniger groß als das britische Pathos erfolgreicher Selbstheilung.94 Vollends der Amerikanische Bürgerkrieg war ein Kollektivdrama gewaltigsten Ausmaßes, der Höhe- und Endpunkt eines abolitionistischen Kampfes, der nahezu ein Jahrhundert zuvor begonnen hatte.95 Nach einem in jeder Hinsicht kostspieligen Sieg über das Monstrum »slave power« im eigenen Lande, war die Rückkehr zur Sklaverei ausgeschlossen. Auch wenn überall Rassismus fortbestand, sich oft sogar noch verstärkte und es in den USA nach dem Ende des Sezessionskrieges beinahe ein Jahrhundert dauerte, bis die Bürgerrechte der schwarzen Bevölkerung weitgehend durchgesetzt werden konnten, so läßt sich doch dies sagen: Der erfolgreiche Kampf gegen das System der Sklaverei und für dessen Opfer hat in den westlichen Demokratien den halbierten frühneuzeitlichen Freiheitsbegriff von Bürgerrechten für einige hin zu Menschenrechten für alle universalisiert und damit zugleich die Ergebnisse der früheren politischen Revolutionen – 1688, 1776, 1789 – humanitär gehärtet. Erst 1832, 1848 und 1865 sind in diesem Sinne die großen Revolutionen zum Abschluß gekommen. Gerade in der deutschen Geschichtsschreibung, die begreiflicherweise kein Sensorium für die Bedeutung der Sklavereifrage entwickelt hat, ist diese humanitäre Revolution der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wenig beachtet worden.96 Die Deutschen haben eine solche kollektiv erfahrene Entlastung und Selbstzivilisierung niemals erlebt; sie hatten keine Gelegenheit dazu. In die Versuchung, Kolonialisten und Sklavenhalter zu werden, kamen die Deutschen nicht. Sie waren nicht gezwungen, das Thema der Sklaverei durchzuarbeiten und hinter sich zu lassen. So ging die humanitäre Revolution an Deutschland ebenso vorbei wie zuvor oder gleichzeitig die politische. Die Sklavenfrage blieb akademischen Frivolitäten anheimgegeben. Sie bewegte nicht die Herzen und nicht den Verstand. Die großen, vom Sklavereiproblem ausgelösten Krisen im medizinischen Sinne, die den »body politic« in Großbritannien und Frankreich schüttelten und ihn in den USA an den Rand des Exitus trieben, Krisen, die schließlich in heilsame Erneuerung mündeten, ergriffen die Deutschen nicht. Solcher moralische Immunschutz – oder anders: eine durch die Umstände 94 Vgl. Blackburn, Overthrow, S. 482–512. 95 Vgl. als Interpretation des Gesamtprozesses: J. B. Stewart, Holy Warriors: The Abolitionists and American Slavery, überarb. Auflage, New York 1997. Vgl. auch die Biographie eines der einflußreichsten Sklavereigegner: H. Mayer, All On Fire: William Lloyd Garrison and the Abolition of Slavery, New York 1998. 96 Daß es daneben einzelne deutsche Analytiker und Kritiker der Sklaverei gegeben hat und viele Stimmen, die die britische Abolition begrüßten, steht außer Frage. Der vermutlich bedeutendste deutsche Sklavereigegner ist Alexander von Humboldt gewesen, der die Sklaverei auf Kuba bei zwei Aufenthalten 1800–1 und 1804 an Ort und Stelle untersucht hatte und 1831 seine Studie darüber veröffentlichte: A. v. Humboldt, Cuba-Werk, hg. v. H. Beck, Darmstadt 1992 (= Studienausgabe, Bd. 3). Zu Humboldt als Kritiker der Sklaverei vgl. C. Minguet, Alexandre de Humboldt: Historien et géographe de l’Amérique espagnole (1799–1804), Paris 1969, S. 461–525.

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gewährte Chance kollektiven Lernens – hat ihnen aber beim Eintritt in die Turbulenzen des 20. Jahrhunderts gefehlt. Die deutsche Idee der Freiheit blieb blaß, abstrakt und selbstbezogen, unbelebt durch das stärkende Gefühl, auch einmal für die Freiheit Anderer gekämpft zu haben.

369

Abkürzungen AHR AJS AKG ASR CSSH FA GG GWU HAHR HEI HJ HJAS HR H&T HZ IAF IRSH JAS JBS JCH JDS JEH JEEH JHI JHS JICH JIH JPS JSH JWH KZfSS MAS NPL P&P PVS RH TAJB TRHS VSWG WP ZfG ZfS ZHF

370

American Historical Review American Journal of Sociology Archiv für Kulturgeschichte American Sociological Review Comparative Studies in Society and History Foreign Affairs Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Hispanic American Historical Review History of European Ideas Historical Journal Harvard Journal of Asiatic Studies Bulletin of the Institute of Historical Research History and Theory Historische Zeitschrift Internationales Asienforum International Review of Social History Journal of Asian Studies Journal of British Studies Journal of Contemporary History Journal of Developing Societies Journal of Economic History Journal of European Economic History Journal of the History of Ideas Journal of Historical Sociology Journal of Imperial and Commonwealth History Journal of Interdisciplinary History Journal of Peasant Studies Journal of Social History Journal of World History Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Modern Asian Studies Neue Politische Literatur Past & Present Politische Vierteljahresschrift Revue Historique Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte Transactions of the Royal Historical Society Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte World Politics Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Soziologie Zeitschrift für historische Forschung

Nachweise

1. H.-G. Haupt u. J. Kocka (Hg.), Geschichte im Vergleich, Frankfurt a.M. 1996, S. 271–313. 2. Geschichte und Gesellschaft, Jg. 22, 1996, S. 143–164. Um ein Postskriptum erweitert. 3. Vortrag auf der Herbsttagung 1997 der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Veröffentlicht in: Neue Sammlung, Jg. 38, 1998, S. 3–18. 4. W. Küttler u. a. (Hg.), Geschichtsdiskurs. Bd. 2: Modernisierungsschub des historischen Denkens, Frankfurt a.M. 1994, S. 202–215. 5. Historische Zeitschrift, Jg. 254, 1992, S. 281–340. 6. G. Hübinger u. a. (Hg.), Universalgeschichte und Nationalgeschichten. Ernst Schulin zum 65. Geburtstag, Freiburg i.Br. 1994, S. 51–72. 7. H. W. Blanke u. a. (Hg.), Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag, Köln 1998, S. 277–286. 8. C. Dipper u. M. Vogt (Hg.), Entdeckungen und frühe Kolonisation, Darmstadt 1993, S. 397–429. 9. Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte, Jg. 46, 1995, S. 101–138. Erheblich gekürzt. 10. E.-M. Auch u. S. Förster (Hg.), »Barbaren« und »Weiße Teufel«. Kulturkonflikte und Imperialismus in Asien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn 1997, S. 145–169. 11. H. Breuninger u. R.-P. Sieferle (Hg.), Markt und Macht in der Geschichte, Stuttgart 1995, S. 154–176. 12. Erstveröffentlichung. 13. Erstveröffentlichung auf der Grundlage eines Referats auf dem 10. norwegisch-deutschen Historikertreffen (Bergen, Juni 2000). Die kürzere Vortragsfassung erscheint im Bericht über dieses Treffen . 14. Erstveröffentlichung auf der Grundlage von Vorträgen am Max-PlanckInstitut für Geschichte, Göttingen, und an der Universität Konstanz. Eine wesentlich erweiterte und veränderte Fassung erschien als »Sklaverei und die Zivilisation des Westens«, München 2000 (Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Themen, Bd. 70). 371

Register Personenregister Abdel-Malek, Anouar 252 Acosta, José de 203 Acton, Lord (John Emerich Edward Dalberg) 115, 117 Adas, Michael 36, 177 Addison, Joseph 106 Adelung, Johann Christoph 178 Adenauer, Konrad 335 Adshead, Samuel A.M. 28 Albert, prince consort 112 Albertini, Rudolf von 285 Alexander I., Zar von Rußland 298 Alexander II., Zar von Rußland 367 Al-Gabarti, cAbdarrahman 264 Amin, Idi 317 Ancel, Jacques 221 d’Anghera, Petrus Martyr 99 Anquetil-Duperron, Abraham-Hyacinthe 96 Arnold, Matthew 149 Arnold, Thomas 118, 146 Atatürk, Mustafa Kemal 55, 279 Attila 136 Aurangzeb, Mogulkaiser 193, 273 Austen, Jane 250 Bacon, Francis 186 Bakunin, Michail A. 40 Banks, Sir Joseph 200 Barth, Fredrik 208, 210 Bartol’d, Vasilij Vladimirovic 251 Bairoch, Paul 22 Becker, Carl Heinrich 251 Bendix, Reinhard 25 Bentham, Jeremy 119, 141f. Bernal, Martin 91

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Berr, Henri 24 Beyme, Klaus von 333 Bhabha, Homi K. 256 Bitterli, Urs 188, 191, 207ff., 218, 231, 248 Blackburn, Robin 361 Bloch, Marc 11–5, 21, 24ff., 32, 35, 56, 151, 165, 171-5 Boas, Franz 18 Bodin, Jean 156 Bolingbroke, Henry Saint-John, Lord 133 Bolívar, Simon 313 Boorstin, Daniel J. 186f. Boswell, James 128 Botero, Giovanni 93 Bougainville, Louis Antoine de 101 Braembussche, Antoon A. van den 48, 55 Braudel, Fernand 13f., 21, 154, 166ff., 179, 181f., 343, 362 Breysig, Kurt 20, 24, 151, 163f. Bruce, James 201 Bry, Theodor de 93 Brzezinski, Zbigniew 286 Buckle, Henry Thomas 110, 112, 119f., 144, 149 Bücher, Karl 163 Buffon, Georges Louis Leclerc de 155 Bull, Hedley 290 Burckhardt, Jacob 322, 339, 361 Burke, Edmund 79, 81, 111, 138f., 315 Büsching, Anton Friedrich 79, 94 Camus, Albert 250 Cajanov, Aleksander V. 36 Calhoun, Craig 325f.

Canning, George 315 Carlyle, Thomas 110ff., 118–22, 138f., 144, 146 Carpentier, Alejo 357 Carter, Jimmy 286, 309, 311 Castlereagh, Robert Stewart, Viscount 315 Césaire, Aimé 250 Cézanne, Paul 159 Chamberlain, Houston Stewart 161 Champollion, Jean-François 96 Chardin, Sir John 94 Charles I., König von England 125 Chaudhuri, K. N. 362 Chulalongkorn, König von Siam 54 Churchill, Sir Winston Leonard Spencer 107, 287 Clarendon, Edward Hyde, 1st earl of 120f. Clavijero, Francisco Javier 102 Clendinnen, Inga 247f., 263, 265 Clive, Robert 189, 199 Cobden, Richard 305 Comte, Auguste 110, 161, 283 Condorcet, Jean Antoine Nicolas de Caritat de 100f., 178 Constant, Benjamin 367 Cook, James 101, 183–6, 199ff., 204, 208 Cortés, Hernán 185, 190, 203f., 245-8, 258f., 306, 317 Crefeld, Martin van 27f. Cromwell, Oliver 119, 125, 143 Curtin, Philip D. 177 Curtius, Ernst 156 Dahlmann, Dittmar 36 Dann, Otto 324 Darwin, Charles 110 Davis, David Brion 349 Defoe, Daniel 106 Delacroix, Eugène 314 Demangeon, Albert 221 Demeunier, Jean-Nicholas 17 Deval, Pierre 305 Diamond, Jared 179f., 182, 363 Díaz, Porfirio 54

Diderot, Denis 79, 83 Droysen, Johann Gustav 116 Dschingis Kahn 136 Durkheim, Emile 19, 21, 159, 163, 178 Eisenstadt, S.N. 25, 32, 52, 54, 57 Elias, Norbert 65 Elisabeth I., Königin von England 116, 125 Fanon, Frantz 252 Febvre, Lucien 165f., 212 Ferguson, Adam 84, 100, 112, 127, 129, 132–9, 144, 178 Fernández-Armesto, Felipe 181f. Fichte, Johann Gottlieb 161 Finer, Samuel E. 28 Finley, Moses I. 366 Fischer, Johann Eberhard 96 Flaubert, Gustave 253 Fogel, Robert William 359 Forbes, Duncan 123 Forster, Johann Reinhold 79, 129f. Forster, Georg 200f. Foucault, Michel 117, 252–5, 261ff. Francisci, Erasmus 93 Freyer, Hans 174 Fróis, Luís 15 Fueter, Eduard 99 Galton, Sir Francis 42f., 56 Gama, Vasco da 190f. Gandhi, Mohandas K. 89 Gatterer, Johann Christoph 94 Gaulle, Charles de 336f. Gellner, Ernest 30, 151, 178f., 182, 257f. George II., König von England 107 George III., König von England 105 Georgios V., Patriarch von Konstantinopel 314 Geyer, Dietrich 285 Geyer, Michael 177 Gibbon, Edward 11, 76, 78f., 84, 94, 96, 101, 112, 115, 118–22, 135–41, 148,172 Gilpin, Robert 340f. Glacken, Clarence J. 155

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Gladstone, William Ewart 312 Gobineau, Arthur de 161 Goethe, Johann Wolfgang von 81, 222 Goetz, Walter 164 Goldstone, Jack 31–4, 44f., 57, 62 Goody, Jack 27, 47, 62, 77f. Gramsci, Antonio 252 Green, John Richard 108 Grew, Raymond 176 Grousset, René 77 Guignes, Joseph de 96 Guizot, François 87 Haeckel, Ernst 87 Hakluyt, Richard 93 Hall, John A. 30 Hallam, Henry 107f., 112, 115, 118, 120f., 125 Hamann, Johann Georg 105 Hamilton, Gary G. 31 Hare, Richard Mervyn 363 Harrington, James 124, 133 Hastings, Warren 199, 303 Haushofer, Karl 165 Heeren, Arnold Hermann Ludwig 100 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 87, 100f., 161, 179f., 287, Heinrich VII., König von England 107, 126 Heinrich VIII., König von England 105 Helmolt, Hans F. 164 Herberstein, Sigismund Freiherr von 92 Herbert, Ulrich 365 Herder, Johann Gottfried 18, 100, 105, 155ff., 261 Herodot 100, 235 Hexter, J. H. 170 Hintze, Otto 20, 151 Hodgson, Marshall G. S. 77 Hoffmann, Stanley 288 Hourani, Albert 252 Hugo, Victor 367 Humboldt, Alexander von 81–3, 95, 100, 156, 187f., 201, 218 Humboldt, Wilhelm von 81, 100, 180 Hume, David 89, 103–150

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Huntington, Samuel 75 Hutcheson, Francis 131 Ibn Chaldûn 168 Ibrahim Pascha 314 Inden, Ronald 253f. Irving, Washington 185 Iselin, Isaac 100, 178 Ismail, Khedive von Ägypten 278 James I., König von England 125, 146 James II., König von England 109, 147 Jann, Rosemary 120 Jaspers, Karl 54 Jiang (Chiang) Kaishek 279, 309 Jinnah, Muhammad Ali 89 Johnson, Samuel 128 Joll, James 337 Jones, Eric. L. 30, 32, 48, 59, 77 Jones, Sir William 96, 98, 191 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 17 Kaempfer, Engelbert 95, 194f. Kangxi, Kaiser von China 193 Kant, Immanuel 156, 161, 195, 297 Keene, Donald 195 Kegley, Charles W. 291 Kehr, Eckart 284 Kennedy, John F. 309, 311 Kennedy, Paul 151 Khomeini, Ayatollah 75 Kolumbus (Cristóbal Colón) 185, 187, 194, 200, 208 Koyré, Alexander 157 Kraus, Karl 310 Kropotkin, Piotr A. 88 Lamartine, Alphonse de 367 Lamprecht, Karl 20, 152, 163, 170 Lapeyrère, Isaac de 95 Las Casas, Bartolomé de 204, 306 Lattimore, Owen 168 Leibniz, Gottfried Wilhelm 84, 349 Le Roy Ladurie, Emmanuel 153 Lessing, Gotthold Ephraim 105 Lewis, Bernard 252

Lichtenberg, Georg Christoph 183f., 199 Lincoln, Abraham 358 Lingard, John 107, 115, 118, 121 Livingstone, David 200 Locke, John 130f., 147 Louis-Philippe, König von Frankreich 300 Lubbock, John 149 Luhmann, Niklas 209 Lukács, Georg 250 Lundestad, Geir 327 MacArthur, Douglas 334 Macartney, George, Earl of 80, 264 Macaulay, Thomas Babington 82, 103– 50, 170 Macaulay, Zachary 141, 146 Mackinder, Sir Halford J. 158, 160, 287 Macpherson, James 128 Magellan (Fernão de Magalhães) 200 Maier, Charles S. 284 Mailly, Jean-Baptiste 81 Maine, Sir Henry 149 Maitland, Frederick William 117 Malte-Brun, Conrad 81 Malthus, Thomas Robert 133, 139 Mandela, Nelson 75 Mandeville, Bernard 134 Mann, Michael 25f., 30, 58 Mao Zedong 75, 87, 269, 319 Maria Stuart (Mary Queen of Scots) 143, 147 Marquard, Odo 163 Marsh, George Perkins 154 Martini, Martin 93 Martonne, Emmanuel de 166 Marx, Karl 19, 26, 40, 88, 179, 260, 286, 342 Massignon, Louis 256 Mauss, Marcel 21 McLennan, John F. 149 McNeill, William H. 154, 173–8, 181f., 216 Mehmed Efendi, Yirmisekiz Çelebi 86ff. Meier, Christian 322 Meinecke, Friedrich 132

Meiners, Christoph 80, 100 Metternich, Klemens Wenzel, Fürst von 298–301 Michelet, Jules 112, 165 Mill, James 119–22, 138–41, 146 Mill, John Stuart 47f., 87, 312, 315 Millar, John 100, 112, 119, 129, 132ff., 137 Miloševic, Slobodan 309 Moctezuma, Aztekenherrscher 245 Modelski, George 151 Mommsen, Theodor 116 Mommsen, Wolfgang J. 285 Monnet, Jean 335 Montesquieu, Charles-Louis de 17f., 77ff., 83, 87, 91, 100, 126, 130, 134–7, 156f., 236, 283, 357 Moore, Barrington, Jr. 25, 31–4, 45, 61 Morison, Samuel Eliot 186 Müller, Gerhard Friedrich 96 Muhammad cAli, Pascha v. Ägypten 299 Muhammad, Stifter des Islam 136, 236 Mumford, Lewis 154 Mussadiq, Muhammad 309 Nadir Shah 94 Nakayama, Shigeru 29 Napier, Sir Charles 305 Napoleon Bonaparte 81, 172, 202, 253, 259, 264, 296f., 313ff. Needham, Joseph 21, 29ff. Nehru, Jawaharlal 89 Nelson, Benjamin 21 Nelson, Horatio, Lord 314 Newton, Sir Isaac 82, 141 Niebuhr, Carsten 84 Nietzsche, Friedrich 366 Noriega Morena, Manuel Antonio 307, 310 Ockley, Simon 97f. Olearius, Adam 94 Ostwald, Wilhelm 163 Otto, Prinz von Bayern und König von Griechenland 315 Oviedo, Gonzalo Fernández de 95

375

Paige, Jeffrey 36 Paine, Thomas 139 Palmerston, Henry John Temple, 3rd Viscount 302 Parry, John H. 187 Patterson, Orlando 28 Paulsen, Friedrich 87 Péron, Juan Domingo 181 Philippson, Alfred 166 Pinzón, Martín Alonso 187 Pirenne, Henri 12 Pocock, J. G. A. 106, 129 Polanyi, Karl 20 Pomian, Krzysztof 217 Polo, Marco 187, 191 Pol Pot 317 Popper, Sir Karl R. 186 Poros, König im Punjab 190 Postel, Guillaume 92 Prakash, Gyan 255 Prescott, William H. 185f., 215, 246 Proust, Marcel 159 Pufendorf, Samuel 94, 130 Ranke, Leopold von 9, 97, 103f., 111ff., 117, 121, 218 Rapin-Thoyras, Paul de 125 Ratzel, Friedrich 156–68, 212 Raymond, André 291 Raynal, Guillaume Thomas, abbé 345 Reagan, Ronald 308f. Reinhard, Wolfgang 28, 285, 324ff. Reza Pahlavi, Schah des Iran 309 Ricardo, David 133 Ricci, Matteo 92, 192ff., 203 Ritter, Carl 94f., 100, 155f., 159, 164f. Robertson, William 115, 118, 120, 130, 132, 135–8, 143–6 Rodinson, Maxime 252 Roosevelt, Franklin D. 287, 308, 335 Rorty, Richard 254 Rossi, Pietro 24 Rostow, Walt W. 22, 51 Rousseau, Jean-Jacques 76 Runciman, W. G. 45 Rüsen, Jörn 170

376

Rushdie, Salman 89 Russell, Bertrand 88 Sack, R. D. 153 Saddam Hussein 309 Sahagún, Bernardino de 99f., 247 Sahlins, Marshall 204 Said, Edward W. 240–65 Sanderson, Stephen K. 179 Sartre, Jean-Paul 74 Schaeder, Hans Heinrich 77 Schieder, Theodor 327 Schiller, Friedrich 105 Schlözer, August Ludwig 80, 101, 155, 157 Schmidt, Gustav 285 Schmitt, Carl 287 Schmoller, Gustav 116 Schraeder, Peter J. 292 Schroeder, Paul W. 296 Schulin, Ernst 151 Schuman, Robert 335 Schumpeter, Joseph A. 275 Schulze, Hagen 324 Scott, Sir Walter 110, 138, 143f., 148, 172f. Seeley, Sir John 110, 115 Semple, Ellen Churchill 165 Sepúlveda, Juan Ginés de 204, 306 Sidney, Algernon 147 Silberman, Bernard 64 Simmel, Georg 209 Sjoberg, Gideon 27 Skocpol, Theda 25f., 31ff., 45, 55, 61 Smith, Adam 17, 87, 91, 100f., 112, 119, 124, 129-39, 143, 148, 178, 356 Sorokin, Pitirim A. 155, 175 Spate, Oskar H. 362 Speer, Albert 365 Spencer, Herbert 87 Spengler, Oswald 21, 151, 162, 171–4, 342 Spivak, Gayatri Chakravorty 256 Stampp, Kenneth 360 Steele, Richard 106 Stowe, Harriet Beecher 358 Stubbs, William 111, 117

Sun Yatsen 279 Sybel, Heinrich von 116 Tacitus, Publius Cornelius 105, 135, 137 Tagore, Rabindranath 89 Talleyrand, Charles Maurice de 301f. Tawfiq, Khedive von Ägypten 304 Tenbruck, Friedrich 24 Thatcher, Margaret 75 Thompson, E. P. 25 Thrupp, Sylvia L. 22 Thukydides 105 Tibawi, A. L. 250 Tillema, Herbert 291 Tilly, Charles 25, 27 Timur (»Tamerlan«) 136 Tipu Sultan (»Tippoo Saheb«) 80 Tocqueville, Alexis de 15, 357, 367 Todorov, Tzvetan 204, 240–65 Tout, Thomas Frederick 117 Toynbee, Arnold J. 21, 151, 155, 162, 171–6, 180 Treitschke, Heinrich von 116 Trevelyan, George Macaulay 110 Trigault, Nicholas (Trigautius) 92 Truman, Harry S. 335 Turgot, Anne Robert Jacques 100f., 129, 155, 178 Turner, Frederick Jackson 157, 215f., 230f. Tylor, Edward B. 149 Vattel, Emmeric de 319 Vega, Garcilaso de la 102 Verne, Jules 157 Vespucci, Amerigo 187 Veyne, Paul 39

Vico, Giambattista 100 Victoria, Königin von England und Kaiserin von Indien 147 Vidal de la Blache, Paul 165f. Virey, Julien Joseph 100 Vitoria, Francisco de 204 Vogel, Walther 164 Volney, Constantin-François Chassebœuf, Comte de 102 Voltaire 81, 83, 105, 135, 157, 195 Waitz, Georg 116 Walcott, Derek 89 Wallerstein, Immanuel 25f., 35, 58, 160, 167f., 179, 215–8, 270, 285 Wallis, Samuel 101 Webb, Walter Prescott 215f. Weber, Alfred 175, 342 Weber, David J. 214 Weber, Max 19ff., 24–7, 30, 49f., 56–60, 64, 77f., 151, 174, 178, 344 Wehler, Hans-Ulrich 285 Wells, H. G. 171–4, 181 Wieland, Christoph Martin 105 Wilkins, Charles 96 William III., König von England 109, 147 Williams, William Appleman 284 Wilson, Harold 74 Wilson, Woodrow 88, 310, 331 Wolf, Eric 36, 62 Wundt, Wilhelm 163 Xaver, Franz 192, 194 Ziebura, Gilbert 285 Zimmermann, Heinrich 200

377

Ortsregister Ägypten 276, 278, 299, 304f., 309, 314ff., 331 Äthiopien 181, 309, 332 Afghanistan 210, 288, 293, 307ff., 320 Afrika 7f., 20, 23, 40, 43, 46, 48, 50f., 55, 62, 65, 74f., 77, 88f., 92, 100f., 139, 152, 180, 184f., 197, 217–29, 237ff., 245, 257, 269f., 290, 293, 303, 305, 311, 318f., 329, 336, 345ff., 350–4, 359f., 362ff., Algerien 74, 82, 89, 229, 295, 300, 305, 336 Algier 197, 305 Amerika allgemein 7f., 11, 65ff., 78, 92, 95-100, 139, 147f., 152, 157–60, 164, 168, 180f., 184-96, 199ff., 205, 215–9, 223–6, 237ff., 245, 250f., 299, 305f., 343–62 Lateinamerika 15f., 23, 37ff., 46, 48– 53, 55, 62, 72, 99, 101, 164, 174, 184–9, 199-205, 223, 227, 236, 267–70, 306, 313–6, 329, 339, 353 Nordamerika 15, 32, 50–5, 65ff., 82, 85ff., 99–102, 147f., 157f., 160, 174, 177ff., 184–9, 199–202, 214, 217f., 223f., 227–31, 235ff., 243, 267, 287f., 295, 299f., 347ff., 353–9, 364, 368 siehe auch USA Angola 36, 290, 308, 353 Antillen 347, 367 Arabien 11, 80, 84, 92, 94, 97f., 136, 162, 174, 187, 197f., 352, 363 Argentinien 15f., 50, 181, 321 Armenien 39, 76, 225, 319, 334 Asien allgemein 7f., 19ff., 23, 28, 30–37, 40, 46-55, 59, 62, 67–90, 93–6, 100, 152, 180, 184, 187, 217, 219–26, 235–8, 241, 245, 248, 261, 266–282, 303, 339, 343ff. Zentralasien 34f., 40, 94–7, 101, 157f., 168, 181, 188, 210, 331 Ost- und Südostasien 12, 34f., 40, 44,

378

53, 57, 82, 92, 191–5, 199, 225-8, 239, 267, 270ff., 278, 317, 329, 339, 350 Athen 219 Atlantik 74f., 155, 184, 196, 218, 229, 313, 337, 345ff., 349f., 352–6, 362 Australien 15, 49, 77, 85, 168, 186, 222f., 229, 269, 289, 327, 331, 363 Azerbajdschan 307, 334 Azoren 347 Bagdad 11, 77 Balkan 15f., 40, 85, 197, 218ff., 289, 316, 331, 334 Barbados 347, 351, 355 Batavia (Jakarta) 40, 219 Belgien 309, 311, 336 Bolivien 16 Bosnien 218 Brasilien 227, 229, 329, 347, 349, 354, 363 Brest-Litovsk 330 Bulgarien 312f. Burma 94, 228, 300, 363 Byzanz 76, 84 Cambridge 41, 49, 97, 110, 112f. Chile 16, 50, 227, 230, 288, 311, 313, 328 China 10f., 17, 20f., 27f., 31–5, 40–3, 47, 50–61, 64–98, 102, 158, 168, 191–204, 210f., 217, 219f., 223–8, 235ff., 241, 244, 249, 260, 264, 266–282, 290, 295, 300, 308–11, 317, 320, 329–33, 336, 339, 346, 364 Danzig 73 Deutschland 15, 46f., 51, 54, 61, 65, 81, 85, 90ff., 103ff., 111–5, 121, 148, 153, 156, 159, 164ff., 181ff., 200, 216, 220, 249ff., 267, 283ff., 289, 292, 295, 300ff., 310, 319, 326–35, 340–44, 359–69 Dominikanische Republik 307, 311

Edo siehe Tokyo England 11, 37, 54, 59, 70, 80, 102–11, 115, 117, 120–3, 126ff., 132ff., 140, 143–9, 172, 190, 198–202, 226, 237f, 240, 274, 296, 298f., 302, 328, 350, 354, 365 Eurasien 11, 27, 30, 33, 39, 47, 62, 74, 76, 79, 158, 180, 314 Frankreich 11ff., 17, 21ff., 28, 32, 51, 54f., 61, 64f., 74f., 81, 88ff., 94, 103, 116–24, 127, 136–9, 153, 155, 165, 172, 193, 197–202, 221, 228, 238, 241, 267, 273, 285ff., 290, 296–316, 324f., 32832, 336f., 347–50, 356f., 365–8 Galatien 304 Guadeloupe 347 Guatemala 16 Guinea 92 Grenada 317 Griechenland 39, 73, 80, 82, 156, 175, 225, 239, 299–302, 313–6, 347 Großbritannien 23, 49, 51, 64, 71, 74, 80f., 85–91, 103–150, 184, 189f., 200f., 219–22, 228f., 263f., 268ff., 280f., 285ff., 290, 298f., 301–19, 323f., 327– 336, 339, 348f., 355–63, 366ff. Habsburgerreich 13, 210, 328, 331 Haiti 307, 348, 350, 357 Hawaii 183f., 201, 204 Hellas siehe Griechenland Helsinki 73 Hiroshima 332 Holland siehe Niederlande Hongkong 269, 271, 278, 280 Indien 17, 20, 28, 34–7, 50f., 58, 60, 65, 71f., 79–83, 86–92, 94ff., 102, 112, 119, 122, 138, 140ff., 147f., 174, 178, 188– 93, 199, 202f., 210, 221, 227ff., 235ff., 254f., 263, 266–82, 303f., 307, 331, 339, 345f., 363 Indonesien 37, 87, 91, 269, 345 Innerasien siehe Zentralasien

Iran 65, 75, 83, 92–8, 102–220, 264, 309, 311 Irland 73, 107, 145–8, 219, 226, 237, 269, 331 Italien 51, 54, 92, 95, 153, 193, 197, 289, 311ff., 327f., 332, 347, 354 Jakarta siehe Batavia Jamaika 347 Japan 11–7, 23, 28f., 34–8, 43f., 47, 49– 53, 81, 84–95, 97, 100, 161, 163, 191–6, 199–202, 204, 218f., 223f., 264, 266– 282, 285, 289, 292, 295, 307f., 320, 329, 332ff., 339, 363f. Java 264, 295, 345 Jugoslawien 289 Kalifornien 222 Kalkutta 141, 191, 219, 280 Kambodscha 290, 316f. Kanada 49, 222, 289, 327, 331, 340 Kapverdische Inseln 347 Karibik 39, 188, 226, 228f., 267, 306, 317, 347f., 351, 360 Kenia 229 Kongo 336 Korea 35, 50, 53, 191, 224, 272, 278, 308f. Kosovo 290, 293, 316 Kuba 290, 307, 309, 349, 357 Lateinamerika siehe Amerika Leipzig 156, 163f. Libanon 250, 290, 309 London 112f., 128, 144, 269, 280, 301f., 314, 322, 329 Macau 225 Madagaskar 361 Manchester 113 Mandschurei 271, 281, 320f., 332 Martinique 347 Mesopotamien 96 Mexiko 36, 54, 74, 102, 190, 227, 230, 239f., 245–8, 263, 295, 306, 310, 317, 329, 340, 347 Mexiko-Stadt 219

379

Mittelmeer 13, 73, 101, 166, 168, 186, 196f., 202, 314f., 337, 345ff., 352 Mittlerer Osten siehe Naher Osten Mogulreich siehe Indien Mozambique 40, 345, 351 Münster 295 Naher Osten 75, 88, 196–9, 260, 331 Nanjing 270, 279 Navarino 299 Neapel 300 Neuengland 231, 346 Neuseeland 15, 74, 85, 168, 269, 331 Nicaragua 307 Niederlande 23, 85, 192ff., 196ff., 221, 224, 240, 268, 301, 305, 332, 335, 345ff., 350f., 354, 363ff. Nordamerika siehe Amerika Nordirland 73 Österreich 296, 298, 300f., 314 Osaka 274 Osmanisches Reich 11–4, 28, 39, 54, 77, 83, 86ff., 92ff., 102, 196–9, 210, 218ff., 225, 239, 264, 276, 299, 305, 312–6, 319, 328–31, 337 Osnabrück 295 Ostasien siehe Asien Osteuropa 23, 30, 72f., 333, 365 Oxford 111, 113 Ozeanien 8, 100, 224, 237, 269, 329 Palästina 196, 198, 331, 334 Panama 307, 310, 320 Paris 86, 129, 269, 331, 337 Pazifik 46, 50, 74, 78, 83ff., 101, 180, 184, 199–202, 222, 239, 264 Pearl Harbor 294 Peking (Beijing) 84, 192, 311 Persien siehe Iran Persischer Golf 331, 345 Peru 16, 36, 161, 190 Polen 294f., 300f., 311f., 324, 326, 333 Portugal 39, 74, 92, 192f., 221, 298, 302, 336, 347, 354, 365 Preußen 296, 298, 301, 327

380

Rom 42, 76, 84, 101, 122, 135, 137, 145, 195, 210, 286, 303f., 308, 318, 352, 354 Rußland 11, 14f., 32, 51, 54f., 61, 65, 76, 155, 162, 184, 219f., 267, 271, 284–7, 296–9, 301, 305, 307, 312ff., 316, 320, 328-33, 349, 357, 365f. Saint-Domingue 307, 348, 357 Sansibar 319 Sarajevo 219 Schottland 112, 119–22, 125–49, 219, 238, 326, 329, 350, 357 Schwarzes Meer 76 Schweden 14, 51, 366 Schweiz 90, 300, 366 Serbien 289 Shandong 68, 310 Shanghai 269f., 277f. Shanxi 274 Siam siehe Thailand Sibirien 96, 157, 264 Singapore 53, 75, 272, 278 Sizilien 11, 40, 197, 300 Slowenien 289 Somalia 294 Sowjetunion 288ff., 293, 307, 311, 320, 332ff., 364 Spanien 11, 13, 40, 74, 99, 101f., 184, 187–93, 196ff., 201, 214, 218, 221, 226f., 237, 240, 245ff., 269, 300, 306, 313, 324, 337, 347, 351, 353, 365 Sri Lanka (Ceylon) 87, 270 Stalingrad 332 Südafrika 53, 101, 229, 295, 324, 348, 351, 355, 358 Südamerika siehe Lateinamerika Südostasien siehe Asien Südsee siehe Pazifik Syrien 290 Taiwan 50, 53, 72, 271f., 278, 280 Tanzania 317 Thailand 54, 65, 90, 100, 308, 363 Tianjin 278 Tibet 333

Tokyo 33, 49, 75, 194, 274 Tschechoslowakei 293, 311, 332f. Tschetschenien 312, 320, 334 Türkei 13, 55, 65, 82, 90, 94, 100, 136, 184, 196f., 226, 236, 279, 290, 299, 314, 316, 326ff., 331, 337 Turkestan 40, 333 UdSSR siehe Sowjetunion Uganda 317 Ukraine 36, 331 Ungarn 11, 320, 333 Ural 76 Uruguay 15 USA 22–5, 36, 47, 49–54, 62, 64, 74ff., 86, 155, 177, 196, 214, 250, 267–71, 284–92, 295, 299, 305–11, 320, 327ff., 334–9, 348ff., 356–9, 368 siehe auch Amerika

Venedig 28 Venezuela 16 Vietnam 36, 74, 87, 289-93, 307ff., 311, 316f., 320, 336 Virginia 188, 348, 355 Wales 219 Westafrika siehe Afrika Westeuropa 11, 14, 30, 40, 52f., 56f., 60, 72f., 82, 86, 128, 138, 215, 270, 275, 301, 312, 323, 331–7, 340, 351 Yangzhou 274 Zarenreich siehe Rußland Zentralamerika siehe Lateinamerika Zentralasien siehe Asien Zimbabwe 229 Zypern 85, 290

Begriffs- und Sachregister Abgrenzungsdiskurse 232–39, 249ff. Abgrenzungspraktiken 222–24 Abolition 348f., 355–59, 367–69 Achsenzeit 42, 54, 57 Agrargesellschaft 15, 35f., 55f., 68f. Akkomodation 223 Amerikanischer Bürgerkrieg 329, 349, 359, 368 Anthropologie 66–69 Anti-Humanitarismus 360 Anti-Imperialismus 85 Asiatische Produktionsweise 19 Assimilierung 223 Atlantik als Interaktionsraum 345ff. Aufklärung 17, 83, 117ff., 238, 242f, Außereuropäische Geschichte 23, 41f., 49 Authentizität 14, 152 Barbarei, Barbaren 133, 138ff., 194, 205, 220

Begriffsbildung 45, 66–72 Beziehungen, interkulturelle 12f. Beziehungsgeschichte 13, 40, 43, 56f., 151ff., 206, 346 Boundary maintenance 210 Bourgeoisie siehe Bürgertum Boxeraufstand 67f., 228, 241, 269, 311 Burenkrieg 269 Bürgerkrieg 291 Bürgertum 40, 72, 273–75, 279f. Chartergesellschaften 268 Christentum, Mission 88f., 192–95, 197, 219, 225, 236f. Chronologie, Zeit 56, 163f., 348 Comparative method 18 Comparative politics 22 Corporate revolution 266, 268, 276f., 281 Cross-cultural studies 22 Cultural anthropology 18, 44, 67 Dekolonisation 22, 37, 74, 335–37

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Demographie 33 Demokratie 89f. Despotie 273 Diasporas, Enklaven 40, 223, 225, 326 Diskursanalyse 252ff. Distanz 216ff. Doppelrevolution 348 Dritte Welt 50 Eigentum 237f., 354 Eisenbahn 157f., 267f. Entdeckung 186–88, 197, 199–201 Erklärung 30–34, 44f., 55f., 362 Essentialisierung 254–56, 258–62 Ethnisierung von Politik 228 Ethnohistorie 41f. Ethnologie, Ethnographie 27, 99–100, 149, 203, 235f. siehe auch Anthropologie, Cultural anthropology, Social anthropology Europabild von Nicht-Europäern 84–90, 195f., 264f. Eurozentrismus, Europazentrismus 18, 82f., 174, 176, 208, 262 Evolutionismus 18f., 21, 179, 181f. Exklusion/Inklusion 220f., 223 Expansion, europäische 36f., 183–202, 205, 218 Expansion, islamische 196–98 Extermination 223 Familie 26f. Feudalismus 12, 20, 26, 274 Freihandel 271, 277, 280, 330 Freiheit 121ff., 348ff. Fremdenabwehr 224f. Fremdheit 217f., 220, 234 Gegenbegriffe, asymmetrische 16, 234 Genozid 223, 316f., 319 Gentry (China) 69–71, 279 Geographie 94f., 153ff. Geopolitik 286–88 Gesamtgesellschaft 57 Geschichtslosigkeit 91f., 94, 101f., 238 Geschichtsphilosophie 18

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Geschichtsschreibung, britische 103–50 Geschichtswissenschaft, Einheit der 41, 61 Global history siehe: Weltgeschichtsschreibung Grenzen 209ff. Barbarengrenze, imperiale 210f., 217 Europas 14, 73–76, 217f., 228, 262 Frontier 213–16, 229–32 der »Geopolitik« 216 kulturelle Grenzen (definiert) 219f. Nationalstaatsgrenze 211–13, 217 Grenzgesellschaft 37, 215, 231 Hellenismus 39 Hermeneutik 14, 44, 204, 241ff., 255 Historismus 18f., 21, 155 Hollandstudien (in Japan) 84f., 195f., 224 Homogenisierung, kulturelle 197, 218, 224, 338 Hybridität 40, 283, 344 Idealtypus 27 Identität, kollektive 16, 42f., 47, 217, 227, 260f. Imperialismus 270ff., 303ff. britischer 287f. kultureller 206 I.-Forschung 284–86 US-amerikanischer 284ff. Imperium 327–332 Industrialisierung 266ff. Industriegesellschaft 15, 51f. Informationshegemonie 241 Inkorporation, kulturelle 213, 215 Integration, politische 327, 333 Intelligentsia 65 Internationalismus 329f. Intervention 283–321 definiert 292–94 humanitäre 82, 302, 306, 310, 315–19 Islam 12, 136, 196–99, 221, 236f. Kalter Krieg 286f., 293 Kapitalismus 30, 59 Kasten 71

Klanstrukturen 68 Kollaboration 304 Kolonialgesellschaft 36f., 39, 198, 226– 29, 270f., 347 Kolonialismus 147f., 221, 240–42, 328 Konfuzianismus 44, 53, 278 Konstruktivismus 253–54, 262 Kontaktsituationen 224–32 Kontaktzonen 40 Kontingenz 187f. Kosmopolitische Gruppen 39f. Kreolen 28f. Kreolsprachen 227 Kreuzzüge 11, 81, 84, 196, 198, 217 Krieg 230f., 237, 247f., 284ff., 295ff. Kubakrise (1962) 293 Kultur, Kulturen 43f., 64, 203–5 Abgrenzung 14, 42, 343f. Ausgrenzung aus 232 holistischer Begriff 13f., 57, 243, 248 Kulturbegegnung 207ff. Kulturvergleich, soziologischer 16f., 24, 62–65 Kulturvermittler 227 Macht 284, 288f. Marktwirtschaft 273–82 Meiji-Restauration (Japan) 15, 53, 272, 275f., 329 Menschenrechte 368 Mentalitätsgeschichte 233 Minderheiten 197, 220, 224f., 228, 326 Mißverständnisse, interkulturelle 209, 231, 241f. Mittelalter 11, 196f. Modernisierung 50–54, 266–82, 299 Modernität 124f., 134f., 266f. Monroe-Doktrin (1823) 299f., 308 Multinationale Konzerne 268f., 276f. Musik 20, 58 Nationalcharakter 45, 263 Nationalismus 37, 102f., 276, 279 Nationalstaat 54f., 301, 322–41 NATO 337 NS-Sklaverei 364–69

Opiumkrieg 271 Orient/Okzident, Orientalismus 16, 33, 50f., 61, 77f., 81, 84, 202, 208, 249– 65 Orientalische Frage 299f. Ostkolonisation 217 Otherness 14, 208 Pastoralismus 101, 135f. Perzeptionsstudien 206f., 232ff., 253ff., 262 Philhellenismus 226, 314 Philologie 96, 191f., 198, 204, 261 Philosophische Geschichte 122ff., 178 Plantage 347ff. Postcolonial studies 41, 256 Professionalisierung der Geschichtswissenschaft 23f., 46f., 113ff. Protoindustrialisierung 274 Quellenkritik 96–98 Rassedenken, Rassismus 82f., 161f., 194, 221f., 227, 238f., 355, 365 Rational choice 36 Rationalität 242–48 Raumbegriffe 156ff., 361f. Rechtsrezeption 89f. Rechtsstaat 89f. Reconquista 11, 196 Regionalismus 339–41 Reiseliteratur 92ff., 191ff., 254 Relativismus/Universalismus 18, 203f., 257f. Revolution 32f., 36, 55, 61, 298, 300, 348, 357, 368 Rhetorik der Alterität 234 Romantik, romantisch 18, 44, 199, 242f., 258 Samurai 69–71, 275f. Schock, anthropologischer 185–202 Seehandel, frühneuzeitlicher 190, 267 Segregation 223 Selbstbeschreibung 68–72 Sepoy-Aufstand (1857) 263, 304

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Sezession 311ff. Shifts of initiative 180f. Siebenjähriger Krieg 28 Siedlungskolonien 229 Sinn 43ff. Sklaverei 28, 43, 216, 318f., 345–69 Social anthropology 67 Sonderbewusstsein, europäisches 233ff. Sonderweg des Okzidents 20, 30–32, 48, 59, 77–84, 179f., 234 Sozialdarwinismus 366 Soziologie, historische 20, 24–34, 58f. Sprache 245f. Staat 28f., 64f., 275–82, 340 Staatensystem 137, 294ff., 328–30, 337 Stadienmodelle 18, 22, 129ff., 238 Suez-Krise (1956) 309, 336 Supranationalität, europäische 323ff. Symbole, Symbolisierung 204, 211f., 219, 245–48, 264 Synthese 34 Taiping-Aufstand 269 Telegraph 157, 269f. Teleologie 361 Theorieverwendung 25 Transfer von Wissen 29f., 84–86, 195f., 230 Transkulturalität 39ff. Umweltgeschichte 30f., 77, 95, 153–56, 168, 179f., 182, 215 Urbanisierung 273f. Variantenanalyse 27f., 40

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Vergleich, 11–66, 151f., 344 asymmetrisch/symmetrisch 20, 60 Einheiten 26, 42f. Grundformen 47f. interkultureller 17, 40 internationaler 16f. konvergent/divergent 61f. partial/total 34–38, 58–60 synchron/diachron 32f., 35, 54–56 transkultureller 17, 39f. Vergleichbarkeit 23 Völkerrecht 294f., 302f., 364 Weltbürgerlichkeit 39 Weltgeschichtsschreibung 46, 80, 91ff., 151–82, 342–44, 359–63 Weltsystem 26, 43, 215f. Westen 15, 47f., 50, 87f., 359 Westfälischer Frieden (1648) 295 Wiener Kongreß (1814/15) 295ff. Wilde, Wildnis 94, 101, 144f., 184, 194, 200, 205, 214f., 217, 218f., 230, 232 Wirtschaftsgeschichte 22, 153 Wirtschaftsstile 20 Wissenschaftsgeschichte 29 Zeitgeschichtsschreibung 93f. Zivilisation 122 Hierarchien 82f., 162, 233 bei Hume 89, 122ff. bei James Mill 141 bei Macaulay 141f. standard of civilization 302, 305, 308 Zivilisationsgeschichte 110ff. Zyklen 21, 151