Studien zu Sprache und Stil des Prudentius 9783666250125, 9783525250129

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Studien zu Sprache und Stil des Prudentius
 9783666250125, 9783525250129

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H Y P O M N E M A T A HEFT 13

HYPOMNEMATA U N T E R S U C H U N G E N ZUR ANTIKE U N D ZU I H R E M NACHLEBEN

Herausgegeben von Albrecht Dihle / Hartmut Erbse Wolf-Hartmut Friedrich / Christian Habicht Bruno Snell

Heft 13

V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N

KLAUS THRAEDE

Studien zu Sprache und Stil des Prudentius

VANDENHOECK & R U P R E C H T IN GÖTTINGEN

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft © Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1965.—Printed in Germany. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. — Herstellung: Hubert & Co., Göttingen 8356

Vorwort Die „Studien" sind im Sommer 1963 von der Philosophischen Fakultät der Albertus-Magnus-Universität zu Köln als Habilitationsschrift angenommen und seither für den Druck nur geringfügig erweitert worden. Der geplante philologische Kommentar zum Cathemerinon-Zyklus, den sie vorbereiten sollen, wird die nötigen sachlichen und methodischen Ergänzungen bringen. Ohne die großzügigen Arbeitsbedingungen, die mir Herr Prof. Dr. Th. Klauser am F. J.Dölger-Institut in Bonn geboten hat, wäre mir eine intensive Beschäftigung mit der Patristik nicht möglich gewesen. Ein Aufenthalt in der Fondation Hardt (Vandcevres-Genf) im Sommer 1962 hat zum Gedeihen der „Studien" sehr beigetragen. Besonders herzlich danke ich Herrn Prof. Dr. A. Dihle (Köln) für die stetige Förderung meiner wissenschaftlichen Arbeit, von meinem Studium in Göttingen bis heute. Vor allem seine freundliche Hilfe hat mir die Spätantike als Arbeitsgebiet erschlossen. Herausgebern und Verlag der „Hypomnemata" danke ich für die Aufnahme in die Reihe und für alle technische Hilfe, der Deutschen Forschungsgemeinschaft für einen namhaften Druckkostenzuschuß. Herr Dr. W. Speyer (Köln) war so freundlich, die Korrektur mitzulesen und viele nützliche Hinweise beizusteuern. Niederpleis/Siegburg, Oktober 1965

K. T.

Inhalt Einleitung: Zum Stand der Prudentiusforschung

7

I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters Motivierungen altchristlicher Poesie Dichtung als Opfer? Jambus und Trochäus Sünde und Armut pedestre carmen Bekenntnis und Bescheidenheit 1. Per. 2,573/84 2. c. Symm. 1 Ende und 2 praef 3. Per. 10,1/25 g) vas fictile (epil. 13 h) Der dritte Teil des sog. Epilogus

21

a) b) c) d) e) f)

ff.)

II. Schreibmetaphern bei Prudentius: Vorgeschichte und literarische Funktion a) versus und βουστροφηδόν b) arare und sulcare für „schreiben" c) Die Schriftzeile als Furche ? 1. Quintilian 2. Ambrosius 3. Hieronymus ep. 107 4. Basilius und Anth.Pal.6 5. Symmachus und Ausonius d) „sulci calami" in Prud. Apoth e) Die Schreibmetaphorik in Peristephanon 1. Per. 3 und 4 2. Per. 10 und 11 3. Per. 9 Register

21 28 46 48 51 61 61 65 68 71 73 79 79 87 93 93 96 100 107 109 113 116 116 122 137 141

EINLEITUNG

Zum Stand der Prudentiusforschung Das empfindlichste Dilemma der Prudentiusforschung besteht bis heute darin, daß sich in ihr nur zwei verschiedene Methoden, Aspekte, Interessenrichtungen durchgesetzt haben, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammen, als die Stellung des Christentums in der sog. Spätantike historischer Kritik noch kaum erschlossen war 1 . Die Versuche, den Gegensatz von Patrologie und Literaturgeschichte zu überwinden, haben sich in der Einzelforschung jedenfalls bisher nicht ausgewirkt, so daß den Gesamtdarstellungen altchristlicher Dichtung vieles Material fehlt, das ein neues Bild ermöglicht 2 . Nimmt man den RE-Artikel „Prudentius" von A. Kurfeß als repräsentativ für den Stand der Dinge, dann war in den letzten siebzig Jahren der Interpretation kein Fortschritt vergönnt 3 . Es fehlen daher auch die allgemeinen Grundlagen für einen wissenschaftlichen Kommentar, obwohl die Arbeiten zu Textkritik und Überlieferungsgeschichte des Prudentius zwischen den Weltkriegen zu einem gewissen Abschluß gediehen waren 4 . Zweifellos kann daher heute ledig1 Die folgende Skizze gibt im wesentlichen die Probleme der Forschung bis 1962 und trifft mutatis mutandis für das gesamte Gebiet der altchristlichen Dichtung zu. Bibliographie zu Prudentius bis 1933 fast vollständig bei M. Lavarenne, fitude sur la langue du poete Prudence (Paris 1933) 607/30. Neueres bei I. Lana, Due capitoli Prudenziani (Rom 1962) 88/102, in einem Abschnitt, der ebenfalls die oben verzeichneten Tendenzen spiegelt; ferner vgl. A.Kurf ess, Art. Prudentius, RE 23,1 (1957) 1040 sowie die Patrologien. Wer den Stand der Forschung wiedergeben will, muß a parte fortiori urteilen. Von der Kritik auszunehmen sind u.a. die einschlägigen Beiträge Wolfg. Schmids sowie die von ihm angeregte, inzwischen erschienene Bonner Dissertation: Ch.Gnilka, Studien zur Psychomachie des Prudentius (1964). 2 Vgl. meinen Aufsatz: Untersuchungen zum Ursprung und zur Geschichte der christlichen Poesie I, JbAC 4 (1961) 108/14, bes. 111 mitAnm.10 und 114 m i t A n m . l l (Literatur). 3 Am besten ist immer noch A. Puech, Prudence, fitude sur la poesie latine chretienne au IV e siecle (Paris 1888). Eine vergleichbare Prudentius-Gesamtdarstellung gibt es bis heute nicht, trotz E. Rapisarda, Introduzione alia lettura di Prudenzio (Catania 1951 ff.). * Literatur bei Lavarenne fit. 618/20, F. Klingner, Rez. von Bergmans Edition (CSEL 61, 1926): Gnomon 6 (1930), 39/52. Einen Fortschritt dürfen wir von Μ. P. Cunninghams Prudentius-Ausgabe im Corp. Christ, erwarten; wichtige, über Bergman hinausführende Ergebnisse seiner Kollationierung findet man in Sacr. Erud. 13 (1963) 5/59, sowie in ΤΑΡΑ 89 (1958) 32/37. Zu ähnlichen Resultaten ist an Hand einer Untersuchung des cod.Paris.8084 ( = Bergmans A) A. Bartalucci gekommen: Stud. Class. Orient. 10 (Pisa 1961) 161/78.

Einleitung

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lieh die kritische I n t e r p r e t a t i o n einzelner P a r t i e n o d e r eines b e s t i m m t e n W e r k e s die durch viele J a h r z e h n t e h i n w e i t e r g e g e b e n e n u n d in sich widersprüchlichen L i e b h a b e r u r t e i l e ü b e r P r u d e n t i u s k o r r i g i e r e n 5 . D i e eine d e r beiden g e n a n n t e n G r u p p e n bilden G e l e h r t e , die bei d e r inhaltlichen



nämlich

biographisch-psychologischen

oder

dogmen-

geschichtlichen — A u s w e r t u n g v e r w e i l e n u n d d e r F o r m n u r u n t e r g e o r d n e t e B e d e u t u n g b e i m e s s e n : d i e O r i g i n a l i t ä t des Dichters b e s t e h e in seiner Christlichkeit, also in Stoff u n d i n n e r e r H a l t u n g , w ä h r e n d — „ n u r " — die a n t i k e F o r m traditionell u n d z w e i t r a n g i g sei''. D i e s e A n s i c h t ist u m 5 Liebhaberurteile: J. Stam, Prudentius Hamartigenia, with introduction, translation and commentary (Amsterdam 1940) 14: "Prudentius, the greatest Christian poet of antiquity", wie J. Bergman, A. Prud. Gemens, der größte christliche Dichter des Altertums (Dorpat 1921) und viele andere. Dabei hat man weder über die Kriterien Auskunft gegeben noch das Urteil durch Interpretation zu sichern versucht. "The eye of the heathen poet does not leave the earth, the Christian poet points to heaven", Stam 19. Daneben aber: "the theological views of the poet do not go deep", Stam 11; diese Feststellung ist greifbares Ergebnis der Interpretation des Gedichts Hamartigenia und entspricht den Tatsachen. Sie läßt eine dogmengeschichtliche Auswertung des Dichters problematisch erscheinen und widerlegt, was Kurfess im Anschluß an Rodriguez-Herrera über die theologische Systematik des Gesamtwerks äußert, a.a.O. 1043. — F. J. E. Raby, A history of Christian-Latin poetry 2 (Oxford 1953) 47: "He is first a catholic and only in the second place a poet." Wie paßt das zum Lob des „größten christlichen Dichters der Antike"? Versteht nicht auch Raby den Dichter von einer angeblichen Aktualität der antihäretischen Polemik her (unten Anm.10), und was bedeutet da „catholic"? Bezeichnendes Beispiel für die Position der älteren Forschung ist etwa C. Weyman, Zu Prudentius, in: Beiträge z. Geschichte der christl.-lat. Poesie (1926) 81: „Auch ein Freund und Verehrer des Prudentius kann ihm nicht den Vorwurf ersparen, daß er sich durch seinen auch sonst unangenehm hervortretenden Hang zu pointierter Rhetorik in dem der Schönheiten keineswegs ermangelnden Hymnus auf Agnes (Per. 14) auf einen sehr schlüpfrigen Pfad hat leiten l a s s e n . . . , und man müßte für Agnes und ihren Sänger erröten, wenn man auf die durchgeführte Amphibolie, die in den Worten ,inruentis', ,vota calentia', ,omne reeepero' usw. liegt (74 ff.), näher eingehen wollte." Dabei hätte statt solch prüder Schulmeisterei zum Thema „Erotik" manches andere verglichen werden können, z.B. Apoth.624; c. Symm. 1,107 (vgl. Ovid fast. 6,323; 2 , 1 0 6 4 f . ; Ham.581 ff.; vgl. auch A. Salvatore, Studi Prudenziani (Neapel 1958) 16 ff. 46, ferner die apokryphen Apostelakten und überhaupt alles, was etwa R. Reitzenstein, Hellenist. Wundererzählungen (1906) als „Aretalogie" behandelt hat. Was für „Erotik" gilt, trifft auch für „Komik" zu: sie ist Stilelement (s. u. zu den passions artificielles), vgl. etwa Curtius (u. Anm. 13) 426 f. zur „hagiographischen Komik", ferner O. Weinreich, Antike Heilungswunder (1909) 89 f. 113 ff. 181 3 (Lit.). — Ganz auf Eloge gestimmt ist Ε. K. Rand, Prud. and Christian Humanism: ΤΑΡΑ 51 (1920) 71/83.

Daß Liebhaberurteile eine wissenschaftliche Würdigung kaum haben aufkommen lassen, liegt zu einem guten Teil daran, daß die Anteilnahme teils konfessionell, teils national bedingt war (dies zweite tritt in den neueren Bibliographien, etwa in Altaners Patrologie, gut hervor). Beide Tendenzen fließen zusammen bei I. Rodriguez-Herrera, Poeta duistianus. Des Prudentius Auffassung vom Wesen und der Aufgabe des christlichen Dichters, Diss. München (Speyer 1936). ί Rodriguez-Herrera a.a.O. 143: „Inhalt und Form lassen sich bei unserem Dichter nicht (!) trennen", dann aber doch: „christlicher Inhalt — heidnische Form"; „vom Geist der Antike" habe Prud. „sehr wenig übernommen, nur die amphora,

Zum Stand der Prudentiusforschung

9

so merkwürdiger, als Prudentius doch gerade wegen der Form seiner Gedichte am meisten auffällt: hier zum ersten Male in der christlichen Poesie liegt ein in sich vielfältiges und formal wie sprachlich anspruchsvolles Gesamtwerk rein literarischen Charakters vor7. Gerade als Form war das neu, und zwar auch von der nichtchristlichen Poesie her gesehen. Denn wo hätte es in der lateinischen Dichtung seit Horaz eine solche Vielfalt kunstvoller Metren als Teil eines Zyklus gegeben wie in des Prudentius Cathemerinon und Peristephanon? Obendrein gibt es etwa für Per. 7 mit seinen Glykoneen κατά στίχον (wie contra Symmachum 2 praef.) gar keine antike Parallele8! Wer die Form apologetisch unterbewertet, um den Dichter historischer Kritik zu entziehen, ist daher genötigt, die formal zweifellos singuläre Stellung des Prudentius mit seiner Christlichkeit zu erklären, also die Quantität — Umfang und Vielfalt — als Qualität zu deuten. Die Gelehrten dieser ersten Gruppe sind daher darauf angewiesen, daß der Inhalt des Gedichts neu und keinesfalls konventionell sei. Das trifft, wenn man mit Horaz und Vergil vergleicht, ja auch zweifellos zu. Sie haben sich aber bisher noch nie zu der Frage geäußert, unter welchen Bedingungen einer derartigen Poesie um 400 n. Chr. überhaupt Qualität und Gegenwartsbedeutung zukommen konnte und wo der Inhalt denn nun eigentlich über die im 4. Jahrhundert bereits geltende Konvention hinausgeht. Diese Forscher müssen daher bestimmte Ergebnisse der Interpretation präjudizieren, so etwa die angebliche Aktualität der apologeder Wein aber ist neu" (ebd. 141). Durch die triviale Erbaulichkeit des Bildes sollte man sich vom logischen Widerspruch zwischen beiden (in sich konventionellen) Behauptungen nicht ablenken lassen, der für den Zustand der Forschung bezeichnend ist. — Über die antike Diskussion dieser Fragen s. u. a. J. F. d'Alton, Roman literary theory and criticism (New York 2 1962) 135/7 u. C. O. Brink, Horace on poetry (Cambridge 1963) 175 f. — Daß die altchristlichen Dichter auf dem Boden der Rhetorik häufig so argumentierten, als sei die vorchristliche Form ohne den „heidnischen" Inhalt zu haben, ist sicher. Aber das bindet uns nicht. Das apologetische Schema, das den historischen Zusammenhang und die zeitgenössischen Bedingungen der Kontinuität vernachlässigt, bedarf gerade der Nachprüfung an der poetischen Praxis. Typisch für die Verlagerung des historischen Urteils in ästhetische Wertung ist etwa audi Stam 219 zu Ham. 635; „Dei fusam per artus progeniem" ist aber in Wirklichkeit Kontrastimitation zu Verg. Aen. 6,726 f., vgl. Epos 1040 f. und dazu noch Prud. c. Symm. 1,295 f.; Paul. Nol. c. 10,123 f. sowie Pease zu Cie. nat. deor. 1, 27.30.39/40 — nach Stam „repugnant realisme, which we can little appreciate". Vgl. aber auch den Sprachgebrauch bei Deferrari-Campbell, Concordance of Prud. (1932) s.v. artus, (in-)fundere, ferner Verg.Aen.8,406. Zur Haltung allgemein vgl. noch Lavarenne £t. 1629 über „mauvais gout". 7 Den rein literarischen Charakter der Hymnen betont zu Recht Raby a.a.O. 45. 50 (anders Kurfess 1050; Rodrig.-H. 89 ff.). Aber auch er bietet am Ende nur Inhaltsangaben. Ähnlich U. Moricca, Storia della letteratura latina cristiana 2 (Turin 1928) 894. 8 Bibliographie zur Metrik des Prudentius bei Lavarenne £t. 627 f.; Kurfess a.a.O. 1065; vgl. Puech a.a.O. 269/88, Stam a.a.O. 45/53. Katalog der verwendeten Metra: Lavarenne £t. 2/4; Kurfess a.a.O. 1065.

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Einleitung

tischen und antihäretischen Polemik 9 , und mit einem bestimmten Begriff von Christentum arbeiten, der die historischen Wandlungen der alten Kirche übersieht und zwischen Orthodoxie und Häresie nur auf Grund eines vorgefaßten Lehrgehalts zu unterscheiden vermag 10 . Ehe wir jedoch nicht die Frage beantwortet haben, was die apologetische und antihäretische Auseinandersetzung, wie sie Prudentius bietet, in der Situation des Christentums um 400 n.Chr. überhaupt noch bedeuten konnte und an welche Kreise sie sich richtete, läßt sich natürlich über die mögliche Originalität und Aktualität des Inhalts der Gedichte gar nichts Verbindliches sagen. Außerdem gehört Prudentius mit den Werken Apotheosis, Hamartigenia und contra Symmachum ja doch in die Tradition römischer Lehrepik, die einer Reduktion auf den Inhalt heute nicht mehr ausgesetzt sein dürfte 11 . Ferner war es von Nachteil, daß man einerseits die Position des Dichters in der Geschichte antihäretischer Polemik, gezwungenermaßen, aktuell nahm, andererseits als Erweis von Tradition nur die Quellenbenutzung zu postulieren vermochte, aber den breiten Strom polemischer Topik, den man für die apologetische Argumentation längst hatte anerkennen müssen, nicht berücksichtigte. Auch das Verhältnis des Dichters zur Bibel wird bis heute lediglich als Quellenbenutzung aufgefaßt, also die damals längst übliche rhetorische Verwendung von Bibeltexten ignoriert 12 . Daß unter solchen Voraussetzungen Stilanalyse und kritische Interpretationen brachliegen, ist daher erklärlich, obwohl die allenthal9 Angebliche Aktualität der Polemik: vgl. Anm. 10 und 14 sowie in Teil II die Behandlung der Apotheosis-Stellen (S.116 Anm. 113). 10 Vgl. JbAC 4 (1961) 1 0 8 f . ; A. Roesler, Der katholische Dichter Aur.Prud. Clemens (Freiburg i. Br. 1886), versuchte die vermeintliche Aktualität der Polemik dadurch zu sichern, daß er sie auf den Priscillianismus bezog. Schließlich aber ließ er den Dichter dann aber doch selbst nach Rom fahren, weil er in den Verdacht des Priscillianismus geraten sei (a.a.O. 21 f., von Kurfess a.a.O. 1045 unbesehen übernommen, trotz des Widerspruchs von S. Merkle, TheolQuart 76 (1894) 77/125). Für die Hamartigenia bespricht die Frage der Aktualität Stam a.a.O. 8/13. Originell war Puechs Vermutung einer Krypto-Aktualität: der Dichter wähle längst erledigte Themen aus „taktischen" Gründen, a.a.O. 174. Puech spürt also den Widerspruch zwischen „Aktualität" und „Benutzung alter Quellen". 1 1 W. Kroll, Das Lehrgedicht: Studien Z.Verständnis der römischen Literatur (1924) 180/201. Stam 18 spricht mit Hinweis auf Puech 167 f. von der christlichen didaktischen Poesie des vierten Jahrhunderts als Waffe gegen Heidentum und Häresie. Daß es eine didaktische Poesie aber gar nicht gab, jedenfalls weder in einem nennenswerten Umfang noch als „Waffe", zeigt indirekt seine Bemerkung über Juvencus, der ja eine Evangelienparaphrase verfaßt hat, und Damascus (sic). Vgl. die Übersicht im Art. Epos, RAC 5, 1044/20. Zur Motivierung altchristlicher Poesie s. unten Teil I, Abschn. 1. 1 2 Vgl. Lavarenne Et. 1668/82; Kurfess a.a.O. 1062. Siehe dazu unten, am Schluß von Teil I, zur Funktion von l . T i m . 2,20, ferner dort zu c. Symm.2 pr. sowie dazu auch Unters. II, 131. Schließlich vgl. „die Bibel im Mund des Verfolgers", unten S. 124 Anm. 149.

Zum Stand der Prudentiusforschung

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ben bekundete Hochschätzung des Dichters sich doch eigentlich in gründlicher literarhistorischer Bemühung hätte niederschlagen müssen, zumal sich ja auch die genannten Forscher keineswegs ästhetischer oder gar chronologischer Urteile enthalten 13 . Es ist nun kein Zweifel, daß Prudentius selbst eine aktuelle Funktion seiner Werke nahelegt 14 . Das bedeutet aber, wenn wir historisch-kritisch 13 Vgl. Anm. 5. Ein beredtes Zeugnis für die Verlagerung des Urteils wieder bei Weyman a.a.O. 91 f.: Auson. epigr. 68 (Schenkl) sei nicht Bosheit, sondern arge Geschmacklosigkeit, ebenso wie im Griphus V. 88 die Anspielung auf das Trinitätsdogma (vgl. auch Raby 73). In Wirklichkeit ist das aber richtige Parodie, also Stileigenheit, und hat etliche Parallelen bei Ausonius wie bei Prudentius selbst (z.B. c. Symm.2,48; Per. 6,6). Wer das Christentum parodierte, mußte natürlich Christianismen benutzen; deswegen kann Chr. Mohrmann, Ausonius in zijn verhouding tot het Christendom, Stud.Cath.4 (1928) 364ff.; 5 (1929) 23ff., nicht überzeugen. Parodie oder Anspielung setzen Konvention voraus, in diesem Fall: die allgemeine Kenntnis der dogmatischen Begriffe. Sie entspricht dem Namenschristentum der Zeit um 400 n. Chr. Wenn man Sprache und Bekenntnis so eng aneinanderrückt, wie die Schrijnen-Schule das tut, müßte man bei Ausonius noch manches mehr athetieren. — Chronologische Urteile: Datierung von c. Symm. auf 401/3, weil Symmachus als noch lebend angeredet sei, vgl. Kurfess a.a.O. 1043. Das ist also Verkennung der Apostrophe (S.113 Anm. 107) und des Topos „Augenzeugenschaft" (S. 126 Anm. 160). Extrem: Symmachus habe inzwischen, also ca. 401, erneut eine relatio eingereicht, Rodriguez-Herrera a.a.O. 99 (das widerspricht allem, was wir über die Tätigkeit des späten Symmachus wissen). Die „Romreise" pflegt um dieselbe Zeit angesetzt zu werden wegen Per. 9 und 11, vgl. dazu unten in Teil II. Neuester chronologischer Versuch auf dieser Basis bei Lana a.a.O. 23/43. Die Diagnose der 'Topos-Verkennung', zuerst gestellt von E. R. Curtius, Europ. Lit. und lat. Mittelalter (21954) passim, vgl. im Register (604) s. v., wird sich im folgenden immer wieder aufdrängen. Topos-Verkennungen sind unvermeidlich, solange die Darstellungen der altchristlichen Literatur auf Inhaltsangaben beruhen; vgl. auch die Beispiele in Unters. I (JbAC 4, 1961) 116 18 . 121 49 , ferner die folgende Anmerkung und S. 35 Anm. 57. — Ich behalte den Ausdruck 'Topos' im Anschluß an Curtius bei, obschon er weder historisch legitimiert noch literarwissenschaftlich exakt ist, wie E. Mertner, Topos und Commonplace, in: Strena Anglica, Festschr.f.O. Ritter (Halle 1956) 178/ 224, hervorgehoben hat. Sofern der Begriff 'Topos' so viel besagt wie Klischee, Formel, stereotypes Motiv, Gemeinplatz usw., also die traditionellen Elemente teils gedanklicher, teils struktureller Art umfaßt und insofern noch zu allgemein ist, wendet er sich methodisch gegen die Fehleinschätzung schriftstellerischer Originalität, kann also schon deswegen mit dem antiken Ausdrude nichts gemein haben. 1 4 Vgl. Deferrari-Campbell s. v. nunc, o, nos usw. Besonders die Praefationen der Lehrgedichte einschließlich der Psychomachie sind ganz auf Aktualität abgestellt; so ist in c. Symm. 1,643 ff. das Gedicht Teil des luctamen, ebenso Psych. 18/20 u. ö. Praef. 37/42 fingiert mit Hilfe der Eschatologie auf dem Wege über die „anima" des Dichters und das spiritualisierte Motiv „verba, non munera" das Gesamtwerk als aktuell und bevorstehend, vgl. unten Anm. 57 und S.24 l e . Zum Realitätsgehalt des „ego" bei Prudentius s. den folgenden Teil I. So hat Prudentius z.B. in Ham. „den Dualismus bekämpft und ihm die Etikette 'Marcion' aufgeklebt, dessen Vorbild er in Kain sieht. Eine wirkliche Kenntnis der marcionitischen Lehre geht aus dem langen Streitgedicht nicht hervor. Nicht einmal das ist sicher, daß Prud. die Bücher Tertullians gegen Marcion gelesen hat; dennoch redet er ihn in dem Gedichte an, als kenne er ihn genau", A. Harnadc, Marcion (1924) 392. Anders etwa Brockhaus, Puech., Glover, Roetter; Weyman a.a.O. 66 (Ham. „ganz auf Tert. Antimarcion auf

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Einleitung

verfahren wollen, noch keineswegs, daß sie auch wirklich als aktuell zu verstehen sind. Stellte doch die Rhetorik genügend Topoi der Vergegenwärtigung zur Verfügung. So müssen wir vielmehr fragen, mit welchen Mitteln der Dichter den Anschein der Aktualität zu erwecken vermag 15 . Die zweite Gruppe von Forschern hat ihre Untersuchungen der Imitation gewidmet, also Vorbildern des Dichters im ganzen und loci similes im einzelnen, und demnach bestimmte Stilelemente wenigstens berücksichtigt 16. Da Arbeiten dieser Art sich in erster Linie mit der Nachwirkung antiker Autoren beschäftigten, war die „Abhängigkeit" des jüngeren Dichters von „Vorbildern", die mindestens zweihundert Jahre zurücklagen, von vornherein mit der Fragestellung der älteren klassischen Philologie gegeben 17 . Orientiert man also a priori den Stil des Prudentius an klassischen Vorbildern, ohne die spätantike Literatur zu berücksichtigen, ergibt sich zwangsläufig die Folgerung, diese Poesie verkörpere einen christlichen Klassizismus oder gar, wie Rand meinte, einen christlichen Humanismus I8 . Bei diesen ebenso undeutlichen wie allgemein angebaut"); Kurfess a.a.O. 1063, vgl. 1056: „P. war es nicht um die Widerlegung aller Irrlehren zu tun; es genügte ihm eine Auswahl, bei der er vielleicht durdi seine Quellen (z.B. Tertullian) beeinflußt ist. Auffallend ist, daß Arius nicht bekämpft wird. Ebensowenig werden Priscillian und seine Sekte erwähnt, obwohl zur Zeit der Abfassung des Gedichts der Priscillianismus in Spanien weit verbreitet war." Das gibt also ein ganz falsches Bild. Sobald man den konventionellen Charakter der Argumentation in den Lehrgedichten erkannt hat, wie Stam a.a.O. 10, fällt auch die Stütze für Behauptungen wie die von Raby, er sei „first a catholic" (oben Anm. 5), Behauptungen, die auf der Annahme beruhen, Prudentius sei primär von der theologischen, also entweder apologetischen oder antihäretischen Auseinandersetzung her zu verstehen. Von Bedeutung dürfte die apologetische Polemik in c. Symm. ohnehin nur für bestimmte Kreise Roms gewesen sein, nämlich für den senatorischen Hochadel (Symmachus selbst wird übrigens im ganzen Werk nirgends namentlich erwähnt, und Buch 1 reproduziert ja auch lediglich tralazistisches apologetisches Gut, an dessen Inaktualität kein Zweifel ist). Die soziologischen Bedingungen von Sprache und Theologie, die sich von hier aus recht gut ableiten ließen, sind grundsätzlich dieselben wie etwa bei Ausonius und Paulinus von Nola (darüber sollte uns deren Auseinandersetzung nicht täuschen). „Bedürfnisse der Gemeinde" lagen dabei höchstens insofern vor, als es die Reste hochadeliger Bildungsschicht für das Christentum zu gewinnen galt. Ob Prudentius das gewollt hat, ist zweifelhaft. 15 Unten S.113. 1« Ubersicht bei Lavarenne £t. 627 f.; Kurfess a.a.O. 1064. 17 Sie wirkt in der Akzentuierung des Materials im ThLL empfindlich nach: die spätantiken Belege sind bekanntlich sehr gering. — Die meisten Editionen frühchristlicher Dichter geben die Imitationen nach Vorbildern getrennt. Das aber ist nach allem, was wir über den kontaminierenden Zug spätantiker Poesie längst wissen — vgl. Kroll a.a.O. 139/84 mit Lit., besonders Zingerle und Hosius —, eine unhistorische Methode. Ergiebig für den jeweils edierten Dichter wäre einzig die Bündelung möglicher Vorbilder im Apparat z.St. Denn mindestens für den spätantiken Vers ist gerade eine Höchstzahl von imitierten Stellen und loci similes, z . T . auch von konventionellen Junkturen, konstitutiv. Diese Tatsache findet man weder in Bergmans noch in Lavarennes Ausgabe hinreichend berücksichtigt. 18

A.a.O. (oben Anm. 5).

Zum Stand der Prudentiusforsdiung

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erkannten Gesamturteilen handelt es sich also mitnichten um ein Forschungsergebnis, sondern lediglich um implizite Schlußverfahren, die eine nur partiell zutreffende Methode zur allgemeinen Theorie über die Dichtung des Prudentius erweitern. So wurde der Dichter mit Hilfe der Philologie zum Kronzeugen eines christlichen Kulturidealismus, ohne daß auch nur ein Wort über die Situation von Christentum und Literatur um 400 n. Chr. gefallen war. Die zweite, freilich nicht eingestandene, Schwierigkeit, in der sich Arbeiten dieser zweiten Gruppe befinden, ist mehr literarischer Art. Nachdem nämlich die Nachwirkung klassischer Poesie bei Prudentius zunächst nach Dichtern getrennt behandelt worden war, mußte man schließlich nach Grad und Umfang des Einflusses klassifizieren. Die Beschäftigung mit der Abhängigkeit des Dichters von Horaz 1 9 brachte ihm den Titel eines „Christianorum Flaccus" ein 20 . Da aber auch die Nachahmung Vergils nicht minder stark hervortrat, wenngleich nicht hinsichtlich der metrischen Abwechslung, und Lukrez, Catull, Ovid bei Prudentius gleichfalls nachwirken, ergab sich etwa folgendes Bild: „In dem feinen Gebrauch der Deminutive ist P. auch der Catull der Christen und in der Schilderung des Festes des Hippolytus (Per. 11) der christliche O v i d . . . In Cath. und Per. ist ihm vor allem Horaz Vorbild, aber ihm eignet auch die Leichtigkeit und Grazie Catulls und Ovids." 2 1 Es bleibe dahingestellt, ob Gesamturteile dieser Art, also etwa die Reduktion eines Gedichtes oder gar eines Zyklus auf die Nachahmung bestimmter einzelner Vorbilder, dem wirklichen Umfang der Imitation auch nur annähernd gerecht zu werden vermögen. Auch wollen wir nicht weiter untersuchen, wo denn eigentlich Per. 11 an Ovid erinnert, wenn man nicht nur das Metrum berücksichtigen will (Distichen) 22 , wie man es im Falle der Horaznachahmung der Hymnen zu tun pflegt. Etwas ganz anderes sind doch Kategorien wie „Leichtigkeit" und „Grazie", und was die Deminutive betrifft, so kann man sie wahrlich auch unabhängig von einer Catullnachahmung erklären 23 . Der artige Auf Stellungen sind wissenschaftlich wertlos, da sie auf ebenso mechanischen wie unvollständigen Nachweisen an Imitation beruhen. Gewiß ist der bisher erreichte Index 19 H. Breidt, De A. Prudentio CI. Horatii imitatore, Diss. Heidelberg 1887; A. Salvatore, Qua ratione Prudentius aliqua Cathemerinon libri carmina conscribens Horatium Vergiliumque imitatus sit, Annali della Facolti di Lettere . . . dell'Universitä di Napoli VI (19S6) 119/140. Ferner vgl. das Kapitel „Christianorum Flaccus" bei Salvatore, Studi Prudenziani 59/77. 20 Die Bezeichnung geht über Bentley auf Apoll. Sid. c. 2 , 9 , 4 zurück. 21 Vgl. Kurf ess a.a.O. 1064; Salvatore, Studi 59/48. 22 Das Urteil scheint von Rand zu stammen, der a.a.O. 74 Per. 11 auf Ovids Fasti bezieht; zur Kritik s. Salvatore, Studi 35/24 mit weiterer Lit. 23 Daß die Deminutive anders und besser erklärt werden können, vermag auch Salvatore, Studi 207/22 (mit Lit.), nicht zu bestreiten. Weitere Lit. bei P. Antin zu Hier, in Jon. 1,16 (p. 76,).

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Einleitung

imitationum lückenhaft, aber Bergmans Ausgabe hatte doch immerhin auch beträchtliche Nachahmungen von Juvenal (30), Lukan (22), Seneca (21) verzeichnet (gegenüber nur 15 loci similes aus Ovid, 260 aus Vergil, 67 aus Horaz). Merkwürdigerweise hat man sich aber in diesem Zusammenhange noch niemals gefragt, wie es denn, bei einer solchen Vielzahl von 'Vorbildern, mit der Einheit und der Qualität des nachahmenden Gedichts bestellt sei. Was besagt es für den Stil der Poesie im ganzen, wenn sie Ingredienzien nicht nur längst vergangener, sondern vor allem ganz verschiedener Stilrichtungen mischt? Denn es soll sich ja offensichtlich nicht nur um mechanisch rezipierte Junkturen, sondern jeweils um ein bestimmtes Ethos handeln (siehe „Leichtigkeit" und „Grazie") 24 . Und wie verträgt sich das mit dem oft hervorgehobenen „Realismus" des Dichters? Ist der Klassizismus derart bestimmend für Prudentius, daß daneben zeitgenössische Einflüsse nur sekundär sind und zumal der ansonsten behauptete christliche Grundcharakter dieser Poesie davon gar nicht berührt wird? Schließlich: welcher Preis war für die Rezeption einer in sich disparaten und als Ganzes der Zeit um 400 n. Chr. fernstehenden Kunstsprache zu zahlen? Setzte doch ein derart exklusiver Klassizismus nicht nur eine im Christentum dieser Epoche kaum vorhandene Bildungshöhe voraus, sondern benutzte er außer einer dem normalen Leser gar nicht mehr verständlichen Sprache auch metrische Prinzipien, die nur noch in Lehrbüchern zu Hause waren 25 . Nächst Schwen26 hat erst Salvatore neuerdings über das statistische und bloß additiv-quantitative Verfahren der Imitationssuche hinausgeführt, indem er gerade die Kontamination klassischer Vorbilder als Stilelement erkannt und zum Gegenstand der Untersuchung gemacht hat 27 . Er berücksichtigt zum ersten Male die poetische Technik und kommt damit einer historischen Deutung des Stils sehr nahe. Eine Analyse der Kontamination muß über den einzelnen Vers hinausgehen, ist sehr kompliziert und erlaubt nur ganz langsames Fortschreiten. Tatsächlich verallgemeinert dann aber auch Salvatore zu früh, da er erstens nur wenige Stellen behandelt und zweitens die historisch begründete kontaminieSo etwa Rand a.a.O. 25 Vgl. Krolls Kapitel über die Diditersprache a.a.O. 247/79 sowie 154 f. B. Axelson, Unpoetische Wörter (Lund 1945) 137 (Notwendigkeit einer präzisen Vorstellung über den Stilwert und Gefühlsgehalt der Wörter für die ästhetische Beurteilung der Poesie) u. 142/18 (Wortwahl altchristlicher Dichter). E. Auerbach, Literatursprache u. Publikum i. d. Iat. Spätantike u. im M A (Bern 1958) 185. Zwischen volkstümlichen und gelehrten Gedichten des Prudentius zu unterscheiden (Rodrig.-H. a.a.O. 137 konfrontiert z.B. Cath. 1,2,6,11,12 mit 3—5, 7—10, sowie Per.2 u. 5 mit den übrigen Stücken des Zyklus), ist bare Willkür. Zur Exklusivität der klassischen Metrik um 400 n.Chr. u.a.: M.G.Nicolau, Sources de la versification latine accentuelle: Arch. Lat. Med. Aet. 9 (1934) 53/87. 2 6 Chr. Schwen, Vergil bei Prudentius (1937), bes. 36 (Vergleich mit der zeitgenössischen Kunst). 27 S. Anm.5 Ende; vgl. meine Besprechung in JbAC 5 (1962) 186/88. 24

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rende Technik des Prudentius vorschnell als „Harmonie" versteht, ohne den rhetorischen Charakter der spätantiken Dichtersprache auch nur zu erwähnen 28 . Das ist also wieder die traditionelle Ansicht. Da auch Salvatore nur klassische Vorbilder behandelt und sogar Claudian ausklammert, bleibt er zwangsläufig bei der petitio principii eines substantiellen Klassizismus 29 . Diese Kategorie ist, wie bereits bemerkt, unbrauchbar, sofern sie mehr besagen soll als die Selbstverständlichkeit, daß eine christliche Poesie in erster Linie Poesie sein mußte und der Begriff „christlich" für eine historisch-kritische Interpretation so gut wie nichts hergibt. Theologisch ist Prudentius erwiesenermaßen ganz unbedeutend 30 — konnte er aber mit einem dogmatisch konventionellen Inhalt einen Gebildeten seiner Zeit „bekehren" oder auch nur „belehren" wollen 31 ? Die Originalität des Dichters kann daher nur in seiner poetischen Technik liegen. Sie ist etwas Drittes neben Antike und Christentum — das ist eine Erkenntnis, hinter die wir seit Salvatore nicht mehr zurückkönnen, und mit vollem Recht bestreitet er energisch die Brauchbarkeit des Schemas Inhalt—Form 32 . Seine eigene Theorie allerdings, auf der Linie der traditionellen Deutung und bar eines „radicalismo critico", dessen ihn sein Landsmann Lana zeiht 33 , muß von der Methode der Untersuchung getrennt werden. Sie würde es nur verhindern, in der Analyse weiterzugehen. Es lassen sich nämlich unschwer Beispiele aus Prudentius geben, die jene Identifizierung von Kontamination und Harmonie vereiteln 34 . Sie zeigen, daß 2 8 Auf ihn verweist daher zu Recht V. Tandoi in seiner Rezension des Buches von Salvatore: Atene e Roma 5 (1960) 115; vgl. Kroll a.a.O. 154f. 2 9 Vgl. a.a.O. 11 ff. Zur Kritik vgl. die in Anm. 27 genannte Rezension. Extrem in dieser Richtung schreibt der Büchner-Schüler H. Eckert, WSt 74 (1961) 85f.: Prud. Ap. 582 beweise, daß Horaz c. 1,1,2 mehr enthalte als Protektion. Prudentius „erspürt Verwandtes und Höchstes" (K.Büchner, Rom. Literaturgesch. [1957] 533). 3 0 Stam a.a.O. 11. Anders u.a. Raby (oben Anm.5). Das ist auch gar nicht anders zu erwarten, wenn er als Dichter gelten soll. 3 1 So u.a. Stam a.a.O. 12, im Widerspruch zu seinen Ausführungen auf S . U . Der Ton läge dann wieder auf dem „Inhalt", und man befände sich außerhalb der Tradition des römischen Lehrepos. 3 2 A.a.O. 12 f. 33 A.a.O. 92. 3 4 Es sind Stellen, an denen die Anschaulichkeit der Sprache fehlt oder Anschauung durch die Ausdrucksweise verletzt wird (also abstrakter Gebrauch ursprünglich anschaulicher Wörter oder mißglückte Metaphern), zum Teil eine Folge katachrestischer Imitation. Das Phänomen im allgemeinen deutet Lavarenne wenigstens an, £t. 1631 ff.; speziell auf mißglückte Metaphern verweist Stam 193 zu Ham. 391 (zu bibere). Um mit einem deutlichen Fall derartiger Imitation zu beginnen: Cath.3,66/75 enthält Elemente aus Verg. georg. 3 und 4, buc. 4, Horaz ep. 16, wie Salvatore 106/10 zeigt (Lavarenne bietet z.St. nichts!). Aber das traditionelle u.a. auch von Petron (56,2) benutzte „ubere de gemino" ist, von Ziegen (?) gesagt, schwierig (richtig piaziert in Per. 10,684). — In Cath. 1,21/5 sind mindestens Elemente aus Verg. Aen. 4,587; 5,739; 7,25; 12,113; Ovid met.7,634; 8,83; 10,368; Horaz sat.1,5,10 gemischt (auch hier nennt Lavarenne nichts, zählt vielmehr £t. 1517 die Stelle zu den

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Prudentius mit seinen „Vorbildern", seien es biblische oder klassische Autoren, sehr häufig technisch verfährt und jener „Zug zur Anschaulichkeit", den die communis opinio an ihm rühmt 35 , durchaus nicht vorherrscht. Die Frage ist daher, ob der um 400 n. Chr. unweigerlich kontaminierende Charakter einer solchen Poesie nicht viel umfassender behandelt und erklärt werden muß, zumal er den Vergleich mit zeitgenössischen Autoren — nicht nur mit den Centonen 36 — geradezu herausfordert. Wenn nämlich die kontaminierende Technik bei Prudentius wirklich konstitutiv ist, kann für seinen Stil die Behandlung klassischer Vorbilder nur beiläufige Teilerkenntnisse liefern. In der ersten Gruppe von Untersuchungen findet man also historischbiographische Auslegung ohne Rücksicht auf die literarische Gestalt, in der zweiten: Poesie ohne geschichtlichen Bezug. Dort „Christentum" ohne allzuviel Interesse an der Form und ihrer geschichtlichen Rolle, hier Nachwirkung der „Antike" ohne die Frage nach der geistigen Einheit. Beiden Gruppen ist nun folgendes gemeinsam: einmal die Vernachlässigung historischer Bezüge in Kirchen- und Literaturgeschichte: weder das Christentum, als Erscheinung der Spätantike, noch die Literatur im Übergang zum Mittelalter spielen eine wesentliche Rolle. Ein Vergleich „descriptions pittoresques"), ohne Rücksicht darauf, ob es sich in der „Vorlage" um Sonnenaufgang oder -Untergang handelt. Das ergibt natürlich manche „passages obscures" (Lavarenne £t. 1633 ff. und häufig in seiner Ausgabe), aber sie sind erklärbar, eben aus der imitativen Technik der Spätantike. — Beispiele für unanschaulichen Gebrauch bzw. mißglückte Metaphern sind weiterhin u.a.: der „almus pes" von Agnes Per. 14,133, die „anima stertens" Cath. 7,20. (Unrichtig Lavarenne £t. § 1497; freilich stertere für „schlafen" bei Zeitgenossen häufiger, vgl. Hier. ep. 61,4 u. ö., Prud. Cath. 1,28, aber schon Horaz sat. 1 , 3 , 1 8 ; ep.1,3,18), der „liquor fusus a gremio" Cath. 3,23, der „lactans sinus" des Laurentius Per. 2,571, die „sulci amari" in Per. 4,120, die „anima supero fluens de solio patris" in Cath. 3,189 ähnlich wie „fons vitae liquida fluens ab arce" in Cath. 4,10 und 6,35 (vgl. 3,23, Lavarenne: liquor = Gnade; mehr zum Komplex liquor-liquidus in Unters.II, 156f.); „lumen tinctum ungui"Cath.5,155f. Anderes,wie z . B . P e r . 3 , 1 4 4 f . (die von frischem Blut bemalten Glieder waschen die Haut aus wärmender Quelle), im Laufe der Studien. Vieles erklärt sich auch aus Spiritualisierung rhetorischer Terminologie, so „spiritali lacte pectus inrigare" Per. 10,10, vgl. Per. 13,10 sowie Paul.Nol.ep.19,3, s. Unters. II, Anm. 132—135; genaue Parallele ist Auson. technop.3,14: mens quae caelesti sensu rigat emeritum cor. Imitation innerhalb der Bibel-Paraphrase dagegen erzeugte ζ. B. die „volantia calamis spicula Gnosiis" in Cath. 5,52, aus Horaz c. 1, 15,17 übertragen auf Exod.l4,8ff. — Das sind weder typische „defauts" noch „negligences" (Lavarenne £t. 1624, 1631), sondern folgt daraus, daß Prudentius häufiger „poetice quam humane locutus est" (Petron 90,3), nicht anders als die epigonale Poesie seiner Zeit. 3 5 So betont etwa Stam (247) mit Rodriguez-Herrera (121 ff.) den Hang des Dichters zu Optik und Anschaulichkeit; ähnlich Lavarenne £t. 1516 ff.; es wird zu prüfen sein, in welchem Umfang das zutrifft. Vgl. in Teil II die Ergebnisse zu den Farbbezeichnungen, zur Funktion des sog. Realismus und zur Ekphrasis. 3« Salvatore, Studi 14 f.; Kroll 154f.

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mit zeitgenössischer Literatur, christlicher oder paganer, fällt der klassizistischen, Perspektive zum Opfer 3 7 . Das bedeutet zweitens eine teils programmatische, teils nur faktische Vernachlässigung der Rhetorik 38 . Der Begriff von Rhetorik ist durchweg absprechend und als Gegensatz zu „Poesie" verstanden 39 — eine Antithese, die von vornherein den Grundzug mindestens der spätantiken Poesie und Poetik durchaus verfehlt 40 . Eine Sonderstellung des Prudentius gegenüber der Rhetorik müßte auf jeden Fall historisch einleuchtend erklärt werden können. Drittens nun arbeiten beide Gruppen nicht nur mit dem ungeschichtlichen Gegensatz christlich-antik, sondern kontrastieren auch Inhalt und Form. Ja es scheint, als habe die Unterscheidung von Inhalt und Form, mit dem Gegensatz christlich-antik zumeist gekoppelt, die beiden Forschungsrichtungen geradezu arbeitsteilig hervorgerufen. Bestimmt hat sie sie jedenfalls von vornherein, auch unausgesprochen. Denn je mehr man sich in der üblichen Imitationsforschung auf die Abhängigkeit von klassischen Vorbildern konzentrierte, desto unangefochtener konnte man andererseits die Originalität des christlichen Inhalts behaupten, die ja, wenn man mit Vergil, Horaz usw. vergleicht, auch unbestreitbar ist. Aber es ist eben, wie gesagt, die Frage, welche Rolle die Rezeption der klassischen Vorbilder im Stil des Gesamtwerkes spielt und wie das im einzelnen Falle aussieht. Die Art der Rezeption muß also selbst historisch interpretiert werden, und dasselbe ist für die Erklärung des „christlichen Gehalts" zu fordern, der ja doch seinerseits nicht nur eine Vorgeschichte hat, sondern im Gedicht gerade zum Formelement wird. „Christliche" Dichtimg: was kann das anderes bedeuten als Dichtung von Christen? Aber interessiert das Glaubensbekenntnis in der Kunst? Meint man mit dem Zusatz „christlich" die Art des Stoffes, so ist man dadurch die in3 7 Typisch dafür ist der Apparat in Lavarennes Ausgabe, aber auch die Perspektive Salvatores, der für Ham. 582 ff. bis Herodot zurückgreift, jedoch weder Ambrosius noch den Physiologus erwähnt, wie das Stam 213 z.St. getan hat (ein paar andere Ergänzungen bei Tandoi a.a.O.). Beachtet worden sind dagegen seit alters die Beziehungen des Prudentius zu Claudian, der in Bergmans Index mit 96 „Nachahmungen" vertreten ist. Sie sind aber schwierig zu ermitteln, wie C. Weymans Auseinandersetzung mit O. Höfer (De Prudenti poetae Psychomachia et carminum chronologia, Diss.Marburg 1895) in: Beitr. 64 ff. zeigt. 38 Raby a.a.O. 68; in derselben Richtung argumentiert Lana a.a.O. 89 (mit Gewährsleuten). Kurfess 1055.1067; Weyman a.a.O. 77. « Vgl. Kroll a.a.O. 107 ff. und etwa G. Lehnert, Burs. Jahresber. 285 (1944/45) 117/35; Higham, in: Ovidiana ed. Herescu (Paris 1956) 32ff. Curtius a.a.O. 155/75; oben Anm. 14 und 28. Bekanntlich sind Rhetorik und Poesie in Griechenland bereits für Isokrates und Plato verschwistert (Gorg. 502 C, s. W. Jaeger, Paideia 3,121). Diskussion der einschlägigen Texte bei d'Alton a.a.O. 438/524: the supremacy of Rhetoric. Ε. Zinn, Ant. u. Abdl. 5 (1956) 22 wendet sich zu Recht gegen den erwähnten absprechenden Sinn von „Rhetorik".

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haltliche Betrachtung vorzuziehen verleitet. Wer würde heute „christliche Dichtung" als eigenen Bereich ausgeben, es sei denn, er verbinde damit bestimmte weltanschauliche Interessen? Die methodischen Schwierigkeiten und sachlichen Unklarheiten der bisherigen Prudentiusforschung erklären sich also im wesentlichen daraus, daß sie aus einer Zeit stammt, als das spätantike Christentum und seine Literatur wissenschaftlich noch nicht erschlossen waren, so daß zwangsläufig die „Verschmelzung" von „Antike und Christentum" als überraschende „Harmonie" verstanden und als originell gelobt wurde. Sie historisch zu erklären, sah man sich nicht veranlaßt. Es war das auch die Zeit, in der die Patrologie ihre Rückzugsgefechte gegen die vordringende „Geschichte der patristischen Literatur" zu liefern hatte 4 1 . Eine Waffe in diesem Kampf war die betonte Unterbewertung der Form zugunsten des dogmatischen und biographischen Gehalts, und das ist in der Prudentiusforschung einfach bis heute so geblieben, obschon die historische Kritik den Frieden längst diktiert hat. Und es wäre auch wenig wünschenswert, der christlichen Poesie ihren Platz in der Literaturwissenschaft vorzuenthalten. Ohne Zweifel ist es gerade die apologetisch bedingte Aufteilung nach Inhalt und Form, die bei Prudentius eine Aufarbeitung entscheidender Stilelemente des „Gefüges", etwa Motiv, Topos, Metapher, Ekphrasis, Parodie, Ironie und Komposition, bisher verhindert hat 4 2 . „Der Zwist zwischen Form und Inhalt beruht, wie der zwischen poesie pure und poesie engagee, auf einem Scheinproblem. Wer sich darauf einläßt, wird seine Gründe haben." 4 3 41 Unters. I, S. 108/14. 4 2 Salvatore 11 ff. Was Lavarenne £t. 1431 ff. gesammelt hat, konnte daher weder vollständig noch ergiebig sein, zumal er überhaupt nicht sprach- und stilgeschichtlich differenziert, also nicht erkennen läßt, was aus Prudentius selbst stammt und was er den Zeitgenossen oder klassischen „Vorbildern" entnimmt. Die nämlichen Bedenken richten sich auch gegen Lavarennes Erschließung der Sprache überhaupt. Der Versuch, eine Grammatik des Prudentius zu schreiben, war von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil seine Sprache, ein Kunstprodukt, lexikographisch und semasiologisch weder einheitlich noch ohne weiteres geschichtlich verwertbar ist. Nach „Sprachstil" und „Stilsprache" wäre zu fragen (L. Spitzer). Verfährt man dagegen wie Lavarenne, entzieht man gerade die Sprache der Interpretation, und die Analyse des sprachlichen Kunstwerks verliert ihren eigentlichen Gegenstand. 4 3 Η. M. Enzensberger, Einzelheiten (1962) 271. Den Stand der Diskussion in Literaturwissenschaft und Germanistik zur Kenntnis zu nehmen, kann nur von Vorteil sein. An Voraussetzungen darf ich nennen: Stil- und Formprobleme der Literatur, hrsg. v. P. Böckmann (Heidelberg 1959), mit dem Titelvortrag Böckmanns 11/14, sowie El. M. Wilkinson, 'Form' and 'content' in the Aesthetic of German classicism, ebd. 18/27. Ferner vgl. etwa P. Böckmann, Formgeschichte der deutschen Dichtung (1948) 7ff.; W . Kayser, Das sprachliche Kunstwerk (91963) 5 f . 12ff.: was er kritisch zu Herkunft und Grundlage biographisch-psychologischer Interpretation feststellt, trifft Wort für Wort auch für die bisherige Prudentiusforschung zu. Grundlegend äußern sich über die falschen Voraussetzungen des 'biographical approach' auch R. Wellek-A. Warren, Theory of Literature (London 1955) 7 ff.

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Um nun über das in groben Strichen skizzierte Dilemma hinauszukommen, wird man sich ganz auf die literarischen und sprachlichen Bedingungen der Zeit um 400 n. Chr. konzentrieren, also die stilistischen Besonderheiten einschließlich der sprachlichen Gestaltung und imitativen Technik soweit als möglich aus der spätantik-christlichen Tradition begreifen müssen44, ohne Poesie und Prosa von vornherein zu trennen. The distinction between poets and prose-writers is a vulgar error (Shelley). Besonderheiten der Texte und Eigenart des Dichters werden sich dann von selbst herausstellen. Wenn der fragwürdige Gegensatz von (christlichem) Inhalt und (antiker) Form dahinfällt, verliert zwangsläufig auch die Theorie von „Verschmelzimg", „Harmonie" usw. an Wert. Selbständige Bedeutung hatten Theorien dieser Art ohnehin niemals, da sie einfach hypothetisches Komplement zu jenem Schema Inhalt—Form waren. Die „Verschmelzung" christlicher und antiker Elemente in der Literatur war um 400 n. Chr. doch seit Jahrzehnten im Gange; die Frage ist daher lediglich, wie und unter welchen geschichtlichen Bedingungen der einzelne Schriftsteller diese Elemente „verschmilzt" oder die traditionelle „Verschmelzung" in Form bringt. Damit sind wir dann wieder bei der poetischen Technik des Prudentius: nur in ihr kann seine Originalität zu finden sein. Man ist um den Preis Künstler, sagt Nietzsche, daß man das, was alle NichtKünstler Form nennen, als Inhalt, als „die Sache selbst" empfindet. So müssen wir auf die genannten Unterscheidungen von Inhalt und Form, christlich und antik, Dichtung und Prosa erst einmal verzichten, wenn wir in der Interpretation weiterkommen wollen. Und zwar wollen wir im ersten Teil der folgenden Arbeit die beiden bisher getrennten Aspekte, den autobiographisch-psychologischen und den formal-literarischen, ineinanderschieben, um nach den Stilelementen und Formen der Selbstaussage bei Prudentius zu fragen. Man wird nämlich annehmen dürfen, daß die Selbstaussagen sowohl literarhistorische Konvention enthalten — sie sind ja Teil eines Gedichts und gehören also in die Formengeschichte antiker Poesie —, als auch über Stil, historische Position und mögliche Originalität des Dichters besonders klar Auskunft geben. Eine Analyse der Selbstäußerungen wird nicht nur zeigen können, was von einer psychologisch-autobiographischen Deutung zu halten ist, sondern hat auch für die Stiluntersuchung allgemein exemplarischen Wert. Vorarbeiten gibt es dazu nicht, obschon der Topos „auctor de se ipso" seit alters bestand, die Geschichte der antiken poetischen Autobiographie in den Grundlinien bekannt ist und die Reflexion über das eigene schriftstellerische Werk in Poesie und Prosa mit ganz bestimmten Typen vertreten war. Wir beschränken uns dabei auf die Motivierung der Poesie, wie sie sich vor 44 Ähnlich bereits S. Merkle, Theol. Quart. 78 (1896) 251, ihm folgend dann auch Stam a.a.O. 2. 2*

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allem im Epilogus des Prudentius ausspricht. Querverbindungen zum Gesamtwerk werden sich dabei von selbst ergeben (Teil I). Der zweite Teil befaßt sich in erster Linie mit wichtigen Stilelementen der Märtyrerhymnen samt ihren motivischen und sprachlichen Voraussetzungen. Das gibt die Gewähr, nach der intensiven Analyse eines einzelnen Gedichts (Teil I) nunmehr extensiv über formbildende Faktoren eines ganzen Zyklus Aufschluß zu erhalten, und zwar eines Gedichtkomplexes, der außer einem Höchstmaß an aktuellen Beziehungen und rhetorischen Einflüssen ein Minimum klassizistischer Elemente enthält (Teil II). Die Metaphern für Schreiben und Foltern, als Stilmittel jenseits des Scheinproblems von Inhalt und Form, haben eine lange Geschichte und bedürfen, ehe wir Folgerungen für Prudentius ziehen können, eingehender Behandlung. Daß sie uns auch über die geschichtliche Stellung anderer spätantiker Autoren Aufschluß geben und bisher unerledigte oder strittige Fragen zu beantworten vermögen, wird für die Untersuchung nicht von Nachteil sein.

I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters a) Motivierungen altchristlicher Poesie So wenig sich reine Dichtung auf Legitimation mag verstehen wollen: die altchristliche Poesie bedurfte ihrer, nachdem Apologetik und antihäretische Polemik die (antike) Dichtung als verlogen und verwerflich denunziert hatten 1 . Sehr fatal, will uns heute scheinen, da wir das frühe Christentum am Prozeß gegen die Poesie teilnehmen sehen, der, in Piatos Politeia eröffnet, bis in unsere Tage andauert. Fortan war, da die Apologeten jene politisch-moralische Ablehnung der Poesie übernommen hatten und damit in der Kirche auch durchgedrungen waren, Dichtung von Christen nur noch als „christliche Poesie" möglich, also nur unter poesie-fremden Bedingungen, sofern es überhaupt zu einer solchen dogmatisch-moralisch domestizierten Dichtung kommen konnte. Unter dem Druck weltanschaulicher Auseinandersetzungen war das relativ spät der Fall, und wer zu dichten sich berufen wußte, war genötigt, sich „christlich" zu rechtfertigen, geriet also gegenüber der Kirche zwangsläufig in den Bann inhaltlicher (dogmatischer, moralischer, pädagogischer) Argumentation, sobald er mehr bot als schulmäßige Bibelparaphrasen, v e r i fizierte Paränese oder liturgische Strophen. Daß Christen dichteten, ergab sich aus dem Dasein der christlichen Botschaft mithin keineswegs von selbst, sondern war im Gegenteil von Anfang an problematisch: wie ließ sich poetische Existenz gegenüber der Wahrheit rechtfertigen? Wie ließ sich trotz der Kirche dichten? Wie konnte man der historischen Situation des orthodoxen Christentums Rechnung tragen, ohne die Poesie ihrem Ursprung zu entfremden? Wie war trotz aller Diffamierung der Poesie die unerläßliche Rezeption klassischer Vorbilder möglich? Daß Evangelium und Poesie nichts miteinander zu tun haben, war ja ein durchaus christlicher Gedanke. Aber deswegen die Dichtung zu perhorreszieren, bedeutete doch eine gefährliche Nachbarschaft zur totalitären Philosophie. Ungefährlich, weil inaktuell, war das nur so lange, wie die Kirche zur Vollstreckung nicht fähig und zur Unterdrückung der Poesie nicht willens war. Derart muß man sich über Rolle und Bedeutung des Dichterischen erst einmal verständigen, ehe man so unbesehen, wie es bisher geschehen ist, von einer „christlichen Poesie" spricht und damit Voraussetzungen ganz bestimmter Denkart in die Literaturwissenschaft einführt. Erst wenn sich die Patristik von den Argumenten der „geschlossenen Gesell1 Material bei H. Fudis, Art. Bildung, RAC 2, 356 f. Unten Anm.56.

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

schaft" reinigt, kann sie die Poesie des spätantiken Christentums verstehen. Erst dann sieht man auch die Motivierungen christlicher Dichter und die Problematik ihres Selbstverständnisses richtig. Die Motivierung des Gedichts abzuhören und historisch einzuordnen, wird auch deswegen ergiebig sein, weil wir auf die Stimme der Autoren selbst angewiesen sind, wenn wir die Rolle der altchristlichen Poesie erkennen wollen. Bisher heißt es durchweg, sie verstehe sich als Ersatz der klassischen heidnischen Poesie 2 , eine These, die sich nicht selten mit dem Hinweis auf den Julianerlaß von 362 verbindet3. Indes ist sehr die Frage, ob die christlichen Dichter ihre Produktion so verstanden haben und der Julianerlaß in diesem Zusammenhang überhaupt eine Rolle spielt4, zumal es aus der Zeit zwischen etwa 330 und 390 — da Damasus und Ambrosius nicht in diesen Zusammenhang gehören — gar keine datierbare christlich-lateinische Poesie gibt. Christliche Dichtung als Ersatz der mythologischen und in pädagogischer Absicht — das würde allenfalls auf die Bibelparaphrase zutreffen. Diese beginnt aber nicht nur lange vor Julian, sondern liegt auch nicht einmal am Anfang christlicher Poesie. Erst ein Dichter des 5. Jahrhunderts motiviert seine Bibelpoesie pädagogisch, aber das ist Fiktion5. Ferner: wie hätte eine christliche Schulpoesie Vergil verdrängen können und institutionell verwirklicht werden sollen, wo doch von Eingriffen des Christentums in den üblichen Lehrplan sonst nichts bekannt ist 6 ? Ja, noch mehr: es ist nach der Lage der Dinge überhaupt fraglich, ob sich so ohne weiteres von einer „christlichen Poesie" als Einheit sprechen läßt. Tatsächlich sind die Motivierungen bei den einzelnen Autoren ganz verschiedener Art und verbieten jeglichen Rückschluß auf die Existenz einer bewußt angestrebten dezidiert christlichen Dichtungstradition 7 . Das muß so sein. Denn eine „christliche" Begründung „christlicher" Poesie ist nicht gut denkbar; sie muß Momente enthalten, die entweder mit dem Christentum oder mit der Poesie ursprünglich nichts zu tun haben (hier wie sonst ist das Wort „christlich" lediglich geeignet, die wirklichen histori2 Z.B. Raby a.a.O. 8. 3 Chr. Mohrmann, Etudes sur le Latin des Chretiens 1 (Rom 1961) 154. 4 Vgl. Art. Epos, RAC 5, 999 (im folgenden: Epos). 5 Claud. Mar. Vict. Alethia prec. 104, vgl. Hovinghs Kommentar (Groningen 1955) z. St., ferner Epos 1028. 6 Siehe unten S. 105 Anm. 84. 7 Die Kategorie „Ersatz" impliziert ja nicht nur die Möglichkeit, christliche Poesie an den Schulen zu lehren (was der Julian-Erlaß gerade ausschloß), sondern leugnet auch, eine in sich geschlossene und formal selbständige Poesie-Tradition voraussetzend, die Abhängigkeit der Poesie von der Rhetorik, der Brücke zwischen klassischem Vorbild und zeitgenössischer Imitation, und das, obwohl ja ein christlicher Ersatz heidnischer Stoffe nur innerhalb der traditionellen Schulformen sinnvoll und möglich gewesen wäre. Diese empfindlichen Widersprüche können indes auf sich beruhen, da faktisch kein christlicher Dichter seine Poesie als „Ersatz" Vergils o. a. ausgegeben hat.

a) Motivierungen altchristlicher Poesie

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sehen und theologischen Probleme zu verdecken). Am stärksten vertreten ist die biblizistische Motivierung, die auf der exegetischen Einsicht in den metrischen Charakter einiger Bücher des Alten Testaments, besonders der Psalmen, beruht, ohne die ursprüngliche liturgische Bindung des Psalters zu berücksichtigen8. Die in dieser Motivierung enthaltene Berufung auf David als Archegeten christlicher Poesie 9 , im Rahmen literarischer Produktion ein wenig deplaziert, geht auf die Psalmen griechischer Häretiker und syrischer Dichter zurück und ist dort natürlich sinnvoller 10 . Paulinus von Nola, Sedulius und Arator nehmen sie auf, nicht ohne zugleich mancherlei andere, ungezwungen-weltliche Gründe für ihr Dichten zu nennen 11 . Derart motivierte auch Gregor von Nazianz: zwanglos, praktisch, einleuchtend, wenn auch traditionell, und ohne artifizielle Mühe 12 . Im griechischen Christentum gibt sich erst die fälschlich dem Apollinaris von Laodicea zugeschriebene Psalmenparaphrase als Restitution des Urtextes — ohne Zweifel das apologetische Motiv, das wir auch im Westen finden, und durchaus keine Berufung auf die Hymnentradition 13 . Während die Stilkonvention, die für uns mit Commodian beginnt, eine Motivierung des eigenen Dichtens als Paränese und Apologetik offenbar nicht benötigt, versteht sich die Evangelienparaphrase des Juvencus (um 325) als Konkurrenz zur heidnischen Epik. Er übernimmt den bekannten Zukunftstopos — Verewigung der sublimia facta durch die Dichter, dadurch auch gloria vatum 14 — und verbindet mit einem Schluß e minore 8 Epos 1004 mit Lit., Fuchs a.a.O. 355. Das geht aufs hellenistische Judentum zurück: J o s . a n t . 2 , 1 6 , 4 ; 4,8,44 u . ö . 9 David als Archeget der Poesie: R A C 3 , 5 9 8 . !0 Bardesanes: Euseb. h. e. 7 , 3 0 , 1 0 , vgl. 7 , 2 4 ; Sozom. 3 , 1 6 ; vgl. Cerfaux, Art. Bardesanes, RAC 1 , 4 8 6 f. und die dort gegebene Literatur, ferner R A C 3,601. Zur Poesie der Häretiker, der ältesten christlichen Dichtung, vgl. Unters. I, Anm. 6/7 (mit Lit.). 1 1 Sed. c. pasch. 1 , 2 3 ; op.pasch. 1 , 1 ; ep.ad M a c e d . p . 4 , 1 5 — 5 , 1 0 , vgl. p. 6, 2ff. Dichtung als Entspannung: Mart. 1 2 , 1 ; Ter. Maur. 279 f.; Nemes. ecl. 4 , 1 9 ; Claud, c. Rufin. 2, praef. 13/20. So aber auch Paul. Nol. c. 6 , 1 4 f f . : die Sache sei bereits in Prosa gegeben, Poesie nur mehr zum „versu mentes laxare legentum" (v. 19), vgl. c. 1 7 , 1 0 , Paul. Petr. v. Mart. 4 , 4 9 1 f. und Sedul. c. Pasch. 2 , 3 5 ; Orient, comm. 1 , 8 9 ff. Curtius a.a.O. 471 f. — Zu Arator s. JbAC 4 (1961) 192. 12 PG 37, 1331, 3 3 - 1 3 3 3 , 5 7 , dazu B. Wyss, MusHelv 6 (1949), 179 f. Eine ähnliche Reihe von Gründen auch bei Avian.fab. praef.; dort auch „Gesang gegen Sorgen" (sollicitudinem levare), wie Phaedr. fab.3 prol.33ff.; PsApoll. Par. Psalm, proth. 7 f . ; Paul. Pell. euch. 70 ff. Paul Petr. v. Mart. 3 , 3 3 0 / 7 und oft. 1 3 Epos 1004. J. Golega, ByzZ 39 (1939) 1 ff., der die Vorgeschichte dieser „exegegetischen Literaturtheorie" (Curtius) allerdings zu wenig berücksichtigt. In ihr liegt der Unterschied zu den (von Greg.Naz. u . a . bekämpften) νέα ψαλτήρια der Häretiker und ein wichtiges Indiz gegen die Echtheit der Paraphrase. 1 4 Curtius a.a.O. 4 6 9 f . Verkennung des Topos bei Juvencus: Schanz-Hos.4,1, 209 ff. — Zu diesem Topos „Nachruhm" (oder „Zukunftstopos") noch einiges M a terial: Epicharm 23 Β ( 1 , 1 9 3 f f . ) ; Theognis 2 3 7 f f . 2 4 5 ; Pindar N e m . 8 , 3 5 f f . ; Pyth.3, 1 1 4 f . ; 6 , 1 0 u . a . —; mehr aus griech.Lit. bei W . Kranz, Sphragis, RhMus 1961, 26

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

a d m a i u s : w e n n schon Vergil u n d H o m e r immer noch R u h m h a b e n — trotz ihrer m e n d a c i a 1 5 , trotz der Hinfälligkeit menschlichen W e s e n s — wieviel m e h r D a u e r m u ß einem Gedicht über Christi vitalia gesta b e schieden sein; ist es doch w a h r u n d unvergänglichen Inhalts 1 6 . Dieser indicatio des T h e m a s folgt dann die invocatio spiritus 1 7 . D i e 'cantus S m y r n a e d e f o n t e fluentes' sowie die dulcedo Vergils w e r d e n überboten durch den purus amnis dulcis Iordanis 1 8 . D a s ist z u m erstenmal die Spiritualisierung des Jordan im R a h m e n des Beistandstopos 1 9 . A b g e s e h e n v o n der Christianisierung des Überbietungsmotivs und des N a c h r u h m topos ist hier alles traditionell 2 0 . D a s Problem dieser Dichtung liegt vielu.ö. —; Cat.c. 1 , 9 f . ; Horaz c. 2,20; 3,30; 4 , 8 , 9 ; Verg. Aen.9,449 mit Kroll a.a.O. 27; Prop. 1,6,35f.; 1,7,21 f.; 2 , 2 , 1 7 f ; 34,85ff.; 3 , l , 2 3 f . ; 3,2,18; 4,1; Ovid am. 1,15,32,41 f.; 3,9,28; a.a. 3,403ff.; trist.2,67ff. 361/468; 4,9,23ff.; 4,10,122; ex P.3,2,30; 3,5,53; 4,8,47f.; met. 15,870ff.; Ciris 100; Culex 6 f . ; laus Pis.249; Lucan.9,985; Martial 1,1,4ff.; 5,15,3f.; 7,69,5; 8,35; 10,2,8; Stat.s.2,7,72, vgl. Vollmer z. St.; Theb. 12, 810; Quint. 3, 7 , 1 2 ; Paneg. lat. 11, 31,1 Gall.; Anth.Lat. 417,9; 418,6; Phaedr.fab.4 epil.5; Symm.ep.10,3,4; Hier.ep.39,8; Auson.comm. pr.5f.; Paul.Nol.c. 6,13; ep. 11,11; 13,18; Ennodius epith.5,11; Sid.Ap.c. 2,313; Ära tor ad Vigil. 15 f. Ovid tr. 5,14,5) — D. Norberg, L'olympionique, Ie poete et leur renom eternel (Uppsala-Leipzig 1945). 15 Pr. 15/18; quod si tarn longam meruerunt carmina famam, / quae veterum gestis hominum mendacia nectunt; nobis certa fides aeternae in saecula laudis / immortale decus tribuet, meritumque rependet. Zum Topos „Dichterlüge" s. JbAC 4 (1961) 123 e3 . e4 (mit Lit.); Lana a.a.O. 36 kennt ihn nicht. Ebd. 19/24: nam mihi carmen erit Christi vitalia gesta, divinum populis falsi sine crimine donum. / nec metus, ut mundi rapiant incendia secum / hoc opus; hoc etenim forsan me subtrahet igni (vgl. immerhin Ovid am. 1 , 1 5 , 4 1 : cum me supremus adederit ignis) / cum flammivoma descendet nube coruscans / iudex, altithroni genitoris gloria, Christus. Das ist die Umwandlung des NachruhmTopos in eschatologische Funktion; „carmina morte carent" hieß es früher (s. o. Anm. 14), jetzt: „carmen me subtrahet igni". Das Endgericht in literarischer Perspektive. Der Gedanke wirkt später (außer bei Greg. Naz. c. de. se ipso 11, 1942) auch in der sog. Praefatio des Prudentius, die den spiritualisierten Topos mit dem Motiv „voce, non meritis" verba, non munera, s.u.), ausgeformt zur — schematischen ! — Autobiographie, verbindet und den Ausblick aufs Gericht (fine sub ultimo, mors = iudicium) zum Vehikel für den Katalog der eigenen Werke macht (künftige Abfassung ist Fiktion!), wie bisher nur L. Niedermeier, Untersuchungen über die antike poetische Autobiographie (Diss. München 1919) 38 f. erkannt hat, während Lana a.a.O. 32 ff. (vgl. 92 ff.) mit der communis opinio psychologisch-realistisch deutet. 1 7 Pr. 25/7: ergo age! sanctificus adsit mihi carminis auctor spiritus, et puro mentem riget amne canentis dulcis Iordanis, ut Christo digna loquamur. Zur Invocatio und ihrer Christianisierung s. JbAC 4 (1961) 192. 18 Uberbietung: Curtius a.a.O. 28.75.171 ff. Den Schluß e minore ad maius hat für die eloquentia Christiana Hilar, in Ps. 13,1; vgl. ferner Claud. Stil. 3,226 ff.; b. Gild. 14/27. Im Vergleich zwischen paganer und christlicher Poesie auch bei Prud. Cath. 3,81 ff., vgl. 5,81. 19 Vgl. JbAC a.a.O. (Parallelen), ferner JbAC 5 (1962) Anm. 144. 2 0 Vgl. Curtius a.a.O. 454, nur: bietet Juvencus ein „Programm"? Gar „Ersatz der heidnischen Stoffe",wie Raby a.a.O. 17f. meint? Davon steht jedenfalls nichts da.

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mehr in der Übertragung panegyrischer Epik auf das Neue Testament21. Im Kern handelt es sich um eine Argumentation, die im Cento Probae wiederkehrt: Vergilius mutatus in melius22. Viel mehr sagt genaugenommen auch Paulinus von Nola in seiner zu Unrecht dramatisierten Auseinandersetzving mit Ausonius nicht23. Die mutatio Vergilii als solche, nämlich die Übertragung des epischen Stils auf biblische Stoffe, ver21 Dazu JbAC 4 (1961) 113 f. Vgl. Curtius a.a.O. 453f.; Raby 16. Proba kennt ebensowenig wie später das c. de resurr, einen nennenswerten Unterschied zwischen weltlicher und christlicher Poesie (Cento Probae 48, vgl. Verg. Aen.9,777; c. de resurr.Iff. und 9ff.; zum „cecini" s. etwa auch Claud.b.Gild.praef.5f., vorher eleg. in Maec. 1; Prop.3,3,7; CLE 1194,9f. Diehl; danach: Paul.Nol. c. 18,70). Bei den Centonen und der ihnen nahestehenden Poesie ist folgendes zu beachten (was weder im RAC-Art. Cento noch bei Raby a.a.O. 16 herauskommt): a) Der Unterschied zwischen Cento und der stark kontaminierenden zeitgenössischen Poesie ist nur relativ, vgl. oben Anm.17; b) es muß unterschieden werden zwischen epigonal-imitativer Haltung und bewußtem Cento-Effekt (wie im cento nuptialis des Ausonius), also zwischen mechanischer und pointierter Imitation; c) Der Unterschied zwischen paganem und christlichem Cento ist weniger groß als der zwischen Vorbild und Nachahmern (Raby versäumt z.B., zu „Maro iunior" im Cento de eccl., CSEL 16,609ff., die paganen Parallelen zu nennen, vgl. Kroll 155); d) Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen heidnischen und christlichen Stoffen wird nicht empfunden. Er ist nur graduell, wie bei Juvencus ('mutare in melius' Cent. Prob, ist formelhaft und geht über Tacitus auf Sali. hist. 2,24 zurück). — Neuere Literatur zu den Centonen bei M.L.Ricci, Motivi ed espressioni bibliche nel centone virgiliano 'De ecclesia': Stud. Ital. Fil. Cl. 35 (1963) 161/85. Aus all diesen Gründen ist es problematisch, den christlichen Dichtern des 4. Jahrhunderts ein bewußtes „Programm" zu unterstellen, wie das auch Curtius a.a.O. 454 tut. Bei Schulformen wie der Paraphrase ist es um so unwahrscheinlicher, da Vergil und Homer auch von den Christen in der Schule selbstverständlich weiter gelesen wurden. Wer einen Gegensatz zwischen Wahrheit und Mythos mit der Entstehung christlicher Poesie unter pädagogischem Aspekt verbindet, verkennt nicht nur die Stellung des alten Christentums zur Schulbildung (für unseren Zusammenhang vgl. Hier. ep. 21,13 sowie o. Anm. 6), sondern außer dem nur noch konventionellen Charakter der Mythologie besonders die topische Funktion des Satzes von der „Lüge der Dichter" (oben Anm. 15), der bis in die älteste griechische Literatur zurückreicht und sich ursprünglich gegen die Rhapsoden richtete, im Munde der Christen aber um so beschämender klingt, als sie ihren „Vorbildern", bis hin zu diesem Klischee, schlechterdings alles verdanken. In der Praxis hat man während des vierten Jahrhunderts also offenbar weder eine betont christliche Poesie für nötig gehalten noch den Gegensatz von pagan und christlich mit gleichbleibender Grundsätzlichkeit empfunden. Daraus folgt methodisch: ein Gedicht kann nicht deswegen einem christlichen Autor abgesprochen oder vor seine „Bekehrung" datiert werden, weil es nichtchristlichen Inhalts ist. Zweitens: der Unterschied von christlicher und überlieferter Sprache ist nicht einmal lexikologisch absolut und deckt sich keineswegs mit dem Unterschied zwischen patristischer Prosa und klassizistischer Poesie (so Mohrmann £t. 155 u. ö., Gegenbeispiele: JbAC 4, 1097a). Zu Unrecht dramatisiert: zuletzt von Lana a.a.O. 36 f. 84 f. Die Auswechslung der Stoffe ist Paul. Nol. keineswegs problematisch. Richtig urteilt Chr. Mohrmarm a.a.O. 159 — Was Paul.Nol. dann selbst an Motivierung gibt, ist alles andere als christlich, vgl. c. 6,15 ff. (David —Christus—Orpheus, Sphärenharmonie, vgl. dazu etwa Macrob. sat.5,1,19f. und 5 , 2 , 1 ; Curtius a.a.O. 441 f.). 22

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

mindert um den mythologischen Gehalt, ist diesen Autoren jedenfalls nicht problematisch gewesen. Ganz anders und historisch viel zutreffender hat dann Augustinus seinen Psalmus contra partem Donati motiviert: als Kontrastimitation zur häretischen Poesie und daher ohne anachronistische Erneuerung der quantitierenden Formen 24 . Von all diesen Begründungen ist nun bei Prudentius keine Rede. Seitdem man längst den Epilogus und die Praefatio dieses Dichters auf das vermeintliche Grundmotiv der „Gewissenserforschung" reduziert und Rodriguez-Herrera im Gedanken, das Gedicht sei ein Opfer, den Ausdruck eines originär christlichen Selbstverständnisses gesehen hat, gilt Prudentius allgemein als erster christlicher Dichter mit ausgesprochenem Vokationsbewußtsein 25 . Die Frage ist nun aber, ob man in solchem Maße die Selbstaussagen der historisch-literarischen Analyse entziehen und auf einen realistisch-psychologischen Grundgedanken zurückführen darf 26 . Es ist ja nicht so, daß Prudentius einer bestehenden poetischen Tradition des Christentums lediglich die eigene Motivierung beizugeben hätte. Diese Tradition war um 400 n. Chr. weder vorhanden noch gar selbstverständlich. Sieht man nämlich von der Poesie im Stile Commodians und den undatierten anonymen Kleinformen paränetischen, didaktischen oder paraphrastischen Charakters ab, dann gab es vor Prudentius lediglich die Evangeliendichtung des Juvencus, die selbst ohne Nachfolger geblieben ist, und außer den Hymnen nur die Epigramme des Damasus 17 . Paulinus von Nola mit seinen langweiligen, aber historisch wichtigen Hexametermassen liegt wohl etwas später als Prudentius. Literarische Beziehungen im Sinne einer Abhängigkeit zwischen beiden lassen sich nicht ausmachen, und den Juvencus kennen beide nicht. Aber Prudentius, Paulinus von Nola, Ausonius und Claudian — sie gehören derselben Epoche an, was man allerdings erst erkennt und auszuwerten vermag, wenn man die dichtermonographische Methode, die Suche nach Quellen und die Fiktion einer weltanschaulich geschlossenen Poesie aufgibt oder doch be2 4 Retr.1,20. Zum Ps.c. partem Donati s. Epos 1019 f. Die antihäretische Begründung (Kontrastimitation), die sich über Ambrosius und Hilarius von Poitiers bis zu Ephraem zurückverfolgen läßt, trifft doch wohl als einzige historisch zu. Sie motiviert freilich nur die Hymnodik, also gerade jene Gattung, die am ehesten eine Kontinuität zum Urchristentum herstellt. Die Kontinuität verläuft nicht innerhalb der Orthodoxie! Insofern ist es berechtigt, die patristische Poesie außerhalb der Hymnographie von den Bedürfnissen der Gemeinde und ihrer Sprache zu trennen. Aber die klassizistische Poesie ist eben deswegen nicht »la naissance de Ia poesie chretienne «, Mohrmann a.a.O. 154. Umgekehrt gehören in die Entwicklung der Hymnographie gerade die Häretiker (Gnosis, Arianer) mit hinein, sowenig wir auch von ihrer Dichtung wissen (anders das orthodox-römische Bild bei Mohrmann a.a.O. 161). 25 Rodriguez-Herrera 142; Mohrmann a.a.O. 158. 26 Vgl. auch Gnomon 1958, 598. 27 Ubersicht: Epos 1014/19 u. 1022f. mit Lit. Falsches Bild bei Stam 18.

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wußt auf den zweiten Platz verweist. „Man braucht nur die meisten der heute noch repräsentativen Literaturgeschichten aufzuschlagen, um festzustellen, daß sie im Grunde aneinandergereihte Dichtermonographien sind. Der sogenannte Positivismus schränkte die praktische Arbeit hauptsächlich auf drei Sektoren ein: auf die kritische Ausgabe literarischer Texte, auf die Erforschung der Quellen und der Entstehungsgeschichte der Werke und die möglichst vollständige Erforschung der Lebensumstände der Dichter."28 Das innere Einverständnis von Zeitgenossen um 400 n. Chr. weicht dann erst gegen Mitte des fünften Jahrhunderts einer Imitation christlicher Dichter verschiedener Zeiten: erst Sedulius zeigt Bekanntschaft mit Juvencus. Bis dahin fehlt also die Kontinuität christlicher Dichtung, weil erst damals die kirchlich legitimierte Poesie zur Alleinherrschaft gelangt ist. Nur mit allerlei Einschränkungen darf man demnach überhaupt um 400 n. Chr. eine christliche Poesie ansetzen. Daß sie um diese Zeit beginnt, hängt nicht zuletzt von der Erneuerung klassizistischer Tendenzen in der paganen und namenschristlichen Poesie ab. Das ist also viel eher epochal als konfessionell bedingt. Für Christen tritt dann aber der Zwang zur Motivierung hinzu29. Auch die Vielzahl der oben skizzierten ganz unterschiedlichen Begründungen des christlichen Gedichts spricht nun nicht gerade für die Einheit dieser Poesie, vielmehr zeigt sie, daß nicht die Kirche als ganze, sondern immer nur der einzelne Dichter die Verantwortung für sein Unternehmen trägt 30 . Die Sache wird meistens so dargestellt, als sei mit dem Christentum auch zwangsläufig eine bestimmte Konzeption von Poesie gegeben gewesen. Davon kann gar keine Rede sein31. Wie weit die Motivierungen auch im einzelnen überhaupt „christlich" sein können, ist natürlich eine andere Frage. Ob sie sich mit der Durchführung decken, eine dritte32. 28 Kayser a.a.O. 23. D . h . in dem Augenblick, wo man zwar nicht „unabhängig vom System der antiken Gattungen" (Curtius a.a.O. 453), aber doch mehr als nur poetische Schulformen dichtet. Erst hier beginnt der Zwang zur Motivierung. So ist es nicht zu verwundern, wenn der Widerspruch zwischen geistlicher und poetischer Existenz (zuerst Paul. Nol., aber innerpoetisch) um so häufiger betont wird, je unbefangener man antike Formen benutzt, vgl. etwa Ennodius c. 1,6 pr.; 1,9 pr.; Avitus spir. gest. pr., früheres bei Fuchs a.a.O. 351/3. 30 Es fällt auf, daß in den (keineswegs spezifisch „christlichen") Motivierungen der patristischen Poesie die Bedürfnisse der Gemeinde gar keine Rolle mehr spielen. 31 Mit Recht trennt Chr. Mohrmann in ihrem trefflichen Art. „Altchr. Dichtung", 3 R G G 1, 267/9, nach „liturgisch" und „literarisch"; Lit.: Epos 1019. Formgeschichtlich ist daher nach den Voraussetzungen in der Rhetorik zu fragen, nicht nach den Bedürfnissen der Gemeinde. 32 „Es ist gut, sich gegenüber den Selbstdeutungen der Verfasser mit einigem Mißtrauen zu wappnen", W. Kayser a.a.O. 223. „Der Künstler ist nicht gehalten, 29

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

b) Dichtung als Opfer? Prudentius, Epilogus 1—10: Immolat Deo patri pius fidelis innocens pudicus dona conscientiae, quibus beata mens abundat intus. 5 alter et pecuniam recidit, unde victitent egeni. nos citos iambicos sacramus et rotatiles trochaeos, sanctitatis indigi 10 nec ad levamen pauperum potentes. V. 2:

Zum Asyndeton: Leum.-Hofm.846f.; Weyman a.a.O. 126;

V. 4:

abundat: vgl. u.a. Symm. ep. 3,25,1: tu . . . abundas omnibus, ebenso wie die abundantia ingenii tui (ep. 9,45) im Lob des Adressaten. Hier. ep. 130,14: unusquisque in sensu suo abundat. Zu 'abundantia' als rhetorischem Ausdruck: H. Bruhn, Specimen vocabularii rhetorici (1911) 14 f. intus: abundant, wie bei Prudentius durchweg, und gedanklich verstärkend, aber nicht nur beim Ablativ (so Lavarenne 516 mit Hinweis auf Verg. Aen. 7,192), vgl. Deferrari-Campbell s. v. sowie etwa Paul.Nol. c. 35,39: continere intus, wie Prud.Per.11,183.

V. 5 f.: Doppelvers zwischen vier und vier Versen. Da der erste Teil des Gedichts bis V. 12 reicht, ergibt sich eine Gliederung von 2 + 2 + 4 + 2 Versen. Es folgen dann Vierergruppen, und erst zum Abschluß steht wieder ein Zweizeiler, in dem Distichon und Gedanke sich decken. unde = (a) qua: Leum.-Hofm.491 f. Bei Prudentius u.a. Cath.5, 12; Per. 10,450; c. Symm. 2,5.341, s. Def.-C. s. v. (das Wort insgesamt 26mal). V. 7 f.: Siehe u,S. 46. V. 10: potentes ad: Part.Praes. + esse statt Verbum: s. V. 22 congruens esse ad sowie Leum. Hofm. 605f.; S. Lyer, REL 1930, 241/49. Lavarenne, £t. 698 bestreitet die Erscheinung für Prudentius. — Zu 'nec' s. u. Anm. 171. levamen: Zur Häufigkeit der Substantive auf -men s. Stam S.126 zu Ham.praef. 28; Lavarenne 1152, dessen statistisches Verfahren mit Hinweisen auf Vergil auch hier nicht ausreicht. Herangezogen das eigene Werk zu verstehen", und die „Philosophie, die ein Autor ins Gebilde pumpt, ist mitnichten dessen metaphysischer Gehalt", Th. W. Adorno, Prismen (1963) 251.

b) Dichtung als Opfer?

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werden sollten sinngemäß parallele Texte wie Symm. ep. 4,59,1 (levamen desiderii); 7,126 (opis tuae levamen exspectat) oder ep.9,58 (ad egestatis levamen), dann aber auch die Häufigkeit des Wortes bzw. der Substantive auf -men in der Spätantike. Nun zur Interpretation des Gedankengangs. Auf den ersten Blick scheint alles eindeutig: die Verse 1—10 des Epilogs werden beherrscht vom Gedanken an das Opfer, näherhin an das Gedicht als geistliches Opfer. Dieses Motiv hat E. R. Curtius unmittelbar aus den Widmungen der spätantiken Poesie abgeleitet33, und das liegt gewiß näher als der unhistorische Hinweis auf Catull c. 1.1, den Rodriguez-Herrera beisteuert34. Die doch offenbar intendierte Christlichkeit ist damit aber weder berücksichtigt noch erklärt. War es denn in der Situation des Prudentius überhaupt sinnvoll und einleuchtend, Gott ein Gedicht zu widmen oder zu weihen? Ein solcher Wechsel des „Adressaten" hätte doch bedeutet, daß Gott unmittelbar an die Stelle eines weltlichen Empfängers getreten wäre, oder der Dichter die überlieferte Widmung aus ihren bisherigen Zusammenhängen gelöst und zur „Widmung an Gott" umgedeutet hätte. Das aber wäre bei einer nicht dem Kult zugehörigen Dichtung ebenso neuartig wie abstrakt gewesen. Denn selbst wenn eine spiritualisierte Widmung vorliegen sollte, ist das doch immerhin die Spiritualisierung einer antik-vorchristlichen Form, die aus wirklichen gesellschaftlichen Beziehungen zwischen dem Dichter und seinem Gönner hervorgegangen war. Es war ja nicht damit getan, Gott literarische Funktionen zuzusprechen und ihn an die Stelle des bisher weltlichen Adressaten treten zu lassen (Freund, Kaiser, Geliebte usw.), wenn die „christliche" Widmung überhaupt noch mit der literarischen Tradition zusammenhängen und nicht einfach Herkunft oder Sinn dieser Form willkürlich weglassen sollte. Stand doch der Adressat bisher in jedem Fall auf seiten der Leser und gehörte zum Publikum des Dichters. Eine christliche Spiritualisierung aber hätte Leser, Publikum, Adressat — und Förderer, Anreger, Motiv des Gedichts wieder voneinander getrennt. Die äußere Übernahme dieser Form bedeutet in diesem Fall also mitnichten eine „Verschmelzimg", sondern bewirkt eine höchst störende innere Diskrepanz, da die formale Kontinuität vom Inhalt her gesprengt wird. Man sieht daraus erneut, daß es mit dem Hinweis auf literarische Vorbilder, zumal auf solche, die älter sind als Statius und Martial, bei christlichen Dichtern durchaus nicht getan ist. 33 Vgl. Curtius a.a.O. 454: erst der Zwiespalt zwischen Stoff und Form habe die christliche Literaturtheorie, als Rechtfertigung der Praxis, hervorgebracht. Vieles davon ist jedoch apologetische Konvention, und jener Zwiespalt wurde ja, wenn überhaupt als solcher theologisch formuliert, nur notdürftig verdeckt. 34 Curtius a.a.O. 96.

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

Außerdem scheint es, da der Gedanke an das Opfer bereits auf den ersten Blick so sehr hervortritt, ohne sich im geringsten auf das Dichten zu beschränken, überhaupt bedenklich, das Motiv „Opfer" mit dem der Widmung zu koppeln, ehe man nicht die Zusammenhänge von Opfer und dedicatio geprüft hat. Es ist daher schon aus allgemeinen Erwägungen fraglich, ob man überhaupt hinter epil. 1—10 die spätantiken Widmungen sehen darf. Motive der Widmung können nachwirken, aber das heißt noch keineswegs, daß die formgeschichtliche Funktion der Widmung (spiritualisiert) übernommen worden ist. Um zu sehen, wo Kontinuität und Diskontinuität dieses Gedankens (Gedicht = Opfer) liegen—und nur in dieser doppelten Orientierung bleiben Frage und Antwort historisch exakt —, scheiden wir also die Kombination mit dem Widmungsmotiv von vornherein aus. Ja wir werden, zumal es für die literargeschichtliche Interpretation des Epilogus keinerlei Vorarbeiten gibt, nicht einmal die Annahme teilen dürfen, es handle sich in diesem Gedicht um einen deutlich explizierten Gedanken oder gar um ein Programm35. Eben weil es einen solchen Gedanken, den Prudentius nur hätte zu übernehmen brauchen, gar nicht gab36, müssen wir fragen, wie dieser Gedanke entsteht und literarische Gestalt annimmt. Abgesehen davon, daß die Poesie — und zwar einzig und allein die eigene37 — lediglich in den ersten zehn Versen des Epilogus als Opfer gedeutet wird, während von V. 11 bis zum Schluß ganz andere Gedanken wirken, treten auch schon im ersten Teil etliche andere Motive hinzu. Es handelt sich in Wirklichkeit also um ein Geflecht von Motiven, von denen „Opfer" nur das augenfälligste ist. 35 Rodriguez-Herrera a.a.O. 26. Man kann hier sehen, wie die „christliche" Auslegung geradezu die „Imitation der Klassiker" als Perspektive braucht, um nicht nach der Herkunft des Motivs fragen zu müssen: dadurch würde die a priori behauptete Originalität = Christlichkeit möglicherweise zweifelhaft. 36 Als solches behandelt den Epilogus Lana a.a.O. 75/87 im Abschnitt „La poetica di Prudenzio" (poetica ist im Sinne von „Dichtungstheorie" gemeint, ohne daß der Autor darauf hinweist oder auch nur Bekanntschaft mit den von Curtius erörterten Problemen und Kategorien zeigt), in der Absicht, eine spezifische „concezione cristiana della poesia" herauszuarbeiten (86). Die einzige Parallele, die er überhaupt nennt, nämlich Paul. Nol. c. 10,39 ff. 133 ff. (82 f.), besagt gar nichts, da sie den traditionellen Topos vom „lubricum adolescentiae" enthält (wie Prud. Praef. 8 f.), ferner das Klischee von der Lüge der Dichter. S. auch oben S. 24 f. 37 Anders Lana 75. Nach Rodriguez-Herrera ist Prud. „einer großen und tiefen Schau der Poesie teilhaftig geworden", a.a.O. 28. Das Mißliche dieser und ähnlicher Versuche liegt also bereits darin, nicht nur ein Programm der Poesie im allgemeinen aufspüren zu wollen, sondern auch bei ein und demselben Autor eine — persönlich bedingte — geschlossene und einheitliche Konzeption zu suchen, auf die hin man die verschiedenen „Versionen" harmonisieren kann. Wir haben aber gesehen, daß sogar bei einem Autor die Motivierungen ganz verschiedener Art waren, so bei Paul. Nol., und daß da Heidnisches und Christliches nebeneinander stand (vgl. oben Anm. 23).

b) Dichtung als Opfer?

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So erkennt m a n unschwer, daß epil. 1—10 ganz eng mit dem K o n t r a s t „ a n d e r e — i c h " verknüpft ist, einem T o p o s , der ehedem teils in die recusatio gehörte, teils in die Rechtfertigung dichterischer Existenz überh a u p t 3 8 . D a er sich bereits in der Kaiserzeit mit dem M o t i v „Dichtung — O p f e r " verbunden hat, soll uns lediglich diese Verbindung beschäftigen; sie h a t ebenfalls mit der W i d m u n g n u r ganz a m R a n d e zu tun. D a ß Prudentius den T o p o s „andere m ö g e n . . ., ich aber will" (alii— ego) auch sonst kennt, zeigt Per. 3 , 2 0 6 / 1 0 : Ista comantibus e folüs m u n e r a , v i r g o puerque, d a t e ! ast e g o serta choro in medio t e x t a f e r a m pede dactylico, vilia, marcida, festa tarnen. M u n e r a sind hier G a b e n zum Schmücken des Grabes, wie in terminologisch ähnlichem Z u s a m m e n h a n g auch A p o t h . 6 3 2 3 9 . 'serta t e x t a ' steht für 'Gedicht' 4 0 , wie f a s t ebenso in C a t h . 3 , 2 8 f., w o die Rolle der eigenen Poesie nicht 'arbeitsteilig' auf die G a b e n der anderen, sondern im K o n trast auf die 'bekränzte Dichtung' vorchristlicher Zeit bezogen ist: Sperne, camena, leves hederas, cingere t e m p o r a quis solita est, sertaque m y s t i c a dactylico t e x e r e d o c t a liga strophio laude Dei redimita comas 4 1 ! 38 Η. Lucas, Festschr. Vahlen (1900) 319ff. mit Lit.; Α. Reinert, De Tibulli elegia prima (Diss. Jena 1914) 11 f. — ThLL 5,2,260,79 ff. — Dreierlei ist bei alii — ego zu unterscheiden: a) andere Berufe, Ziele, Ideale — ich dichte usw.; dazu gehört etwa Pindar Nem. 8,36/8; Horaz c. 1,1; Ovid tr.2,527; am. 1,15,35f.; Greg. Naz. c. 45 (de se ipso), 131/9 u.ö., vgl. Niedermeier a.a.O. 33; Claud.cons.Hon.pr.Iff.; Symm. rel. 10,3; ep.9,2. b) andere Dichtungsformen — ich . . . , recusatio alexandrinischer Herkunft, z.B. Callim.h.2,71, vgl. Pfeiffer z.St sowie Hermes 63 (1928) 322, ferner u.a. M.Puelma-Piwonka, Lucilius und Kallimachos (1949) 144/50; Horaz c.1,6; 2,12; 4,15 (H. Dahlmann, Gymn. 65,1958, 349/51); sat. 2,1,12f. ep. 2,1,251 ff.; Prop. 1,7, 1/10; 2 , 1 1 , I f f . ; 2,14,21f.; 3,1,15/8; 3,93f.; Tib. 1,1,53/6; Paneg.Mess.19ff.; Ovid fast. 1,13; tr.2,73ff. (s.u.); ex P.3,4,17/20; am. 1,1 f.28; 1,15,1/8; 2,11,1/21; Stat. s. 1,4,19 ff.; vgl. Vollmer z. St.; Pers.s.5,lff.; Nemes.cyneg.5/51; Auson. vers, pasch. 1,5; vgl. Hier.ep. 108,3; 118,4; Paul.Petr. v.Mart.4,253f. 490f. Breit ausgeführt: Ap.Sid. c. 9. c) Auseinandersetzimg mit Vorgängern: O. Pflugmachei, Locorum communium specimen (1911) 11 f. („viele — ich"), lange vor H. Frankel, Glotta 39 (1960) 1/5. Marx, Sb Leipz.l911,60f. zu Enn. ann. 7,213/17, ferner M. Richter, Priscorum poetarum et scriptorum de se et aliis iudicia (1914), 23. Jacoby zu FGH 76. Sodann häufig in den Praefationen; kleine Auswahl: Rhet.ad Her. 1,1,1; SalI.frg.3f.Maur.; Liv. 1,1,2; Tac.hist. 1,1; ann. 1,1; Quint.pr. 1/5; 4 pr. 7; Gell.n. a.pr. 11 f.; Vine. Ler. comm.l; als solcher Topos noch nicht erkannt: Ev.Luc. 1,1; E. Breguet, Le theme 'alius —ego' chez les poetes Iatines, REL 40 (1962) 128/36, führt nicht weiter. 4 0 Vgl.Prop.3,1,19. Vgl. Deferrari-Campbell 441 f. s.v. munera usw. Vgl.Paul.Nol.c.22,16. — Vorher geht der schon genannte Überbietungstopos. Curtius a.a.O. 242 bringt hier den Topos „Dichterlüge" hinein und läßt ihn mit dem 39 41

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

Die in Cath. 3,31/5 folgende 'Motivierung' bringt zwar die Bezeichnung des Gedichts als 'obsequium5 und Dank für empfangene Gaben des Schöpfers, aber die 'anima . . . artificem modulata suum5 kann sich doch nur auf das gerade entstehende Gedicht beziehen, ohne daß dabei übrigens zur Notwendigkeit der Poesie als solcher etwas gesagt ist. Hier und in Praef.35 ist „anima" identisch mit dem poetischen ingenium. Da nicht wenige Stellen bei Prudentius darauf schließen lassen, daß der Dichter die „fontes animae" mit den „fontes eloquü" gleichsetzt42, ist das erklärlich, bedürfte aber näherer Untersuchung. Gerade die „Seelenlehre" in Cathemerinon hat ja einen Redaktor zu den Eingriffen veranlagt43, die Salvatore aus der „inneren Entwicklung" des Dichters abzuleiten bemüht ist44. Als dritte Vergleichsstelle ist schließlich der Schluß von Per. 6 zu nennen, zunächst wegen der mit Per.3 gleichartigen Apostrophe: circumstet chorus ex utroque sexu: heros, virgo, puer, senex, anulla, vestrum psallite rite Fructuosum (V. 148/50)45, sodann, weil die letzte Zeile ebenfalls das Metrum erwähnt (wie Per. 3, Cath. 3 und der Epilogus): Fors dignabitur et meis medellam tormentis dare prosperante Christo, dulces hendecasyllabos revolvens (V. 160/62). Hier steht zwar nichts vom Topos alii—ego, wohl aber vom inneren Zustand des Dichters, der über die invocatio martyris eng mit dem Dichten selbst verknüpft ist — wie im Epilogus. Daß diese Verknüpfung mit einem bestimmten Rezeptionstyp identisch ist46, darf bereits hier vermerkt werden, ferner, daß die Wendung „meis tormentis medellam dare" sich mit Selbstäußerungen deckt, die zu Anfang und am Schluß von Überbietungsmotiv verschmelzen zur „Kontrastierung heidnischer und christlicher Stoffe", mit Sed. c. Pasch. 1,1 ff. als erstem Ansatz, unter Hinweis auf Hier. ep. 3, Prud. Cath. 3, Paul. Nol. c. 10. Da läge Sedulius also immerhin später. Aber Überlegenheit ist das eine, Lüge der Dichter das andere. „Camena": vgl. camena nostra Cath. 9,3; reddamus paribus pares camenas Per. 6,153 (zum adaequatio-Topos vgl. JbAC 5 [1962] 127 n , bei Prud. noch Cath. 3,85). — Der Hinweis auf die „docta Camena" ist interessant und für den „poeta doctus" bezeichnend, vgl. aber Per. 10, 837; 11,129. An Kompliziertheit ist die Ausdrucksweise in Cath. 3,26 ff. übrigens kaum zu übertreffen, vgl. dactylicum strophium = laus Dei und Lavarenne z. St. Nach Rodrig.-H.39 „birgt die Stelle auch eine Empfehlung der antiken Kultur in sich". Zum Bild vgl. auch u.a. Synes.h. 1,9 Terz. « Vgl. Unters. II, Abschn.2d. « Cath. 3,100; 10,130. 44 A.a.O. 119 ff. 45 Ähnlicher Schluß in Per. 1,118, nach voraufgehender Praeteritio (quid loquar, V. 112). 46 Unten S.68ff. 134 ff.

b) Dichtung als Opfer?

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Per. 9 ähnlich formuliert sind und am Ende von Per. 10 als „translatio haedui" (Matth. 25) dargestellt werden. Sie besagen nichts anderes als das „absolve vinclis saeculi" am Schluß von Per. 2 (V. 584) oder von Per. 4 (V.195f.) und in der Praefatio (V.44f.). Der konventionelle Charakter solcher Wendungen wird immer wieder verkannt 47 . Da es sich in Per. 3 um Apostrophe handelt und die Hymnen nicht liturgisch gebunden sind, ist die Situation fingiert. Die Apostrophe dient demnach dazu, das Gedicht zu aktualisieren, ähnlich wie das im Epilogus der Topos alii—ego ohne die Apostrophe tun soll. Angeredet werden Personen, die sicher nicht wissen, was (Daktylen und) Hendekasyllaben sind. Der merkwürdig häufige Hinweis auf das Metrum ist Gelehrsamkeit und gleichsam Angabe des Paragraphen im Lehrbuch der Metrik. Gerade die gelehrte Umschreibung für „Gedicht" bringt aber auch den inneren Widerspruch: einmal zum angeredeten Personenkreis, ferner zur Bescheidenheitsäußerung „vilia, marcida". Beides nun ist Rhetorik, jenes als Apostrophe, dieses als Topos 'affectata modestia5 48. Sieht man es so, fallen die Widersprüche dahin, denen die Stelle bei wörtlicher Deutung — im psychologischen Sinn — ausgesetzt wäre. Hat sie aber nun durchaus literarischen Charakter, dann wird man sich auch hüten, die invocatio martyris samt Inferioritätsäußerung aus der Persönlichkeit des Dichters, seiner inneren Haltung oder Frömmigkeit, abzuleiten. Gerade die invocatio war ja eine Form, die, aus dem Hymnus stammend, längst literarische Funktion bekommen hatte, vor allem in der Praefatio oder im Proömium; zweitens hatte eine invocatio ihren Platz immer noch im wirklichen Gebet, ohne Zusammenhang mit der Literatur, lebendige Verkörperung des älteren Stadiums und echte Anrede. Prudentius nun benutzt die formale Kongruenz beider Arten von invocatio, um den Schluß oder, wie in Per. 10 und 13, den Beginn des Märtyrerhymnus zu gestalten. Er verankert in der Psychologie des Beters die literarische Form (vgl. 'anima' in Praef. und Cath.) genau wie im Epilogus, in dem gleichfalls Elemente der invocatio enthalten sind, am deutlichsten in V. 12 (Deus benignus audit ~ Per. 2,581 audi benignus supplicem). 47 Larva a.a.O. 24 ff. ist um den Nachweis bemüht, es handle sich bei Stellen dieser Art um eine „crisi spirituale" (36), um eine Bekehrung als Romerlebnis usw. — dann muß die Romfahrt das Zentrum der Poesie des Prudentius sein, und zwar auch psychologisch; chronologisch war sie es für die communis opinio schon immer, ohne zwingende Gründe allerdings (vgl. oben S.10 Anm.10 zu Roeslers dogmengeschichtlichen Hypothesen, denen Lanas Ausführungen sehr stark ähneln: in der biographischen Interpretation stimmen beide überein). Entgegen der bisher geltenden Meinung muß Lana freilich die Lehrgedichte nach 404, dem Jahr von Praef. und Cath. (?), geschrieben sein lassen. 48 „affectata modestia": vgl. Curtius a.a.O. 93 ff. 159 f. 413.455. H.Bruhn, Specimen vocabularii rhetorici ad inferioris aetatis latinitatem pertinens (Diss. Marburg 1911) 6 ff. mit Lit.

3

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Thraede, Prudentius

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

Ein Vergleich des Epilogus mit Per. 3 ist also aus etlichen Gründen instruktiv. „Die anderen" erscheinen in Per. 3 apostrophiert, aber doch auch als Motivierung des Gedichts, zwar ohne Spiritualisierung der „munera" zu geistlichen Opfern, aber doch innerkirchlich, hier: im Rahmen der Heiligenverehrung. Die innerkirchliche Situation — Gebet, Bekenntnis, Liturgie — ist, wie wir sahen, fingiert. Sie wird also auch im Epilogus fingiert sein. Zweitens: die Bescheidenheitsäußerung rhetorischer Herkunft (Per. 3: vilia, marcida, festa tarnen) folgt auch im Epilogus, nämlich in V . l l (pedestre carmen; darüber unten). Gegenüber den Schluß versen von Per. 3 ist nun aber die Alternative in Epil. 1/10 viel stärker ausgeführt, nicht nur in der Spiritualisierung zum „geistlichen Opfer" und dessen Funktionen, sondern auch in der Reflexion des Dichters auf sich und seine Poesie — wie es ein Gedicht de opusculis suis erforderte. Die Inferioritätsäußerung, die das eigene Opfer motiviert, ist zweifach: erstens „nos . . . sanctitatis indigi", eine Selbstbezichtigung, die sich mit dem Grundmotiv der Praefatio deckt49 und dasselbe meint wie „reus Prudentius" am Schluß von Per. 250. Auch hier wird die Situation des Bekenntnisses in den Anlaß zur Dichtung verwandelt. Da das im Zwang zur Motivierung begründet ist, trifft Rodriguez-Herrera die Sache nicht, wenn er im Sinne der autobiographisch-psychologischen Deutung „sanctitatis indigi" final interpretiert und das Gedicht als „Mittel persönlicher Heiligung" versteht 51 . Die Rolle dieser Selbstäußerung wird uns im Laufe der Untersuchung noch beschäftigen. Die zweite Inferioritätsaussage, bezogen auf das Gegenbild in V. 5 f. (pecuniam recidit usw.), ist der Satz des Dichters, er sei arm und daher zu karitativer Betätigung nicht in der Lage. Auch dieser alte Topos von der Armut des Dichters soll uns hier zunächst nur angehen, soweit er innerhalb der Motivierungen und poetischen Selbstaussagen im Zusammenhang an das Gedicht als Geschenk oder Opfer vorkommt. Gerade die Behauptung der eigenen Armut ist der Punkt, an dem die Künstlichkeit der ganzen Motivierung am deutlichsten durchscheint. Daß sie nicht spezifisch christlich ist, versteht sich von selbst. Aber um so weniger wird man der Versuchung erliegen dürfen, den vermeintlich programmatischen Grundgedanken Dichtung = Opfer aus seinem literarischen Zusammenhang zu lösen52. 49 Praef. 36: (anima) saltern voce Deum concelebret, si meritis nequit. Dort aber autobiographisch und autobibliographisch ausgeweitet, s.o. Anm. 16. Hinter „voce, non meritis" steht ebenfalls der Topos „verba, non munera", es fehlt nur das Opfermotiv. 50 S. u. S. 48 ff. 51 Rodrig.-H. 13 ff. 25 ff. 52 Ganz verfehlt ist es, wenn Stam a.a.O. 18 den Gedanken Gedicht = Opfer zum Grundmotiv der gesamten christlichen Poesie macht und ihn unter Berufung auf Rodrig.-H. 26 bei Juvencus, Prudentius, Dracontius u.a. finden will. Juvencus

b) Dichtung als Opfer?

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Wir gehen demnach so vor, daß wir zunächst die Vorbilder und Vorformen des Komplexes „Dichtung—Opfer", „andere—ich" und „Armut" behandeln und danach die überschießenden — vielleicht 'christlichen' — Motive und ihre Herkunft dazunehmen. Wir setzen dabei voraus, daß es sich bei einem guten Teil der Selbstaussagen nicht um direkte literarische Abhängigkeit handelt, sondern um die Nachwirkung oder Rezeption einer konventionellen Form. Bei Horaz haben Dichtung und Opfer nichts miteinander zu tun. Er spricht zweimal von seinem bescheidenen Opfer im Unterschied zu den prächtigen Gaben des Mäcenas oder Augustus53 und versichert — ein Topos, den wir in diesem Zusammenhang immer wieder treffen werden — auch ein bescheidenes Opfer versöhne die Götter 54 . Von einer literarischen Beziehung ist da aber keine Spur. Näher an die Vorgeschichte des Epilogus gehört Horazens c.4,8. Dieses stark interpolierte Gedicht55 verarbeitet im ersten Teil einen Gedanken, der fast so alt ist wie die Poesie überhaupt und jedenfalls seit Pindar zum festen Bestand der Literatur gehört, den Gedanken nämlich, ein Gedicht oder gute Worte seien besser als ein vergängliches Kunstwerk56. Nicht weniger konventionell ist das Motiv des zweiten Teils, das sich völlig mit dem Grundgedanken des folgenden c. 4,9 deckt — mehr als mit dem ersten Teil von c.4,8: „Das Gedicht verleiht Nachruhm."57 In der ersten Hälfte des Gedichts ist das Geschenk (carmen) mit der Besitzlosigkeit des Dichters motiviert (V.10: sed non haec mihi vis), in der zweiten mit dem Wert der Poesie allgemein, entsprechend dem „gaudes carminibus" V. 11 (vgl. carmine tu gaudes ep. 2,2,59). Die Ähnlichkeit der Stelle mit ep.2,1,248ff. ist natürlich längst beobachtet58. Dort ist freilich entscheidend, daß Horaz sich mit derlei panegyrischscheidet nämlich ganz aus. Die genannten Gelehrten halten das Motiv „dichten = opfern" von vornherein für christlich, ohne historisch nach der Herkunft des Gedankens zu fragen. 5 3 c.2,17,30/2: . . . reddere victimas / aedemque votivam memento: / nos humilem feriemus agnam. c . 4 , 2 , 5 3 f . : te decern tauri totidemque vaccae, / me tener solvet vitulus . . . 5 4 c. 3,23, bes. die Schlußverse. Vollmer zu Stat. s. 1 , 4 , 1 3 0 ; vgl. Horaz ep.2,1, 124 f. 55 Zuletzt behandelt von C. Becker, Hermes 87 (1959) 212/22 (mit Lit.). An der überlieferten Verszahl will festhalten z. B. R. Stiehl, Act. Ant. Hung. 8 (1960) 87/93. 5 6 Material bei Vollmer zu Stat.s.5,1,1; 5 , 3 ; 2,6,89ff.; 2,7,72. Das kann teils auf „Geschenk", teils auf „Nachruhm" hinauslaufen (in Horaz c . 4 , 8 beides!), je nach dem ob das Kunstwerk als donum oder als monumentum behandelt ist. Vgl. noch A.P.10,19. 5 7 Zum Topos „Nachruhm" s.o. Anm.14; Becker verkennt ihn (ebenso wie den in Anm. 56 genannten) und sieht in ihm einen „für Horaz' Spätwerk wesentlichen Gedanken", a.a.O.212. Entsprechend fällt dann die Interpretation von c . 4 , 8 im „Spätwerk des Horaz" (1963) 179. 185/90 aus. 58 Becker a.a.O. 216 2 . 3»

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

epischer Dichtung gerade nicht zu identifizieren vermag. „Herrscherlob und Poesie sind unvereinbar" (Enzensberger). Den Zusammenhang gibt also eine recusatio (s. Anm. 48), die ihrerseits mit Unfähigkeit motiviert wird. Anders als bei Horaz sind Dichtung und Opfer angenähert, zumindest im Vergleich, bei Properz. Und zwar bekommt bei ihm das Gedicht jedesmal einen sakralen Ton, wenn es sich um das genus sublime handelt. Immer dann spricht er auch von sich als vates, immer dann scheint das Gedicht zum Opfer zu werden; aber man darf nicht übersehen, daß Properz sich in dieser Redeweise gerade verbirgt. So ist 2,10 ein Versuch, sich dem Ton des genus sublime zu nähern; die Selbstaufforderung gipfelt im: surge, anime, ex humili iam carmine! sumite vires, Pierides; magni nunc erit oris opus (11 f.), während die kurze Durchführung (13—18) sofort in einen Aufschub übergeht (19 f.) — auch das ist eine dichterische Gestaltung der recusatio, und ehe der Dichter noch einmal 'nondum' sagt, fügt er ein: ut caput in magnis ubi non est tangere signis, ponitur hie imos ante corona pedes, sic nos nunc, inopes laudis conscendere culmen, pauperibus sacris vilia tura damus (21/4) 59 . Die Unfähigkeit wird im Vergleich des Bekränzens gegeben, und von da bekommt das elegische Dichten die Nähe zu 'paupera sacra' und 'vilia tura'. Also: gleichsam nur ein billiges, kleines Opfer ist die Elegie. Aber sie ist kein Opfer, und der Vergleich besteht lediglich zwischen dem genus sublime als sacrificium einerseits und dem humile carmen als 'vilia tura' andererseits. Dies zweite ist nur aus dem ersten abgeleitet. Als Ausdruck der vorübergehend übernommenen Pathosrolle ist auch das berühmte 'sacra facit vates' zu verstehen (4,6); nur in dieser Funktion wird auch das Gedicht zum Opfer, aber es geht nicht in dieser Bedeutung auf 60 . Das Kunstwort vates 61 meint hier den Dichter, qui bella canit und darin sacra facit — aber das will Properz gerade nicht sein, vates ist hier der Epiker, während sacra facere, also die Deutung des Heldensangs als Kult, nur das Pathos verstärken soll62. Gar nichts mit den genannten Stellen zu tun hat es, wenn Properz in 2,13,25 f. bittet, ihm statt eines glänzenden Begräbnisses nur seine drei Elegienbücher ins Grab zu geben, damit er sie der Proserpina als „maxima 59 Vgl. Mattingly, CIRev 1912, 49 f. sowie Rothstein u. Enk z. St. Vgl. etwa 2 , 1 7 , 3 ff.; 3 , 8 , 1 7 (sum verus haruspex); 4 , 1 , 5 8 ff. «1 H. Dahlmann, Philol.97 (1948) 337ff.; Schwinge, Philol.107 (1963) 87 f., bes. 87 e , 8 8 ^ Gudeman zu Tac.dial.9,3; 12,6. " Vgl. 2 , 1 7 , 2 neben Callim. iamb. 1 , 3 (Pap. Ox. 7 , 1 0 , 1 , 9 4 ) : φέρων ίάμβον ού μάχην άείδοντα. Die richtige Auffassung der Properzstellen gibt F. Leo, Ausgew. kl. Sehr. 2 (Rom 1960) 193, ferner Rothstein zu Prop. 4 , 6 , 1 4 . 6 9 .

b) Dichtung als Opfer?

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dona" überbringen könne. Das ist eine Abart des Nachruhm-Topos der poetischen Autobiographie63. Wir registrieren für die Vorgeschichte des Epilogus aber immerhin die leichte Spiritualisierung des Begriffs „dona": Gedichte als Gaben an Proserpina. Ovid hat das Motiv „carmina pro muneribus" häufigM, auch in der Form: „Jeder gibt, was er hat" 6 5 ; dahinter steht der Armutstopos. Nicht selten ist aber auch bei ihm der Gedanke „carmina pro monumentis"66, also die Verknüpfung mit dem Nachruhm-Topos. Schließlich verbindet er auch, wie Horaz in c. 4,8, die Motive „carmen statt munera" und „Verewigung" miteinander67. Die erstgenannte Fassimg, „jeder gibt, was er hat" samt „Armut" — oder „Unfähigkeit" — wird uns später auch christianisiert in der theologischen Literatur wieder begegnen. Für die Vorgeschichte des Epilogus sind wichtiger zunächst die Partien, in denen Ovid den Opfervergleich persönlich wendet und in der Anrede an den Kaiser gebraucht. Eine Parallele hat diese Form dann auch im Messala-Panegyricus68. Zunächst trist. 2,73/7: te celebrant alii, quanto decet ore, tuasque ingenio laudes uberiore canunt: sed tarnen, ut fuso taurorum sanguine centum, sic capitur minimo turis honore deus. Darin steckt nicht nur der Topos „alii—ego" — hier ohne Zusammenhang mit der recusatio —, sondern auch die Bescheidenheitsäußerung (ingenio uberiore canunt alii, nicht ich). Auch das stimmt mit dem Messala-Panegyricus überein. Desgleichen ist das Motiv: „Auch ein kleines Opfer versöhnt den Gott", wie wir wissen, traditionell. Innerhalb einer nur noch formalen recusatio ist das Gedicht hier also vor allem deswegen „Opfer", weil es Augustus dargebracht wird, aber der Opfervergleich ist eingespannt zwischen „te" und „deus": die Analogie bewegt sich weniger zwischen Dichtung und Opfer als vielmehr zwischen Kaiser und Göttern69. Panegyrische Dichtung und Elegie verhalten sich 63 6* « 66 67 6»

Oben Anm.14; Leo a.a.O. 2,190. Vgl. u.a. Ovid a.a.2,165ff.; 3,529ff. Am. 1 . 1 0 , 5 8 ; vgl. Prop. 2 , 1 , 4 6 . Oben Anm. 56. Am. 1 , 1 0 , 5 3 ff. u.ö. PsTib.3,7 = 4 , 1 , 7 f f . : respueris: etiam Phoebo gratissima dona Cres tulit, et cunctis Baccho iucundior hospes Icarus, ut puro testantur sidera caelo . . . hie quoque sit gratus parvus labor, ut tibi possim inde alios aliosque memor componere versus. «» Vgl. trist.2,37ff.; 5 , 2 , 4 5 f f . ; met. 1,204. — Das ist also der traditionelle panegyrische Vergleich zwischen Herrscher und Zeus (Eitrem, Symb.Osl.10, 1932, 50 ff ; H. Kleinknecht, A R W 34,303 mit Anm. 2).

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

zueinander wie Hekatombe und Weihrauchopfer, beide haben den Kaiser als Zentrum. Das geht ohne Zweifel über alle bisher gegebenen Texte hinaus. Der Opfervergleich wird gar nicht mehr als solcher eingeführt oder nur als Verkleidung benutzt, sondern drückt beinahe selbstverständlich die Haltung zum Adressaten aus. Ähnlich steht es auch mit der Selbstrechtfertigung — eine von den vielen, die der relegierte Ovid vorbringt — in ex Ponto 4,8,33/40: templa domus facient vobis urbesque beatae. Naso suis opibus, carmine gratus erit. parva quidem fateor pro magnis munera reddi, cum pro concessa verba salute damus. sed qui, quam potuit, dat maxima, gratus abunde est, et finem pietas contigit illa suum, nec quae de parva pauper dis libat acerra tura minus grandi quam data lance valent. Also erneut eine Variation des Klischees „andere—ich", ferner „Gedicht als Dank des Armen", „Bescheidenheit" in der Form „parva pro magnis" 70 , und das „Opfer des Armen", zentriert um die Sentenz V.37. Entscheidend für unsere Frage ist auch hier, daß Dank und Opfer, politische und kultische Adressierung ineinander übergehen, wie es dem Begriff pietas (V.38) entspricht. Schließlich müssen wir noch ex Ponto 4,9,33 f. heranziehen, weil da von so etwas wie einem „geistlichen Opfer" die Rede ist, und zwar ohne Beziehung auf das Gedicht, ohne Zusammenhang auch mit der sakralen Rolle des Kaisers: turaque mente magis plena quam lance dedissem, ter quater imperii laetus honore tui71. Bei Ovid sind demnach alle entscheidenden Motive von epil. 1/10 bereits da, und es bedurfte lediglich der Einsetzung Gottes zum Herrn des Imperiums, um das eigene Gedicht zum geistlichen Opfer werden zu lassen. Man muß natürlich festhalten, daß Ovid, und zwar nicht als poet between two worlds, sondern infolge höfisch-panegyrischer Tendenz, Kaiser und Gott, Gedicht und Opfer konvergieren läßt, daß aber Analogie oder Vergleich nicht zur Identität werden. Daß man sich hüten muß, hier zwischen Ovid und dem Christentum einen geistes- oder gar literargeschichtlichen Zusammenhang herzustellen — liegt doch die eigentliche Kontinuität im Übergang von pan70 „parva pro magnis": Otto, Sprichw.204f.; Ovid tr.1,6,28; Stat.s.1,5,611:.; Rut. Nam. 1,553; Hier. ep. 58,1; Paul. Nol. c. 32,7; Paul. Petr. v. Mart. 3, i f f . ; Isid. pont.4.8,35. 71 Vgl. tr. 2,59 und ex P. 4,8,40.

b) Dichtung als Opfer?

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egyrischer zu hymnischer Redeweise und im gemeinsamen rhetorischen Substrat —, zeigt auch Statius, der im übrigen für unsere Frage nichts Neues bringt. Er nennt seine Gedichte „parva dona", aber „victura sub ingenti aevo" (s. 2 , 3 6 3 f.). Das ist also „Geschenk", „Bescheidenheit" und „Nachruhm". Daneben hat auch Statius den Opfervergleich in einer Widmung, besser: in einem Huldigungsgedicht. Das Opfer bleibt Vergleich, insofern am Beginn das Dankopfer, die Soteria 72 , den Göttern abgestattet werden soll, dagegen am Schluß dem Gefeierten selbst — das Gedicht wird aber auch dann nicht zum Opfer. Der Ablehnung des Musenanrufs, eine für Statius typische Manier 73 , folgt die Huldigung an Gallicus als den dux carminis. „So wie Ceres und Bacchus ihr Opfer bekommen, so gestatte auch du coli tenuiore lyra — dein 'doctum numen' bekommt zurück, was es in Fülle hat." Der Passus mündet, anders als man nach V.31ff. erwarten sollte, aber in genauer Entsprechung zu V. 19 ff., in eine Reverenz vor der literarischen Fähigkeit des Adressaten: vaga cingitur astris luna et in oceanum rivi cecidere minores 74 . Die huldigende Erhöhung des Gallicus ergibt sich also nicht aus dem Opfervergleich (Ceres, Diana), sondern aus der Ersetzung der Musen durch den Empfänger des Gedichts 75 . Er ist am Ende zwar auch einer, dem geopfert wird, aber das Gedicht bekommt sakrale Funktion nur aus der Umwandlung des Musenanrufs. Immerhin: der Vergleich mit einem Opfer ist da, das tertium comparationis freilich ist anders: es liegt im „du empfängst, was du gegeben hast und selbst in Fülle besitzest", ein Topos, den wir im Paneg. Messalae ebenfalls finden 76 . Mittelpunkt ist die literarische Fähigkeit des Adressaten selbst. Das Gedicht wird mit einem Opfer verglichen, nicht weil dem Gefeierten wie einem Gott ein 72 S. 1,4 (Soteria Rutiii Gallici). 73 Vollmer zu Stat. s. 1,4,19 ff.; l , 5 , l f f . ; G. Lieberg, Philol.135 (1963) 116/29. 71 Siehe Vollmer z.St.; Valer. Fl. 5,566. 75 Vgl. das Kapitel „Die Musen" bei Curtius a.a.O. 235/52 mit Lit. Daß christliche Dichter die Musen ablehnen und ersetzen, ist in der Kaiserzeit also längst vorgebildet, hatte aber in der Spätantike wieder Aktualität infolge der religiös-philosophischen Musen-Allegorese. Was hat das jedoch mit der Dichtung zu tun, speziell mit der invocatio? Wenn Paul. Petr. v. Mart. 6,343 (vgl. 4,246) sagt „mea musa patronus", dann fehlt gewiß jeder Gedanke an Musenspekulation, vgl. ferner Paul. Nol. c. 10,19 ff. 112 ff.; 15,30 f.; 22,16. Das scheint mir eher die Reproduktion eines Topos um der Kontrastierung heidnisch-christlich willen, obwohl er sich bereits in der Kaiserzeit längst erledigt hatte und sein Vokabular (fons, rigare, usw.) auch in die Prosa übergegangen war (Unters. II, Anm. 27). 7« V. 4 f . :

. . . humilis tantis sim conditor actis nec tua praeter te chartis intexere quisquam facta queat, dictis ut non maiora supersint. Zu dicta — facta s. Unters. II, Anm. 11.

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

Opfer zukäme, sondern weil auch ihm zurückerstattet wird, was von ihm stammt. Der Gedanke an schmeichelnde Versöhnung ist natürlich ausgeschlossen. Nimmt man nun aber die Oberschrift, „Soteria", hinzu — danach ist das Gedicht von vornherein ein Dankopfer, zunächst an die Götter, schließlich an Gallicus selbst —, dann rückt auch der Schluß des Gedichts in literarische Funktion ein. Es enthält traditionelle Topoi wie „Unfähigkeit zum Opfer" (nec . . . sufficiam), aber „die Götter sehen auch das Opfer eines Armen an" 7 7 . Also erhebt das Pathos der Huldigung das Gedicht in den Rang eines (Dank-)Opfers, wenn auch in ganz anderer Akzentuierung als bei Ovid. Mit einer Apollo-Rolle des Gallicus spielt Statius in diesem Gedicht häufiger, so etwa V.58ff. und V . 7 7 7 8 . Erst bei Statius kann man daher sagen, das Gedicht sei als Opfer verstanden — eine Gleichsetzung, die sich bereits im Titel des Stücks und in der Komposition ausdrückt, also über die bisher genannten Beispiele hinausführt. Eine sakrale Rolle des Dichters ist freilich nicht einmal angedeutet, und von der Realität des Opfers kann erst recht keine Rede sein: es hat nur noch rhetorische Funktion und dient dem Aufbau einer schulgerechten Huldigung. Vor allem aber fehlt jeder apologetische Zug, und daher dient der Opfervergleich nicht der Aufwertung des eigenen Gedichts, sondern ist nur thematisch da. Schließlich darf angemerkt werden, daß gerade dieses Gedicht zeigt, wie bedenklich es ist, Widmung und Opfer von vornherein zusammenzusehen. Der (panegyrische) Bereich „Opfer" ist allemal weiter als die (neutrale) „Widmung", und diese kann in jenem aufgehen, nie aber vermag das „Opfer" mit der „Widmimg" identisch zu werden. Uberhaupt ist „Widmung" ein Topos des Exordium und sollte diese formgeschichtliche Funktion auch behalten. Der Opfervergleich dagegen hat von Anfang an im Rahmen historischpanegyrischer Redeweise seinen Platz gehabt. Der panegyrische Stil ist es gewesen, der das Gedicht als Geschenk zum (Gedicht als) Opfer hat werden lassen. Das schlägt sich dann auch in der Widmung höfischen Charakters nieder, nicht nur als „Weihung" (vovere), wie auch im Paneg. Mess. 7 9 , sondern eben auch als „Opfer" (sacra ferre usw.) 8 0 , dies zweite 77 VgI.Anm.94. 78 Siehe dazu Vollmers Bemerkungen z. St. 79 V. 26 f.: . . . omne vovemus hoc tibi, nec tanto careat mihi carmine charta. Von der Geschichte des hier in Rede stehenden Motivs her gesehen scheint mir der Pan. Mess, näher an Statius als an Ovid zu gehören. 80 Z.B. Ovid trist.2,552; Ibis 56; German.Arat. 1 , 1 ff.; Nemes.cyneg.76; Stat. s . 3 , 3 , 2 1 3 f f . ; Greg.Naz.ep. 117.119; c. 2 , 1 , 1 0 , 3 4 ; Auson.parent. 3 , 2 5 ; g r a t . a c t . l ; Ambros.ep. 4 0 , 1 ; Prud. Cath. 4 , 7 5 ; Hist. Aug. Heliog. 1 , 1 ; 3 5 , 1 ; Priscian ep. ad Iul. 4 ( p . 2 , 3 1 ) ; Anth. Pal. 1 0 , 1 9 ; Sid. Ap. c. 6,35, noch deutlicher c. 1,21/4 (parvula tura damus, victima, pauper, hostia, lingua usw.). Weiteres unten. Aug.ep. 26 u. 27 steht „offerre sacrificia laudis": da ist, wie bei den Christen oft (vgl. etwa Paul. Nol. c. 34,

b) Dichtung als Opfer?

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weder als Funktion des Pathos noch als ausgeführter Vergleich, sondern als selbstverständliche Benennung, und zwar auch in Prosa. Aus welcher Form sich das im Spätlatein abgelagert hat, gibt noch einmal Claudian in seiner deprecatio ad Hadrianum zu erkennen (c. m. 22). Hier steht nicht nur erneut der Topos von der Armut des Dichters (V.16.53) 81 , sondern es erscheint auch das Gedicht wirklich als Ersatz des Opfers: hoc pro supplicibus ramis, pro fronde Minervae, hoc carmen pro ture damus. Miserere tuorum (41 f.) 82 Wie bereits der Titel des Gedichts anzeigt, wird gar kein Unterschied mehr gemacht zwischen dem Adressaten und den Göttern — in aller Selbstverständlichkeit vertritt das Gedicht ein Opfer von Ölzweig und Weihrauch. Im Ton geht das Ganze kaum über Ovid hinaus, aber die Popularisierung des Gedankens, die bei Statius zu erkennen war und sich in der Metapher dichten = opfern niedergeschlagen hat, ist deutlich. Die Stelle, deren literarischer und imitativer Charakter unbestreitbar ist, zeigt noch einmal, daß der höfische Stil — und auch in diesem Fall handelt es sich ja gar nicht mehr nur um den Kaiser wie bei Ovid — die Identität zwischen Dichtung und Opfer herbeigeführt hat, zumal in Formen wie der „Soteria" des Statius und der deprecatio Claudians. Nun hat Curtius, nachdem er diese ganze Entwicklung fälschlich als Abwandlung des Exordialtopos „Widmung" dargestellt hat, auch den Hieronymus aus dieser Tradition schöpfen lassen83. Das ist aber nur mit starken Einschränkungen richtig, nämlich nur insofern, als man den Vergleich Dichtung/Opfer—Curtius hatte vorher auf die oben besprochene StatiusPartie verwiesen — ganz heraushält und nur die Metapher dichten = weihen berücksichtigt. Sie hatte den mythologischen Gehalt bereits verloren und war auch in der Prosa verwendbar. Zunächst einmal kennt Hieronymus die Ausdrücke „offerre" und „consecrare" in der Widmung — das hat aber gar nichts mit einer Opfergabe an Gott zu tun 84 . Sodann benutzt er im sogenannten Prologus galeatus zur Rechtfertigung gegenüber Kritikern ganz einfach den Topos „Jeder gibt, was er hat (oder kann)" und fundiert ihn mit Exod. 25,3, 15 f. u.ö.), das traditionelle „offerre" mit dem „Lobopfer" des AT verschmolzen. Folgerungen daraus, wie sie K. Gamber, Sacr. Erud. 12 (1961) 6 zieht, um dem Adressaten Licentius ein liturgisches Werk, „vielleicht ein Sakramentar", zuschreiben zu können, sind nicht statthaft. 81 V. 53, vgl. c. 31,46; in Rufin. 1,200. Unten bei Anm.99. 82 Benutzt sind Verg. Aen.11,365; Lucan. 3,306. 83 A.a.O. 96. 8* cumque tibi cuperem ingenioli mei aliquod offerre munusculum et coepta in duodecim prophetas explanatio perveniret ad calcem, susceptum opus deserere nolui, sed quod et absque te dictaturus eram, tuo potissimum nomini consecravi... Hier. In Zadi.l prol. (PL 25,777); in Is. 2 pr. (PL 24,49 A).

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wobei er das eigene Werk bescheiden als „Ziegenhaar" zu bezeichnen Gelegenheit findet 85 . Das gehört, wie gesagt, nicht in die oben beschriebene Tradition, um so weniger, als dieselbe AT-Stelle noch ein andermal von Hieronymus angeführt wird: als Rechtfertigung seiner Jugendschriften 86 . An dieser Stelle folgt dann auch die Berufung auf das „Scherflein der Witwe" (Mk. 12,41/6 par.), eine biblizistische Fundierung, die weder, wie Curtius meint, von Hieronymus geschaffen ist — denn sie steht zuerst bei Greg. Thaum. euch. 3,27 f. — noch auch nur in diesem Zusammenhang vorkommt. Häufiger nämlich verbindet sie sich mit dem Bescheidenheitstopos „Armut", so zuerst Greg. Thaum. a.a.O., sei es nun äußere oder geistige Armut 87 . Obschon im Prol. gal. auch der Gedanke „selbst ein kleines Opfer versöhnt" wohl nachklingt, wäre es doch falsch, Hieronymus in die Tradition des Vergleichs von Dichtung bzw. Schriftstellerei und Opfer hineinzustellen. Dazu ist der AT-Text zu lose mit der — apologetischen — Argumentation verknüpft, zumal auch die Bescheidenheitsäußerung noch hineinspielt. Und wo Hieronymus wirklich an die oben geschilderte Uberlieferung anschließt, nämlich im Gebrauch von 'consecrare' und 'offerre' für „widmen", ist das die am meisten popularisierte Schicht jener Entwicklung, Ablagerung im allgemeinen Sprachgebrauch der Widmungstopik oder letzter Ausläufer einer ursprünglich panegyrisch bedingten Vorstellung. Kehren wir nunmehr zu Prudentius zurück, um zu sehen, wie sein Epilogus sich in das skizzierte Bild einfügt. Es fehlen da, wie bereits bemerkt, Adressat und Widmung, ja noch mehr: es wird im Epilogus niemand angeredet. Das ist der wohl auffälligste Unterschied dieses Gedichts zu allen bisher genannten Stellen. Während bisher Poesie und Opfer einfach deswegen nicht völlig hatten gleichgesetzt werden können, weil das Gedicht einen Adressaten hatte, der nicht einfach mit dem Empfänger des Opfers identisch war — steht bei Prudentius zum ersten Male die Identität von Gedicht und Opfer außer Zweifel. Wie kommt sie zustande? Zunächst kann Prudentius natürlich den Gedanken an das Opfer nicht in seiner heidnischen Gestalt übernehmen. So bietet er statt der mythologischen die spiritualisierte Form, die in vorchristlicher Zeit keineswegs ohne Beispiel ist — ich erinnere nur an Ovid —, aber seit den Apologeten 85 Im sog. prol. galeatus PL 2 8 , 5 4 7 ff. 8|> In Abd.prol. (PL 2 5 , 1 0 9 8 A ) : quid igitur? condemnamus in quibus pueri lusimus? minime. scimus enim in tabernaculo Dei et aurum et pilos caprarum similiter oblatos. legimus in Evangelio viduae pauperis duo minuta magis quam divitum substantias approbata. et tunc dedimus, quod habuixnus. et nunc, si tarnen aliquid profecimus, Domino suum reddimus, s. o. A n m . 6 5 ; vgl. in O s . 3 prol. (PL 2 5 , 9 0 3 D ) . 8 7 Unten bei Anm. 99 ff.

b) Dichtung als Opfer?

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auch im Christentum als Lehre vom „geistlichen Opfer" üblich war88. Prüdentius übernimmt die Christianisierung nun gerade da, wo er nicht von sich selbst, sondern von „den anderen" spricht, koppelt also von vornherein mit dem Klischee „alü—ego", dieses nicht innerliterarisch (andere schreiben so — ich dichte dies o. ä.) verwendend, sondern etwa im Sinne von Horaz c. 1,1. Ließe man nämlich das Opfermotiv einen Augenblick aus, dann würde der Dichter sagen: die anderen beten oder tun gute Werke — ich aber dichte. Das aber wäre zu wenig gewesen, da es ja darauf ankam, die Poesie als Alternative zur üblichen Frömmigkeit allererst durchzusetzen. (Wir sind davon ausgegangen, daß es notwendig war, um 400 n.Chr. das Dichten eines Christen zu motivieren.) Ohne das Opfermotiv in seiner christlich-spiritualisierten Form wäre also die Äußerung „ich dichte" problematisch gewesen und hätte der christlichen Legitimation entbehrt. So beginnt der Epilogus weder originell noch einleuchtend, nämlich als Addition der beiden Topoi „geistliches Opfer" und „andere—ich". Das Dichten als Alternative zu „dona conscientiae" und Almosen erscheint immer noch als bloße Behauptung. Prudentius läßt daher zwei Inferioritätsäußerungen folgen, deren eine, der Topos „Armut", u. a. aus der Geschichte des Opfervergleichs bekannt ist, während das Bekenntnis eigener Sündigkeit den spätantik-christlichen Demutsbeteuerungen entspricht und mit „Dichtung—Opfer" ursprünglich nichts zu tun hat 89 . Man erkennt das gut an Paul. Nol. c. 18,29 ff., abgesehen vom Kontrast des „geistlichen Opfers" und dem Bekenntnis der „Sünde" eine wichtige Parallele zu Epil. 1 ff.90. Während also Prudentius zunächst Dichtung und geistliches Opfer zu identifizieren versucht, erscheint auf dem Umwege über die Inferioritätstopik die Poesie dann doch zugleich auch als bescheidener Ersatz für andere geistliche Opfer. Der entscheidende Unterschied dieser durch Topos-Kombination herbeigeführten Identität von Poesie und Opfer zur antiken Vorgeschichte 88 J. Geffcken, Zwei griech. Apologeten (1907) XXXIII. 38.41; H. Wenschkewitz, Die Spiritualisierung der Kultusbegriffe (1932); J. Behm, ThWbNT 3 , 1 8 0 / 9 0 (mit Lit.). Bei Prud. vgl. Per. 10,356 ff.; C a t h . 4 , 1 6 f . , 2 0 . — Vgl. Sen.frg.123 = Lact. inst. 6 , 2 5 , 3 ; Min. Fei. 32,2 f. usw. 8» Unten bei Anm. 104 ff. 9 0 Paul. Nol. c. 18,29 ff. . . . cedo, alii pretiosa ferant donaria / meque officii sumptu superent, . . . ego munere linguae, nullus opum . . . vilis licet hostia, pendo (46f.), vgl. ep.11,7; 28; 6; 34,3. Das sei Gabe „pauperis obsequii". Dann folgt Fundierung mit dem „Scherflein der Witwe" (V. 50/61), wie noch einmal V. 213 ff.; vgl. oben Anm. 12. Auch hier fehlt der Adressat, aber das Motiv „Opfer" wird nicht christlich spiritualisiert, sondern im Sinne der in Anm. 80 f. 85 f. gegebenen Stellen verwendet, entsprechend Prud. Per. 3 Ende und Cath.4,75.

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liegt nun nicht nur darin, daß in Wirklichkeit niemand angeredet wird, sondern daß eigentlich auch niemand etwas bekommt. Natürlich: ein bestimmtes Publikum bekommt seine Lektüre — aber diese einfache Tatsache auszusprechen, scheint dem christlichen Dichter unmöglich. Er will ja Dichtung und Opfer identifizieren, um Gott zum Empfänger des Gedichts zu machen. Das bedeutet zwar einerseits, daß ehedem ansprechbarer Adressat und Empfänger des Opfers, daß also Literatur und Religion sich decken und Prudentius insofern die bis Claudian skizzierte Vorgeschichte radikal zu Ende führt; die Motive aber, die den Gedanken tragen oder herstellen, haben ihren ursprünglichen Sinn verloren. So wendet sich die Beteuerung der eigenen Armut nicht mehr entschuldigend an den Adressaten, um das Gedicht als Ersatz anzubieten, sondern sie verlagert das Schenken in die Ethik — ohne daß nun die pauperes von Prudentius das Gedicht bekämen. Der Topos verliert also seinen Adressaten, das Gedicht wird seiner gesellschaftlichen Bindung entnommen. In Wirklichkeit kommt ja weder Gott noch ein Glied der christlichen Gemeinde als Adressat in Betracht — und trotzdem soll Gott der Empfänger sein, wie das Motiv des geistlichen Opfers nahezulegen versucht. Die völlige Spiritualisierung des Empfängers, die Abwesenheit einer Adresse und die gänzliche Identität von Gedicht und Opfer bedingen einander. Wir haben nun aber gesehen, daß im Zusammenhang mit den Topoi „Sünde" und „Armut" außerdem der Gedanke an das Gedicht als Ersatz des Opfers nachklingt, oder auch: als bescheideneres Opfer. Das ist also eine ältere Stufe, repräsentiert durch die Bescheidenheitstopik. Das soll uns zum Schluß auf die Frage führen, welchen Einfluß man der rhetorischen Tradition zubilligen muß, die aus der höfischen Widmung des Gedichts die Bezeichnung der dedicatio als „Weihung" oder „Darbringung" übernommen hatte. Nachdem wir zunächst den Opfervergleich von der Widmung betont unterschieden haben, müssen wir nunmehr doch auch die formgeschichtliche Funktion der von Prudentius kontaminierten Elemente betrachten. Dabei ist zweierlei wichtig. Erstens: wenn man nicht nur die Poesie als Vorgeschichte berücksichtigt — vom ausgeführten Opfervergleich bis zum „sacra ferre" der Widmung —, sondern auch die zeitgenössische Prosa, dann wird man auf Äquivalente für „widmen" oder „schenken" geführt, wie sie etwa Hieronymus bietet, nämlich etwa „offerre" und „consecrare". Ihnen fehlt, wie gezeigt, bei Hieronymus ein religiöser Sinn, sie sind schon konventionell und abgeblaßt, Umschreibungen für einfaches „donare". Vergleicht man nun im Epüogus die nicht eben eindeutigen Wendungen „dona immolare" und „sacrare (sc. iambicos usw.)", dann scheint doch auch im Vokabular der rhetorischen Praefatio ein Ansatz für die Kombination von Gedicht und Opfer zu liegen — die erneute Spiritualisierung

b) Dichtung als Opfer?

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dieses Sprachgebrauchs geht dairn freilich zu Lasten des Prudentius. Daß er ihn kennt, haben wir gesehen (Cath.4,75: sacramus hymnos). Zweitens: die Vorstellung, die dem ausgeführten Opfervergleich und Wendungen wie „consecrare = widmen" zugrunde liegt, ist zwar ein und dieselbe, und der höfische Stil verbindet beide, aber die formgeschichtliche Funktion ist doch verschieden. Was aus den gleichen Voraussetzungen bei Claudian eine ganze Deprecatio, ist bei Hieronymus Bestandteil der Vorrede. Und hier muß wenigstens vermutet werden — ohne daß unseren bisherigen Überlegungen im geringsten Abbruch geschieht —, daß die Exordialfunktion des Sprachgebrauchs von offerre, consecrare usw. für „widmen" im Epilogus ebenfalls nachwirkt. Zur Weihung an Gott ist dieses Element freilich erst sekundär unter dem Einfluß der weiteren Vorstellung Dichtung = Opfer geworden. Natürlich ist nicht mehr zu entscheiden, ob Prudentius bei diesem Exordialtopos angesetzt und mit Hilfe der anderen Klischees (alii—ego, geistliches Opfer, Armut, Sünde) einen der älteren Entwicklung des Vergleichs Dichtimg—Opfer entsprechenden Zusammenhang hergestellt — oder ob er den in der Poesie überlieferten Gedanken mit den genannten Topoi angereichert hat. Daß er in jedem Fall die traditionelle Vorstellung entweder unter veränderten Bedingungen reproduzieren oder auf christliche Verhältnisse umschreiben mußte — und das galt für „Dichtung" ebenso wie von „Opfer" —, haben wir ja gesehen. Der Gedanke einer Widmung oder Weihung an Gott spielt jedenfalls eine nur untergeordnete Rolle, ist aber ein Element, das zur Zeit des Prudentius ohne religiöse Bedeutung war und in die Praefatio gehörte. Erst nach Prudentius sprechen christliche Dichter von der Widmimg an Gott 91 , mehr und mehr dann auch von ihrem Werk als Opfergabe92. Noch in der Neuzeit hat die „Widmung an Gott" ihre Bedeutung gehabt93. Das alles ist als Versuch, ein Stück Literatur spirituell zu rechtfertigen, erklärlich, aber darum theologisch nicht minder fragwürdig. Wie der Blick auf die knapp skizzierte Vorgeschichte ergeben hat, kontaminiert Prudentius, um seine Poesie christlich zu motivieren, im ersten Teil des Epilogus verschiedene Elemente spätantik-christlicher Tradition. Er aktualisiert den Opfervergleich mit Hilfe der panegyrischen 91 Z.B. Paul.Pell.euch.pr.4. Das entspricht also ebenfalls dem früheren Stand, ist aber weniger prätentiös als bei Prudentius. Vgl. Synes. h. 1 (1 p. 7 Terz.). 9 2 Curtius a.a.O. 96. Daß dies auf Hieronymus zurückgehe, wird man jetzt freilich nicht mehr sagen können. Der christliche Gott hat in diesem Topos direkt jene höfischen Widmungen beerbt, ohne daß die Widmung an Gott problematisch gewesen wäre. Das ist umgekehrt eine fatale christliche Sakralisierung der Literatur. Bereits Gennadius vir. ill. 15 kennt nichts anderes, als daß, wer dichtet, Gott „darbringt", und liest dieses Motiv auch in Commodians Werk hinein ( . . . volens aliquid studiorum suorum muneris offerre Christo . . . ) . Noch Hofmannsthal im GeorgeDialog bezeichnet Poesie als Opfer. « W . Hermann, Widmungen an Gott in neuerer Zeit, FuF 32 (1958) 251 ff.

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Vorstufe und christlich-popularphilosophischer Topik neu, ohne den früheren „Sitz im Leben" und die — sei es vergleichende, sei es antithetische — Funktion dieser Elemente zu berücksichtigen. Weder wiederholt Prudentius einen überkommenen Gedanken noch gibt er einer runden Vorstellung Ausdruck, sondern höchst artifiziell, nämlich ohne gesellschaftliche Orientierung und in kontaminierender Technik, führt er erst herbei, was bei anfänglichem Hinsehen als fertige These erscheint. Es handelt sich hier um eine Art von Poesie, die weder auf eine weltliche noch auf eine kirchliche Institution bezogen ist, wie ζ. B. der poetische Panegyricus dort, der liturgische Hymnus hier. Auch ist zu bedenken, daß Prudentius ja nicht die Poesie im allgemeinen christlich zu motivieren versucht, sondern erstens seine eigene, zweitens eine bestimmte Art der Poesie, nämlich die quantitierende, die in der Gesellschaft damals kaum noch Rückhalt hatte. Die christliche Argumentation dient hier also nicht etwa allgemein dem Recht der Poesie überhaupt, geschweige denn irgendwelchen missionarischen Aufgaben, sondern der Sanktionierung einer in der Kirche wie im allgemeinen Bewußtsein längst überholten Form. Nicht zuletzt die Anfangsverse des Epilogus machen klar: Prudentius selbst hat zur antiken poetischen Tradition kein lebendiges Verhältnis mehr. Er kann seine christliche Dichtung weder spezifisch christlich noch eigentlich poetisch motivieren. Beides liegt nicht an ihm selbst, denn eine „christlich" motivierte Poesie muß nun einmal entweder die Botschaft der Bibel oder die Dichtung um ihren Sinn bringen, sobald sie weltanschaulich zu ersetzen versucht, was der gottesdienstliche Hymnus in seiner liturgischen Praxis hat. Den „Bedürfnissen der Gemeinde" steht die Poesie des Prudentius also auch darin fern, daß sie überhaupt ein Programm bietet. Sie trägt ihren Sinn nicht in sich selbst, im Unterschied zum Kirchenlied und zur profanen Dichtung.

c) Jambus und Trochäus Die gelehrten Hinweise auf das Metrum beziehen sich bei Prudentius notwendigerweise auf das Gedicht, in dem sie vorkommen. So auch im Epilogus, mag er auch in Wirklichkeit einen größeren Komplex von Gedichten verschiedenen Metrums motivieren wollen. Jamben und Trochäen: das ist, da es sich im Epilogus um Hipponakteen handelt, eine Vereinfachung, Reduktion auf die Form des Versfußes, ebenso wie die Angabe „dactylico pede" an den Vergleichsstellen. Zur Form „iambicus" statt „iambus" s. die Parallelen in ThLL 7,1,130,51/61, ferner Hier. ep. 3 0 , 3 , 1 ; Sid. Ap. ep.8,11,7; 9 , 1 6 , 3 u. ö. Das Interpretament „citus" steht zuerst bei Horaz (a.p. 252 pes citus). Woher das stammt, ist nicht mehr auszumachen, erst recht nicht, ob eine

c) Jambus und Trochäus

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wirkliche Tempobezeichnung dahintersteht 94 . Die Handbücher legen diese Annahme allerdings nahe, da sie in auffallender Einhelligkeit den Jambus als schnell bezeichnen. Nach Horaz ist es nämlich erst wieder das metrische Lehrbuch des Terentianus Maurus (saec. IV), das den Zusatz „citus" bietet: pes virilis acer et raptim citus (de metris 1383); nunc orsa iambo, siqua possum, colligam. adesto, iambe praepes, et tui tenax rigoris adde concitum celer pedem (ebd.2181 ff.). Ähnlich äußert sich auch Mar. Vict.: nam iamborum scriptores, quibus celeri versu opus est, fere per pedes iambos provolant (ars g r a m m . 3 , l l , 2 , p . l 3 2 , 1 7 f . Keil). In die Poesie kommt das erst wieder mit Ausonius, der den Jambus nicht nur als είλιπόδην σκάζοντα (ep. 10,31) kennt, sondern auch als „pinnis alitum velocior" (ep. 25,4,2; acer jambe, ep. 1,4). Er wird das also genau wie Prudentius aus Handbüchern haben 95 . Hier schließt an Sid.Ap. ep.8,4,2 (Lob des Adressaten): igitur hic tu, quantum recordor, citos iambos, elegos acutos ac rotundatos hendecasyllabos et cetera carmina musicos flores thymumque redolentia . . . elucubrasti (ebenso ep. 8,7, 11). Nicht ganz identisch, aber wegen der zeitlichen Nähe zu Prudentius erwähnenswert ist auch Paul.Nol. c. 10,15: levior paucis praecurret iambus 96 . Die zweite Junktur, die uns kurz beschäftigen soll, ist „rotatiles trochaeos" (epil.8). Auch der Zusatz „rotatilis" ist ebensowenig zufällig wie originell. Lavarenne £t. 1474 gibt dafür „rapide" als Erklärung (qui roule bien), mit Verweis auf Sid. Ap. ep. 2,9,4. Niemand hat sich aber bisher Gedanken gemacht, woher Prudentius das Adjektiv bezieht. Häufiger war in diesem Zusammenhang schon Sid.Ap. zu nennen: das ist in der Tat der Autor, der im Anschluß an Prudentius die Linie zum Versbau des Mittelalters hin fortsetzt. Als Vorstufe zu Prudentius haben wir aber selbstverständlich nicht Horaz, sondern das metrische Handbuch anzunehmen. Nicht zuletzt hier liegt auch der Grund für die Hochschätzung des Prudentius im Mittelalter. Ähnlich wie kurz zuvor Ausonius und später Ap. Sid. erfüllt er das Ideal des poeta doctus, der die Anweisungen der Lehrbücher mit Hilfe christlicher Stoffe und in kontaminierendem Rückgriff auf ältere poetische und rhetorische Tradition realisiert. So ist denn auch „rotatilis" alte Überlieferung. Die Etymologie τροχαίος: τροχερός, dieses abgeleitet von τρέχειν, steht zuerst bei AristoS. jedoch Schol. Aristoph. Ach. 201/3 u. Birt, Kritik u. Hermeneutik 25. In der gesamten Prudentius-Literatur ist diese Frage überhaupt nodi nicht gestellt. Woher hat aber Prudentius seine metrischen Kenntnisse, wenn nicht aus Handbüchern. 9 6 Der Jambus gilt nach alter Auffassung ja seinem Inhalt nach als Spottvers (Aristot. poet. 1448 Β), seiner Form nach als besonders nahe zur λέξις είρομένη (ebd. 1449 Β), so daß die Natur selbst ihn geschaffen zu haben schien (1404 A ; rhet. 148 Β; Cie. or. 189, vgl. Kroll z.St.; Horaz a . p . 8 1 ; Quint. 9 , 4 , 8 0 ; Paul. Nol. c. 10, 15 usw.). 94 95

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teles (rhet.l408B; poet. 1449 A) 9 7 . Auch die vorisidorischen lateinischen Grammatiker leiten nicht von τροχός ab, sondern von τρέχειν, so Mar. Vict.: trochaeus . . . dictus a cursu et celeritate; nam τροχός άπο του τρέχειν vocabulum sumpsit ( 1 , 1 1 , 1 0 , p. 44, 29 ff. Keil). Erst Isidor bezieht enger auf τροχός: trochaeus vero ab eo dictus est, quasi rota velociter currat in metris (et. 1,17,4). So auch der Grammatiker Mar.Plot.: trochaeus . . . dictus a velocitate rotae, quam suo sono imitatur quam graece τροχός nuncupate (ars g r a m m . 3 , l , p . 4 9 8 , 1 3 f . Keil). Wie weit die Quelle Isidors zurückliegt, ist nicht bekannt. Es genügt für unseren Zusammenhang aber auch festzustellen, daß die Vorstellung „rund" jedenfalls ausscheidet zugunsten der allen Belegen gemeinsamen Bedeutung „schnell". Gewiß denkt auch Prudentius an rota = Rad, Scheibe (vgl. rota solis Cath. 1 2 , 5 ; Per. 14,96; Apoth. 626; überhaupt ist der Wortstamm 26mal bei Prudentius vertreten), aber als an schnelles SichDrehen, Wirbeln. Das zeigt nicht nur „rotae celeres" (Cath. 5,54), sondern deren Folge, die Schnelligkeit. Daher brauchen wir einen Zusammenhang mit der rhetorischen rotunditas auch gar nicht zu erwägen. So ist Lavarenne im Recht, auch mit seiner Übersetzung „agile", und der Unterschied zu „citus" erscheint nur gering 98 . Wichtiger als die effektive Bedeutimg dürfte aber die Funktion des Wortes „rotatilis" neben „trochaeus" sein. Es ist, als Äquivalent zu „rotans", vor Prudentius nicht belegt (Sid. Ap. ep. 2 , 9 , 4 ) , stammt aus gelehrter Tradition und bietet von daher Etymologie. Einzig in der etymologisierenden Rolle scheint auch der Unterschied zu „citus" zu liegen. Mithin läßt sich die stilistische Eigenart dieser Verse durch eine Analyse der beiden versbezogenen Junkturen noch um einiges schärfer fassen. Diese Rezeption gelehrter Überlieferung, auch als Etymologie, paßt gut zum kontaminierenden Charakter der ganzen Partie.

d) Sünde und Armut Soweit „Armut" als Selbstbezeichnung des Schriftstellers mit dem Opfervergleich verbunden war, haben wir sie bereits registriert. Nun gab es sie zur Zeit des Prudentius aber auch unabhängig davon, in Prosa und Poesie paganer und christlicher Observanz. Soweit sie die wirkliche Armut des Dichterdaseins betraf, wollen wir sie hier beiseite lassen"; denn bei Prudentius liegt der konventionell-rhetorische Charakter der Äußerung auf der Hand. Der Topos ist, wie die Belege zeigen, bei Christen häufiger als im Der Trochäus „heißt ja vom Laufen", Wilamowitz, Griech.Verskunst (1921) 13. 98 „kreisend" (Kurfess a.a.O. 1051) trifft also nicht. Bakchyl.frg.28; Horaz e p . 2 , 2 , 5 1 f . ; c. 2,18,1/14 usw. Mart. 5 , 1 3 , 1 ; 7,46,6. 97

d) Sünde und Armut

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paganen Schrifttum 100 und geht bei ihnen, auch wohl unter Einfluß des stilbezogenen rhetorischen Begriffst101, als Bescheidenheitstopos in die Beteuerung der eigenen Geistesarmut über 102 oder verbindet sich mit ähnlichen Inferioritätsäußerungen wie miser, dolens oder insipiens 103 . Gerade diese Verbindung des (nicht spiritualisierten) Armuts-Topos mit anderen Selbstbezichtigungen muß uns hier besonders angehen. Denn auch Prudentius betont ja außer seiner Armut auch die eigene Unwürdigkeit oder Sündigkeit. Sondern wir auch diesen zweiten Topos einen Augenblick aus: er geht im Christentum zurück bis ins zweite Jahrhundert und stammt ursprünglich aus orientalischen Unterwürfigkeitsformeln 104 . Im vierten Jahrhundert mischt er sich mit der höfischen Selbstherabsetzung nach Art jener Floskeln wie „mea parvitas, simplicitas, mediocritas usw." zu mehr und mehr konventionellen Bezeugungen spätantik-christlicher Demut 105 . Auch hier sind es wieder vor allem Präfationen (Widmungen) und Briefe, die das Zusammenfließen höfischer und liturgischer Elemente am deutlichsten bezeugen. Der Schriftsteller beteuert nicht nur seine Unwürdigkeit 106 , sondern nennt sich konventionell peccator — so Paul.Nol. häufig im Präskript seiner Briefe 107 — oder umschreibt die eigene Unwürdigkeit in mancherlei Variationen 108 . Hier hinein gehört auch das „sanctitatis indigi" des Prudentius (ebenso wie „reus" in Per. 2). „Sanctitas" ist ja mitnichten ein Ausdruck, der sich auf lediglich spirituellen Gehalt beschränken ließe: er kommt zur Zeit des Prudentius längst auch als Anrede an Kaiser oder Bischof vor. Nun fehlt im Epilogus natürlich jeglicher hierarchische Aspekt, keineswegs aber der konventionelle Gehalt. 100 Greg. Thaum. A a r . 2 , 8 ; Claud, c. m. 2 2 , 5 3 ; 2 3 , 1 6 ; Ruf. 1 , 1 0 0 ; Hier. hebr. quaest.Gen.prol. (CC 7 2 , 1 , 2 4 f . ) : ut enim nos, humiles (niedrig!) atque pauperculi, nec habemus divitias nec oblatas dignamus accipere, . . . ; Paul. Nol. c. 2,1 f.: pauperis carum munus amici . . . ; 1 8 , 4 6 ; ep.12,1 (tu d i v e s . . . , ego pauper . . . ) entsprechend c. 15,9ff.; Ambros.ep.63,86ff.; Sid.Ap.c.2,473f. u.a. ιοί Bruhn a.a.O. 20.27. 102 Symm.ep. 1 , 1 4 , 1 ; 2 3 , 4 ; 4 , 2 7 , 2 ; 8 , 2 2 ; 9 , 8 8 , 3 ; Hier.Didym. spir. transl.63 (PL 23,167 A ) ; Paul.Nol.ep.8,2; 1 1 , 1 2 ; c . 2 7 , 1 9 3 . 1 9 8 ; 39,4 u.a. 103 Paul. Nol. ep. 5 , 2 ; 8 , 2 ; 1 1 , 1 2 ; 2 3 , 4 6 ; 3 0 , 1 ; 4 3 , 1 ; 45,7 ~ c. 27,169 f. 104 Curtius a.a.O. 410/5. Sieht man von der literarischen Gestalt des Gedankens (Topos) ab, dann findet sich die Betonung der eigenen Unwürdigkeit natürlich schon im A T und NT. Aber das sind zwei verschiedene Dinge, wie Curtius a.a.O. 410 ff. mit guten Gründen gezeigt hat. 105 A. Dihle, Art. Demut, RAC 3,735/78. 10« ThLL 7 , 1 , 1 1 8 8 , 6 5 / 7 4 ; u.a. Ambros.ep.40,1 (gegenüber dem Kaiser!); Hier, ep. 4 5 , 1 ; Paul. Nol. ep.12,1 f.; 3 9 , 4 ; 4 5 , 2 u.ö.; c . 1 5 , 3 3 ; 20,1 ff.; Claud. Mar. Vict. aleth. 2,68. 107 Paul.Nol.ep.5,2; vgl. ferner Hier.vita Pauli 18 (ebenso Orientius am Schluß seines Commonitoriums); in Abac. 2 , 3 (PL 25,1319 B); ep. 18 A, 3. 108 Vgl. ep. 5 , 1 3 ; 1 1 , 1 3 ; 3 9 , 4 ; 4 2 , 5 ; 43,3. 4

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Thraede, Prudentius

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

Sehr bezeichnend für die Mischung höfischer und liturgischer Redeweise ist der Beginn eines Briefes bei Paul. Nol. (ep. 37,1): da wird die an sich gesellschaftlich-konventionelle Gegenüberstellung von „sanctitas tua" und „parvitas mea" im zweiten Gliede nicht nur zu „ego peccator" verstärkt, sondern auch mit Jes. 6,5 in geradezu blasphemischer Weise biblizistisch fundiert 109 . Das ist freilich nur ein Beispiel aus vielen110. Derselbe Autor überträgt das Modell dann auch auf seine Gedichte: der „heilige" Märtyrer ersetzt den „heiligen" Adressaten 111 . Wenn nun Prudentius seine „Unheiligkeit" und „Armut" miteinander betont, also Äußerungen kombiniert, deren konventioneller Charakter aus zeitgenössischen Parallelen hinreichend bekannt ist, so hat auch das seine Entsprechungen in der spätantiken Literatur112. Wir hatten gesehen, daß der Gedanke an „Widmung" und „Armut" oder „Gedicht als Ersatz für Opfer" im Rahmen des Epilogus zur Motivierung christlicher Poesie nicht ausreichte, sondern einer Spiritualisierung bedurfte. Das war, was das „Geschenk" betraf, der Gedanke des „geistlichen Opfers", den Prudentius in der spätantik-christlichen Tradition vorfand. Das Motiv „Armut" war in der poetischen Überlieferung ebenfalls enthalten, und zwar als Begründung des Gedichts als Opfergabe des armen Poeten. Außerdem aber, und unabhängig von der Poesie, war seit der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts die „Armut" auch konventionelle Selbstbezeichnung in der Prosa geworden, spiritualisiert besonders in Kombination mit den Topoi „Unfähigkeit" (Geistesarmut) oder „Unwürdigkeit" (Sünde). Die Verknüpfung von Armut und Unwürdigkeit hatte demnach für die christliche Begründimg der Poesie im Epilogus eine ähnliche Bedeutung wie die Spiritualisierung des Opfers zum „geistlichen Opfer". Gerade diese beiden Elemente der Spiritualisierung sind es, die sich aus der poetischen Tradition nur sekundär oder gar nicht herleiten lassen. Um sie historisch angemessen zu verstehen, muß man auf die Prosa des ausgehenden vierten Jahrhunderts zurückgreifen — ein Grund mehr, die bisher übliche Interpretation der Gedichte des Prudentius als 109 Ebenso ep. 45,3 gegenüber dem Adressaten; so auch in c. 15,9/14 gegenüber dem Heiligen Felix; 27,235/42; vgl. Hier. ep. 45,1; Dracont. laud. Dei 3 , 5 0 4 0 . 110 Ich nenne zwei Fusionen, a) mit dem Topos „temeritas" (Unters. II, Anm. 46): audeo peccator sanctum et caelestia fari, Paul. Nol. c. 15,33, vgl. 6,26. Das hat (vorher?) auch Prud. Apoth. 742: indignus, qui sancta canam — panegyr. Herkunft geht hervor aus Ambros. ep. 40,1 —, danach Cl. Mar. Vict. aleth. prec. 116: . . . ne damnes, tantum quod tarn reus audeo munus, vgl. 2,68. b) mit dem Topos „puer senex" — s. Curtius a.a.O. 108ff.; Festugiere, WSt 73 (1960) 137; W. Hartke, Römische Kinderkaiser (1951) 221,.2-149ff. mit Lit. —: P a u l . N o l . e p . 3 , 5 ; 4,2; 5,7; 40,6; 49,13 u. ö. Maxim. Taur. s. 54,1 (CCL p.218). Woher das stammt, zeigt ein Vergleich von Paul. Nol. ep. 4,2 mit Symm. e p . 1 , 3 2 , 4 = Auson. ep.18 (ad Symm.). i n Vgl. u. Teil II, Anm. 151. 112 Hier.v.Hilar.35, mihi . . . homini peccatori atque mendico.

e) pedestre carmen

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christlichen Klassizismus für unzureichend zu halten, zumal das, was all die rezipierten Elemente verbindet, die kontaminierende Technik, ohne zeitgenössische Parallelen unverständlich bleibt. e) pedestre

carmen

Wenn wir uns nun noch einmal an die Vorgeschichte des Motivs „Dichtung als Opfer" erinnern, so dürfte die Position des Prudentius in der Geschichte dieses Motivs grundsätzlich geklärt sein, aber die zugehörige Bescheidenheitsäußerung, man gebe ein nur kleines Geschenk, Gedicht oder Opfer, haben wir bei Prudentius bisher nicht nachweisen können. Eine solche Äußerung über Umfang, Qualität oder Bedeutung des Gedichts liegt nun aber ohne Zweifel in den folgenden Versen des Epilogus vor (V. 11 f.): approbat tarnen Deus pedestre carmen et benignus audit Sieht man zunächst von der Formulierung ab, läßt sich also der Gedanke unschwer aus Äußerungen von Dichtern der Kaiserzeit ableiten, wenn man die Identität von Gedicht und Opfer voraussetzt113. Was Gott mit der Poesie zu hm haben soll — eine Frage, die sich aus der Übertragung der höfischen Anrede auf Gott unweigerlich ergibt —, ist freilich nicht leicht einzusehen. Daß Gott auch oder gerade das Opfer eines Armen annehme, konnte natürlich auch gut ein Christ sagen114. Aber damit war doch das Gedicht noch keineswegs hinreichend legitimiert, wenn diese Legitimation besagen sollte, daß die Poesie nicht nur erlaubt, sondern notwendig sei. Denn ebensowenig wie die Gleichsetzung von Gedicht und Opfer konnte die Vorstellung von Gott als Adressaten des Gedichts einleuchten, der die Gedichte nur deswegen anhört, weil sie aus der Feder eines „Sünders und Armen" stammten. Diese Art von Übertragung ist, wie gezeigt, ohne den Hintergrund christlicher Epistolographie nicht zu begreifen. In ihr war der Adressat zugleich theologisch-kirchlich und literarisch bemüht, in ihr gab es die Gegenüberstellung von Heiligkeit und Unwürdigkeit, in ihr die biblizistische Sanktionierung des rhetorischen Vokabulars115. Die spätantike 113 ObenS 30 ff. Ι " ObenS.41/3. 115 Begründet und erläutert in Unters. II, JbAC 5 (1962). Die Epistolographie ist dabei natürlich nur die literarisch greifbare Form dieser Vorstufe, aber nächst den Panegyrici die einzige, an der wir die in der Poesie sich auswirkende Terminologie kontrollieren können. Der Vorzug des Verfahrens liegt darin, daß es uns den Anschluß an zeitgenössische Literatur und Ausdrucksweise vermittelt. Es zeigt, daß sich die Epochen und Formen der altchristlichen Poesie nicht ausschließlich an der voraufliegenden Dichtung orientieren lassen, sondern die Prosa in die Vorgeschichte nicht minder hineingehört. 4·

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

Höflichkeit dürfte daher nächst der poetischen Tradition die zweite Wurzel für das Verfahren des Prudentius sein, und zwar als bereits in der patristischen Prosa legitimierte Möglichkeit. Den dritten Ansatz bildete, wie ebenfalls dargelegt, die Grammatiker-Tradition. Aber auch das voraufliegende Bündnis von Christentum und Rhetorik, von liturgischer und höfischer Sprache, ist nur Vorstufe für das, was Prudentius sagen will, und erklärt noch nichts für das Miteinander von Gott und Gedicht (statt z.B. Bischof und Brief). Die begleitende Bescheidenheitstopik vermag es vielleicht als Möglichkeit zu suggerieren, aber doch kaum zu begründen, ebensowenig wie das aus etlichen Elementen kontaminierte Opfermotiv. Man würde sich etwa denken können, daß Prudentius sagt: ich bin Dichter und stelle Zeit und Fähigkeiten zur Verfügung, damit der Name Christi auch einmal in Tönen der Poesie gepriesen wird — so etwa lauten die Begründungen späterer christlicher Poeten, und ähnlich äußert sich auch Gregor von Nazianz. Prudentius aber läßt, wie in der Praefatio seine Person, so im Epilogus seine Fähigkeiten und den Wert der Poesie völlig zurücktreten, fingiert aber statt dessen eine Identität von Gottesdienst und Poesie, von guten Werken und Gedichten — das verbindende Motiv in Praefatio und Epilogus —, wie es der wirklichen Funktion seiner Poesie gar nicht entsprechen konnte. Um die Übertragung der Adresse auf Gott zwar nicht weniger hart und willkürlich, aber doch historisch verständlich erscheinen zu lassen, darf man wohl auf den bereits erwähnten Zusammenhang von Briefadresse und Märtyrer-Invokatio bei Paulinus von Nola verweisen 1 ". Denn ohne Zweifel war der Ubergang von der Heiligkeit des Briefempfängers zur Adressierung eines Gedichts an einen Heiligen eher möglich als zur Adressierung an Gott. Darauf weist — und das führt uns zum Kontext zurück — nicht zuletzt Prudentius selbst: dem „benignus audit" im Epilogus entspricht wörtlich ein „benignus audi" in der Märtyrer-Invokatio, wieder an einer Stelle, die auch sonst einiges mit dem Epilogus gemeinsam hat117. Über sonstige motivische Verknüpfungen mit Rahmenstücken des Peristephanon haben wir ja ebenfalls bereits gesprochen. So geht nun auch aus dem Vergleich mit Per. 3 ebenso wie aus der Geschichte des Modells Dichtung—Opfer hervor, daß in V. 11 f. eine Bescheidenheitsaussage enthalten ist. Und zwar steckt sie, wie man gelegentlich bereits bemerkt hat, im Adjektiv „pedestre" — auch hier hat man auf Erklärung des Wortes bisher verzichtet, desgleichen auf die Frage, was die Übernahme eines Bescheidenheits-Topos im religiösen Kontext eigentlich besagt. Ist doch die dialektische Entsprechung von 11« Oben S.50; Anm.109. 117 Unten S.62ff.; vgl. ferner Per. 14,25 ff. 71 ff.; Per. 6,4 (Deus benignus aspicit) sowie Paul.Nol.c. 18,46f.; 21,43 (Deus . . . parili audivit pietate benignus).

e) pedes tre carmen

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„benignus" (positiv) und „pedestre" (negativ) eine geradezu musterhafte Kurzform der traditionellen captatio benevolentiae. Um so merkwürdiger mutet daher auch hier die Übertragung auf Gott an. Daß dieser ein Gedicht erhört, ist dem Dichter offenbar weniger wahrscheinlich als daß er ein anspruchsloses Gedicht erhört. Doch nun zunächst zur überraschenden Junktur „pedestre carmen". Sie hat in der Literatur keine Parallele und ist ja überhaupt merkwürdig genug. Denn es besteht zwar formale Ähnlichkeit mit Horazens „Musa pedestris" (sat. 2,6,17) — dies zugleich das älteste Vorkommen des Wortes „pedester" im literarischen Sinn —, will ja aber keineswegs eine Gattung bezeichnen, schon gar nicht das Genos der Satire. Um nicht nur die Bedeutung, sondern auch die sprach- und formgeschichtliche Position dieser Junktur „pedestre carmen" herauszubekommen, müssen wir also fragen, was man unter ihr um 400 n. Chr. verstehen konnte. Da eine Geschichte des Wortes „pedester" in literarischer Funktion noch fehlt, wird es nützlich sein, sie an Hand des annähernd vollständigen Materials zu skizzieren118. Innerhalb der Poesie ist πεζός bekanntlich von Haus aus Metapher und Gegenbild zum hohen Wagen der Dichtung, also zu einer Vorstellung, die bis in die frühe griechische Literatur zurückgeht und bis in die spätantike Rhetorik und Poesie hinein gewirkt hat 119 . Zu den ältesten Stellen, an denen wir die Gegen-Metapher πεζός treffen, gehört der Aitia-Schluß bei Kallimachos, der die Weide der Musen nicht mit dem Pegasus befahren, sondern „zu Fuß" betreten will — ein Text, der gemeinhin als sphragis-artiger Vorverweis auf die Jamben verstanden wird. Wenn im Anschluß an hellenistischen Sprachgebrauch Horaz seine originelle Erneuerung der römischen Satire ebenso originell als „Musa pedestris" bezeichnet — „Muse zu Fuß", wie Heinze z. St. richtig übersetzt —, dann muß man auch das durchaus als Gegen-Metapher auffassen. Was der Ausdruck meint, ist bekannt: ein Mehr an Lizenzen in Wortwahl und Satzbau (Horaz sat. 1,4,45 ff., 56 ff.), wie es ehedem im Jambus gegolten hatte120, im jambischen Trimeter der Komödie desgleichen (a.p. 77/85). Gattungen wie Tragödie und Komödie sind freilich nicht rein zu unterscheiden, vielmehr richtet sich die Stilhöhe nach dem ήθος des Zusammenhangs (a.p. 92 f.,99/118). So spreche zuweilen die Komödie im cothurnus, die Tragödie „prope socco" (a.p.90) und „sermone pedestri" 118 Das antike Material zu „cursus" (Dichtung bzw. Rede als Wagen) ist im wesentlichen gesammelt bei Norden, Kunstprosa 333 und Fleckeis. Jahrb. Suppl. 18 (1892) 274/6. Einen Teil der lateinischen Belege zu „pedester" verdanke ich der Redaktion des ThLL. 119 Norden an den beiden genannten Stellen, ferner Kunstprosa 2,959f.; Paul. Nol. c.6,173/8; vgl. ThLL s.v. cursus. 120 Oben S. 47 Anm. 96.

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(a.p.95): hier hat mit der Gattung auch das Bild gewechselt; denn „pedester" ist nicht mehr Gegenbegriff zu Pferd und Wagen, sondern zu „cothurnus". Gemeint ist aber natürlich jedesmal dasselbe: das Verschmähen von „sesquipedalia verba" (a. p. 97), das „sermoni propiora" (sat. 1,4,42): nisi quod pede certo differt sermoni, sermo merus (sat. 1, 4,46 f.). Ironisch: ist das echte Poesie? (sat. 1,4,40ff.,53 ff.,63 f.). „pedester" ist bei Horaz also weder als Metapher ganz eindeutig fixiert noch auf eine einzige Gattung beschränkt. Inhaltlich bestimmend bleibt die Nähe zum sermo cotidianus, von dem sich die Satire (angeblich) nur im Metrum unterscheidet, ohne darum doch aufzuhören, carmina recte et bene scripta zu bieten121. Hinzu kommt, daß „pedester" bei Horaz auch einfach „in Prosa" bedeuten kann und den Gegensatz zur exakt metrischen Form überhaupt bezeichnet. So enthält c. 2,12,9 (recusatio) die Aufforderung an Mäcenas, die Taten des Kaisers lieber nicht poetisch, sondern „pedestribus historiis" zu schildern. Gegenbegriff ist hier die lyrische Poesie (V.3f., 12 f.), und „pedester" meint nicht „schmucklos, unpathetisch, umgangssprachlich" in metrischer Form, sondern literarische Produktion άνευ μέτρου. Das einzige Mal, da das Wort vor Prudentius überhaupt noch innerhalb der Poesie vorkommt, ist eine Stelle bei Martial: divitibus poteris Musas elegosque sonantes mittere: pauperibus munera πεζά dato! (7,46,5f.). Der Gegensatz, den hier πεζός bildet, ist innerpoetisch, natürlich einfach dadurch, daß er in einem Gedieht vorkommt oder Gedichte, in diesem Fall Epigramme, meint, wenn nicht gar, wie das allgemeine „Musae" andeutet, Poesie überhaupt abgelehnt wird, einschließlich der Elegie, die sich ihrerseits in der römischen Literatur als „carmen humile" zu bezeichnen liebt122. Die Martialstelle, die auch wegen der Selbstbenennung des Autors als „pauper" Erwähnung verdient, zeigt noch einmal, wie wenig Begriffscharakter das Wort „pedester" hat. Innerhalb der Poesie als Gegen-Metapher entstanden (πεζός νόμος, Musa pedestris), konnte es sich gleichzeitig, bei der geringen Bedeutung des Metrums für die antike Poetik und dem nur relativen Unterschied zwischen Poesie und Prosa, auf die Prosa beziehen, also den Gegensatz der oratio soluta zur Dichtung ausdrücken. Feste Stilkategorie ist es freilich nicht geworden. 121 U. Knoche, Die römische Satire (1957) 27. Stilistisch gehört 'Musa pedestris' zu den Oxymora einerseits — wie sat. 2,4,74; ep. 2,1,233; 2,2,60, vgl. Debrunner, Mus.Helv. 1 (1944) 31 ff. —, zu den 'understatements' andererseits — wie etwa sat. 1,4,39 f. 54; 2,1,28 f., vgl. d'Alton a.a.O. 380 u. ö. Der Kontext entscheidet über den Sinn des Wortes: da 'Musa pedestris' Formelement ist, im Unterschied zu 'historiae pedestres' c. 2,12,9, darf das Adjektiv nicht zugunsten der gängigen Bedeutungsgeschichte aus dem Zusammenhang herausgelöst werden. 122 Z.B. Prop.2,10,11; 3,17,39.

e) pedestre carmen

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Wichtig ist das Distichon Martials aber nun vor allem deswegen, weil es den griechischen Ursprung des Wortes deutlich anzeigt. Noch in der Kaiserzeit wird es als Fremdwort empfunden. Das bestätigt uns sogleich ein Satz Quintillians, der betont, Plato habe einen höheren Stil geschrieben als nur „prosam orationem et quam Graeci vocabant pedestrem" (inst. or. 10,1,81). Das hat laut Diog.Laert. 3,37 zuerst Aristoteles gesagt (frg. 73 3 Rose; vgl. poet. 1447 Β; rhet. 1404 Β)123. Auch Cicero versucht, die Kunstrede des rechten Orator sowohl von der Poesie als auch von der historischen und philosophischen Prosa abzusetzen (or. 19f.): Plato und Demosthenes enthalten mehr Poesie als die Komödie, auch ohne Metrum124. Somit bedeutet das Übersetzungslehnwort pedester zwar „in Prosa", reicht aber als bloße Antithese zur Poesie oder als Umschreibung der oratio soluta, wie sie „in sermone et epistulis" üblich ist (Quint. 9,4,19), zur Kennzeichnung der Kunstprosa nicht aus. Der Gegensatz von „hoch" und „nieder" als Kontrastierung von Poesie und Prosa (oder Prosa-Nähe beim Vers) war für die Abgrenzung rhetorischer Prosa gegen sermo und oratio ebenfalls üblich (Cie. or. 19,64). Da die nachperipatetische Stillehre überwiegend mit einem mindestens dreigliedrigen System arbeitete125, reichte das dual orientierte Wort pedester nicht aus und mußte, dachte man von der Kunstprosa her, seinen Sinn verändern — falls man es übernehmen wollte. Das hat es auch wirklich getan, als es seit dem vierten Jahrhundert häufiger benutzt wurde. Die Frage war also: sollte man es als Übersetzurigslehnwort zur (relativen) Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa ohne kategorialen Charakter weiterverwenden oder ihm den wertenden Sinn beigeben, den es im Munde des römischen Rhetoriklehrers bekommen hatte? Doch zunächst: wer sind nun die Graeci, die Quintilian apostrophiert? Einer von ihnen ist Plutarch, der nicht nur die Auskunft Quintilians bestätigt, sondern den Gegensatz von „hoher Poesie" und „niederer Prosa" auch stilgeschichtlich fixiert, zwangsläufig in unhistorischer Darstellung126. Damit deckt sich, was die Bedeutung von πεζός betrifft, die berühmte Stelle bei Strabo, die Norden ebenfalls besprochen und eingeordnet hat127. Ferner gehören dahin Äußerungen Lukians und des Rhetors Aristides12S. Ihnen allen ist, der verschiedenen Theorien ungeachtet, die durchgehende Identität von πεζός und „in Prosa" gemein123 Brink 124 125 12« 127 128

F. Walsdorf, Die antiken Urteile über Piatons Stil (1927). d'Alton a.a.O. 442; a.a.O. 1213. Vgl. Kroll z. St. d'Alton a.a.O. 68 ff. bespricht das Material eingehend. Plut. Pyth. orac. 24, p.406 E/F. Behandelt bei Norden, Kunstprosa 1,32 ff. Strabo 1, p. 18 C. Norden a.a.O. Lukian de conscr. arte 8; Aristid. or. 8 (1,84 Dind.).

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sam (Prosa = πεζή φράσις)129. Gelegentlich heißen die Prosaschriftsteller allgemein πεζοί130. Aber auch bei den Griechen kann πεζός, ohne seinen Sinn zu verändern, negativ oder positiv bewertet sein, und zwar bildet es, seiner Herkunft entsprechend, oft auch einen Gegensatz zur Kunstprosa. Wenn nämlich Lukian von einem Hypomnema sagt, es sei „nackt" im Stil, völlig πεζόν καί χαμαιπετές, improvisiert wie das Tagebuch eines Soldaten, Maurers oder Schankwirts131, liegt das auf der Linie der Bemühung um eine Definition des historiographischen Stils seit der Kaiserzeit132 und unterscheidet den Stil der commentarii von künstlerischer Geschichtsschreibung. Dadurch verliert natürlich der Ausdruck πεζός mehr und mehr seinen bildlichen Gehalt und antithetischen Charakter, ja sogar seine literarische Qualität, und indem es dem dreigliedrigen Schema Poesie-Kunstprosasermo cotidianus eingefügt wird, bedeutet es am Ende nur noch „niedrig", also etwa soviel wie humilis133. Der ursprünglich gegebene Gegensatz zur Poesie kann für den, der alles außerhalb der Dichtung als πεζόν verachtet, zwar wieder aufleben134, spielt aber nur noch eine untergeordnete Rolle. Man muß aber feststellen, daß neben der objektiv-neutralen Verwendung des Wortes auch die wertende Funktion um sich greift, und das um so mehr, je weiter man sich vom ursprünglichen Bild entfernt. πεζός λόγος bezeichnet dann im griechischen Christentum nur noch den Gegensatz zum hohen Stil der „Sophisten" und „Rhetoren"135. Dabei zeigt Gregor vonNazianz, wie übertragbar der Ausdruck πεζός bereits geworden ist: er ist gleichbedeutend mit κάτω μένων und meint die christliche Philosophie136. Der literarische Gehalt des Wortes ist da also gar nicht mehr erkennbar. Im Westen sind die Belege naturgemäß sehr viel spärlicher, lassen aber gut die beiden Richtungen erkennen, die der Bedeutungswandel des 129 Pausan. 4,6,1; Dio Cass. 69,3; Dion. Hai. comp. 25; Lukian a.a.O.; Ammon. p. 131; Plut. moral, p. 747 F; Porphyr, b. Suda p.1086 Bekker. 130 Hermogenes p. 386,16 Rabe u.a. Alles andere Material bei Liddell-Scott s.v. πεζός, πεζογραφεΐν usw. Wie aus ihm hervorgeht, kennt schon die attische Komödie das Wort im weiteren Sinne, so Eupolis frg. 109 K; Plato com. frg. 155 Κ. (vgl. Theopomp hist. 205): es bedeutet aber gleichwohl άνευ μέλους (όργάνου), wie Photios zu πεζή αύλητρίς (Plato com. a.a.O.) anmerkt, bewegt sich also durchaus im Kontrast Poesie —Prosa, wenn auch mit Bezug auf Personen (die Einstufung als 'ordinary, common', Liddell-Scott s.v., läßt das nicht mehr erkennen). 131 Lukian hist. sacr. 16. 132 Quint. 10,1,31, vgl. Lukians πεζή ποιητική: hist.conscr.8; Plin.ep.5,8,4ff.; Norden, Kunstpr. 1,176 ff; P. Scheller, De hellenistica historiae conscribendae arte (1911) 63 ff. 133 Das deutet sich bereits an bei Plut. polit. praec. p. 804 C. 134 Lukian Demosth. enc. 5. 135 [Isid.Peius.] ep.4,67; 5,281 (PG 78, 1124 u. 1500). 13« Greg. Naz. ep.8,2 (PG 37,37 A); vgl. Greg.Nyss.de inf. (PG 46, 164 D).

e) pedestre carmen

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Ubersetzungslehnworts einschlägt. Sie entsprechen im übrigen durchaus dem Weg, den das Wort im Griechischen genommen hat. Die ersten Belege stammen, wie erwähnt, erst wieder aus dem vierten Jahrhundert, und da zunächst aus dem Lehrbuch. Eine Wertimg fehlt ihnen völlig, aber sie zeigen auch, wie wenig brauchbar der Ausdruck für die Stiltheorie war. So schreibt der Grammatiker Terentianus Maurus zu Beginn des vierten Jahrhunderts, der Creticus sei nicht nur in der Poesie beliebt und wichtig, sondern diene auch der „pedestris gloria", d.h. der „ars prosa oratorum" 137 . Daß die Kunstprosa gemeint ist, ergibt sich auch daraus, daß ja der Creticus als Klausel eine große Rolle gespielt hat. Ein zweites Zeugnis desselben Autors spricht dagegen von der Redeweise, die sich im Rahmen der „pedestris modestia" hält138. Nimmt man beide Stellen zusammen, dann zeigt sich noch einmal, daß „pedester" in sich nicht selbständig genug war, um eine eigenwertige Kategorie zur Bestimmung des Prosa-Stils zu bilden: der Ausdruck bedarf auch materiell eines Beziehungswortes, damit die gemeinte Stilhöhe der Prosa deutlich wird. Ein halbes Jahrhundert später steht das Wort wieder eindeutig korrekt im Sinne der griechischen πεζή φράσις, und zwar bei Symmachus, der es relativ häufig benutzt, aber immer nur als Bezeichnung der Prosa im Unterschied zur Poesie, ohne auf Abstufungen innerhalb der Prosa zu reflektieren und damit einem wertenden Bedeutungsgehalt Vorschub zu leisten139. Terminus ante quem für diese Äußerungen ist das Jahr 376140. Bis zu zwanzig Jahren weiter herab führen uns nun zwei Stellen aus den Briefen des Hieronymus. Sie bezeugen eine bemerkenswerte, aber aus dem Griechischen ebenfalls bekannte Veränderung im Wortgebrauch, insofern beide Stellen mit „pedester" einen Unterschied zu Poesie und Prosa bzw. zur Kunstprosa bezeichnen, einmal mehr neutral und sachlich, als dritte Größe neben versus und prosa141, das zweite Mal deutlich wertend und den Gegensatz im Sinne des christlichen sermo humilis legitimierend. Die Rolle des Wortes wird an dieser zweiten Stelle besonders greifbar, da Hieronymus die Antithese ausführlich beschreibt142. 137 Ter.Maur. V. 1445 ff.; primus iste pes locatur his ubique versibus, optimus pes et melodis et pedestri gloriae. Dazu Norden, Kunstpr. 926 f. 138 A.a.O. 294: sermo si planus pedestri se tenet modestia. 139 Symm. ep.1,3,2: adprime Calles epicam disciplinam, non minus pedestrem lituum doctus inflare; ep. 1,14,1: nec mirum, si eloquii nostri vena tenuata est, quam dudum neque illius poematis tuis neque pedestrium voluminum Iectione iuvisti. Das „Lob des Adressaten" schließt hier jeglichen negativen Sinn des Wortes aus! So steht es auch mit "pedestre opus' in Auson. ep. 16,78 (p. 176 Schenkl).

«ο Seeck Ausg. LXXIII f. 141

Über das Buch Hiob: prosa incipit, versu labitur, pedestri sermone finitur, ep.53,8,3 (ca. 395). H2 pedestris et cotidianae similis et nullam lucubrationem redolens oratio necessaria est, quae rem explicet, sensum edisserat, obscura manifested non quae com-

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

Nicht minder wichtig ist nun, daß Hieronymus dabei den Ausdruck „pedester" auf seinen eigenen Stil bezieht. Das ist nämlich neu gegenüber den bisher besprochenen lateinischen Belegen. Wer nun aber meint, das sei „christlich", wird enttäuscht. Denn sehen wir auf zeitgenössische Parallelen, so deckt sich der Sprachgebrauch des Hieronymus mit der Historia Augusta: Vit.Prob.21,1 heißt „pedester sermo" soviel wie anspruchslose, dem epideiktischen oder panegyrischen Stil entgegengesetzte Redeweise — und zwar die eigene. Der Autor versichert, die Liebe zum Kaiser habe ihn selbstvergessen gemacht und ihn weiter fortgerissen, als es einem sermo pedester zukomme, d.h. einer sachlichen und anspruchslosen Darstellung 143 . Technisch kann das nicht gemeint sein, da die Historie (im Unterschied zur Gerichtsrede) zu dieser Zeit nicht mehr zur πεζή φράσις zählte und außerdem der Autor alles andere als schmucklose Prosa schreibt144. Da die ganze Äußerung zudem einer Regressionsformel entspricht, muß sermo pedester als Bescheidenheitsäußerung gelten: die pagane Parallele zu Hieronymus. Selbst wenn man nun eine lineare Bedeutungsentwicklung des Ausdrucks „pedester" nicht annehmen will und bei Symmachus auch in diesem Fall archaiisierende oder gräzisierende Tendenz unterstellt, wird man doch die Abfassung des Textes aus Hist. Aug. nicht vor ca. 370 ansetzen dürfen. Die Obereinstimmung mit den Belegen aus Hieronymus (zwischen 385 und 394 n. Chr.) gegenüber sämtlichen früheren dürfte vielmehr ein genügendes sprachgeschichtliches Indiz für spätere Datierung dieses umstrittenen Corpus bieten. Das läßt sich glücklicherweise mit Hilfe einer zweiten Stelle aus der Hist. Aug. noch bekräftigen. Mit ihr sind wir zugleich bei einem Komplex von Beispielen, die erneut ein wichtiges gemeinsames Merkmal aufweisen: die formgeschichtliche Rolle des Wortes „pedester". Es kommt nämlich in allen nunmehr zu behandelnden Belegen ausschließlich in der Praefatio vor, als einfache oder — bei Christen — als biblisch legitimierte Bescheidenheitsäußerung. So zunächst also wieder in der Hist. Aug.: scriptis iam pluribus libris non historico nec diserto, sed pedestri adloquio, ad eam temporum venimus . . . 1 4 5 . positione verborum frondescat, ep. 36,14 (ca. 385). Der Gegensatz sind die argumenta Aristotelis, die floscula Quintiliani, das flumen eloquentiae Ciceros. Parallelen dieser Art sind bekannt genug. 1 4 3 longius amore imperatoris optimi progredior quam pedester sermo desiderat. quare addam illud, quod praecipue tanto viro fatalem properavit necessitatem. ι * * H. Peter, Die Scriptores Hist. Aug. (1892) 167/71. Parallele Äußerungen ebd. 18. — Hardtke a.a.O. 406 f.; J. Straub, Heidnische Geschichtsapologetik in der christlichen Spätantike (1963) 81 ff. 145 trig. tyr. 1,1, vgl. 11,6; 33,8. Zum 'tralazistischen Gut' der Praefationen in H A : E. Hohl, Klio 27 (1934) 163 u. Bursians Jb.256 (1937) 154f. Die Verwendung von pedester deckt sich freilich nur mit Hieronymus u. Vegetius, literarische Beziehungen jedoch werden dadurch nicht bewiesen. Was Straub a.a.O. zur Abhängigkeit

e) pedestre carmen

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Inhalt und Funktion des Wortes sind hier ebenso ersichtlich wie bei Vegetius: cedens itaque familiarum honestissimae voluntati ex diversis auctoribus enucleata collegi pedestrique sermone in libellum parvissimum contuli; cuius erit praecipua felicitas, si eum nec scholasticus fastidiat et bubulcus intelligat (mulom. 4, praef. 2). Das entspricht zweckgebundener Fachschriftstellerei, ist aber zugleich Topos der Praefatio. Ihn bieten christliche Autoren im ähnlichen Sinne, nur eben christianisiert und biblisch fundiert, analog den oben aufgeführten Zeugnissen aus dem griechischen Christentum 146 . „pedester" ist in all diesen Fällen also am Gegensatz zur Kunstprosa orientiert und bezeichnet, als Bescheidenheitstopos der Praefatio, den eigenen Stil. Mit anderen Worten: der Ausdruck geht in das rhetorische Vokabular der 'affectata modestia' über. Ein Blick auf das „rhetorische Vokabular" darf auch deswegen nicht fehlen, weil die Gegenbegriffe zu „pedester", nämlich „currus", „cothurnus", „cursus" usw., ehedem Metaphern für „hohe" Poesie (Dichtung als Wagen oder Kothurn), gleichfalls auf den Prosastil übertragen worden sind und dann die hochrhetorische Redeweise bezeichneten147. Interessant ist dabei, daß sich bestätigt, was wir an den griechischen Belegen beobachtet haben: die Spätzeit empfindet nicht mehr in pedester bzw. πεζός das ursprüngliche Bild. Nirgendwo sind nämlich pedester und currus usw. aufeinander bezogen, sondern Gegenbegriffe sind stets disertus, compositus usw. Die beiden Belege aus Hist. Aug. und Vegetius, die beide dicht an das Jahr 400 n. Chr. heranführen, geben uns nun das Verständnis des Ausder HA von Hieronymus beibringt, ist anderer Art, paßt aber gut zu unserem Befund. 1 4 6 Oben bei Anm. 135 f. Das Wort haben dann ferner Cassiod. inst. 1,6,2; Caes. Arel. sermo 1,13 (p. 12,143). Isid. et. 2,17,2: pedestri more loquendum (hier außerhalb der Vorrede). 1 4 7 cothurnus: Bruhn a.a.O. 46/50 neigt dazu, im Anschluß an Norden, Kunstprosa 636, „cothurnus" mit „Gallicanus cothurnus" gleichzusetzen. Das trifft nicht zu. Symm. ep. 9,88,3 sagt noch einfach Gallica facundia und gebraucht cothurnus auch unabhängig von Gallien: ep. 1,89,1; or.2,26. cothurnus = Tragödie noch Quint. 10,2,22; Plin. ep. 9,7,2, dann wieder Ap.Sid. c. 18,3 f. — Zu den frühen Stellen gehört Hier. ep. 37,3, vgl. dazu auch P. Antin, RevBen 1947, 82/8; aber Symm. ep. 1,89,1 muß herangezogen werden, auch wegen der bezeichnend unanschaulichen Formulierung (cothurnus . . . vehit neben loquendi phalerae und pigmenta). Gerade Symmachus zeigt nämlich, wie wenig bildlicher Gehalt noch im Wort gesehen wird. So gehen auch in ep. 10,2,5 currus, humilis, reptare, soccus, cothurnus durcheinander. — Für „sine cothurno" in der Bescheidenheitstopik der Praefatio — was pedester entspricht — s. Sulp. Sev. dial. 1,26; Hilar, in Gen. 5 (rauca quidem stridens et nullis digna cothurnis . . . ingeniumque iacens . . . ) . Dahin gehört dann auch Paul. Nol. c. 27,372: parvus humo et piano modici pede carminis ibo, ebenfalls als Entsprechung zum „pedester" des Prudentius; vgl. Ven.Fort.2, p. 49 ego . . . humilis in sermone inter Gallicanos cothurnos . . . piano pede ire . . . — „phalerae": Bruhn a.a.O. 44.

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drucks „pedestre carmen" bei Prudentius an die Hand. Der Dichter überträgt nämlich einen zu seiner Zeit nur als Gegensatz zur Kunstprosa möglichen Begriff auf seine eigene Dichtung (die Annahme, er wolle sie als poetische Prosa kennzeichnen, scheidet ja von vornherein aus), kombiniert also zwei Ausdrücke, die sich, sprachgeschichtlich gesehen, überhaupt nicht vertragen. Die contradictio in adiecto erklärt sich nun einfach daraus, daß Prudentius das Wort „pedester" nicht nur ohne alle metaphorische Qualität und antithetische Bedeutung übernimmt, sondern auch einen Unterschied zwischen Poesie und Prosa nicht empfindet, wenn es sich um Äußerungen über den Autor und seinen Stil handelt. Die Topik der Selbstaussage wird unmittelbar in die Poesie übernommen, und pedester steht als Bescheidenheitsäußerung gemäß rhetorischer Tradition, ohne Rücksicht auf die Gattimg. Daß die Behauptung auch insofern rhetorisch ist, als sie ausgerechnet auf den Stil des Prudentius am allerwenigsten zutrifft, bedarf keines Wortes, und schon das Nebeneinander von Jamben und Trochäen hier, von „pedester" dort beweist, daß „carmen pedestre" im Sinne der zeitgenössischen Parallelen, die sämtlich aus der Prosa stammen, als stübezogene Bescheidenheitsaussage zu verstehen ist. Darüber hinaus haben wir klären können, daß Prudentius um dieses Topos willen eine sprach- und stilgeschichtlich widersinnige Junktur bildet, indem er ein Element des rhetorischen Vokabulars, das nur innerhalb der Prosa Sinn hat, in die Poesie überträgt. Das Ergebnis ist eine christlich spiritualisierte captatio benevolentiae. Was Prudentius mit den genannten Topoi tut, widerfährt auch dem Wort „pedester": es verliert außer seinem metaphorischen Charakter (so auch die Zeitgenossen) auch seine nur in der Prosa sinnvolle Funktion, ohne irgend etwas von seinem „affektierten" Charakter aufzugeben. Im Gegenteil: derart exklusive Metra sind natürlich noch viel weniger „pedestria" als gepflegter Prosa-Stil. Zu erklären ist das weder „christlich" noch „klassizistisch", sondern einzig und allein rhetorisch. Damit nähern wir uns schließlich der formgeschichtlichen Bedeutung dieser Junktur. Wichtig ist nämlich nicht allein, daß Prudentius einen Begriff der Bescheidenheitstopik der zeitgenössischen Literatur entnimmt und ihn samt der ganzen captatio benevolentiae, die ihn umgibt, „auf Gott hin" spiritualisiert — Christianisierung als erbauliche Katachrese literarischer Topik und Terminologie —, sondern ihn, genau wie die Hist. Aug., Veget. und alle späteren christlichen Belege, in einem Rahmenstück bietet148. Da dieses Rahmenstück an den Vergleichsstellen nun jedesmal die Praefatio ist, möchte man schließen, daß auch der sog. Epilogus ur148 Denn auch Hist. Aug. Prob. 21,1 und Hier. 36,14 sind ja Einschub. Im Unterschied zu allen anderen Belegen handelt es sich da um die Reflexion auf den eigenen Stil.

f) Bekenntnis und Bescheidenheit. — 1. Per. 2,573/84

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sprünglich eine Praefatio oder ein Proömium war, das wichtige Elemente aus der Prosa-Vorrede übernommen hat. f) Bekenntnis

und

Bescheidenheit

1. Per. 2,573/84 Stellen wir die Verse 11 und 12 des sog. Epilogus nun noch einmal in den Zusammenhang mit der voraufgehenden Partie, so bleibt noch zu zeigen, daß die Verbindung von „Sünde" (hier: sanctitatis indigi) und „Unwert" (hier: pedester), also jener beiden Elemente, die auch den spätantik-christlichen Demutsgedanken geschaffen haben, — daß diese Verbindung im Rahmen der Selbstaussage etliche spätantike Parallelen hat, nicht zuletzt bei Prudentius selbst. Derselbe Vorgang, der jener Kombination von „Sünde" und „Armut" zugrunde liegt, hat, und zwar viel häufiger, eine Verschmelzung von „Sünde" und (literarischem) „Unwert" hervorgebracht. Es handelt sich da um einen Prozeß, in dem die rhetorischen Selbstbezichtigungen der Geistesarmut, Unbeholfenheit und literarischen Sterilität mit Bibelstellen oder Bekenntnisformulierungen verschmelzen. Daß mindestens der ganze erste Teil des sog. Epilogus nur auf dem Hintergrund dieses Fusionsprozesses zutreffend interpretiert werden kann, hat die bisherige Analyse immer wieder gezeigt, läßt sich aber am Komplex Sünde-Unwert noch einmal klarmachen. Das bekannteste Beispiel für die Verschmelzimg von Bekenntnis oder Bibel und Konvention auf dem Gebiet der Literatur ist die biblizistische Fundierung der eigenen rusticitas, einschließlich der christlichen Neubildung jenes berühmten Ausdrucks sermo piscatorius 149 . Der Gedanke ist apologetischer Herkunft, hatte aber mehr und mehr in der Praefatio Platz gefunden, woraus sich am besten erklärt, daß dieser „Theorie" die wirkliche Praxis der christlichen Schriftsteller ebensowenig entsprach wie die Behauptung vom literarisch-enzyklopädischen Charakter der Bibel. So ist nicht etwa nur das Vokabular der Selbstherabsetzung, sondern auch die „positive" rhetorische Terminologie christianisiert worden, und zwar ist das zuerst und vor allem in der christlichen Epistolographie des vierten und fünften Jahrhunderts geschehen, besonders im Rahmen der „laus epistulae acceptae". Was Prudentius dieser Rezeption des „positiven" rhetorischen Vokabulars verdankt, läßt sich am besten an Hand der Praefationen zu contra Symmachum zeigen 150 . „Negative" Selbstaussagen, mit denen wir es im sog. Epilogus zu tun haben, sind jedoch viel ausgiebiger als das positive Vokabular umgedeutet worden. Wir beschränken uns daher für unseren Zusammenhang auf Vergleichsstellen bei Prudentius und ihre zeitgenössischen Parallelen. Daß es sich bei der Zuordnung von „Unheiligkeit" und „Anspruchs149 Bruhn a.a.O. 2 0 f . ; Fuchs a.a.O. 351 ff.; Unters.II, 137ff. 150 Ausführlicher Unters. II, 149 ff.

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losigkeit", von Sündenbekenntnis (hier außerdem noch „Armut") und Bescheidenheitstopik u m ein festes Motiv handelt, zeigt etwa der bereits erwähnte Schluß von Per. 2: hos inter, ο Christi decus, audi poetam rusticum, cordis fatentem crimina et facta prodentem sua; indignus, agnosco et scio, quem Christus ipse exaudiat, sed per patronas martyras potest medellam consequi. audi benignus supplicem Christi reum Prudentium, et servientem corpori absolve vinclis saeculi (V. 573/84). Da steht „poeta rusticus" neben „indignus" I 5 1 , „supplex" und „reus" neben „Prudentius" — dies übrigens die einzige Stelle im Gesamtwerk, die den Namen des Dichters bietet: sollte die „Sphragis" hier als Per. 2 wirklich ihren ursprünglichen Platz haben? Passen würde sie am besten zu einem Anfangs- oder Schlußgedicht 152 . Man ist zunächst versucht, das Beiwort „rusticus" lediglich in Analogie zu Wendungen wie „nostra rusticitas" aufzufassen 1 5 3 , also f ü r eine „affektierte" Beteuerung der eigenen Unbildung zu halten, so wenig es sich, im Unterschied zu „pedestre carmen", auf den Stil bezieht. So verstanden, beschränkte sich das Adjektiv „rusticus" auf die metonymische Funktion in der Bescheidenheitsaussage und entspräche etwa Ausdrücken wie simplex oder humilis (in seiner Bedeutung vor etwa 390), Gegensatz z.B. zu urbanus, doctus, disertus, elegans 154 . 151 Zu „indignus" s. o. bei und mit Anm. 104; vgl. Apoth. 742: indignus, qui sancta canam. Zur Herkunft s. o. Anm. 110. Per. 577 zeigt gut den Ersatz der Christologie durch die Martyrologie: Übertragung der remissio peccatorum von Christus auf den Heiligen wegen der Größe der Sünde. Christus ist zu schwach zur Sündenvergebung — eine sehr fragwürdige Theologie! Was bedeutet sie dogmengeschichtlich? Die patristische Poesie hat mitgeholfen, Christus aus dem Zentrum der biblischen Botschaft zu verdrängen, indem sie diese literarisch umprägt und unter dem Einfluß höfisch-panegyrischen Stils humanisiert. Martyrologie und politische Vorstellungen sind eng verwandt (s.u. Anm. 155). Die angebliche Synthese zwischen je originärem Christentum und Römertum, wie sie u. a. Hagenauer, Die Synthese von nationalröm. Kulturgut u. christl. Ideengehalt im Werke d. Prudentius, Diss. Wien 1955, erneut behauptet, wäre teuer bezahlt! 152 Zur Lokalisierung der Sphragis vgl. Niedermeier a.a.O. 9 f. u. ö. 153 „nostra rusticitas" u.a. Symm.ep.8,42; Hier.ep.51,2; häufig, als Spiel mit dem eigenen Namen, bei Ruricius, z.B. 1,4,2; 2,18,5; 2,38,1; 2,41,2. — Zu „rusticitas" allgemein vgl. u.a. Forcellini s.v. 154 „rusticus" kulturell, ebenfalls als Bescheidenheitstopos, aber meist werkbezogen, d.h. nicht so sehr im Blick auf den Status der Person gegenüber einem

f ) B e k e n n t n i s u n d Bescheidenheit. — 1. Per. 2,573/84

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Sieht man sich nun aber den Kontext näher an, dann ist der Sinn des Wortes wesentlich konkreter; denn die zitierten Verse gehören in den Rahmen einer christianisierten Laus Romae, die in V.529 beginnt (o ter quaterque et septies / beatus urbis incola . . . , vgl. u. a. Verg. Aen. 1, 94; Ovid trist. 3,12,25 ff.) und mit einem Nachklang „relativischer Prädikation" (Norden) fortfährt (V. 531/6). Der Gegensatz zwischen „beatus urbis incola" (V.530) und „nos" (537/40), „qui caremus his bonis" (545), nämlich von Roms Reichtum an „sepulcra sacra" (544, vgl. Per. 11, 1 f. sowie Paul. Nol. c. 13,29 f.) und kultisch zurückgebliebener Provinz, die von solchen Schätzen kaum etwas weiß (541 f., vgl. die Empfehlungen in Per. 11). Spanien selbst wird beschrieben in V. 537/40 (nos Vasco Hiberus dividit...). Daraus folgt nun, daß in V. 536/40 Prudentius mitnichten auf die Beschreibung seines Wohn- oder Geburtsortes hinaus will, wie neuerdings wieder Lana gemeint hat (a.a.O. 6 ff., erneut ein Beispiel für die biographische Fehldeutung literarisch ζ ι verstehender „ H ö h e r s t e h e n d e n " (analog „ m e a p a r v i t a s " ) u n d v o n d a h e r f o r m e l h a f t , s o n d e r n als „rusticitas v e r b o r u m " u s w . gemeint. M a t e r i a l d a z u b e i B r u h n a.a.O. 21 f. 27. Ferner C a l p . e c l . 4 / 1 4 f . : rusticitas m e a g e g e n ars polita; Hier, in I o n . 3 , 6 / 9 (p. 100 A n t i n ) : . . . deposito f u l g o r e e l o q u e n t i a e et o r n a m e n t i s ac decore v e r b o r u m totos se simplicitati e t rusticitati t r a d e r e ; in O s . 1 , 2 (PL 25,835 C ) : c u r a rusticae simplicitatis, q u a e meretricia o r n a m e n t a n o n q u a e r i t ; ep. 52,9. So auch Caes. A r e l . s . 1 , 1 (mit biblizistischer F u n d i e r u n g durch M t . 7 , 5 ) ; 1 , 2 (rustico q u i d e m et i m p e r i t o ) ; 1 , 2 1 (rusticissima suggestio). Für „ a g r e s t i s " (meton.) gilt dasselbe wie f ü r „ r u s t i c u s " , s . T h L L 1,1418, 81—1419,76. Gleichbedeutend sind i n h u m a n u s , inconditus, incultus etc., vgl. u . a . Liv. 1 0 , 4 , 9 ; Sen. b e n e f . 4 , 6 , 5 ; F r o n t o p. 5 1 , 9 N . ; Gell. η. A. pr. 12; P a u l . N o l . c . l p r . l (terrenum aliquid et a g r e s t e praebere). Bei P r u d e n t i u s selbst: c. S y m m . l , 7 9 f . ! D i e „rusticitas" f a n d in d e r A n t i k e sowohl negative wie positive W e r t u n g : Verachtung des Bäurischen u n d der U n b i l d u n g dort, Preis des einfachen, u n v e r b i l d e t e n Lebens hier. Die C h r i s t e n h a b e n beides ü b e r n o m m e n ; das positive Urteil ü b e r die „ r u s t i citas" der biblischen Schriftsteller stellten sie d e m n e g a t i v e n der reaction pai'enne entgegen, das negative w e n d e t e n sie im Sinne der „ a f f e c t a t a m o d e s t i a " auf sich selbst an. Schließlich v e r b a n d sich beides z u einem spezifisch christlichen P r a e f a t i o Topos, u n d das bedeutete, d a ß die B e h a u p t u n g v o n d e r „ r u s t i c i t a s " biblischer Schriftsteller konventionell w u r d e u n d u m so w e n i g e r e r n s t z u n e h m e n w a r , als ja doch gleichzeitig auch die Bibel als literarisches Vorbild gelten sollte; vgl. z u m G a n z e n die Literatur in Unters. II, A n m . 58 ff. E. A u e r b a c h , Literatursprache u n d P u b l i k u m i. d. lat. S p ä t a n t i k e u n d im M A (Bern 1958) h a t d e n topischen u n d bereits vorchristlichen C h a r a k t e r der R e d e v o m sermo h u m i l i s v e r k a n n t ; vgl. D. N o r b e r g , G n o m o n 32 (1960) 186/88. H i e r o n y m u s , der sich g e g e n eine ideologische U b e r s c h ä t z u n g d e r „rusticitas" w e h r t u n d i h r e n n u r rhetorischen G e b r a u c h z u sichern versucht ( e p . 2 7 , 1 ; 5 7 , 1 2 gegen die Gleichung v o n rusticitas u n d sanctitas), bietet das W o r t oder eines seiner Ä q u i v a l e n t e d a n n noch in einem P a r a d o x o n im Sinne v o n ep. 1 2 3 , 1 (rüdem a r t i s elegantia), nämlich ep. 18 A , 4 : melius v e r a rustice q u a m diserte f a l s a p r o f e r r e , vgl. ep. 2 0 , 5 ; ep. 5 2 , 9 : rusticitas s a n c t a — e l o q u e n t i a peccatrix; ep. 6 2 , 2 : pia rusticitas docta b l a s p h e m i a ; i n E p h e s . 3 prol. (PL 26,515 B): magis ego velim rusticitatem i u s t a m q u a m d o c t a m m a l i t i a m ; ähnlich in Job prol. (PL 2 9 , 6 1 B). Ü b e r w i e g e n d also Brief- o d e r Praefatio-Stellen. D i e H e r k u n f t des P a r a d o x o n s zeigt M a r t i a l 10,72 (rustica Veritas); C y p r . D o n a t . 2 ( n o n culto s e r m o n e f u c a t a , sed r u d i veritate simplicia); S y m m . e p . 3 , 8 2 , 2 (quae n o s inculta veritate n a r r a v i m u s ) .

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

Angaben). Der Gegensatz zwischen christlichem Rom und spanischer Provinz wird sodann aber aufgehoben. Denn Laurentius, nunmehr „consul perennis" (560) in der „Roma caelestis" (559), ist als Bewohner der „arx aeternae curiae" (555) 155 jetzt auch Nicht-Römern zugänglich (derselbe Gedanke auch im Cyprianhymnus Per. 13,3 ff., 99 ff.), also außer den „alumni urbici" (574) auch den „rustici", zu denen sich Prudentius gezählt wissen will156. „rusticus" hat hier also infolge des beschriebenen Unterschiedes zwischen Rom und Spanien durchaus konkreten Gehalt und erinnert deutlich an den gut bezeugten sozial-kulturellen Sinn des Wortes in metonymischer Funktion157. Dabei bleibt es nun aber nicht. Denn der Kontext zeigt, daß der „Ausdruck „rusticus" dreifach christlich gefärbt wird. Erstens erweitert sich im Rahmen der christianisierten Laus Romae der überlieferte Gegensatz von „urbici" und „rustici" o.ä. zum Kontrast zwischen „sedes ossuum" (V. 532) und „Roma plena sanctis" (542, vgl. Paul. Nol. c. 20,30 f.) einerseits, kultisch zurückgebliebener und vom „dives urbanum solum" (543) weit getrennter (536 ff.) spanischer Provinz. In einem zweiten Schritt löst sich das Wort „rusticus" (bzw. seine Äquivalente) vom geographischen Gegensatz und wird im Rahmen der durch das Motiv „aula duplex" (551) vorbereiteten Invocatio (adsies V. 569) zur Inferioritätsäußerung gegenüber dem „decus Christi" (573) 158 . So ergibt sich drittens leicht der Übergang von „rusticus" zu „indignus", „supplex", „reus" usw. (577,581,582). Daher bekommt auch „rusticus" seine theologische Färbung; denn die benachbarten Selbstbezeichnungen haben sich ja ganz von der Laus urbis und dem kultgeographischen Gegensatz zwischen Kapitale und Provinz gelöst, und sie beziehen sich ja auch nicht einmal 155 Das „vollendete" Dasein des Märtyrers wird konsequent in Ausdrücken römischer Verwaltung gegeben (consul, curia usw., vgl. aula duplex v. 551; zu „aula (arx) caelestis", u.a. Per. 14,125, vgl. Art.Arator, JbAC 4, 1961). Das in V. 569/72 folgende Bild (alumni, lactans, sinus, nutrire) verträgt sich damit nicht. 156 Spanien und mit ihm Prudentius haben also am Reichtum des christlichen Rom geistlich durchaus teil. Damit wird Lanas Konstruktion (oben S.33 Anm. 47) hinfällig. Denn erstens handelt es sich in Per. 2,529 ff. um ein vom Dichter liturgisch gefärbtes literarisches Modell (urbani/rusticani), keineswegs aber um eine (psychologisch zu deutende) „innere Krise". Zweitens wird der Gegensatz „urbici-rustici" vom Gedanken an die Roma caelestis ja doch überbrückt, so daß für die (biographische) Überwindung der Krise durch eine Romreise, die Erfüllung der angeblichen „Romhoffnung", gar kein Platz mehr bleibt. Zur Laus Romae des nur wenige Jahre später schreibenden Rutil. Nam. vgl. H. Fuchs, Basl. Zeitschr. f. Gesch. u. Altertumsk. 1943, 37/58. 157 Oben Anm. 154. Zur stärker sozialen und gar rechtlichen Bedeutung von rusticus und rusticitas vgl. nach Hier.ep. 14,11; Claud.laud.Theod. 174/6 u . a . Forcellini s . v . ; Berger, Diet.Rom.Law s.v., sowie: Pallad.9,31; Cod.Just. 1 , 5 5 , 3 . 158 Zu „decus" als Anrede vgl. Unters. II, 155. — Zur Herkunft dieser Art von Inferioritätsäußerungen aus der Epistolographie ebd. 149 ff., ferner oben S.50 Anm. 110.

f) Bekenntnis und Bescheidenheit. — 2. c. Symm. 1 u. 2

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mehr nur auf den Märtyrer, sondern unmittelbar auf Christus. Von „rusticus" freilich gilt das nicht159. Die Junktur „poeta rusticus" nämlich bekommt nur im Rahmen der Invocatio martyris spirituellen Gehalt; „Dichter aus der Provinz", „Poet vom Lande": das bezieht sich sowohl auf das sichtbare Rom als auch auf die Roma caelestis, enthält also neben dem soziologischen Sinn die spirituelle Umdeutung, Pendant zur Beschreibung des „himmlischen Rom" in politischen Ausdrücken. Das Gedicht geht also am Schluß in die Selbstaussage über und enthält, obschon V. 537/40 nicht zu eng gefaßt werden darf, ja doch auch die einzige Auskunft über die Heimat des Dichters, geboten im Anschluß an die Laus Romae. Denn in der Praefatio, wo man am ehesten Aufschluß über die πατρίς erwarten sollte, steht nichts dergleichen. Nur am Schluß von Per. 2 findet man, wie gesagt, auch den Namen des Dichters, gerahmt vom Sündenbekenntnis und von der Selbstbezeichnung als „poeta rusticus". Diese hat autobiographischen Gehalt, verbirgt ihn aber hinter der Laus Romae und der Invocatio. Die literarische Absicht ist unverkennbar und hat mit dem eigentlichen Hymnus nichts mehr zu tun, geschweige denn mit einer angeblich liturgischen Beziehung dieser Hymnen überhaupt. Um so mehr wird man annehmen müssen, daß Per. 2 ursprünglich anders plaziert war. 2. contra Symm. 1 Ende und 2 praef. Die Rahmenstücke der Bücher gegen Symmachus bieten gleichfalls das Nebeneinander von Sündenbekenntnis und Inferioritätsäußerung, auch diesmal mit Hinweis auf Unwert oder Unbeholfenheit, ferner auf das „Wagnis" des Unternehmens. So schreibt Prudentius c. Symm. 1,643/7: non vereor ne me nimium confidere quisquam arguat, ingenüque putet luctamen inire; sum memor ipse mei satis et mea frivola novi. non ausim conferre pedem, nec spicula tantae indocilis fandi coniecta lacessere linguae. 159 Prudentius greift also nicht auf die rhetorische oder stilbezogene Version der Ausdrücke rusticitas, rusticus usw. zurück, sondern auf den sozialkulturellen Unterschied zwischen Urbs und provincia (oben Anm. 154,157), obschon dieser am Ende in der invocatio martyris nichts zu suchen hat. Eine in das literarische Gebet übertragene captatio benevolentiae steckt auf jeden Fall dahinter (vgl.epil.lff.!). Dazu paßt, daß die invocatio nur den Rahmen für die dem Leser zugedachte Selbstaussage bildet. — Autorname im Epilog: in der christlichen Poesie zuerst Commodian instr. 2 , 3 5 (mit dem Zusatz „mendicus Christi"), später Orientius comm. 2,4157 (mit dem Zusatz „peccator", wie Prud. „reus"), vgl. Curtius a.a.O. 503/5, der aber Prud. nicht nennt. Interessant ist, daß ein Nebeneinander von χωρικός und αμαρτωλός als Selbstbezeichnung der byzantinischen Schreibermönche eine Rolle gespielt hat, Wendel, ByzZ 43 (1950) 262f.: das ist abstrakte Demutsformel in der subscriptio, Fortsetzung von Ausdrücken wie „nostra rusticitas" im betont bekenntnishaften Sinn. 5

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Thraede, Prudentius

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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

Danebenstellen darf man sogleich den Schluß der Praefatio zu c.Symm.2 (44/56): sic me tuta silentia egressum dubiis loquax infert lingua periculis, non ut diseipulum Petrum, fidentum et merito et fide, sed quem culpa frequens levem volvat per freta naufragum sum plane temerarius, qui noctis mihi conscius quam vitae in tenebris ago, puppem credere fluetibus tanti non timeam viri, . . . cui mersare facillimum est tractandae indocilem ratis. Die Bildersprache des zweiten Stückes erklärt sich daraus, das Prudentius den „Fluß" von Symmachus' Redegewalt mit den Fluten beim Meerwandel des Petrus (Mt. 1 4 , 2 6 ff.) vergleicht, also einen rhetorischen Terminus mit einer ganzen Perikope biblizistisch fundiert 160 . Die genauere Interpretation ergibt, daß der NT-Text in beiden Praefationen zu c. Symm. nicht exegetische, sondern literarische Funktion hat und mit den Gedichten technisch und assoziativ verknüpft ist, sich also ebenfalls aus dem Prozeß der Topos-Christianisierung erklärt 161 . Mit anderen Worten: die Perikopen aus Apg. und Mt., die beide von „Schiff" und „Meer" erzählen, sind einzig wegen der rhetorischen Ausdrücke flumen, tumor, puppis (Rede als Schiff) gewählt 162 ! Das hat die bisKO Zu „flumen" vgl. Bruhn a.a.O. 43 f. 45; G. Assfahl, Vergleich und Metapher bei Quintilian, Tüb.Beitr.15 (1933) 117f. 120! (Lit.); Unters.II, Anm.144. 1 6 1 Zum Topos „Schwierigkeit", der noch hineinspielt, vgl. ebd. 130 ff. 162 Auch in c. Symm. 1 praef. ist „Rede als Schiff" vorausgesetzt (etwas schief daher das Bild vom remigium stili v. 60). Parallelen bei Assfahl a.a.O. 67 f. An den Komplex Meer—Schiff—Hafen als Metaphern für Existenz, Denken, Kirche usw. ist mindestens zu erinnern, 'naufragus' hat außerdem einen Ansatz in der Epistolographie: der Adressat sei Helfer in Seenot, wie Christus bei der Stillung des Sturmes, versichert Greg. Naz. ep. 44,1 (Paul. Nol. ep.4,3). Das Substrat dieser christlich-persönlichen Redeform (mit Bibeltext) ist allemal, und für Praefatio wie Brief gleichermaßen, die panegyrische Ausdrudesweise. Genaue Parallelen zu beiden PrudentiusProömien sind denn auch sowohl Hier, in Ezech. 40 (PL 25,448 D), wo Verg. Aen. 6, 27 und 5,588 mit Ps.17,12 eingefügt sind, als auch ep. 1,1/2 (mit Aen. 3,193: die Stelle hat ihren Platz in der Schwierigkeitsäußerung seit Quintil. inst. or. 12 praef. 3). Weiteres s. Unters. II, Anm. 38. „Vorhaben als Meer": zuerst in der Poesie (u.a. Aristoph.equ.762; Verg.georg.2, 41; Ovid a. a. 1,771 f.; Claud, gigant. praef.; Greg. Naz. c. 1; Sedul.ep.ad Maced.l; Sid.Ap.c. 2,539; 7,15; Paul. Petr. v. Mart. 2, l / l l ) ; von Cicero in die Prosa übernommen (Tusc. 4, 5, 9; Quint, inst. or. 12 praef.). Außer Curtius a.a.O. 138ff. s. H. Rahner, Ε Υ Π Λ Ο Ι Α : Festschr. T.Michels (1963) i f f . (mit Lit.).

f) Bekenntnis und Bescheidenheit. — 2. c. Symm. 1 u. 2

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herige Forschung auf Grund ihrer Voraussetzungen nicht zu erkennen vermocht, sondern hat die beiden Praefationen als allegorisierende Paraphrase verstanden 163 . Aber das „römische" Diptychon Paulus—Petrus ist nur die eine Seite der Sache — das rhetorische Vokabular die andere. Die zitierten Texte enthalten nun beide eine Selbstherabsetzung angesichts eines überlegenen Gegners ('tantae linguae' l , 6 4 6 f . im Anschluß an die laus Symmachi V. 633/42; tanti viri, quo nunc nemo disertior, 2 praef.55f.). Ausdrücke dieser Selbstherabsetzung sind im ersten Stück „non aus,im" und „indocilis fandi", im zweiten entsprechend: „sum plane temerarius" und „indocilem ratis". „indocilis ( = indoctus)" gehört zur Unfähigkeitstopik wie „pedester" und „rusticus" 164 . Häufig betonte man in der Vorrede auch das „Wagnis des Unternehmens", und zwar vor allem in Ausdrücken vom Stamm „aude-", ferner durch „temeritas", „temerarius" usw. 1 ( 5 . So auch Prudentius. Außer der biblischen Fundierung schießt im zweiten Stück auch „loquax" über, ein Wort, das mit seinen Äquivalenten (garrulus usw.) ebenfalls zu den Understatements gehörte, biblizistisch fundiert häufig mit Prov. 10,19 1 6 6 . Für den Vergleich mit epil. 9/12 interessiert uns ja aber vor allem das Nebeneinander von Sündenbekenntnis und rhetorischer Terminologie. Auch die confessio ist nun ein Element, das nur im zweiten Zitat deutlich hervortritt. Denn in 1 , 6 4 5 'sum memor ipse mei satis5 und c mea frivola novi3 braucht nicht mehr als die eigene literarische Unterlegenheit oder nur so etwas wie „parvitas mea" o. ä. gemeint zu sein. Man erkennt aber, wie leicht sich aus der rhetorischen Version die spirituelle Umdeutung ergeben konnte. Und das zweite Zitat enthält denn auch diese Umdeutung ganz klar. Im gleichen Modell (Selbstherabsetzung) 167 , aber 1 S 3 Nach E. Rapisarda, Le due prefazioni e la natura protrettica del c. Symm. di Prudenzio, Orpheus 4 (1954) 1/10 zuletzt Kurfess a.a.O. 1062. Die in Unters. II, 134 f. dargestellte Funktion des Bibeltextes war bisher nicht erkannt, vgl. oben 10 12 ; 66 l e 2 . 1 6 4 Bruhn a.a.O. 25, ferner z.B. Ambros. virg.2,6,39; ep.48,2 (zu imprudentiae caligo vgl. Paul. Nol.ep. 45,1); Hier. Zach. 1 Prol. (PL 25,1418 B); Paul. Nol.ep. 45,1; tenebrae insipientiae meae (vgl. Prud. noctis meae conscius), biblizistisch fundiert mit „Licht auf meinem Wege", im Lob des Adressaten; ep.5,2 (selbst indoctus gegenüber dem Adressaten); 28,6; 32,9; 50,1; c. 6,21; 21,556; Paul.Petr. v.Mart. 4,12; 6,501. Mit „indocilis fandi" vgl. Cath. 2,46: „fandique prorsus nescii", das freilich Gegenausdrudc ist zu „forensis gloria" V. 41, in einem Passus, der nach Art des Berufsvergleichs — oben S. 31 Anm. 38, Teil a) — dem „miles, togatus, navita, opifex, arator, institutor" — nach Beteuerung eigener Unfähigkeit — das „Christum solum nosse et cantu pio rogare" gegenüberstellt. 1«5 Unters. II, Anm. 44. Am nächsten bei Prud. steht wohl Cledon. gramm. praef. (5,9,8/10 Keil): indevotus me quoque accusante reperiar, adgrediar temeritatis flatibus, aestu procelloso iactabor. est tanti, temerarius corrigar . . . Bruhn a.a.O. 18 (garrulus). 25. — Symm. ep.1,76; 3,82,1; 8,48; Aus.ep.12,2; Paul.Nol.ep.42,5; 49,15; multiloquium = peccatum: Paul.Nol.ep. 19,4; 20,1; 32,4; 42,5. Vgl. Unters. III (JbAC 6,1963) 110 f. (poeta loquax). 167 Oben 62. Vgl. die JbAC 5 (1962) 152 f. behandelten Übereinstimmungen zwischen der Laus Symmachi (c. Symm. 1,632/7) und der Laus Cypriani (Per. 13,9/15)!



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I. Das Selbstverständnis des christlichen Dichters

mit verändertem Inhalt (statt Symmachus: Petrus, statt Sprechen: Glauben) heißt es da: non fidentem . . . , sed quem culpa frequens levem etc., und ferner: sum plane temerarius, dies zweite, wie gezeigt, eindeutig rhetorischer Herkunft und an dieser Stelle auch seine rhetorische Funktion behaltend. Die erste Hälfte des Satzes aber deckt sich, wie man auf den ersten Blick sieht, mit Äußerungen wie „sanctitatis indigi", „reus", „indignus" usw., desgleichen mit dem Grundmotiv der Praefatio („sine meritis"). Es handelt sich dabei also um Konvention! Das muß noch einmal betont werden; denn wir haben ja eingangs festgestellt, daß man bisher Aussagen dieser Art als „Gewissenserforschung" verstanden hat, und zwar wohl einfach deswegen, weil man den Dichter nicht ganz gelesen hatte. Nur daraus erklärt es sich, wenn Lana neuerdings hinter der Praefatio, die er lediglich mit Per. 9 psychologisch (!) koppelt, eine spirituelle Krise des Autors sehen will 168 . Die Verbindung von „culpa frequens" usw. mit „indocilis" in c. Symm. 2 praef. entspricht also — und das sollte in erster Linie gezeigt werden — dem Nebeneinander von „sanctitatis indigi" und „pedester" im sog. Epilogus, von „reus" und „rusticus" in Per. 2. 3. Per. 10,1/25 Auch der letzte Abschnitt, den wir zum Vergleich heranziehen wollen, ist ein Rahmenstück: die Praefatio zu Per. 10. Da diese Partie eine Fülle von rhetorischen Termini aus der Bescheidenheitstopik enthält, gebe ich das Vergleichsmaterial der Einfachheit halber im Apparat und beschränke die Besprechung für unseren Zusammenhang auf die Kombination von „Unfähigkeit" und „Beistand Christi", in diesem Fall: von „mutus" bzw. „elinguis" und biblischer Fundierung im „Wort". Wie in c. Symm. der NT-Text, so bekommt nämlich in Per. 10 der Märtyrerbericht rhetorische Funktion im Rahmen der Praefatio und ihrer Topik. Was dort Petrus, ist hier Romanos. 1 Romane, Christi fortis adsertor Dei, elinguis a oris Organum fautor move b , largire comptum c carmen infantissimo d , fac ut tuarum mira laudum concinam! 5 nam scis et ipse posse mutos eloqui. . . . (V.6/10: indicatio des Themas). 11 sic noster haerens sermo lingua debili balbutit e et modis laborat absonis f ; sed si superno rore respergas iecur ( = Per. 14,131) et spiritali lacte 6 pectus inriges, vox impeditos rauca h laxabit sonos. 168 A.a.O. 32 ff.; oben 33 47 .

f) Bekenntnis und Bescheidenheit. — 3. Per. 10,1/25

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16 Evangelista scripsit ipsum talia praecepta Messian dedisse apostolis: „nolite verba, cum sacramentum meum erit canendum, providenter quaerere; ego imparatis quae loquantur suggeram." 24 sum mutus' ipse, sed potens facundiae k mea lingua Christus luculente1 disseret... ä Cass.inst.pr.3; Zeno Ver.tract.3,1; Festugiere, WSt 73 (1960), 129f. t> Vgl. Stat. s.1,2,2. c Bruhn a.a.O. 18 f. 25; Priap.1,1 u. ö. Salv. gub. pr. 1. χωρίον; vgl. nodi Nonnos, Dion.4,268. « Basil, horn. 8,2. 44 Rufin. Orig. Rom. 9,41; Avit. hom. 24 (142,15 Peiper): tantoque effigies pretiosius cernenda porrigitur, quanto difficilius exiguitas paginae stilo acutiore sulcatur. Hier heißt „sulcare": die leere Seite „mit Furchen ( = Zeilen) versehen". Daneben kennt ja Avitus auch „exarare" (oben Anm. 30). 45 Drac. Rom. 10,478: tabulas calamo sulcabat Iason; emphatische Funktion. Ennod. c. 2,67,5 f.: otia Niliacis non passus carmina biblis sulcavi, tumulo ne tenear moriens (Zukunftstopos). Hier ist „sulcare" fast soviel wie „dichten"; vgl. noch Fulgent, myth, praef. p. 10,16: quidquid übet Niliacis exarare papiris, daneben Sedul. op. pasch. 1,1 (p. 176,12): Niliaci papyro gurgitis calamo perarante. Das entspricht, was die Unanschaulichkeit angeht, den 'sulci calami' bei Prud. und zeigt, wie zu dieser Zeit 'sulcare' und 'arare', abstrakt gebraucht, ineinander übergehen. 4i v. Mart. 1,15 f.: sortis apostolicae quae gesta vocantur et actus facundio eloquio sulcavit vates Arator. Das ist zugleich Namensetymologie Arator—sulcare!

c) Die Schriftzeile als Furche? 1. Quintilian Wenn „Furche" als Schreibmetapher mit der bisher beschriebenen Bedeutung von „exarare" usw. zu tun haben soll, dann ist es von vornherein fraglich, ob „sulcus" je die Schriftzeile bezeichnet hat, es sei denn, das Wort ist sofort ganz abstrakt gebraucht worden — für eine Metapher nicht sehr wahrscheinlich, zumal ja „versus" und „linea" längst zur Verfügung standen. Nachdem wir bei dem Versuch, eine „Kontinuität" der Schreibmetaphorik historisch-differenzierend aufzuspüren, zu ersten Teilergebnissen gekommen sind, die den ersten drei der anfangs genannten Voraussetzungen bei Curtius widersprechen, tun wir jetzt einen Schritt weiter und fragen, ob wirklich Prudentius der πρώτος εύρετής jener Metapher „Schriftzeile (?) = Furche" gewesen ist. Was Curtius an Belegen aus dem Werk des Dichters gegeben hat, ist oben bereits korrigiert und ergänzt. Da nun die historisch-kritische Interpretation des Prudentius bisher noch viel zuwenig weit gediehen ist, als daß man bereits in irgendeiner Hinsicht von der Originalität seiner Selbstaussagen, Motive oder Bilder sprechen könnte, müssen wir, um Prudentius in die Geschichte der Schreibmetaphern recht einzuordnen, etwas weiter ausholen. Der erste, der das Bild von der Furche, und zwar im anschaulichkonkaven Sinn, in die Schreibterminologie übertragen und auf die Schreibtechnik angewandt hat, ist Quintilian. Und zwar führt uns der Vergleich, der, wie der Kontext zeigt, ohne Zweifel auf Quintilian selbst zurückgeht47, in einen mehrfach aufschlußreichen Zusammenhang von Darlegungen, die der Autor dem Elementarunterricht widmet. Nachdem er nämlich dem Mechanismus beim Lernen des Alphabets widersprochen und die selbständige und spielerische Einprägung der einzelnen „ductus" befürwortet hat — u. a. durch den Hinweis auf das Spiel mit geschnitzten Elfenbeinbuchstaben —, fährt er fort: „Wenn der Schüler aber schon so weit ist, daß er dem Duktus der Buchstaben zu folgen vermag, dann dürfte es nicht unnütz sein, die Buchstaben so akkurat wie möglich in eine Tafel einzukerben, so daß der Griffel ihnen wie Furchen folgen kann. Denn so wird er nicht ausgleiten, wie es auf Wachs geschieht (durch die Ränder auf beiden Seiten wird er nämlich in der Bahn gehalten und kann das Vorgeschriebene nicht verlassen), und wenn der Schüler dann schneller und häufiger den vorgezeichneten Spuren folgt, wird er dadurch seine Finger kräftigen, ohne der führenden Hand zu 4 7 Als von Quintilian geschaffener Vergleich daher nachzutragen bei G. Assfahl, Vergleich und Metapher bei Quintilian, Tiib.Beitr.15 (1932). Vergleichbar wären allenfalls die βλκοι σμίλης Aristoph. Thesm. 779; dort V.782 auch οώλαξ in diesem Sinne.

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II. Schreibmetaphern

bedürfen." 48 Der Text gehört in die Linie von Vorschlägen für eine Modernisierung des lateinischen Elementarunterrichts und eine stärkere lernpsychologische Rücksicht auf das Kindesalter, im Gegensatz zur sprichwörtlichen Rauheit der römischen Unterrichtsmethode49. Was der zitierten Stelle voraufgeht, enthält nicht wenige persönliche Stellungnahmen, so etwa auch eine wiederholte Rechtfertigung für die Behandlung des Themas „infantia" im Rahmen eines Lehrbuchs der Rhetorik50. Genauso „reformpädagogisch" wie sein Vorschlag, die übliche amaritudo des Unterrichts durch Spiel und Wetteifer zu mildern (1,1,20), mutet nun auch die zitierte Anregung an, die dem Zögling zu größerer Selbständigkeit verhelfen will51. Es ist wichtig, sich diesen Zusammenhang klarzumachen, damit man die Originalität des zitierten Vorschlags würdigen kann. Äußerlich drückt sie sich in der exzeptionellen Verwendung des Furchenvergleichs aus. Da das Verständnis des Vergleichs von der richtigen Deutung des oben ausgeschriebenen Textes abhängt, der naturgemäß in den Darstellungen der antiken Pädagogik behandelt zu werden pflegt, müssen genau hier unsere Überlegungen beginnen. In der neueren Forschung hat sich nämlich eine Interpretation durchgesetzt, die den Sinn des Textes ganz und gar nicht trifft. So schreibt ζ. B. Marrou in seinem schönen Buch über die antike Erziehung: „Für den Anfang verwendet man abwechselnd zwei Methoden. Die eine geht auf die Anfänge der griechischen Schule zurück und besteht darin, die Hand des Kindes zu führen, um ihm den zu befolgenden Duktus beizubringen. Die andere, moderner und vielleicht der lateinischen Schule eigentümlich, verwendet auf Täfelchen eingegrabene Buchstaben, die der Stift des Kindes nachzieht, indem er ihren durch das Wachs durchschneidenden Furchen folgt." 52 Nun geht aber aus dem Quintiliantext ganz klar hervor, daß der Vorschlag sich bewußt gegen die übliche Praxis der griechisch-lateinischen Schule wendet, die darin besteht, auf den im Wachs vorgeschriebenen Buchstaben den ungeübten Griffel des Zöglings von der Hand des Lehrers führen zu lassen53. Diese Methode will 48 Inst, orat.1,1,27: cum vero iam ductus sequi coeperit, non inutile erit eas (sc. litteras) tabellae quam optime insculpi, ut per illos quasi per sulcos ducatur stilus, nam neque errabit, quemadmodum in ceris (continebitur enim utrimque marginibus neque extra praescriptum egredi poterit) et celerius ac saepius sequendo certa vestigia flrmabit articulos, neque egebit adiutorio manum suam manu superimposita regentis. 49 Vgl. Η. I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum (1957) 397 f. In der frz. Ausgabe (1948) 364 f. 50 Vgl. etwa inst. pr. 4; 1,21. 51 Zur Herkunft dieser Art von Vorschlägen: J. Cousin, Stüdes sur Quintilien 1 (Paris 1935) 19 f. 52 Marrou a.a. O. 396. 53 Plato Protag. 326 D; Sen. ep. 94,51; Quint. 5,14,31 (von Dölger irrtümlich ebenfalls mit Quintilians Vorschlag in 1,1,27 gleichgesetzt).

c) Die Schriftzeile als Furche? — 1. Quintilian

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Quintilian ersetzen, indem er statt dessen ein Holztäfelchen vorschlägt, in das die Buchstaben als Rillen eingekerbt werden, so daß die lenkende Hand des Lehrers überflüssig wird. Dabei schließen also die Benutzimg eines solchen Täfelchens und die Verwendung der traditionellen Wachstafel einander aus. Selbst wenn sich Quintilians Vorschlag durchgesetzt hätte, wäre es daher doch falsch, mit Marrou zu sagen, beide Methoden seien „abwechselnd" oder auch „wahlweise" (alternatif) gebraucht worden, wenn das bedeuten soll, daß sie bei demselben Lehrer neben- oder nacheinander üblich waren. Es ist also nicht zuviel gesagt, wenn man feststellt, daß Marrou weder die vorgeschlagene Methode richtig wiedergegeben noch die Originalität des Vorschlags berücksichtigt hat, ganz davon zu schweigen, daß man sich bei seiner (Marrous) Interpretation überhaupt nichts Rechtes denken kann; denn das Wachs dürfte auf der vorgeschlagenen Tafel ebenso hinderlich wie überflüssig sein. Die Tiefe der Rillen soll die führende Hand des Lehrers ersetzen und zugleich die häufigere und schnellere Wiederholung der ductus ermöglichen: schon beim zweiten Versuch hätte das Wachs gar keine Bedeutung mehr; beim erstenmal wären auch die Rillen voller Wachs, usw. usw. Der Vorschlag Quintilians in Marrous Version wäre mithin ebenso unpraktisch wie bedeutungslos. Die Originalität der Anregung — und damit die Bedeutung des Vergleichs von Duktus und Furche — ist von Marrou aber auch insofern verkannt, als er den ganz individuellen Vorschlag Quintilians in eine übliche — und gar der lateinischen Schule eigentümliche — Praxis umdeutet. Was Quintilian wirklich vorschlägt, hat jedoch in der lateinischen Literatur keinerlei Parallele. Marrou selbst nennt an Belegen außer Hieronymus ep. 107,4 lediglich zwei Tontäfelchen mit Alphabet 54 . Damit haben wir aber zunächst einmal anderes Material; zweitens wissen wir über die Verwendimg dieser Tontäfeichen ja zuwenig, als daß wir Anlaß hätten, diese Täfeichen für etwas anderes zu halten als für die genugsam bezeugten Abschreibvorlagen. Zuweilen arbeitete man auf solchen Ziegeln mit Tinte, aber wenn es sich um geritzte Ziegel handelt, ist das ein antiker Ersatz für unsere Schultafel bei der Einführung des Alphabets. Eine Beziehung zu Quint. 1 , 1 , 2 7 ist jedenfalls nur sehr schwer herzustellen, zumal uns die antike Literatur nirgends bestätigt, daß Quintilians Vorschlag („non inutile erit") irgendwann befolgt worden ist. Auf die Geschichte der lateinischen Schule bezogen, bezeugt der Quintiliantext lediglich die traditionelle Praxis einerseits, den persönlichen und, soweit wir sehen, nie verwirklichten Vorschlag Quintilians andererseits. Damit hängt es zusammen, daß auch „sulcus" (Furche) in dem von Quintilian gemeinten Sinn sich sonst nirgends findet. Der Vergleich 5 4 Nämlich das auch von Beudel (Anm. 55) verglichene Tontäfelchen CIL 3 , 9 6 2 , 1 sowie CIL 27,1.

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II. Schreibmetaphern

— Vergleich, nicht Metapher — gehört nicht in die tradierte Schreibmetaphorik, da er sich nicht auf die Schriftzeile, sondern auf den ductus des einzelnen Buchstabens bezieht. Während also der Zusammenhang einen linearen Sinn schlechterdings ausschließt, hat er aber auch nichts mit der Metapher — Metapher, nicht Vergleich — zu tun, die in der Wortgruppe arare = schreiben steckt; denn er meint (statisch) die vorgekerbten Rillen im Holz, nicht (dynamisch) den Schreib Vorgang. Marrous Wiedergabe würde, wie man sieht, eine solche Unterscheidung nicht erlauben. 2. Ambrosius Es wurde schon angedeutet, daß die einzigen literarischen Parallelen uns in das patristische Schrifttum führen, und in der Tat muß Hier, ep. 107,4 schon deswegen in diesem Zusammenhang herangezogen werden, weil es die einzige Stelle ist, die den Furchenvergleich im Sinne Quintilians bietet. F. J. Dölger hat die Stelle zusammen mit Quint. 1,1, 27 und Ambros, hexaem. 3 , 1 3 , 5 3 behandelt 55 . Marrou hat diese Arbeit zwar zitiert, aber offenbar nicht eingesehen, da er weder den Ambrosiustext erwähnt noch Dölgers richtige Wiedergabe von Quint. 1 , 1 , 2 7 berücksichtigt hat. Wenn nun, wie allgemein erkannt ist, Hieronymus an der genannten Stelle den Quintilian ausschreibt, dieser aber in Wirklichkeit einen ganz individuellen Vorschlag bietet, dann ist es allerdings auch um den Zeugniswert des Hieronymustextes nicht sehr gut bestellt. Es wird gut sein, bei dieser Gelegenheit die christliche Rezeption Quintilians kurz zu untersuchen, da sie nicht nur die Art der Quintilianbenutzung und die Orientierung der christlich-lateinischen Pädagogik, sondern auch die spätantike Geschichte der Schreibterminologie, speziell des Furchenvergleichs, zu beleuchten vermag. Doch zunächst prüfen wir den Text, den Dölger mit jenem Vorschlag Quintilians zusammengebracht hat, nämlich Ambrosius hexaem. 3 , 1 3 , 5 3 . Es wäre der einzige objektive Beleg außerhalb literarischer Imitation für die Durchführung von Quintilians Vorschlag, und Dölger hat denn auch in ihm eine Erinnerung des Mailänder Bischofs an seinen Jugendunterricht in Trier zu finden gemeint 56 . Was ist davon zu halten? 5 5 F. J. Dölger, Eine Jugenderinnerung des Bischofs Ambrosius an seinen Schreibunterricht in Trier: AC 3 (1932) 62/72. Richtige Deutung audi bei L. Grasberger, Erziehung und Unterricht im klass. Altertum 2 (1875) 301; G. Rauschen, Das griech.röm. Schulwesen z. Zt. des ausgehenden Altertums (1901) 22, ferner bei Beudel, Qua ratione Graeci liberos edocuerint, papyris, ostracis, tabulis in Aegyptis inventis illustratur (Diss. Münster 1911) 8, der aber Quint. 1 , 1 , 2 7 fälschlich mit CLL 3,962,1 vergleicht (einem Ziegel mit eingeritztem Alphabet). 5 6 Er versuchte das durch einen zweiten Text des Ambrosius zu stützen, nämlich expos. Ps. 118,22,38 (CSEL 62,506,23—507,7), wo es heißt, das Holz der Zeder sei wegen seines süßen Geruchs zum Formen der Buchstaben besonders bevorzugt,

c) Die Schriftzeile als Furche? — 2. Ambrosius

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Ambrosius beschäftigt sich bei der Betrachtung des Sechstagewerks audi mit der Erschaffung der Bäume und ihrer Arten; dabei erwähnt er auch den Buchsbaum und lobt seine Vorzüge „Der Buchsbaum, wegen seines glatten (Dölger: weichen) Holzes geeignet, Schriftzüge aufzunehmen, übt und lehrt die Kinderhand. Daher sagt die Schrift: „Schreibe es auf Buchsbaum" (Jes.30,8) 5 7 . Dölger versteht den Text dahin, daß Ambrosius hier an eine richtige Buchsbaumtafel denkt, in die gemäß dem Vorschlag Quintilians die Buchstaben hineingeschnitten sind58. Arns akzeptiert diese Deutung, hält aber nicht nur eine Erinnerung des Bischofs an seinen Jugendunterricht, sondern ebensogut eine literarische Reminiszenz an Quintilian für möglich59. Da es nun, wie schon angemerkt, weder eine literarische noch eine archäologische zeitgenössische Parallele zu dem Ambrosiustext — wohlverstanden: so wie Dölger ihn auffaßt — gibt, andererseits Quintilians Vorschlag exzeptionell ist, käme allein dem Ambrosiustext die Beweislast zu. Kann er sie tragen? Mir scheint Dölgers Nachweis, abgesehen von der etwas willkürlichen Verbindung zu Ambros. expos. Psalm. 118,22,38, nicht gelungen und damit die in der neueren Forschung aus Quint. 1 , 1 , 2 7 und den vermeintlichen christlichen Parallelen abgeleiteten Schlüsse auf eine bestimmte Methode des Elementarunterrichts hinfällig zu sein. mit denen das Kindesalter angeleitet wird zum Eifer in der Aneignung der Bildung ( . . . formandis litteratum elementis, quibus aetas puerilis ad Studium liberalis eruditionis imbuitur). Daß es sich hier um eine Erwähnung — wenn auch um eine anfechtbare Erklärung — der Nudelbuchstaben handelt, möchte Dölger durch Hinweis auf das „sculpamus" im voraufgehenden Text von Cant. 8, 9 bestreiten. Aber Leitgedanke ist nun einmal nicht das Schnitzmesser, sondern der „bonus odor" des Holzes (vgl. aber Plin.n.h.13,11,53). Ebenso assoziativ ist die Verknüpfung zu einem Relief aus Neumagen bei Trier (Abbildung: Th.Birt, Die Buchrolle in der Kunst [1907] 140, Abb. 77), das zwar eine übliche Schulszene wiedergibt, aber keinerlei speziellen Hinweis auf ein Holztäfelchen enthält. Daher entbehrt die Annahme, Ambrosius habe sich an den beiden genannten Stellen der Holztäfelchen seiner eigenen Schulzeit erinnert, wenn nicht jeglicher Grundlage, so doch irgendeines besonderen Interesses. 5 7 Buxus quoque elementorum apicibus utilis exprimendis levi materia usum manus puerilis informat, unde ait scriptura: scribe in buxo . . . (CSEL 32,1,96f.); vgl. u. Anm. 66. 5 8 A.a.O. 67. Das würde bedeuten, daß es solche Täfelchen sowohl aus Buchsbaum als auch aus Zedernholz gegeben habe; gleichwohl spricht Dölger, nachdem er sich von Ambros. expos. Ps. 118 das Thema hat geben lassen, von S.66 an bis zum Schluß nur von Buchsbaumtafeln. Nimmt man noch die von Marrou außerdem herangezogenen Tontäfelchen dazu, dann ergäbe sich eine bemerkenswerte Vielfalt an Material, die in einem auffallenden Mißverhältnis zur dürftigen Bezeugung der zugehörigen Praxis stünde. In Wirklichkeit ist diese Praxis eine moderne Konstruktion. Irrig ist auch Dölgers Hinweis auf Quint. 5,14,31, da dort nur die übliche Wachstafelpraxis erwähnt wird. 5 9 R. P. E. Arns, La technique du livre d'apres Saint Jerome (Paris 1953) 30 3 . Hier wie auch bei Hieronymus durchweg hebt Arns das Material ohne Rücksicht auf den Kontext aus.

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Thraede, Frudentlus

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II. Schreibmetaphern

Es ist nämlich nicht nur so, daß Dölgers Kombination von Quintilian und Ambrosius einerseits, von Ambrosius und der Neumagener Schulszene andererseits in sich kaum überzeugen kann 60 . Vielmehr ist, wie ich in der Übersetzung des Ambrosiustextes schon angedeutet habe, Dölger einer Fehlübersetzung erlegen (Verwechslung mit levis?); denn „levi materia" muß an dieser Stelle heißen: „wegen seines glatten Holzes". Weder „levis" noch „levis" können „weich" bedeuten. Hinzu kommt, daß das Holz des Buchsbaums gar nicht weich ist und auch in der Antike durchaus als hart gegolten hat 61 . Zweitens wäre für eine Praxis im Sinne von Quint. 1,1,27 Weichheit des Materials keineswegs günstig gewesen; denn für das Einkerben der Buchstaben spielt sie keine Rolle, während sie für den Zweck, die Kinderhand zu führen, eher hinderlich als nützlich sein dürfte. Die Glätte dieses Materials aber war durchaus ein Argument, wenn man an die Widerstände denkt, die man auf der unebenen charta zu überwinden hatte 62 . Dölger selbst hat den ersten Einwand gegen seine Deutung an die Hand gegeben 63 ; denn er bemerkt mit Recht, daß buxus-buxum als Ausdruck der Schreibterminologie längst so abgeschliffen war, daß er einfach das übliche Schreibtäfelchen bezeichnet hat, genau wie πυξίον, mit dem die LXX in Jes.30,8 das hebr. luah (HlV) adaptierend wiedergeben 64 . Auch z.B. bei Hieronymus heißt buxus einfach „Schreibtafel" 65 . Eine gewisse Abweichung vom normalen Sprachgebrauch ist also bei Ambrosius in jedem Fall vorauszusetzen. Aber nichts hindert uns, seine Bemerkung zunächst einmal ohne alle Gedankensprünge auf die im Unterricht übliche Holztafel zu beziehen, die genügend häufig bezeugt ist 66 , nicht zuletzt auch durch Abbildungen «0 Oben Anm. 56. «1 Plin.n. h. 1 6 , 7 1 ; vgl. M . C . P . Schmidt, Art. Buchsbaum, RE 3 , 1 , 9 8 5 f . ; Th.Klauser (Cumont-Gossen-Marcell), Art. Buchsbaum, RAC 2,773. « Roller a.a.O. 267.279 ff. 285 f. 6 i A.a.O. 67: „Würde Ambrosius seinen Jesajatext ,scribe in buxo' ohne den von ihm gewählten Zusammenhang bieten, so wäre es sogar zweifelhaft, ob er überhaupt an das eigentliche Buchsbaumholz gedacht hätte." Es ist in der Tat zweifelhaft, und zwar deswegen, weil Ambrosius den Jesajastext nicht in einen deutlichen Gedankengang einfügt, sondern s. v. buxum auf diesen Text verfällt und aus ihm erst jenen Hinweis auf das Schreiben des Kindes entwickelt. Denn es ist ja nicht einzusehen, was Jes. 30,8 mit dem Elementarunterricht zu tun haben soll. «4 Dölger a.a.O. 66 f. « S. Anm. 66; weiteres Material bei Stadler, buxus, ThLL 2,2,2263,36/2264,51. 6 6 Ältester Text: Plin. n. h. 3 5 , 7 7 : ut pueri graphicen in buxo docerentur; Hier. In Abac. 1 , 2 , 2 (PL 25,1290 C): et quasi parvuli qui prima elementa accipiunt litterarum, curvos apices et trementem manum in buxo erudiunt (vorhergeht: atramentum!); vgl. Pachom. reg. 27 (20 Boon) sowie Schol. Horat. sat. 1 , 6 , 7 4 : tabulam: buxum in quo meditantur scribere, spezifiziert zu „Wachstafel" bei Prudent. Per. 9 , 5 0 : buxa cerata (dazu unten S.138); Dölger a.a.O. 70 f. Wie gern Hieronymus die „curvi apices litterarum" mit „infantia" verbindet, zeigt ferner In Abd. prol. (PL 25,

c) Die Schriftzeile als Furche? — 2. Ambrosius

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nach Art der Neumagener Schulszene, die Dölger bespricht67. Aber es bedarf keines Wortes, daß sich derartigen Abbildungen nichts weniger als ein Hinweis auf vorgekerbte Rillen im Holz entnehmen läßt. Es handelt sich um den traditionellen Holztafel-Kodex der Schule68, der außer dem Wachstäfelchen auch einfache Holzbrettchen enthält, auf denen die Schüler mit Tinte schreiben69. Aus dieser Praxis erklärt es sich, daß „buxus" ( = Schreibtafel ohne Wachs) und Elementarunterricht so häufig zusammen genannt werden70. In die Reihe solcher Zeugnisse gehört auch der Text des Ambrosius; später hat ihn Isidor von Sevilla ausgeschrieben71. Was nun die Abweichung vom Sprachgebrauch angeht, so wird sie unschwer dadurch zu erklären sein, daß Ambrosius gewissermaßen „sub voce" Buchsbaum auf Jes. 30,8 verfällt und daher den auch in Jes. 30,8 vorliegenden normalen Sinn von „buxus" = Schreibtafel zugunsten seines bisherigen Gedankenganges umzudeuten genötigt ist. Er kommt ja in jenem Text vom Lob der Bäume im allgemeinen auch auf den Buchsbaum speziell, wobei zwangsläufig vom Material und seiner Nützlichkeit die Rede ist72. In der Absicht, den Nutzen des Buchsbaums auch aus der Bibel zu belegen, zitiert er Jes. 30,8, obgleich „buxus" (πυξίον) dort durchaus nur allgemein die Schreibtafel bedeutet, mit dem ursprünglichen Material aber gar nichts mehr zu tun hat. So ergibt sich bei Ambrosius aus der allegorischen Verknüpfung eine exegetisch bedingte semantische Rückbildung, und „buxus" heißt an jener Stelle ausnahmsweise einmal Buchsbaumtäfelchen. Die Verbindung von buxus und Elementarunterricht, auf den sich Jes. 30,8 ja kaum beziehen dürfte, ist, wie wir gesehen haben, traditionell, und Ambrosius bietet da gar nichts Besonderes, wenn man von der Allegorese und der von ihr bestimmten etymologischen Rückbildung absieht. Das gehört weder in die Bedeutungsgeschichte noch ist es kultur1095 B), wo sich auch „tremebant articuli" wiederfindet. — Sachlich bedingte Ausnahme ist Hier. In Is. 30,8 (PL 24,342 C): scribat eis super buxum, quod lignum est imputribile, vgl. In Ioel 3 (PL 25,986 CD). Obgleich Hieronymus zu Jes.30,8 natürlich weder an Wachstafeln noch an gekerbte Holzbrettchen denkt, hat Arns a.a.O. 30 verwirrenderweise die Stelle mit den übrigen Belegen verquickt. Zur Beständigkeit des Buchsbaums vgl. Plin. n. h. 5,4,2; ebd. 5,4,1 heißt es, der Buchsbaum werde von Holzwürmern gemieden (was Ambrosius von der Zeder sagt). Hier. ep. 8,1 (über die Verwendung des Holzes vor Papier und Pergament) geht über Plin. n.h. 13,11,21 auf Varro zurück und wird von Isid. et. 6,8,18 wiederholt. & Oben S. 96 Anm. 56. Marrou 227 f. « Material auch bei Diatzko, Art. Buch, RE 3,1,942 f. 70 Vgl. die Stellen auf S. 98 Anm. 66. 71 Et. 17,7,53: arbor semper virens et levitate materiae elementorum apicibus apta, d.h. in traditioneller Weise verkürzt: es fehlt der Hinweis auf den Elementarunterricht — keineswegs aber Jes. 30,8: unde et Scriptura: Scribe buxo. 72 Vgl. die entsprechenden Partien zu Gen. 1,11 in Basil, hexaem.: PG 29,44D/ 45 C. 46 C/47 D 1 . 4 8 Ε/49 B. Τ

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II. Schreibmetaphern

historisch bemerkenswert; hier wie sonst wäre es verfehlt, einen Autor religions- oder kulturgeschichtlich als Quelle zu benutzen ohne Rücksicht auf das, was wir theologisch von ihm wissen, d. h. im Falle des Ambrosius: ohne Rücksicht auf seine genugsam bekannte allegorische Methode. Man sehe nur, wie wenig logisch an jener Hexaemeron-Stelle das „unde" und „simul ut" zu verstehen sind. Wenn also Ambrosius vom glatten Holz des Buchsbaums spricht, dann liegt das durchaus auf der Linie normaler Unterrichtspraxis. Die Umdeutung von „buxus" durch Ambrosius hat auf den Sinn der von ihm erwähnten Methode gar keinen Einfluß, und es muß bei den mit Tinte beschriebenen Holztäfelchen bleiben. Daher kommt auch ein Zusammenhang mit Quintilian nicht in Betracht. Es ist also in jeder Hinsicht unzutreffend, wenn Dölger meint, Ambrosius denke an eine richtige Buchsbaumtafel, „auf deren Holzplatte die Buchstaben vertieft mit dem Stecheisen, mit dem Schnitzmesser oder Griffel hineingeschnitten, hineingegraben oder hineingedrückt sind". Der Ambrosiustext sei „ganz im Sinne des Textes bei Quintilian zu verstehen" 73 . Da diese These, wie gezeigt, letztlich auf einer Fehlübersetzung beruht, entfällt mithin Ambros. hexaem. 3 , 1 3 , 5 3 als Zeugnis für die Existenz der von Quintilian angeregten Methode. Man wird daher nicht mehr sagen können, es habe zwischen der spielerischen Einführung des Alphabets durch Nudelbuchstaben und dem Nachschreiben der im Wachs vorgezeichneten Formen eine Stufe gegeben, auf der man gemäß dem speziellen Vorschlag Quintilians verfahren sei. 3. Hieronymus ep. 107 Ebensowenig Sicherheit bietet nun auch die Stelle, die in erster Linie als Parallele zu Quint. 1 , 1 , 2 7 herangezogen zu werden pflegt. Es ist Hier. ep. 107,4, ein Passus aus einem Brief, der auf den ersten Blick eine christliche Erziehungsanweisung darzustellen scheint und als pädagogische Institutio aufgebaut ist. Er ist geschrieben an Laeta, eine christliche Adelige in Rom, Tochter des Albinus pontifex und Frau des vor kurzem bekehrten Toxotius (107,1), für ihre Tochter Paula. Hier zunächst der betreffende Satz: „Wenn es (das Kind) aber begonnen hat, mit zitternder Hand den Griffel im Wachs zu führen, sollen entweder seine zarten Finger von der darübergelegten Hand eines anderen geführt werden, oder die Buchstaben in ein Täfelchen eingegraben werden, so daß die durch Ränder eingeschlossenen Schriftzüge durch dieselben Furchen gezogen werden und nicht darüber hinaus abweichen können." 74 73 A.a.O. 71. 7 4 Hier. ep. 1 0 7 , 3 : cum vero coeperit trementi manu stilum in cera ducere, vel alterius superposita manu teneri regantur articuli, vel in tabella sculpantur elementa,

c) Die Schriftzeile als Furche? — 3. Hier. ep. 107

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Da wir es hier also mit einer christlichen Adaptation eines antiken pädagogischen Textes zu tun haben, verweilen wir einen Augenblick bei der Frage, wie sich diese Adaptation vollzieht; handelt es sich dabei doch auch um die Übernahme des Furchenvergleichs. Für die Behandlung der infantia und des Elementarunterrichts steht Hieronymus offenbar weder eigene Sachkenntnis noch ein anderer Text als der Quintilians zur Verfügung. Daß er diesen — mit den gleich zu nennenden Veränderungen — fast wörtlich ausschreibt und mangels anderer Quellen auf ihn angewiesen ist, deutet nicht gerade darauf, daß wir es in ep. 1 0 7 , 4 mit einem Zeugnis christlicher Pädagogik zu tun haben, das geeignet wäre, eine allgemein übliche Praxis und ihr Weiterwirken im Christentum zu bestätigen. Es hat, da er wörtlich von einer persönlichen Anregung Quintilians abhängt, keinerlei Quellenwert, vielmehr kann gerade die literarische Nachahmung zeigen, daß Hieronymus am Elementarunterricht nicht sehr interessiert ist und ihn sozusagen nur der Vollständigkeit halber behandelt. Das geht auch aus der Art der Quintilianbenutzung hervor. „Cum vero coeperit" ist wörtliche Wiederholung, während das bei Hieronymus beliebte „trementi manu" 7 5 überschießt und „ductus sequi" (Quintilian) hier in der Form „stilum in cera ducere" erscheint: eine leichte Veränderung, die den von Quintilian gemeinten Gegensatz der Methoden (Wachs und Holz) zu verwischen geeignet ist. Und tatsächlich stellt Hieronymus beide Verfahren zur Auswahl (vel . . . vel), beseitigt also den Skopus der Vorlage, sei es aus desinteressierter Flüchtigkeit oder aus Unverständnis. Im Zuge dieser Art von Imitation wird aus dem für Quintilian bezeichnenden Furchenvergleich bei Hieronymus eine Metapher. Sie bezieht sich zwar ebenfalls auf die Rillen im Holz, ist aber ganz selbstverständlich, freilich weniger klar verwendet: „per eosdem sulcos vestigia trahantur" ist eine Kontamination aus „per illos velut sulcos ducatur stilus" und „cerlerius ac saepius sequendo certa vestigia", „vestigia" und „sulci" sind bei Quintilian dasselbe, bei Hieronymus ohne Zweifel nicht. Das könnte zur Annahme verleiten, „sulci" seien für Hieronymus die Rillen im Holz, „vestigia" solche im Wachs. Da nun ferner Quintilian mit „illi" den ductus der Buchstaben meint, Hieronymus diesen aber von vornherein auf das Wachs bezogen hat (stilum in cera ducere ~ ductus sequi), wird zunächst, wie auch Dölger bemerkt, nicht ganz klar, ob Hieronymus wirklich an Holztäfeichen denkt 74 . Auf jeden Fall wird der Unterschied beider Methoden von Hieronymus verwischt. ut per eosdem sulcos inclusa marginibus trahantur vestigia, et foras non queant evagari. 75 E p . 1 0 , 2 ; in Habac. comm. 1 , 2 , 2 ; vgl. Arns 30 (mit unkritischer Deutung). 7 6 Dölger a.a.O. 64. Aber das nebenstehende „sculpere" zeigt, daß mit tabella die

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II. Schreibmetaphern

Sehr wahrscheinlich hat also Marrou seine Information nicht aus Quintilian, sondern aus Hieronymus genommen, ohne den sekundären Charakter von ep. 107 zu berücksichtigen. Denn Hieronymus ist es, der Holz und Wachs nicht mehr klar konfrontiert und beide Methoden zwar nicht „abwechselnd" vorschlägt, wohl aber zur Wahl stellt. Selbst von diesem Text aus wäre es aber demnach nicht berechtigt, von einem Nacheinander der Methoden zu sprechen. Jedenfalls dürfte Marrous Erläuterung („indem man den durchs Wachs durchscheinenden Furchen folgt") auf der dargelegten Unklarheit bei Hieronymus beruhen. Marrous Darlegungen an der zitierten Stelle fehlt also jeglicher Quellennachweis. Überall, wo bei Marrou und sonst Hier. ep. 107 als historischer Beleg für bestimmte pädagogische Methoden zitiert wird, handelt es sich in Wirklichkeit nicht um eine echte Quelle — weder für die antike Praxis noch für ihr vermeintliches Weiterwirken im Christentum. Es ist ja überhaupt merkwürdig, wie wenig ep. 107,4 vom Adressaten her gedacht ist: der spezielle Vorschlag Quintilians wird unklar wiedergegeben und die zweite zur Wahl gestellte Methode aufgeführt, als ob es sich nicht um eine seit alters übliche und allen bekannte Praxis handelte. Man wird deshalb zwar nicht sogleich den Adressaten für fingiert halten, muß aber bedenken, daß es sich in ep. 107 ebenso wie ep. 128 um eine literarische Epistel handelt, die eher aus der Imitation einer antiken Gattung als aus den vorgeblichen praktischen Erwägungen zu erklären ist. Es ist daher auch sehr die Frage, ob man nach Lage der Dinge überhaupt berechtigt ist, auf Grund von ep. 107 über Hieronymus als Pädagogen zu handeln 77 , ganz davon zu schweigen, daß Hieronymus einen als Teil der Rhetorenerziehung konzipierten Text stillschweigend auf die häusliche Mädchenerziehung überträgt. Es ließe sich auch unschwer zeigen, daß der Autor viel mehr an moralischen als an unterrichtsmethodischen Erwägungen interessiert ist. Aber es möchte in unserem Zusammenhang nicht abwegig sein zu sehen, wie Hieronymus mit seiner Holztafel gemeint ist, übrigens für Hieronymus ausnahmsweise, wie außer in Habac. comm. 1,2,2 die bei Arns 31 gegebenen Texte nahelegen. Aber ebenso deutlich ist, daß eben das „sculpere" die Richtung auf die von Quintilian gemeinte Technik einschlägt, während das voraufgehende „cera" und das folgende „vestigia" die Sache wieder unklar machen. 7 7 Ch. Favez, St. Hieronymien pedagogue: Melanges Marouzeau (Paris 1948) 173/82. Auch Favez teilt die Meinung vom Nebeneinander zweier Methoden bei Quintilian, weil auch er nur an die Wachstafel denkt ( 1 7 7 J . Er beruft sich im übrigen für die Interpretation Quintilians auf mündliche Belehrung durch Cousin (173), wird hier aber eher vom v e l . . . vel bei Hieronymus beeinflußt sein. Vermutlich hat Marrou seine Fehldeutung demnach von Cousin oder Favez bezogen, ohne Quintilian und Hieronymus einzusehen.

c) Die Schriftzeile als Furche? — 3. Hier. ep. 107

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Vorlage umgeht, d.h. mit welchen Methoden und in welcher Tendenz er einen antiken pädagogischen Text „christianisiert": Hieronymus e p . 1 0 7 , 4 :

Quintilian inst. 1 , 1 :

Bant ei litterae vel buxae vel eburneae et suis nominibus appellentur. ludat in iis, ut et lusus eius eruditio sit.

non excludo autem . . . eburneas etiam litterarum formas (26; nomina discant, 24) in lusum offerre (25, vgl. 20: lusus hic sit). neque enim mihi placet, . . . ut litterarum nomina et contextum prius quam formas parvuli discant . . . (24) retro agant rursus et varia permutatione turbent, donee litteras qui instituuntür, facie norint, non ordine (25) cum vero iam ductus sequi coeperit, non inutile erit (27,1) neque egebit adiutorio manum superimposita regentis (27,3). (litteras) tabellae quam optime insculpi, ut per eos velut sulcos (ducatur stilus) (27,1) (stilus) continebitur enim utrumque marginibus (27,2) et celerius ac saepius sequendo certa vestigia (stilus) firmabit articulos (27,3). neque extra praescriptum egredi poterit (stilus) (27,2) quod in litteris obest, in syllabis non nocebit (26) syllabis nullum compendium est (30) praemiis etiam, quae capit illa aetas, evocetur (20)

et non solum ordinem teneat litterarum, ut memoria nominum in canticum transeat™, sed ipse inter se crebro ordo turbetur, et mediis ultima, primis media misceantur 7 9 ut eas non sonu tantum, sed et visu noverit. cum vero coeperit trementi manu stilum in cera ducere, vel alterius superposita manu teneri regantur articuli, vel in tabella sculpantur elementa, ut per eosdem sulcos inclusa marginibus trahantur vestigia

et formas non queant evagari (sc. vestigia)

syllabas iungat ad praemium et quibus ilia aetas delectari potest, munusculis invitetur (vgl. ep. 128,1 und Horat. sat. 1 , 1 , 2 5 f.) habeat in discendo socias, quibus invideat quarum laudibus mordeatur. non est obiurganda, si tardior sit, sed laudibus excitandum ingenium. et vicisse se gaudeat et victam doleat

cavendum in primis, ne oderit studia, ne amaritudo eorum percepta in infantia ultra rüdes annos transeat.

aliquando ipso nolente doceatur alius, cui invideat,

excitabitur laude aemulatio (1,2,20) contendat interim et saepius vincere se putet (20,3) turpe ducat cedere pari, pulchrum superasse maiores (1,2,22). in primis cavere oportebit, ne studia qui amare nondum potest, oderit et amaritudinem semel perceptam etiam ultra rüdes annos reformidet (20,2).

78 Vgl. Marrou a.a.O. 222 über das „Hersagen im singenden Ton". 7 9 Zur Methode vgl. Marrou a.a.O. 2 2 2 f . ; diese Praxis bezeugt für das griechische Alphabet z.B. Hier, in Ier.5,26 (PL 24,838 D ) : . . . propter memoriam parvulorum solemus lectionis ordinem invertere, et primis extrema miscere . . . ; das wird Remi-

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II. Schreibmetaphern

D a s m a g genügen, u m zu zeigen, daß H i e r o n y m u s die A n w e i s u n g e n Quintilians nicht n u r komprimiert, sondern audi die einzelnen Elemente der V o r l a g e o h n e Rücksicht auf ihre ursprüngliche Reihenfolge — und ζ. T . auf ihren eigentlichen Sinn — zusammenfügt. D a ß aber der neue Z u s a m m e n h a n g einer hilfreichen Gliederung oder Stufung entbehrt, spricht nicht gerade für eine ernsthaft pädagogische Orientierung des Briefes 8 0 . So e r w ä h n t H i e r o n y m u s auch erst a m Schluß des P a r a g r a p h e n 4 die Bedeutung v o n M u t t e r und A m m e für die Erziehung des Kleinkindes, ein T h e m a , das Quintilian sinnvollerweise d e m Elementarunterricht v o r ausgeschickt h a t t e (inst. 1 , 1 , 4 / 9 ) 8 1 . D a s rührt z . T . daher, daß H i e r o n y mus persönlich adressiert u n d das Verhältnis v o n M u t t e r u n d Tochter z u m R a h m e n n i m m t , w ä h r e n d Quintilian institutionell redet. Inaktuell u n d anachronistisch ist daher auch e t w a die Empfehlung des Griechischen 8 2 . niszenz an den üblichen Unterricht bei einem griechischen grammaticus sein: P. Courcelle, Les lettres grecques en Occident (Paris 1948) 37. so R. Eiswirth, Hier. Stellung zu Lit. u. Kunst (Klass.-phil. Stud. 16, Wiesbaden 1955) 40 ff. verfährt zu wenig kritisch. 81 Vgl. Th.Hopfner-Th. Klauser, Art. Amme, RAC 1, 381/5; H. Lausberg, Hdb. d. lit. Rhetorik (1960) 36. — Der Schluß von Hier. ep. 107,4 schreibt nacheinander aus: Quint. 1,1 §§ 8 f.; 22f.; 13,5f.; 9 f.; 4f.; eine merkwürdig sprunghafte und (vielleicht bewußt) regellose Benutzung der Vorlage. 82 Ep.107,9 ~ Quint. 1,1,12 f. Zum Ganzen vgl. Courcelle a.a.O. 37/47, zu Hier, epp.: G. Bardy, La culture grecque dans l'occident chretien au IV« siecle: RechScRel 29 (1939) 41/5; zu ep.107,4 ebd. 42 3 . Da Bardy und trotz seiner Kritik an ihm auch Courcelle ep.107,9 als Quelle verstehen, mag es nützlich sein, auch in diesem Fall Hier, mit Quint, zu vergleichen. Aus inst. 1,1,12 f. „a sermone Graeco puerum incipere malo, quia . . . non tarnen hoc adeo superstitiose fieri velim, ut diu tantum Graece loquatur aut discat, sicut plerisque mos est" wird bei Hier, „reddat tibi pensum cotidie scripturarum certum; ediscat Graecorum versuum numerum. sequatur statim (vgl. Quint. 1,1,14) et Latina eruditio" (ep. 107,9,1). Aus Quint. 1,1,13 „hoc (nämlich aus zu langer Beschäftigung mit Griechisch als Gmndsprache) enim accidunt et oris plurima vitia in peregrinum sonum corrupti et sermonis" wird „quae si non ab initio os tenerum (Horat. ep. 2,1,126) composuerit, in peregrinum sonum lingua corrumpitur et externis vitiis sermo patrius sordidatur" (ep. 107,9,1). Man sieht: Hieronymus ist gezwungen, das „Erlernen der griechischen Sprache" (Quintilian) abzuwandeln in ornamentalen Gebrauch griechischer Bibelverse. So wenig praktikabel der Vorschlag um 400 war, so deutlich ist die Adaptation: didaktische Auffüllung durch Bibeltexte, freilich dort, wo es sich bei Quintilian um die griechische Sprache handelte und zur Zeit des Hieronymus nicht viel mehr als das Alphabet, ein paar Sentenzen und eine große Anzahl von Fachausdrücken gemeint sein konnte. Daß der Text ebensowenig praktikabel wie eindeutig verständlich ist, zeigen die bisherigen Deutungen; so denkt Courcelle bei „versuum Graecorum numerum" an Klassikersentenzen (a.a.O. 131,), Labourt übersetzt „le rythme des vers grecs", erwägt aber auch (wie Courcelle) „un certain nombre des lignes" (Ausgabe der Hier.-Briefe 5,212). Aber es scheint mir kein Zweifel, daß es sich auch im zweiten Satz des § 9 um Bibelverse handelt, so merkwürdig das unterrichtsgeschichtlich anmutet. So schreibt Hieronymus auch ep.22,35: cotidie de scripturis aliquid

c) Die Schriftzeile als Furche? — 3. Hier. ep. 107

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Es liegt dem Hieronymus also ebensowenig an zeitlicher Abfolge wie an klarer Anschauung und gar institutioneller Anwendung. Seine Hinweise zum Elementarunterricht setzen ein, nachdem er gefordert hat, das Kind solle keine weltlichen Lieder kennenlernen, sowie: procul sit aetas lasciva puerorum 83 . Aus diesem Mangel an Chronologie dürfte ebenfalls hervorgehen, in welch geringem Maße der Brief als Dokument christlicher Pädagogik gelten kann. Hören wir doch sonst nirgends von christlichen Eingriffen in den Unterricht 84 . Aufschlußreich ist ep.107 daher weniger als Beleg einer wirklichen Praxis (auch nur innerhalb der Familienerziehung) denn als Zeugnis einer bestimmten Technik und Tendenz der Rezeption. Was Hieronymus wirklich will, wird erst am Schluß des Briefes ganz deutlich, obschon der Autor bereits früher auf das Gelübde der Mutter angespielt hat (§ 2 . 6 ) : er schlägt vor, das Mädchen im Kloster erziehen zu lassen, sobald es entwöhnt ist, nämlich zu ihm und Eustochium nach Bethlehem zu schicken85. Von daher erklärt sich nun auch jener unrealistische Rigorismus der Ratschläge, der zuweilen den Eindruck erweckt, als sei das Mädchen schon als Nonne zur Welt gekommen 8i . Daß es „zur Nonne geboren" sei, will Hieronymus nun aber in der Tat sagen. Aber kann ein Zweifel daran sein, daß jener Vorschlag, die kleine Paula ins Kloster nach Bethlehem zu schicken, ebensowenig ernstgemeint ist wie die gleichlautende Anregung des Joh. Chrysostomos 87 ? In Wirklichkeit bietet ep.107 eine institutio virginis wie Ambros. PL 16,319 ff. (vom Jahre 392). Den literarischen Charakter von ep.107 bezeugt auch § 10; dort sagt der Autor, über des Kindes Ernährung („viel Gemüse, wenig Fisch") könne er sich weitere Anweisungen sparen, da er andernorts darüber ausführlich geschrieben habe 88 . Die Stelle, auf die er sich dabei bezieht discitur — aber von Mönchen! Erscheint von daher nicht ep.107,9 als Projektion aus dem Kloster in die Familie? (vgl. auch ep. 54,11). Hinzu kommt, daß bei Hier, nicht nur Elementarunterricht und Katechese, sondern auch „Auswendiglernen" und das Streben nach „reiner Diktion" durcheinandergehen. Kurzum: der Text hat weder kulturgeschichtlichen Wert noch wird ganz klar, was Hier, eigentlich meint: dasselbe Ergebnis wie bei ep. 107,4. 83 Vergleichsstellen: Hier. ep. 2 2 , 1 0 ; 2 4 , 4 ; 3 1 , 3 ; 52,11 f. (vgl. Sen. ep. 1 , 1 0 , 1 ) ; 54, 1 0 . 1 3 ; 1 2 7 , 3 ; 130,17 Quint. 1 , 2 , 1 f.); Ambros. virg.3,7/9. 8 4 Marrou a.a.O. 420. 8 5 ep. 107,13 gibt zu, die Mutter sei mit den bisherigen Forderungen des Hieronymus weit überlastet: respondebis . . . , sodann: nutriatur in monasterio . . . 8Ä Vgl. etwa § 5 . 7 . 1 0 . 1 2 (mit einem langen Kanon biblischer und christlicher Literatur einschließlich Cyprians, des Hilarius und der Briefe des Athanasius (!). Hieronymus selbst täuscht ja eine Lektüre griechischer Schriftsteller nur vor, Courcelle a.a.O. 56 4 , 5 7 ff. 78 ff. 87 Joh.Chrys.c. contempt. 3,18 (PG 47,379/81). 88 Cibus eius holusculum sit et simila (vgl. ep. 52,12) raroque pisciculi. et ne gulae praecepta longius traham, de quibus in alio loco plenius sum locutus, sic

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II. Schreibmetaphern

(ohne sie zu nennen), ist c. Iovin. 2.7; er setzt also Bekanntschaft mit seinem früheren theologischen Werk voraus, obschon dort von Kinderernährung nicht die Rede ist. Der Rückverweis macht ep. 107 zu einem Teil des Gesamtwerkes! Der Brief hat also keineswegs den kulturhistorischen Wert, der ihm gemeinhin beigelegt wird, nicht einmal für das „christliche Ideal der Mädchenerziehimg"89. Uber den bloßen Nachweis ausgiebiger Quintilianbenutzung hinaus ist nun ein Vergleich mit der Vorlage vor allem dort aufschlußreich, wo Hieronymus die Möglichkeit benutzt, den Quintiliantext nicht nur umzudisponieren, sondern auch im Sinne christlicher Paränese umzubiegen und biblizistisch aufzufüllen. Das sieht nicht selten so aus, daß er aus Ratschlägen, die bei Quintilian ästhetisch gemeint sind oder einen technischen Zweck haben, erbauliche Anweisungen macht. Ein gutes Beispiel dafür ist ep. 107,4,4: ipsa nomina, per quae consuescet paulatim verba contexere, non sint fortuita, sed certa et coacervata de industria, Prophetarum videlicet atque Apostolorum, et omnis ab Adam patriarcharum series de Mattheo Lucaque descendat, ut, dum aliud agit, futurae memoriae praeparetur. Damit ist zu vergleichen Quint. 1,1,34/6, wo es lediglich heißt, daß die zu schreibenden Namen nicht „in vocabulis vulgaribus et forte occurrentibus" bestehen sollen (mit Hier, „dum aliud agit" vgl. „dum aliud agitur" Quint. 1,1,35 samt Kontext; Hier, „paulatim" = Quint. 1, 1,35). Wo Quintilian, ohne Beispiele zu geben, sich um die ästhetische Auswahl der γλώσσαι kümmert, läßt Hieronymus den technischen Ausdruck γλώσσαi, fort, bietet aber explizit für den christlichen Unterricht nützliche Namen aus der Bibel. Eine ähnliche Art der Adaptation ließe sich auch an anderen Stellen nachweisen90. Nunmehr kehren wir zu unserer Schreibmetapher „Furche" zurück. Aus einem Vergleich zur Metapher ist sie, wie wir gesehen haben, erst im Zuge der christlichen Rezeption geworden. Sie ist aber in der christlichen Literatur nirgends übernommen, ebensowenig wie sich die Christianisierung Quintilians durch Hieronymus je in einer christlichen Unterrichtspraxis niedergeschlagen hat; jedenfalls fehlen dafür alle Zeugnisse. Und nur, wenn das der Fall gewesen wäre, könnte man der Stelle im Brief des Hieronymus einigen Quellenwert für eine „christliche Pädcomedat ut semper esuriat, ut statim post cibum possit legere orare psallere. Der Rückverweis auf adv. Iov. steht auch ep. 5 4 , 1 8 ; 123,8. — Übrigens ein merkwürdiges und ebenso getrübtes wie farbloses Bild vom Kinde! 89 Vgl. außer den bisher genannten Autoren etwa Schanz — Hos. 4 , 1 , 4 8 8 . 4 9 0 mit Lit., ferner Labourt, introd. p. XXXVI. 9° S. o. Anm. 82. — Auf jeden Fall gehörte also Quintilians Werk zur Bibliothek des Hieronymus in Bethlehem. Der Kuriosität halber sei O. Tescaris apologetische Behauptung erwähnt, Hieronymus habe die vorchristlichen Autoren aus dem Gedächtnis zitieren können (Stud. Rom 9, 1961, 19/28).

c) Die Schriftzeile als Furche? — 4. Basil, u. Anth.Pal. 6

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agogik" zubilligen. Der Furchenvergleich bei Quintilian hat, wie die Interpretation eindeutig ergibt, singulären Charakter ohne jeden Zusammenhang mit der Metapher „schreiben = pflügen". Hieronymus exzerpiert, greift also in „sulcus" keineswegs auf eine geläufige Metapher zurück. Denn die ältere römische Vorstellung lautete: wer schreibt, durchfurcht das Wachs. Die Formen des Furchens waren die Lettern. Dies ist selbst bei Quintilian so, obschon er ganz anderes Material meint. Daraus konnte sich die Deutung der Schriftzeile als Furche nicht entwickeln. 4. Basilius und Anth. Pal. 6 Wie scharf man hier unterscheiden muß, kommt zutage, wenn wir uns nach weiteren Belegen umsehen. Da überrascht es nun, die Bezeichnung der Schriftzeile als Furche, und zwar in dem beschriebenen „linearen" Sinn, nicht nur schon vor Prudentius zu finden, sondern auch außerhalb der lateinischen Literatur. Während im Latein diese Metapher gar nicht ohne weiteres möglich war, sind die griechischen Beispiele eindeutig, mögen sie auch im einzelnen voneinander abweichen. Das zweite nach Aristophanes steht erst wieder in einem Brief, den Basilius an seinen καλλιγράφος richtet. Er mahnt den Schreiber, nur ja die Zeilen richtig zu führen, nicht schief, so daß der Leser den Beginn der neuen Zeile erst lange suchen müsse und immer wieder von einer Zeile in die andere gerate. Müsse man in diesem Fall doch „immer wieder von vorn beginnen und die richtige Wortfolge suchen, umkehren und der Furche folgen wie in der Sage Theseus dem Faden der Ariadne" 91 . Der Text spricht für sich. Die Bezeichnung der Schriftzeile als Furche — es ist dies der älteste Beleg — wird offenbar gar nicht mehr als Vergleich empfunden. Sie ist selbstverständliche Metapher. Wichtiger noch, daß nicht die Perspektive des Schreibers, sondern die des Lesers den Ausdruck prägt: das fertige Schriftbild besteht aus „Furchen". Die Metapher hat statisch-linearen Charakter und betont die hilfreiche Geradheit der Zeile. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Beispiel griechischer Sprache; es ist später als Prudentius und steht Anth. Pal. 6,68,1 f. (Verfasser: Julian von Ägypten): Αύλακας ϊθυπόρων γραφίδων κύκλο ι. σι χαράσσων άν&εμά σοι τροχόεις ούτος έμδς μόλιβος92. Wie der Zusammenhang des Epigramms und ein Vergleich mit den voranstehenden Gedichten 6,62 bis 67 zeigt, handelt es sich um die 91 Basil, ep. 334: έν ω μηδαμοϋ φαινομένης της άκολου&ίας, άνατρέχειν έδει πάλιν καΐ την τάξιν έπιζητεΐν, άναποδίζοντα και παρεπόμενον τω αδλακι καθάπερ τόν Θησέα τω μίτρω της Αριάδνης φασί. 52 In Beckbys Übersetzung: „Dies mein rundliches Plättchen aus Blei, das vollendend der Linien / grade Furchen mir zog, bring ich. als Gabe dir dar."

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II. Schreibmetaphern

Weihung des Schreibmaterials — hier des Bleiplättchens oder -rädchens — durch den gealterten und berufsunfähigen Schreiber. An den Vergleichsstellen heißt die Bleistiftlinie/ die Julian αυλαξ (Furche) nennt, πορεία (67,1) oder κέλευ&ος (66, l ) 9 3 , zweimal auch κανών (63,2; 65,2). Die Geradheit der vom Schreiber zu beachtenden Hilfslinie — sie ist mit αυλαξ gemeint. Auch hier ist das Wort nicht mehr als Vergleich empfunden, sondern selbstverständliche Benennung, mag sie auch von der Anschauung her weniger sinnvoll sein als bei Basilius. Die perspektivischen Unterschiede zwischen beiden Texten — dort Schreiber und Hilfslinie, hier Leser und geschriebene Zeile — fallen gegenüber den Gemeinsamkeiten nicht ins Gewicht. Beide Stellen gehören in die Welt der Kalligraphie, wobei der für uns wichtigere Beleg, die Stelle bei Basilius, das älteste uns verfügbare Zeugnis für die Metapher Zeile = Furche darstellt. Die beiden Beispiele zeigen ferner, daß im Griechischen die Übertragung von αυλαξ in die Schreibterminologie verhältnismäßig spät liegt und, da es στίχος ja immer gab, auch nicht dringlich gewesen ist, anders als das ehedem mit dem lat. versus der Fall gewesen war. αυλαξ ist Metapher, versus nicht. Daran wird es auch liegen, daß auch dem griechischen Wort zwar durchaus nicht der konstitutive Sinn äußerer Parallelität fehlt, aber es einer Erweiterung zu „Vers" nicht mehr fähig war. Im Gegenteil: die Entwicklung nach Basilius führt nicht in die Poesie, sondern verstärkt im Bereich der Kalligraphie die Bedeutimg bloßer Geradheit und den abstrakten Sinn: einzelne Linie sogar ohne Schrift. So sehr man also jede Verbindung zu „versus" und zu „arare = schreiben" — sowie von daher zu Griffel = Pflug — von der Hand weisen muß, so wenig läßt sich aber auch die Herkunft der Metapher αυλαξ = Zeile aus der Vorstellung vom Schreiben als Feldbestellung (und der Schreibfläche als Acker) wahrscheinlich machen. Obschon „campus" als Metapher für Schreibfläche dann und wann bereits in der frühen lateinischen Literatur vorkommt, ζ. B. an der erwähnten Titiniusstelle, so hat doch einen Vergleich der Zeile mit der Furche zunächst nur das Griechische, und zwar, wie gezeigt, von vornherein im linearen Sinn. Der Vergleich Schreibfläche—Feld konnte sich hüben wie drüben aus der jeweiligen Metaphorik ergeben und läßt keinen Rückschluß auf einen geschlossenen Kreis von Vorstellungen zu. Wer nach der Funktion einer Metapher fragt, muß zunächst wissen, unter welchen Bedingungen eine „Übertragung" überhaupt möglich ist. Anfangs sah es so aus, als brauche man nur nach Ausdrücken für die Schriftzeile zu suchen. Aber erst im Milieu der Kalligraphie — und wir können hinzufügen: des Verlagswesens — war die Zeile wichtig und 9 3 Vgl. dagegen, die „römische" Vorstellung in Hier. ep. 1 0 , 2 : per curvos cerae tramites errantem stilum ducit.

c) Die Schriftzeile als Furche? — 5. Symmachus u. Ausonius

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bot sich zu metaphorischer Bezeichnung an. Das „Durchfurchen" des Wachses hat aber einen ganz anderen „Sitz im Leben". Jene lineare Vorstellung ist hellenistisch, diese, intensiv-verbal, ist römisch94. Hier waren die Tiefe des Griffels oder die Höhe des Stils bestimmend, dort galt die Geradheit der einzelnen Schreiblinie als Norm. Unter welchen Umständen konnten beide Vorstellungen einander näherkommen, so daß Prudentius von den „calami sulci" zu sprechen vermochte? 5. Symmachus und Ausonius Der erste Autor, der im Latein die Metapher Zeile = Furche zu bieten scheint, ist für uns Symmachus. Er rühmt nämlich an seinem Adressaten Valerianus: „alios sulcos stilo intermoves, alios ordines pangis" (ep. 8, 69, p. 234,5 Seeck). Der Sinn dieser hochgestochenen Formulierung ist einfach: „Du dichtest doch!"95 Nach allem nun, was sich bisher für die Schreibmetaphern ergeben hat, ist es schwierig, die Bedeutung „sulci" = Zeilen aus römischer Vorstellung und lateinischem Sprachgebrauch abzuleiten. Der — keineswegs metonymische — Ausdruck „stilus" scheint indes zu ergeben, daß ein Zusammenhang mit dem ursprünglichen Vergleich, der in der Metapher schreiben = pflügen steckte, noch besteht. Die Funktion der Wendung wäre dann auch hier Hervorhebung und Verstärkimg, wie im entsprechenden Gebrauch von „exarare" = schreiben, u. a. bei Symmachus selbst, und „stilo intermovere" wäre lediglich Umschreibung für „exarare", mit „sulcos" als innerem Objekt. Wie in aratrum = Griffel bei Commodian hätte sich bei Symmachus „sulcus" epigenetisch aus der Periphrase ergeben. Aber das alles vermag uns in Wirklichkeit über das plötzliche Auftreten und die Herkunft der Metapher in der lateinischen Literatur nicht hinreichend zu belehren, zumal wenn man bedenkt, daß „stilus" bei Symmachus — er hat es 32mal — nie anschaulich gebraucht ist, „Griffel" also auch dort steht, wo es eigentlich „calamus" heißen müßte (dieses Wort fehlt bei Symmachus überhaupt), wie etwa beim Brief96. Um das Problem zu fixieren: entweder ist „sulcus" bei Symmachus aus „exarare" usw. abzuleiten — dann ist es Abstraktion, nicht Metapher, heißt also 94

„Hellenistisch": weil als terminus post quem die Zeit gelten muß, da auch der Papyrus zur Verfügung stand und die Terminologie beeinflußte; „römisch": Beibehaltung einer älteren Ausdrudesweise. 95 Sie gehört in das „Lob des Adressaten" bzw. in die „laus epistulae aeeeptae" (Unters. II, Abschn. 2 c), der die Selbstherabsetzung folgt, vgl. außer Symn. ep. 8,69 auch etwa ep. 8,22 (die eigene lingua Latiaris). Z.B. Symm.ep.2,35; 3,81; 4 , 2 8 / 2 f . ; Roller a.a.O. 266 bezeichnet diese Ausdrucksweise als „abus", aber am Ende ist sie nur konservativ und will „stilus" durch archaisierende und romanisierende Übertragung „retten", wie das auch mit γράφειν, scribere, Feder usw. geschehen ist.

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II. Schreibmetaphern

auch nicht „Zeile". Oder es bedeutet (ohne Beziehung zu „stilus") „Zeile" als echte Metapher — dann ist Symmachus ihr Schöpfer. Es scheint sich nun eine bessere Erklärung anzubieten, wenn man sich Ausonius, dem guten Freunde des Symmachus (Symm.ep. 1,31,1), zuwendet. Es sind zwei Briefstellen, die in diesem Zusammenhang herangezogen werden müssen und möglicherweise älter sind als die von Seeck auf 388/9 datierte Symmachusepistel97; ohne Zweifel aber sind sie jünger als der Basiliusbrief mit seinem terminus ante quem 378 n. Chr. „Phoebus iubet verum Ioqui. Etsi Pierias patitur lirare sorores, numquam ipse torquet αύλακας" (ep. 10,8/10, p. 168 Schenkl).

„Apollo befiehlt, die Wahrheit zu gen 9 8 . Mag er auch zulassen, daß Musen zuweilen verrückt sind — selbst verdirbt (ihm selbst mißrät) Furche nie."

sadie er die

„Lirare" steht hier für „delirare" und bedeutet dasselbe wie „torquere αύλακας"; beide sind dem Zusammenhang nach das Gegenteil von „vera loqui". Nun hat die Wortgruppe delirare—deliratio—delirus — „Delirium"99 von Haus aus natürlich nichts mit der Schreibmetaphorik zu tun; denn der Furchenvergleich zielt hier ja auf den Gegensatz von normal und abnorm. In diesem Sinne nimmt auch Ausonius das Wort (de-) lirare auf und belebt die (kaum noch als Bild empfundene) Metapher neu, indem er den Ausdruck zerlegt und für das Objekt (liras) das griechische Äquivalent einsetzt. Die Frage ist nun, ob „torquere αύλακας" lediglich die gräzisierendgeschraubte Parallele zu „delirare" bildet und der griechische Ausdruck nur ornamental steht — oder ob es sich zugleich auch um eine Anspielung auf die altüberlieferte Metapher αΰλαξ = Zeile handelt. In diesem zweiten Fall ergäbe sich eine Metaphernkombination, da ein griechisches Äquivalent zu delirare fehlt und αύλακας als Pluralform ohne Zweifel überschießt (denn in delirare kann sinngemäß nur der Singular lira stecken). Außer der Pluralform spricht noch einiges für die Möglichkeit, daß Ausonius hier zum traditionellen „delirare" die griechische Metapher αυλαξ = Zeile hinzunimmt, nicht ohne daß auch diese ihren Sinn verändert und gleichsam aufs neue übertragen wird (gerade schreiben = normal sein). 97

Ausg.pr.6 8 . „Wahrheit sagen" korrespondierte als mythoskritische Metapher ursprünglich dem Topos von der Lüge der Dichter (vgl. zunächst JbAC 4,123 es f.). Aus dem reichen Material zu „vera canere" oder „loqui" sei genannt die Topos-Parodie Ovid. ars am. 1,30 (vgl. 3,790 f.; Ciris 55; Lukian.) und die Christianisierung Paul. Nol. c. 10,42 f.; 20, 28; Claud. Mar.Vict.aleth.prec. 101/3.110; Paul.Petr.v. Mart. 6,108; Arator 2,1081 f. Dabei zeigt sich, daß Ausonius lediglich einen längst banalisierten Topos aufpolstert, während die christlichen Dichter nur Phoebus o.a. durch Christus, Gott oder Märtyrer zu ersetzen brauchten, um zugleich poetischer und christlicher Tradition folgen zu können. 99 Vgl. Walde-Hofmann s. v. 98

c) Die Schriftzeile als Furche? — 5. Symmachus u. Ausonius

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Da ist zunächst der literarische Zusammenhang: Apollo und die Musen sowie der Charakter des Briefes als poetische Invitatio. Ferner setzt Ausonius in seinen Briefen griechische Ausdrücke nur, wo es sich um feste Begriffe handelt — von den bilinguen Episteln 12 und 14 natürlich abgesehen —, so am Schluß von ep.10 und in ep. 22,2,2. Schließlich hat Ausonius an einer anderen Stelle „delirare" tatsächlich als Schreibmetapher, und zwar neutral, ohne pejorativen Sinn, nämlich einfach in der Bedeutung „schreiben", also in Dekomposition gleichwertig mit „lirare" und fast so gebraucht wie „sulcare" = schreiben: nicht die einzelne Zeile führen, sondern die Zeilen ausdehnen100. Deutlicher spricht ein zweiter Beleg aus den Briefen des Ausonius: sed damnosa nimis panditur area, fac campum replices, Musa, papyrium. nec in fissipedis per calami vias grassetur Gnidiae sulcus harundinis pingens aridulae subdita paginae Cadmi filiolis atricoloribus (ep. 7,2,47/52).

„Aber ein allzu verderbliches Gefild tut sich da auf. Rolle auf, Muse, das Papyrusfeld. Nicht mehr schwärme über die Wege der spaltfüßigen 101 Feder die Furche des kindischen Rohrs, die Unterlage von trockenem Papier mit den schwarzfarbigen Töchterchen des Kadmus bemalend."

Das Ganze ist metaphorisch-mythologisch überfütterte Schlußformel und soll weiter nichts besagen als „Ich will jetzt aufhören zu schreiben". Den Vergleich der Schreibfläche mit einem Feld kennt Ausonius auch sonst102. Weiter gehören zum Dekor die Verbindung der Musen mit dem Schreibgerät103 und die hochgestochenen Umschreibungen des kalligraphischen Apparats, die aus ähnlichen Zusammenhängen, etwa aus den oben erwähnten Gedichten der Anthologie, genugsam bekannt sind. Daß nämlich (wie in der Anthologie) „viae calami" die Wege sind, die das Schreibrohr gehen soll, also die potentiellen Zeilen, und „sulcus harundinis" die Zeile bedeutet, die dann tatsächlich geschrieben wird, zeigen die letzten beiden Verse: „aridulae subdita paginae" entspricht den „viae calami", und parallel zu „sulcus harundinis" steht die mythologische Umschreibimg für „Tinte". Mit diesen beiden Metaphern für die Schreiblinie, nämlich „Weg" und „Furche", sowie mit der Bezeichnung der Schriftzeile als „sulcus" rückt dieser Text nun in deutliche Nachbarschaft zu den Beispielen aus Basilius und der Anthologie. „Furche" = geschriebene Zeile deckt sich mit der Metapher bei Basilius, und genau diese Parallele ist es, die uns hier interessiert (daß jede Verbindung zur Metapher Griffel = Pflug fehlt, zumal der Schreibvorgang gar nicht gemeint ist und daher auch schreiben = pflügen nicht hierhergehört, versteht sich am Rande). So 100

Ep. 19,40: ad te prolixius delirare (ebenfalls am Briefschluß). „fissipes": bei Horaz ep.2,1,61 noch „acumen". 102 aequor cereum: ephem. 7,13; vgl. Titin. com. a.a.O. und Prud. Per. 9, S3 f. 103 Z.B. epigr.1,12: Musarum ad calamos fertur... 101

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II. Schreibmetaphern

scheinen wir bei Ausonius zwischen einer — von der lateinischen Tradition her gesehen — flagranten Unanschaulichkeit und der Ableitung aus der griechischen Kalligraphie wählen zu müssen. Daß im Sinne der römischen Vorgeschichte unserer Schreibmetaphorik audi Symmachus nichts Ursprüngliches bietet, haben wir gesehen; denn wir wissen jetzt, daß im Furchenvergleich die Geradheit vorgeherrscht hat, anders als bei arare = schreiben, daß also auch bei Symmachus im Nebeneinander von „stilus" und „sulcus" nur „gehobene", nicht aber anschauliche Redeweise vorliegt. Man wird daher annehmen müssen, daß beide Ausonius-Stellen vom griechischen Sprachgebrauch abhängen, wie er uns einige Jahre früher bei Basilius begegnet. Wenn das richtig ist, läßt sich auch die Metapher bei Symmachus am einfachsten aus seiner Bekanntschaft mit Ausonius erklären104, allgemeiner gesagt: aus dem gräzisierenden Charakter der römischen Literatursprache in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts. Auf jeden Fall ist „sulcus harundinis" (Ausonius) die einzige wirkliche — und frühere — Parallele zu den bereits erwähnten „sulci calami" bei Prudentius. Der von Curtius auf Prudentius zurückgeführte Vergleich Schriftzeile = Furche, der aus arare = schreiben nur um den Preis dier Unanschaulichkeit hätte hervorgehen können (und also kein Vergleich mehr gewesen wäre), ist in Wirklichkeit ein Gräzismus, in der Umgebung des Symmachus übernommen. Man wird dann natürlich auch gut tun, sulcare = schreiben nicht als Abstraktion zu arare = schreiben aufzufassen, sondern ebenfalls als Übernahme eines Abstraktums bzw. einer Bezeichnung von vornherein der Schriftzeile (ohne Schreibvorgang). Wir sahen, daß sulcare = schreiben, gleichbedeutend mit „sulcos ducere" und bezogen auf „gehobenes" Abfassen, nicht nur die gleiche Vorstellung wie sulcus = Zeile voraussetzt, sondern auch in ähnlicher Streuung bei Griechen und Lateinern vorkommt, nämlich bei Origenes-Rufin, Basilius, Dracontius105. Unsere Ableitung des Komplexes sulcus — sulcare — calamus, im Unterschied zu arare —stilus, aus dem griechischen Sprachgebrauch liegt jedenfalls am nächsten, sowohl in Hinsicht auf das noch greifbare — und nicht eben reiche — Material als auch im Blick auf die Eigenaxt der lateinischen Literatur zwischen 350 und 400. Die Hypothese hat auch für sich, daß sie von Bekanntem ausgeht, während eine Ableitung aus originär lateinischem Sprachgebrauch nur mit vermuteten Zwischengliedern arbeiten könnte, um das plötzliche Auftreten der Metapher zwischen 370 und 390 n. Chr. zu erklären. Denn es gibt, wie gezeigt, auch keinen lateinischen Beleg für eine Metapher sulcus = Buchstabe, aus der sich, etwa im Zusammenhang mit dem Wandel im Buchwesen, eine Abstraktion 104 Vgl. Seeck, Symmachus-Ausg. pr. 82 u. Anm.166; W. Kroll, De Symmachi studiis (1891) 98. 105 Oben S. 92 Anm. 43/45.

c) Schriftzeile als Furche? — d) sulci calami in Apoth.

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zu sulcus = Zeile hätte entwickeln können. Die ältesten greifbaren Zeugnisse für die lineare Vorstellung Zeile = Furche sind griechisch, und die lateinischen Entlehnungen sind nicht nur sofort Metapher (nicht Vergleich), sondern beziehen sich auch von vornherein auf den Papyrus als Beschreibstoff, wobei sie nur noch hervorhebende poetische Funktion haben, wie besonders der Zusatz „stilo" bei Symmachus zeigt. Das tertium comparationis sind Geradheit und Ausdehnung, nicht aber die Intensität des Schreibvorgangs. So bedeutet denn „sulcus calami" die geschriebene Zeile. Spricht nicht auch die Tatsache, daß im Unterschied zum Griechischen αυλαξ = Zeile im Lateinischen stets das Schreibgerät dazugenannt wird (calamus oder sogar stilus), also die Metapher noch verdeutlicht werden muß, für die griechische Herkunft? Schließlich: was im Griechischen „gerades Schreiben" bedeutet, meint im Lateinischen „dichten": Ubertragimg von Prosa in Poesie kommt also hinzu. d) „sulci calami" in Prud. Apoth. Nach dieser Vorarbeit können wir uns der Schreibmetaphorik bei Prudentius zuwenden. Die eine der hierhergehörigen Apotheosis-Stellen ist oben bereits genannt. Im Zusammenhang lautet sie: „Nehmt sie vor, die geheimnisvollen Worte, los, schlagt es auf, das Buch, das der heilige Jesajas, von Gott inspiriert, verfaßt hat! Prüfen wollen wir sie und die ,Furchen des Schreibrohrs' noch einmal lesen, die seine goldene Hand mit flammenden Lettern (notis sidereis) gezogen hat. Kommt herzu, wenn ich die rötlichen (feurigen) Schriftzeichen (rutilos apices) demütig anbete, sie unter Tränen verehre und innig küsse: Freude, lauter Freude läßt mich weinen!" 1 0 6 Das Ganze ist zunächst einmal Apostrophe, drapiert durch sakralisierendes Vokabular (fatus, pandere, Deus, sanctus, adorare, venerari) und Vergilimitation 107 . Weder die Aufforderung an ιοί Apoth. 594/600: Promite secretos fatus, date, pandite librum/evomuit spirante Deo quem sanctus Esaias: / percensere libet calamique revolvere sulcos,/ sidereis quos illa notis manus aurea ducit./Ite hinc, dum rutilos apices submissus adoro,/ dum lacrimans veneror dumque oscula dulcia figo;/gaudia concupiunt lacrimas, dant gaudia fletum. Dann folgen Jes.7,14 und Mt. 1,22. — „illa manus" = „illius manus"; „apices" ist hier schon soviel wie „Schrift", vgl.Cath.9,26. Zu „fatus" s. u.a. Mart.Cap. 1 , 2 3 (Apollinis fatus). 107 Apostrophe bei Prudentius: Lavarenne, £ t . 538/40 (sehr knapp); F.X.Schuster, Studien zu Prud. (Diss. Würzburg 1909) 9/47. Sie ist Topos der Vergegenwärtigung und muß als solcher auch im Zusammenhang des historischen Bewußtseins im 4. Jahrhundert gesehen werden: W.Hartke, Römische Kinderkaiser (1951) 51/74. „Date" im Sinne von „los" auch c. Symm.2,732; P e r . 3 , 2 0 7 ; 4,193 (u. Anm.116); 5,98. Ditt.51 ist daher gegen Lavarenne zu interpungieren: lignum, date, gurgitem in istum conicite! — Das Nebeneinander von „notae" und „apices" ist bei Prudentius stereotyp (weitere Beispiele im folgenden). Der nur ornamentale Charakter der Adjektive in 596 f. liegt auf der Hand. V. 599 ~ Verg. Aen. 1,687, freilich längst konventioneller Hexameterschluß, vgl. Ciris 253; Ovid.met.4,141; Sil. 11,331; Il.lat.848; Stat.Theb.12,27; Anth.Lat.83,110; Paul. Nol.c. 18,249; Arator 2,412. β

8356

Thraede, Prudentius

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II. Schreibmetaphern

die Häretiker noch die verwendeten Bilder dürfen natürlich realistisch genommen werden; auch die Verben und Adjektive muß man in der Übersetzung unanschaulich wiedergeben, so evomere: abfassen, nicht „ausspeien"108; „sidereus" und „rutilus" dienen ebenso wie „aureus" zur Überhöhung. Auch das Pathos, mit dem der Dichter von sich selbst redet, ist formbedingt (adoro, veneror, lacrimo, oscula figo); es ist das rhetorische Ich, das wir hören. Für die Schreibmetaphorik, zu der ja außer „calami sulci" auch „notae" und „apices" gehören, bedeutet das nun: sie ist ebenfalls nicht anschaulich zu verstehen, sondern dient der Hervorhebung. Handelt es sich doch um Jesajas, der von alters her in der apologetischen Auseinandersetzung um den Weissagungsbeweis die wichtigste Rolle gespielt hat. Daß mit „sulci calami", den „Furchen der Feder", die Buchstaben gemeint sind, kann zum mindesten nicht bewiesen werden. In jedem Fall würde es sich um eine Metapher handeln, die in abstrakten Gebrauch übergegangen ist (weil die Feder keine Furchen zieht, diese aber Farbbezeichnungen ausschlössen)109. Aber wo wäre dann in der lateinischen Literatur die anschauliche ältere Stufe? Dieselbe Frage haben wir auch an den Symmachustext stellen müssen. Unsere früheren Überlegungen zu Ausonius, Symmachus und Basilius legen es nahe, den Sprachgebrauch des Prudentius ebenfalls als Gräzismus zu verstehen, den Schriftsteller wie Symmachus oder Ausonius direkt oder indirekt vermittelt haben. Die einzige Parallele zu „sulci calami" (Prud.) ist ja tatsächlich Auson. ep. 25,50. Für die Methode der Interpretation ist die Stelle insofern wichtig, als sie sowohl einen Adressaten vorauszusetzen scheint als auch Selbstaussagen enthält und Anschauimg vorgibt, aber keines dieser Elemente realistisch gedeutet werden darf. Der Abschnitt klingt ekphrastisch; gleichwohl beherrscht ihn das Pathos. Auch die zweite Partie, in der „sulcos ducere" vorkommt, gehört in die Apotheosis, steht ebenfalls in der Apostrophe, desgleichen mit Bezug auf das AT: „Merkst du nicht, Tor, daß du dir unser, unser Passa vorstellst und auf den vorgezogenen „Furchen" des alten Gesetzes das ganze Geheimnis nachmalst, das die wahre Passion enthält ( = das in Wirklichkeit die Passion Christi darstellt), die Passion, die unsere Stirn mit ihrem Blute schützt und das Haus unseres Leibes mit dem Kreuzeszeichen versieht?"110 108 „Evomere" für „abfassen" zuerst Ennius ann.241; die christliche Polemik benutzt sehr oft den ursprünglichen Sinn, wenn sie Schriften der Gegner meint, z.B. Lact. inst. 5,2,4; Hier. adv.Pelag. prol.2; In Os.3,11; c.Vigil.3; ep.70,3 u. ö.; Prud. Per. 12,23. Unscharf Lavarenne £t. 1484. 109 ßirt, Buchwesen 108.504 mit Lit. HO Apoth. 355/9: non sapis, imprudens, nostrum te effingere pascha, legis et antiquae praeductis pingere sulcis omne sacramentum, retinet quod passio vera,

d) sulci calami in Apoth.

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An dieser zweiten Stelle ergibt sich nun aus dem bisherigen Überblick über die Schreibmetaphorik ein willkommenes Mehr an Interpretation. Wir können jetzt sicher sein, daß die „sulci praeducti" weder etwas mit den „praeformatae litterae" der Wachstafel noch gar mit den vorgekerbten „sulci", die Quintilian vorschlägt, zu hm haben, so verlockend es wäre, anzunehmen, Prudentius habe hier den „Buchstaben des Gesetzes" metaphorisch wiedergeben wollen oder auch den auf Plato zurückgehenden Vergleich der auf der Wachstafel vorgeschriebenen Buchstaben mit dem politischen Gesetz — auf das AT übertragen 111 . Immerhin will Prudentius sagen, daß die Juden das „alte Gesetz" wörtlich statt als Christuszeugnis verstehen, den Exodusbericht also historisch statt allegorisch und meta-nomisch lesen. Wichtig ist nun einzig und allein, wie Prudentius diesen nicht eben originellen Vorwurf poetisch gestaltet. Da ist zunächst die Metapher „sulci": sie überhöht wie in Apoth.596f. den bloßen Ausdruck „Schrift" mit Hilfe eines Gräzismus — wir greifen hier also ein Stilelement, das nach Gehalt und Funktion einmal deutlich auf zeitgenössische Vorbilder zurückgeführt werden kann. Basilius, Ausonius, Symmachus, Prudentius — hier läßt sich weder nach „christlich" und „nicht-christlich", noch in Griechisch und Römisch aufteilen. Der „gehoben-rhetorische" Ausdruck (Symmachus) oder die mythologisch drapierte Periphrase des Schreibgeräts (Ausonius) dienen bei Prudentius zur Hervorhebimg des „Heiligen" im biblischen Schrifttum. Während allerdings die griechische Metapher für „Schrift" bei Ausonius und Symmachus das Gedicht meint, geht es bei Prudentius auf die Heilige Schrift! Die eigentlich „christlichen" Motive sind an dieser Stelle ebenso traditionell wie der zugrunde liegende apologetische Gedanke: Allegorese, „Geheimnis der Passion", Etymologie Passa—Passio 112 . Im Mittelpunkt stehen dabei poetische Absicht und literarische Technik des Dichters: Metapher, Wortspiel (Etymologie), Anapher, Apostrophe — das sind passio, quae nostram defendit sanguine frontem, corporeamque domum signato collinit ore? Vgl. Exod. 12,5/7. Zum letzten Vers: F.J. Dölger, JbAC 4 (1961) 5ff., E. Dinkier, JbAC 5 (1962) 93ff.; Prud. Cath.9,83f. m Siehe oben S.94 Anm.53; man könnte daran denken, daß Prudentius die Juden als Fibelschützen bezeichnen will, ähnlich wie Hieronymus die wörtliche Auslegung mit den Anfangsgründen des Elementarunterrichts vergleicht — im Unterschied zur interpretatio tropologica: In Ez. 9,30 (PL 25,290 BC). Wahrscheinlicher ist aber doch wohl sulcus = Hilfslinie. 112 Die Geschichte der etymologischen Deutung von „passa" behandelt Ch. Mohrmann, £t. 1,205/22, freilich ohne hinreichende exegetische Grundlegung (so z.B. Hebr. 4,1/11) und ohne Heranziehung der griechischen Väter des 4. Jahrhunderts (wichtig ist etwa Greg. Naz.ep. 120,1). E>ie älteste „christliche" Fassung für Passatransitus (Siaßa-nrjpiovusw.) ist der Abendmahlsbericht des Matthäus, ferner Joh. 1 3 , 1 (was Augustin erkannt hat); s. noch Max.Taur. s. 5 4 , 1 (p. 218 Mutz.). 8»

116

II. Schreibmetaphern

Stilfaktoren, die Prudentius der rhetorischen Tradition entnimmt, wie das jeder spätantike Dichter tat. Die Apostrophe zeigt auch hier, daß der Adressat fingiert, daß es auf aktuelle Polemik also gar nicht abgesehen ist. Sie ist Stilelement, nicht „Inhalt", und das entspricht dem Charakter des ganzen Gedichts. Daher werden in Apoth. 595/98 die Häretiker als solche auch gar nicht genannt; denn es trifft nicht zu, daß Prudentius in dieser Partie die Ebioniten bekämpfe und sie Homuncioniten nenne, wie Kurfess behauptet 113 . Immer wieder hat man versucht, die ganze Apotheosis aktuell zu deuten und ihren einzelnen Abschnitten einen häresiomachischen Zusammenhang zu geben — eine Tendenz, die um jeden Preis einen „christlichen" Inhalt konstruieren wollte und die poetische Technik zu vernachlässigen geneigt war 114 .

e) Die Schreibmetaphorik in Peristephanon 1. Per. 3 und 4 Innerhalb seines Werkes findet sich die Schreibmetaphorik nun auch noch in ganz anderer Gestalt, und das zeigt abermals, wiewenig sich in der christlichen Poesie mit einer linear gedachten Bedeutungsgeschichte arbeiten läßt und man vom Kontext eines Ausdrucks absehen darf. Die weitere Verbreitung jener Metaphern ist auf den Zyklus (?) Peristephanon beschränkt; hier aber sind sie wiederkehrendes Motiv. Und zwar werden sie zwangsläufig Element der Ekphrasis, näherhin: Teil der Foltermetaphorik. Im kurzen Epilog des Gedichts auf die achtzehn Märtyrer von Saragossa 115 heißt es : „Mit andachtsvollen Tränen laßt uns die Furchen des Marmors netzen." U i Das sind die in den Marmor des Grabsteins geA. Kurfess, a.a.O. 1056; der Zusatz „contra homuncionitas" (?) steht in den Handschriften nur als nachgetragene Inscriptio, wohingegen der Text des Prudentius von V. 552 an auf eine bestimmte Sekte ja gar nicht schließen läßt; „sunt, qui Iudaico cognatum dogma furori instituunt..." richtet sich gegen ebionitisches Denken, ist aber, als nachnizänischer Topos orthodoxer Christologie, viel zu allgemein formuliert, als daß man den vermeintlichen Adressaten identifizieren könnte, vgl. die Polemik gegen „nostri iudaizantes" (einiges Material in JbAC 2, 1959, 105); allgemein vgl. oben S . l l Anm.14; zum Ganzen ist immer noch richtig: G. Boissier, Le fin du paganisme 2 (Paris 1891) 147. Es nimmt daher wunder, mit welcher Selbstverständlichkeit Lana a.a.O. 40 f. gleichwohl wieder von Tertullianbenutzung redet. Den Anachronismus der Polemik betont auch R. Keydell, ByzZ 44 (1951) 321. 1 1 4 Siehe oben S.lOf. Anm.10 und 14. 1 1 5 Vgl. Lavarenne, Ausg. 4,62 f. l l e Per.4,193f.: nos pio fletu, date, perluamus sulcos. Das „Modell" ist dasselbe wie Apoth.594ff.; vgl. Paul.Nol. c. 20,141: oscula figebat (oben Anm.107) supplex fletuque lavabat; marmor = Sarkophag: u.a. Stat.s.5,1,230. Zu „date" = „los" s. o. Anm. 107.

e) Prud. Peristephanon. — l . P e r . 3 u . 4

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hauenen Tituli der Märtyrer. Da das Gedicht, eine hagiographisch umgeformte Laus urbis 117 mit dreifachem Katalog 118 —also abermals Christianisierung eines rhetorischen Modells, in diesem Fall größeren Formats —, einer Ekphrasis entbehrt und die verschiedenen Motive der Folterbeschreibung nur teilweise und kurz verwandt werden 119 , verwundert es nicht, auch die Schreibmetapher hier noch unverarbeitet anzutreffen. Der Sinn von „sulcus" entspricht etwa der Quintilianstelle; emphatischer Kontext, verstärkt durch „date", „lacrimae", innere Beteiligung des Dichters — das ist ein ähnlicher Zusammenhang wie Apoth. 594/600. Das Pathos ist hier, der Gattung gemäß, nicht apologetisch, sondern wird getragen von der Hoffnung auf Interzession 120 . Nun liest man in demselben Gedicht „sulcus" aber noch in einer ganz anderen Funktion: „Erzählst, wie bittere Furchen die schrecklichen Wunden bilden." 121 Die Metapher bezieht sich also auf die Wunden; sie soll natürlich die Anschauung verstärken, ganz anders als in der Apotheosis (es fehlt denn auch jede Emphase). Die Metapher Wunde = Furche läßt sich bis in die attische Tragödie zurückverfolgen 122 . Eine Vorstellung, die im Märtyrer-Zyklus eine große Rolle spielt, ist nun der Vergleich der Wunde mit dem Schriftzeichen auf dem Hintergrund der Furchen-Metapher. Ein bloßer Syllogismus aus Per. 4 , 1 1 9 und 193 f. würde das freilich nicht beweisen können, zumal in diesem Gedicht die ekphrastischen Motive nur seltener vorkommen. Um zu sehen, daß beide Stellen aus Per. 4 nur Splitter eines in den größeren Gedichten wichtigen Gedankens sind, vergleichen wir zunächst einen Passus aus dem Vincentiushymnus: von den Leuten, die » 7 Vgl.etwaQuintilian i n s t . 3 , 7 , 2 6 f.; P r u d . P e r . 2 , 5 2 9 f f . (oben beiAnm. 154ff.); 4,57.61/4. 118 V . l / 1 6 : Praefatio; 16/52: alii (spanische Städte) — 5 3 : tu (Caesaraugusta). Neueinsatz V.141. 119 Exorzismus: V . 6 5 / 7 2 . 1 0 9 / 1 2 . Hervortreten von Knochen und Eingeweiden: V. 1 2 1 / 4 . 1 3 7 f. 120 195/200. 121 P e r . 4 , 1 1 9 f . : taetra quam sulcos habeant amaros vulnera, narras. Zu „amarus" ähnlich abstrakt auch Ps. 2 9 5 ; Per. 9 , 2 7 ; Apoth. 344) vgl. J. Sofer, Lexikal. Unters, z. d. Etym. d. Isid. v. Sevilla, Glotta 16 (1928) 25 f. A m nächsten steht Hier. In Arnos 3 (PL 2 5 , 1 0 8 9 C ) : tormentorum amaritudo. Entscheidend ist, da abstrakter Gebrauch von „amarus" natürlich viel älter ist (s. ThLL s . v . sowie Stat. s . 4 , 7 , 5 0 f . ; Hier. ep. 4 0 , 1 ; S y m m . e p . 3 , 1 7 , 1 ; 6 , 2 1 . 5 5 u. ö.), daß Prudentius erneut in die Anschauung überträgt, ohne die A r t der Sinneswahrnehmung zu beachten, wie das Hier. ep. 1 1 , 3 (lacrimae) und Paul. Nol. ep. 2 0 , 6 (fluctus) durchaus tun. Damit haben wir einige beredte Beispiele für den anschauungsentleerten Gebrauch ursprünglich konkreter Adjektive, ein Symptom der Sprache des Prudentius überhaupt. Es geht daher wohl nicht an, von des Dichters „Hang zur Anschaulichkeit" zu sprechen, wie das Stam a.a.O. 247 (mit Lit.) tut (oben S . 1 6 Anm. 35). 122 Aischyl.Choeph.25; Eurip. Here. fur. 161; Rhesus 7 9 2 ; Athen. 1 3 , 5 5 7 F ; Claud, rapt. Pros. 426. In der Folterbeschreibung wird diese Metapher mit „bisulcus" (Zweizack, vgl. trisulcus) gekoppelt.

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II. Schreibmetaphern

in Scharen den soeben aus grausamer Folter für kurze Frist freigegebenen Märtyrer besuchen, „durchfährt der eine die beiden vom Foltergerät geschlagenen Wunden (sulcos) mit Küssen, der andere ist froh, ihm das rote Blut vom Körper zu lecken"123. Mit diesen Versen sind wir schon in einer typischen Ekphrasis, deren Stil bezeichnend ist für den oft zitierten „Realismus" des Dichters124. Das übergreifende Motiv: das Zusammenströmen der Massen beim Heiligen125, reicht bis V. 344, „Ille" und „hic" wird überboten durch „plerique" (V. 341/44): Die Mehrheit fängt mit der Kleidung Blutstropfen auf, um sie als Berührungsreliquie den Nachkommen zu überliefern125. Wie „cruor" durch das stereotype „purpurans" verstärkt wird, so dient die Metapher „sulci" als überhöhender Ausdruck für „Wunden". Die Bedeutung des Wortes liegt genau zwischen Per.4,119 und 193f.; denn wie in 4,193f. meint das Wort die Furche, der die Küsse oder Tränen folgen; das ist hier aber zugleich die Furche, die die Wunden bilden (wie 4,119), ähnlich den Windungen der Schrift. Warum sind die „Furchen" hier „duplices"? Weil sie von den „ungulae bisulcae" stammen127. 123 Per. 5,337/40:

ille ungularum duplices sulcos pererrat osculis, hic purpurantem corporis gaudet cruorem lambere. duplex = duo, Lavarenne £t. 962; „purpurans" auch hier abundant (vgl. unten Anm. 159). Zum Modell s.o. Anm.116; es ist gleich für Bibel, Sarkophag und Wunden! Vgl. noch Paul. Nol. ep. 18,8 ([lambere] vulnera = vestigia dominicae passionis). In Per. 5,340 liegt der „Effekt" im Nebeneinander von „gaudere" und „cruor" (wie in Apoth. 600 von „gaudia" und „fletus"), vgl. Per. 3,141 ff. (unten Anm. 131.137). 124 Diesen Realismus, von Lavarenne a.a.O. 547 unter die „defauts" gezählt, hat die Märtyrerlegende schon sehr früh, und zwar schon seit 4. Makk., vgl. H. Delehaye, Les passions des martyrs et les genres litteraires (1921) 284 u. ö. Dennoch hat man versucht, ihn nicht aus Rhetorik und Hagiographie, sondern aus der spanischen Herkunft des Dichters zu erklären, so C. Morawski, Eos 22 (1917) 7/9; Lavarenne a.a.O. 1628; Labriolle, Hist. litt. lat. ehret. 4 (1920) 608; Lana a.a.O. 89; Stam a.a.O. 213 f. mit weiteren Gewährsleuten. Ähnlich hat R.M.Pidal, Introducion a la Historia de la Espägna Romana 1935 XXIX, die „hagiographische Komik" in Per. 2,401 (unten Anm. 136) als typisch spanischen „humorismo atroz" bezeichnet; vgl. die Kritik bei Curtius a.a.O. 426 f., ferner oben S. 8 Anm. 5. 125 Vgl. Per. 1 und 3 Ende, sowie 11,193. G. Lucius-Anrieh, Die Anfänge des Heiligenkultes (1904) 337/9; R. Reitzenstein, Hellen. Wundererz. (1906) 79v 126 Vgl. Ambros. ep. 22,4.9.17; August, conf. 9,7,16; Paul. Mil. v. Ambros. 14 (PL 14,32 A). 127 Per. 1,44; 10,73. Zu den „ungulae" vgl. u.a. Euseb.h.e.8,8; Cypr.ep. 10,2,2. Hieronymus und Ambrosius kennen dann schon das „Furchen" der „ungulae": Hier, ep. 1,3 (sulcare); Ambros. exh. virg. 12,82 (exarare), vgl. ferner Claud, tert. cons. Hon. pr. 14; August, conf. 1,9,2. Das Durchfurchen der Haut (Per. 3,148; arata cutis) und des Körpers (durch Runzeln: u.a. Horaz.ep.8,4; Ovid.a.a.2,118; Ambros.off.

e) Prud. Peristephanon. — 1. Per. 3 u. 4

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Die Gleichsetzung von Buchstabe, Furche und Wunde wird erst im größeren Rahmen recht verständlich. Dieser Rahmen ist die Anschauung von der Folter als einer Beschriftung des Märtyrers und vom Folterwerkzeug, den „ungulae", als Schreibgerät 128 . Sie spielt eine außerordentliche Rolle in den Gedichten 3, 9 und 10 des Zyklus, jedesmal in anderer Funktion. Die Metapher „sulcus" ist da freilich, ganz anders als in der Apotheosis, aus den „ungulae bisulcae" abgeleitet; sie hat daher ganz konkret-anschauliche Bedeutung und dient dem Realismus der Darstellung. Zugleich konnte sie aber auch Vehikel für eine Assoziation mit der Schreibmetaphorik sein, wobei auch diese, als Element der Ekphrasis, Tiefe statt Linie meint. Eine Tendenz zur Bezeichnung der „Zeile" wird hier in „sulcus" also nicht zu erwarten sein, zumal die Schreibmetaphern kein Solopart sind. Im ersten der drei genannten Gedichte, einem Hymnus auf Eulalia 129 , heißt es: „Nicht lange, da zerfleischen die beiden Folterknechte den schlanken und geschmeidigen Oberkörper, die Marterklaue trifft beide Seiten des Mädchens und spaltet sie bis auf die Knochen 130 . Eulalia aber zählt die Zeichen (notae): „Hier wirst du, Herr, mir auf den Leib 1 , 1 2 , 4 1 ; Hier. ep. 1 0 , 2 ; 1 4 , 1 3 ; 5 2 , 1 ; vermibus: Hier. ep. 3 8 , 2 ; sulcare = tätowieren bei Amm.Marc.) wird dahinterstehen; vgl. Ausfeld, aro, ThLL 2,627,45/55. 128 N u r die Verbindung von Schreib- und Foltermetaphorik ist also für Prudentius originell. Sie kehrt als „schreibende Egge" bei F.Kafka, In der Strafkolonie, wieder. 129 25 Verse exordium (davon V. 6/10 kurze laus urbis), 25 Verse epilogus (wie in Per. 10). Rede Eulalias und des Exekutors je 30 Verse. Kurze Orientierung mit Lit.: Lavarenne, Ausg. 4,51/3. Daß dieses Gedicht zu jener Mischgattung gehöre, die passio und vita zu verbinden pflegte, Curtius a.a.O. 425, geht aus dem Text nicht hervor. Prudentius nennt nur Heimat (Emerita) und Alter (zwölfeinhalb Jahre). „Für die Kindheit der Eulalia . . . hat Prudentius offenbar keine historischen Zeugnisse besessen, denn er verwendet dafür hagiographische Topoi, die sich hundertfach belegen lassen", Curtius a.a.O. 427; dazu gehört das „puer-senex"-Motiv (oben S . 5 0 Anm. 110), z.B. v . 2 4 f . Aber erstens beschreibt Prudentius „die Kindheit" nur kurz (16ff.) und zweitens: wo hätte er hagiographische Topik nidit verwendet? Es handelt sich doch um Legenden! Zur Nachwirkung vgl. Kurfess a.a.O. 1051, der aber das daktylische Metrum fälschlich aus dem Inhalt statt aus dem Namen deutet. Inhaltlich vergleichbar ist etwa Ambros, virg. 2 , 5 ff., mit dem puer-senex-Motiv „vincere aetatem" (unten Anm. 218), ferner Hier. ep. 1. — Per. 3 beginnt mit einem mindestens bis in die Kaiserzeit zurückreichenden Motiv: germine nobilis Eulalia, mortis et indole nobilior, vgl. laus Pis. 5/7 (virtus als nobilitas statt genus nobile); Hier, ep. 107,13; 108,1 (nobilior sanctitate quam genere); Paul. Petr. v. Mart. 5,200 (nobilior Christi cultu quam sanguinis ortu) u.a.; bei Prudentius außer Per. 10,129 (Christo quique servit, ille vere est nobilis) die ganze Gleichsetzung von Martyrium und Adel, z.B. P e r . 2 , 5 5 5 ; 4 , 7 6 . 1 4 7 f . (vgl. Paul.Nol.ep. 1 3 , 1 5 ) ; 14,125. Aus zeitgenössischer Literatur ferner: Symm.ep.4,38 (p. 1 1 2 , 4 f . ) : genus ei senatorium est, mens et modestia origine sua ac Stirpe nobilior; Ambros. virg. 1 , 6 5 ; Hier. ep. 127,1; 1 3 0 , 3 . 6 . 7 (nobilem non minus sanctitate quam genere). Daß virtus durch christl. sanctitas ersetzt wurde, erkennt man leicht. 1 3 0 Ein immer wiederkehrendes Motiv drastischer Schilderung, vgl. Per. 4,124.137; s. u. zu Per. 10.

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II. Schreibmetaphern

geschrieben! Welche Freude, diese Striche (apices) zu bemerken, die, Christus, deinen Triumph nachschreiben. Und selbst das Blut in seiner Röte, das meinem Leib entströmt, tut deinen Namen kund!" 131 Für sich genommen heißt das: am Märtyrer wird das Heilsgeschehen ablesbar132; das Folterwerkzeug notiert es regelrecht, und die Wunden sind das Stenogramm der Passion Christi133, ja das Blut selbst wird zum Text 134 . So deutet Eulalia die Folter. Diese Deutung, von der die Schreibmetaphern ein Teil sind, bildet den Kontrapunkt zum grausigen Detail des Foltervorgangs und will die Distanz bezeichnen, mit der die Heldin das Martyrium betrachtet. Den Gleichmut des Märtyrers gegenüber seinen Leiden zu betonen, ist altes Motiv der Legende135. Prudentius gestaltet es formal neu, indem er die traditionelle Ataraxie (spectare potius tormenta quam perpeti, Ambros. virg. 2,7,38) in Gestalt distanzierter Deutung durch die Leidende selbst gibt. Deswegen spricht der Märtyrer hier in Metaphern, wie anderswo in Witzen 135 . Daß es sich dabei um eine MotivEinfügimg handelt und der Kontrapunkt ein wenig aus dem Takt fällt, kann man noch daran erkennen, daß die „notae", anschaulich genommen, den wirklichen Hergang ja beträchtlich unterbieten. Aber genau das ist ja auch mit der Einfügung des Motivs gemeint. Erneut stellen wir also fest, daß die Darstellung nicht Anschauimg bezweckt, sondern überlies t Per. 3,131/40: nec mora, carnifices gemini iuncea pectora dilacerant, et latus ungula virgineum pulsat utrimque et ad ossa secat, Eulalia numerante notas: „scriberis ecce mihi, Domine, quam iuvat hos apices legere, qui tua, Christe, tropaea notant! Nomen et ipsa sacrum loquitur purpura sanguinis eliciti." Das Pathos liegt hier im Kontrast zwischen grausamer Folter und Zartheit des Opfers einerseits und der 'mannhaften' intrepidatio andererseits. 132 Vgl, Delehaye, Passions 19 f. 1 3 3 „notae" und „apices" in der traditionellen Doppelung. Vergleichsstellen und Lit. bei J. Arns, La technique du livre d'apres Saint Jeröme (Paris 19S2) 51/7. 134 Vgl. Per. 10,563/5. Oben Anm.123. Vorauszusetzen sind Äußerungen wie Ambros. ep. 22,2 über die „notae cruoris triumphalis martyrum" (PL 16,1020 A); vgl. ferner Per. 1 , 3 (notis sanguinis scripta). 135 Delehaye a.a.O. 284/8. Ambros. virg. 2 , 7 , 3 8 : spectare potius tormenta quam perpeti. Hier. ep. 127,13,1. 13Ä Per. 2,401 f. bitte Laurentius nachzusehen, ob er unten genug geröstet sei — sonst möge man „den Braten wenden"; so zuerst Ambros. off. 1,41, vgl. Socrat.h. e. 3,15; Lucius a.a.O. 94; näheres bei P. de' Cavalieri, Studi e Testi 27 (1915) 63 ff.; Delehaye, An. Boll. 51 (1933) 55 ff. — Das ist „hagiographische Komik" (Curtius a.a.O. 426) aus römischer Tradition, nicht aber typisch 'spanisch' (so Pidal u. a., s. o. Anm.124). Vgl. ferner die Gleichsetzung von „tormenta" usw. und „ludus" in Per. 5,61/4.

e) Prud. Peristephanon. — l . P e r . 3 u . 4

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ferte Motive poetisch verarbeitet, ohne die Erzählung organisch aus dem Hergang zu entwickeln. Mußte doch auch der Hergang selbst vom Dichter konstruiert werden. Es verhält sich also mit Bildern und Szenen in den hier verhandelten Fällen ebenso wie mit den Reden, denen man infolge eines zu engen Begriffs von „Rhetorik" bisher als einzigen den Mangel an Einpassung vorgeworfen hat. Das Distanzmotiv, dem die Schreibmetaphorik hier untergeordnet ist, drückt sich nicht nur im kaltblütigen „numerare notas" aus, sondern auch im „quam iuvat": nicht nur reflektierender Gleichmut, sondern sogar Freude. Dies zweite setzt sich in den folgenden Versen fort 1 3 7 . Die deutende Metaphorik schließt unmittelbar an den Doppelsinn des Wortes „notae" an, das sowohl die Wundmale als auch die Schriftzeichen, speziell die (tachygraphischen) Kürzel, bezeichnen kann. „Nota" und „apex" kehren, wie wir sehen werden, in diesem Zusammenhang sehr häufig wieder. Die stereotypen Ausdrücke „sacer" und „purpura" stehen auch hier überhöhend. Die Schreibmetaphorik hat also in Per. 3 nur sekundäre Bedeutung und ist nicht Teil der Ekphrasis; ferner kommen „Wunde" und „Schriftzeichen" nicht ganz zur Deckung, wohl weil die Schreibmetaphern in die Deutung eingebettet sind und diese Deutung der Ekphrasis kontrastiert. Es scheint zunächst paradox, daß selbst der besagte blutrünstige „Realismus" des Dichters nicht nur stereotype Motive verarbeitet, sondern auch gar nicht richtige Anschauung bezweckt; dient er doch nur der Konkretion bestimmter gedanklicher Motive. Auch dieser sog. Realismus erklärt sich also aus seiner formalen Funktion, nicht aber psychologisch, etwa aus dem spanischen Naturell des Dichters. Er ist Stileigenheit, wie sich im folgenden bestätigen wird. Da in Per. 3 die Schreibmetaphern also nur partielle Bedeutimg haben und nicht aus dem Zusammenhang des ganzen Gedichts abzuleiten sind wie inPer.9 und 10, müssen wir auch ihren Ursprung woanders suchen 138 . 137 V. 141/5: haec sine fletibus et gemitu laeta canebat et intrepida; dirus abest dolor ex animo, membraque picta cruore novo fonte cutem recalente Iavant. Zum Motiv „Freude" (vgl. Anm. 123.131) vgl. in Per. 5 „ridebat" (V. 117) und „laetior" (V. 125), ferner „adrisit" Per. 10,671. Auch die letzten beiden Verse aus Per. 3 unterbieten den Hergang sehr, wobei die Ausdrucksweise — „die von neuem Blut bemalten Glieder waschen die Haut mit erneut warmem Naß" — wenig geglüdct scheint, „cruor novus" bzw. „fons recalens" hat seine Parallele im „sanguis refrigeratus" von Per. 5,143, das „lavare" in „rivis cruoris lavare" von Per. 5,12. Der Absicht des Dichters, die euphemistische Deutung des Folterleidens (vgl. die Krankheitsmetaphern), wird ohne Zweifel die Anschauung zum Opfer gebracht. Metaphern wie pingere, fons, recalere, lavare haben hier sichtlich genau die entgegengesetzte Funktion wie das Bild sulcus = Wunde. 138 Das soll nichts für eine relative Chronologie der Märtyrergedichte besagen, obschon sie sich am ehesten stilistisch begründen ließe. Die Romreise (sie) zum ter-

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II. Schreibmetaphern

2. Per. 10 und 11 Weitere Klärung bringen drei Partien aus dem Romanos-Hymnus Per. 10, der wegen seiner Länge herausragt, aber auch als Komposition eine Sonderstellung einnimmt. Die handschriftliche Überlieferung hat ihn deswegen auch für sich genommen 139 . Eines der Hauptmotive, von dem zumindest die Ekphrasis völlig getragen wird, ist das Wunder, daß der Märtyrer noch spricht, als ihm schon die Zunge herausgerissen ist. Dieses Paradox des „elinguis loquens" hat Prudentius auch zum Inhalt seiner Praefatio genommen 140 . Es ist aber auch der einzige Grund, aus dem der Dichter überhaupt den Romanos zum Titelhelden wählt! Kurf ess meint, Romanos habe in Spanien besonders hohe Verehrung genossen 141 — das hat er aber ohne Zweifel aus dem (als kultgeschichtliche „Quelle" gedeuteten) Prudentiusgedicht erst nachträglich erschlossen; denn Lavarenne fragt mit Recht, was denn ein Märtyrer aus Antiochia im Zyklus des Spaniers zu suchen habe 1 4 2 — erklären kann er's nicht, sondern wertet das Gedicht flugs als bezeichnenden Mißgriff 143 . Beide stehen bei der Frage nach Historizität und Nationalität, ohne die legendarische Herkunft des Dessins und die motivische Verarbeitung zu berücksichtigen. Das „Herausreißen der Zunge" war ohnehin hagiographischer Topos 144 . Aber für Prudentius lief das Wunder des „elinguis loquens" eben nur unter dem Namen des Romanos. Denn die Gedichte des Prudentius sind nicht liturgisch gebunden, sondern literarisch gemeint, falls nicht örtliche liturgische Praxis ausdrücklich erwähnt wird 145 . minus ante und post quem zu machen und daher Per. 9 , 1 1 , 1 2 als Rom-Gedichte später zu setzen — so neuerdings wieder Lana a.a.O. 24 f. — ist unmöglich, da wir vom Romaufenthalt des Dichters ebensowenig wissen wie von seinen übrigen Lebensverhältnissen, etwa von einer Rückkehr nach Spanien. Zweitens betrifft auch Per. 2 einen römischen Märtyrer. 139 Lavarenne, Ausg. 4 , 1 1 7 ; Lana a.a.O. 24 101 . 14° Zum Motiv vgl. Delehaye a.a.O. 298 7 . In der Praefatio V. 1/25 bezieht Prudentius das Motiv auf seine eigenen dichterischen Fähigkeiten, s . o . S . 6 8 f . 1« A.a.O. 1053. i « Ausg. 4,117. 1« Ebd. 119. 144 Delehaye a.a.O. 281, (Parallelen). 145 Anders Rodriguez-Herrera a.a.O. 39/92; Kurfess a.a.O. 1053 der dort 1063 äußert, Prudentius sei Per. 8/14 von Damasus und der römischen Liturgie beeinflußt (so fälschlich auch Schanz-Hos.4,1,241). Das ist für Per.8 (Calahorra), 9 (Imola) und 10 (Antiochia) von vornherein ausgeschlossen, gilt aber nachweislich auch nicht für Per. 14 (zum Motiv: J. Geffcken, Hermes 4 5 , 1 9 1 0 , 5 0 3 f . ; H. Petriconi, Verführte Unschuld [1953]); vgl. Damasus epigr.37 Ferrua = 40 Ihm; s.auch E.Schäfer,Agnes, RAC 1, 184/6 mit Lit.; Prudentius gehört hier zu Ambros. virg. 1 , 5 und Hier. ep. 130,5. — Für die übrigen Gedichte ist es mindestens unbeweisbar, da wir viel zu wenig über die hagiographischen Quellen des Prudentius und über seine Lebensverhältnisse wissen (Puech 302/11; vgl. unten Anm. 146). Eine Bemerkung wie die von Kurfess ist außerdem auf die stillschweigende Voraussetzung angewiesen — eine Voraussetzung, aus der auch die vermeintlich sichere Darstellung einer relativen

e) Prud. Peristephanon. — 2. Per. 10 u. 11

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Historizität einschließlich des Namens ist für Prudentius weniger wichtig als das Motiv, und ebensowenig wie in der übrigen Heiligenlegende darf man bei ihm biographische Korrektheit einfach als Intention voraussetzen. Tatsächlich wird Romanos als Person nirgends vorgestellt. Das einzige historische Indiz wäre jenes nicht verifizierbare GaleriusEdikt, das mit „ut refert antiquitas" eingeführt wird146. Es hat gar keinen Sinn, dabei zu verweilen. Wir wissen, daß die Hagiographie die Verfolger als Typen schildert, nicht als Individualitäten147; so denn auch sofort Prudentius: „immitis, atrox, asper, implacabilis" ist der Kaiser. Der historische Wert der Angabe dürfte auch dadurch weiter sinken, daß Galerius an derselben Versstelle wie Romanos vorkommt. Eines Kaisers Name, der sich sonst in keinem Gedicht findet, verleiht dem ganzen Hergang natürlich auch einen weltweiten Horizont. Die Exposition, gleich der Praefatio fünfundzwanzig Verse umfassend — auch der Epilog enthält fünf Strophen zu je fünf Versen — geht erst in V.41 zum ausführenden Organ über, zum Präfekten Asklepiades. Vorher überbietet der Dichter die traditionelle moralische Disqualifizierung des Verfolgers dadurch, daß er den Kaiser „ille serpens" aus der Unterwelt aufgetaucht sein läßt und ihn mit den Dämonen von Mt. 8,29/31 par. identifiziert: der Kaiser fleht wie jene Dämonen mit den Worten des Bibeltextes148. Das alles soll natürlich die Bedeutung des Hergangs weiter verstärken und erhöhen, so daß wir hier von einer auch nur angestrebten Historizität Chronologie der Gedichte gespeist wird —, Prudentius habe das Gedicht jeweils am „Ort der Handlung" verfaßt und sei verantwortlich für die jetzige — chronologische! — Anordnung der Hymnen (vgl. oben bei und mit Anm. 185). Das alles sind bloße Vermutungen. Es kann auch nicht mehr als ein Mißverständnis sein, wenn Kurfess sagt (a.a.O. 1067, vgl. 1055), Prudentius habe „fürs Volk" gedichtet. Die Beispiele zeigen, daß die biographisch-realistische Deutung, weil sie vom literarischen Charakter der Gedichte als „passions artificielles" (Delehaye) und von den Stilelementen absieht, notwendig zu falschen Ergebnissen kommt. 146 Per. 10,32. Die „antiquitas" ist hier die überlieferte Legende, vgl. Per. 7,9; 13,76; 14,10. Das Wort steht bei Prudentius lediglich in Per.10, nämlich V.32.611. 632. Zur Rolle des „on dit" in der Hagiographie vgl. Lucius a.a.O. 834. Die Bedeutung des Wortes „antiquitas" wird man f ü r das Verhältnis von Antike und Christentum bei Prudentius nicht ignorieren dürfen. Für seine Berufung auf die altchristliche Überlieferung s. auch Per.11,7/10: die Namen auf den Gräbern fehlen; Per. 1,73: die Prozeßakten sind verloren, „o vetustatis silentis obsoleta oblivio", vgl. Horat. c. 4,8,23 f., f ü r die Grundhaltung vgl. vor allem Hartke a.a.O., bes. 23 ff. 34 ff. (in Hist. Aug. ζ. B. Prob. 1,3; vgl. G. Vitucci, Stud. Ist. Ital. Stor. ant. 8 (Rom 1952) 139 ff. 1*7 Delehaye, Legendes 22/4. 1« Per. 10,36/40: „haec ille serpens ore dictat regio, qui mortuorum de sepulcro exiens clamat: „Quid ante tempus adventu cito mea regna solvis? Parce, Fili Altissimi, vel possidere corda porcorum iube!" „serpens" als Schimpfwort: Cath. 6,141; Per. 5,176.197. Dämonen und Unterwelt E. Wüst, Art. Unterwelt, RE 2,17 A, 678 f.

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II. Schreibmetaphern

entfernter sind als je. Daher weichen Anschauung und Logik auch hier der Emphase: der Kaiser, die Schlange, die durch ihn spricht, selbst „mortuorum de sepulcris" hervorgekrochen ist und dann wie die Dämonen des Evangeliums bittet, in die Säue fahren zu dürfen — das ist eine für des Prudentius Stil typische Kontamination149. Die hier zusammengearbeiteten Motive sind also die folgenden: 1. Hauptmotiv: Verfolgung als Heraufkunft der Unterwelt150. 2. Nebenmotiv: Bibel im Mund des Verfolgers: zugleich biblische Fundierung des Hauptmotivs151. 3. Nebenmotiv: exorzistische Wirkung des Martyriums 152. Sehen wir auch an dieser Stelle auf das Ergebnis der Kontamination, dann bewirkt sie indirekt die Gleichsetzung der Verfolger mit den Dämonen des Evangeliums. Die Terminologie ist dabei vorwiegend neutestamentlich, aber die außerchristliche Vorstellung, die Dämonen seien Gestalten der Unterwelt, ist doch für den Zusammenhang unentbehrlich. Die Verknüpfung mit „serpens" einerseits, mit dem pleonastischen und den NT-Text jedenfalls umdeutenden „de mortuorum sepulcris" mag uns gewaltsam erscheinen. Für Prudentius steht ohne Zweifel die dramatische Wirkung des durch Kontamination erreichten Vergleichs im Mittelpunkt. Lavarenne meint z.St.: on ne comprend pas bien ce que vient faire ici cette citation de l'evangile (Ausg. 4,222), obschon Prudantius denselben Synoptikertext auch in Apoth. 402/411 verwendet, ebenfalls in Verbindung mit „serpens" (406) — es ist an beiden Stellen Schimpfwort und hat keine „Bezeichnungsfunktion" —, diesmal aber auf Apollo gemünzt, der vom Exorzismus Christi vernichtet wird. In beiden Fällen sind nun weder die „Vorlage" noch der sich ergebende Gedanke originell oder entscheidend; auch von einer hochtönenden „Verschmelzung" von Antike und Christentum kann hier 149 Die Bibel im Munde des Verfolgers auch Per. 2,93/108: Mt. 22,20 f. mit dem Zusatz, Christus „nec, cum veniret, aureos secum Philippos detulit, praecepta sed verbis dedit inanis a marsuppio". Daraufhin soll dann Laurentius das Geld herausgeben. Nicht ohne Witz, wie man zugeben wird (vgl. oben Anm. 136 zur „Komik"). Will Prudentius hier „Antike und Christentum verschmelzen"? Doch wohl nicht; vielmehr benutzt er beider Diskrepanz, um mit Hilfe eines Bibelzitates der Rede des Präfekten einen witzigen Schlußeffekt zu geben. Das ging um so eher, als der Präfekt in aller Freundlichkeit spricht. Als sich das Bibelzitat erfüllt und Laurentius nur auf seine Gemeinde als Schatz der Kirche weisen kann, hat dann der Präfekt das Nachsehen, und die Folter beginnt. 150 Einige Parallelen: Epos 1030. 151 Wie Per. 10,1/15 u.ö.; vgl. Anm. 175 ff., 197 f. 152 Per. 4,65/9; 2,496/9; Lucius a.a.O. 897. Als „Vorbild" ließe sich ansetzen Ambros.ep.22,2 (PL 16,1024 B): et nunc audistis clamantes daemonas et confidentes martyribus, quod poenas ferre non possint, et dicentes: quid venistis, ut nos tarn graviter torqueatis? vgl. Paul.Mil.vita Ambros.14 (PL 14,32B). Im übrigen, d.h. abgesehen von der Einfügung des NT-Textes, ist das Motiv — exorzistische Funktion des Martyriums — natürlich alt.

e) Prud. Peristephanon. — 2. Per. 10 u. 11

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nicht die Rede sein. Denn auf den Inhalt — ob christlich, ob heidnisch — kam es gar nicht so sehr an, wohl aber auf die durch Kontamination erreichte Pointe. Die Bibelstelle ist in solchen Zusammenhängen weder selbständiges Zitat noch theologisches Argument, sondern Element der emphatischen Kontamination. Eine Analogie dazu ist die ebenfalls rhetorische Verwendung von Bibelstellen zur Fundierung von Topoi (darüber unten). Auch für den Text aus Per. 10 dürfte also, wenn wir es auf eine Formel bringen, kontaminierend-unanschauliche Motivhäufimg im Dienste des Pathos kennzeichnend sein. Das Ergebnis der Kontamination ist „indirekt" wie in Apoth.596. Wenn Lavarenne leise die Vermutung anklingen läßt, der Dichter habe Romanos wegen seines vielsagenden Namens zum Titelhelden gewählt153, so ist das wohl unwahrscheinlich, weil das „elinguis loquens"Motiv mit dieser Gestalt schon vorher fest verbunden war, der Name aber im Verlauf des Gedichts gar keine Rolle spielt, ganz anders als das Motiv. Lediglich das Metrum hat sich nach dem Namen gerichtet. Aber Lavarenne äußert einen Gedanken, der bei anderen Hymnen sehr wohl zutrifft. So ist in Per. 11 die Darstellung der Folter „etymologisch" aus dem „redenden Namen" deduziert: der Märtyrer wird von Pferden zerrissen, wie es ähnlich, gleichfalls aus etymologischen Gründen, von einem Archippos berichtet wurde154. Wohl schon vor Prudentius hatte sich die christliche Hippolytos-Legende mit der antiken Hippolytos-Sage verschmolzen. Die etymologisch deduzierte Art der Folter stammt aber vielleicht von unserem Dichter155, wie natürlich auf jeden Fall die VergilSeneca-Imitation. Da Prudentius mit der literarischen Nachahmimg die Ekphrasis eines Gemäldes verknüpft, diese aber das eigentliche Martyrium nicht mit umfaßt, muß es offenbleiben, ob, wie heute durchweg angenommen wird, Prudentius die Art der Folter in bildlicher Darstellung bereits vorgefunden hat 15i . Trotz der etymologischen Ableitung der Folter, trotz der Imitation und des fragmentarischen Charakters der 153 Ausg. 4,117 im Anschluß an Ebert. Was er dann zur Begründung anführt, nämlich die Unerschütterlichkeit des Romanos, ist Topos und beweist nichts. 154 ASS Juli 2,280. Zu Hippolytos: R. Reuterer, An. Boll, öl (1933) 58/56. V.Paladikowsky, La tradition hagiographique sur S. Hippolyte, Stud. Patr. 3 (1961) 97/107. Audi sonst hat Namensetymologie bei der Legendenbildung eine große Rolle gespielt, vgl. Delehaye, Legendes 45/7; Lucius a.a.O. 812. Nach G. Ficker, Studien zur Hippolytfrage (1893) 46, ist Prudentius der Sage sklavisch gefolgt; vgl. Bibl.Hag. Lat. 3961. 155 Lavarenne a.a. 0.162. 156 Ebd. Eine vergleichbare Problematik begegnet überall da, wo in die Dichtung hinein Ekphraseis gewoben werden, oft nur scheinbar; vgl. Vollmer zu Stat. s.1,3; O. Downey, Art. Ekphrasis, RAC 4, 21/44 mit der dort genannten Literatur. Auch hier muß die Historiographie um 400 n.Chr. zum Vergleich herangezogen werden, vgl. Hartke a.a.O. 415. 43 f. 2253. 2354. 246 f. mit Literatur.

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II. Schreibmetaphern

Gemäldebeschreibung hat die Forschung kaum noch in Zweifel gezogen, daß Prudentius wirklich am Grabe des Hippolytos jenes Bild gesehen hat 1 5 7 . Der Passus entspräche dann jenem Typ antiker poetischer Ekphraseis, in dem sich Wirklichkeit, Rhetorik und literarische Reminiszenzen nur noch schwer voneinander sondern lassen 158 . Das wäre formgeschichtlich schon wichtig genug. Die, wie es scheint, entscheidende Stelle bietet nun merkwürdigerweise auch wieder Schreibmetaphern; ich bezeichne die Imitation ( : Seneca, Phaedra 1093/1114; : Vergil. Aen. 8,644 f.; : Horat. ep. 2 , 1 , 2 5 3 ) : Rorantes saxorum apices vidi, optime papa, purpureasque notas vepribus impositas 159 . Dem stereotypen Wortpaar „notae-apices" wird man nur wenig Gewicht beilegen wollen, zumal ein Vorgang fehlt, der mit dem Schreiben hätte verglichen werden können, „notae" und „apices" haben hier die Bedeutung „Spritzer, Tropfen"; vom Schreibvorgang ist dabei abstrahiert, denn „beschrieben" würden dabei allenfalls die Felsen und Büsche: das wäre nicht sehr sinnvoll. Die inkorrekt gebrauchten Metaphern heben freilich die Bedeutung des Blutes hervor, ohne daß dieses im ganzen Passus auch nur einmal direkt bezeichnet wird (auch aus Verg.Aen. nimmt Prudentius „sanguis" ja nicht mit herüber). Für „notae" in diesem, das „Blut" einschließenden Sinn sind etwa die „notis sanguinis scripta" in Per. 1 , 3 zu vergleichen: das Blut ist die Schrift, ein Gedanke, den wir aus Per. 3 bereits kennen, der aber in Per. 11 aus der Schreibmetaphorik gelöst ist. Auch in Per. 11 hat die Metapher nur emphatische Funktion. Sehr stark betonend wirkt auch die Anrede sowie die Berufung auf Autopsie; das sind aber, abgesehen vom assozüerten „apices", die einzigen Versteile, die von Prudentius selbst herrühren! „Augenzeugenschaft" war nun in der Spätantike ein locus rhetoricus 160 , so daß wir 157 Weyman a.a.O. 75, ohne auf das Problem als solches einzugehen, wie das Puech a.a.O. 308 f. sehr besonnen getan hat, geschweige denn die zeitgenössische Literatur heranzuziehen. Ähnlich konservativ hat sich dann allgemein geäußert: H. Lamer, Phil. Woch. 10 (1919) 1509 ff. Standhaft geblieben ist G. Bovini, Sant' Ippolito dottore e martire del III secolo (Vatikanstadt 1943) 39ff. (mit Lit.): das Bild sei fingiert. 158 Weyman a.a.O. 76. 159 Per. 11,127 f. „rorantes" gibt nur Sinn, wenn es einfach „feucht" bedeutet, aber zugleich das aus Vergil nicht übernommene „sanguine" ausdrückt, das auch in „purpureus" steckt, vgl. „ros sanguinis" Per. 4,91 sowie „rorare" in Apoth. 685.840; Ham.894; Psych.140; Per.5,231; 8 , 1 3 ; vgl. oben Anm.134. „Optime papa", wie „Venerande sacerdos" V. 179. Angeredet ist der Bischof Valerianus (V. 2). M. Alamo, Un texte du poete Prudence Ad Valerianum episcopum (Per. 11) RevHistEccl. 35 (1939) 750/6, hat aus Per. 11 einen Bischof dieses Namens für Calahorra erschließen zu müssen geglaubt. 160 Vgl, Epos 1018. Zuweilen ist trotz behaupteter Augenzeugenschaft die Quelle noch nachweisbar, Kroll a.a.O. 285. Macrobius lobt an Vergil den Topos als Pathos-

e) Prud. Peristephanon. — 2. Per. 10 u. 11

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hier ein rhetorisches Element hinzugewinnen. Autopsie betont Prudentius sofort am Beginn des Gedichts161. Sie ist dort verschmolzen mit dem Unsagbarkeits-Topos samt Vergilimitation und christlicher Fundierung162. Der Dichter erzählt ja von Rom. Beides, die Fahrt nach Rom und die Berufimg auf ein Bild am Grabe, findet man auch in Per. 9, dem Gedicht auf Cassian, von dem wir genausowenig wissen wie von Hippolytos (wie Prudentius ihn sieht), sowie schließlich in Per. 12163. Obschon nun bildliche Martyriumsdarstellungen zur Zeit des Prudentius zwar noch nicht alt sein können, aber durchaus schon bezeugt sind164, wollen ja doch die Zweifel an der Existenz jenes Gemäldes nicht so leicht verstummen. Nach Prudentius hat die „docta manus" des Malers verstreute Fleischfetzen, Blutspritzer an Gestein und Sträuchern sowie Getreue dargestellt, die des Zerstückelten Reste zusammensuchen165. Das letzte Motiv entspricht etwa Seneca, Phaedra 1112 f. Ein speziell christliches Motiv war also auf jenem Bild nicht zu sehen. Ist es denkbar, daß eine bildliche Darstellung der Hippolytus-Sage an ein Märtyrergrab übertragen wurde? Damasus weiß bekanntlich von einem Grab des Hippolytos noch nichts. Was er von ihm erzählt, gibt er als Ondit166. Mit dieser Überlieferung hält auch Prudentius den Hippolytos für einen ehemaligen Anhänger des novatianischen Schismas; das erlaubt ihm, Martyrium und „Bekehrung" zur Deckung zu bringen — wie in Per. 13, wo aus dem gleichen Motiv Cyprian der Magier und Cyprian von Karthago identifiziert werden, wobei der Dichter diesen unter Valerian gestorben sein läßt (13,35)167. Für die Frage nach der Existenz jenes Gemäldes in Per. 11 scheint der Text mehr als ein „non liquet" nicht herzugeben. erreger, sat.4,6,137; Curtius a.a.O. 183. Mehr bei Hartke, Rom.Kind.32f.; H.Peter, Wahrheit und Kunst (1911) 227. 249. 390. 397. 425f.; Delehaye, Passions 251 ff. Iii vidimus V. 2, memini V. 14, dum lustro oculis V. 17; Vergleichsstellen bei Hartke a.a.O., ferner Lat.Pac. Drep.47; August, civ. Dei 4,1. 162 V. 1: innumeros cineres sanctorum, vgl. Per. 2,541/4; V. 4: difficile est, ut replicare queam; V.15f.: nur Christus kennt die Namen. Zum Topos „apices rerum" vgl. JbAC 4 (1961) 117 ff. Dabei gab es z. Zt. des Damasus in Rom nur etwa 30 Märtyrergräber (das war drei Jahrzehnte vor Prudentius). 1« 2ur geringen archäologischen Bedeutung von Per. 12 vgl. Lana a.a.O. 46 ff. mit Lit. 164 Vgl. H. v. Campenhausen, Tradition und Leben (1959) 225/8. li5 Das letzte entspricht Seneca a.a.O. 1113. Lavarennes Hinweis auf Verg.Aen. 10,819 trifft nicht; vgl. dagegen Tib. 3,2,15 f., ferner Dracont. Rom. 9,151/6; Paul. Nol. pass. Genes. Arel. 5. 166 Text bei Lavarenne, Ausg. 4,161. 167 Anders noch Hier, in Ion. 3,9 u. ö., vgl. Antin z. St. (p. 100), der freilich die versteckte Polemik gegen Cyprian nicht gesehen und daher gerätselt hat. — Zum Motiv „Bekehrung" in der Heiligenlegende vgl. Delehaye, Passions 136/50. Zur „Bekehrung von der Häresie" vgl. u. a. P. Courcelle, Rech, sur les Confessions de S. Aug. (Paris 1950) 60/78. Cyprian ist als Märtyrer vor allem wegen dieser Kombination mit Cyprian dem Magier berühmt geworden, Lucius a.a.O. 1042.

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II. Schreibmetaphern

Die formgeschichtliche Analyse hat deutlich gezeigt, daß Prudentius ausgiebig die rhetorische Tradition verwertet; aus ihr stammt nicht nur die Form der Ekphrasis, sondern auch Emphase, Unanschaulichkeit, Motivverflechtung und Kontamination literarischer Reminiszenzen — Stilelemente, die wir audi in früher besprochenen Texten wiederholt gefunden und mit zeitgenössischen Quellen verglichen haben. In den bisher genannten Fällen liegt eine Art der Rezeption vor, die nach Formen und Inhalten mit den Mitteln der üblichen Imitationssuche nicht zu fassen ist. Literarische Reminiszenzen, Bibelzitate und Motive sind nur als Elemente rhetorischer Emphase sinnvoll zu interpretieren. Sie tragen, als Bestandteile poetischer Technik, zur Einheit des Textes bei. Schon Zingerle und Hosius haben gezeigt, wie konstaminierend die spätantike Imitation der Schulautoren zu Werke geht168. Seither hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß das Geflecht literarischer Reminiszenzen nur schwer zu entwirren und nur selten zugunsten eines bestimmten Autors zu verwerten ist169. Wir haben ferner zu unterscheiden zwischen bloßen Reminiszenzen und bewußter Imitation, außerdem zwischen Motiv und Vokabular, die je aus verschiedenen Autoren oder Traditionen genommen und zu einem neuen Text verschmolzen sein können. Diese kontaminierende Technik aber, samt den hineingearbeiteten Topoi und der den Kontext tragenden rhetorischen Emphase, ist, wo sie bei spätantiken Schriftstellern vorkommt, nur aus der Schul- und Bildungstradition zu erklären170. Das gilt für die christliche Poesie ebenfalls. Der bloße Nachweis literarischer Reminiszenzen und bewußter Imitationen kann daher, wenn man sich um den Stil des Prudentius bemüht, auch nur sekundäre Bedeutung haben, solange man nicht ihre Plazierung untersucht, nämlich das, was aus der Imitation für den Sinn- und Stilzusammenhang folgt171. Wo Prudentius „abhängig" und wo er originell ist, ferner: wieweit er christliche oder heidnische Formen und Inhalte, Texte, Motive und Topoi verschmolzen hat, und ob sich diese Verschmelzimg mit seiner Originalität deckt oder ihrerseits nur wieder die Christianisierung kontaminierender Technik darstellt (und worin besteht dann das „Christliche"?) — das alles läßt sich nur herausfinden, wenn man aus dem Textzusammenhang heraus analysiert, nicht aber, wenn man die nachweislichen literarischen Imitationen nach Vorbildern gruppiert. Bisher liegen die Dinge noch so, daß man nacheinander und fast willkürlich in Prudentius einen Horatius, Ovidius, Lucretius, Ver168 Grundlegende Zusammenfassung bei Kroll a.a.O. 139/84. 169 Vgl. auch O. Weinreich, Die Christianisierung einer Tibullstelle, Hermes 62 (1928) 114/23. 170 Oben S.12 Anm.17. 171 Die Beispiele in Epos 1034/41 (Rezeptionstypen) sind unter diesem Gesichtspunkt verarbeitet. Ich verdanke ihn Prof. Wolfg. Schmid, s. dessen RAC-Art. „Bukolik" u. „Elegie" (mit Lit.).

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gilius etc. christianus gesehen hat 172 , ohne zu merken, wie problematisch dadurch die Poesie des Prudentius wird, und ohne die Frage nach der stilistischen Einheit überhaupt als ebenso naheliegend wie notwendig zu empfinden. Eine Kontroverse, welches Vorbild überwiege, ist nutzlos. Horazens Einfluß (oder besser: die Horaz-Konkurrenz — denn Prudentius hat seine Metrik natürlich aus Handbüchern —) geht bei den beiden Zyklen schon aus dem Metrum hervor — für die Lehrgedichte reicht er bereits nicht mehr aus. Daß andererseits im Hexameter Vergil überwiegen muß, ist ebenso selbstverständlich wie es der zeitgenössischen Schätzung Vergils als Schulautor entspricht. So führt uns also die Frage nach den Imitationen wieder auf die Bildungstradition zurück und zwingt uns, nach Gedichtgruppen zu differenzieren und vom einzelnen Vers oder Motiv her auf die literarische Einheit des Werkes hin zu interpretieren. Wenn christliche und antike Elemente — sie zu sondern, ist schon schwierig genug — verschmolzen werden, verändern sich beide. Der so entstehende theologisch-poetische Zusammenhang konstituiert den Stil dieser Dichtimg und ist Gegenstand der Interpretation m . In diesem Sinne nun zurück zu Per. 10. Dort, sagten wir, ist bereits in der Praefatio das Hauptmotiv des „elinguis loquens", das sich für Prudentius mit dem Namen des Romanos verbindet, vorgeführt. Und zwar nennt der Dichter es innerhalb der invocatio martyris, um es sogleich in die Selbstaussage, hier: in den Unfähigkeits-Topos, hereinzunehmen. Das Vokabular der Verse 1/25 stammt, wie bereits oben im ersten Teil ausgeführt, teils aus der Bescheidenheitstopik, teils aus dem Musenanruf 174 , zeugt also schon von einer charakteristischen Verbindung literarischer mit rhetorischer Tradition. „Christlich" wird es erst da, wo der Verfasser Unfähigkeitstopik und Invokatio biblisch fundiert, nämlich mit Mt. 10,19175. Wir haben es hier also erneut mit der Christianisierung eines Topos zu tun, die den Bibeltext allegorisierend in ein Klischee rhetorischer Tradition einformt. Wir gehen jetzt weiter am Leitfaden der Schreibmetaphorik. Er führt uns an den Schluß der ersten Dauerrede des Märtyrers, auf die der Exekutor mit dem üblichen „furor" reagiert176, zunächst in sechsstrophiger Gegenrede, dann, nach kurzer Erwiderung des Romanos, mit Folterung: „Der Richter brüllt: ,Was steht ihr da, ihr Kerle, und rührt euch nicht und kreuzt die Arme?! Strafen sollen sie! Sind denn die Furchen noch nicht weitgerissen, die Glieder nicht zerstückelt? Ja zerrt ihr nicht die Seel' heraus, die drin verborgen ist und all das gottlos Reden zeugt, das unser Kaiserhaus befleckt?' So spalten denn die Henkersknechte 172 173 174 175 Ι7ί

Ubersicht bei Kurfess a.a.O. 1064 f. Oben S. 13 mit Anm. 19 ff. Anders erst Salvatore, s. o. S. 14. Vgl. oben S.68ff. Das wird aufgenommen in V. 926/35. Delehaye, Legendes 21 f.

9 8356 Thraede, Prudentius

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II. Sdireibmetaphem

dem Manne, der dort hängt, die Seiten; tief geht die Spitze. Die Wunden bilden lange Furchen an den Gliedern, einander kreuzend gehen sie ins Fleisch, bis schließlich weiß die Rippen blecken aus der Brust." 1 7 7 Die Distanzierung, Kontrapunkt der blutrünstigen Details, die schon für die ältere Legende typisch sind, gibt dann der Märtyrer selbst, cum sit quietus (V. 4 5 7 ) m . Sie wird also explizit vollzogen, nicht, wie in Per. 3, funktional mit Hilfe neuer Metaphorik. Namentlich die Deutung der Folter als Schrift fehlt. Während in Per. 3 die kurze Rede der Heldin — innere Zwiesprache, nicht Apologetik — deutender Teil der Ekphrasis ist, macht an dieser Stelle von Per. 10 die deutende Gegenrede des Märtyrers die Folter zu einem Element des im apologetischen Dialog entwickelten Motivs. Beiden Texten liegt der alte, aus der antiken Wertimg der Folter stammende Gedanke der Nicht-Identität des Märtyrers mit seinen Leiden zugrunde 179 . Aber die Funktion des — ebenfalls überlieferten — „Realismus" ist beidemal verschieden. Er darf also nicht nur als überliefertes (hagiographisches, rhetorisches) Motiv gewertet, sondern muß in seiner literarischen Verflechtung aufgesucht und interpretiert werden; die stilistische Verarbeitung der Motive ist entscheidend. In Per. 10 führt der Märtyrer selbst die Unterhaltung; die nötige Rhetorik beschränkt sich daher im wesentlichen auf die Reden 180 . W o das nicht der Fall ist, muß der Dichter die unterhaltenden Motive aus der Handlung entwickeln; dazu gehört in Per. 3 die Schreibmetaphorik, in Per. 2 die distanzierende Witzelei m , ferner die häufigen Krankheitsmetaphem, auch sie bereits vorchristlicher Herkunft 182 . Man darf nicht vergessen, daß Prudentius doch erbaulich unterhalten will, und aus dem, 177 Per. 1 0 , 4 4 6 / 5 5 : „statis, ministri?" clamitans iudex ait, „statis manusque continetis vindices? Non rupta sulci's dissecatis viscera, animam nec intus abditam rimamini, erumpit unde vox profana in principem?" scindunt utrumque milites teterrimi mucrone hiulco pensilis latus viri, sulcant per artus longa tractim vulnera, obliqua rectis, recta transversis secant, et iam retectis pectus albet ossibus. Zu V . 4 5 3 : „tractim": Adverbien auf -im, hier wie oft abundant, sind bei Prud. überaus häufig, ähnlich wie in der Hist. Aug.; Lavarenne, fit. 1 2 1 0 f . „sulcus" und „sulcare" haben in den Texten des Per. also eine ganz andere Bedeutung als dieselben Wörter in den Stellen aus Apoth. (oben bei Anm. 110 ff.), vgl. „sulcos ducere" (Apoth.) neben „sulcos secare" (Per.). 178 Bes. V. 4 6 0 : hoc omne, quidquid lancinamur, non dolet. 179 Siehe oben S . 1 2 0 bei Anm. 135. iso Siehe aber oben S . 7 0 Anm. 169; ferner u. S.132 Anm. 193. 181 Siehe oben S.120 Anm. 136. 1 8 2 Geffcken, Apol. 2 4 3 7 ; Weyman a.a.O. 77. Material auch bei F. Kudlin, Hermes 90 (1961) 104 ff.

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was wir abstrakt und vage „rhetorische Tradition" genannt haben, stammen doch nicht nur Motive und Vokabular sowie die kontaminierende Technik, sondern vor allem das Ziel, die Aufmerksamkeit des Hörers und Lesers zu erregen, ja vornehmlich die Methoden, dieses Ziel zu erreichen. Zu ihnen gehören Metapher, Witz und Zitat, aber auch Realismus und Pathos der Darstellung. Während also in Per. 10,446/55 die Schreibmetaphorik noch fehlt, bietet eine ähnliche Stelle des Gedichts da mehr. Die Szenerie hat sich seit dem Beginn der in V. 459 anhebenden zweiten apologetischen Rede von etwa hundert Versen nicht verändert: erneutes Rasen des Verfolgers, erneute Folter. Der Exekutor ruft: „Der Henker ziele seine Hiebe auf den Mund des Redenden, und auf die Kiefern rieht' er seine Faust, die scharfe Pflugschar und das Folterseil!"183 Die elliptische Redeweise und die häufende Nennung von Folterinstrumenten, Funktionen des Pathos, wollen nicht nur die gesteigerte Wut des Verfolgers ausdrücken, sondern auch hervorheben, daß sich nunmehr die ganze Aktion gegen Mund lind Zunge des Märtyrers wendet, als gegen den vermeintlichen Sitz der Wortgewalt, die zu vernichten man sich bisher vergebens bemüht hat184. Denn befolgt wird der Befehl dann doch nur mit den anfangs eingeführten „ungulae bisulcae". „Beide Backen ritzt er mit den schreibenden Krallen des Foltergeräts, verunziert das Antlitz mit greulichen Zeichen, die rauhbärtige Haut geht langsam in Stücke, und bis auf die Kiefernknochen wird das Gesicht zerfetzt." 185 Das ist ein Schritt näher auf das Wunder des „elinguis loquens" zu; Ekphrasis und Motiv gehen aufeinander zu. Wenn die Folterbeschreibung nicht nur motivnäher und grauenhafter sein, sondern auch — wieder als Kontrapunkt zum „Realismus" — stilistische Variatio bringen sollte, war ein weiteres Element nötig. Und dieses Element ist die Schreibmetaphorik, die hier verstärkt und außerdem Querverbindungen zieht. Die Bezeichnung des folternden „Furchens" als „schreiben" ist da 183 V. 548/50: . . . vertat ictum carnifex in os loquentis, inque maxillas manum sulcosque acutos et fidiculas transferat. 184 Vgl. V. 551/4: verbositatis ipse rumpatur locus, scaturientes perdat ut loquacitas sermonis auras . . . ipsa et loquentis verba torqueri volo. 185 V. 557/60: charaxat ambas ungulis scribentibus genas, cruentis et secat faciem notis, hirsuta barbis solvitur carptim cutis et mentum adusque vultus omnis scinditur.

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II. Schreibmetaphern

(„scribere, charaxare" 18