Jenseits des Individuums - Emotion und Organisation 9783666454165, 9783525454169, 9783647454160

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Jenseits des Individuums - Emotion und Organisation
 9783666454165, 9783525454169, 9783647454160

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

Schriften des Sigmund-Freud-Instituts

Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 3 Psychoanalytische Sozialpsychologie Herausgegeben von Rolf Haubl und Hans-Joachim Busch Band 6 Timo Hoyer / Ullrich Beumer / Marianne Leuzinger-Bohleber (Hg.) Jenseits des Individuums – Emotion und Organisation

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Timo Hoyer / Ullrich Beumer / Marianne Leuzinger-Bohleber (Hg.)

Jenseits des Individuums – Emotion und Organisation

Mit 1 Abbildung und 4 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

Für Rolf Haubl

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-45416-9 ISBN 978-3-647-45416-0 (E-Book)

Umschlagabbildung: Ausschnitt aus einer Collage von Rolf Haubl  2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: process media consult GmbH Druck & Bindung: l Hubert & Co, Göttingen

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Inhalt

Timo Hoyer, Ullrich Beumer, Marianne Leuzinger-Bohleber Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Konzeptionalisierte Wahrnehmung: Erlebte Emotionen erforschen Marianne Leuzinger-Bohleber Ein transdisziplinäres Klassifikationssystem emotionaler Störungen als Reflexionsrahmen für Emotionen in Organisationen – ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Mertens Zum Stellenwert wirklichkeitsgetreuer Wahrnehmungen von Emotionen im analytischen Prozess . . . . . . . . . . . . . . .

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Ulrich Schultz-Venrath »Ich mentalisiere, also bin ich«. Zu den Folgen eines veränderten Affekt- und Emotionsverständnisses für die psychoanalytische Behandlungstechnik . . . . . . . . . . . . . . .

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Oswald A. Neuberger Gefragte Emotionen. Die Transformation des Untersuchungsgegenstands im Prozess seiner Erfassung . .

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Angela Kühner »Angst und Methode«. Überlegungen zur Relevanz von Devereux’ These für das Selbstverständnis kritischer Sozialwissenschaft heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Inhalt

Organisierte Individuen – regulierte Emotionen Ullrich Beumer Reife Helden? Die Rolle der Führungskräfte im dritten Lebensalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Bettina Daser Tief verbunden. Das Ringen um Generativität und Selbstfürsorge im Generationenwechsel in Familienunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Daniela Rastetter »Da laufe ich auf einem Minenfeld«. Emotionsarbeit von Frauen im Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Elisabeth Pauza und Heidi Möller »Wir sind allein …« Emotionserleben und Emotionsregulierung zu Beginn psychotherapeutischer Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Katharina Liebsch Von langer Hand vorbereitet? Neue Organisationslogiken und die Bewältigung der universitären Zukunft . . . . . . . . . 203 Inge Schubert »Ich finde an unserer Klasse einfach toll, dass die so zusammengewürfelt ist«. Heterogenität und Homogenisierungsbedürfnisse in schulischen Gruppen . . 219 Timo Hoyer Glück soll lernbar sein? Ist es aber nicht! . . . . . . . . . . . . . . 246

Jenseits und diesseits des Individuums: Der gesellschaftliche Charakter von Emotionen Burkard Sievers Kapitalistische Gier. Einige sozioanalytische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

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Inhalt

Hans-Joachim Busch Aggression und politische Sozialisation. Überlegungen zu einer politischen Psychologie des Subjekts . . . . . . . . . . . . . 286 Tomas Plänkers Chinesische Schatten der Kulturrevolution (1966 – 1976). Transmissionen psychischer Traumata zwischen den Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Tilmann Habermas Moralische Emotionen. Ärger in Alltagserzählungen . . . . . 329 Uwe Timm Einige Überlegungen über das Feuchte . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

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Einleitung Jede Organisation institutionalisiert auf der einen Seite institutionelle Praktiken, um alle Emotionen ihrer Mitglieder zu dämpfen, die ihr vermeintlich schaden; auf der anderen Seite institutionalisiert sie Praktiken, um alle Emotionen ihrer Mitglieder zu fördern, die ihr vermeintlich nützen. Rolf Haubl

Dieses Buch wird im Inneren von zwei roten Fäden zusammengehalten: von einem übergeordneten Thema, das von verschiedenen Seiten beleuchtet wird, und einer Person, der die Beiträge gewidmet sind. Thematisch bewegen sie sich allesamt auf einem Feld, dessen Spannung die beiden miteinander in Beziehung gesetzten Begriffe »Emotion« und »Organisation« erzeugt. Weil den Empfindungen und Affekten in jüngerer Zeit in den Sozialund Geisteswissenschaften eine größere Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, spricht man bereits von einem emotional turn, der die einzelnen Wissenschaftszweige ergriffen habe. Emotionen werden dabei als vielschichtige Phänomene erkennbar, die sich längst nicht nur auf einen bloßen Gefühlszustand beschränken. Neben ihrem Erlebnisgehalt besitzen Emotionen reflexiv-kognitive Anteile, Motivations- und Handlungsbezüge sowie psychische, physische und gestische Reaktions- und Ausdrucksqualitäten. Schon allein eine grobe analytische Beschreibung der komplexen Struktur von Emotionen genügt, um dem Vorurteil entgegenzutreten, Emotionalität sei die ureigenste Domäne des Subjekts. Bei näherer Betrachtung tritt vielmehr schnell ans Licht, dass Emotionen über das empfindende Subjekt hinausgreifen, intersubjektive und gesellschaftliche Territorien berühren, die wiederum auf das Gefühlsleben der Einzelnen zurückstrahlen. Von diesen komplizierten Wechselwirkungen, in denen die vergesellschafteten Individuen unweigerlich verstrickt sind,

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ja, die in gewisser Weise Individualität konstituieren, handeln die hier versammelten Aufsätze. Besonderes Gewicht liegt dabei auf dem Umstand, dass sich der moderne Mensch beinahe unentwegt in Organisationen wiederfindet, deren Strukturen, Regeln, Intentionen und Werte er einerseits gestaltet und deren Gestalt andererseits sein Fühlen, Denken, Urteilen und Handeln affiziert und lenkt. In der Diskussion um die Bedeutung von Emotionen in Organisationen dominierte lange Zeit ein aus den Wirtschaftswissenschaften übernommenes Postulat der Rationalität. Emotionen wurden im organisatorischen Zusammenhang zwar nicht verleugnet, aber im Kontext einer auf Planbarkeit zielenden Sicht, die den homo oeconomicus zur Grundlage des Denkens machte, kamen sie meistens nur als lästige Störfaktoren in Betracht. Noch heute liegt manchem Managementkonzept und Führungskräftetraining eine Auffassung zugrunde, nach der es allenfalls darauf ankommt, spezielle Räume zur Abfuhr von Emotionen zu schaffen, seien es bestimmte Rituale, Feste, Kriseninterventionen oder simple Mitarbeitergespräche, in denen es auch einmal emotional werden darf – wenn auch nur auf Seiten der Mitarbeiter. Gesellschaftlich spielten Emotionen nur in denjenigen Organisationen eine anerkannte Rolle, zu deren originärem Auftrag es gehört, die negativen Folgen der Unterdrückung von Emotionen zu dämpfen, also in sozialen, therapeutischen oder erzieherischen Organisationen. Diese rationalistisch verkürzte Sicht wurde Ende des vergangenen Jahrhunderts abgelöst durch einen regelrechten Feldzug für die Emotionalität, der verknüpft war mit dem Ringen um Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung des organisierten Individuums. »Auf seinen Bauch hören« ist eine gängige, zum Gemeinplatz gewordene Metapher, die immerhin eine erhöhte Wertschätzung der Emotionalität anzeigt, und zwar nicht nur im Bereich privater Beziehungen, sondern auch in Bezug auf das Leben und Arbeiten in Organisationen. Dass man mit Gefühlen Geld machen kann, ist bekannt: Emotion sells. Gefühle sind ein gewaltiger Wirtschaftsfaktor geworden, der »Rohstoff, aus dem die Profite sind«, wie Rolf Haubl es in einem seiner Aufsätze genannt hat. Emotionen nutzbar © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

Einleitung

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machen, um im globalen Konkurrenzkampf zusätzliche Leistungsreserven der Mitarbeiter zu mobilisieren und sie gleichzeitig unter Kontrolle zu halten, heißt nun die Maxime. Dabei geht es entweder um die Instrumentalisierung positiver Emotionen, mit denen sich Kunden gewinnen oder binden lassen, oder um die Aktivierung aggressiver Potenziale und Emotionen, die vor allem in Wirtschaftsunternehmen gang und gäbe ist. In sogenannten »war rooms« – nomen est omen – werden dort Strategien entwickelt, wie Konkurrenten übertrumpft oder gleich ganz aus dem Felde geschlagen und einverleibt werden können. Die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Emotionen in Organisationen stellt sich angesichts solcher Entwicklungen umso nachdrücklicher. Der vorliegende Band, der dieser Frage nachgeht, ist Rolf Haubl zu seinem 60. Geburtstag gewidmet. Die Themenstellung führt ins Zentrum seiner niemals ruhenden Denk- und Forschungsbewegungen. Wir kennen ihn als Professor für psychoanalytische Sozialpsychologie an der Goethe-Universität, als Mitdirektor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt a. M., als Gruppenlehranalytiker, Supervisor, Organisationsberater und nicht zuletzt als unermüdlichen Publizisten. Auf dem Buchumschlag lernen wir noch seine künstlerische Seite kennen. Rolf Haubls intellektuelle Brillanz, seine unangepasste zeit- und gesellschaftsanalytische Gedankenschärfe sind eine im akademischen Betrieb nur selten anzutreffende Inspirationsquelle, von der die meisten der hier versammelten Autorinnen und Autoren profitieren durften. Wenn dieser »Profit« in den einzelnen Beiträgen spürbar wird, dann wäre der Band nach Meinung der Herausgeber gelungen.

Die Beiträge Mit Emotion und Emotionalität sind üblicherweise Vorstellungen von Lebendigkeit, Spontaneität und Subjektivität verbunden, während man von der Wissenschaft und den Wissenschaftlern Sachlichkeit, Zuverlässigkeit und Objektivität erwartet. In der Erforschung von Emotionen begegnen sich also, wie man meinen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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könnte, zwei gegensätzliche Welten. Die mit Gefühlen, Affekten und Emotionen befasste Wissenschaft sieht sich vor die Aufgabe gestellt, Konzepte und Methoden zu entwickeln, mit deren Hilfe Gemütsbewegungen und emotionale Dynamiken differenziert, analysiert und gegebenenfalls reguliert werden können. Dass sich Wissenschaft und Emotionalität nicht ausschließen, sondern vielfach ineinandergreifen, ist eines der Ergebnisse jener Aufsätze, die unter der Rubrik »Konzeptionalisierte Wahrnehmung: Erlebte Emotionen erforschen« am Beginn dieses Bandes stehen. Marianne Leuzinger-Bohleber stellt ein disziplinenübergreifendes Klassifikationsmodell vor, das zur Wahrnehmung und zum Verständnis emotionaler Prozesse hilfreich ist, namentlich von Prozessen, die sich in Arbeitsgruppen und Organisationen konfliktförmig zuspitzen können. Die praktische, problemlösende Reichweite des Theoriemodells beleuchtet der Aufsatz exemplarisch anhand der institutionellen Krise, die das Sigmund-Freud-Institut vor wenigen Jahren an den Rand seiner Existenz geführt hatte. Die Bedeutung von Emotionskonzepten für das praktische Handeln unterstreicht auch Wolfgang Mertens, der sich mit Wahrnehmungsmustern von Emotionen befasst und Folgerungen für die psychoanalytische Praxis diskutiert. Im Fluchtpunkt seiner Überlegungen steht die Unterscheidung zwischen einer nichtbewussten, unpräzisen und einer darauf aufbauenden bewussten Wahrnehmungsweise, die zwar rational und deshalb wirklichkeitsgetreu erscheint, dafür aber anfällig ist für Abwehrmechanismen und Ideologien. Weder die primäre noch die sekundäre Wahrnehmung spiegelt emotionale Wirklichkeit eins zu eins wider. Seit einigen Jahren bringt das Konzept des Mentalisierens Bewegung in die mit menschlichen Emotionen und Kognitionen beschäftigten Theorie- und Therapieschulen. Mit Mentalisieren ist ein intentionaler Wahrnehmungs- und Interpretationsvorgang gemeint, der gleichermaßen rationale und emotionale Faktoren einschließt und sich sowohl auf das Selbst-Verständnis des Individuums bezieht als auch auf die Erfassung interpersoneller Handlungen, etwa in Gruppen und Organisationen. Allen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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voran die Psychoanalyse könnte mit diesem Modell, wie Ulrich Schultz-Venrath ausführt, eine tragfähige Grundlage gewinnen, auf der sie zu einer Vereinheitlichung ihrer Theorieannahmen und zu einer gesteigerten interdisziplinären Einbindung finden würde. Aber verfälscht die Wissenschaft, die sich anheischig macht, Emotionen zu erforschen, nicht notgedrungen ihren Gegenstand? Dieser beunruhigenden Frage geht Oswald A. Neuberger nach, indem er die Quantitative Emotionsforschung auf den Prüfstand stellt. Was bleibt übrig vom emotionalen Erlebnisgehalt, wenn dieser auf Fragebogenformat zugeschnitten, arithmetisch berechnet und dann in Wissenschaftssprache übersetzt wird? Nicht viel mehr als beschränkte Emotionalität, lautet die Antwort, bounded emotionality, die jedoch insofern mit der Wirklichkeit in Organisationen korrespondiert, als auch dort – so die Pointe der Argumentation – lediglich gebändigte und somit reduzierte Emotionen statthaft sind. Nicht nur der Forschungsvorgang als solcher kann das Erscheinungsbild der untersuchten Emotionen verändern, auch die Empfindungen und affektiven Reaktionen der Forschenden spielen beim wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn eine nicht zu unterschätzende Rolle. Der Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux hatte sich einst dafür stark gemacht, dass Sozialwissenschaftler/-innen ihre vom Untersuchungsgegenstand ausgelösten Emotionen – obenan ihre Ängste – nicht als Störfaktoren eliminieren, vielmehr als Erkenntnisquellen heranziehen sollten. Daran anschließend entfaltet Angela Kühner methodologische Überlegungen, die in der Forderung nach Forschungsansätzen und Forschungsinstitutionen münden, die einen angstfreien Umgang mit der Angst ermöglichen. Auf den ersten Blick dürfte auch das Verhältnis zwischen Emotion und Organisation so gegensätzlich anmuten wie das zwischen Emotion und Wissenschaft. Die planmäßig konstruierten, funktionalen Organisationsstrukturen scheinen nur schwer verträglich mit dem leidenschaftlichen und ungezügelten Charakter, der für gewöhnlich den Emotionen nachgesagt wird. Seit Längerem ist jedoch bekannt, dass sich beide Felder mannigfach durchdringen: Organisationen sind emotional aufgela© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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dene Gebilde, die ihrerseits den Empfindungen einen Stempel aufdrücken. Welche organisationsstrukturellen und emotionalen Eigenlogiken und Wechselwirkungen dabei in Rechnung zu stellen sind, davon handelt der zweite Teil dieses Bandes: »Organisierte Individuen – regulierte Emotionen«. Die lange Zeit vorherrschende Annahme, erfolgreiche Organisationen bedürften einer kühl kalkulierenden, unbeirrbaren, kurz emotionslosen Führung, ist in jüngster Zeit erschüttert worden. Ullrich Beumer verzeichnet eine Neubewertung von Emotionalität und setzt dies in Beziehung zu der gleichzeitig verlaufenden Rehabilitation von älteren Menschen in Führungspositionen. Der Beitrag schält Kriterien heraus für ein am Bild emotionaler Reife orientiertes Verständnis von Organisationsführung, dem vermutlich am ehesten Personen ab dem 50. Lebensjahr gerecht werden. Mit der Altersfrage sind auf besondere Weise Familienunternehmen konfrontiert, insbesondere wenn der emotional prekäre Generationenwechsel ansteht. Der Beitrag von Bettina Daser zeigt, dass die amtierende Leitung und die Nachfolger/-innen einen diffizilen Spagat zwischen Generativität (wobei Gesichtspunkte der Kontinuität und die Verantwortung für das Familienunternehmen im Vordergrund stehen) und Selbstfürsorge (hier dominieren Aspekte des individuellen Wohlbefindens) zu meistern haben. Ein Nachfolgeprozess kann bei den Akteuren ambivalente oder negative Empfindungen hervorrufen und dennoch gelingen, insofern die Betroffenen ihre Gefühle in emotionaler Distanz zu regulieren vermögen. Emotionsregulation ist keine reine Privatangelegenheit. Welche Gestalt sie annimmt, hängt maßgeblich von den organisationsinternen Emotionsregeln und Normen ab, weist aber neben individuellen auch geschlechtsspezifische Unterschiede auf. Daniela Rastetter untersucht die sogenannte Emotionsarbeit, die Frauen in Management- und Leitungspositionen zu erbringen haben. Von dem dort auf beiden Geschlechtern lastenden Zwang, die eigenen Gefühle einer rigorosen Kontrolle zu unterwerfen, sind Frauen noch einmal in verstärktem Maße betroffen. Die Gefahr, dass die hochgradig geforderte Regulation der Gefühle in Entfremdung von ihnen umschlägt, ist beträchtlich. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Demgegenüber gilt es freilich festzuhalten, dass eine souveräne, selbstgesteuerte Regulation der eigenen Emotionen in vielen, wenn nicht allen Berufsfeldern zum unverzichtbaren Kernbestand professionellen Handelns gehört. Besonders gilt dies, folgt man den Ausführungen von Elisabeth Pauza und Heidi Möller, für die therapeutische Behandlungspraxis, in der es wesentlich um das Erleben, das Wahrnehmen und die Bearbeitung von Emotionen und Affekten geht. Das wirft die Frage auf, wie sich die Förderung und Genese der emotionalen Kompetenz im Verlauf der psychotherapeutischen Ausbildung gestaltet. Die Autorinnen stellen hierzu Ergebnisse einer kürzlich begonnenen Untersuchung vor. Bildungsfragen und Bildungsinstitutionen stehen auch im Mittelpunkt der drei folgenden Beiträge. Katharina Liebsch unterzieht der vom Geiste des New Public Managements vorangetriebenen Strukturreform der Universität einer kritischen Analyse. Von der in Kontroll- und Wettbewerbsysteme eingespannten Hochschule, die von zunehmender Bürokratisierung und maßloser Drittmittelorientierung in die Zange genommen wird, bleibt auch die emotionale Kultur der Institution nicht unberührt. Neid, wechselseitige Geringschätzung, narzisstische Selbstdarstellung und Entsolidarisierung, gibt die Autorin zu bedenken, zehren an der Substanz der Wissenschafts- und Bildungseinrichtung. Noch zu selten werden Bildungsstätten als Organisationen begriffen, die sich über die Formierung von Gruppenbeziehungen und Gruppendynamiken in die psychischen, kognitiven und emotionalen Strukturen der Lernenden und Lehrenden einschreiben. Inge Schubert verfolgt vor diesem Hintergrund Zugehörigkeitsvorstellungen und Ausgrenzungsfiguren von präadoleszenten Mädchen und Jungen in einer integrierten Gesamtschule und in einer Hochbegabtenklasse. Offengelegt wird, dass psychosoziale Entwicklungen und Peer-group-Konflikte mit den institutionellen Rahmenbedingungen aufs Engste verknüpft sind. Die vom Diktat der Leistung und Wissensvermittlung in Schach gehaltene Schule zeigt herkömmlicherweise für die positiven Empfindungen der Heranwachsenden nur geringe Auf© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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merksamkeit. Neuerdings jedoch weht ein anderer Wind. Die Institution und ihre Vertreter entdecken das Glück! Die längste Zeit diskreditiert, soll es plötzlich lern- und lehrbar sein. Gegen diese marktschreierisch auftrumpfende Doktrin erhebt Timo Hoyer Einspruch. Lerntheoretisch betrachtet können Glück, Wohlbefinden, Freude und Zufriedenheit nicht ernsthaft zu den learning outcomes gerechnet werden. Ihren pädagogischen Stellenwert schmälert dies indes nicht. Die bislang vorgestellten Aufsätze haben bereits durchblicken lassen, dass Emotionen keine ausschließlich individuellen Phänomene sind. Emotionale Ausdrucks- und Erscheinungsformen werden in Organisationen und sonstigen gesellschaftlichen Systemen gefordert, normiert, reguliert, kontrolliert. Die Beiträge im dritten Teil dieses Bandes nehmen die soziale Seite von Emotionen verschärft in Augenschein. Dabei erhärtet sich, dass sich der Radius der Gefühle, der Affekte und Emotionen, topografisch gesprochen, zugleich »jenseits und diesseits des Individuums« erstreckt. Wer etwa in der Gier lediglich eine lasterhafte Charaktereigenschaft zu erkennen vermag, übersieht die verheerenden Auswirkungen auf gesellschaftliche Systeme und Subsysteme, die gierigem Verhalten zur Last zu legen sind. Davon ausgehend legt Burkard Sievers im sozioanalytischen Zugriff die unbewussten Schichten unserer von kapitalistischer Gier und Konkurrenz geprägten Kultur frei. Gierige Organisationen neigen dazu, die in ihnen tätigen Menschen ebenso wie die Außenwelt zu instrumentalisieren, zu verdinglichen. Außer Kontrolle geratene Profitmaximierung ersetzt sozusagen wahnhaft die wahre Welt durch die Warenwelt, in der Prinzipen der Moral und Verantwortung an Geltung einbüßen. Gier, Neid, Hass, Gewalt gehören zur dunklen, antisozialen Seite der menschlichen Natur, die uns hautnah oder vermittelt über Kunst und Medien tagtäglich begegnet. Im krassen Gegensatz zur allgegenwärtigen Präsenz von aggressiv-destruktiven Strebungen bemerkt Hans-Joachim Busch, dass in der jüngeren Entwicklung der (psychoanalytischen) Sozialpsychologie die negativen Kräfte, ihre Ursachen und Wirkungen, wenig Beachtung finden. Die kritische und demokratiepsychologische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Theorie des Subjekts kommt aber nicht umhin, den Zusammenhang von Aggression, Sozialisation und Interaktion zu klären, gerade wenn sie verstehen will – so der Autor –, wie eine »demokratische Leidenschaft« Platz greifen könne. Von antidemokratischer Leidenschaft während der Kulturrevolution in China, von Gewalt und ihrer psychischen Verarbeitung berichtet Tomas Plänkers. Sein Beitrag vermittelt in Interviewpassagen und familienbiografischen Skizzen erschütternde Eindrücke von den traumatischen Erfahrungen eines politisch verfolgten Vaters und seiner Tochter. Im Generationenvergleich treten sowohl übereinstimmende als auch voneinander abweichende Traumatamuster zu Tage. Erkennbar ist in beiden Fällen eine schwerwiegende emotionale Versehrtheit, unter der voraussichtlich – das zeichnet sich im Umgang der Tochter mit ihrer eigenen Tochter ab – auch die nachfolgende Generation zu leiden hat. Mit dem nächsten Beitrag kehren wir auf einen harmloseren Schauplatz von Emotionen zurück, den Alltagserzählungen, die Tilmann Habermas auf eine vermeintlich unspektakuläre Basisemotion abklopft – Ärger. Die Auswertung von über 100 Ärgererzählungen bringt die soziale und normative Verfassung von Emotionen deutlich ans Licht und sie wirft Fragen nach den genderspezifischen Eigenheiten des Ärgers auf. Zudem lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass Emotionsäußerungen häufig der Abwehr unliebsamerer Emotionen dienen, die gleichsam auf die psychische Hinterbühne zurückgedrängt werden. Viel Anlass zur Heiterkeit geben die Arbeiten dieses Bandes, das sei zugegeben, nicht. Am Ende soll immerhin der Humor stehen. Begriffsgeschichtlich, erfahren wir aus dem Text, ist der uns als eine angenehme Fähigkeit oder Wahrnehmungsweise bekannte Humor auf Flüssigkeit und Feuchtigkeit zurückzuführen, was den Titel von Uwe Timms Beitrag erklärt. Wie es um die sprichwörtliche Humorlosigkeit der Deutschen steht, ist daraus auch zu erfahren. Und auch dies: dass den Humor ein selbst- und ideologiekritisches, eigensinniges, ja subversives Vergnügen auszeichnet, wodurch er sich als eine demokratische Gemütsstimmung empfiehlt. Dass dieses Buch zustande gekommen ist, verdanken wir den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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engagiert beteiligten Autorinnen und Autoren und dem Verlag, der sich ohne zu zögern bereit erklärte, es außerhalb der langfristigen Verlagsplanung ins Programm zu nehmen. Das Herausgeberteam möchte allen dafür Dank sagen. Hervorgehoben sei zudem Ute Ochtendung, die – wie gewohnt – redaktionelle Höchstleistung vollbrachte. Schließlich gilt unser besonderer Dank in kollegialer und freundschaftlicher Verbundenheit Rolf Haubl, hinter dessen Rücken dieser Band Gestalt annahm und der gleichwohl als geheimer Spiritus rector die Produktion, ohne es zu wissen, begleitete.

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Konzeptionalisierte Wahrnehmung: Erlebte Emotionen erforschen

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Ein transdisziplinäres Klassifikationssystem emotionaler Störungen als Reflexionsrahmen für Emotionen in Organisationen – ein Beispiel

Persönliche Vorbemerkungen »In Institutionen kann der Sturm ausbrechen …«, so warnte mich eine gute Freundin, als ich zusammen mit Rolf Haubl 2002 die Leitung des Sigmund-Freud-Instituts übernahm. In manchen Situationen in den letzten Jahren fiel mir diese Warnung wieder ein, oft ein Anlass, mit meinem Mitdirektor ein Krisengespräch zu suchen, um gemeinsam zu reflektieren, was sich »beyond the individuals« gerade in den Räumen des Sigmund-Freud-Instituts abspielte und meist heftige Emotionen bei uns und unserem Team ausgelöst hatte. Bekanntlich haben verschiedene Psychoanalytiker, vor allem aus der Tradition der Tavistock Clinic, der amerikanischen Objektbeziehungstheorie und der psychoanalytischen Gruppenanalyse Konzepte zum Thema »Emotionen in Organsationen« entwickelt (vgl. u. a. Bion, 1961; Rice, 1965; Turquet, 1975; Anzieu, 1974; Foulkes, 1964; Pines, 1983; Kernberg, 1998; im deutschen Sprachraum u. a. Heigl-Evers, 1971; Argelander, 1972; Horn, 1972; Kutter, 1985; Möller, 1978; Richter, 1972; Loch, 1995; Tschuschke, 2001). Daher wäre es »Eulen nach Athen tragen«, wenn ich in einem Buch, das Rolf Haubl gewidmet ist, versuchen würde, dieses Wissen hier nochmals zusammenzufassen und zu reflektieren (Haubl u. Lamott, 1994). Stattdessen will ich im Folgenden versuchen, ein transdisziplinäres Klassifikationsmodell emotionaler Störungen, das Rolf Pfeifer und ich vor Jahren zum Verständnis der intensiven, rasch sich wandelnden emotionalen Dynamik in psychoanalytischen Dyaden entwickelt haben, zum Verständnis von Emotionen in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Organisationen zu nutzen. Zuweilen erweist sich trotz berechtigter methodischer Vorbehalte der Transfer eines Modells von einem Wissensgebiet auf das andere als anregend, da es ein ungewohntes Querdenken initiieren kann, gerade weil es dem spezifischen Gegenstand (Institution, Gruppe1) eigentlich nicht angemessen ist. So hat es sich in unserer Doppelspitze oft als fruchtbar erwiesen, die spezifischen Kompetenzen von uns beiden Direktoren, die sozialpsychologische / gruppenanalytische und die klinisch / konzeptuell psychoanalytische, für ein gemeinsames Verstehen aktueller institutioneller Situationen zu nutzen, wie ich im Folgenden illustrieren möchte.2 Der Dialog zwischen uns hatte oft die Funktion eines triangulierenden, fremden Blicks auf das Eigene. So mag der folgende Versuch, Modelle zur Erklärung komplexer unbewusster Prozesse in Institutionen beizuziehen und dies mit einem Beispiel zu illustrieren, für manche sozialpsychologische Leser zuerst einmal ungewöhnlich, ja vielleicht sogar befremdlich wirken. Rolf Haubl erlebe ich dagegen immer als offen und neugierig für diese durch Ulrich Moser geprägte »Zürcher Wissenschaftstradition«. So hoffe ich zu illustrieren, dass das Emotionsmodell dafür sensi-

1 Haubl (2000, S. 262) definiert »Gruppe« in seinem Artikel im Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe: »Im psychoanalytischen Verständnis besteht eine Gruppe, wie sie als Therapie- oder Selbsterfahrungsgruppe üblich ist, zunächst aus einer Menge von – einander fremden – Personen mit mehr oder weniger heterogenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen. Indem sich diese Personen nach Maßgabe des vereinbarten Settings wiederholt begegnen, kommt unweigerlich ein Prozess der Gruppenbildung in Gang. Denn die Gruppenteilnehmer können es nicht vermeiden, einander zu beeinflussen.« Dies gilt selbstverständlich, wenn auch in anderer Weise als in Gruppentherapien, auch in Institutionen, in denen sich Gruppen von Angestellten und Mitarbeitern fast tagtäglich begegnen. 2 Ich habe dieses Thema für diesen Beitrag als kleines Dankeschön an Rolf Haubl gewählt, da ich von seinem differenzierten, reichen Wissen zu emotionalen Prozessen in Institutionen und dem Umgang damit viel gelernt habe. Aus meiner Sicht verdankt das SFI dieser Kompetenz von Rolf Haubl wesentlich, dass es gelungen ist, dieses psychoanalytische Forschungsinstitut aus der Krise 2003 herauszuführen und zu neuer Blüte zu verhelfen.

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bilisieren kann, welche Macht Emotionen in Institutionen ausüben, welche Dynamik ihnen innewohnt und wie entscheidend es ist, dass das Leitungs- und Mitarbeiterteam aktuell ablaufende emotionale Prozesse als unbewusste Quellen der Kommunikation latenter Wahrnehmungen und Einschätzungen für einen produktiven Verständigungsprozess nutzen können, um den bekannten, destruktiven Regressionsprozessen in Institutionen nicht passiv anheimzufallen.

Ein transdisziplinäres Emotionsmodell Cognitive Science und Emotionspsychologie Wie Döll-Hentschker (2008, S. 63 ff.) detailliert aufzeigte, existiert auch heute noch eine Vielzahl verschiedener Emotions- und Kognitionstheorien nebeneinander, aus denen unterschiedliche Klassifikationssysteme emotionaler und kognitiver Störungen abgeleitet werden. Manche Theorien, besonders neurobiologische Modelle, betonen die physiologischen Prozesse, die Emotionen generieren (vgl. u. a. LeDoux, 1996; Plutchik, 2002). Andere legen den Schwerpunkt auf Kognitionen, die Emotionen auslösen. Wieder andere gehen von einer begrenzten Anzahl von Basisemotionen aus (vgl. u. a. Tomkins, 1962 ; Lazarus, 1991; Ekman, 2004), während ihre Kontrahenten diese Annahme radikal zurückweisen und in der Kommunikation und im Handeln die primären Faktoren sehen, die Emotionen hervorbringen. Solche heterogenen Theorieansätze stellen eine Herausforderung dar für eine interdisziplinäre wissenschaftliche Disziplin, wie die Cognitive Science, die den Anspruch hat, in ihren Modellen den aktuellen Wissensstand zu komplexen Fragestellungen in unterschiedlichsten Gebieten zu integrieren. Dies motivierte Rolf Pfeifer und seine Forschergruppe in den 1990er-Jahren zur Entwicklung eines integrativen Emotionsmodells (vgl. Pfeifer u. Nicholas, 1985 ; Pfeifer u. Leuzinger-Bohleber, 1986, 1992). Inzwischen hat diese Forschergruppe einen Paradigmawech© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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sel von der »klassischen« hin zur »Embodied Cognitive Sience«3 vollzogen (vgl. u. a. Pfeifer u. Bongard, 2006). Emotion, Kognition und Gedächtnis werden nun nicht mehr, wie damals, analog zu einem Computer bzw. einem psychischen Repräsentanzenmodell verstanden, sondern radikal als konstruktivistische, sensomotorische Koordinationen konzeptualisiert. Das heißt, Informationen aus verschiedenen Sinneskanälen werden in einer aktuellen Situation in analoger Weise koordiniert, wie dies in einer früheren Situation geschah, und generieren die entsprechenden Erinnerungen, Kognitionen und Emotionen (vgl. dazu u. a. Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 2002a; Leuzinger-Bohleber, Henningsen u. Pfeifer, 2008). Aus heutiger Sicht lag daher dem damaligen Emotionsmodell ein sogenannter »Kategorienfehler« zugrunde: Deskriptive Phänomene (Emotionen, Kognitionen) wurden mit kausalen Aussagen zur Entstehung von Emotionen im Gehirn gleichgesetzt. Wie ich im Folgenden diskutieren möchte, ist interessant, dass »Embodiment« scheint in den letzten Jahren plötzlich zu einem Modebegriff geworden zu sein, was darauf hinweisen kann, dass mit diesem Begriff verschiedene Phänomene auf neue und interessante Weise erklärt werden können. Wie bei einer Feier zum 20-jährigen Bestehen des Artificial Intelligence Laboratory von Rolf Pfeifer und seiner Arbeitsgruppe an der Universität Zürich im November 2007 gezeigt hat, wurde das Konzept in viele verschiedene Wissenschaftsdisziplinen (von der Artifical Intelligence, der kognitiven und Entwicklungspsychologie, der Robotik, den Ingenieurswissenschaften, der Psychoanalyse bis hin zur Mikrobiologie) adaptiert. Auch in den Medien oder populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen (z. B. Storch, Cantieni u. Hüther, 2007) wird vermehrt von »Embodiment« gesprochen. Die Gefahr dabei ist, dass die ursprüngliche Erklärungskraft dieses spezifischen Konzeptes eingebüßt wird und schließlich fast in eine theoretische Banalität mündet, z. B. dass es darum gehe, die Wechselwirkung von Körper und Psyche zu verstehen und zu nutzen. Im Gegensatz dazu haben wir in verschiedenen interdisziplinären Arbeiten den spezifischen Erklärungsgehalt des Begriffes »Embodiment« im Bereich der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie sowie spezifischer Phänomene in der klinisch-psychoanalytischen Situation, wie z. B. Erinnerungsprozesse in der Übertragung, detailliert aufgezeigt und kritisch diskutiert (vgl. Leuzinger-Bohleber, Pfeifer u. Röckerath, 1998; Leuzinger-Bohleber u. Pfeifer, 1998, 2002a, b, 2006). 3

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die Analysen auf einer deskriptiven Ebene heute noch Bestand haben und ein anregendes Erklärungspotenzial enthalten, obschon durch die Studien in der sogenannten »Affective Neuroscience« (Panksepp, 1998) inzwischen die Entstehung von Emotionen im Gehirn in neuer Weise differenziert beschrieben werden kann. Das damals entwickelte Klassifikationssystem emotionaler Störungen ist kompatibel mit den Konzepten der »Embodied Cognitive Science« und eignet sich daher immer noch, die Dynamik emotionaler Prozesse in bestimmten (institutionellen) Situationen kritisch zu reflektieren.

Fokusse und Annahmen des transdisziplinären Emotionsmodells: Komponenten der emotionalen Prozesse Kleinginna und Kleinginna haben in ihrer Arbeit schon 1981 aufgezeigt, dass sie in der Fachliteratur auf fast 100 unterschiedliche Definitionen von Emotionen gestoßen sind. Inzwischen lassen sich folgende Konvergenzen in den meisten Emotionstheorien feststellen: – Beschreiben wir Emotionen deskriptiv, so bestehen sie aus Prozessen in verschiedenen Subsystemen (Phänomenbereichen), dem kognitiv-evaluativen, dem physiologischen, dem kommunikativen Subsystem sowie einem Subsystem des subjektiven Erlebens. – Je intensiver die Prozesse in allen Subsystemen beteiligt sind, desto intensiver ist das subjektive Erleben einer Emotion. – Wichtig ist zudem, dass physiologische Prozesse aufgrund der spezifischen Überzeugungen des Subjekts (belief systems) kausal mit den sie auslösenden Situationen oder Ereignissen im kognitiv-evaluativen Subsystem verbunden sind. Wenn jemand errötet, weil er zu viel getrunken hat, mag dies nichts mit einer Schamreaktion zu tun haben, obschon die physiologische Reaktion eine ganz ähnliche sein mag. Nur falls eine beschämende Situation mit der Errötung verbunden ist, handelt es sich um die Emotion »Scham«. Daher sind bei der Analyse einer bestimmten Emotion immer die sensorischen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Informationen in der sie auslösenden Situation zu berücksichtigen, die ein bestimmtes physiologisches Reaktionsmuster (im Sinne des »Embodiments«) evozieren. – Emotionen sind daher Syndrome, die aus Prozessen in den erwähnten vier Subsystemen bestehen, wobei Vorgänge in einzelnen Subsystemen unter Umständen unvollständig ablaufen oder im Extremfall sogar fehlen können. Die Beschreibung solcher »unvollständiger« oder »fehlender« Prozesse in den vier Subsystemen kann als Ausgangspunkt eines Klassifikationsschemas emotionaler Störungen dienen (vgl. Abb. 1 auf S. 29). – Es ist weiterhin umstritten, ob es universell gültige »Basisemotionen« gibt. Strongman (1978) definierte aufgrund vieler interkultureller Studien solche »Basisemotionen«, wie Freude, Ärger, Trauer, Verachtung, Ekel, Angst und Überraschung. Verschiedene Autoren bestreiten diese Universalität, da Emotionen durch innere und äußere Zustände generiert werden, die teilweise in verschiedensten Kulturen ähnlich, aber auch unterschiedlich sein können (vgl. dazu Pfeifer u. LeuzingerBohleber, 1992, S. 220 f.). Zusammenfassend können Emotionen als synthetisierend evaluierende, »embodied« Reaktionen des Organismus verstanden werden, die ihn aufgrund (meist unbewusster) Kognitionen4 physiologisch in die Lage versetzen, in einer komplexen Situation rasch und intuitiv zu reagieren. Gefühle haben eine zentrale Funktion: Ohne sie wären kein Überleben des Individuums, keine Verständigung und kein soziales Interagieren möglich.

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Der Begriff »Kognition« wird sehr unterschiedlich verwendet. Manche verstehen darunter Prozesse auf einem hohen, symbolischen Niveau und setzen Kognition mit »bewusstem Denken« gleich (z. B. Pylyshyn, 1984). Andere beziehen auch »low-level perceptions« (implizite Wahrnehmungen etc.) mit ein (u. a. Neisser, 1967). In der »Embodied Cognitive Science« wird der letztere, breitere Begriff von Kognition verwendet, da sensomotorische Koordinationen, die Emotionen auslösen, immer unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufen und dem reflexiven Denken nicht zugänglich sind. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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»Normale« Emotionen: Emotionstaxonomie Wenn wir von »normalen« bzw. »adäquaten« Emotionen sprechen, beziehen wir uns implizit auf ein Klassifikationsmodell. Besonders im klinischen Bereich, aber auch in institutionellen Zusammenhängen ist es entscheidend, »pathologische« emotionale Prozesse möglichst präzise diagnostizieren zu können, eine Voraussetzung, um ihre Entstehung reflektieren zu können und Handeln, das auf »pathologischen Emotionen« beruht, modifizieren bzw., interaktionell oder institutionell steuern zu können. Inzwischen wurden verschiedene, mehr oder weniger elaborierte Emotionstaxonomien vorgelegt (vgl. u. a. Abelson, 1983; Kemper, 1984; Roseman, 1979; Ortony, Clore u. Collins, 1988; Weiner, 1982, Lazarus, 1991; Plutchik, 2002). Allerdings muss betont werden, dass aufgrund von Taxonomien keine Aussagen über die Entstehung von Emotionen gemacht werden können (vgl. oben erwähnter Kategorienfehler). Sie geben lediglich darüber Auskunft, in welchen Situationen welche Emotionen ausgelöst werden. Die genaue Entstehung von Emotionen wird bis heute kontrovers diskutiert.

Ein integrales Klassifikationsschema zur Diagnose emotionaler Störungen und Anwendung auf emotionale Prozesse in Institutionen Im folgenden Schema werden Abläufe zwischen verschiedenen emotionalen Prozessen und Zuständen skizziert, wobei zwischen »normalen« (1) und »pathologischen« (0) Emotionen unterschieden wird. Bezogen auf die im Schema enthaltenen vier Subsysteme emotionaler Prozesse betrachten wir eine Emotion als »normal« wenn: 1. adäquate kognitiv-evaluative Zuschreibungen zu bestimmten Situationen gemacht werden. Die Wahrnehmung einer bestimmten Situation wird in adäquater Weise erkannt, beispielsweise eine Gefahrensituation bei einer Angstempfin© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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dung oder eine Verlustsituation bei einer Trauerreaktion. Allerdings ist, wie schon kurz erwähnt, zu bedenken, dass die Bewertung einer bestimmten Situation kulturabhängig ist, das heißt von soziokulturellen Normen abhängt.5 2. die physiologischen Reaktionen sich im Rahmen eines »normalen Musters« bewegen. Dies bedeutet ein gewisses Maß an Aktivierung (arousal). Die Intensität der physiologischen Reaktion sollte in einem adäquaten Zusammenhang zu den generierten Emotionen stehen (z. B. Angst statt Panik in einer Gefahrensituation). 3. die emotionalen Prozesse adäquat ausgedrückt und – den Regeln einer bestimmten Kultur entsprechend – nonverbal kommuniziert werden (Beispiele sind Körperhaltungen, Mimik, Stimmlage etc.). So können beispielsweise chronisch depressive Patienten weder Freude noch Ärger mimisch ausdrücken: Ein erstarrter Traueraffekt dominiert das nonverbale Ausdrucksverhalten. 4. emotional adäquat erlebt werden können. Dies bedeutet, dass das Individuum Gefühle nicht nur ausdrücken, sondern auch empfinden kann. Dieses Phänomen ist beispielsweise einer der wichtigsten Indikatoren für Persönlichkeiten, die ein »falsches Selbst« entwickelt haben. Das Klassifikationsschema diente uns in verschiedenen Arbeiten, emotionale Prozesse in dyadischen Interaktionen (psychoanalytischen Therapien, Schüler-Lehrer-Interaktionen) zu diskutieren (Pfeifer u. Leuzinger-Bohleber, 1986, 1992). Im Folgenden wird versucht, das Schema für die Reflexion emotionaler ProWird eine aktuelle Situation als Konfliktsituation evaluiert, ist »Ärger« die »normale« Emotion, wird ein Erlebnis als »positiv«, als Erfolg kogniziert, löst dies »normalerweise« »Freude« aus. Gefahrensituation ! Angst Verlust ! Trauer Abgrenzung ! Ekel Überlegenheitssituation ! Verachtung Verstoß gegen Ichideal ! Scham Verstoß gegen Über-Ich ! Schuldgefühl 5

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Abbildung 1: Grobklassifikation von Emotionsstörungen

zesse in Institutionen fruchtbar zu machen. Dabei werden folgende Punkte illustriert: – Emotionen werden nicht als Zustände, sondern als Prozesse konzeptualisiert. Emotionen, die einer bestimmten Situation adäquat sind (daher als »normale« Emotionen diagnostiziert werden), können durch weitere individuelle (und institutionelle) Bedingungen in pathologische, das heißt der sie auslösenden Situation inadäquate Emotionen übergehen. Dies stellt eine Gefahr für produktives Problemlösen in Institutionen dar, kann aber zuweilen in spezifischen Situationen durchaus auch Vorteile haben (vgl. Beispiel unten). – Emotionen basieren auf unbewussten, »embodied« Evaluationen komplexer Wahrnehmungen und können daher für Leitung und Mitarbeiter eine wichtige Quelle des Verstehens aktueller Prozesse in Institutionen darstellen. – Das gemeinsame Verstehen emotionaler Prozesse ist eine zentrale Komponente für adäquates Problemlösen in Institutionen. Bion (1961) sprach vom Kampf um das Funktionieren einer Arbeitsgruppe in Institutionen, die – besonders in Krisensituationen – durch bestimmte unbewusste Gruppenfantasien © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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bedroht wird, die Bion »Grundannahmen« nannte.6 »Die Arbeitsgruppentätigkeit wird behindert, abgelenkt und manchmal auch gefördert durch gewisse andere psychische Aktivitäten, die ein Attribut miteinander gemein haben: mächtige emotionale Tendenzen. Diese Aktivitäten, die auf den ersten Blick chaotisch wirken, bekommen einen gewissen Zusammenhang, wenn man annimmt, daß sie aus Grundannahmen erwachsen, die der ganzen Gruppe gemein sind« (Bion, 1961/2001, S. 106). Das Klassifikationsmodell emotionaler Störungen wird im Folgenden genutzt, um »mächtige emotionale Tendenzen« exemplarisch zu beleuchten. – Kernberg (1998) kritisierte an Bions Ansatz, dass er die Rolle des Führers in Gruppen und Institutionen unterschätzt hat. Basierend auf psychoanalytischen Objektbeziehungstheorien betont er die komplexen Wechselwirkungen zwischen den Führungspersönlichkeiten in einer Institution, der Organisationsstruktur und den Gruppenprozessen. Emotionen bilden einen Schlüssel für das Verständnis dieser Wechselwirkung.

»In jeder Gruppe lassen sich Züge psychischer Aktivität erkennen. Jede Gruppe, auch eine noch so zwanglose, kommt zusammen, um etwas zu tun. Bei dieser Aktivität kooperieren alle miteinander, je nach Fähigkeiten des Einzelnen. Die Kooperation ist freiwillig und hängt davon ab, dass der Einzelne einige mehr oder weniger ausgebildete Fertigkeiten besitzt. Beteiligung an dieser Aktivität ist nur für Individuen mit jahrelanger Übung und einer Erfahrungsfähigkeit möglich, die ihnen eine psychische Entwicklung gestattet hat. Da diese Aktivität sich auf eine Aufgabe richtet, steht sie in Beziehung zur Realität, ihre Methoden sind rational und daher, wenn auch in noch so embryonaler Form, wissenschaftlich. Ihre Merkmale sind denen ähnlich, die Freud (1911) im Ich gesehen hat. Diese Facette der psychischen Aktivität in der Gruppe habe ich die ›Arbeitsgruppe‹ genannt. Der Ausdruck bezeichnet nur eine bestimmte Art psychischer Aktivität, nicht die Menschen, die sich ihr widmen« (Bion, 1961, S. 104). 6

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Der Kampf um die »Arbeitsgruppe« – Emotionen in einer existenziellen Krise in einer Institution Das Sigmund-Freud-Institut erlebte 2003 seine bisher größte institutionelle Krise. Ein Jahr nachdem Rolf Haubl und ich die neue Leitung dieses traditionsreichen psychoanalytischen Forschungsinstituts übernommen hatten, kündigte uns die damalige Hessische Regierung an, im Rahmen der Initiative »Aktion sichere Zukunft« 50 % der staatlichen Zuwendungen zu kürzen. Viele Institutionsexperten haben uns damals bestätigt: 50 % Kürzungen für eine laufende Forschungsinstitution bedeutet ihr Aus! Wir sind sehr froh, dass wir 2010, anlässlich des 50-jährigen Bestehens des SFI, feststellen konnten, dass wir auch dank des enormen Engagements unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der Unterstützung durch den Wissenschaftlichen Beirat, durch das Kuratorium des SFI und durch viele internationale und Frankfurter Persönlichkeiten die Schließung des Instituts verhindern und, wenn auch in anderer Form als zu Mitscherlichs Zeiten, zu neuer Kreativität und Entfaltung führen konnten. In der Rückschau war vor allem während der akuten Krise der Umgang mit den »mächtigen emotionalen Tendenzen« und drohenden pathologischen Regressionsprozessen entscheidend.

Reflexion »mächtiger emotionaler Tendenzen« im Leitungsteam: Voraussetzung für eine akute Krisenbewältigung Als Erstes soll illustriert werden, dass mit Hilfe des Klassifikationssystems präzise erläutert werden kann, dass das Subjekt innerhalb weniger Augenblicke ein Wechselbad von Gefühlen erlebt, von der »normalen«, der Situation angemessenen Emotion bis hin zu inadäquaten »pathologischen« Gefühlszuständen. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen den beiden großen Spalten des Klassifikationsschemas: bei den emotionalen Prozessen im oberen Teil (Verlauf a–g) bleibt die Wahrnehmung der auslösenden Situation erhalten und dadurch auch das Generieren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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der »adäquaten« Emotion, wenn auch nicht in allen Subsystemen. In den Prozessen, die im unteren Teil des Schemas dargestellt sind (Verlauf h–o) wird auch die Wahrnehmung der auslösenden Situation beeinträchtigt, so dass inadäquate Emotionen generiert werden. Wir beiden Direktoren hatten die Hiobsbotschaft am Tag des geplanten Betriebsausflugs erhalten und überlegten, ob wir diesen sozialen Event absagen. Vielleicht war es Ausdruck einer anfänglichen Verleugnung des Ausmaßes der Gefahr, die die Kürzungen für das SFI bedeuteten, dass wir beschlossen, die schlechte Nachricht noch für uns zu behalten. Rationalisierend sagten wir uns, dass es für uns als Leitung wichtig sei, die ersten emotionalen Reaktionen zu »containen« und erst danach unserem Team mitzuteilen. Daher wanderten wir durch den Taunus – mit wechselnden Gefühlen von Angst, Ärger, Ohnmacht, Verzweiflung und Wut. Erst danach setzten wir uns mit unserem Verwaltungsleiter in ein Café und nahmen uns den äußeren und inneren Raum für ein gemeinsames Thematisieren unserer Affektstürme und damit verbundener Gedanken und Fantasien. Dazu ein kleiner Einblick.

Angst: die »normale« emotionale Reaktion in einer Gefahrensituation und Copingstrategien im Umgang mit ihrer unerträglichen Intensität Erst in diesem gemeinsamen Gespräch entfaltete sich die Angst in vollem Ausmaße als die angemessene Emotion in der realen akuten Gefahrensituation: »Eine 50 %-Kürzung, dies bedeutet das Aus jeder Institution …!« Wir realisierten erst gemeinsam die existenzielle Bedrohung für das SFI und dass uns keine andere Wahl bleiben würde, als allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ohne feste Arbeitsverträge zu kündigen: Die Finanzmittel würden nicht für die momentanen Personalkosten ausreichen. Diese Details steigerten die Intensität unserer Angst und mündeten schließlich in Panik. »Dies ist wirklich das Aus – den Kampf dagegen können wir uns schenken. Lasst uns doch gleich die Presse informieren, dass Ministerpräsident Roland Koch dieses berühmte psychoanalytische Institut zerstört hat. Dann gehen wir wenigstens nicht sang- und klanglos unter«, meinte einer von uns.

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Verlauf a: Störung des subjektiven Erlebens (Angst) Diese apokalyptische Fantasie des heroisch untergehenden Instituts mobilisierte bei den beiden anderen Gesprächsteilnehmern eine massive emotionale Reaktion: Angst und Panik wurden beiseite geschoben. Stattdessen versanken beide vorerst einmal in depressives Schweigen. Ohnmacht und Resignation breiteten sich aus. Schließlich platzte einem der beiden der Kragen. Heftigst verschaffte sich Trotz und Ärger Luft: »Das kann doch einfach nicht wahr sein. Ein Institut wie das SFI kann man nicht einfach sterben lassen!«

Verlauf c: Störung der expressiv-kommunikativen Komponente Dies führte zu einer veränderten Kommunikation zwischen uns: Ärger und Wut verliehen uns zunehmend die innere Aktivität, trotzig nach Überlebensmöglichkeiten zu suchen. Obschon die politische Dimension des Konfliktes durchaus präsent blieb, entstanden eine ganze Reihe von pragmatischen Ideen, von Mehrarbeit in der Ambulanz, Vermietung von Räumen und Parkplätzen, gezieltes Fundraising als Überbrückungsfinanzierung etc.

Verlauf b / d: Störung der expressiv-kommunikativen Komponente sowie des subjektiven Erlebens Das Wegschieben der expressiv-kommunikativen Komponente der Angst erwies sich daher in dieser Situation als funktional und führte schließlich zu dem Verschwinden des subjektiven Angsterlebens. Stattdessen fühlten wir uns wütend, trotzig und wild entschlossen, der Gefahr der Schließung des Instituts mit allen möglichen Strategien entgegenzuwirken.

Verlauf e: Störung des physiologischen und des expressiv-kommunikativen Subsystems Mit diesen Veränderungen des aktuellen emotionalen Erlebens generierten wir auch andere physiologische Reaktionen: statt des Angstmusters (das zu einer kurzfristigen Flucht aus der Gefahrensituation befähigt) versetzte uns das Erleben von Ärger und Wut physiologisch in die Lage, uns der aktuellen Konfliktsituation zuzuwenden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Verlauf f: Störung des physiologischen und expressiv-kommunikativen Subsystems und des Systems des subjektiven Erlebens In diesem Zustand fühlten wir uns nicht mehr ängstlich, sondern aktiv trotzig, entschlossen Widerstand zu leisten, »nicht aufzugeben« und uns der belastenden Situation zu stellen, das Institut auch mit nur 50 % der staatlichen Zuwendungen überleben zu lassen. Wir hatten statt der Angst andere Emotionen generiert, allerdings ohne dabei die Wahrnehmung der akuten institutionellen Gefahr zu verleugnen: Die Prozesse im kognitiv-evaluativen System waren nicht beeinträchtigt (vgl. 1 im Schema der Abbildung 1, S. 29).

Exkurs: Nachträglich gesehen war es entscheidend, dass wir uns zu dritt in dieser Situation den intermediären und den äußeren Raum geben konnten, die intensiven emotionalen Prozesse gemeinsam zu durchlaufen, unter uns zu kommunizieren und schließlich im Sinne einer produktiven Arbeitsgruppe zu nutzen mit dem Ziel, das Institut trotz der schweren akuten Bedrohung gemeinsam aus der Krise zu führen. Vermutlich wäre dies jedem von uns allein nicht gelungen: Ohne die gemeinsame Reflexion wäre wohl jeder von uns in Panik geraten oder in einen Zustand lähmender Depression verfallen. In diesem Sinne konnten wir die Teamleitung nutzen, dass wir uns gegenseitig dabei stützten, unsere reiferen Persönlichkeitsanteile7 zu mobilisieren und weder in eine passive Abhängigkeitsfantasie (»nun ist doch alles vorbei: die ›Vaterfigur Koch‹ hat uns die Nahrung entzogen!«) noch eine paranoide Kampf-Flucht-Fantasie (»… mit Hilfe der Medien nehmen wir den politischen Kampf auf und gehen notfalls gemeinsam unter …«) zu verfallen. – Entscheidend war zudem, dass wir selbst dieses ganze Spektrum emotionaler Reaktionen gemeinsam erlebt hatten. Die verschiedenen intensiven und schwierig zu ertragenden Emotionen wurden uns dadurch 7 Auf die Wechselwirkung von Leitungspersönlichkeiten und Gruppenfantasien in einer solchen Krisensituation, wie sie etwa Kernberg (1998) beschreibt, kann ich in diesem Rahmen nicht eingehen. Vermutlich hätte eine paranoide Führungspersönlichkeit in der damaligen Kriseninstitution eine verheerende Auswirkung auf die Beziehung zum Ministerium und damit auch auf den Verlauf der Umstrukturierung des Instituts gehabt.

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bewusst – eine Voraussetzung, um die folgenden regressiven Gruppenprozesse ansatzweise verstehen und dadurch schließlich steuern zu können. Verlauf g: Störung des physiologischen Subsystems und des Systems des subjektiven Erlebens Jeder Einzelne wäre zudem vermehrt der Gefahr ausgesetzt gewesen, auf die akute Gefahr mit heftigen psychosomatischen Reaktionen zu reagieren (Störungen im physiologischen Subsystem). Auch wenn die Stress- und Angstsituation anderen und sich selbst noch kommuniziert werden (Verlauf g), wäre schließlich das subjektive Erleben der Angst verschwunden, mit der Gefahr, psychosomatisch zu erkranken und dadurch die Möglichkeit einzubüßen, der Gefahrensituation adäquat und aktiv zu begegnen. Es ist bekannt, dass der Krankheitsstand bei vielen Institutionen, die durch die »Aktion sichere Zukunft« betroffen waren, in diesen Wochen extrem gestiegen ist.

Drohende pathologische Regressionsprozesse, unbewusste Gruppenfantasien und archaische emotionale Zustände Das Team des Sigmund-Freud-Instituts hatte damals mit ca. dreißig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Größe, die nicht mehr als »Kleingruppe«, aber auch noch nicht als »Großgruppe« gilt. Die Mitteilung der Mittelkürzungen führte selbstverständlich nicht nur zu individuellen Reaktionen, sondern auch zu Gruppenprozessen mit der ihr eigenen Dynamik, wie im Folgenden kurz, bezogen auf einige Ergebnisse der Kleingruppen- und Großgruppenforschung, anhand des unteren Teils des Klassifikationsschemas diskutiert werden soll, in dem es um emotionale Prozesse geht, die durch inadäquates Wahrnehmen und Evaluieren der auslösenden Situation gekennzeichnet sind. Verlauf h: Störung des kognitiv-evaluativen Subsystems Es kommt in Gruppenprozessen fast unvermeidlich zu einer Störung der kognitiv-evaluativen Prozesse. Viele spontane Reaktionen auf die Mit© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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teilung der Kürzungen lösten paranoide Fantasien aus: »Ministerpräsident Koch rächt sich persönlich an einer Kränkung, die ihm einer der früheren Direktoren des SFI öffentlich zugefügt hat.« – »Die heutige Gesellschaft hat ihre Wertschätzung für die Psychoanalyse endgültig verloren und will sie mit dem SFI nun zum Verschwinden bringen.« – »Dies ist nun die späte Rache an Mitscherlich, die er in seiner Abschiedsrede schon prophezeit hat …«, etc. waren Äußerungen, die vermutlich auf solchen Fantasien beruhten. Ebenso verzerrt waren erste Ideen zum Umgang mit der Krise: »Wir müssen nur kurz beim Ministerium intervenieren oder unser Anliegen den Oppositionsparteien und einflussreichen, der Psychoanalyse verbundenen Persönlichkeiten unterbreiten, dann wird die Schließung abgewendet …« etc. Nachträglich gesehen wurde in dieser akuten Bedrohungssituation die Bion’sche Grundannahme von »Kampf-Flucht« aktiviert. Bei einem Teil des Teams breitete sich eine paranoide, kämpferische Stimmung aus (vgl. oben erwähnte Fantasie des Leitungsteams). »Entweder wir kämpfen politisch erfolgreich gegen die Regierung oder gehen dann mit viel Echo in den Medien gemeinsam unter …«. Diese Fantasie wurde in verschiedensten Versionen durchgespielt.

Verlauf i: Störung des kognitiv-evaluativen Subsystems in Kombination mit Störung des subjektiven Erlebens Bei einem Teil der Gruppe schien bald das subjektive Angsterleben zu verschwinden. Stattdessen breitete sich eine aggressive Kampfstimmung aus, psychoanalytisch gesehen wohl eine narzisstische Abwehr von Angst- und Ohnmachtsgefühlen. Dies manifestierte sich unter anderem in der Forderung, keinem der Angestellten zu kündigen. Dies entspreche nicht der sozialen Tradition des Hauses. Kündigungen wären ein »Verrat« an den ungeschriebenen Regeln des SFI. Stattdessen sollte die alte, Mitscherlich’sche Widerstandshaltung aktiviert werden und in gemeinsame politische Aktivitäten münden.

Verlauf j / k: Störung des kognitiv-evaluativen Subsystems, des expressiv-kommunikativen Subsystems und des Subsystems des subjektiven Erlebens Mit diesen regressiven Gruppenprozessen verbunden waren auch die Prozesse, die im Schema im expressiv-kommunikativen Sub© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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system beschrieben sind: Politischer Aktivismus, Größenfantasien und politische Vernichtungsfantasien beherrschten die Gruppendiskussionen. Einzelne Teammitglieder schienen sich nun nicht mehr ängstlich zu fühlen, sondern mächtig und potent, zuweilen sogar fast euphorisch, endlich wieder einmal politisch aktiv werden zu können.

Verlauf l / o: Störungen in allen Subsystemen Nachträglich gesehen bedeuteten diese regressiven Gruppenprozesse eine große Gefahr für das Überleben des SFI: Hätte die KampfFlucht-Fantasie die Stiftungsratssitzungen in dieser Zeit dominiert, hätte der damalige Minister für Wissenschaft und Kunst Udo Corts, der sich, wie er dies in der ersten Krisensitzung ausdrückte, »ein eigenes Bild vom SFI und seiner Arbeit« machen wollte, nicht davon überzeugt werden können, dass es sich für das Ministerium lohnt, dieses international einmalige psychoanalytische Forschungsinstitut zu erhalten und die Kürzungen wenigstens um 10 % zurückzunehmen, um die akute Krise – zusammen mit den enormen Anstrengungen aller SFI-Mitarbeiterinnen – zu bewältigen.

Verlauf m: Störungen des kognitiv-evaluativen Subsystems, des physiologischen Subsystems und des Systems des subjektiven Erlebens Erwähnenswert ist aber, dass bei uns allen in dieser Zeit die Bewältigung der Krise ihren Preis kostete: Beispielsweise hatten wir ohne Ausnahme mit den physiologischen Angstreaktionen zu kämpfen. Wohl kaum einer schlief in dieser Zeit gut. Alle fühlten sich unter einer enormen Anspannung und einem großen Druck. Einige davon erkrankten, manche ohne einen Bezug zur akuten institutionellen Gefahr herzustellen.

Verlauf n: Störungen des kognitiv-evaluativen Subsystems, des physiologischen Subsystems und des expressiv-kommunikativen Subsystems Andere hingegen schrieben ihren Zustand nicht mehr der Bedrohung durch die Kürzungen des Instituts zu, sondern erlebten sich subjektiv von der Leitung schlecht behandelt: Sie war zum Grund der bedrohlichen Gefahrensituation geworden (psychoanalytisch ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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sehen könnte dies mit dem Abwehrmechanismus der Verschiebung zusammenhängen).

Verstehen der Emotionen als Voraussetzungen für eine kreative Problemlösung Die emotionalen Prozesse von allen am SFI damals Tätigen erreichten in der akuten Krise eine derartige Intensität, dass die Arbeitsfähigkeit bedroht war. Daher beschlossen wir, mit Hilfe eines Coachs, eines »Dritten von außen«, der Gefahr destruktiver regressiver Prozesse zu begegnen. Für alle beteiligten Gruppen im SFI wurde ein Raum geschaffen, die vielfältigen Emotionen wahrzunehmen, zu artikulieren und zu verstehen. Dies erwies sich als wichtige Voraussetzung, um ein gemeinsames Handeln zum Überleben des Instituts zu initiieren, das von allen Beteiligten eine große Kraftanstrengung und ein konsensuell getragenes, außergewöhnliches Engagement abverlangte. Dieser Reflexionsprozess begleitete uns in den folgenden Jahren. Immer wieder erschwerten regressive Gruppenprozesse und Gruppenfantasien8 die Arbeitsatmosphäre. In manchen Si8 »Die erste Grundannahme besteht darin, dass die Gruppe zusammengekommen ist, um von einem Führer betreut zu werden, von dem sie Schutz und Nahrung – materielle und geistige – erhält« (Bion, 1961, S. 107). Das ist die Grundannahme der Abhängigkeit. Die 2. Grundannahme ist die Paarbildung (Paar allein im Mittelpunkt)! »Die so in der Paarbildungsgruppe miteinander verknüpften Gefühle sind das diametrale Gegenteil von Haß, Destruktivität und Verzweiflung. Damit diese Gefühle der Hoffnung sich aufrechterhalten lassen, muß der Führer dieser Gruppe – im Gegensatz zum Führer der abhängigen Gruppe und der Kampf-Flucht-Gruppe – noch ungeboren sein. Es ist ein Mensch oder ein Gedanke, der die Gruppe eines Tages retten wird – und zwar vor den Haß-, Destruktivitäts- und Verzweiflungsgefühlen der eigenen oder einer anderen Gruppe. Aber damit dies geschehen kann, darf die Messias-Hoffnung selbstverständlich nie erfüllt werden. Die Hoffnung dauert nur, indem sie Hoffnung bleibt …« (S. 110). »Die dritte Grundannahme besagt, daß die Gruppe sich zusammengefunden hat, um gegen etwas zu kämpfen oder davor zu fliehen. Zu beidem ist sie unterschiedslos bereit. Ich nenne diesen Bewußtseinszustand ›Kampf-Flucht-Gruppe‹. Der anerkannte Führer einer Gruppe in diesem Zustand muß Ansprüche an die Gruppe

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tuationen war die Grundannahme der »Abhängigkeit von nährenden Elternfiguren« dominierend: Von den beiden Leitern wurde erwartet, dass sie das Team und das Institut »nähren und versorgen« – eine gefährliche Fantasie für ein kleines Forschungsinstitut, das von der gemeinsamen Anstrengung und Produktivität aller seiner wissenschaftlichen und nicht wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern lebt und sich Wünsche nach passivem Versorgtwerden kaum leisten kann. Auch die unbewusste Fantasie des »Paares« konnte oft beobachtet werden, da sich die Doppelspitze (Mann / Frau) für die Aktivierung solcher Fantasien besonders gut eignete. Zwar ist diese Gruppenkonstellation meist mit positiveren, erotischen Fantasien verbunden, doch auch sie weist ihre Schattenseiten auf: Die Verantwortung für die Generativität wird auf das Leiterpaar projiziert. Von ihren noch zu gebärenden intellektuellen »Kindern« wird die Zukunft der Institution abhängen. Durch diese in die Passivität führende Fantasie gerät das gemeinsame Ziel einer wissenschaftlichen Produktivität von allen aus dem Blick, die langfristig allein das Überleben einer Forschungsinstitution garantiert. Daher ist die Wahrnehmung und Reflexion emotionaler Prozesse und ihrer auslösenden Faktoren und unbewussten Fantasien in Institutionen eine dauernde Anforderung, besonders an die Leitung, aber auch an das Team. Sie kann aber nur in transparenten, klaren, demokratischen Strukturen stattfinden, die – als ein Produkt der erwähnten Krise – ebenfalls geklärt und institutionell verankert werden mussten.

Abschließende Bemerkungen Bezugnehmend auf ein Klassifikationsmodell emotionaler Prozesse und ihrer Störungen wurde anhand eines Beispiels versucht, die Dynamik emotionaler Prozesse, ihrer Entstehung und stellen, die ihr die Möglichkeit zur Flucht oder zur Aggression bietet. Stellt er Ansprüche, bei denen das nicht der Fall ist, so wird er ignoriert« (S. 111). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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ihrer Relevanz für produktives Problemlösen in Institutionen in Krisensituationen zu illustrieren. Für die Arbeitsfähigkeit und Kreativität einer psychoanalytischen Forschungsinstitution ist es besonders wichtig, dass innere und institutionelle Räume existieren, die eine Wahrnehmung, Entfaltung und Reflexion emotionaler Prozesse ermöglichen. Solche Räume werden einerseits durch die beteiligten Personen und ihre Bereitschaft zum kritischen Reflektieren geschaffen, sind aber andererseits abhängig von klaren, transparenten, demokratischen, institutionellen Strukturen und Regeln. Emotionen sind synthetisierend evaluierende, »embodied« Reaktionen des Organismus, die ihn aufgrund (meist unbewusster) Kognitionen physiologisch in die Lage versetzen, in einer komplexen Situation rasch und intuitiv zu reagieren. Gefühle haben auch in Institutionen eine zentrale Funktion: Ohne sie ist die Wahrnehmung von komplexen latenten Vorgängen und den bedrohlichen regressiven Gruppenprozessen, der durch ubiquitäre Gruppenfantasien (wie die der Abhängigkeit, der KampfFlucht und des Paares) ausgelöst wird, nicht möglich. Die präzise Wahrnehmung ist Voraussetzung für ein verstehendes Reflektieren, das die Arbeitsfähigkeit in Institutionen, ihre Kreativität und Produktivität – und damit ihr Überleben – sichert. Sie ist aber auch Voraussetzung, um zwischen einem verführenden, aber unklugen politischen Aktivismus und einem gemeinsamen Versuch, die politischen Dimensionen institutioneller Krisen differenziert zu verstehen, unterscheiden zu können, eine wichtige Basis für ein adäquates Engagement von Angehörigen einer staatlich mitfinanzierten Institution in der Öffentlichkeit.

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Zum Stellenwert wirklichkeitsgetreuer Wahrnehmungen von Emotionen im analytischen Prozess

In den zurückliegenden Jahren hat sich eine umfangreiche Literatur entwickelt, wie mit der Pluralität psychoanalytischer Theorien und Konzepte umgegangen werden kann, um einerseits den Reichtum psychoanalytischer Vorstellungen und Metaphern nicht vorschnell einer empirischen Engführung zu opfern, andererseits aber auch nicht im psychoanalytischen Babel verloren zu gehen (z. B. Bohleber, 2007; Jimnez, 2009; Küchenhoff, 2010; Leuzinger-Bohleber, Dreher u. Canestri, 2003). Zwar ist das vorliegende Problem anderen Wissenschaften vor allem hinsichtlich der Anwendungsorientierung nicht unbekannt, aber die psychoanalytische Praxis – und auf dieser basiert in der Gegenwart zunehmend mehr ihre Wissensgenerierung – ist wegen der Thematisierung und Identifizierung von Konstrukten unbewusster Prozesse in dyadischen Erkenntnisvorgängen im besonderen Maße darauf angewiesen, intersubjektiv zugängliche Überlegungen und Hypothesen zu generieren. Deshalb ist es im Sinne einer argumentationszugänglichen Kasuistik (Körner, 2003) unerlässlich, implizite wie explizite Minitheorien und Konzepte dem Fachkollegen, aber auch dem interessierten Laien verständlich zu machen. Derartige Theoriebestandteile können – zumindest teilweise – auch mit außeranalytischen Methoden, wie beispielsweise dem Experiment, und zusätzlich auf interdisziplinäre Weise überprüft werden (z. B. Leuzinger-Bohleber, 2010; Mertens, 2010). Anhand eines zentralen Bestandteils des psychoanalytischen Prozesses, der Wahrnehmung von Emotionen, möchte ich auf-

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zeigen, wie Konzepte und Theorien das praktische Vorgehen eines Analytikers – oftmals nahezu unmerklich – bestimmen.

Wahrnehmung von Gefühlen: das A und O der psychoanalytischen Praxis Trotz der Pluralität der Richtungen in der gegenwärtigen Psychoanalyse gibt es keinen Dissens darüber, dass die Wahrnehmung von Gefühlen zum A und O der psychoanalytischen Praxis gehört. Denn ohne Gefühle gibt es kein Gespür für unbewusste Prozesse im Patienten, keine stellvertretende Introspektion in seine Erfahrungen, keine Einfühlung in die eigenen Körpersensationen, Bilder und Gedanken, kein Erfassen der Gegenübertragung sowie der verschiedenen Formen des Widerstandes. Trotz dieser weitgehenden Übereinstimmung existiert seit Freuds ersten Überlegungen dazu jedoch eine erstaunliche Vielfalt an unterschiedlichen Auffassungen, wie Emotionen und Gefühle zu begreifen sind, wie sich dieses Verständnis auf unsere Interventionen und den Umgang mit unseren Patienten auswirkt und diesen auf eine ganz bestimmte Weise begrenzt oder erweitert. Eng mit dem Thema Emotion zusammenhängend ist die psychoanalytische Konzeptualisierung der Wahrnehmung. Im Folgenden kann ich nur andeuten, wie sich Theorie und Praxis im Umgang mit Emotionen und Gefühlen seit Freud verändert haben (Spezzano, 1993; Jones, 1995; Döll-Hentschker, 2008). Freud war sich von Beginn seiner Karriere an bewusst, welchen zentralen Stellenwert die Aktivierung von Gefühlen hat. Von den »Studien über Hysterie«: »Affektloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos; der psychische Prozess, der ursprünglich abgelaufen war, muß so lebhaft als möglich wiederholt, in statum nascendi gebracht und dann ausgesprochen werden« (Freud, 1895d, S. 85), bis hin zu einem bereits zeitgemäßen Verständnis von Affekten als Signal- und kommunikative Funktion in »Hemmung, Symptom und Angst« (1926d) blieben für ihn Emotionen der Dreh- und Angelpunkt des analytischen Prozesses. Ich-Psychologen wie David Rapaport (1953) stellten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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ausgedehnte metapsychologische Betrachtungen über Affekte an. Edith Jacobson (1964) arbeitete die affektregulierende Funktion des Über-Ich heraus. Ab den 1960er-Jahren erfolgte in der Emotionspsychologie eine konzeptuelle Revolution (Tomkins, 1962, 1963; Izard, 1977; Ekman u. Friesen, 1978), die dazu führte, Basisaffekte als gehirnlich vorverdrahtete, von Geburt an im mimischen Ausdruck sich manifestierende Konfigurationen mit psychophysiologischen, protokognitiven sowie motorischen Komponenten zu betrachten. Körperliche Bedürfnisse und Triebimpulse sind nur dann motivierend, wenn sie von Affekten amplifiziert und kontextualisiert werden. Gemäß Tomkins streben Menschen nach einer Maximierung von Gelegenheiten, positive Emotionen, wie Freude, Überraschung und Interesse, zu erfahren und entsprechend unlustvolle Affekte, wie Furcht, Trauer, Ekel, Wut und Verachtung, zu minimieren. In den USA griffen Otto Kernberg (z. B. 1982, 2001), in Deutschland Rainer Krause (z. B. 1983, 2002) diese emotionspsychologischen Konzepte auf und arbeiteten eine Revision der klassischen Metapsychologie aus. Denn die von Freud einige Jahre lang postulierte ausschließliche Abfuhrtendenz der Affekte als Triebrepräsentanzen hatte ihre motivationale und vor allem im ersten Lebensjahr eminent kommunikative Funktion tendenziell übersehen lassen. Affekte haben aber bereits für das kleine Kind einen zentralen Stellenwert für zwischenmenschliche Beziehungen. Anfänglich funktionieren Affektzustände als biosoziale Signale, um entsprechende Verhaltensweisen bei den Bezugspersonen des Kindes auszulösen. Personen, mit denen eine befriedigende Affektregulierung möglich ist, werden libidinös herbeigesehnt und begehrt; mit ihnen findet auch eine Bindung statt. Personen, die mit der Affektregulierung interferieren oder direkt negativ affektive Erfahrungen ausgelöst haben, werden abgelehnt und gemieden. Für Kernberg werden somit die Affekte zu Bausteinen oder Bestandteilen der Triebe und sie nehmen eine Signalfunktion für die Aktivierung von Trieben an. Im Verlauf dieser metapsychologischen Revision wandten sich Psychoanalytiker auch zunehmend mehr den Befunden der Kleinkindforscher zu, wie zum Beispiel Louis Sander, Daniel © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Stern, Ed Tronick, Robert Emde, Beatrice Beebe: »Affektabstimmung«, »social referencing«, »dyadisch erweitertes Bewusstsein« wurden zu wichtigen Konzepten, die nach und nach auch auf die therapeutische Interaktion übertragen wurden. Emotionen in Form von Vitalitäts- und Basisaffekten gehören zur menschlichen Grundausstattung, mit denen wir uns bereits als Säuglinge an unsere zwischenmenschliche Umgebung auf nichtbewusste und nichtreflektierte Weise anpassen. In der Hierarchie organismischer homöostatischer Systeme sind sie gleichsam oberhalb von Immunsystemen, Reflexen und organismischen Bedürfnissen positioniert. Jede Emotion vollbringt eine spezifische Aufgabe für die Anpassung an psychosoziale Umwelterfahrungen. Da für ihre sekundäre Bewusstwerdung in Form von Gefühlen eine Symbolisierung erfolgen muss, hat jede Emotion sowie auch jede Kombination von Emotionen ihr spezifisches Schicksal. Denn Symbolisierung und Mentalisierung stellen keinen naturwüchsigen Entwicklungsprozess für ein Kind dar, sondern sind sehr stark von entsprechenden Leistungen der Eltern, somit von ihren eigenen Affektschicksalen, implizit relationalen Erfahrungsmustern, mentalisierenden Kompetenzen sowie unbewussten Fantasien abhängig (Bouchard u. Lecours, 2008; Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2004; Jurist, 2010).

Konzepte zur Wahrnehmung von Emotionen Übertragung und Gegenübertragung, Acting-in, projektive Identifizierung, Rollenempfänglichkeit, Handlungsdialog, Enactment, Selbst- und Fremdregulierung sind in der Gegenwart die bekanntesten psychoanalytischen Konzepte, die die verschiedenen interaktionellen und intersubjektiven Austauschbewegungen in entweder asymmetrischer, reaktiver oder wechselseitiger Interaktion beschreiben. Implizit thematisieren diese Vorgänge Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse. Während nun aber Gedächtnisphänomene seit Freuds grundlegenden Entdeckungen von kindlicher Amnesie, Deckerinnerungen, Nachträglichkeit und neuerdings mit der Verwendung kognitionspsychologischer Nomenklatur wie implizitem und explizitem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Gedächtnis bestens bekannt sind, blieb die Konzeptualisierung der Wahrnehmung – abgesehen von subliminalen Wahrnehmungsexperimenten in den 1960er- und 1970er-Jahren in den USA und später auch am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt – eher ein Stiefkind der psychoanalytischen Theorie und Forschung. Dies ist verwunderlich, da die obigen Phänomene sich samt und sonders als Wahrnehmungsvorgänge verstehen lassen. Denn wenn Psychoanalytiker eine durch Patienten erfolgende Beeigenschaftung ihrer Person als Übertragung bezeichnen, sprechen sie von einem Wahrnehmungsvorgang. Die klassische Erklärung lautete, dass ein Patient seinen Analytiker nicht wirklichkeitsgetreu wahrnimmt, sondern Wahrnehmungseindrücke, die von anderen Personen aus seiner Kindheit stammen, auf ihn mittels unsachgemäßer Erinnerungsprozesse überträgt, ohne sich dieser Verschiebung in der Zeit bewusst zu sein. Komplizierter wurden die Verhältnisse, als die Person des Analytikers nicht mehr nur als ein Übertragungsaufhänger betrachtet wurde, an den sich die Verschiebungen anheften können, sondern als deutlich wurde, dass sich ein Analytiker trotz seiner Bemühungen um Abstinenz und Neutralität nicht nicht verhalten kann. Egal ob er schweigend zuhört, Antworten verweigert, sich in seinen Deutungen um Äquidistanz bemüht, gehen doch von seiner Person unzählige emotionale Cues aus, die von seinem Gegenüber wahrgenommen werden. Jede Deutung hat nicht nur einen Inhaltsaspekt, sondern auch und für manche Patienten vor allem einen Beziehungsaspekt. In diesem Beziehungsaspekt können Psychoanalytiker alle ihre Emotionen unterbringen, um deren Kontrolle sie sich zuvor so sorgfältig bemüht haben. Manchmal wird ihnen zum Beispiel ihr lehrerhafter Ton, ihre bedrohlich klingende Ermahnung, ihre im Übermaß besorgt klingende Stimme als Gefühl selbst bewusst, manchmal aber bleiben diese Phänomene unbewusst. Patienten wiederum reagieren ganz unterschiedlich darauf: Manche versuchen überwiegend den Inhalt zu verstehen und der emotionale Gehalt von Stimme tritt für sie in den Hintergrund, andere reagieren überwiegend oder fast ausschließlich auf die Emotion. Es gibt in jedem Fall ein Kontinuum zwischen Sprechen und Sprechhan© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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deln und enorme Unterschiede, wie Patienten auf den pragmatischen Aspekt der sprachlichen Äußerung reagieren. Wahrnehmungen können auf beiden Seiten entweder mit fokaler Aufmerksamkeit, mit Randständigkeit, mit unterschiedlichen Graden der Bewusstheit, nichtbewusst und subliminal geschehen. Und natürlich transportieren nicht nur Deutungen Emotionen, sondern diese kommen in Mimik, Gestik, Intonation und körperlichen Bewegungen in jedem Augenblick zum Ausdruck (z. B. Benecke, 2002), ja sogar der Geruch spielt supra- und subliminal eine nicht zu unterschätzende Rolle (Pincus, Freeman u. Modell, 2007). Die Wahrnehmung von Szenen geschieht somit auf beiden Seiten der Dyade, und nicht immer hat der Analytiker im bewusstseinsfähigen Verstehen des Szenischen gegenüber seinem Patienten einen Vorsprung. Unabhängig vom Bewusstwerden des Szenischen geschieht aber dennoch eine permanente Registration der emotionalen Beziehungsangebote. Psychoanalytische Richtungen lassen sich neben anderen Kriterien dahingehend unterscheiden, inwieweit sie der Wahrnehmung in der gegenwärtigen Interaktion Priorität einräumen; zwar dürfte es heutzutage nur noch wenige Psychoanalytiker geben, für die Wahrnehmung keine Konstruktion darstellt, aber es gibt doch deutliche Unterschiede, inwieweit den realen Cues, die zum Beispiel auch mit Hilfe einer Videokamera eines außenstehenden Beobachters registriert werden können, überhaupt Beachtung geschenkt wird. Lange Zeit galt die Thematisierung der interaktionellen Cues als Sozialpsychologie, nicht als Psychoanalyse, da diese sich überwiegend nur mit den intrapsychischen Vorgängen im Patienten und im Analytiker in Form seiner Gegenübertragung als ihrem genuinen Gegenstand beschäftigen sollte. Was hat die Wahrnehmung mit Emotionen und Gefühlen zu tun? Sehr viel, denn die Wahrnehmungseindrücke werden entsprechend ihrer emotionalen Valenz registriert, selegiert, abgewehrt, zu bewussten Wahrnehmungen konstruiert. Hat denn die Psychologie diese Zusammenhänge gut erforscht? Erstaunlicherweise wurde von der akademischen Psychologie der Zusammenhang von Wahrnehmung und Emotion lange Zeit schlichtweg außen vor gelassen; Wahrnehmungen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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wurden untersucht, also ob es sich hierbei um isolierte kognitive Prozesse im Reagenzglas handeln würde. Visuelle Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Bewusstsein wurden aus Gründen experimenteller Erforschbarkeit von Emotionen wie von Schmuddelkindern ferngehalten. Kein Wunder, dass auf psychoanalytisch interessierte Psychologen der Umgang damit in Forschungsveröffentlichungen wie eine kontinuierliche Affektisolierung wirkte, die – in Analogie zu einem entsprechend disponierten Patienten – heftige Langeweile auslöste. Diese nahezu artifizielle Wahrnehmungs- und Kodierungsperspektive blieb auch außerhalb der Psychologie nicht unbemerkt. So schrieb beispielsweise der New Yorker Neurowissenschaftler Joseph LeDoux in seinem 1998 erschienenen Buch »Das Netz der Gefühle«, dass die Kognitionswissenschaftler ein eindimensionales Bild des menschlichen Geistes gezeichnet hätten, weil sie die Emotionen total vernachlässigt haben. »Ein Geist ohne Emotionen ist aber überhaupt kein Geist. Es handelt sich um Seelen auf Eis – kalte leblose Geschöpfe, die weder Begierden noch Ängste, weder Kummer noch Leid, noch Freuden kennen« (LeDoux, 1998, S. 28). Es ist kein allzu großes Geheimnis, dass sich kognitive Informationsverarbeitungsvorgänge im Zuge der immer weiteren Verbreitung von Computermodellen und der Computerisierung von Forschung einfacher modellieren und sich universitäre Laufbahnen damit viel leichter sichern ließen, als die komplexen Zusammenhänge von Emotion, Kognition und erfahrenem Gefühl zu erforschen. »Emotionen haben in der Wahrnehmungspsychologie nichts zu suchen«, herrschte ein bekannter Wahrnehmungspsychologe noch Anfang der 1990erJahre in einem Münchner Habilitationskolloquium eine jüngere Kollegin an. Auch wenn die gegenwärtige Kognitionspsychologie diesen jahrzehntelangen Tunnelblick mittlerweile überwunden hat, so haften ihr doch immer noch einige Residuen aus ihrer behavioristischen und kognitiven Vergangenheit an. Dennoch haben sich in letzter Zeit auch in dieser Disziplin erstaunliche Veränderungen ergeben. So nehmen Emotionspsychologen, wie zum Beispiel Scherer (2005), in Übereinstimmung mit Neurowissenschaftlern, wie zum Beispiel Damasio (2003), mittlerweile an, dass der größte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Teil aller emotionalen Prozesse unbewusst / nichtbewusst abläuft und dass nur einige dieser Vorgänge in ihrer Endstrecke als Gefühle – und zumeist auch nur für eine begrenzte Zeit – bewusst werden. Scherer lässt keinen Zweifel daran, dass bei der Verbindung vom sensorischen Thalamus zur Amygdala rudimentäre Abwehrprozesse erfolgen, die teils auf phylogenetisch vorverdrahtete, zum Teil auf ontogenetisch aufgrund von Konditionierungsvorgängen entstandene Stimuli zurückgehen, wie zum Beispiel Furchtreaktionen auf ein ärgerliches mütterliches Gesicht. Dabei werden in der Amygdala mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur Furchtreaktionen prozessiert, sondern auch andere Emotionen (Sander, Grafman u. Zalla, 2003). Wie diese nichtbewussten Verarbeitungsprozesse ablaufen, ist noch weitgehend ungeklärt, auch wenn die experimentelle Evidenz für deren Existenz im letzten Jahrzehnt deutlich zugenommen hat. Es sollte aber im Auge behalten werden, dass die Komponenten der hypostasierten unbewussten Emotionen mit den bewusst erfahrbaren Gefühlen nicht homolog zu sein brauchen und dass auch der ontologische Status von Emotionen – ob nun psychisch, psychoid, neurophysiologisch – weitgehend ungeklärt ist. Wie sieht es damit in der Psychoanalyse aus? Das Erstaunliche war eigentlich auch hier, dass zwar die psychoanalytische Therapie ohne das permanente Umgehen mit Gefühlen und ihren emotionalen / affektiven Grundlagen nicht vorstellbar ist, dass aber die Theoriebildung damit nicht immer Schritt gehalten hat. Aus diesem Grund weist sie bis zum heutigen Tag Lücken und Inkonsistenzen in dieser Hinsicht auf, obwohl sich von Beginn an immer wieder bedeutsame Erkenntnisse ergaben und die Psychoanalyse bei sorgfältigerer Reflexion und Dokumentation ihrer praktischen Ergebnisse zu erstaunlichen Bestätigungen ihrer konzeptuellen Grundlagen kommen könnte. Lange Zeit wirkte allerdings Freuds Überzeugung nach, dass Emotionen nur im Bewusstsein existieren können, unbewusste Emotionen könne es nicht geben. Wenn man für Emotionen Gefühle einsetzt, wäre dieser Auffassung zuzustimmen, denn unbewusste Gefühle kann es in der Tat nicht geben, sofern man unter Gefühl das phänomenologische Erleben versteht, wenn wir introspektiv dem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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nachspüren, was uns in einem bestimmten Moment bewegt. Aber Freud hatte seine Überzeugung triebtheoretisch begründet. Zum Erleben eines Gefühls gehört unweigerlich auch die Wahrnehmung (und natürlich auch die Symbolbildung, auf die aber nicht genauer eingegangen werden kann). Freud war in seinen metapsychologischen Modellen (topisch, strukturell) unentschlossen, ob die sensorische Registration unmittelbar zur bewussten Wahrnehmung führt bzw. mit dieser identisch ist. In seiner 1923 vorgenommenen metapsychologischen Konzeptualisierung (1923b) setzte er die sensorische Registrierung mit bewusster Wahrnehmung gleich. Gleichwohl gibt es in seinem Werk wichtige und aufschlussreiche, wenngleich auch immer nur verstreute Aussagen, die eindeutig für eine unbewusste Reizaufnahme und für eine unbewusste Verarbeitung der aufgenommenen Reize sprechen: So führte Freud zum Beispiel in »Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung« (1912e) für das Erkennen des »verborgenen Unbewussten« beim Patienten aus, dass dieser sich nicht von der bewussten Darstellung und Auswahl von Einfällen beirren lassen oder gar selber eine bewusstseinspsychologische Zensur vornehmen solle, sondern stattdessen: »in eine Formel gefaßt: er soll dem gebenden Unbewußten des Kranken sein eigenes Unbewußtes als empfangendes Organ zuwenden, sich auf den Analysierten einstellen wie der Receiver des Telephons zum Teller eingestellt ist. Wie der Receiver die von Schallwellen angeregten elektrischen Schwankungen der Leitung wieder in Schallwellen verwandelt, so ist das Unbewußte des Arztes befähigt, aus dem ihm mitgeteilten Abkömmlingen des Unbewußten dieses Unbewußte, welches die Einfälle des Kranken determiniert hat, wiederherzustellen« (Freud, 1912e, S. 381). In »Einige Bemerkungen über den Begriff des Unbewußten in der Psychoanalyse« schrieb Freud (1912g): »Das Unbewußte ist eine regelmäßige und unvermeidliche Phase in den Vorgängen, die unsere psychische Tätigkeit begründen; jeder psychische Akt beginnt als unbewußter und kann entweder so bleiben oder sich weiter entwickelnd zum Bewußtsein fortschreiten, je nachdem, ob er auf Widerstand trifft oder nicht. Die Unterscheidung zwischen vorbewußter und unbewußter Tätigkeit ist keine primäre, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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sondern wird erst hergestellt, nachdem die ›Abwehr‹ ins Spiel getreten ist. Erst dann gewinnt der Unterschied zwischen vorbewußten Gedanken, die im Bewußtsein erscheinen und jederzeit dahin zurückkehren können, und unbewußten Gedanken, denen dies versagt bleibt, theoretischen wie praktischen Wert. Eine grobe, aber ziemlich angemessene Analogie dieses supponierten Verhältnisses der bewußten Tätigkeit zur unbewußten bietet das Gebiet der gewöhnlichen Photographie. Das erste Stadium der Photographie ist das Negativ ; jedes photographische Bild muß den ›Negativprozeß‹ durchmachen, und einige dieser Negative, die in der Prüfung gut bestanden haben, werden zu dem ›Positivprozeß‹ zugelassen, der mit dem Bilde endigt« (Freud, 1912g, S. 436). Und in einer bemerkenswerten Analyse der unbewussten transgenerationalen Weitergabe konflikthafter psychischer Prozesse und Inhalte wies er in »Totem und Tabu« (1912 – 13a) darauf hin: »Die Psychoanalyse hat uns nämlich gelehrt, daß jeder Mensch in seiner unbewußten Geistestätigkeit einen Apparat besitzt, der ihm gestattet, die Reaktionen anderer Menschen zu deuten, das heißt, die Entstellungen wieder rückgängig zu machen, welche der andere an dem Ausdruck seiner Gefühlsregungen vorgenommen hat.« Keine Generation sei imstande, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen. Zumal es auch nicht vorstellbar sei, dass seelische Regungen, ohne eine Spur zu hinterlassen, unterdrückt werden könnten. Vielmehr gebe es immer »entstellte Ersatzregungen und aus ihnen folgende Reaktionen« (Freud, 1912 – 13a, S. 191). Gemäß dieser Auffassung verfügt jedes Kind, jeder Mensch über die Fähigkeit, auf die unterdrückten und expressis verbis nicht mitgeteilten Botschaften eines Gegenübers, die für diesen selbst unbewusst bleiben können, zu reagieren, ja sogar die entstellten Ersatzregungen und Reaktionen von Eltern zu entziffern. Diese Fähigkeit ist Teil unserer genetischen Ausstattung und muss nicht eigens, zum Beispiel durch verbale Instruktion, gelernt werden. Natürlich wird damit auch nicht ausgeschlossen, dass sie sich professionell noch verfeinern lässt, wie etwa durch eine von Berufs wegen durchgeführte Lehranalyse. Prinzipiell aber steht sie jedem Menschen zur Verfügung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Diese Auffassung Freuds wird noch deutlicher in seinem programmatischen Aufsatz »Das Unbewußte« (1915e): »Es ist sehr bemerkenswert, daß das Ubw eines Menschen mit Umgehung des Bw auf das Ubw eines anderen reagieren kann. Die Tatsache verdient eingehendere Untersuchung, besonders nach der Richtung, ob sich vorbewußte Tätigkeit dabei ausschließen läßt, ist aber als Beschreibung unbestreitbar« (Freud, 1915e, S. 293). Aus den zitierten Passagen ist zu entnehmen, dass Freud die unbewusste Wahrnehmung auf die Fähigkeit beschränkte, das Unbewusste eines anderen Menschen unmittelbar zu erkennen. Denn er spricht nicht davon, dass auch die sächliche Wahrnehmung unbewusst funktioniert. Diese Fähigkeit ermöglicht es, sich nicht auf die Wahrnehmung des bewussten Verhaltens beschränken zu müssen, sondern zum Beispiel auch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass ein anderer Mensch sich selbst und anderen etwas vormacht, dass also sein Verhalten seine wirklichen Absichten und Gefühle verschleiert, ohne dass dies dem Betreffenden selbst bewusst zu sein braucht, es sei denn, er würde bewusst lügen. Freud sprach somit jedermann die Fähigkeit zu – auch wenn ein Psychoanalytiker über sie kraft Ausbildung und Überwindung blinder Flecke in besonderem Maße verfügen sollte –, dasjenige, was unser Gegenüber aus unbewussten Gründen verschleiert und sich selbst nicht eingesteht, anhand von »Ersatzregungen«, »Abkömmlingen« verschlüsselten Botschaften an ihm wahrzunehmen. Es gehört deshalb zum Selbstverständnis jedes Psychoanalytikers, mit dieser Gabe besonders ausgestattet zu sein. Metaphern, die den Psychoanalytiker als Detektiv charakterisieren (vgl. Haubl u. Mertens, 1996), konstituierten jahrzehntelang einen nicht geringen Teil seiner professionellen Identität. Eine Hermeneutik des Verdachts und die Haltung einer gleichschwebenden Aufmerksamkeit, die nichtsdestotrotz auf Abkömmlinge unbewusster Fantasien, somit auf gefühlsmäßig stark aufgeladene Bruchstücke von Narrativen fokussierte, begründeten psychoanalytische Kompetenz. Die psychoanalytische Beobachtung konzentrierte sich auf das zwischen den © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Zeilen Gesagte, auf das Nichtgesagte, auf die Lücken und Widersprüche in der Rede des Patienten. Dieser, so war die Annahme, sei introspektiv ganz mit dem Erzählen beschäftigt, auch wenn hin und wieder Vermutungen über das, was sein Analytiker hören wolle oder auf keinen Fall hören solle, seine Konzentration unterbrachen. Gleichwohl – so lautete die Annahme – übertrage ein Patient fortwährend seine innere Welt auf seinen Analytiker. Die Wahrnehmung der Person des Analytikers ist seitens des Patienten somit durch seine Übertragung, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, verzerrt. Allerdings unterschied Freud einerseits die Wahrnehmung, die »unveränderte Neuauflagen«, andererseits die Wahrnehmung, die »Neubearbeitungen« darstellt (Freud, 1905e, S. 279 f.). Bei letzterer, die bereits eine Sublimierung erfahren hat und auch bewusst werden kann, werden bestimmte Attribute des Analytikers, die bewusst und durchaus korrekt wahrgenommen werden, zum Aufhänger für eine Übertragungsfantasie. Aber erst bei der Erinnerung der gespeicherten Vorstellungen geschehe die Übertragung von den damaligen auf die heutigen Eindrücke. Da sich Menschen mit neurotischen Erkrankungen durch ein hohes Maß an Übertragungen auszeichnen, sind ihre Wahrnehmungen von ihrem Analytiker zumeist verzerrt. Ferenczi (1933) stellte die These auf, dass ein Patient oftmals ein sehr genaues Gespür für die Wünsche, Absichten, Stimmungen und Abneigungen seines Analytikers habe, selbst dann, wenn die Gefühle bzw. Emotionen für ihn total unbewusst bleiben. Aus Angst dürfen diese unbewussten Wahrnehmungen aber nicht bewusst werden; stattdessen würden sie dem Analytiker in einer kaschierten Form mitgeteilt. Alice und Michael Balint (1939) waren davon überzeugt, dass es eine »fast paranoid anmutende Fähigkeit« bei Patienten gibt, aus kleinsten Details des Verhaltens ihres Analytikers »weitgehende Folgerungen zu ziehen« (1939, S. 225). Wie ihr Lehrer Ferenczi glaubten auch sie, dass Patienten wie bereits schon Kinder eine Überempfindlichkeit gegenüber Verhaltensweisen entwickeln, die sie unbewusst als »Hypokrisie« bei ihren Therapeuten und bei ihren Eltern wahrnehmen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Margaret Little sprach von einer Sensibilität »für jede Art der Unaufrichtigkeit des Analytikers« (1951/dt. 1998, S. 172). Robert Langs (z. B. 1973, 1981) war – neben Harold Searles (1958, 1972) – der erste Autor, der systematisch und ausführlich die unbewusste Wahrnehmung in der analytischen Situation beschrieben hat. Patienten nehmen seiner Auffassung nach unbewusst nahezu wirklichkeitsgetreu Verhaltensweisen und Gefühlsausdrücke an ihrem Analytiker wahr, vermengen diese dann aber mit unbewussten Erinnerungen und Fantasien sowie mit Abwehrvorgängen. Langs warf der herkömmlichen Psychoanalyse vor, dass sie den Einfluss der validen Wahrnehmung des Patienten auf die Entstehung der emotionalen Probleme und Störungen ausklammere. Seine zugespitzten Thesen, die mit einem prophetischen Gestus vorgetragen wurden, fielen aber innerhalb der psychoanalytischen Community in Ungnade. Aber lag er mit seinen Auffassungen über die unbewusste Wahrnehmungsfähigkeit tatsächlich völlig daneben oder hatten er und seine Vorgänger wie Ferenczi, Balint und Searles nicht etwas Entscheidendes angesprochen?

Primäre und sekundäre Wahrnehmung Nach heutiger Auffassung können äußere Objekte und Menschen zwar durchaus wirklichkeitsgetreu registriert werden, aber bevor diese nichtbewusste Registrierung als sekundäre Wahrnehmung bewusst werden kann, wird sie einer nach psychodynamischen Gesichtspunkten funktionierenden Bedeutungsanalyse unterzogen. Jeder sekundären Wahrnehmung gehen somit eine nicht bewusste aktive Registrierung oder primäre Wahrnehmung und eine unbewusste Bedeutungsverarbeitung voraus. Mit anderen Worten: Das, was als sekundäre Wahrnehmung bewusst wird, ist das Ergebnis einer subjektiven Konstruktion und Selektion, die auf der primären Wahrnehmung bzw. der nichtbewussten sensorischen Registrierung beruht. Die sekundäre Wahrnehmung ist in vielfacher Hinsicht durch Konstruktions- und Abwehrprozesse hochgradig idiosynkratisch organisiert; emotionale und sprachliche Vorgänge spielen dabei eine zentrale Rolle. Ab© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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wehrvorgänge bestehen nicht nur aus persönlichen Verdrängungen oder Verleugnungen, sondern benützen auch kollektiv geteilte Überzeugungen, die wie beim religiösen Glauben von klein auf Einstellungen mit magischen Denkmustern prägen können, aber auch kulturelle Regeln über Identitätsmerkmale von Männern und Frauen, politische Ideologien und anderes mehr. Das »gesellschaftliche Unbewusste« bezeichnet den Sperrbezirk, der nur um den Preis der Ausgrenzung von einzelnen Individuen überschritten werden darf (vgl. Erdheim, 1988). Dorpat (1985) hat von einer kognitiven Arretierung gesprochen, die unmittelbar nach der sensorischen Registrierung einsetzt und den Stimulus und die durch ihn generierten Bedeutungen nicht zur bewussten Wahrnehmung zulässt, sondern entweder eine Leerstelle erzeugt oder den Betreffenden zwingt, auf harmlosere Bedeutungsnetze auszuweichen, durchaus vergleichbar mit dem Konzept der Freud’schen Deckerinnerung. Auf empirische Weise konnte dies überzeugend in den Experimenten zur sogenannten Perzeptgenese nachgewiesen werden (Hentschel, Smith, Ehlers u. Draguns, 1993). Es existieren somit zwei Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsprozesse: Einer ist nichtbewusst, arbeitet sehr schnell, ist vor allem auf die emotionale Kommunikation (die wir mit unseren tierischen Vorfahren teilen) fokussiert und ist allerdings nicht sehr präzise, da er zu Verallgemeinerungen und zum Pars-pro-toto-Erleben neigt. Der andere ist bewusst, vergleichsweise sehr langsam, mehr auf kognitive Erkenntnisprozesse spezialisiert und arbeitet überwiegend logisch und rational im Sinne der aristotelischen Logik. Sein großer Nachteil: Aufgrund von vielfältigen Abwehrprozessen braucht er keineswegs wirklichkeitsgetreu zu sein, sondern ist sowohl durch individuelle als auch kollektive Abwehrvorgänge und Ideologien mehr oder weniger eingeschränkt. Durchaus logisch wirkende Argumentationen, ja sogar manche Lehrgebäude können psychoanalytisch und ideologiekritisch betrachtet beeindruckende Intellektualisierungen darstellen. Die Erkenntnisse und Botschaften der nichtbewussten Registrierungen werden uns keineswegs immer bewusst zugänglich; oftmals liegen sie uns lediglich in verschlüsselter Form – wie bei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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spielsweise im Traum – vor (z. B. Bollas, 2007). Einer der Gründe hierfür ist, dass wir die Sprache der Botschaften unserer emotional-kommunikativen Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsprozesse im Verlauf der Entwicklung durch zahlreiche kulturelle und individuelle Abwehrvorgänge teilweise bis zur Nichterkennbarkeit mit logisch diskursiven und abstrakten Erkenntnisvorgängen modifiziert und überformt haben. Angst machende Stimuli und ihre emotionalen Besetzungen werden bereits zum Zeitpunkt oder kurz nach ihrer nichtbewussten Registrierung ausgeblendet bzw. verleugnet oder verworfen, so dass es erst gar nicht zu einer umfassenden Konstruktion des Wahrnehmungseindrucks kommt. Die Verleugnung geschieht somit, bevor der Wahrnehmende ein bewusstseinsfähiges Bild mit den dazu gehörigen gefühlsmäßigen Bedeutungen konstruieren kann. Diese Auffassung ist übrigens durchaus kompatibel mit Freuds Angsttheorie aus dem Jahr 1926. Nur konnte Freud die Schlussfolgerungen aus dieser Theorie nicht mehr konsequent ausführen. Sie wird auch gestützt durch die bekannten Befunde des Neurowissenschaftlers Libet (1985), der aufzeigen konnte, dass die nichtbewusste sensorische Registrierung bereits 500 Millisekunden vor der bewussten Wahrnehmung stattfindet, genügend Zeit für das Inkrafttreten von Abwehr- und Verarbeitungsprozessen.

Konsequenzen für die psychoanalytische Praxis Psychoanalytiker unterscheiden sich in ihren Haltungen und Methoden, inwieweit sie in ihrem Umgang mit ihren Patienten berücksichtigen, dass in deren Erzählungen durchaus primäre Wahrnehmungen der Person des Analytikers, seiner impliziten emotionalen Mitteilungen und Beziehungsangebote in mehr oder weniger abgewehrter und indirekter Form in die Konstruktion der Einfälle und Narrative einfließen. Am eindeutigsten wird dies in der nordamerikanischen Ich-Psychologie, in der jegliche Übertragungsfantasie ausschließlich eine Erinnerungstäuschung darstellte. Greenson (1967 / 1973) hatte dagegen bereits die Konzepte der übertragungsfreien und der realen Be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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ziehung ins Feld geführt. Klassische Freudianer erblicken diesen Einfluss nur in ihnen selbst bewusst zugänglichen Merkmalen (der Bart Freuds erinnerte Dora an den von Herrn K., vgl. Freud, 1905e), Kleinianer, die auf der einen Seite sehr sorgfältig die Gesamtsituation berücksichtigen, minimieren dennoch die Rolle der im Hier und Jetzt stattfindenden interaktionellen Cues aufgrund des angenommenen Übergewichts von Fantasien, die in den Analytiker projiziert werden; affektpsychologisch versierte Psychoanalytiker, wie beispielsweise Krause, belegen zwar empirisch mit höchster Präzision die eminent wichtige Rolle der Affektansteckung und -angleichung in Dyaden, thematisieren aber bislang nicht, ob und wie diese Affektansteckung in den sprachlichen Produktionen wieder auftaucht; Kleinkindforscher (Boston Change Process Study Group, 2007) gehen davon aus, dass die nichtbewussten Wahrnehmungsprozesse gleichsam die »tiefere Schicht« der Erfahrung verkörpern, während sprachliche Vorgänge sekundäre Deskriptoren darstellen, und beschäftigen sich aus diesem Grund ebenfalls (noch) nicht mit dem sprachlichen Überbau.

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»Ich mentalisiere, also bin ich« Zu den Folgen eines veränderten Affekt- und Emotionsverständnisses für die psychoanalytische Behandlungstechnik

Die berühmt gewordenen Antworten Freuds auf die Frage: Was ist Psychoanalyse? – »ein Gespräch zwischen zwei gleich wachen Personen« (Freud, 1904a, S. 5) und »es geht nichts anderes zwischen ihnen vor, als dass sie miteinander reden« (Freud, 1926e, S. 213) waren rational kognitive Antworten, die heute in Zeiten der Medialisierung von Emotionen und Affekten nur ein müdes Lächeln hervorrufen. Der Begriff Emotion entstammt dem Lateinischen »emovere« (herausbewegen) und wurde von Freud deutlich weniger – 17-mal – in seinen Texten bemüht als der des Affekts – 270-mal –, der mit der Version des »eingeklemmten Affekts« am Beispiel der Konversion Berühmtheit erlangte. Freud war seit seinem Aufsatz zur »Massenpsychologie und Ich-Analyse« durchaus schon bewusst, dass »das merkwürdigste und zugleich wichtigste Phänomen der Massenbildung […] die bei jedem Einzelnen hervorgerufene Steigerung der Affektivität«, die durch »die uns bereits bekannte Gefühlsansteckung« induziert sei, umso stärker werde, je mehr Personen gleichzeitig denselben Affekt bemerkten (Freud, 1921c, S. 91), eine Erkenntnis, die er jedoch kaum für die therapeutische Dyade weiterentwickelt hatte. Es ist ein hinlänglich bekanntes Phänomen, dass es in der Psychoanalyse noch immer keine konsistente Affekt- und Emotionstheorie gibt (Haas, 1997), was nicht verwundert, weil sie auch außerhalb der Psychoanalyse nicht existent ist. Vielmehr gibt es verschiedene Affekttheorien, die aber kaum kompatibel sind. Während Franz (2008, S. 27) von fünf angeborenen Basisaffekten ausgeht (Angst, Wut, Ekel, Freude und Trauer), die unsere Wahrnehmung und unser Verhalten von Anfang an bestimmen, vertritt die Arbeitsgruppe um den kanadischen Neu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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robiologen Panksepp (1998) mindestens sieben evolutionsbiologisch begründete Basisaffekte (seeking, play, care [love], lust [sexual], fear, panic [separation distress], rage), wovon »Play« vermutlich der im deutschen Sprachraum unbekannteste – positive – Basisaffekt sein dürfte, sich aber für die Überlebenszeit von Tieren besonders bedeutend erwiesen hat: Ratten, die viel miteinander spielen, überleben deutlich länger als nichtspielende Ratten (Burgdorf u. Panksepp, 2006; Burgdorf, Kroes, Beinfeld, Panksepp u. Moskal, 2010). Die entwicklungspsychologischen Befunde zur frühkindlichen Entwicklung haben weitgehend die Annahme bestätigt, dass die frühe Affektregulation sowohl für das Selbstverständnis wie für die Selbstentwicklung als auch für die spätere Beziehungsgestaltung von entscheidender Bedeutung ist. Der berühmt gewordenen Formulierung Descartes’ »cogito ergo sum« – Ich denke, also bin ich – wurde von Damasio (2000) entgegengehalten: »Ich fühle, also bin ich«. Emotionen verbinden Menschen, sind »ansteckend« und spielen eine besondere Rolle in der Verknüpfung von Denken und Handeln, von Selbst und Anderem, von Person und Umwelt sowie von Biologie und Kultur. Nach heutigem Stand der Wissenschaften sind beide Positionen zu integrieren, um die Entwicklung einer Selbststruktur zu begründen. Insofern gilt: »Ich denke und fühle, ich mentalisiere, also bin ich«. Da Mentalisieren aber auch ein »metakognitives Phänomen in dem Sinne ist, dass sich das Wort auf die Fähigkeit bezieht, Gedanken und Handlungen zu interpretieren«, können wir uns auf Bedeutungen beziehen, die »wir unseren eigenen und fremden Handlungen zuschreiben«. Mit Mentalisieren wird ein spezifisch »menschliches Merkmal« beschrieben, welches den »Menschen von der unbeseelten Welt unterscheidet […] schließlich ist Mentalisieren keine ein für alle Mal festgelegte Eigenschaft des Geistes, sondern ein Prozess, eine Fähigkeit oder Fertigkeit, die zu einem mehr oder minder hohen Grad vorhanden sein oder aber fehlen kann« (Holmes, 2009, S. 63), die in der mentalisierungsbasierten Therapie (MBT) besondere Berücksichtigung findet. Dennoch ist umstritten, ob nicht auch einige Primaten mentalisieren können, etwa wenn ein Affe, der in der Herde eher einen niederen Rang einnimmt, zur © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Sicherung seiner Beute einen Schrei ausruft, den die anderen als Warnung vor einem wilden Raubtier interpretieren und flüchten, so dass er in Ruhe fressen kann.

Perspektivenwechsel in der Psychoanalyse? In der traditionellen Psychoanalyse, die bis heute als psychodynamische Langzeittherapie primär im ambulanten Setting verstanden wird, dominieren neben dem Konzept des Unbewussten, das Übertragungs- und Gegenübertragungskonzept sowie zwei Techniken, die freie Assoziation und die Deutung. Die wiederholt als methodischer Geniestreich gefeierte Einführung und klassische Auffassung der freien Assoziation »zielte auf die Rekonstruktion abgewehrter und deswegen dynamisch unbewusster (Trieb-)Konflikte als auch auf die Erfassung der Abwehrprozesse selbst« (Hölzer u. Kächele, 2010, S. 123). Der klinisch-theoretische Umgang mit Affekten gehört nicht zur Grundausstattung für Ausbildungskandidaten, auch wenn er im Übertragungs- und Gegenübertragungskonzept versteckt angelegt ist. Es ist ein wenig wahrgenommenes Phänomen, dass gerade technische Veränderungen seit der Behandlung der sogenannten Kriegsneurotiker im Ersten Weltkrieg durch Abraham, Ferenczi und Simmel bis heute von Klinikern ausgehen, die sich der Affektregulation stellen müssen, unter anderem, weil sie sich die Patienten – wie in der ambulanten Praxis – nicht auswählen können. Freud selbst zeigte gegenüber solchen technischen Veränderungen eine eher offene Haltung. Als Ferenczi und Simmel durch ihre Erfahrungen mit der Behandlung von Kriegsneurotikern in den 1920er-Jahren ein aktiveres Vorgehen des Psychoanalytikers vorschlugen, bezeichnete Freud dies zwar als ein »Abweichen von unserer ›klassischen Technik‹«. Damit seien, so Freud, zwar »mancherlei Gefahren verbunden, aber« es sei »ja nicht gesagt, dass man sie nicht vermeiden kann. Insofern es sich hier um Fragen der Technik handelt, finde ich den Versuch der beiden Autoren, ob man es nicht zu praktischen Zwecken anders machen kann, durchaus berechtigt. Es wird sich ja zeigen, was etwa dabei herauskommt« (Abraham u. Freud, 1980, S. 321). Freud war auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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klar, dass »die verschiedenen Krankheitsformen, die wir behandeln, nicht durch die nämliche Technik erledigt werden können« (Freud, 1919a, S. 191), und plädierte damit für störungsspezifische Ansätze. Diese fanden in Deutschland jedoch wenig Begeisterung, trübten die verschiedenen Möglichkeiten einer »aktiven« Technik, doch das Bild der »klassischen« Behandlungstechnik, deren entscheidende Merkmale eine passivabwartende Haltung des Psychoanalytikers als Methode zur Gewinnung des »Materials« durch freie Assoziation und ein spezifischer – deutender – Umgang mit dem Material war. Deutung wurde zum Kennzeichen der »tendenzlosen Analyse«, obwohl sie immer wieder auch kritisch gesehen wurde, etwa durch Cremerius (1993), der diese als Fiktion bezeichnete. Inzwischen wissen wir, dass sowohl verbale Interventionen als auch die paraverbale Art und Weise, wie und zu welchem Zeitpunkt eine Deutung seitens des Analytikers formuliert wird, darüber entscheidet, ob sie vom Patienten überhaupt aufgenommen und verarbeitet werden kann. Dies relativiert unter anderem auch die Bedeutung von Einsicht als zentralen Moment therapeutischer Veränderungen des Verhaltens. Das Verständnis der Komplexität der dyadischen Beziehung hat aufgrund des enormen Wissenszuwachses jedoch inzwischen ein solches Ausmaß erreicht, dass Gabbard (2010b, S. 239) überraschend formulierte, dass er nicht wisse, wie psychoanalytische Psychotherapie überhaupt noch funktioniere. Möglicherweise ist durch eine Vielzahl von Problemen eine Epoche angebrochen, in der sämtliche basalen Annahmen der traditionellen Psychoanalyse auf dem Prüfstand stehen. Dies betrifft den Begriff des Unbewussten, der einer ständigen Umarbeitung und Anpassung an die wissenschaftstheoretischen Entwicklungen unterliegt, die sich relational, das heißt intersubjektiv orientiert: »In mittelbarer oder unmittelbarer Nachbarschaft der Psychoanalyse haben sich gemeinsame Grundauffassungen über die Entwicklung des Psychischen unter einem Paradigma der Intersubjektivität herausgebildet« (Altmeyer, 2005, S. 654), die allerdings den theoretischen Grundlagen der Gruppenanalyse näher stehen als der traditionellen Psychoanalyse. So kommen durch den Erkenntniszuwachs aus den Beob© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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achtungswissenschaften verschiedene psychoanalytische Grundpfeiler ins Wanken. Als Gegenbewegung sind fundamentalistische Rückzüge auf eine etablierte, klassische Theorie zu beobachten (Pulver, 2003; Blass u. Carmeli, 2007). Sie argumentieren, dass die Psychoanalyse ein Prozess und theoriegeleitetes Verstehen latenter Bedeutungen und psychischer Wahrheiten (sic!) sei, die die menschliche Psyche bestimmen. Dadurch seien zum Beispiel neurowissenschaftliche Befunde bezüglich dieser Ziele und Anwendungen irrelevant. Heute kann eine schon länger anhaltende präparadigmatische Krise in der, bzw. den Psychoanalysen beobachtet werden, die sich darin ausdrückt, dass unvereinbare Positionen nebeneinander versammelt sind, die voneinander nicht einmal Kenntnis nehmen.

Zur Veränderung der analytischen Haltung durch das Mentalisierungsmodell Während der Fokus in psychodynamischen PsychotherapieAusbildungen bisher vor allem darin bestand, wie die innere Dynamik zu verstehen ist, was dem Patienten zu sagen ist und welche Deutung zu welchem Zeitpunkt angemessen ist, liegt der Fokus unter dem MBT-Aspekt darauf, wie sich Veränderung anregen lässt, wie konkret mit dem Patienten gesprochen und wie gehandelt wird. Die verschiedenen Interventionen können und sollen in kollegialen Rollenspielen – auch in Supervisionen – untersucht und geprüft werden, in welcher Weise sie Mentalisieren in der dyadischen Psychotherapie oder in der Gruppenpsychotherapie fördern oder hemmen. Interventionen nach einem bekannten Modell versprechen Sicherheit, die allerdings im weniger vertrauten Gelände rasch verloren gehen kann. So konnten Sandell et al. (2000) in einer naturalistischen Langzeit-Studie nachweisen, dass Psychoanalytiker, die sich eher mit einer hochfrequenten Analyse identifizierten, schlechter in niederfrequenten Behandlungen abschnitten und umgekehrt. Ein großes Problem liegt darin, dass die analytische Ausbildung noch immer auf die hochfrequente Psychoanalyse © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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fokussiert, die nur für eine kleine Patientenzahl indiziert ist und von zunehmend weniger Menschen angenommen wird. Den störungsspezifischen Modifikationen der klinischen Praxis wird bis heute in den Curricula der Weiterbildungsinstitute viel zu wenig Aufmerksamkeit eingeräumt. Eine Folge der Verleugnung dieser Realität ist unter anderem eine dramatisch sinkende Zahl psychoanalytischer Ausbildungskandidaten. MBT ist unter anderem als Modifikation analytischer Psychotherapie entwickelt worden, weil Patienten mit BorderlineStörung sehr häufig und frühzeitig ihre Psychotherapie abbrachen (Gunderson et al. , 1989). Als Gründe wurden Enttäuschungen über die Behandlung, ein Mangel an sozialer Unterstützung und logistische Schwierigkeiten, Verabredungen einzuhalten, angeführt. Darüber hinaus schien mit dem Störungsbild zusammenzuhängen, dass Patienten am selben Tag um eine Behandlung bitten und sie kurz darauf ebenso engagiert für sich verwerfen konnten. Diese manchmal über Jahre anhaltende Ambivalenz konnte erst durch die Ergebnisse der Bindungsforschung verstanden werden : Das Behandlungsangebot oder die Behandlung selbst aktiviert das Bindungssystem, wodurch das Selbsterleben brüchig wird, weil eine sichere Bindung diesen Patienten völlig unvertraut ist. Dadurch verstärken sich in der Regel rigide Abwehrmodi, die mit einer verminderten Mentalisierungsfähigkeit einhergehen. MBT wurde als klinische Anwendung des Mentalisierungsmodells entwickelt, das eine integrative psychodynamische Theorie vertritt. Der Begriff Mentalisierung entstammt der französischen psychosomatischen Schule, die zuerst das Alexithymie-Konzept als Gegenkonzept zum Mentalisieren entwarf (Fain u. David, 1963; Marty, 1991; Lecours u. Bouchard, 1997), nachdem an psychosomatischen Patienten das Fehlen von Gefühlen systematischer beobachtet worden war. Anstelle des Begriffs Mentalisierung bevorzugen wir inzwischen den des Mentalisierens, der deutlicher ausdrückt, dass es sich um eine aktive, prozessuale Fertigkeit handelt. Unter Mentalisieren wird eine Form imaginativer Aktivität verstanden, in der menschliches Verhalten (des Anderen und der eigenen Person) in »Begriffen bewusster psychischer Zustände« – sogenannter »mental states« – bei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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spielsweise in Bedürfnissen, Wünschen, Gefühlen, Ansichten, Zielsetzungen, Absichten und Überzeugungen intentional wahrgenommen und interpretiert wird. Durch Mentalisieren versteht ein Individuum implizit und explizit die Handlungen von sich selbst und anderen als sinnhaft. Der Begriff Mentalisieren enthält zugleich sowohl eine selbstreflexive als auch eine interpersonelle Komponente, womit er ein idealer Begriff für Gruppen, soziale Netzwerke und Organisationen ist. Mentalisieren entwickelt sich prozesshaft dadurch, dass man sich selbst während der Kindheit im Rahmen eines sicheren Bindungskontextes von einem Anderen verstanden gefühlt hat, dies fördert die Entwicklung eines kohärenten Selbst, vermittelt durch die Bildung mentaler Repräsentanzen. Mentalisieren ermöglicht, dass bedeutungsvolle Zusammenhänge und Differenzen zwischen äußerer und innerer Welt erkannt werden, wobei »erkennen« hier nicht kognitiv, sondern im Sinne des prozeduralen Körpergedächtnisses – meist nicht bewusst – gemeint ist. Bei Repräsentanzen handelt es sich jedoch vermutlich nicht so sehr um »Dinge«, die im Gedächtnis gespeichert sind – wobei das Verhältnis zum Gedächtnis noch zu klären ist –, sondern um Verbindungen zwischen psychischen Einheiten (»mental units«) in Form von Ideen, Erinnerungen, Empfindungen und Affekten, welche zusammen »feuern«. Insofern können Repräsentanzen auch als Potenziale für Reaktivierungen angesehen werden, als Muster neuronaler Erregung (»firing«), welche unter bestimmten Bedingungen auftreten, die auf früheren Aktivierungsebenen basieren (Gabbard, 2010a, S. 101). Nur nebenbei sei erwähnt, dass bereits Paul Schilder (1923) mit seinem Körperschema (im engl.: body image!) die Idee von sich stetig verändernden Repräsentanzen in Beziehungen formuliert hatte. Er wies darauf hin, dass die Annahme, dass für das neugeborene Kind lediglich der eigene Körper gegeben sei, eine Illusion sei, und vertrat die Position, dass »ein Körper ohne Welt […] ebenso undenkbar [sei] wie eine Welt ohne Körper. Das Bewusstsein der Körperlichkeit, das dreidimensionale Bild unserer selbst, dass wir in uns tragen, muss ebenso aufgebaut werden wie die Kenntnis von der Außenwelt. Es wird aus den

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taktilen, kinästhetischen und optischen Rohmaterialien immer wieder aufgebaut und konstruiert« (Schilder, 1933, S. 368). Selbst- oder Objekt-Repräsentanzen spielen eine mächtige und sich wiederholende Rolle im Innenleben von Patienten, aber auch von Gesunden, wobei Borderline-Patienten, aber auch Patienten mit Somatisierungsstörungen einen Mangel an Repräsentanzen oder die Dominanz einer verfolgenden Repräsentanz im Sinne eines falschen oder fremden Selbst aufweisen. Um nicht durch eine Deutungs- oder Antworttechnik eine Falsche-SelbstPathologie zu fördern, orientiert sich eine mentalisierungsbasierte Psychotherapie deshalb in erster Linie am »Nicht-Wissen« und einer affektfokussierten Fragetechnik. Darüber hinaus zielt eine Psychotherapie von Patienten, deren Mentalisierungsfähigkeit durch frühe traumatische Erfahrungen beeinträchtigt ist, darauf ab, »den Aufbau dieser Fähigkeit zu unterstützen. Man könnte tatsächlich die gesamte psychotherapeutische Arbeit als eine Aktivität konzeptualisieren, die auf die Wiederherstellung dieser Funktion zielt« (Fonagy u. Target, 2006, S. 378). Dabei werden in Zukunft der Körper und die leiblichaffektive Dimension im Sinne von »mentalizing the body« eine noch zu spezifizierende Rolle spielen, da Affekte letztlich verkörperlichte Emotionen sind, deren Differenzierung der neue Königsweg in der Behandlungstechnik sein könnte. Die Londoner Arbeitsgruppe entwickelte mit MBT eine psychodynamische Behandlung speziell für Borderline-Patienten im Rahmen eines tagesklinischen (Bateman u. Fonagy, 2004, 2008), dann ambulanten Settings (Bateman u. Fonagy, 2009), wobei MBT ebenso in niederfrequenten analytischen Psychotherapien wie in Langzeit-Psychoanalysen eingesetzt werden kann (Schultz-Venrath, 2008a). Dabei werden die Autoren nicht müde zu betonen, dass sie keine neue Therapie erfunden hätten, auch wenn ein wesentlich neuer Aspekt die Zurückhaltung jeder Deutungstechnik ist, solange nicht mentalisiert werden kann. Im Unterschied zur strukturbezogenen Psychotherapie von Rudolf (2006) ist MBT prozessual und nicht strukturell orientiert und wird inzwischen vor allem in Norwegen, in den Niederlanden und in Deutschland in verschiedenen Kliniken und Tageskliniken eingesetzt und verfeinert. Die Weiterbildung kann auf dem Boden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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einer psychodynamischen Psychotherapie-Ausbildung nach fünf Tagen MBT-Theorie und Rollenspiel erworben werden. Die klinische Attraktivität von MBT in Einzel- wie in Gruppentherapien (Bolm, 2007, 2010; Schultz-Venrath, 2008b, 2010) führte inzwischen auch zu ersten Anwendungen bei Patienten mit generalisierten Angststörungen, depressiven und psychosomatischen Erkrankungen, mit chronischen Unterbauchbeschwerden und forensischen Patienten (Bateman u. Fonagy, 2008b; Fischer-Kern et al., 2008; Rudden, Milrod, Aronson u. Target, 2008; Staun, Kessler, Buchheim, Kächele u. Taubner, 2010; Subic-Wrana et al., 2010; Leithner-Dziubas, Bluml, Naderer, Tmej u. Fischer-Kern, 2010). Zentrales Axiom der MBT ist das affektive (und nicht nur kognitive!) Verstehen und Erfassen der zugrunde liegenden Gedanken und Gefühle des Anderen als Ergebnis eines umfassenden entwicklungspsychologischen Beziehungsprozesses im Rahmen eines sicheren Bindungskontextes zwischen primärer Bindungsperson, in der Regel der Mutter und dem Kind. In dem vom ersten Augenblick an bedeutsamen affektiven Kommunikations- und Beziehungssystem kommt der primären Bezugsperson durch die verschiedenen Spiegelungen der Affektzustände des Säuglings (später: des Patienten) von Angesicht zu Angesicht eine entscheidende regulierende Funktion zu. Da ein Säugling nur über eine rudimentäre Fähigkeit zur affektiven Selbstregulation verfügt, etwa durch das Abwenden von übererregenden Stimuli, ermöglicht die feinfühlige und prompte mimische, vokale und verbale Spiegelung seines Affektausdrucks eine allmähliche Differenzierung und Sensibilisierung der eigenen und fremden emotionalen Zustände. Es handelt sich dabei um einen schnell ablaufenden, wechselseitigen Prozess, bei dem die Äußerungen des Kleinkindes innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde durch das Verhalten der Mutter antizipiert werden und vice versa. Grundlage eines solchen Prozesses sind neben der feinfühligen und Fehler korrigierenden Spiegelung vermutlich angeborene Schemata über die zu erwartende Reaktion des Anderen. Die Feinfühligkeit der Eltern scheint jedoch allein nicht ausreichend zu sein, eine sichere Bindung und damit ein denkendes Selbst zu prognostizieren. Transgenerationale Untersuchungen belegen, dass die mentalen Repräsentanzen der Eltern und deren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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inneres Arbeitsmodell von Beziehungen, die Bindungssicherheit des Kindes wesentlich beeinflussen (Fonagy, 2005b, S. 55), was die Arbeitsgruppe um von Klitzing bestätigte: Eine bereits pränatal vorhandene triadisch strukturierte Innenwelt und Kompetenz beider Eltern begünstigen die Fähigkeit des Säuglings zur späteren triadischen Beziehungsgestaltung. Dies widerspricht der These, dass die Mentalisierungsfähigkeit nur als Ergebnis einer gelungenen dyadischen Beziehung verstanden werden kann. Die vorwiegend dyadische Orientierung in der Psychoanalyse hat einen nicht unerheblichen Anteil daran, dass die entwicklungspsychologische Ausschließlichkeit der Mutter-Kind-Dyade zu einem – verhängnisvollen – Dogma in der Psychoanalyse geworden ist. Die Sichtweise, nach der die präödipale Entwicklung durch dyadische Beziehungen geprägt sei »und erst in der ödipalen Entwicklung die Triade eine Rolle zu spielen beginnt«, kann nicht mehr aufrechterhalten werden, auch wenn bei sogenannten »frühen Störungen« zu beobachten ist, dass »Triaden immer wieder in Zwei-plus-eins-Beziehungen zerfallen« und »als Folge früher emotionaler Belastungen und Traumata Oberhand gewinnen« (von Klitzing, 2002, S. 880). Dies ist möglicherweise auf die verhältnismäßig einfache Struktur einer Dyade zurückzuführen, die in Zuständen von hilfloser Abhängigkeit einem uterinen Modus entspricht. Die Relativierung der Dyade wird auch von der Arbeitsgruppe um Fonagy betont: »Da das Selbst nur im Kontext des Anderen existiert, [ist] die Selbstentwicklung gleichbedeutend […] mit dem Sammeln von ›Erfahrungen des Selbst-in-Beziehungen‹« (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2004, S. 48). Die Interaktionen zwischen Säugling und primären Bezugspersonen in diesem frühen Entwicklungsstadium bilden die Basis einer Repräsentanzenbildung psychischen Erlebens (Fonagy, 2005a, S. 36), doch wird die Selbstentwicklung erst über die Verknüpfung von Repräsentanzen etwa zwischen dem sechsten und 18. Lebensmonat eingeleitet. Dies ist auch das Alter, in dem sich Kinder erstmals im Spiegel selbst zu erkennen scheinen. Sie geht mit der zunehmenden Fähigkeit des Kindes einher, seine eigenen psychischen Befindlichkeiten mit denen seiner Bezugsperson im Hinblick auf eine dritte Person oder unbelebte Objekte in Einklang zu bringen. Dies wird zum Beispiel an der Forderung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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des Kindes nach gemeinsamer Aufmerksamkeit erkennbar oder daran, dass Säuglinge etwa ab dem sechsten Monat beginnen, mit ihrer Aufmerksamkeit der Blickrichtung von Erwachsenen zu folgen. Diese Form der gemeinsamen Aufmerksamkeit entspricht einer beabsichtigten oder zielorientierten Kommunikation, die noch dadurch unterstützt wird, dass Kleinkinder schon in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres das Bemühen zeigen, Aspekte fehlgelaufener Kommunikation wieder »zurechtzurücken« (Golinkoff, 1986). Insofern sind Ansätze von Bewusstsein und Handlungsfähigkeit in Bezug auf das Selbst und den Anderen schon sehr früh vorhanden und werden durch den intersubjektiven Prozess der Entwicklung von Repräsentanzen getragen. Eine besondere Rolle spielt die elterliche Fähigkeit, die psychischen Zustände ihres Kindes, wie zum Beispiel Bedürfnisse, Intentionen, Gefühle und Stimmungen, angemessen auszudrücken, insbesondere die Affekte zu markieren, um die Entwicklung eines kohärenten Selbst durch die stetige Bildung mentaler Repräsentanzen beim Säugling zu fördern. Erst diese Spiegelung der primären Bezugsperson (in der Regel die Mutter) ermöglicht dem Säugling ein Gewahrsein für mentale Zustände. Markiertes Spiegeln bedeutet, dass die Mutter nicht das zeigt, was sie selbst fühlt, sondern markiert zum Ausdruck bringt, was sie als den inneren Zustand des Säuglings wahrnimmt. Ist beispielsweise ein Kind beim Spiel gestürzt, tröstet es die Mutter, indem sie sagt: »Oh, tut es / das weh?!« Das Kind erlebt, dass sie seinen Schmerz versteht und ihm »erklärt«. Das Kind wird von der Mutter als Person mit eigenen Gefühlen und Vorstellungen gesehen. Affekt-Markierung wird folglich so verstanden, dass der weinende, verzweifelte oder schmerzgeplagte Säugling in der Reaktion der Mutter »eine Repräsentation seines mentalen Zustands« sucht, »um sie zu internalisieren und als Teil einer primären Strategie der Affektregulierung zu benutzen. Die sichere Bezugsperson beruhigt, indem sie die Spiegelung mit einem Affektausdruck kombiniert, der mit den Gefühlen des Säuglings unvereinbar ist (und somit die Gleichzeitigkeit von Kontakt, Distanz und Affektverarbeitung [Coping] impliziert)« (Fonagy u. Target, 2006, S. 367). Diese Unvereinbarkeit ist eine Voraussetzung dafür, dass die Affektspiegelung als Grundlage für die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Entwicklung eines repräsentationalen Bezugsrahmens dienen kann: Erst wenn die Mutter zu erkennen gibt, dass ihr Ausdruck nicht ihren eigenen Affekt zeigt, also nicht anzeigt, wie sie sich selbst fühlt, kann der Säugling oder das Kleinkind für seinen Affekt durch die Differenz eine Repräsentanz entwickeln. Schon Winnicott hatte dies in seinem berühmten Aufsatz zur »Spiegelfunktion von Mutter und Familie in der kindlichen Entwicklung« hellsichtig erkannt, als er schrieb : »Psychotherapie bedeutet nicht, kluge und geschickte Deutungen zu geben ; im Großen und Ganzen stellt sie einen langfristigen Prozess dar, in welchem dem Patienten zurückgegeben wird, was er selbst einbringt. Psychotherapie hat im weitesten Sinne die Funktion des Gesichts, das widerspiegelt, was sichtbar ist« (1974, S. 134). Die Bedeutsamkeit dieser Spiegelungsphänomene zeigten Ham und Tronick (2006, 2009) in still-face-Experimenten, die das verzweifelte Bemühen der Kleinkinder videografisch dokumentierten, Mütter, die ihre Mimik aus experimentellen Gründen für ein oder zwei Minuten einfroren, wieder zu »lebendigen Müttern« zu machen. Hier können wir eine Vorstellung davon bekommen, was ein Kind mit einer nichtresponsiven, klinisch depressiven, sogenannten »toten« Mutter erlebt, wenn es ihm nicht gelingt, seine Mutter emotional wieder zu mobilisieren. Übertragen auf die dyadische analytische Beziehung bedeutet dies für schwerer strukturell gestörte Patienten, dass die analytische Situation als Deprivation erlebt wird, weshalb sie in der Folge versuchen, ihre Selbst-Struktur an den Therapeuten und dessen – vermutete – Erwartungen, meist in Form einer psychologisierenden Sprache anzupassen. Insofern sollten sich Analytiker und analytische Aus- und Weiterbildungsinstitutionen aufgerufen fühlen, über den Begriff der Neutralität ebenso wie über den der Abstinenz neu nachzudenken. Darüber hinaus wird die Entwicklung der Selbststruktur durch die (konstitutionelle) Anlage und Entwicklung der Spiegelneurone begünstigt, die dem Kleinkind die frühe Fähigkeit zur Imitation erlauben, wie sie in methodisch aufwändigen und Aufsehen erregenden Experimenten an 12 bis 21 Tage alten Babys durch Meltzoff und Moore (1977) erstmals dokumentiert wur© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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den. Man vermutete, dass die Fähigkeit der frühen Imitation entweder auf angeborenen Mechanismen beruhe, wie sie Konrad Lorenz und Niko Tinbergen an Tierversuchen in den 1930erJahren beschrieben hatten, oder auf die Fähigkeit des Säuglings zurückzuführen sei, visuelle und propriozeptiv wahrgenommene Information »zu repräsentieren«. Das Affekterleben des Kindes und seiner Re-Präsentation ist der Keim, aus dem Mentalisieren schließlich erwachsen kann. Voraussetzung dafür ist, dass mindestens eine beständige, sichere Bindungsbeziehung vorhanden ist (Bowlby, 1958, 1960). Eine sichere Bindung führt über Affektrepräsentationen, die Zunahme der Aufmerksamkeit und schließlich über die eintretende Mentalisierungsfähigkeit zur Fähigkeit, das Gegenüber sowohl kognitiv wie affektiv psychologisch richtig zu interpretieren (= interpersonaler Interpretationsmechanismus); es kommt zur Enkodierung »innerer Arbeitsmodelle« (Internal Working Model, IWM) des Selbst, an welchen sich die weiteren Erwartungen und Verhaltensweisen bis zur Aktualisierung oder notwendigen Revision orientieren. Wenn der Säugling seine eigene Psyche oder intentionale Haltung in der Psyche der Bindungsperson findet, findet er sich im Sinne Winnicotts (1974, S. 129) selbst, wobei diese Prozesse lange Zeit »unterhalb der durch das sprachliche Symbol und die Phantasietätigkeit strukturierten Welt liegen« (Scharff, 2010, S. 15). Hier finden sich viele Gemeinsamkeiten mit Bions »Verständnis der mütterlichen Funktion, den für das Baby unerträglichen Affektzustand in sich aufzunehmen, das heißt, ihn mental zu ›containen‹ und in einer Weise auf ihn zu reagieren, die den inneren Zustand des Kindes anerkennt, gleichzeitig aber überwältigende Gefühle zu modulieren vermag« (Fonagy u. Target, 2006, S. 367). Andererseits internalisiert ein Kind, das nicht in der Lage ist, sich selbst als intentionales Wesen gegenüber dem Primärobjekt zu »finden«, den Anderen in sein Selbst, der schließlich als »fremde« oder »verfolgende« Selbst-Repräsentation erlebt wird. Für Psychoanalytiker und Psychotherapeuten liegt deshalb die Quelle seiner Resonanzphänomene, über welche er versucht, seine Patienten und deren Unbewusstes zu verstehen, unvermeidlich in seinem eigenen »spezifisch aktualisierten infantilen Unbewussten« (Scharff, 2010, S. 33). Die Bedeutung einer sicheren, feinfühligen und fürsorglichen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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»Bindung« ist auch neurobiologisch nicht hoch genug einzuschätzen; so konnte die Arbeitsgruppe um Bennett et al. (2002) für Primaten aufzeigen, dass frühe positive Mutter-Kind-Erfahrungen eine genetische Risikokonstellation (s/l-Allel für das Serotonin-Transporter-Gen – manche US-Amerikaner sprechen salopp auch vom »Suizid-Gen«) für spätere Depressionen kompensieren können. Mentalisieren ist ein Teil unseres Selbst, eingebettet in unsere Sprache und unser interpersonelles Verhalten, die oder das sich mentalisierungsfördernd oder -hemmend erweisen kann. Leider sind die paralingualen und paraverbalen Signale, etwa der Ton der Stimme oder der Geruch, im Mentalisierungsmodell noch wenig berücksichtigt und beforscht. Bekannt ist allenfalls, dass beispielsweise Verliebtsein die Mentalisierungsfähigkeit deaktiviert – ein Phänomen, das im Volksmund mit dem Satz »Liebe macht blind« (»love is blind«) ausgedrückt wird. Vermutlich geschieht dies dadurch, dass die Selbst-Objekt-Differenzierung, ähnlich einer mini-psychotischen Episode, labilisiert oder gar aufgehoben ist. Dies gilt vermutlich auch für die Übertragungsliebe, die aus der Perspektive, dass in ihr Mentalisieren vermutlich verringert wird, heute eher kritisch gesehen werden muss. Als weitere Möglichkeit deaktivierter Mentalisierung wird die Überaktivierung des Bindungssystems angesehen. Dies kann alleine dadurch ausgelöst werden, dass ein Therapeut Zeit und Raum zur Verfügung stellt und persönliche Themen anspricht. Dadurch gewinnt der Therapeut oder die Therapeutin an Bedeutung – was therapeutisch ja auch erwünscht ist –, wodurch das bisherige Selbsterleben jedoch so brüchig werden kann, dass nur noch eingeschränkt mentalisiert werden kann. Patienten mit Borderline-Störung haben gelernt, »mit einer mentalen Umwelt [zu] leben, in der Vorstellungen derart angsterregend sind, dass man nicht über sie nachdenken kann, und Gefühle eine solche Intensität annehmen, dass sie nicht empfunden werden können. Langfristig entwickeln sie deshalb eine defensive Vermeidung der Mentalisierung« über sich selbst und andere sowie »eine Intoleranz gegenüber alternativen Perspektiven« (Fonagy et al., 2004, S. 375). Speziell bei Individuen, die aus verschiedenen Gründen primär ohnehin eine niedrige Mentalisierungskapazität

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aufweisen, kann die Erinnerung an eine traumatische Szene zum völligen Zusammenbruch des Mentalisierens führen. Die drei prämentalistischen Mentalisierungsniveaus – teleologischer Modus, Äquivalenz-Modus und Als-Ob-Modus – entsprechen den frühkindlichen Vorstadien des »Mentalisierens« in der individuellen Entwicklung und können sowohl bei Patienten als auch bei Therapeuten in spezifischen Situationen – manchmal eruptionsartig – aktiviert werden. Letztlich handelt es sich um spezifische misslungene Phänomene der Affektregulation. Eine prämentalistische Perspektive scheint sich mit höherer Wahrscheinlichkeit offenbar immer dann durchzusetzen, »wenn die Bausteine des intentionalen Standpunkts, etwa die sekundären Repräsentationen primärer konstitutioneller Selbstzustände, nicht sicher verankert werden konnten« (Fonagy et al., 2004, S. 232). Eine für die psychoanalytische Psychotherapie erwachsener Patienten interessante neue Perspektive stammt aus der Spielforschung, die mit dem spielerischen Ansatz im MBT konform geht. In Anlehnung an die evolutionsbiologische Klassifikation der Affekte durch Panksepp (1998) wird die äußere Welt nicht mehr als eigenständig existierende »Gegebenheit« gesehen, die der Säugling zu entdecken habe. Vielmehr wird das Erleben der äußeren Realität durch die spielerische Nutzung der »Psyche« anderer und damit einer gemeinsam geteilten Subjektivität und Bedeutungserteilung geprägt (Gergely u. Cibra, 2005), was durch die Spielforschung unterstützt wird (Brown u. Vaughan, 2009): Das sogenannte rough-and-tumbling-play (Raufen und Wälzen) im Sinne eines playing without (!) reality hat zwischen Kindern sowie zwischen Kindern und Erwachsenen größte Bedeutung für die neuronale Entwicklung und für die Entwicklung sozialer Bewusstheit, Kooperation, Fairness und Altruismus. So entscheidet die Häufigkeit und Intensität von Spiel in der Tierwelt über eine niedrigere Mortalität sowie über die Größenentwicklung des Gehirns in der jeweiligen Spezies. Die Fähigkeit, Dinge in mehreren Perspektiven zugleich (!) wahrzunehmen, bildet sich erst heraus, wenn Kinder im Spiel die »Als-Ob-Qualität« begreifen (Köhler, 2004). Dabei entsteht auch ein Bewusstsein der doppelten Bedeutung: »Sie wissen dann, dass sie nur einen Stock in der Hand halten, aber er dient ihnen als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Gewehr. Dieses ›Zugleich‹ widerspricht dem Satz der Identität der klassischen Logik; hier kann nur gelten: A ist A. Aber Kinder lernen schon, dass gilt: ›A ist A‹ und sogleich ›A ist nicht A‹. Aus dieser Fähigkeit des ›Zugleich‹ entsteht dann die andere [Fähigkeit], in der Sprache auch Metaphern zu verstehen« (Buchholz u. Gödde, 2005, S. 14). Ein Bewusstsein der doppelten Bedeutung, wenn sie als Metapher verstanden werden soll, spielt auch für den Humor eine besondere Rolle (playing with reality!), der wegen des Perspektivenwechsels und des meist damit verbundenen positiven Affekts für das Mentalisieren von größter Bedeutung ist. Darüber hinaus fördert Spielen die dialektische Beziehung zwischen dem, was external, und dem, was internal ist, und hilft so beim Entdecken der eigenen Psyche des Kindes und bei der Differenzierung struktureller Grenzen. Über das Spielerische in Psychotherapien könnte auch relativiert werden, dass selbst in sicher gebundenen Dyaden nicht alles pausenlos »richtig« gemacht wird oder richtig gemacht werden muss. So vertraut ein Kind mit sicherer Bindung fest darauf, trotz der Fehlabstimmungen verstanden zu werden, insbesondere dadurch, dass sich Situationen korrigieren lassen, wenn es sich missverstanden fühlt. Möglicherweise bestimmt das Durcharbeiten der Fehlabstimmungen einen wesentlichen Aspekt der Entwicklung einer sicheren Bindung in Psychotherapien.

Der Einfluss des Gedächtnisses auf die therapeutische Haltung Auf dem Boden stabiler sekundärer Repräsentanzen geht die Mentalisierungsfähigkeit auch mit der Entwicklung eines komplexen neuronalen und psychosozialen Gedächtnissystems einher (Köhler, 1998). Diese Entwicklung reicht vom anfänglich impliziten und prozeduralen Gedächtnis mit zunehmender Aufhebung der kindlichen Amnesie bis hin zum späteren autobiografischen Gedächtnis, welches im Alter von vier bis fünf Jahren zu erwarten ist. Die Entwicklung des szenischen autobiografischen Gedächtnisses ist eine wichtige Grundlage für die Fähigkeit zu mentalisieren (Nelson, 2006). Dabei gilt es zu be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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rücksichtigen, dass das implizite Gedächtnis in den ersten Lebensjahren – primär über die Amygdala – eine mentale Struktur enkodiert, die auch ohne die Erfahrung des Erinnerns aktiviert und reaktiviert wird. Die Amygdala, die eine komplexe inputund output-Kernstruktur in sich aufweist (LeDoux, 2007), vergisst sozusagen nie. Da Säuglinge und Kleinkinder nicht über die Erfahrung des Erinnerns verfügen, ist ihr Zeitgefühl – wenn überhaupt vorhanden – wesentlich fluider : ein Phänomen, welches man im pathologischen Sinne als Zusammenbruch der Zeitstruktur bei posttraumatischen Belastungs- und Persönlichkeitsstörungen beobachten kann: Patienten erzählen ihre jahrelang zurückliegende Geschichte häufig auf eine Art und Weise, als ob das Trauma gerade jetzt oder erst vor kurzem passiert sei. »Bei der Erinnerung, die in der Nachträglichkeit wiederkehrt, handelt es sich im Wesentlichen nicht um die Reaktivierung einer spezifischen Erfahrung; reaktiviert wird vielmehr ein Interaktionstypus, der für die Erwartungen, die das Individuum hinsichtlich seiner Erfahrung des Zusammenseins mit dem Objekt entwickelt, prägend war« (Fonagy u. Target, 2006, S. 165). Neurobiologisch ist davon auszugehen, dass jede Aktivierung und Reaktivierung einer Gedächtnisspur zugleich eine Neueinschreibung ist, die die Ersterfahrung überformt und überschreibt, womit das Konzept der Nachträglichkeit auch eine neurobiologische Dimension enthält. Mit diesem konstruktivistischen Gedächtniskonzept und dem Konzept des impliziten Gedächtnisses wird die unmittelbare Bindung des Gedächtnisses an das Bewusstsein aufgehoben: Gedächtnis erscheint nicht mehr als »verdinglichter Apparat«, sondern vielmehr als Prozess des Erinnerns, der durch das Erinnern auf das Gedächtnis zurückwirkt. Damit wird auch die Vorstellung vom Gedächtnis als einen Ort verborgenen Wissens über die Vergangenheit, das unabhängig von einer System-Umwelt-Interaktion gespeichert und verfügbar sei, radikal in Frage gestellt. Im Unterschied zum deklarativen oder expliziten Gedächtnis, welches meist mit dem Wort Gedächtnis gemeint ist (Gedächtnis im Sinne der inneren Erfahrung des Sich-Erinnerns), ist das prozedurale Wissen des impliziten Gedächtnisses nur durch »Performanz zugänglich, das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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heißt: Es gibt seine Existenz nur zu erkennen, wenn das Individuum eben jene Aktivität ausführt, in die das Wissen eingebettet ist« (Fonagy u. Target, 2006, S. 353). Aus dieser Perspektive gewinnen nun Körper- und Kunsttherapeuten eine besondere therapeutische Rolle, da sie durch ihre präverbale Orientierung vielleicht sogar besser als analytische Therapeuten geeignet sind, frühe Mentalisierungsprozesse zu induzieren. Dennoch ist der prozedurale Modus des Umgangs auch in der therapeutischen Beziehung zwischen Patient und Analytiker stets gegenwärtig und unterlegt den explizit-deklarativen Modus des Benennens und Erinnerns. Der »gestisch-sinnlich-leibliche Modus ist sogleich das Medium, in dem sich bevorzugt all das aktualisiert«, was vorsprachlich ist und »aus der bewussten Kommunikation ausgeschlossen ist« (Scharff, 2010, S. 14). Die Psychoanalyse hat in verschiedenen Modellen versucht, für diese vorsprachlichen sensomotorischen Inszenierungen des Leibgedächtnisses durch das Konzept des »Handlungsdialogs« (Klüwer), der Role-Responsiveness (Sandler), des Enactments (Jacobs) oder der Präsenz des Ungedacht-Bekannten (Bollas) einen theoretischen Rahmen zu bieten. Im Mentalisierungsmodell sind durch die affektfokussierte Fragetechnik erste Entwürfe enthalten, den prozeduralen Modus zu fördern, um nicht durch die Wahl einer »höheren« – sprich explizitdeklarativ deutenden Sprach-Ebene am Patienten zu weit vorbeizugehen und möglicherweise Schaden anzurichten. Trotz dieser eindrucksvollen Vorarbeiten müssen die Verbindungen zwischen Körper- oder Leibgedächtnis, zwischen Metaphernsprache und prämentalistischen Modi bis hin zum Mentalisieren noch genauer erarbeitet werden. Für zukünftig psychodynamisch orientierte Psychotherapien ist der prozedural-orientierte Erinnerungsansatz – und nicht so sehr die Orientierung auf den Inhalt des Gesprochenen –, etwa durch Erfassen von Betonungen, Sprechpausen, Intonation und anderen sprachlichen Merkmalen, welche in einer einzigen verbalen Botschaft kodiert und Ausdruck eines prozedural gespeicherten Wissens sein können, von größter Bedeutung. Die Verfasstheit des implizit-prozeduralen Gedächtnisses entscheidet über Schwankungen im Selbstwertgefühl, über Impulsivität und fehlende Emotionsregulation mit der Folge von Beziehungsproblemen und Identitätsdiffusion. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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So fühlen sich Patienten in weniger strukturierten Situationen, beispielsweise im analytischen Setting durch das Nicht-Antworten des Gegenübers, rasch überfordert oder frustriert, durch Deutungen verwirrt und persönlich angegriffen. Nicht selten finden sich dann eine Regression in Richtung auf reale Abhängigkeit, eine Ratlosigkeit bei der Suche nach Bewältigungsstrategien sowie ein destruktives Agieren, das durch Deutungen nicht nur nicht verhindert, sondern nur wenig beeinflusst werden kann, manchmal sogar zur Eskalation führt. Fehlen sichere Repräsentanzen, besteht durch Deutungen die Gefahr, dass eine Falsche-Selbst-Pathologie induziert wird, etwa durch die vage Behauptung eines Therapeuten gegenüber einer Patientin, dass ein Trauma vorliegen müsse, das sicher noch erinnert werde. Obwohl eine solchermaßen erworbene Trauma-Identität vorübergehend durchaus auch eine stabilisierende Wirkung haben kann, suchen solche Patienten mit der Präsentation »Ich habe ein Trauma!« später im Sinne von Klinik- oder Therapeuten-Hopping nacheinander prominente Trauma-Therapeuten auf, weil die frühe Beziehungspathologie nicht mentalisiert werden konnte. Das paradigmatische Bindungsaxiom im MBT lautet: Ohne Sicherheitsgefühl kann nicht mentalisiert werden. Dies entsteht im Patienten aber nur, wenn der Therapeut spezifisch, affektfokussiert, neugierig und authentisch fragt, um den Prozess des Mentalisierens anzuregen, nicht aber durch den Auftrag des Therapeuten an den Patienten, sich einen sicheren Ort vorzustellen. Traumatisierte Patienten können aufgrund fehlender oder verfolgender Repräsentanzen einen solchen Ort überhaupt nicht imaginieren. Ein solcher Auftrag beruhigt allenfalls den Psychotherapeuten, weil er sich in den affektiven Turbulenzen an ein Schema halten kann. Erst ein transparentes Aushandeln, Abstimmen und Vereinbaren therapeutischer Vorgehensweisen dient einer Basis für therapeutische Zusammenarbeit und stärkt das Sicherheitsgefühl der Patienten. Transparenz an Stelle von falsch verstandener Abstinenz seitens des Therapeuten fördert ebenfalls die Entwicklung eines Sicherheitsgefühls, insbesondere wenn paranoide Stimmungen die Szene beherrschen.

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Ausblick Aufgrund der eindrucksvollen Ergebnisse zweier randomisiert kontrollierter Studien (Bateman u. Fonagy, 2008a, 2009) gilt die auf dem Mentalisierungsmodell basierende Psychotherapie (MBT) seitens der American Psychiatric Association (APA) inzwischen als Therapie erster Wahl Affektregulationsstörungen und hat unter diversen Psychotherapieschulen bis hin zur kognitiven Verhaltenstherapie Respekt und Anerkennung ausgelöst. Die psychoanalytische Kritik am Mentalisierungsmodell ist bisher verhalten, nicht zuletzt, weil die Psychoanalyse über das Mentalisierungsmodell erneut in die akademische Debatte gekommen ist und Anschluss an die empirische Forschung sowie an die »evidence-based medicine« gefunden hat. Gelegentlich werden Ängste geäußert, dass durch das Mentalisierungsmodell und die damit verbundene neue und beeindruckende Behandlungstechnik »etwas vom Filigranen der individuellen Annäherung an die Komplexität des Unbewussten bei unseren Patienten in einer psychoanalytischen Beziehung auf der Strecke bleiben könnte« (Leuzinger-Bohleber, 2009, S. 120). Wir glauben, dass es wichtig ist, die »splendid isolation« aufzugeben, in die die Psychoanalyse mit einer Überbetonung der »klassischen Behandlungstechnik« geraten ist. Es kommt darauf an, die konvergenten Tendenzen und interdisziplinär bereichernden Elemente der neurobiologischen und psychoanalytischen Affekt- und Emotionsforschung sowohl für die Entwicklung der Theorie als auch für die Technik der analytischen Einzelund Gruppenpsychotherapien nutzbar zu machen. Weiter wird es in Zukunft wichtig sein, die Gemeinsamkeiten und Differenzen dieser Behandlungstechnik mit einer Reihe von anderen Psychotherapien wie mit dem übertragungsfokussierten Konzept (TFP, Kernberg), der strukturbezogenen Psychotherapie (Rudolf), der psychoanalytisch interaktionellen Methode (Streeck), der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT, Linehan) und der Schemafokussierten Therapie (SFT, Young) zu untersuchen und zu diskutieren. Noch nicht hinreichend gelöst ist das Problem, welches der aktuell eingesetzten psychometrischen Instrumente geeignet ist, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Mentalisieren valide zu erfassen, und ob Mentalisierung als stateoder trait-Eigenschaft gemessen und im Verlauf reliabel untersucht werden kann. Trotz dieser Probleme scheint das Mentalisierungsmodell jedoch augenblicklich besser als alle bisherigen Ansätze geeignet zu sein, Patienten mit Affektregulationsstörungen erfolgreich zu behandeln. Darüber hinaus könnte es mit »Mentalisieren« möglich sein, die widersprüchlichen und äußerst vielfältigen Theorien der Psychoanalyse auf eine neue und gemeinsame Basis zu stellen. Ein Vorteil des Mentalisierungsmodells gegenüber der / den traditionellen Psychoanalyse(n) könnte in der besonderen Integrationsfähigkeit von Forschungsergebnissen aus den Nachbardisziplinen liegen. Bei der Nutzung des Mentalisierungsmodells für die Modifikation der Behandlungstechnik weiterer Störungen stehen wir jedoch erst am Anfang.

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Oswald A. Neuberger

Gefragte Emotionen Die Transformation des Untersuchungsgegenstands im Prozess seiner Erfassung

Bounded emotionality Der in Analogie zum Konzept der bounded rationality geprägte Begriff der bounded emotionality hat in der organisationstheoretischen Literatur Resonanz gefunden; er scheint mir in seiner Zweideutigkeit besonders attraktiv, weil er einerseits auf jene Emotionalität zielt, die in Organisationen vorherrscht und weil er andererseits deutlich macht, dass Emotionalität immer schon organisiert und damit bounded, also beschränkt, kontrolliert, strukturiert ist. Für beschränkte Emotionalität müssten ähnliche Restriktionen gelten, wie sie Herbert A. Simon (1993) für bounded rationality postuliert hat. Er hatte das (Nutzen-)Maximierungsprinzip zu Gunsten des satisficing aufgegeben, weil – ökonomisch gesehen – die Kosten für die Gewinnung, Speicherung, Aufbereitung und Weitergabe jener Informationen, die für eine perfekte Optimierung nötig wären, prohibitiv hoch sind. Es ist eine sinnvolle Strategie, sich mit der erstbesten Lösung zufrieden zu geben, die bestimmte Kriterien erfüllt; dabei können simple Heuristiken helfen, Rationalitätslücken zu überbrücken. Wie könnte eine Parallelisierung für Emotionalität aussehen? Eine vollkommene, reine, unbegrenzte, ungehemmte, ungezügelte, unzensierte Emotionalität wäre eine Horrorvision, sollte sie das Handeln / Entscheiden in Organisationen prägen. Nahezu alles, was die Organisiertheit von Organisationen ausmacht, wäre bedroht: Planbarkeit, Berechenbarkeit, Koordination, Funktionalität, Ordnung usw. Die als Neuentdeckung gefeierte bounded emotionality ist die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Wiederkehr dessen, was Epikur und seine Schüler schon vor 2.300 Jahren als gemäßigte (oder maßvolle) Lust propagiert haben. Schon damals wurde zwischen vernünftigen und unvernünftigen / irrationalen Begierden unterschieden; die kinetische Lust (als augenblicksbestimmte, stets neue, erregendere Möglichkeiten suchende) sollte in eine katastematische (zuständliche, bleibende) Lust überführt werden, wenn schon der erstrebte Zustand der Seelenruhe (Ataraxie) nicht erreicht wird. Wenn man sie am Gegenbild einer unbegrenzten Emotionalität misst, wird bounded emotionality für Organisationen zur attraktiven Alternative. Sie verspricht die Zügelung der Exzesse, den angemessenen Ausdruck, vielleicht sogar die kontrollierte Nutzung des Feuers der Leidenschaft. Als zivilisierte, verfeinerte, kultivierte werden Emotionen einem rationalen Kalkül unterworfen: Was richte ich an? Welchen Preis muss ich jetzt oder später zahlen? Was bringt’s? Welchen Eindruck macht das auf andere? Die gemäßigte Emotionalität ist also einerseits Degeneration und Schwundstufe einer ursprünglich voll entwickelten, entfesselten Emotionalität und andererseits deren rationale Kultivierung oder Raffinierung. Die Zügelung und Bändigung geschieht mittels emotionaler Intelligenz (wie man es am Ende des 20. Jahrhunderts nannte); das Resultat ist intelligente Emotionalität: Die Emotionen wurden im Prozess ihrer Zivilisation zur Vernunft gebracht. Emotionen zeigen sich – wenn sie nicht in künstlicher Isolierung im Labor untersucht werden – immer schon als sozio-kulturell geformt. Den wilden Leidenschaften sind nicht plötzlich in Organisationen von außen Zügel angelegt worden, sie sind als sozial(isiert)e von Anfang an domestiziert, für den Hausgebrauch zugerichtet. Dass Emotionen keine nur individuellen privaten Ereignisse sind, sondern sozial reguliert werden, belegt die Existenz von Gefühlsregeln. Sie kodifizieren, welche Emotionstypen welchen Situationstypen normalerweise entsprechen und welches Verhalten in ihnen sozial erwartet oder gefordert wird (siehe z. B. Fiehler, 1990, S. 70). Gesellschaftliche Konventionen legen fest (oder legen zumindest nahe), mit welcher Bandbreite, Intensität, Reaktionszeit, Dauer, Direktheit, Koppe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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lung etc. Gefühle zu zeigen sind und wie gezeigte Gefühle zu deuten und zu beantworten sind (so etwa Gefühls-, Manifestations-, Korrespondenz- und Kodierungsregeln). Wie alle Regeln haben auch Gefühlsregeln eine Wenn-Komponente (typisierende Definition der Situation) und eine DannKomponente (typisierende Bestimmung der angemessenen Reaktion). Beide Komponenten sind selten exakt und vollständig beschrieben, sondern enthalten Freiheitsgrade der Interpretation und Gestaltung (deswegen ist von Typisierung die Rede). Diese Spielräume sind der Grund für Irritationen und Missverständnisse, aber auch für kreative Lösungen und Entwicklungen. Natürlich können – beispielsweise in Verhaltensleitsätzen – die oben genannten vier Typen von Emotionsregeln weiter konkretisiert werden. Die Entlastung von individuellem Planungs- und Rechtfertigungsaufwand besorgt auch die sogenannte institutionelle Abwehr. Wenn etwa das Personal in Krankenhäusern mit Kot, Urin und Eiter, Schmerzen und Tod, Angst und Zusammenbruch konfrontiert wird, dann ist es natürlich, darauf mit Gefühlen von Ekel, Angst, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Abstumpfung zu reagieren. Diese womöglich lähmenden Emotionen werden durch institutionelle (also: organisierte) Vorkehrungen abgewehrt oder verdrängt, etwa durch weiße Kleidung, rituelle Reinigungsprozeduren, Rotation in der Betreuung, rigide Schemata (Wecken, Essen, Waschen, Bettenbezug …), Objektivierung der Patienten (»der Schlaganfall von Zimmer 432«) usw. Die routinisierten Praktiken zur (scheinbaren) Lösung wiederkehrender Probleme verschieben und verstecken die Herausforderungen. Mit der Wiederkehr des Verdrängten ist zu rechnen, so wie bei den auf Männlichkeit und Gefühlsabwehr trainierten Soldaten nach der Rückkehr aus den Kriegsgebieten die posttraumatischen Belastungsstörungen die Kämpfer außer Gefecht setzen. Die Organisation / Institution übernimmt für das Individuum psychosoziale Funktionen (wie z. B. Angst abwehren, Wut umlenken, Verzweiflung auffangen usw.). Organisation setzt fort, was Emotionen begonnen haben. Emotionen sind archaische, evolutionär frühe und bewährte Problemlösungsbegleiter, Frühwarnsignale, Energetisierer, Blockierer, Motivatoren, Aktivierer, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Handlungsauslöser etc. Viele dieser genannten Problemlösungsfunktionen werden ihnen heutzutage durch Organisation abgenommen. In Organisationen wird ein geradezu paranoider Verdacht gegen Emotionen geschürt, weil sie verdächtigt werden, die mühsam errungene Überlegenheit über ihr anarchisches Treiben als oberflächlichen Firnis zu entlarven. Aus diesem Bedrohungsszenario folgt: Emotionen müssen beherrscht werden, sie sind einzuschränken. Die soziale Erfindung dafür ist Organisiertheit. Sie leistet standardisiert fürs Kollektiv, was Emotionen fürs sozialisierte Individuum leisten; Organisation wird einerseits zum funktionalen Äquivalent für Emotion, andererseits wird sie zur Institution, die Emotionen in Dienst zu nehmen sucht. Voraussetzung dafür ist, dass Emotionen dingfest gemacht werden, um sie gezielt nutzen zu können.

Fragebogenforschung als Transformationsprozess Sprache ist das Mittel der Verständigung über Emotionen; sie ist aber nicht einfach Abbildung, sondern ein komplexer Transformationsprozess. Damit Verstehen und Verständigung möglich sind, muss dem Reden über Emotionen die Erfahrung von Emotionen und deren Benennung (Namensgebung, Etikettierung) vorausgehen – und dies ist ein sozialer Lernprozess, der pragmatisch abläuft. Die Unterscheidung und Benennung von Emotionen ist als Ausdifferenzierung kontextualisierter Interaktionsverläufe zu verstehen: Erlebte oder imaginierte Szenen werden in fortschreitender Differenzierung und Distanzierung aufs Wort und zur Sprache gebracht – und dabei bleibt Vieles, Wesentliches auf der Strecke. Die Worte haften den Dingen, Handlungen und Erlebnissen nicht natur-, sondern kulturgegeben an; sie werden durch Bezugspersonen vermittelt, die keine sprechenden Lexika sind, sondern in Inszenierungen als personae dramatis zugleich Auslöser und Adressaten von Emotionen und damit der Grund mannigfacher Irrungen und Wirrungen. Jedes etymologische Wörterbuch klärt darüber auf, was an © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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kollektiven Erfahrungen und (Be-)Deutungen in unseren abgenutzten Wörtern steckt. Sie bedienen sich unser. In der Ontound Aktualgenese des Sprachgebrauchs wird diese Vieldeutigkeit und proteushafte Wandelbarkeit in den Formungen und Verformungen des alltäglichen Gebrauchs der Sprache aufgegriffen und fortgeführt. Was für alle Ausdrücke gilt, gilt in besonderem Maße für Gefühls-Ausdrücke: Sie sind notorisch unpräzis, polyvalent, interpretationsbedürftig und abhängig vom Kontext sowohl der anderen Wörter wie der konkreten Situation. Das Einmalige und Besondere des Gefühlserlebens muss in Allgemeinbegriffe(n) gefasst werden und dieser harte Zugriff der Sprachpolizei tilgt das Idiosynkratische und Nichtidentische am Erleben und macht es – Preis der Kommunikation – zum vermeintlich Gleichbleibenden. Das gesprochene Wort (das Gespräch) erlaubt mit stimmlichen, gestischen, mimischen und situativen Hinweisen unzählige Modulationen, die dem geschriebenen Wort verwehrt bleiben. Geschriebenes aber ist die Grundlage der Fragebogenforschung, die mit großem Abstand die wissenschaftliche Untersuchung der Emotionen dominiert. In der empirischen Sozialforschung ist das Experiment der elitäre Königsweg, die hochfrequentierte Autobahn für den Massenverkehr aber ist der Fragebogen. Bei der Untersuchung von Emotionen (in Organisationen) mittels Fragebogen sind Instruktion, Fragen und Antworten schriftförmig. Es wird kein Gespräch geführt, sondern eine Abfrage (Prüfung) vorgenommen. Vom Befragten wird Introspektion verlangt: Er muss entweder Erinnerungsarbeit leisten (Wie war es dort und damals?) oder die aktuelle Situation reflektieren (Wie fühlen Sie sich gerade?) oder über allgemeine Tendenzen reflektieren (Wie reagieren Sie normalerweise, wenn …?). Zur Fokussierung können Kontexte durch Ankerbegriffe oder Vignetten simuliert werden. Postalisch zugesandte oder am Bildschirm zu öffnende Schrift-Stücke sollen bearbeitet werden. Die Antwort auf die Vorgaben (Items) erfolgt nicht in freier Rede (Erzählung), sondern meist durch das Ankreuzen vorformulierter Alternativen, die verbale Ausdrücke (für Intensitätsabstufungen, die Veror© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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tung in semantischen Differentialen usw.) sein können oder durch Bilder (z. B. Kunin-Gesichter, Manikins) symbolisiert sind. Der Befragungskontext ist der einer seriösen wissenschaftlichen Studie. Jede Befragte weiß, dass sie eine von vielen Befragten ist, deren persönliche Schicksale nicht interessieren, weil es um allgemeine Einsichten oder gar Gesetzmäßigkeiten geht. Der Zweck der Studie (Hypothesen et al.) wird nicht erläutert oder sogar durch eine Cover-Story verschleiert. Anonymität wird zugesichert. Der Aufwand ist gering, die Angelegenheit ist folgenlos für den Probanden. Es soll nicht darüber räsoniert werden, ob dies der beste, ein richtiger oder ein falscher Zugang ist. Es ist die am häufigsten praktizierte Methode, die sich zudem des wichtigsten kulturellen Mediums – der Sprache – bedient. Die Fragebogen-Methode soll auf ihre Implikationen für die Erforschung des Gegenstands Emotion hin betrachtet werden. Vereinfachend wird im Folgenden von einer Befragung mit hochstrukturierten Fragebogen ausgegangen, die Rating-, Ranking- oder andere Skalen (Zwangswahlen, semantische Differenziale etc.) einsetzen. Das Endprodukt ist ein Artikel, der die Zulassungshürden zur Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift überwunden hat und (deshalb) einen Forschungsprozess lege artis beschreibt. In einer hypothetischen Analyse sollen die wichtigsten Schritte rekonstruiert werden, die zu diesem Endergebnis geführt haben. Um – im doppelten Sinn – akzeptiert zu werden, muss, wer in einer angesehenen Zeitschrift veröffentlichen will, so schreiben, dass er den gängigen Standards gerecht wird, die von den dominierenden Institutionen durchgesetzt werden. Wittgenstein paraphrasierend: Wer nicht schreibt, wie es sich gehört, wird totgeschwiegen. Die Reviewer als Vorkoster der community sorgen dafür, dass den Endverbrauchern kein unverdauliches Zeug serviert wird. Am Forschungsprozess sind drei Gruppen von Akteuren beteiligt: der Stückeschreiber (= Forscher), die Protagonisten (= die Befragten) und das Publikum (= die scientific community der Leser). Sie spielen unterschiedliche Rollen. Die Probanden werden als Datenlieferanten benutzt. Sie wer© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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den anonym befragt, ihre Individualität ist ausgeklammert. Sie können auch nicht in freier Rede über den Untersuchungsgegenstand Emotionen sprechen, sondern werden mit vorformulierten Items konfrontiert, zu denen sie Stellung nehmen müssen. Haben sie das getan, ist ihr Auftritt beendet; die Rolle, die sie zu spielen hatten, war – so Macbeth – »but a walking shadow, a poor player, that struts and frets his hour upon the stage and then is heard no more«. Aus emotionaler Perspektive sind die Mitglieder der scientific community noch ärmer dran. Ihre Gefühle interessieren überhaupt nicht und sie ihrerseits interessieren sich nicht für das, was die Untersuchten erleben oder erlebt haben, sondern mehr für methodische Exaktheit der Studie und falsifizierte Hypothesen. Möglicherweise gibt es dabei – als Randphänomen – Emotionen wie Ärger, Langeweile, Neid, Freude usw. Im Fokus der weiteren Überlegungen stehen die Forscher und Forscherinnen. Sie dominieren das Verfahren. Dennoch soll in der folgenden Skizze des Transformationsprozesses neben der Forscherperspektive immer wieder auch auf die anderen Beteiligten eingegangen werden.

Die Prozessphasen im Überblick Vorphase Vom »Gefühle haben« zum »Worte für Gefühle haben«. Wer über seine Gefühle ausgefragt wird, muss über Gefühle reden können, und wer nach Gefühlen fragt, muss wissen, was er sucht. Jeder Proband, jeder Forscher, jeder Leser hat als Kind gelernt, innere Zustände (samt ihren korrespondierenden mimischen, gestischen, körperlichen Ausdrucksweisen) zu differenzieren und zu benennen. Voraussetzung ist, dass eine enge Beziehung zu einer Person (normalerweise der Mutter) besteht, die dem Kind sagt, wie das heißt, was es (gespiegelt in ihr) erlebt. Das Kind legt so ein Erfahrungsrepertoire an, das es fortwährend kommunikativ prüft und erweitert. Dabei lernt es implizit, dass die Begriffe keine eindeutige und präzise Referenz haben, dass das Erleben konfundiert und kontaminiert ist, weil Wahrnehmungen, Ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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fühle, Gedanken, Absichten etc. oftmals schwer auseinanderzuhalten sind und situative Umstände die Richtigkeit oder Angemessenheit der Benennungen konditionieren.

Befragungssituation Fokussierung von emotionalen Erlebnissen oder Zuständen und ihre Vergegenwärtigung und Versprachlichung. Die Forscherin nutzt den Typus Befragungssituation, der den Probanden aus erzieherischen Frage-Antwort-Spielen, schulischen Prüfungen, Bewerbungen, Erklärungen für Behörden usw. bekannt ist. Von Probanden (zu Prüfenden, zu Beurteilenden) ist nicht zufällig die Rede: Die Angaben der Befragten werden eingehenden Überprüfungen unterzogen. Setting und Instruktion grenzen aus dem Insgesamt einer aufgerufenen komplexen (vergangenen oder gegenwärtigen) Lebenssituation und ihrem Amalgam von Kognitionen, Emotionen, Motivationen, Handlungsplänen etc. allein die Emotionen aus und bieten für die in der Studie fokussierten Gefühle passende sprachliche Etikettierungen an. Vorausgesetzt wird, dass die Probanden bereit sind, über ihr Innenleben oder ihr übliches Verhalten Auskunft zu geben und sich für andere erkennbar zu machen. Die Bekanntgabe ist ein Signal bzw. eine Information an die schon genannten drei Empfänger : an den Probanden selbst, an die Forscher und an Dritte, die unbekannten zukünftigen Leser der Publikation. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Probanden bei der Zuordnung von introspektiven Daten zu vorgegebenen Items Filter zwischenschalten können (display rules; Selbstdarstellungspraktiken; geheuchelte Kooperation, die ein desinteressiertes Soschnell-wie-möglich-Fertigwerden überspielt). Weil Signale anderer Quellen (Mimik, Gestik, Stimme etc.) nicht verfügbar sind, sind Relativierungen oder Qualifizierungen schwierig.

Fixierungen Von Vergegenwärtigung und Versprachlichung emotionaler Erfahrungen zu Ankreuzungen. Der Forscher weiß, wonach er sucht; er legt sich fest durch die Vorgaben, die er macht. Er hat Emotionen versprachlicht; die Probanden müssen aus dem Angebot das Passende aussuchen, das heißt, ihr privates wording in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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einer vorgegebenen Verwortung wiedererkennen. Dem Probanden werden somit freie Formulierungen erspart oder verweigert; es läuft auf das Ankreuzen einer zutreffenden Antwortalternative oder auf eine (ebenfalls auszuwählende) Intensitätseinstufung hinaus. Meist sind Fragen, Antwortalternativen, Distraktoren (!) nicht ad hoc für die aktuelle Untersuchung entwickelt, es werden vielmehr bewährte Skalen verwendet, deren Methodeneigenschaften und Kennwerte bekannt sind. Die Antwortprozedur ist somit stark vereinfacht: Der Befragte kreuzt das Zutreffende an, Item für Item. Das und nur das wird von ihm erwartet. Nach dieser Samenspende in bereitgehaltene Gefäße kann – frei nach Schiller – der Mohr gehen, er hat seine Schuldigkeit getan. Die Künstlichkeit der Befragungssituation zeigt sich auch darin, dass nicht wie in einem normalen Gespräch der Fragende auf die gegebene Antwort reagiert, durch Kommentare, Rückfragen, eigene Beiträge zum Thema usw. Er bittet einzig darum, das Antwortblatt abzugeben oder abzusenden. Das Angekreuzte geht sozusagen ins Leere; emphatisches oder empathisches Eingehen auf die Äußerungen wäre ein verzerrender Kunstfehler. Die Ablösung vom Datenlieferanten wird im folgenden Verarbeitungsprozess fortgesetzt bzw. ist dessen Voraussetzung.

Quantifizierung Von Ankreuzungen zu Zahlen. Vom Forschungsteam werden die Antworten kodiert; den jeweiligen Antwortalternativen wurden vorab Zahlenwerte zugeordnet, die nun für jeden Probanden und jedes Item dokumentiert werden. Zusätzliche Qualifikationen (z. B. Gewichtungen) sind häufig in vorangegangenen Untersuchungen getestet worden.

Verrechnung Von Einzel-Zahlenwerten zur methodengeleiteten Aggregation von Zahlen. Die Rohdaten werden verarbeitet – ein Wort, das den folgenden Vorgang aufschlussreich charakterisiert. Die Zahlenwerte für die einzelnen Items werden komprimiert (z. B. zu Skalen- und Populations-Mittelwerten), korreliert (untereinander und mit quantifizierten anderen Konstrukten, wie z. B. Biodaten, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Erfolgsmaßen etc.). Weitere © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Verarbeitungsstufen sind mit dem Einsatz mehr oder weniger sophistizierter statistischer Methoden verbunden (z. B. Varianz-, Regressions-, Faktorenanalysen, MDS usw.). Die Ergebnisse finden ihre Darstellung in Matrizen, Tabellen, Kennwerten, Grafiken etc.

Interpretation Von Aggregaten und ihrer Darstellung zur Diskussion der Ergebnisse. Das Tableau der quantifizierten und visualisierten Resultate wird rückübersetzt in Worte. Im Abschnitt Diskussion werden die Befunde im Hinblick auf die Untersuchungshypothesen und den Stand der Forschung erörtert. Erwünscht sind auch Selbstkritik und Hinweise auf weiteren Forschungsbedarf. Vom konkreten Untersuchungsmaterial ausgehend wird der Blick ausgeweitet ins Grundsätzliche, Methodische, Theoretische.

Veröffentlichung Rezeption und Interpretation durch Dritte. Leser aus der scientific community ordnen Design, Methoden, Ergebnisse und Interpretationen in ihren eigenen Forschungsrahmen ein und gehen in Kommentaren oder in ihren Veröffentlichungen darauf ein (Replikation, Kritik, Fortführung). Im Weiteren komprimiere ich die geschilderten Prozessphasen in drei Gruppen: – von Emotionen zur Sprache, – von Sprache zu Zahlen und deren Verrechnung, – von den Zahlen-Werken zurück zur Sprache (Discussion).

Von Emotionen zur Sprache Der Fragebogenforschung liegen unter anderem folgende Annahmen zugrunde: Ich, der ich heute dies berichte, bin derselbe, der es damals erlebt / getan hat; was ich berichte, ist dasselbe, was ich damals erlebt / getan habe. Und du, Forscherin, verstehst es © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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so, wie ich es meine. Und alle anderen, mit denen du mich (meine Äußerungen) vergleichst, haben das Gleiche erlebt, wenn sie Gleiches ankreuzen. Schließlich teilen diejenigen, die den Forschungsreport lesen, untereinander und mit Befragten und Forscherinnen das Verständnis der genutzten Emotionsbegriffe. Nur wenn diese Voraus-Setzungen akzeptiert werden, kann empirische Sozialforschung generalisieren und Gesetze finden. Berichtet eine Befragte und analysiert eine Forscherin, dann benutzen sie Sprache. Wer mittels der Sprache Emotionen erfasst, sieht sich einem fundamentalen erkenntnistheoretischen Problem gegenüber : Wie kann man in der Sprache mittels der Sprache über die Sprache hinaus (so Haubl, 1991, Bd. 1, S. 247 und S. 371)? Wir haben es allerdings mit einer Mehrzahl von Sprachen zu tun: mit Alltagssprache, Fachsprache, Zahlensprache, Computersprache, Bildersprache (zu der auch neurowissenschaftliches fMR-Imaging gehört), Körpersprache – vielleicht sogar eine Sprache der Gefühle oder des Herzens? Geht es im Fragebogen also darum, in der Alltagssprache mittels der Zahlensprache über die Sprache hinaus – zu den Gefühlen – zu kommen? Über bounded behavior (nur aus vorgegebenen Items auswählen können) wird in einer bounded relationship, in der illokutionär die Beziehung zwischen Forscher und Proband restriktiv als Prüfungssituation definiert wird (Ich bin Prüfer, allein ich frage! – Du bist Prüfling, du antwortest!), auf bounded emotionality (in Sprache gefasste und geregelte Emotionalität) geschlossen. Fragebogenforschung glaubt an die Realisierung des delphischen Auftrags: »Erkenne dich selbst!« und knüpft daran noch die weitere Forderung: »Bekenne dich selbst!«, damit ich dich erkenne. Über eine Emotion reden ist eigentlich über einer Emotion reden: über ihr stehen, sich in der beherrschenden Position des Souveräns, nicht des ihr unterworfenen Subjektes befinden. Über eine erlebte Emotion reden – das ist außer ihr und sich sein. Ob man nun über die Sprache hinaus – in etwas Höheres? – oder aus dem Gefängnis der Sprache heraus will, man landet in jedem Fall in etwas, das nicht Sprache ist. So wie in der Hypnose mittels der Sprache ein Arm versteift, ein Erinnerungsbild wachgerufen oder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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ein Handlungsimperativ implantiert wird, der sich nach dem Erwachen in ichfremdem (?) Tun manifestiert. Oder : Mittels Sprache zeigt oder erwirbt man Anerkennung oder Erkenntnis (Aha-Erlebnisse, wortlose Einsicht); mittels Sprache kann man lernen, mit sich im Reinen zu sein, statt aus sich heraus / über sich hinaus zu wollen, man kann angeleitet werden – beispielsweise in der Redekur –, in sich zu gehen, zu spüren usw. Im Fragebogen wird eine Kümmerform der Sprache verwandt: kurz, knapp, informativ – siehe die Grice’schen Konversationsmaximen (z. B.: Sei relevant! Sei klar, genauer : 1. Vermeide Unklarheit! 2. Vermeide Mehrdeutigkeit! 3. Fasse dich kurz! 4. Sei methodisch! usw.). Es ist die Sprache des Bekenntnisses und der Prüfung oder des Verhörs: Sprich nur, wenn du gefragt wirst! Antworte auf die Frage. Eben: Fasse dich kurz (vgl. Grice, 1993). Nur selten wird im Fragebogen auch der Kontext versprachlicht, in dem sich eine Emotion zeigt. Er aber entscheidet, welche Emotion sich regt und wie darauf reagiert wird. Genau genommen machen entkontextualisierte Items die Aussagen verschiedener Subjekte unvergleichbar und verbieten die Aggregation über Personen, weil sie an Unterschiedliches denken, wenn sie ungenannte Kontexte dazuerleben, dazuerfinden. Der Fragebogen entszeniert, statt zu inszenieren. Wenn die Restriktionen sprachlicher Er- und Einfassung beklagt werden, unterstellt man ein fantasiertes Paradies prallen Lebens, aus dem zergliedernde, trennende, auflösende und fixierende Sprache herausreißt wie das zur Welt gekommene Neugeborene aus der Geborgenheit des Mutterleibs oder der Verborgenheit in ihm herausgerissen wird? Liegt das Heil in der Regression dorthin? Die in Items vorgefasste und dingfest gemachte, versprachlichte Emotion unterliegt der Verhexung durch die Sprache. Verhexte Emotionen sind verzauberte, in anderes verwandelte. Die versprachlichte Emotion ist keine mehr. Man kann noch so oft beschwören: Hoc est corpus meus, es bleibt hokus pokus. Eine Metapher (also: mittels der Sprache über die Sprache hinaus!) soll es veranschaulichen: Um ein Tier essen und einverleiben zu können, muss man es fangen, töten, häuten, zerschneiden, braten, würzen, stilvoll servieren. Die grausame © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Vorgeschichte wird durch den Endakt verschleiert, dem Blick entzogen. Es fehlen die Worte. So auch beim Tier Emotion; wenn es versprachlicht ist, kann es goutiert werden, aber es lebt nicht mehr. Das Fassungslose ist endlich gefasst, also sowohl gefangen, wie festgehalten, fixiert und eingerahmt. Es ist eine Trophäe. Fragebogen sind Prokrustesbetten (Prokrustes war ein Wegelagerer, der Reisende zur Übernachtung lockte oder zwang). Die gefangenen Emotionen werden in Itembetten gelegt und so lange verstümmelt oder gestreckt, bis sie hineinpassen. Die Methode Fragebogen leugnet und verbietet Ambivalenz, Ambiguität, Vagheit, Unsicherheit, Zweifel, Paradoxie, Oszillation. Durch seinen Fragebogen ordnet der Autor an: Ich sage dir, was du zu tun hast, was der Fall ist, wozu du Stellung nehmen musst. Damit hat die Forscherin die erste Aufgabe erledigt: Sie hat Formulierungen gefunden, die Emotionen bezeichnen. Die andere Aufgabe muss der Proband lösen: Er muss in sich gehen, sich prüfen und das Gefundene den angebotenen Aussagen zuordnen. Er hat das Zutreffende anzukreuzen. Oder das zu Treffende? Woher soll er wissen, was die Forscherin zu treffen wünscht? Er ratifiziert jedenfalls seine Zuordnung mit einem Kreuz oder einem Haken; sie sind die Paraphe, mit der der Proband das Prüfprotokoll gegenzeichnet: »Ich habe alles gelesen und stimme diesem zu.« Die Sache hat einen Haken: Es ist ein Kreuz, dass man nur ein Kreuz machen darf! Aufs Kreuz fixiert sein ist, entsprechend einer der Bedeutungen von crux, eine Marter, eine Qual. Der Befragte ist ein Crucifixus – sowohl gemartert wie aufs Kreuz machen festgenagelt; er muss nur noch im PC das Zutreffende anklicken oder im Fragebogen einen Hakenmachen. Im Fragebogen mündet der Weg von der Rede-Kultur über die SchreibKultur in die tick & click art. Der Sprech-Akt lebt von Austausch, Präsenz, Nähe, Direktheit, geteilten Kontexten. Im Schreib-Akt fehlt dies alles: keine leibliche Gegenwart, kein Von-Angesicht-zu-Angesicht, keine InterAktion. Im Kreuz-Akt ist die schöpferische Selbst-Tätigkeit auf das Haken machen reduziert. Der Fragebogen hat ein Vorbild im Stimmzettel der demokratischen Wahl: Man kreuzt einen Kandidaten oder eine Partei an. Es ist entlarvend: Man gibt seine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Stimme ab – und hat danach nichts mehr zu sagen. Vielleicht kann man beim Abhaken auch an den Angelhaken denken, mit dem das Lebendige, Quirlige, Unerreichbare, Verdeckte, Unsichtbare aus der Tiefe geholt werden soll. Das Herz hat seine Abgründe, die der Verstand nicht kennt. Durch die Methode Haken wird ausgeschlossen, dass die Eigenart von Emotionen zur Geltung kommt, nicht exakt, nicht eindeutig und kontextabhängig zu sein. Eine solche Unschärfe und Relativierung kommt beim Fragebogen nicht in Frage. Aber auf wen und was erlaubt der Haken einen Rückschluss? Vor allem auf den, der die Liste zusammengestellt hat. Es ist pervers: Nicht der Proband gibt sich zu erkennen, sondern der Forscher. Es ist sein Welt-Bild, das auf die Probe (d. h. dem Proband zur Beurteilung) gestellt wird. Magritte hat unter die fast fotografische Abbildung einer Pfeife die Unterschrift »Dies ist keine Pfeife!« gesetzt. Nach diesem Motto müsste über Emotionsmessung per Fragebogen stehen: »Dies ist keine Emotion«. Ein Bild ist eine Realität, aber nicht die des abgebildeten Originals. Selbst wenn wir das Original unmittelbar anschauten, wäre unsere Wahrnehmung nur die Verarbeitung eines Bildes auf unserer Netzhaut. Das Ding an sich bleibt unerreicht. Nichtidentisches kann nicht identifiziert werden, wie sehr man sich auch müht.

Mit Emotionen muss man rechnen Die Kreuze sind gemacht, die Arbeit des Probanden ist getan. Jetzt beginnt das Werk der Forscherin. Sie macht aus den Markierungen Zahlen. Nun wirkt der naturwissenschaftliche Imperativ : Du musst mit allem rechnen, weil du alles verzahlen (digitalisieren) kannst. Das schließt ein, dass du dich selbst verrechnest. Ich sehe hier Digitalisierung nicht als Synonym für Informationstechnologie, die im Verein mit den anderen Megatrends Globalisierung und Monetarisierung (Ökonomisierung) weltweit unser Leben beherrscht, sondern setze grundsätzlicher an: Die Bedingung der Möglichkeit der digitalen Informationstech© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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nologie ist die Fähigkeit, Qualitäten Zahlen zuzuordnen. Sie ist die Voraussetzung für die von der kritischen Theorie diagnostizierte Herrschaft der Vermittlung. Wie viele wichtige Wörter hat auch Zahl eine dunkle und vielsagende Herkunft. Die frühen Bedeutungen Erzählung und Aufzählung verweisen auf einen Ursinn, der im englischen tell (mit der Wortwurzel tela, zala) noch bewahrt ist. Erst später wird dieses Sagen und Berichten auf die heutige Hauptbedeutung einer Rechnungsgröße verengt (s. Grimm u. Grimm, 1984, Bd. 31, Sp. 36 ff.). Wofür es im Englischen vier völlig verschiedene Bezeichnungen gibt (tell, number, count, pay), stehen im Deutschen vier sehr ähnliche Wörter : erzählen, Zahl, zählen, (be-)zahlen. Gefühle sind Teil einer Erzählung, mit dem zwar zu rechnen ist, der aber nicht fürs Rechnen präpariert ist. Wenn im Fragebogen eine Aussage (Item) be-zahlt wird (mit einer Zahl bezeichnet wird), so bezahlt man mit dem Verlust an Mehrwert, der in einer Erzählung noch steckt. Dafür bekommt man bei diesem Tauschhandel Berechenbarkeit. Der Albatros Zahl, der in luftigen Höhen elegant fliegt, macht auf dem Boden der Tatsachen eine schlechte Figur, er humpelt mühselig dahin. Andererseits: Im Reich der Worte wird die Reinheit der Zahl verhüllt, beschmutzt, behängt mit Mehrdeutigkeiten. Aber wer sich in Zahlen abbildet und in Rechnung stellt, für den geht die Rechnung nicht mehr glatt auf, es sei denn, er gibt seine Einmaligkeit auf und macht sich mittels der Zahlen äquivalent. Er wird vergleichbar und ist (so viel wert) wie jeder andere. Wie dieser Ersatz von Besonderheit durch Gleichheit bzw. Gleichgültigkeit funktioniert, wird im Tausch Ware gegen Geld vorgeführt. Geld macht das Inkommensurable der Waren vergleichbar ; Zahlen besorgen das Gleiche für Emotionen. Zahlen sind im Diskurs der empirischen Sozialforschung eine Universalwährung, vergleichbar dem Papiergeld; auch bei diesem wird der (Tausch-)Wert durch die aufgedruckten Zahlen angezeigt. Zahlen wie Geld leben vom Vertrauen in die korrekte Herkunft und Verwendung. Bei den Zahlen der Empiriker wird die Deckung durch Fakten unterstellt. Universitäten gleichen Banken: Vie verleihen den Zahlen-Werken Kredit. Aber auch hier © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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gibt es Spekulationsblasen (IQ, EQ, AC, um nur einige der ModeLabels zu nennen). Kritische Analysen der Episteme der Moderne nennen als einen ihrer zentralen Grundsätze, dass alles, was existiert, in Quanten existiert. Daraus folgt, dass auch Personen und Emotionen sich verzahlen lassen. Eine neue Qualität aber wird erreicht, wenn nur noch Zahlen zählen (dies ist naturgemäß das Einzige, was sie können). Der Ausdruck »in Zahlen ausdrücken« transportiert einen verräterischen Doppelsinn: Etwas Latentes wird zum Ausdruck gebracht und bis zur Trockenheit der Zahlen ausgequetscht. Wie jede Sprache erzeugt die Zahlensprache ihre Sonderwelt, auch sie hat die Unschuld der bloßen Wiedergabe oder Abbildung verloren. Zahlen sind im Verein mit den Verrechnungsmethoden Weltenschöpfer. Im Anfang war das Wort und das Wort wurde Zahl und die Zahl wurde, wenn nicht Gott, so doch Fetisch. Statistik ist die zugehörige Ersatzreligion, die die Welt sowohl erklärt wie missioniert. Zahlen sind nur scheinbar frei von den vielen Nebenbedeutungen, die Wörter haben, Zahlen gelten als hart, eindeutig, belastbar, exakt. Sie führen allerdings ein Eigenleben: Wo Zahlen sind, wird gerechnet. Die Methoden ihrer Verarbeitung produzieren Mehrwert, aber auch Unsinn und Ausschuss. Jeder zahlengläubige (!) Wissenschaftler steht in Gefahr, zum Zauberlehrling zu werden, weil der Besen (die Zahlen) nicht zurück in die Kammer will und wie besessen fortfährt, alles andere wegzufegen. Die Argumentation zielt nicht zahlenphobisch auf eine Diskreditierung quantitativer empirischer Sozialforschung. Sie will deren Besonderheiten herausarbeiten und zeigen, dass sie gerade deshalb für das Verständnis der Eigenarten von / in Organisationen gut geeignet ist. Zahlen sind ideale Behältnisse, weil sie, selbst qualitätslos, alles aufnehmen und ihm ihren Stempel aufdrücken können. Anders als inhaltlich bestimmte Worte und Sätze sind Zahlen gegenüber Inhalten gleichgültig, sie sind nicht voreingenommen durch Sinn und Bedeutung. Alles, was sie mit den Dingen und Inhalten verbindet, ist, dass sie ideale Platzhalter und gesichtslose Stellvertreter sind, ob sie nun für eine Menge stehen oder für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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eine Rangordnung oder – in der Mainstream-Forschung der typische Fall – für die Markierung von gleichen Abständen oder gar Bezügen zu einem fiktiven Nullpunkt. Sie können auch Relationen vertreten – das ist sogar ihre wichtigste Funktion. Wenn etwas 1,2,3 genannt wurde, übt das einen offensichtlich unwiderstehlichen Sog aus, mit 1,2,3 zu machen, was geht, insbesondere wenn von Vielen die Zahlen zum Gleichen vorliegen – wie das typisch ist für die Fragebogenforschung. Man kann dann addieren, Mittelwerte, Streuungen, Korrelationen usw. errechnen. Aus Platzgründen übergehe ich eine zentrale Funktion von Zahlen. Sie werden benötigt, um Modelle (oder Hypothesen oder theoriegeleitete Zusammenhangsvermutungen) zu testen. Ich beschränke mich auf die Rolle von Zahlen als universales indifferentes Medium. Entscheidend ist, dass es in der Fragebogenforschung nicht um den Einzelfall geht, schon gar nicht um eine konkrete einmalige Person und ihr Erleben und Tun. Charakteristisch ist vielmehr, dass sachliche Vor-Annahmen (Hypothesen, Unterstellungen) geprüft werden sollen. Nicht was ein Mensch emotional erlebt, interessiert, sondern wie von Erlebenden abgetrennte (abstrakte!) Emotionen miteinander zusammenhängen, wie sie soziale Beziehungen fördern oder beeinträchtigen, ob und wie sie Leistungen steigern oder senken. Alles bloß Idiosynkratische wird herausgerechnet. Dazu ist es nötig, vom Einzelnen abzusehen und die Population zu betrachten, um Muster oder zentrale Tendenzen zu identifizieren. Die erwähnte sprachkritische Formel Haubls paraphrasierend ist es Programm oder Leitmotiv, mittels der Zahlen einer Mehrzahl über den Einzelnen und das einzelne Besondere hinaus zu kommen. Nur wenn man gleichartige Aussagen vieler über ihr Erleben, ihre Erfahrungen und Erfolge verrechnet, lässt sich feststellen, ob und wie sehr ein Einzelner von Seinesgleichen (die es nie sind) abweicht und ob seine Abweichung von Vor- oder Nachteil ist für die Organisation, gemessen an Kriterien wie produktive Zusammenarbeit, Innovation, Leistungsbeiträge etc. Die einzelne Emotion oder die Emotion eines Einzelnen ist situativ kodiert und zusätzlich (weil limbisch gesteuert) spontan, unreflektiert, einmalig, irrational usw. Hemmungslose Wut, unaussprechliche Trauer, überschäu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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mende Freude, grenzenlose Verachtung sind, weil sie so extrem sind, bedrohlich für Organisationen. Diese (als kollektive Aktanten) wollen die Kraft von Emotionen kanalisieren, nutzen, neutralisieren. Kennt man die typischen Parameter, ist es leichter, das Fremde zu assimilieren und Programme vorzubereiten, die Abweichungen kontrollieren und Dysfunktionen gegensteuern können. Die Fragebogenmethode ist für diese Zwecke ein geradezu ideales Mittel, weil sie das organisationale Rationale emuliert: ohne ansehen / Ansehen der Person das Sachproblem in den Griff kriegen. Man kann Zahlenmagie konstatieren: Mit Zahlen wird Wirklichkeit, wie sie an sich ist, verzaubert und verrät so ihre Geheimnisse. Die ganze Welt hebt an zu singen, triffst du nur den Zahlencode! Aus dieser Perspektive kann man Zahlenhermeneutik propagieren, denn Zahlen sagen mehr, als der Autor weiß und sagen will, weil Zahlen und ihre Verarbeitungsmethoden einen spezifischen Mehrwert hinzufügen. Ich habe schon angemerkt, dass sich mittels Fragebogen und deren Quantifizierung – auf den Einzelfall nicht eingehend, aber von ihm ausgehend – allgemeine Hypothesen prüfen lassen. Ziel sind nicht individuelle Therapie oder Verständnis, sondern Auffinden, Bestätigen oder Falsifizieren von vermuteten Zusammenhängen. Nah am Pleonasmus: Mittelwerte werden ermittelt. Es geht um Normalisierung, Regeln, allgemeine Tendenzen und Typizität – wie in Organisationen. Abweichungen sind dann tolerabel oder gar erwünscht, wenn sie nützlich sind und andere Ziele nicht beeinträchtigen. Leistung aus Leidenschaft – ja, aber nur, wenn die Leidenschaft die Ordnung und Planbarkeit, den Ressourcenverbrauch, die gedeihliche Zusammenarbeit, die geltenden moralischen und gesetzlichen Regeln nicht konterkariert. Zahlen taugen dabei als Vorbild: Sie sind nur geordnet, in Aufstellungen, Kolonnen, Matrizen usw. informativ. Dabei fungieren sie als Doppelagenten: sie erlegen dem, wofür sie stehen, Ordnung auf und lesen Ordnung heraus. Im Märchen »Hans im Glück« hört sich die Geschichte so an: Im Tausch gegen das Gold der reichen Erzählung bekommt Forscher-Hans schließlich den Schleifstein der Zahl, mit dem man Messer schärfen könnte, um die Wirklichkeit zu filettieren. Hans wird sukzessiv befreit vom materiellen Ballast (Gold, Pferd, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Kuh, Schwein, Gans – Erlebnisse, Gefühle, Geschichten, Items), er bekommt dafür den Schärfstein Zahl. Im Märchen geht es – anders als in der empirischen Sozialforschung – weiter : Am Ende, als er alles verloren hat, was er in Händen halten konnte, ist er glücklich über (den Wert des) Nichts. Aber Glücklichsein ist eine andere Geschichte, mit der man im Ranking nicht punkten kann.

Kopf oder Zahl – das ist hier die Frage Wir sind noch nicht am Ende. Wenn die Resultate präsentiert sind, müssen sie interpretiert werden. Der wörtlichen Vorgabe (Items) folgt nach dem Aufstieg in die Höhenluft der klaren Zahlen der Abstieg in die Nebeltäler der Alltagssprache. Die Zahlenwerke, die nicht für sich selbst sprechen (bzw. deren Sprache nur dem Kundigen verständlich ist), werden wieder zurückverwandelt in Worte. Aus der kristallinen Welt der komprimierten Zahlen muss der Autor wieder eintauchen in vieldeutige Verbalisierungen, die zum Verteidigen, Begründen, Rechtfertigen, Weiterdenken, Relativieren genutzt werden. Das ganze Programm der propositionalen, illokutionären und performativen Rede wird in Szene gesetzt, wenn der Autor zurückkehrt zur wundervollen irdischen Welt der Chancen, Hindernisse, Mehrdeutigkeiten und Zweifel. Aus dem Exil der Zahlen zurück, wird deren Bann mit Worten gelöst. Mit strukturierten Fragebogen kann man nur strukturierte bounded emotions, nicht aber frei flottierende untersuchen. Die Methode konstituiert und konfiguriert den Gegenstand, evoziert und formt ihn. Zahlen haben von allem Sinnlichen und Konkreten (Zusammengewachsenen) weggeführt, damit reine unbefleckte Erkenntnis möglich werde. Und das nennt sich empirische Wissenschaft! Empirische Wissenschaft zieht den Metaphern und (Sprach-) Bildern Zahlen vor, denen sie sich rückhaltlos ausliefert. Die selbstgeschaffenen Objekte werden dann wie / als Götzen angebetet; sie treten auf als Autoritäten, die Gewalt über ihre Schöpfer erhalten. Wenn ein Koeffizient signifikant ist (p < .01), ist an ihm nicht mehr zu zweifeln. Am Zahlenfetisch zerschellt das eigene © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Denken, weil das Denken jener, die die Formeln ersonnen haben, in ihnen inkarniert ist. Die Methode fordert Regeltreue, nicht Zweifel. Man muss als Leser und Interpret lernen, zwischen den Zahlen zu lesen. Wie hoch diese Fertigkeit entwickelt sein kann, zeigt sich in den kunstvollen Discussions, die der Ergebnispräsentation (Results) folgen. Dies erinnert an die uralte Zahlenmystik (z. B. die der Pythagoreer), die in den Zahlen alle Weltgeheimnisse verborgen und zugleich offenbart sah. Statistiker sind die Pythagoreer der Moderne. In ihren Zahlen erkennen sie das Wesen der Welt und versteckte Harmonien. Die erfragte, berichtete, vermessene und verrechnete Emotion ist nicht die erlebte. Die Emotion zweiter oder dritter Hand ist dennoch nützlich, wenn sie mit anderen organisationstypischen Abbildungen (z. B. Fähigkeitsmessungen, Beurteilungen, Erfolgskriterien etc.) korreliert wird. Wenn wir von Simulacra umstellt sind, bleibt die Sehnsucht nach dem Original unerfüllt; sie ist auch müßig, weil nicht mehr die Originale, sondern deren Bilder Wirkung entfalten. Ein durchgehaltenes Bilderverbot würde uns lebensuntauglich machen. Es geht in sogenannten empirischen Studien weniger um das Aufspüren der Regeln der Wirklichkeit, sondern um das artistische Jonglieren mit Simulacra, Abbildern der sogenannten Wirklichkeit. Die Größen, mit denen man rechnen muss, sind allesamt abgeleitet, fingiert und konstruiert (siehe etwa DANVA2, EQ-i, MSCEIT, NeoFFM, PANAS usw.): die Allgegenwart des Scheins. Dem Referenten ist das Referat abhanden gekommen, dem Schein eine zugrunde liegende Realität.

Schlüsse Erster Schluss (Abschluss) Operation erfolgreich, Patient verstorben? Ist mit all der apollinischen Aufklärungsarbeit, die Licht und Ordnung ins obskure Gewirr der Gefühle bringen soll, das Dionysische der Emotion ausgemerzt worden? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Das ist nicht der Fall. Aber nicht deshalb, weil das Präkognitive und Präreflexive der Emotion den Prozess des Definierens, Quantifizierens und Korrelierens unbeschadet überstanden hätten und in allen Phasen ihr Wesen bewahrt hätten. Es soll vielmehr entgegengesetzt argumentiert werden: Weil Emotionen in der Abfrage durch und durch organisiert sind – oder werden? –, sind sie strukturgleich mit Organisation und können mit ihr korrespondieren. Mit der beschränkten Methode des Fragebogens lässt sich die beschränkte Emotionalität in Organisationen untersuchen, deren Programm es ist, Handeln geordnet zu beschränken.

Zweiter Schluss: Schlussfolgerung: Der Sinn des Lebens – 42+Gefühle? Aus den Weiten des Weltalls erreicht uns die Botschaft, dass der Sinn des Lebens 42 ist. Diese Nachricht aus dem Empyreum ist informativer als alles, was wir von der Empirie lernen konnten. Wir müssen diese Zahl akzeptieren, aber wir brauchen sie nicht als numerologische, also hermetische Offenbarung hinzunehmen, sondern können sie hermeneutisch interpretieren: Was sagt uns 42, was uns der Autor nicht sagen konnte oder wollte? Bei der Erkundung des dunklen Kontinents der Zahlen ist ein erster Zugang, sie in ihre Bestandteile zu zerlegen: 4 und 2. Damit lässt sich einiges anfangen: Quersumme: 4+2=6 (sex), 4–2=2, 4x2=8, 42=16, 42 :(4x2)=2, 4x2–(4+2)=2. Trotz des beginnenden Zahlenrauschs wird deutlich, dass die häufigste Zahl, die auftaucht, 2 ist. Damit ist ein kosmisches Prinzip offengelegt: Yin und Yang, Mann und Frau, Eros- und Todestrieb, Rolf und Uschi, Körper und Geist, res extensa und res cogitans usw. ad infinitum. Dem widerspricht nur scheinbar der Weltweise Bartleby, der als Lebensprinzip gewählt hatte: »I prefer not two …« Bartlebys Einspruch ist zurückzuweisen, denn schon 1980 hat Zajonc in einem wegweisenden Aufsatz »Preferences need no Inferences« festgestellt, dass Gefühle ohne schlussfolgernde Ratio auskommen. Präferenzen aber sind im System Ubw verankert, in dem die Negation aufgehoben ist und ein Nein als ein Ja gelten kann. Wir © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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können also fortfahren, die Hinter-Gedanken von 42 ethymisch zu deuten, wohlgemerkt nicht etym(olog)isch, sondern e-thymisch, aus dem Gefühl / Gemüt heraus – was die Wahl lässt zwischen »dem Wirrwarr der Gefühle entkommen sein« und »aus dem (Bauch-)Gefühl heraus urteilend«. Numerologie geht von fixen Bedeutungen der Zahlen aus; berücksichtigt man situative Einflüsse, kann man das Deutungsspektrum erweitern und flexibilisieren. Nimmt man als Kontext von 42 einen Intelligenztest, kann die zerlegte Zahl beispielsweise als eine IQ-Aufgabe gesehen werden: »Finde in dieser Reihe die nächste Zahl«! Das ist Null. Der Sinn des Lebens ist somit nicht 42, sondern 0, nichts. In einem anderen Kontext lässt sich 4 2 als Bundesliga-Ergebnis (4:2) lesen, und das bedeutet 3 (Punkte für den Sieg). Würde man von 42 die 3 subtrahieren, ergäbe das 39, also 3x13, dreifaches Unglück – das kann der Sinn des Lebens nicht sein! Kehren wir also zurück zur Basis, zur 2 und ziehen die Wurzel. Das ergibt für den Nichtmathematiker das Oxymoron einer irrationalen Zahl. Wir entdecken, dass Zahlen mit Gefühl etwas gemein haben. Der Überschwang der Gefühle reißt zu einer irrationalen Folgerung hin: Gefühl ist alles, wenn nicht alles trügt.

Literatur Fiehler, R. (1990). Kommunikation und Emotion. Theoretische und empirische Überlegungen zur Rolle von Emotionen in der verbalen Interaktion. Berlin u. New York: de Gruyter. Grice, H. P. (1993). Logik und Konversation. In: G. Meggle (Hrsg.), Handlung, Kommunikation, Bedeutung (S. 243 – 265). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Grimm, J., Grimm, W. (1984). Deutsches Wörterbuch (31 Bde.). München: dtv. Haubl, R. (1991). »Unter lauter Spiegelbildern …«. Zur Kulturgeschichte des Spiegels (2 Bd.). Frankfurt a. M.: Nexus. Simon, H. A. (1993). Homo rationalis. Die Vernunft im menschlichen Leben. Frankfurt a. M. u. New York: Campus. Zajonc, R. B. (1980). Preferences need no Inferences. American Psychologist, 35, 151 – 175. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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»Angst und Methode« Überlegungen zur Relevanz von Devereux’ These für das Selbstverständnis kritischer Sozialwissenschaft heute

Der Beginn bei sich »Der einzige Verhaltenswissenschaftler, den ich höchst ausdauernd kritisiere, bin ich selbst. Eine grobe Schätzung ergibt, dass gut vierzig Abschnitte meine eigenen blinden Flecken, Ängste, Hemmungen und dergleichen zum Thema haben. Denn nicht anders sollte es sein: der Verhaltenswissenschaftler muss die Einsicht bei sich selbst beginnen lassen« (Georges Devereux in der am 3. April 1966 verfassten Einleitung zu »Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften«, hier zit. nach Devereux, 1967/1984).

In den 1990er-Jahren gab es einen »Lehrfilm«, mit dem Professoren und bisweilen auch Professorinnen der Sozialwissenschaften ihren Studierenden einen ansprechenden Einstieg in das Thema »Frankfurter Schule / Kritische Theorie« anbieten konnten: Der Film beginnt mit einem sympathisch und zugleich ein bisschen naiv wirkenden Studenten, der eigens den weiten Weg von den USA nach Frankfurt auf sich genommen hat, um die »Frankfurter Schule« zu finden. Wie es der Name nahe legt, sucht er im Frankfurt der 1990er-Jahre dann zunächst beherzt nach einem Schulgebäude und wird im Film schließlich zu einem hässlich anmutenden Hochhaus geschickt, von dem er nicht recht glauben will, dass dies die berühmte Schule sein soll. Meine Erinnerung will mir nun nahelegen, dass der Student dann auch noch in einen wenig Vertrauen erweckenden Aufzug steigt (in dem ein Graffiti dazu auffordert, mehr Marx zu lesen). Wo man ihn jedoch im Gebäude des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt hinschickt, weiß ich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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nicht mehr und spätestens die vermeintliche Erinnerung an den Ausdruck »Fachbereich Gesellschaftswissenschaften« und das Graffiti scheinen eher eine Produktion meiner Gegenwart (als in Frankfurt arbeitende Sozialwissenschaftlerin) als ein Produkt der Erinnerung zu sein. Genauer gesagt: Es handelt sich um eine von der Fragestellung angestoßene Erinnerungsproduktion und wenn die später noch genauer zu erläuternde zentrale These von Devereux ein wenig Wahrheit enthält, dann hat diese Produktion etwas mit dem Thema dieses Beitrags zu tun. Dazu später mehr.

Die Fragestellung Vorher ist zu klären, was das Thema ist. Dafür wiederum liefert Georges Devereux selbst in der oben zitierten Einleitung zu »Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften« ein plastisches Bild: »Wahrscheinlich«, so beginnt Devereux seine Einleitung, »hat jeder Wissenschaftler unter seinen Ordnern einen, der über die Jahre hin das Beste seiner Forschungsgedanken schluckt« (Devereux, 1967/1984, S. 13). Diese besten Gedanken waren schon zu Devereux’ Zeiten nicht diejenigen, die ihn erfolgreich und berühmt gemacht haben, sondern umgekehrt, so resümiert Devereux, sei es die lange erträumte Berufung an die »cole Pratique des Hautes tudes« gewesen, die es möglich gemacht habe, sich diesen ihm eigentlich wertvollsten Gedanken zuzuwenden. Was waren diese Gedanken? Sie klangen oben schon an und lassen sich in heutiger Sprache auf folgende Formel bringen: Wenn Sozialwissenschaftlerinnen etwas über eine Fragestellung und mithin über Menschen herausfinden wollen, dann seien ihre emotionalen Reaktionen auf die Fragestellung, die Angst, die die Fragestellung auslöst – analytisch und theoretisch ausgedrückt die Gegenübertragung –, die wichtigste Erkenntnisquelle. Sie dürfe nicht als Störfaktor ausgeblendet werden, sondern stehe am Beginn des Erkenntnisprozesses. Dies lässt sich als Forderung nach radikaler Subjektivität verstehen, die weit mehr impliziert als nur die Anerkennung, dass Subjektivität am Erkenntnisprozess un© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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vermeidlich beteiligt ist: Schreibe nicht über andere, schreibe – zuerst – darüber, was die Fragestellung, die Beschäftigung mit der Frage in dir auslöst. Methoden, die Subjektivität ausschalten oder kontrollieren wollen, versteht Devereux dementsprechend im Sinne der Abwehr gegen die Wahrnehmung von (gegenstandsbezogener) Angst, als Gegenübertragungswiderstand. Devereux bemerkt ebenfalls in der Einleitung (wo er weitaus selbstkritischer wirkt als später im Buch), wie sehr er selbst mit solchen Widerständen gerungen hat, und man kann an dem oben leise durchklingenden Stolz erahnen, wie schwergefallen ihm jene »gut vierzig Absätze« über die eigenen Ängste und Hemmungen sein mögen. Wie wäre das heute? Ist es leichter geworden, die Einsicht bei sich beginnen zu lassen oder schwerer? Oder vielleicht sollte man auch das zeitgemäß ausdrücken: Wie kann über eigene Emotionen im Forschungsprozess so geschrieben werden, dass die eigene Arbeit von der »scientific community« ernst genommen wird? Dieser Frage will ich mich hier nähern, indem ich beispielhaft zeige, wie sich Sozialwissenschaftlerinnen heute auf Devereux’ These beziehen (können). Dafür habe ich zwei unterschiedliche Zugänge gewählt: Im ersten Schritt will ich versuchen, Devereux’ Anspruch für die hier untersuchte Frage selbst fruchtbar zu machen. Das bedeutet, dass die am Beginn dieses Textes produzierte Erinnerung als eine mögliche Reaktion auf eben diese Fragestellung (wie man sich heute auf Devereux beziehen kann) zu interpretieren sein wird und ich mich generell fragen muss, was Devereux’ These für mich als psychoanalytisch orientierte Sozialwissenschaftlerin heute bedeutet. Nachdem die Einsicht dann an der von Devereux geforderten Stelle begonnen hat, werde ich schließlich, in einem zweiten Schritt, das (eher) Übliche – und Einfachere – tun : Ich werde über andere Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen sprechen. Ich habe dazu zunächst in aktuellen sozialwissenschaftlichen methodologischen Texten nach Ansätzen gesucht, in denen die Emotionalität des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin nicht nur als unvermeidliche Einflussgröße behandelt wird, sondern in denen der Emotionalität im Allgemeinen und der Angst im Besonderen ein eigener Wert für © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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die Wissensproduktion zugesprochen wird. Zweierlei fällt dabei bereits auf den ersten Blick auf: Es gibt durchaus methodologische Argumentationen, die auf Emotionalit ät eingehen, diese tun dies jedoch selten unter dem Begriff der Emotionalität, sondern – vor allem im deutschsprachigen Raum – unter den Begriffen Subjektivität oder Selbstreflexivität. Einige der Autoren beziehen sich dabei explizit auf Devereux. Ich werde, im zweiten Schritt, an einigen ausgewählten Beispielen zeigen, wie sie das tun, und dazu einige Überlegungen anstellen. Doch vorher muss der angekündigte erste Schritt getan werden.

Der Ausgangsort – Wunsch und Zweifel Wenn ich die These ernst nehme, dann muss ich noch einmal genauer fragen, wofür das spontane Bedürfnis stand, die hier dargestellten Überlegungen mit der Erinnerung an jenen Film in einer Frankfurter Tradition zu verorten. Dieser Spur folgend, drängen sich zwei Erklärungen auf: ein starker Wunsch und ein ebenso starker Zweifel. Der Wunsch hat damit zu tun, dass ich mich offensichtlich einer imaginierten Gemeinschaft kritischer Sozialwissenschaftlerinnen zugehörig fühle oder fühlen möchte, die in vielfältiger Weise von (Hochschul-)Lehrerinnen geprägt worden ist, die sich selbst mehr oder weniger der sogenannten Protestgeneration zugehörig fühlten – und davon auch bisweilen sprachen. Es würde zu weit führen, hier auf die Debatten über die »68-er« einzugehen (obwohl man da an einigen Beispielen zeigen könnte, was passiert, wenn man eine Reflexion der eigenen Affekte überspringt). Es geht mir hier lediglich um den Gedanken, dass diese Generation – wenn man davon so sprechen will – in ihren Schülerinnen und Schülern nicht nur das Interesse an einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der »Frankfurter Schule« geweckt hat, sondern dass dabei zugleich mit starken Emotionen aufgeladene Bilder davon vermittelt wurden, was es bedeutet, sich als kritische Sozialwissenschaftlerin zu verstehen. Nach meiner Wahrnehmung gehört zu diesem »Gefühls-Erbe« eine komplizierte Mischung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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aus Verehrung und Verstörung, Dankbarkeit und Enttäuschung, Loyalität und der Sorge, dass es an Verrat grenzen könnte, wenn man versucht, trotz der beunruhigenden Entwicklungen im heutigen Wissenschaftsbetrieb, in diesem System seinen Platz zu finden. Pointiert gesagt: Kritik – das war früher. »Wir« haben in unserem Studium zwar dankbar einige Früchte der 68-er genossen, zugleich aber (zeitversetzt) erkennen müssen, dass es um die Zukunft der Kritik – dieser Kritik – nicht gut bestellt ist. Inzwischen ist aus der Zukunft eine Gegenwart geworden und Frankfurt scheint dabei immerhin ein Ort geblieben zu sein, in dem man über die Gegenwart der Kritik nachdenkt (vgl. Jaeggi u. Wesche, 2009). Für die kritische Sozialpsychologie als einer spezifischen Form kritischer Sozialwissenschaft haben wir (das ist jetzt freilich ein anderes generationsübergreifend-kritisch-solidarisches Wir) auf einer Tagung zum 50. Geburtstag des Sigmund-Freud-Instituts im Jahr 2010 eine Art Bestandsaufnahme versucht und dabei unter anderem ein Podium mit dem Titel »next generation« veranstaltet. Dort wurde sozialpsychologischer Nachwuchs aus Frankfurt, Berlin, Hannover, Zürich und München um Prognosen gebeten und ein Ergebnis war, dass junge Frankfurter Zuhörerinnen erschrocken von dem Gefühl berichteten, hier noch auf einer Insel der (Kritisch-)Glücklichen zu leben, die ihnen dann plötzlich bedrohter erschien als vorher. Und es entstand trotz allem der Eindruck, dass es so etwas wie Solidarität geben könnte, in dem Wunsch, eine interessante Tradition kritischer Sozialwissenschaft so weiterentwickeln zu können, dass sie eine Zukunft haben möge. Die Erinnerung an den Film bebildert vermutlich dieses Gefühl: Da war doch was, da gibt es doch was, es könnte sich lohnen, danach zu suchen und zu fragen, was daraus geworden ist und noch werden kann. Es handelt sich somit um eine Erinnerung, die eine Gemeinschaft anrufen will (vgl. Haubl, 2007) und die den Wunsch verkörpert, mit dieser Suche nicht allein zu sein. Und zugleich will diese Erinnerungsgeschichte die hier dargelegten Gedanken in einen größeren Zusammenhang stellen, poststrukturalistisch ausgedrückt »einschreiben« in das Projekt »Zukunft der Kritik«. Ein großer Wunsch für einen kleinen Ar© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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tikel und somit ist es kein Wunder, dass sich eine gewisse Angst einstellte, die durch das Erinnerungsbild ein wenig beschwichtigt werden konnte. Der Film bebildert jedoch zugleich den Zweifel und ist vielleicht gerade in seiner Ambivalenz geeignet, das Gefühlsgemisch einzufangen, das sich hier einstellte. Denn der Student ist ja naiv und das wird noch verdoppelt, da der Film alt ist: Es war schon damals naiv, wie ist es dann heute? Inwieweit ist es sinnvoll, richtig, hilfreich die Zukunft der Kritik in der Vergangenheit beginnen zu lassen? Es ist paradox: Einerseits kann ich diesen Text nur in einer Atmosphäre der Wertschätzung für Selbstreflexion so schreiben, wie ich ihn hier schreibe, und auch nur, weil mir zugleich der Rücken von dieser eindrucksvoll-ehrwürdigen Tradition gestärkt wird. Andererseits will ich spotten: Im Zweifel sticht der höchste Trumpf des Hauses (das ist nach meiner Wahrnehmung immer noch Adorno), und wenn man ein bisschen sucht, findet man sicher eine eindrucksvolle Formulierung, die die eigene Vorgehensweise legitimiert. Aber inwiefern ist es wirklich sinnvoll, vergangene »Helden« wie Adorno oder Lorenzer oder eben Devereux anzurufen, um diese Art reflexiven Schreibens zu legitimieren? Wäre es nicht sinnvoller oder auch notwendig, sich auf die vielen interessanten Weiterentwicklungen kritischer Sozialwissenschaft zu beziehen? Ist es nicht vielleicht wichtiger, sich zu fragen, wo sich alte Kritik mit neuerer trifft, mit der feministischen Wissenschaftskritik beispielsweise, der postkolonialen Theorie, den aktuellen Debatten zu kritischer Migrationsforschung? Oder auch der Wissenschaftssoziologie, die neben der Beschäftigung mit anderen Disziplinen anfängt, auch die eigene Disziplin als ihren Gegenstand zu begreifen und damit Reflexivität ermöglicht? Man könnte die Suche nach »Emotion und Methode« in der Tat an einem anderen Ort beginnen und andere Zeugen anrufen. Denn ich habe in den letzten Absätzen hier nun etwas getan, was man auch als Auskunft über meine »situatedness of knowledge« (Sandra Harding), als »Positionalität« oder eben als Selbstreflexivität bezeichnen könnte. Andererseits geht es aber vielleicht doch um jene Zuspitzung, die Devereux am radikalsten formuliert hat und die daran trotz aller Zweifel geknüpfte Hoffnung, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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eine psychoanalytische Erkenntnishaltung mit der feministischen und anderen Kritiken zu verbinden. Oder (um wenigstens ein bisschen Heldenverehrung zu betreiben) mit Jacques Derrida (1998) ausgedrückt: Es geht um die Idee, dass wir die Psychoanalyse nicht vergessen sollten. In diesem Sinne wird im folgenden Abschnitt danach gesucht, ob und wie andere Sozialforscherinnen sich auf Devereux beziehen.

Devereux im Forum qualitative Sozialforschung Dieser Text kann und will nicht den Anspruch erheben, eine belastbare Aussage über die Devereux-Rezeption in der qualitativen Sozialforschung im deutschsprachigen Raum zu formulieren – das wäre eine eigene aufwändige Untersuchung wert. Ich habe mich daher für einen exemplarischen Ausschnitt entschieden, der gleichwohl für die aktuelle Debatte um qualitative Forschung und ganz konkret für Forschung und Lehre in den qualitativen Methoden eine große Bedeutung hat: Die Online-Zeitschrift »Forum Qualitative Sozialforschung« wurde 1999 gegründet, der erste gezählte Jahrgang ist das Jahr 2000, so dass bei Fertigstellung des vorliegenden Textes gerade der 12. Jahrgang begonnen hatte. Die mit FQS abgekürzte Zeitschrift ist eine »dreisprachige OnlineZeitschrift für qualitative Sozialforschung. Schwerpunktausgaben erscheinen dreimal jährlich und behandeln für qualitative Forschung wesentliche Themengebiete« (http://www.qualitativeresearch.net/index.php/fqs). In diesen elf Jahren wurde Devereux insgesamt 22-mal in insgesamt 18 Artikeln zitiert oder erwähnt. (Von den 18 Autoren werden 16 im folgenden Text erwähnt, zwei der 18 Texte, einer von Wainwright und Rapport [2007] sowie einer von Stratkötter [2000] finden sich ebenfalls im Literaturverzeichnis.) Ob das viel oder wenig ist, wäre eine Frage des Vergleichs mit »ähnlichen« Autoren und die abschließende Beurteilung würde vermutlich sehr vom theoretischen Standpunkt abhängen und ebenfalls den Rahmen sprengen. Ich habe mich daher auf die Beschreibung einiger qualitativer Tendenzen beschränkt und gebe nur vier Zahlen für eine grobe Einschätzung des Kontexts an: So wurde etwa der Klassiker Anselm Strauss in den elf Jahren 219-mal © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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erwähnt, Garfinkel 73-mal, Freud 53-mal und schließlich Norman Denzin, einer der Protagonisten der aktuellen US-amerikanischen Methodendebatte, 216-mal. Wie wird Devereux in den 18 Texten zitiert? Zunächst fällt auf, dass die im vorliegenden Beitrag (siehe oben) als zentral dargestellte Aussage ebenfalls den größten Stellenwert in der Rezeption innerhalb des FQS einnimmt. Dabei gibt es jedoch zwei deutlich unterscheidbare Varianten, die ich als »weiche« bzw. entschärfte und »harte« bzw. radikale bezeichnen möchte. In der weichen Variante wird konzediert, dass man den Einfluss der Forschenden ernster nehmen müsse als dies meist geschieht, in der harten Variante wird betont, dass dies nicht nur ein Einfluss sei, sondern letztlich der Königsweg zum Erkenntnisgewinn. Es erscheint angesichts des Originaltextes nicht unbedingt gerechtfertigt, die radikale Variante als die eigentlich richtige zu bezeichnen, obwohl es sicher diese Zuspitzung ist, die Devereux so breit bekannt gemacht hat. Jedoch finden sich auch bei ihm immer wieder eine Tendenz zur Entschärfung und die angedeutete Schwierigkeit mit dem radikalen »Beginn bei sich«. Sein Ringen wird etwa in folgendem Zitat deutlich, das in einem der FQS-Texte gewählt wurde, um zu begründen, warum Forscherinnen über sich sprechen sollten. Devereux, so heißt es bei Mruck und Breuer (2003, S. 5) habe die Antwort auf die Frage »früh und radikal« formuliert: »Der Verhaltensforscher kann die Interaktion zwischen Objekt und Beobachter nicht in der Hoffnung ignorieren, sie werde sich schon allmählich verflüchtigen, wenn er nur lange genug so täte, als existiere sie nicht. Wenn man sich weigert, diese Schwierigkeiten schöpferisch auszuwerten, so kann man es nur zu einer Sammlung von immer bedeutungsloseren, zunehmend segmentären, peripheren und sogar trivialen Daten bringen […] Der Wissenschaftler sollte deshalb aufhören, ausschließlich seine Manipulationen am Objekt zu betonen, und statt dessen gleichzeitig – bisweilen ausschließlich – sich selbst qua Beobachter zu verstehen suchen« (Devereux, 1973, S. 19 f., zit. nach Mruck u. Breuer, 2003, S. 5). Es passt zu dem erwähnten Ringen, dass hier ein DevereuxZitat als radikal angekündigt wird, in dem die zugespitzte For© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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mulierung, dass die Gegenübertragung das entscheidende Datum sei, nicht auftaucht. Stattdessen wird betont, dass man triviale Daten erhält, wenn man die Interaktion ignoriert, und es wird dann darauf hingewiesen, dass das »bisweilen ausschließlich« bedeuten kann, sich selbst zu verstehen. Generell überwiegen in den FQS-Beiträgen diese etwas weicheren Varianten mit Metaphern wie »Einfluss«, »Verstrickung« und »Involviertheit« (z. B. Roth, 2004, S. 1; Andersen, 2003, S. 10). Neben diesen beiden Varianten zur Grundthese werden jedoch auch noch einige andere Überlegungen ,oder vielleicht sollte man besser sagen Akzentuierungen, aus Devereux’ Klassiker zitiert, die sich in etwas anderer Weise ebenfalls auf das Verhältnis von Forscher und Beforschtem beziehen. So taucht mehrfach der Gedanke auf, dass Forscher und Beforschte einen »Reizwert« füreinander besitzen (z. B. Breuer, 2003, S. 7), es wird von der »Verschränkung« von Forscher und Beforschtem gesprochen (Fitzek, 2000, S. 2) und es wird gefragt, an welcher Stelle »im transaktionalen Verhältnis von Subjekt und Objekt Daten abgelesen werden (auf dem ›Distal‹-›proximal‹-Kontinuum; vgl. Devereux, 1967/1984)« (Breuer u. Reichertz, 2001, S. 7) .Während die oben erwähnten Varianten der Grundthese direkt oder indirekt an das psychoanalytische Argument der Gegenübertragung anknüpfen und somit direkter Emotionen zum Thema haben, erinnern die »Verschränkungs«-Überlegungen stärker an die Bezugnahme auf die Heisenberg’sche Unschärferelation, die für Devereux ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. So gesehen lässt sich von unterschiedlichen Lesarten der Grundthese sprechen, wobei die eine Lesart eher die psychoanalytische, sich auf die Gegenübertragung und damit auf »Angst« beziehende Argumentation in den Vordergrund stellt und die andere eher die erkenntnistheoretische Idee der Überschneidung von Forscher und Beforschtem.

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Wer bezieht sich auf Devereux? Wer sind die qualitativen Sozialforscher und -forscherinnen, die sich auf Devereux beziehen? In einem Überblicksartikel zu »Qualitativer Sozialforschung in Deutschland« formuliert Katja Mruck hierzu in der ersten Ausgabe des FQS, also zu Beginn des von mir näher betrachteten Zeitraums, die bemerkenswerte Einschätzung einer breiten Rezeption, zumindest in einem Teilbereich qualitativer Sozialforschung: »Wesentlich für […] die Anerkenntnis, daß mit jeder Definition, Beobachtung oder Untersuchung ›Störungen‹ einhergehen, die reflexionsbedürftig sind, sind die Arbeiten des französischen Ethnopsychoanalytikers Georges Devereux, die in denjenigen Bereichen der deutschsprachigen qualitativen Sozialforschung, die dem ›Prinzip der Kommunikation‹ eine zentrale Rolle beimessen, breit rezipiert werden. Devereux hat solche ›Störungen‹ bereits 1967 als ›Eckpfeiler einer wissenschaftlichen Erforschung des Verhaltens‹ gesehen« (Mruck, 2000, S. 4). Interessant ist außerdem, dass hier zusammen mit der Einschätzung auch die härtere Formulierung zitiert wird, nach der Störungen nicht unvermeidlich, sondern sogar »Eckpfeiler« sind. Wenn man nun die konkrete Rezeption im FQS nach dem Artikel von Mruck, also ab dem Jahr 2000, betrachtet, dann fällt auf, dass darunter viele programmatische Artikel sind, die tatsächlich dem »Prinzip Kommunikation« verpflichtet sind, dies jedoch tendenziell theoretisch-abstrakt und weniger an eigenen empirischen Beispielen diskutieren. Diese Artikel diskutieren dann etwa Fragen der Ethik (Roth, 2004), die Prinzipien Reflexivität und Subjektivität (Mruck u. Breuer, 2003; Schmitt, 2003, 2007; Langenohl, 2009) oder es handelt sich wie bei dem Text von Cisneros-Puebla (Cisneros-Puebla, Faux u. Mey, 2004) um einen programmatischen Einleitungstext zu einem Schwerpunktheft mit dem Thema Interviews als »stories told«. Es sind jedoch nicht nur die theoretisch orientierten Methodologen, die sich für den Erkenntnistheoretiker Devereux interessieren. Einige der Texte nehmen die eigene empirische Arbeit zum Ausgangspunkt und stellen von eigenen Problemen ausgehend den Bezug zu Devereux her. In diesen Texten entsteht der Eindruck, als hätten die Autoren Devereux © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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ganz konkret gebraucht, um unübersehbare Irritationen »erkenntnisproduktiv« zu machen. So berichtet etwas Heizmann (2003) von einem verstörenden Interview in einer Studie über »working poor«, das aus ihrer Sicht förmlich nach einer analytischen Interpretation verlangt habe. Ähnlich beschreibt Eberhard Tietel seine Erfahrung mit einem »gescheiterten« Interview mit einem Betriebsrat, die er ebenfalls mit Hilfe eines psychoanalytischen Blicks erkenntnisproduktiv macht. Er gibt seinem Text den programmatischen Titel »Das Interview als Beziehungsraum« (Tietel, 2000). Zwei weitere Beiträge haben Beziehungsarbeit als empirischen Gegenstand: Silveira, Gualda, Sobral und Garcia (2003) geht es um Subjektivität in der qualitativen Forschung zu »nursing« und Barbara Bräutigam (2000) nutzt Devereux, um zu reflektieren, was genau sie dazu motivierte, Traumatherapeuten in Chile aufzusuchen. Eine dritte Gruppe von Texten lässt sich ebenfalls als eher theoretisierend begreifen, diese Autoren stellen ihre methodologischen Ausführungen in den Kontext konzeptioneller Überlegungen zu einer »qualitativen Psychologie« (Fitzek, 2000; Mey, 2000; Seel, 2000). Insgesamt fällt auf, dass unter den 18 Texten für eine Sozialforschungszeitschrift relativ viele psychologische Autoren sind, zumal wenn man sich den geringen (und in den elf hier interessierenden Jahren noch weiter gesunkenen) Stellenwert vor Augen führt, den qualitative Forschung in der akademischen Psychologie hat.

Lesarten und aktuelle Bezüge Nach diesem Überblick über die unterschiedlichen Lesarten in elf Jahren FQS sollen nun noch drei Autorinnen etwas ausführlicher zu Wort kommen. So lässt etwa der aktuellste der 18 Texte, der Text von Andreas Langenohl (2009) vermuten, dass die hier mit Devereux in Verbindung gebrachten Überlegungen in jüngerer Zeit zunehmend unter dem Schlüsselbegriff »Reflexivität« wieder auftauchen – oder von ihm verdrängt werden. Langenohl geht in seinem Artikel der Frage nach, warum die Debatte um Reflexivität die Ethnomethodologie kaum mehr erwähnt, und stellt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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dabei, fast en passant, eine interessante Verknüpfung zwischen Devereux und Bourdieu her : »Als direkten Vorläufer Bourdieus, auf den dieser sich auch selbst beziehe, nennt Heilbron Georges Devereux und dessen psychoanalytische Studien des Wissenschaftssubjekts. Sowohl Devereux als auch Bourdieu erwähnten die Schwierigkeit, dass uneingestandene bzw. vorreflexive Positionalitäten des Erkenntnissubjekts durch selbiges nur schwer zu durchschauen seien« (Langenohl, 2009, S. 13). Wird hier Devereux’ Gedanke nur in zeitgemäße Worte wie »Wissenschaftssubjekt« und »vorreflexive Positionalitäten« gebracht oder stehen diese Worte auch für etwas inhaltlich Neues? Interessant ist, dass der von Langenohl hier angesprochene Johan Heilbron dann im unmittelbaren Anschluss mit den Worten zitiert wird: »Both insist on the need for a reflexive perspective, on the necessity to uncover basicmechanisms of denial, defence and projection, and both wish to make such an analysis fruitful for epistemological purposes« (Heilbron 1999, S. 303, zit. nach Langenohl, 2009, S. 13). In dieser Formulierung klingt es dann so, als wäre eine »reflexive Perspektive« gleichzusetzen mit der Anerkennung dessen, dass im Forschungsprozess Verleugnung, Abwehr und Projektion eine wesentliche Rolle spielen und dass deren Analyse fruchtbar gemacht werden kann. Dann wäre Devereux’ These tatsächlich in der Forderung nach sozialwissenschaftlicher Reflexivität aufgegangen und es stellte sich mit Recht die Frage, ob man das Original noch »braucht«. Bemerkenswert ist, dass Langenohl in seinem Text eigentlich eine Gegenbewegung verfolgt: Er wirbt dafür, die Ethnomethodologie als wichtige reflexive Tradition nicht zu vergessen und macht dabei ungewollt die Ambivalenz eines solchen Unterfangens deutlich. Denn nach der Lektüre des Textes bleibt der Eindruck, dass die Ethnomethodologie in der Rezeptionsgeschichte tatsächlich zu Unrecht unter den Tisch fiel, es tritt jedoch in den Hintergrund, welche inhaltlichen Argumente dadurch tatsächlich verloren gingen. Doch nun vom vergessenen Garfinkel zurück zum vergessenen Devereux. Am ausführlichsten und differenziertesten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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wird Devereux in dem bereits erwähnten Artikel von Heizmann referiert, die in ihrem Text generell eine dezidiert ethnopsychoanalytische Argumentation verfolgt und sich auch auf die Weiterentwicklung der Ethnopsychoanalyse etwa bei Paul Parin, Mario Erdheim und Maya Nadig bezieht. Dazu passt, dass sie sich der radikalen Lesart anschließt und betont, dass der »Wechsel des Blickpunktes von der befragten zur forschenden Person« nicht nur die Anerkennung eines Einflusses ist, sondern dass damit »eine neue epistemologische Ausgangslage für die Sozialwissenschaften« entstehe (Heizmann, 2003, S. 4, Hv. im Original). Und weiter heißt es bei der Autorin : »Das Hauptinstrument für die Reflexion des Einflusses der Forscherin ist die Berücksichtigung der Gegenübertragung, die Devereux als zentrales Phänomen und entscheidendes Datum jeglicher Sozialwissenschaft betrachtet. Mittels der Gegenübertragung kann Unbewusstes erkenn- und analysierbar werden. […] Gegenübertragung meint die unbewussten emotionalen Reaktionen auf das Gesprächsgegenüber und insbesondere auf dessen Übertragungen, meint die persönliche affektive Verstrickung mit dem Forschungsgegenstand. […] Devereux ging davon aus, dass der Forschungsgegenstand und der Kontakt mit dem Fremden immer auch eine mögliche Konfrontation mit eigenem Verdrängtem beinhaltet und deshalb Ängste auslösen kann, welche sich dann in den wissenschaftlichen Methoden niederschlagen. Als Abwehrreaktion werde viel methodischer und theoretischer Aufwand betrieben, um die Erfahrung der Angst und der Ohnmacht gegenüber dem Material zu bannen und eine Distanz zu sichern« (Heizmann, 2003, S. 6). Im Vergleich zu dieser Darstellung fällt auf, wie abstrakt die meisten der anderen Texte bleiben. Heizmann ist die einzige, die konkret von der Konfrontation mit eigenem Verdrängtem und nicht nur von der Abwehr von Angst, sondern auch von Ohnmacht spricht. Dies ist aus meiner Sicht auch deshalb bemerkenswert, weil in der praktischen Vermittlung von qualitativen Methoden die Angst, von den Befragten nicht das zu bekommen, was man will oder braucht, äußerst relevant ist. Es geht somit in der Forschungspraxis indirekt sehr oft um die Ohnmacht der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Forschenden, die ja in aller Regel auf die Bereitschaft ihres Gegenübers angewiesen sind, Auskunft zu geben. Zwei der 18 FQS-Texte sind von einem Autor, den die meisten qualitativen Forscher und Forscherinnen mit der Methode der Metaphernanalyse in Verbindung bringen dürften. Zeitgemäß heißt einer der Texte von Rudolf Schmitt dementsprechend »Methode und Subjektivität in der systematischen Metaphernanalyse« (Schmitt, 2003). Bemerkenswerterweise ist eine Fußnote von Schmitt die einzige der 22 Stellen, in der eine bestimmte Form der Devereux-Rezeption kritisiert wird: »Devereux (1984) hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Forschungsmethoden auch der Abwehr und Distanzierung von unangenehmen Inhalten dienen können. Der sich auf ihn zuweilen berufende Pauschalverdacht gegenüber Forschungsmethoden wird jedoch der abwehr-behindernden, weil verlangsamenden und entängstigenden Funktion von Forschungsmethoden nicht gerecht« (Schmitt, 2003, S. 17).

Schmitt weist hier sehr zu Recht darauf hin, dass Forschung in der Regel eine Mischung ist: Es gibt den Wunsch, etwas durch langsames, gründliches Hinsehen besser zu verstehen, und zugleich immer auch Angst vor manchen oder vielen Aspekten, die man dann vielleicht doch nicht so genau wissen wollte.

Mut zur Angst als psychoanalytische Tugend für die Sozialforschung Was ist nun aus all dem zu schließen, gibt es ein (Zwischen-)Fazit zu »Angst und Methode«? Ich möchte zum Abschluss an Schmitts Formulierung von der ent-ängstigenden Funktion von Methoden anknüpfen und diese um einen weiteren sozialpsychologischen Gedanken ergänzen. Denn er hat Recht: Sozialwissenschaftliche Methoden dienen nicht per se der Angstabwehr, sie haben sozusagen ein doppeltes Gesicht. Sie eignen sich zwar gut für die Herstellung von Distanz zum Beforschten, sie eignen sich potenziell jedoch auch als Werkzeuge, um langsamer, »handlungsentlastet« und mit weniger Abwehr über eine Frage, eine soziale Praxis © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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oder meist ganz konkret eine Aussage (etwa aus einem Interview) genauer nachzudenken. Mit der Formulierung »ent-ängstigend« konzediert Schmitt, dass Angst und Abwehr zunächst da sind. Im Idealfall ist die Methode dann der Weg, um die Angst anerkennen und damit erkenntnisproduktiv umgehen zu können. Erst durch die Anerkennung von Angst entsteht die Möglichkeit, angstfreier nachzudenken. Anders als Schmitt würde ich das allerdings weniger als eine Funktion von Methoden beschreiben, sondern vielmehr danach fragen, unter welchen Bedingungen ein angstfreierer, genauerer Blick in Forschungsprozessen möglich ist. Sicher spielen die Methoden dafür eine wichtige Rolle, jedoch findet Forschung nicht nur mit bestimmten Methoden, sondern auch in konkreten Institutionen und konkreten Räumen statt, in denen dann der (symbolische) Raum für Angst entstehen kann – oder auch nicht. Es ginge dann um die Wertschätzung für eine bestimmte Forschungshaltung, oder, emotionaler ausgedrückt, um den »Mut zur Angst« (vgl. Haubl, 2011). Und vielleicht liegt darin ja die echte psychoanalytische Tugend, von der kritische Sozialwissenschaften profitieren können.

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Organisierte Individuen – regulierte Emotionen

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Reife Helden? Die Rolle der Führungskräfte im dritten Lebensalter

Im Frühjahr 2011 startet in den deutschen Kinos der Film »Another Year« des Regisseurs Mike Leigh. Der Film beschreibt ein Jahr im Leben eines älteren Ehepaars, das sich der Nöte, Sorgen und Krisen seiner Freunde und Familienmitglieder liebevoll und respektvoll annimmt. Die Frau ist Psychotherapeutin, der Mann arbeitet als Ingenieur, der dem Untergrund Londons Bodenproben entnimmt, beide sind also in gewissem Sinne auf ihre Art »Tiefenbohrer«. Der Zauber des Ehepaars entsteht aus ihrer liebevollen, zuhörenden Art des Umgangs mit den Menschen in ihrer Umgebung, die gleichwohl nie zu nah kommen dürfen und – wenn es die Situation erfordert – durchaus heftig konfrontiert und in die Schranken gewiesen werden. Das alles geschieht im privaten Raum der Familie. Die Orte des Geschehens sind der Garten, der von den beiden gepflegt und bearbeitet wird, der Essenstisch, an dem ein psychischer Raum entsteht für die Öffnung, das Erzählen und Zuhören, Raum für die Emotionen der Gäste, Freunde und Verwandte, deren Leben gerade nicht so harmonisch und glücklich verläuft. Der Film reiht sich ein in eine schon seit geraumer Zeit zu beobachtende Tendenz: Im Mittelpunkt öffentlicher Auseinandersetzungen und kultureller Ausdrucksformen stehen ältere Menschen, einzeln oder wie in diesem Fall als Paar, die zum Kristallisationspunkt neuer Entwicklungen werden oder Halt geben inmitten einer turbulenten und überfordernden Welt. Man könnte sagen, die Helden der Filme seien gereift. Sie gehen als Rollenmodelle schöpferische Verbindungen mit der Jugend ein (wie etwa im Film »Lost in Translation« von Sofia Coppola), sie denken über ihr Leben und den Sinn ihres Lebens nach (wie im © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Film »Up in the Air« mit George Clooney), oder sie übernehmen noch einmal eine aktive Rolle und zeigen im Wettstreit mit Jüngeren ihre Kompetenz, Erfahrung und Schläue. Letzteres war der Hauptfokus in dem schon vor längerer Zeit gezeigten Fernsehmehrteiler »Der große Bellheim« unter der Regie von Dieter Wedel, in dem sich vier ältere Herren zum Kampf gegen das Böse noch einmal zusammentun und zeigen, dass sie auch in ökonomischen Fragen im Alter noch durchaus konkurrenzfähig sind. Ein anderer wichtiger Film in dieser Hinsicht ist »Wolke 9« von Andreas Dresen, in dem es um Liebe und ungebrochene Sexualität im Alter geht. Aber auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wird die Rolle der Älteren neu vermessen: Die heftige Auseinandersetzung um den Bahnhofsneubau in Stuttgart wird in den Medien als ein Aufstand ergrauter Damen und Herren beschrieben und im Subtext ambivalent bis ablehnend bestaunt. Und nur ein älterer Politiker wie Heiner Geißler scheint in der Lage, die Situation zu managen. Ist diese Verknüpfung von Emotionalität und Sorge für »das Gute« eine besondere Qualität Älterer? Und was bedeutet sie für den Bereich von Organisationen, speziell von Unternehmen? Der auffällige Trend zu älteren Vorbildern und »Helden« in Film, Literatur und Politik soll Ausgangspunkt für einige grundsätzliche Überlegungen zu der Frage sein, ob die notwendige neue (Selbst-)Definition der Rolle älterer Führungskräfte in Unternehmen eine Chance zu einer anderen Form der Führung von Organisationen eröffnet, die sich weniger am Konzept der Eroberung, Rettung durch Rationalität orientiert, sondern im Rollenmodell des »reifen Helden« Raum für Emotionalität als Ressource für die persönliche Entwicklung wie auch für eine produktive Neuorientierung des Systems eröffnet. Es geht also um die Frage, ob die spezifische Lebens- und Berufssituation älterer Führungskräfte besonders günstige Voraussetzungen bietet, eine neue Form von Führung zu entwickeln, die stärker durch eine Einbeziehung der Emotionalität charakterisiert ist und damit den Erfordernissen von Organisationen und der Menschen, die in ihnen arbeiten, besser gerecht wird.

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Organisationen – ein emotionaler Ort? Um zu verstehen, wie sich die Vorstellung von Führung in Organisationen verändert hat, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, wie sehr sich die Organisationen und ihre Vorstellungen davon in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben. Von Edgar Schein (1980) stammt die häufig zitierte Beschreibung vier unterschiedlicher Menschenbilder, die das Arbeiten in Organisationen bestimmt haben : Ausgangspunkt ist dabei die Idee des »rational economic man«, die um die Vorstellung des »social man« ergänzt wurde, erweitert um die Figur des »self-actualizing man«, der nach Selbstverwirklichung und Autonomie strebt, Selbstmotivation und Selbstkontrolle bevorzugt und daher eher einen fördernden als einen kontrollierenden Managertyp benötigt. Schein hat diesen nachweisbaren Typen von Menschenbildern die Vorstellung eines »complex man« hinzugefügt. Gemeint ist damit eine Figur, nach der der Mensch im privaten wie im beruflichen Bereich als wandlungs- und lernfähig postuliert wird, das heißt, dass seine Bedürfnisse und Verhaltensweisen an die jeweilige Situation bzw. das System, in dem der Mensch sich bewegt, angepasst werden können. Ein Manager, der diesem Menschen gerecht wird, ist vor allem als guter Diagnostiker gefordert. Natürlich sind diese Beschreibungen normativ, sie orientieren sich an den gesellschaftlichen Erfordernissen, wie Neuberger deutlich macht: »Im Grunde stellt die Rede vom ›komplexen Menschen‹ die Verteidigung eines Menschen dar, der zum gefügigen Produkt seiner Umwelt wurde : Er wird, wie er gebraucht wird !« (Neuberger, 2002, S. 80). Mit diesem Wandel des Menschenbildes als Grundlage der Arbeit in Organisationen verbinden sich auch unterschiedliche Vorstellungen der Bedeutung der Emotionalität in Organisationen. Der »homo oeconomicus« impliziert eine Vorstellung der Organisation als einem rationalen System, in dem Person und Rolle einerseits und rationale und emotionale Bereiche der Persönlichkeit andererseits deutlich voneinander getrennt werden. Organisationen, vor allem wenn es sich um Unternehmen han© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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delt, arbeiten mit der Grundannahme »ökonomischer Rationalität« (Gourg, 2000). Diese Annahme erweist sich natürlich sehr schnell selbst als irrational. Unternehmensprozesse und Strukturen werden beeinflusst durch Emotionen, auch wenn Manager nicht selten mit Vehemenz am Rationalitätsmythos festhalten. Vermutlich verschafft ihnen dieser Irrglaube ein größeres Maß an Sicherheit, die Prozesse mit ihrer Logik erklären und auf diese Weise auch kontrollieren zu können. Armstrong (2004) hat dagegen deutlich gemacht, dass jede Organisation unweigerlich auch ein emotionaler Ort ist. An die Aufgabe, an die Prozesse sind Emotionen gebunden, allein deswegen, weil Organisationen ja nicht naturgegeben, sondern von Menschen erschaffen, geführt und erfolgreich gemacht werden. Ihre Funktionsfähigkeit hängt von Menschen ab, die Wut, Angst, Überraschung, Liebe, Trauer etc. empfinden. Emotionen sind konstitutiv für den Alltag der Organisation. Diese Einsicht ist zwar seit langem vorhanden, ohne dass man allerdings behaupten könnte, dass sie sich im Selbstverständnis von Führung schon durchgesetzt hätte. Wie mit den nicht zu verleugnenden Emotionen umzugehen ist, darüber gibt es durchaus unterschiedliche Vorstellungen. In manchen Fällen werden Emotionen lediglich als eine Art Nebengeräusch verstanden, das in Organisationen unvermeidlich vorkommt und irgendwie bewältigt werden muss. Eine andere gängige Position schließt daran an: Emotionen in Organisationen werden zwar ebenfalls nicht negiert, aber primär als eine Störquelle angesehen. Nun kann man eine Störquelle durchaus unterschiedlich bewerten. Störungen sind nicht zwangsläufig dysfunktional, sie geben oft wichtige Hinweise über den Zustand des Gesamtsystems und über Bereiche, denen man mehr Aufmerksamkeit widmen sollte. In Zeiten rascher Veränderungen hat man nun endlich begonnen, Emotionen eine grundlegendere Bedeutung zuzumessen. Emotionen werden als Quelle einer anderen Form der Intelligenz, als Quelle von schöpferischen Prozessen in Organisationen angesehen. Diesen Aspekt machen sich viele Beratungskonzepte wie etwa das Coaching von Führungskräften zunutze, indem sie die emo© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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tionale Befindlichkeit des Ratsuchenden, aber auch die emotionale Reaktion des Beraters zum Ausgangspunkt weitergehender Analysen und tieferer Einsichten in das Organisationsgeschehen machen. Emotionen werden dabei von zwei Polen aus analysiert: Einerseits geht es um Emotionen als etwas, was einzelnen Personen zugeordnet, gleichsam deren »Besitz« ist. Andererseits hat sich in den vergangenen Jahren neben diesem vertrauten Modell in Deutschland eine zweite, aus dem englischsprachigen Raum stammende Sicht durchgesetzt, die die Organisationsseite der Emotionalität in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellt. Diese Schule, die als »systems psychodynamic approach« oder »Sozioanalyse« (vgl. Sievers, Ohlmeier, Oberhoff u. Beumer, 2003; Sievers, 2008; Bain, 2001; Kinzel, 2002) beschrieben wird, geht davon aus, dass Organisationen eine Art sozialer Bühne für die Inszenierung individueller und organisatorischer Geschichten bzw. Dramen in all ihren emotionalen Ausprägungen darstellen (Sievers, 1993). Die Sozioanalyse beinhaltet eine Erweiterung der Psychoanalyse auf die Realität und die Dynamiken in Organisationen, aus der heraus psychische Phänomene, Prozesse und Verhaltensweisen nicht allein als individuell, sondern vielmehr als sozial induziert zu betrachten sind. In der psychoanalytischen Tradition war es vor allem zunächst Bion (1961), der dieser Tatsache der Emotionalität in Gruppen und Organisationen durch die Behauptung der gleichzeitigen Präsenz der mehr vernunftgesteuerten Arbeitsgruppe auf der einen und der stark emotional gefärbten, vor allem angstgetriebenen, »Grundannahmengruppe« auf der anderen Seite konzeptionell Rechnung getragen hatte. Darüber hinaus waren es vor allem die Untersuchungen von Menzies-Lyth (1974), die eindrucksvoll die Rolle von Emotionen, insbesondere der Emotion der Angst in Institutionen verständlich gemacht haben. Emotionen sind darüber hinaus auch eine Ressource im Wettbewerb. Haubl stellt fest: »An die Stelle ungezügelter Triebhaftigkeit tritt das Bild von Emotionalität als einem leibhaftigen Rohstoff, den es profitabel zu bewirtschaften lohnt« (Haubl, 2008, S. 18). Aus dieser Perspektive kommt es auf intelligente Strategien an, Emotionen für ein effektives Funktionieren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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einer Organisation und den Erfolg bzw. zur Steigerung des ökonomischen Profits verfügbar zu machen.

Führung, Helden, Umgang mit Emotionen Wie Long (2010) zu Recht anmerkt, ist Führung eine der am intensivsten erforschten und gleichzeitig mit den vielfältigsten Projektionen und Emotionen aufgeladene soziale Rolle. Das mag zunächst damit zu tun haben, dass viele die mit der Führungsrolle assoziierte Macht und Attraktivität ersehnen. »Macht macht attraktiv« – Bücher lassen sich füllen mit Geschichten von Wünschen, Leidenschaften, Fantasien von Sexualität und Aggressivität, die sich in politischen, gesellschaftlichen und sozialen Führungsrollen vereinigen. Dies passt zu der Einschätzung, dass es unbewusste, mächtige Fantasien über Führung und Führungspersonen gibt, die nicht nur aus unserer individuellen, sondern auch aus der kollektiven Geschichte zu verstehen sind und die in Beziehung zu unseren verinnerlichten Vorstellungen der Organisationen und der Gesellschaft, in der wir leben, stehen. Man kann für diese inneren Vorstellungen den Begriff der »leadership-in-the-mind« verwenden, ein Konstrukt, das an die im englischsprachigen Raum entwickelte Vorstellung einer »organization-in-the-mind« (Armstrong, 1991) anschließt. Damit ist ein komplexes, (vor- und un-)bewusstes inneres Modell gemeint, ein Gemisch von Idealen und Bildern hinsichtlich der Führungsrolle, aber auch unbewussten individuellen sowie kollektiven Fantasien über Führung und die »Gegenübertragung der Organisation«, die unser Erleben und Handeln und eben auch unsere Emotionen steuert. In den vergangenen Jahrzehnten hat im Unternehmensbereich dabei die Vorstellung der Führungskraft als Held eine unübersehbare Rolle gespielt. Führungskräfte nach dem Heldentypus muss man sich als Menschen vorstellen, die vor allem keine Angst zeigen. Diese scheinbare Angstfreiheit gilt als eine als Tugend empfundene Haltung, die das Vertrauen nach sich zieht, in schwierigen Situationen mit den Problemen, Bedrohungen und Anforderungen umgehen zu können und der Or© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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ganisation und ihren Mitarbeitern das Überleben zu sichern. Helden haben ihre große Zeit in Phasen gesellschaftlicher oder organisationaler Umwälzungen und Krisen. Die in Phasen der Unsicherheit auftretende Angst weckt bei den Menschen ein Bedürfnis nach Personen und Führungskräften, die durch außergewöhnliche Taten und Fähigkeiten dazu verhelfen, die Krise zu überwinden. Hirschhorn (1997) ergänzt, dass es zum Wesen des Helden gehört, dass er nicht nur seine Angst überwinden kann, sondern dass er vor allem in der Lage ist, temporär aus seiner angestammten Rolle und den damit einhergehenden Regeln und Begrenzungen auszusteigen, um etwas Neues zu riskieren. Allerdings ist diese Idee von Führung nicht automatisch mit der expliziten Einbeziehung der Emotionalität verknüpft, im Gegenteil, es scheint so, als ob Heldentum eher in der Überwindung der Emotionalität ihren Ausdruck findet. Das spiegelt sich in der Literatur zur (Personal-)Führung: Auch in der sechsten Auflage des Handbuchs für erfolgreiches Management (Rosenstiel, Regnet u. Domsch, 2009) taucht zum Thema »Führung von Mitarbeitern« kein einziges Mal das Wort »Emotion« in den Titeln der einzelnen Aufsätze auf. Emotionen verstecken sich allenfalls unter der Thematik »Kommunikation«. Inzwischen wird jedoch diese rationale, coole Heldenkonzeption der Führungsrolle in Frage gestellt. (Hier gibt es wieder ein Indiz aus dem Filmbereich. Der jüngste, von Daniel Craig verkörperte James Bond (Action-Held!) darf zum ersten Mal Gefühle zeigen. Das ist von der Fan- und Filmgemeinde sofort als eine kleine Revolution verbucht worden.) Es kommt zu einer Rehabilitation der Emotionen, denn die neue Arbeits- und Unternehmenswelt fordert mehr als rationale Planung und Kontrolle. Der Turbulenz der Umwelten wirtschaftlichen Arbeitens kann nicht länger allein mit Vernunft begegnet werden. Das stellt neue Anforderungen an Führungskräfte. So findet man in der Ankündigung zu einer Tagung mit dem Thema »Humanomics – Emotion & Arbeitswelt« im Jahre 2009 Workshop-Titel wie »Die neue Humanökonomie – Warum der emotionale Faktor nach der ›Kapitalismuskrise‹ zum zentralen Wirtschaftsfaktor wird« oder »Emotionen im Business – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Wie ein souveräner Umgang Mehrwert schafft« oder »Mehr als Fakten-Glück als Unterrichtsfach«. Gleichwohl bleibt die Skepsis, ob man tatsächlich das alte Bild des souveränen Helden über Bord werfen kann: »Führungskraft mit Emotionen – geht das?« – so findet die weiterhin vorhandene Skepsis im Titel eines weiteren Vortrags ihren Ausdruck. Emotionen spielen nun in zwei Richtungen eine Rolle: Zum einen bedarf es des Eingestehens der eigenen Emotionalität der Führungskräfte. Traditionell ist es eine durchaus übliche Denkfigur, dass Führungskräfte außer ihren aggressiven Seiten eher wenige Emotionen zeigen und auch zu haben scheinen. Haubl (2005) weist darauf hin, dass in der Führungsforschung insbesondere die Angst zu den unerwünschten und hinderlichen Emotionen gehört. Nur Menschen, die keine Angst haben, oder die sie zumindest für sich behalten können, taugen demnach zur Führungskraft. Eine solche Haltung behindert Leitungskräfte häufig auch dabei, sich zur Unterstützung Beratung zu holen. Noch immer gelten Führungskräfte, die gecoacht werden, in Unternehmen als »Schwächlinge, Leute mit Problemen«, deren Führungskompetenz zumindest angezweifelt werden kann. Zum anderen ist die emotionale Situation höherer Führungskräfte in ganz besonderem Maße als zunehmend prekär einzustufen. Smilansky (2008) verweist auf Statistiken, nach denen auf der obersten Führungsebene der CEOs in den USA die durchschnittliche Verweildauer im Unternehmen maximal drei bis fünf Jahre beträgt, eine Tatsache, die zu einer enormen Unsicherheit, zu Angst und den körperlichen Auswirkungen dieser Belastungen führt. Kein Wunder, dass wir gerade bei Führungskräften ein hohes Ausmaß an psychischen Störungen oder zumindest Bedrohungen finden. Tiefere Einsichten in die Psyche und die Emotionalität von Führungskräften haben die Schriften von Kets de Vries (1998) und Neuberger und Kompa (1987) vermittelt. Obwohl eher einem individualistischen und tendenziell psychopathologischen Modell der Führungspersönlichkeit (»Die Neurosen des Chefs«, »Character and Leadership« etc.) verpflichtet, wird ein erster Blick auf die oft dramatische Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden Emotionalität eröffnet. Unübersehbar wird © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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deutlich, welche Auswirkungen eine Verdrängung der Emotionen auf die Gestaltung des Unternehmensalltags bis hin in den Aufbau scheinbar rational begründeter Strukturen haben kann. Dieser Einsicht tragen große Unternehmen wie etwa die Telekom oder auch die Deutsche Bank Rechnung, indem sie freiwillig eine höhere Frauenquote in ihren Führungsetagen anstreben. Sie folgen der Einsicht, dass die Krisen und anstehenden Zukunftsaufgaben nicht mehr allein heldenhaft zu lösen sind, zumindest nicht durch den klassischen Heldentyp. Sie setzen auf Frauen im Management und versuchen offensichtlich, nicht nur unangenehmen und imageschädigenden politischen Diskussionen über die Gleichberechtigung von Frauen im Unternehmen den Boden zu entziehen, sondern sie zielen auf die angeblich besonderen Kompetenzen von Frauen, die, wie man annimmt, den Umgang mit Emotionalität und einem bestimmten, eher kooperativen Führungsstil besser beherrschen. Wie wir sehen, haben, vermutlich unter dem Eindruck der Finanzkrise, die Zweifel daran zugenommen, ob das klassische Heldenbild des Managers wirklich tragfähig ist. Der Typ der forschen, idealisierten Führungskraft nach dem Bild des Helden hat Risse bekommen. Aber man sollte sich nicht zu früh freuen. Von dem an vielen Stellen propagierten neuen Führungskonzept, das die Einbeziehung der Emotionalität im Unternehmen als selbstverständlich und weiterführend ansieht, ist in manchen Führungskräfteprogrammen wenig zu sehen. So naheliegend es erscheinen mag, dass in einer modernen Organisation der Zusammenhang zwischen Führung und Emotionalität gesehen und zum Gegenstand von Rollenbild, Reflexion und Training gemacht wird, so überraschend ist es, dass die Realität deutlich anders aussieht. So gehört etwa der Umgang mit Gefühlen (und damit sind nur diejenigen der Mitarbeiter gemeint) im Managementmodell von Malik (2006) zur Kategorie »Systematische Müllabfuhr«. Neben der darin ausgesprochenen Entwertung der Emotionen, die im Unternehmen entstehen, feiert der Rationalitätsmythos in Form der Behauptung, dass es nur auf das erlernbare, richtige Managen als Beruf ankomme, fröhliche Urständ.

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Reife(re) Helden Naht die Rettung in diesem Fall in Form erfahrener, älterer Führungspersönlichkeiten? Zumindest wird dies suggeriert, wenn man sich den bereits erwähnten Fernsehmehrteiler »Der große Bellheim« in Erinnerung ruft. Dieser Film kann rückblickend als Auftakt einer immer größer werdenden Zahl von Filmen angesehen werden, in denen ältere (vor allem männliche) Personen gesellschaftlich und beruflich wieder Verantwortung übernehmen, anstatt sich aus gesellschaftlichen Rollen zurückzuziehen. Was ist der Grund für diese veränderte Rolle älterer Führungskräfte und Mitarbeiter und welche Chance liegt darin für Unternehmen und andere Organisationen? Seit geraumer Zeit spielt die Diskussion um den sogenannten »demografischen Wandel« in der politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung eine immer größere Rolle. Die Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung führt dazu, dass Menschen, die sich in der Lebensphase Ende 40 oder Anfang 50 befinden, deutlich mehr gesunde Jahre vor sich haben als etwa 20 Jahre zuvor. So ist es üblich geworden, inzwischen von vier, statt von drei Lebensaltern auszugehen. Das dritte Lebensalter, um das es in unserem Zusammenhang geht, wird ergänzt durch das Hochalter, das erst ab ca. 75 anzusiedeln ist. Der demografische Wandel hat enorme Folgen: Dabei sind auf der einen Seite Fragen, die eher die individuelle Seite dieser Entwicklung, wie etwa die längere Lebenserwartung betonen, von gesamtgesellschaftlichen Fragen einer »immer älter werdenden« Bevölkerung zu unterscheiden. Der demografische Wandel hinterlässt seine Spuren auch in der Arbeitswelt und den individuellen Berufsund Lebensplanungen. Faktisch stehen dabei Zukunftserfordernisse und aktuelle Realität im krassen Widerspruch zueinander. Danach hat in den letzten Jahrzehnten der Ausstieg aus der Arbeit immer früher begonnen, so dass im Jahre 2010 noch immer weniger als 35 % der Menschen im Alter von 65 Jahren, also dem gesetzlich vorgesehenen Pensions- bzw. Rentenalter, faktisch beruflich tätig sind. Aus der Praxis der Führungskräfteentwicklung ist bekannt, dass diese Strategie insbesondere Führungskräfte im Alter jenseits von 50 Jahren in eine unbe© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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friedigende und ausweglose Situation bringt. Für diese Personen gibt es weder ausreichend Aufstiegsmöglichkeiten noch angemessene Fortbildungsprogramme. Diese Schicht von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen wird im Gegensatz eher als Dispositionsmasse in Restrukturierungsmaßnahmen genutzt. Die berufliche Lebensphase zwischen 50 und 65 Jahren wird in den Unternehmen als Zeit der Vorbereitung auf den Ruhestand, als Ablösungsphase gesehen und dementsprechend allenfalls durch Programme begleitet, die sich dem Abschied aus dem beruflichen Leben verschrieben haben. So spricht etwa das renommierte Unternehmensberatungsinstitut Malik aus St. Gallen von dieser Phase als einer Zeit der »Maintenance« bzw. ab Mitte der 1950er-Jahre von der beginnenden Zeit des »Disengagements«. Damit wird ein bestimmtes gesellschaftliches Leitbild für diese Lebensphase deutlich, das sich an latenten Mythen und Vorstellungen über diesen Lebensabschnitt orientiert. Auch aus unternehmerischem Interesse bedürfte es allerdings eines konsequenten Umdenkens. Aus der Perspektive von Unternehmen und anderen Organisationen ergibt sich aus dem demografischen Wandel und dem ab 2015 einsetzenden Schrumpfungsprozesses auf dem Arbeitsmarkt die Notwendigkeit der Mobilisierung von Beschäftigungsreserven. Neben der Förderung der Berufstätigkeit von Frauen und der gezielten Zuwanderung stellen die älteren Arbeitnehmer ein wichtiges Reservoir dar, um die Produktivität zu erhöhen. Hindernis für eine solche Entwicklung sind dabei vor allem tief verankerte Altersleitbilder, besonders in der noch immer wirksamen »Disengagementtheorie« (vgl. Cumming u. Henry, 1961). Dieses Konzept beschreibt das Alter vorwiegend aus der Perspektive eines (Rollen-)Verlusts, der im Wesentlichen durch das Ausscheiden aus der Berufsrolle bedingt ist. Diese Vorstellung geht einher mit einer Defizittheorie des Alters, wie sie etwa in einer aktuellen Studie der Commerzbank aus dem Jahre 2009 deutlich wird (Commerzbank, 2009). Bereits ältere Forschungsergebnisse zeichnen jedoch ein anderes Bild. So weisen Heuft, Kruse und Radebold (2000) darauf hin, dass es zwar im Alter eine deutlich erhöhte Verletzlichkeit des Organismus gibt, dass aber gleichzeitig bestimmte soziale und fachliche Kompetenzen in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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dieser Lebensphase eher zunehmen. Solche mit dem Begriff der Daseinskompetenzen umschriebenen Fähigkeiten beinhalten dabei ein bestimmtes Lebenswissen, eine größere Erfahrung und auch ein strategisches Wissen, das dem jüngerer Menschen deutlich überlegen ist. Dies schlägt sich in ganz spezifischen fachlichen Kompetenzen im Beruf nieder. Aus sozialpsychologischer Perspektive ist das von Erikson (1973) entwickelte Modell der Lebensphasen, in denen verschiedene inhaltlich definierte Aufgaben bzw. Konflikte gelöst werden müssen, von besonderer Bedeutung. Im späteren Lebensalter geht es in vielen Konzepten häufig um die Verarbeitung von Verlusten. Im Unterschied dazu hat Erikson den Versuch unternommen, auch dem höheren Alter noch Entwicklungsaufgaben zuzuordnen. In Lebenslaufkonzepten gilt die zuerst von Erikson konzeptualisierte »Generativität« als Leitkategorie des (höheren) Erwachsenenalters. Mit Generativität wird eine Haltung beschrieben, die durch ein Interesse gekennzeichnet ist, »die nächste Generation zu begründen und zu führen« (Erikson, 1973, S. 141). Der niederländische Autor Bernard Lievegoed (1979) hat die im Alter zwischen 50 und 60 Jahren zum Teil stürmisch und kritisch verlaufende Phase als den Zeitpunkt definiert, an dem es sich entscheidet, ob Menschen im beruflichen und privaten Bereich zur »Eminent Leadership«, fähig sind, einer inneren Haltung, die dem Handeln, sei es als Führungskraft, als Unternehmer oder als selbständiger Berater, eine größere Tiefe, Sinnhaftigkeit, Verantwortung und auch Weisheit verleiht.

Umrisse einer reifen Form der Führung Welche Auswirkungen kann diese Veränderung auf ein anderes Verständnis von Führung haben und welche Rolle spielt dabei die Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden Emotionalität? Brauchen wir eine andere Form des »Heldentums«? Klaus Doppler, ein Urgestein der Organisationsentwicklung, hat einen radikalen Wandel im Führungsverständnis gefordert. »Über Helden und Weise« (Doppler, 2009) betitelt er sein Plä© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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doyer für ein neues Führungsverständnis im Kontext unkalkulierbarer Märkte, rasch wechselnder Technologien und nicht vorhersehbarer ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen. »Während der Held darauf drängt, sichtbar aktiv zu werden, sich als Retter in Szene zu setzen, um dadurch den Stoff für spätere Heldengeschichten zu erzeugen, zeichnet sich der Weise […] durch ein spezielles Verständnis von Führung aus, nämlich als zurückhaltende einfühlende, abwägende und flexible Steuerungsleistung« (Doppler, 2009, S. 6). Leitbild für diese Vorstellung von Führung ist also der »Weise«. Nicht allein der Begriff des Weisen, sondern auch die Charakterisierung dieser Rolle lassen einen Zusammenhang mit einem anderen, eher reiferen Alter vermuten, als wir es normalerweise mit jugendlichen Helden assoziieren. Nur einige Aspekte einer solchen Haltung seien genannt, sie alle bedürften im Kontext von Führung einer weiteren Überprüfung. Aus psychodynamischer Sicht ergänzen sie ein Bild, wie es unter dem Begriff der postheroischen Führung in den letzten Jahren in den Vordergrund getreten ist (vgl. Baecker, 1994).

Respekt und Fairness Im Rahmen einer Studie, die das Sigmund-Freud-Institut gemeinsam mit der Technischen Universität Chemnitz im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Supervision im Jahre 2008 durchgeführt hat, wurde deutlich, dass Mitarbeiter/-innen angesichts der zum Teil als dramatisch empfundenen Veränderungen im Leben der Organisationen vor allem eines von den Führungskräften erwarten: Respekt. Respekt ist ein Begriff, der einen engen Zusammenhang zu anderen Begriffen wie Anerkennung, Toleranz, Akzeptanz aufweist. Respekt kann in zwei Formen unterschieden werden, nämlich in anerkennenden und bewertenden Respekt. Mit dem ersten ist eher eine bedingungslose Haltung in Beziehungen gemeint, das heißt eine Qualität, die von beiden Seiten ganz unabhängig von den Ergebnissen der Arbeit und den Erfahrungen im Prozess der Zusammenarbeit in die Beziehung eingebracht wird. Das zweite Konzept von Respekt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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ist das des bewertenden Respekts, das heißt eines Respekts, der erst im Zuge einer Kooperation bzw. einer Beziehung entsteht. Respekt ist also eine Beziehungsqualität, die eine ehrliche und offene Auseinandersetzung und einen akzeptierenden Umgang mit den Anderen erst möglich macht.

Containment »Containment« ist ein Konzept, das auf Bion (1970) zurückgeht. Es bezieht sich auf den weiteren Begriff der »haltenden Umgebung« und die Fähigkeit der Eltern, insbesondere der Mutter, schwierige und beängstigende Gefühle oder Fantasien in einer Form, stellvertretend für das Kind, (aus) zu halten, so dass sie Schritt für Schritt verarbeitet und integriert werden können. Diese Idee eines Containments, das vor allem dabei hilft, die durch die Aufgabe und Struktur der Organisation auftretenden Ängste so zu managen, dass sie der Arbeit nicht schaden, sondern eher nutzen können, ist ja schon Bestandteil der von Menzies-Lyth beschriebenen Angstabwehrsysteme bzw. -funktionen von Organisationen. Hirschhorn und Gilmore (1993) haben aufgezeigt, wie Containment in modernen Organisationen, die durch sehr offene und flexible Grenzen gekennzeichnet sind, zur wichtigsten Fähigkeit von Führungskräften wird. Wo früher Kontrolle von Grenzen, Aufgaben und Strukturen nötig war, bedarf es jetzt der Fähigkeit, durch Containment eine haltende Umgebung zu erschaffen. Weitgehend besteht Einigkeit darüber, dass das Bedürfnis nach Bindung und Sicherheit gesellschaftlich zugenommen hat und die Veränderungen der Organisationen bei den Menschen ein tiefes Gefühl der Verletzlichkeit und Unsicherheit geschaffen haben (vgl. Dornes, 2010).

Generativität Der Begriff der Generativität geht wie bereits beschrieben auf Erikson zurück. Mit Generativität wird eine Haltung beschrieben, die durch ein Interesse an der folgenden Generation und ihrem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Überleben gekennzeichnet ist. Diese Orientierung hat weit reichende Konsequenzen, betont sie doch im Kontext von Organisationen die Notwendigkeit, Führung als gemeinsame Funktion zu begreifen, das heißt in der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen generationsabhängigen Sichtweisen und Emotionen.

Transformational Leadership Führungskräfte bedürfen eines Zugangs zu ihrer inneren Welt und zur inneren Welt der Organisation, für die sie Verantwortung tragen. In besonderem Maße brauchen sie einen Zugang zu den Ängsten, die in Organisationen in Transformationsprozessen und strukturellen Unsicherheiten zwangsläufig auftauchen. Gleichzeitig können sie dadurch besonders wirksam werden, dass sie diese innere Welt für die Entwicklung der Organisation verfügbar machen. Volkan (1999) hat in diesem Sinne von »transformativen Persönlichkeiten« gesprochen.

Das Paar als Held Das Leben einer Führungskraft ist zunehmend anstrengend geworden im Sinne einer fast unmöglichen Aufgabe und Herausforderung. Führungskräfte sind zunehmend auf sich gestellt und gleichzeitig wachsen die Anforderungen seitens der Shareholder und der Mitarbeiter/-innen. Dies ist einer der Gründe für die rapide zunehmende Inanspruchnahme von Coaching. Bell und Huffington (2007) haben darauf hingewiesen, dass man die Beziehung zwischen Führungskraft und Coach auch als eine Form der Führung durch ein Paar sehen kann, insofern als es sich ja um eine schöpferisch gedachte Partnerschaft handelt. Die Paarfantasie gehört nach Bions Vorstellungen von der emotional bestimmten »Grundannahmengruppe« zu den stabilisierenden Abwehr- und Bewältigungsmechanismen (Bion, 1961). Paarbildung innerhalb einer Organisation beinhaltet den Wunsch, dass zwei ausgewählte Mitglieder der Gruppe die anderen von ihren Ängsten entlasten und damit eine aufgabenorientierte Arbeit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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möglich machen. Dieser Gedanke führt eine Forderung weiter, wie sie Bolden und Gosling (2006) aufgestellt haben, Führung und Führungskompetenz weniger als rein individuelle Leistung zu sehen, sondern mehr die soziale Dimension in den Vordergrund zu stellen. Führung in postmodernen Organisationen lässt sich nicht mehr allein individuell verstehen, geschweige denn gestalten, sie ist eine kollektive Aufgabe und Funktion.

Zum Schluss Die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit, die die Auseinandersetzung mit der inneren Welt und der eigenen Emotionalität einschließt, ist ein fortdauernder Prozess. In besonderer und vor allem bewusster Ausprägung geschieht dies in Phasen von Brüchen, lebensgeschichtlichen Übergängen und Diskontinuitäten. Ein solcher Übergang ist die berufliche Phase, in die Menschen etwa ab dem 50. Lebensjahr eintreten. In dem Maße, wie es älteren Führungskräften gelingt, diese Transformationsphase aktiv und offensiv zu nutzen und ihr nicht auszuweichen, schafft diese Auseinandersetzung vermutlich die Chance, die Führungsrolle in einer Art zu gestalten, wie sie nur in diesem Lebensalter möglich ist.

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Tief verbunden Das Ringen um Generativität und Selbstfürsorge im Generationenwechsel in Familienunternehmen

»Du darfst jetzt nicht Pleite machen.« Diese Worte richtet Alfred Neven DuMont vor zahlreichen hochrangigen Gästen an seinen Sohn Konstantin anlässlich einer Rede auf dessen Geburtstagsfeier. Er bringt damit seine Sorge zum Ausdruck, sein Sohn eigne sich nicht wie von ihm erhofft dazu, das traditionsreiche familieneigene Medienunternehmen fortzuführen, in dessen Vorstand er zu diesem Zeitpunkt noch für Kommunikation und Strategie zuständig ist (FAZ am 24. 11. 2010). Für den Vater geht es um die Fortführung seines Lebenswerks, schließlich hat er die Mediengruppe aufgebaut und lange Zeit erfolgreich geführt. In seinem Sohn würde er nun gerne ein strahlendes Spiegelbild seiner selbst sehen, ohne sich jedoch von ihm übertrumpft fühlen zu müssen. Damit stecken Väter ihren Söhnen einen engen Korridor : Scheitern sie als Nachfolger, müssen sie mit der Enttäuschung ihres Vaters rechnen, sind sie erfolgreicher als sie, setzen sie sich dem Verdacht aus, zu risikoreich und nicht im Sinne des Vaters zu agieren und dadurch den Fortbestand des Unternehmens zu gefährden. Das Familienunternehmen im Sinne des Vaters zu führen, bedeutet demnach weit mehr, als es erfolgreich zu führen. Es geht um das Bewahren von Traditionen, die der Juniorgeneration nicht in jedem Fall als sinnvoll erscheinen mögen, und es geht um das Anknüpfen an den Lebensentwurf der Eltern, der den eigenen Vorstellungen von einer ausgewogenen Balance von unternehmerischem Engagement und Zeit für Privatleben entsprechen kann, aber nicht muss. Auch der Umgang mit Geld kann zu einem zentralen Thema werden: So brüstet sich beispielsweise Ingvar Kamprad, der Gründer von IKEA damit, sehr sparsam zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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leben; eine Linie, die sein ältester Sohn Peter fortführt, wenn er betont, nur die Filialen von IKEA zu besuchen, die sich mit preiswerten Flugtickets erreichen lassen (manager magazin, 2011). Um als Nachfolger im Familienunternehmen in Frage zu kommen, sind gewisse Anpassungsleistungen unabdingbar, womit ambivalente Gefühle verbunden sind: In die Fußstapfen der Seniorgeneration zu treten, ihr Lebenswerk fortzuführen und auf diese Weise ein Leben in Wohlstand führen zu können, ist ohne Zweifel attraktiv. Rechtfertigen all diese Vorzüge jedoch den Verzicht auf einen großen Teil der Selbstbestimmung, beispielsweise in Bezug auf die Berufswahl oder die Gestaltung des Nachfolgeprozesses, der oftmals von der Seniorgeneration dominiert wird? Was tun, wenn die übergebende Generation aufgrund ambivalenter Gefühle den Nachfolgeprozess nur halbherzig betreibt und Schritte meidet, die einen Generationenwechsel besiegeln könnten (Daser u. Haubl, 2008)? So sehr die übergebende und die übernehmende Generation voneinander abhängen, wenn sie an einem gelungenen Generationenwechsel interessiert sind, so stark und oftmals destruktiv sind die Emotionen, die in einem Nachfolgeprozess zu Tage treten können, wie der »Stern« (2010) in dem Beitrag »Zank und Gloria« über prominente Unternehmerfamilien berichtet. Es hat den Anschein, als würden im Nachfolgeprozess Emotionen freigelegt, die in ihrer Intensität und Destruktivität alle Beteiligten nicht nur überraschen, sondern zum Teil auch überfordern. Werden Dramen in Unternehmerfamilien öffentlich, so ist die Versuchung groß, sie als spektakuläre Einzelfälle abzutun und das (mögliche) Scheitern des Generationenwechsels den als unnachgiebig erscheinenden Akteuren zuzuschreiben. Eine genauere Betrachtung von Nachfolgeprozessen in Familienunternehmen offenbart jedoch, dass die Konstellation »Unternehmerfamilie« mit spezifischen Risiken und Schwierigkeiten behaftet ist, denen sich Familien ohne Unternehmen nicht stellen müssen (Haubl u. Daser, 2006). Im Fokus des Beitrags soll nun die Frage stehen, wie im Rahmen eines Generationenwechsels in Familienunternehmen ein fürsorglicher Umgang der Generationen miteinander und der Nachfolger und Nachfolgerinnen mit sich selbst möglich sein kann. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

Tief verbunden – Selbstfürsorge in Familienunternehmen

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Das Forschungsprojekt »Familiendynamik in Familienunternehmen: Warum sollten Töchter nicht erste Wahl sein?« Bevor näher auf die Fragen der Generativität und der Selbstfürsorge in Unternehmerfamilien eingegangen wird, soll zum besseren Verständnis der Ausführungen das Forschungsprojekt vorgestellt werden, auf dem sie im Wesentlichen beruhen. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurde das Projekt »Familiendynamik in Familienunternehmen: Warum sollten Töchter nicht erste Wahl sein?« (Haubl u. Daser, 2006) in Kooperation der Universität Frankfurt mit dem Sigmund-Freud-Institut durchgeführt. Im Fokus des Projekts stand die Frage, ob und wenn ja, wie, sich diejenigen Töchter, denen es gelingt, ihren Anspruch auf Nachfolge im Familienunternehmen erfolgreich umzusetzen, von denjenigen unterscheiden, die an der Umsetzung ihres Anspruchs scheitern. Zu diesem Zweck wurden in über 50 problemzentrierten biografischen Tiefeninterviews Frauen im Alter zwischen Mitte 20 und Ende 50 befragt, deren Väter kleine bis mittlere Familienunternehmen besitzen, in denen der Generationenwechsel geplant oder bereits vollzogen ist. Ein wichtiges Ergebnis des Projekts ist, dass sich weniger die Töchter, als vielmehr die Unternehmerfamilien voneinander unterscheiden: Töchter, die als erste Wahl die Nachfolge antreten, sind in Familien aufgewachsen, in denen Wert auf Chancen- und Leistungsgerechtigkeit gelegt wird, ohne das Geschlecht zum Leistungskriterium zu erheben. Daran wird deutlich, dass ein Großteil der Unternehmerfamilien im Vergleich zu anderen Familien traditioneller ausgerichtet und von dynastischen Denkweisen geprägt ist. Dazu gehört auch, dass annähernd alle Unternehmer und Unternehmerinnen den Wunsch haben, das eigene Unternehmen familienintern zu übergeben, was jedoch nur in weniger als 50 % der Fälle gelingt (Wallau, 2007). Ein Großteil der Unternehmen wird von der Konkurrenz übernommen oder von Mitarbeitern weitergeführt. Ein nicht geringer Teil der Familienunternehmen überlebt einen Generationenwechsel nicht, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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was oftmals weniger auf fehlende Marktchancen des Unternehmens zurückzuführen ist. Vielmehr hängt das Scheitern des Generationenwechsels mit verdeckten oder offenen Konflikten in der Unternehmerfamilie zusammen, die eine erfolgreiche Übergabe des Unternehmens an die nächste Generation erschweren (Haubl u. Daser, 2006 ; Sies, 2003). Dennoch wird das Thema Familiendynamik in Familienunternehmen in der Forschung und in der Nachfolgeberatung im Vergleich mit wirtschaftlichen Aspekten bislang vernachlässigt. Im Zusammenhang mit der Frage, weshalb nach wie vor nur etwa 20 % der Familienunternehmen an Töchter übergeben werden (Wallau, 2007), rückt die Unternehmerfamilie jedoch zwangsläufig in den Blick. Denn, so ein Ergebnis der Studie, Frauen, die ihren Anspruch auf Nachfolge im Familienunternehmen nicht durchsetzen können, sind nicht weniger gut qualifiziert als ihre Brüder. Daher liegt die These nahe, dass in den Unternehmerfamilien Mechanismen existieren, die eine Nachfolge durch Töchter hintertreiben (Haubl u. Daser, 2006). Um die Ursachen der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Unternehmensnachfolge zu eruieren, haben wir in unserem Forschungsprojekt den Blickwinkel der nachfolgewilligen Töchter eingenommen, um zu untersuchen, wie es um ihre Chancen steht, gegen männliche Konkurrenz zu bestehen und die Nachfolge im Familienunternehmen anzutreten. Wie viele der von uns befragten Töchter berichten, haben sie schon früh die emotionale Bindung ihrer Eltern an das Familienunternehmen gespürt, das als wichtiges Gesprächsthema am Mittagstisch immer Teil der Familie ist. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als in irgendeiner Form mit dem Unternehmen in Beziehung zu treten. Sie können mit dem Unternehmen um die Aufmerksamkeit der Eltern rivalisieren oder, wenn es ihnen gelingt, das Unternehmen positiv zu besetzen, es als Möglichkeit nutzen, mit den Eltern in Kontakt zu treten. Zudem ergibt sich für sie die Chance, in eine ökonomische Erfolgsgeschichte einzusteigen, die, wie bereits angedeutet, allerdings oftmals mit einem Verlust an beruflicher Wahlfreiheit verbunden ist. Schließlich müssen die eigene berufliche Entwicklung an den betrieblichen Erfordernissen ausgerichtet sowie eigene Wünsche und Nei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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gungen, die nicht zum Unternehmen passen, hinten angestellt werden (Haubl u. Daser, 2006). Der Lebensweg von Kindern, die in Unternehmerfamilien aufwachsen, scheint bereits vor der Geburt vorgezeichnet zu sein. Das mag zum Teil aus den Vorstellungen, Wünschen und Hoffnungen der Eltern resultieren, gemeinsam nicht nur ein Kind, sondern den Nachfolger des Familienunternehmens zu zeugen. Eltern, die mehr oder weniger bewusst die Geburt eines Kindes mit der Hoffnung auf einen Nachfolger verbinden, begegnen ihrem Kind nicht nur fürsorglich, sondern sie erwarten bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten: Das Kind soll der Gründerfigur, besser gesagt dem Idealbild des (meist männlichen) Gründers, ähneln. Folglich fühlen sich Kinder, die in Unternehmerfamilien aufwachsen, bereits in jungen Jahren mit einem Leistungsprinzip konfrontiert, das der Logik des Unternehmens entspricht und sie der Gefahr des Scheiterns aussetzt. Eltern werden dann von ihren Kindern eher als fordernd denn als fürsorglich erlebt, was für die Entwicklung eines ausgeprägten Selbstwertgefühls und einer empathischen Haltung eher hemmend ist. Im Idealfall sind sich Unternehmerinnen und Unternehmer der Gefahr bewusst, ihre Kinder mit zu hohen Erwartungen zu überfordern und damit selbst ungewollt einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich ihre Kinder nicht zu geeigneten Nachfolgern entwickeln. In diesem Bewusstsein bieten sie ihren Kindern einen Rahmen, in dem sie sich sowohl persönlich als auch beruflich frei entfalten können. Sie geben ihnen das Gefühl, ihre Eigenschaften und Fähigkeiten zunächst unabhängig von den Erfordernissen des Familienunternehmens oder ihres Geschlechts zu schätzen, ohne ihnen jedoch den Zugang zum Unternehmen zu verwehren. Wertschätzende Eltern, die ihre Kinder ermutigen, sich (bewältigbaren) Bewährungsproben zu stellen, helfen ihnen, ein stabiles Selbstbewusstsein zu entwickeln, auf dessen Basis sie sich später im Familienunternehmen profilieren können. Interessieren sich ihre Kinder für das Unternehmen, so unterstützen sie das, indem sie ihnen Einblick und Orientierung im Unternehmen bieten, ohne sie dabei zu sehr unter den Druck zu setzen, sie mögen sich auf die Nachfolge verpflichten. Gelingt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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es den Eltern zudem, geschwisterliche Konkurrenz als ehrgeizigstimulierende Rivalität nutzbar zu machen (Haubl, 2001), an der alle Geschwister wachsen können, ohne sich wechselseitig Fortschritte zu neiden, so schaffen sie gute Voraussetzungen für die Fortführung des Unternehmens. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Nachfolgeprozesse in Familienunternehmen oft weit weniger ideal verlaufen. So erscheint die oftmals als selbstverständlich vorausgesetzte intergenerationale Wertschätzung eher fragil und in ihrer Ausprägung von bestimmten Faktoren abhängig zu sein (Daser u. Haubl, 2009). Generativität stellt sowohl für die übergebende als auch für die übernehmende Generation eine große Herausforderung dar und soll hier als ein Faktor in den Blick genommen werden, der für die Frage des fürsorglichen Umgangs in der Familie von zentraler Bedeutung ist. Was also zeichnet Unternehmerfamilien aus, in denen ein fürsorglicher Umgang miteinander und mit sich selbst gerade im Nachfolgeprozess, der als emotional herausfordernd gelten kann, möglich ist? In unserem Forschungsmaterial finden sich sowohl Beispiele, die als Best Practice dienen können, als auch Beispiele, anhand derer deutlich wird, wie familiäre Dynamiken einen fürsorglichen Umgang miteinander trotz oder gerade wegen bester Absichten aller Beteiligten hintertreiben können. Im Folgenden sollen Kriterien herausgearbeitet und illustriert werden, die im Nachfolgeprozess in Unternehmerfamilien für einen fürsorglichen Umgang miteinander und mit sich selbst von Bedeutung sein können.

Generativität Die Ergebnisse des Forschungsprojekts zeigen, dass Generativität, als wichtige Voraussetzung eines gelungenen Generationenwechsels, nicht in allen Unternehmerfamilien gleichermaßen vorhanden ist. Der Begriff der Generativität meint von der Elterngeneration her gedacht neben der Zeugung und Erziehung von Kindern das Bedürfnis, der nächsten Generation nutzen zu wollen und zugleich die eigene »symbolische Un© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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sterblichkeit« voranzutreiben (Erikson, 1973). Generativität ist jedoch nicht nur ein Merkmal der Elterngeneration, auch die nachfolgende Generation muss zu einem bestimmten Maß generativ sein, soll ein Generationenwechsel gelingen. Eine zentrale Voraussetzung für Generativität ist das Vertrauen in die eigene Wirksamkeit und Produktivität. Dieses Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit basiert wiederum auf bestätigenden Erfahrungen, insbesondere in intergenerationellen Beziehungen. Generativität ist keine einseitige Angelegenheit, sondern eine Beziehungsform zwischen Alt und Jung, in der sich die Generationen im Idealfall gegenseitig das Gefühl vermitteln, »gebraucht« zu werden. Gelingt Generativität, dann anerkennt die Kindergeneration (dankbar), dass sie ohne die Vorleistungen der Elterngeneration nicht(s) wäre, sowie die Elterngeneration (dankbar) anerkennt, dass von ihnen nur dann etwas bleibt, wenn die Kindergeneration ihre Projekte fortführt (Haubl u. Daser, 2006). Die nachfolgende Generation bringt Generativität beispielsweise durch ein ausgeprägtes Verantwortungsgefühl gegenüber den Eltern und dem Familienunternehmen zum Ausdruck, wie das folgende Zitat zeigt: »Ja, das war, wo wir da echt gesagt haben, wie wäre das denn tatsächlich, wenn das Unternehmen insolvent geht, was wäre mit unsern Eltern, was hätten wir dann für Verpflichtungen ihnen gegenüber, noch rein emotional wir ja dem Unternehmen eben über die ganze Kindheit hinweg verbunden waren und das zu dem Zeitpunkt auch noch waren, ich das auch quasi nie hätte auf mir sitzen lassen können, in so ’ner Situation gar nichts gemacht zu haben. Also [die Anstrengungen, das Unternehmen zu retten] musste ich einfach für mich dann auch tun und für mein gutes Gewissen letztlich auch« (Interview 24, Z. 765).

Ist die nachfolgende Generation bereit, für das Familienunternehmen Verantwortung zu übernehmen, besteht die große Herausforderung für Unternehmerinnen und Unternehmer darin, sich vom Unternehmen zu lösen und es in die Verantwortung der nachfolgenden Generation zu übergeben. In diesem Prozess ist es hilfreich, wenn Eltern ihren Nachfolgern ausreichend Spielraum © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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geben, um ihren eigenen Führungsstil zu finden. Je mehr Wertschätzung und Zutrauen Eltern ihren Kindern vermitteln können, umso eher gelingt es Kindern, sich nicht über Gebühr vom bisherigen Leitungsstil abgrenzen zu müssen, sondern das Unternehmen im Sinne der Eltern weiterzuführen und dennoch notwendige Innovationen umzusetzen. Loszulassen gelingt Unternehmerinnen und Unternehmern in den Fällen besonders gut, in denen bereits die Enkelgeneration heranwächst. Die Sorge für die Enkel kann den Verlust an Einfluss im Familienunternehmen zumindest teilweise kompensieren. Zudem erleichtern Eltern, die ihre (neue) Rolle als Großeltern als Bereicherung erleben, ihren Kindern das Engagement im Familienunternehmen. Die nachfolgende Generation erlebt im positiven Fall die eigene berufliche Entwicklung als in einen größeren dynastischen Zusammenhang eingebettet, eignet sich die Erfolgsgeschichte des Familienunternehmens an und setzt sie mit eigenen beruflichen Erfolgen im Unternehmen fort. Nachfolger und Nachfolgerinnen tun gut daran, ihren Eltern Wertschätzung für ihr Lebenswerk entgegenzubringen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, deren Werthaltung auch weiterhin als Orientierungshilfe zu nutzen. Andererseits dürfen sie die Aggression der Eltern, die im Prozess des Loslassens entstehen kann, nicht persönlich nehmen, sondern sie müssen versuchen, emotionale Distanz zu ihnen zu entwickeln, um der Kinderrolle gegenüber der Rolle als Nachfolger oder Nachfolgerin nicht zu viel Raum zu geben. Generativität bedeutet nämlich nicht nur, der Seniorgeneration wertschätzend zu begegnen, sondern auch das Familienunternehmen zum richtigen Zeitpunkt und unter solchen Bedingungen zu übernehmen, die seinen Fortbestand sichern helfen. Das kann nur gelingen, wenn Kinder notwendige Auseinandersetzungen mit ihren Eltern nicht scheuen. Denn eine Schwierigkeit im Prozess der Nachfolge besteht für die nachfolgende Generation darin zu akzeptieren, dass der Rationalität der Seniorgeneration Grenzen gesetzt und deren Motive und Gefühle ambivalent sind. So mögen Unternehmer und Unternehmerinnen kognitiv von einem zeitnahen und wohlgeordneten Nachfolgeprozess überzeugt sein und das nach außen hin glaubhaft vertreten. Emotional sind sie möglicherweise so © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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stark mit dem Unternehmen verwoben, dass eine Trennung vom Unternehmen undenkbar ist und mit aller Macht hintertrieben werden muss, während das Selbst- und Fremdbild als übergabewillig gegen alle Widerstände aufrechterhalten wird (Daser u. Haubl, 2008). Schließlich möchte sich die Seniorgeneration nicht selbst als destruktiv gegenüber den eigenen Kindern oder dem Familienunternehmen wahrnehmen oder von anderen so gesehen werden, weshalb oftmals Schritte eingeleitet werden, um einen Nachfolgeprozess zu initiieren, der letztlich jedoch zum Scheitern verurteilt ist, wenn die Seniorgeneration nicht loslassen kann. Ein Sohn bringt am Beispiel seines Vaters anschaulich auf den Punkt, weshalb er glaubt, dass es menschlich ist, nicht generativ zu sein: »Menschlich [lacht]. Ich mein’, es gibt bestimmt Unternehmer, die das sehr rational sehen und sagen vielleicht, ich will meine Schäfchen auch im Alter dann ins Trockene bringen, ich will, dass mein Unternehmen fortgeführt wird von einer Person meines Vertrauens, und ich will, dass das über meinen Tod hinaus Bestand hat. Und dann gibt’s vielleicht solche kühl denkenden Köpfe, die das planen und die sich vielleicht ’ne Unternehmensberatung ins Haus holen, das alles abklären, vielleicht haben sie ’nen guten Geschäftsführer, den einsetzen, den sie darauf hin quasi, ähm, ähm, positionieren, den sie einarbeiten und so weiter, also der wirklich ’ne Planung macht für seine Unternehmensnachfolge oder für seinen Unternehmensverkauf oder wie auch immer. Das macht unser Vater nicht, ja, sondern das wird wahrscheinlich so sein, dass er bis zu seinem 65. Lebensjahr halt arbeitet oder noch länger bis irgendwann irgendwas passiert, was ihn dann davon abhält« (Zitat aus dem Interview 24, Z. 1458 ff.).

Was der Nachfolger im Zitat so präzise formuliert, nämlich die Unfähigkeit des Vaters dahingehend rational zu agieren, dass er sein Unternehmen an die nächste Generation, die sich bereits als fähig und krisensicher erwiesen hat, übergibt und damit auch seine eigene Altersvorsorge sichert, ist sehr wahrscheinlich gegenüber der Seniorgeneration nicht formulierbar. Im Gegenteil: Von der Juniorgeneration wird erwartet, dieses Tabu nicht anzutasten und schweigend den Umstand zu ertragen, dass sich die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Seniorgeneration alles andere als generativ verhält. Wie aber konstruktiv mit einer solchen Situation umgehen, wenn man sie verstanden hat? Wie kann die nachfolgende Generation für sich selbst sorgen, um nicht Gefahr zu laufen, das Verhalten der Eltern persönlich zu nehmen oder sich davon lähmen zu lassen? Sie muss die Destruktivität ihrer Eltern zum einen akzeptieren, an diesem Punkt jedoch nicht stehen bleiben, sondern versuchen, die eigene Handlungsfähigkeit durch Abgrenzung von den Erwartungen der Eltern zu wahren. In letzter Konsequenz liegt es an der nachfolgenden Generation, sich selbst im Loslassen zu üben, was durch den Umstand erschwert werden kann, selbst viel Zeit, Energie und Herzblut im Unternehmen investiert zu haben: »Wir bauen uns zwei Jahre lang was auf, und das war natürlich für uns schon auch irgendwo schmerzlich, zu sagen, das geben wir jetzt wieder her. Wir haben Tag und Nacht im Prinzip da gearbeitet und haben dieses Unternehmen zumindest mal wieder auf ’nen andern Kurs gebracht, und warum sollen wir jetzt wieder was hergeben, was wir uns hart erarbeitet haben« (Interview 24, Z. 1068 ff.).

Dennoch kann es zum eigenen Schutz sinnvoll sein, sich von der Vorstellung zu lösen, das Familienunternehmen um jeden Preis fortführen zu müssen. Andere berufliche Optionen stärken das Selbstbewusstsein, vermindern die Abhängigkeit vom Wohlwollen der Eltern und können als Druckmittel gegenüber der übergebenden Generation eingesetzt werden: »Ich hab’ mich dann beworben, also ich hab’ dann wirklich irgendwann gesagt, jetzt reicht’s mir, und ich hab’ mich dann auf ‘ne Stelle beworben […], dass ich gedacht hab’, ich teste mal meinen Marktwert. Und, ähm, da bin ich dann auch –, also hab’ ich ’n Vertragsangebot bekommen« (Interview 24, Z. 1057 ff.).

Mit dem Vertragsangebot als Druckmittel hat der Sohn ein klares Votum vom Vater eingefordert und bekommen: »Also wir haben dann gesagt, [der Vater] soll bitte unterschreiben, dass er möchte, dass wir da bleiben. Obwohl wir auch wissen, ’ne Unterschrift nützt bei unserm Vater eigentlich auch nichts, also die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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kann man am Ende auch nie gegen ihn verwenden [lacht]. Aber wir wollten zumindest, dass er das als Zeichen dann setzt. Und das hat er dann auch gemacht tatsächlich, ähm, ja, ohne Worte« (Interview 24, Z. 1114 ff.).

Dieses Beispiel zeigt, dass die nachfolgende Generation oftmals nicht umhin kommt, die Seniorgeneration mit ihren Wünschen und Vorstellungen zu konfrontieren, um auf diese Weise für das Familienunternehmen und eigene berufliche Optionen zu kämpfen. Dabei darf das eigene Wohlbefinden nicht aus dem Blick geraten, das nicht weniger schützenswert als das Familienunternehmen ist.

Selbstfürsorge Zu sich selbst gut sein, die eigene Arbeitskraft nicht über Gebühr strapazieren, für die eigene körperliche und psychische Unversehrtheit sorgen, indem Belastungen sowie eigene und fremde Ansprüche und Emotionen reguliert werden – das hat mit einer inneren Haltung sowie einer Alltagspraxis zu tun (vgl. Küchenhoff, 1999), die für Unternehmerfamilien eher untypisch sind. Denn Unternehmer und Unternehmerinnen neigen dazu, sich selbst als dynamische Gründerpersonen wahrzunehmen und darzustellen, die über unerschöpfliche Ressourcen verfügen und deshalb unermüdlich eine gute, weil marktgängige Idee vorantreiben können, um ein Unternehmen zum eigenen Vorteil und zu dem der folgenden Generationen auf- und auszubauen, das es dann um jeden Preis zu schützen gilt, wie das folgende Zitat veranschaulicht: »Ja, und da gibt’s eben so dramatische Erzählungen aus meiner Familie, wie die Bombardierung erlebt wurde, also wo Mutter und Großvater noch in die brennende Firma sind und versucht haben, noch was rauszuholen, während die Großmutter sozusagen draußen nur geschrien hat, ja, dass alles weg ist, dass sie auch noch Angst um ihre Familienmitglieder hat, wenn die in den brennenden Bau gehen, und das auch nicht verstanden hat, dass das wichtig war« (Interview 13, Z. 40 ff.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Innehalten, Ruhe finden, über den Sinn der eigenen beruflichen Aktivität reflektieren, erscheinen vor diesem Hintergrund als lähmende Störfaktoren und den gängigen Vorstellungen von Unternehmertum diametral entgegengesetzt. Die Lokalisierung der Antriebsfeder für ein unternehmerisches Engagement, das oftmals die eigenen psychischen und physischen Belastungsgrenzen ignoriert, ist nicht ganz einfach. Sie in der Konkurrenz mit anderen Unternehmern zu suchen, greift möglicherweise zu kurz, weil sie derart wirkmächtig sein kann, dass sie ein selbstschädigendes Verhalten forciert, das die eigenen Ressourcen eher instrumentalisiert als pflegt. Der Gedanke liegt deshalb nahe, dass sich die Motive für eine arbeitsame Ruhelosigkeit aus einem inneren Antrieb speisen, der auf eine calvinistische oder pietistische Tradition rekurriert (Haubl u. Daser, 2008). Auf die hohen Ansprüche, die Unternehmer und Unternehmerinnen an die eigene Arbeitsleistung stellen, verpflichten sie oftmals frühzeitig die nachfolgende Generation. Diese profitiert zum Teil davon, sofern es ihr gelingt, den Erwartungen der Eltern gerecht zu werden und sich die Leistungsorientierung für eigene Zwecke nutzbar zu machen: »Ich hab’ aber auch viele Teile von meinem Vater, würde ich sagen, auch grade was so die Ruhe im Geschäftlichen angeht oder den Optimismus, dass man, ja, ich sag’ mal, die Maschine doch gebaut kriegt, und wenn man bis Mitternacht noch dransitzt, morgens um sechs wird sie laufen, also auch diese Form von Einsatz für was. Das sind einfach Familienwerte, die ich vielleicht nicht von einzelnen Personen, aber von diesem System und dem, wie ich’s erlebt hab’ als Kind mit der Firma, was man tun muss und was nicht, was ich schon noch mitbringe und heute habe. Also das sind so Verantwortlichkeiten oder eben auch nicht aufzugeben, weil’s jetzt grad mal nicht geht, sondern, wie gesagt, die muss morgen früh laufen, morgen ist die Messe, und wenn wir bis mit allen Kräften arbeiten. Also so ’ne Spannung auch aufzubauen und es kurz vor dem Abgabetermin von irgendwas –, das hab’ ich im Studium immer wieder produziert, dass ich bis kurz vorher es auch nicht fertig hatte und es war dann fertig [alle lachen]. Und es ist ein solcher Kick, ja, so ’n, ha, so ’n Schub, so ’n innerer, den ich mir so beruflich auch immer mal wieder hole« (Interview 13, Z. 321 ff.).

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Gelingt es Unternehmerkindern nicht, den hohen Ansprüchen der Eltern zu genügen, erleben sie das sehr wahrscheinlich als persönliches Versagen. Denn für die Anerkennung der Eltern ist in Unternehmerfamilien die Eignung für und die Bewährung im Unternehmen von zentraler Bedeutung (vgl. Haubl u. Daser, 2006), weshalb es Unternehmerkindern schwerfallen mag, sich von Erwartungen, Ansprüchen und Zuschreibungen frei zu machen, die sich auf ihre unternehmerischen Fähigkeiten beziehen. Einen langfristig tragbaren Lebensentwurf unabhängig vom Familienunternehmen zu entwickeln, erscheint vor diesem Hintergrund als große Herausforderung, die bestimmter Fähigkeiten bedarf, für deren Entwicklung die frühkindliche Erfahrung fürsorglicher Eltern hilfreich ist (Küchenhoff, 1999). Wie eine Nachfolgerin anschaulich beschreibt, kann eine fürsorgliche Haltung des einen Elternteils die Strenge des anderen ausgleichen: »… alle Chefs, die sind zum Mittagessen heim und dann hat er [der Vater] sich so ’ne Viertelstunde, 20 Minuten hingelegt, und dann hab’ ich immer meinen Kopf auf seinen Bauch, und da hat er immer so schön nach Kaffee geduftet, und da hat’s immer so schön drin gegurgelt, und das war so was ganz Wohliges, so was ganz Kuscheliges, Schönes, so Vertrauensvolles. Und abends kam er erst so um acht, weil er dann auch mittags immer im Laden war, und da kam dann noch mal ’ne viel intensivere Wolke, weil wenn du da Kaffee mahlst und so, da hast du das in den Haaren und überall drin, aber das ist ja so ein ganz schöner Geruch, insofern –. Oder wenn er –, manchmal hat die Mami mich, weil ich frech war, zu früh ins Bett –, also ins Bett gesteckt ohne Abendessen, und da hat er mir immer ’n Knäckebrot reingeschmuggelt« (Interview 8, Z. 159 ff.).

Selbstfürsorge im Generationenwechsel gelingt den Nachfolgern und Nachfolgerinnen gut, die ein Verständnis einer gesunden Balance gegenläufiger Bestrebungen entwickeln, Grenzen ihrer Belastbarkeit erkennen und Zweifel an den eigenen Fähigkeiten gut dosieren können. Es gilt, trotz familiärer und beruflicher Nähe mit den Familienangehörigen in Beziehung zu bleiben und sich zugleich erfolgreich von Erwartungshaltungen und Leistungsforderungen abzugrenzen, die als belastend erlebt werden oder gar den eigenen Lebensentwurf in Frage stellen. Ein Be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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wusstsein für die eigenen Bedürfnisse, Vorstellungen und Ressourcen sowie die der anderen Familienmitglieder ist für deren Integration hilfreich, die allerdings nicht zu stark in der eigenen Verantwortung gesehen werden sollte. Für sich selbst zu sorgen, darf nicht als ein rein selbstbezogenes Konzept missverstanden werden: Nur in Beziehung zu anderen lassen sich die Fähigkeiten erwerben und erhalten, die Selbstfürsorge ermöglichen. So kann die Zuneigung anderer das Motiv dafür sein, die eigene Selbstausbeutung zu begrenzen, großzügig mit eigenen und fremden Unzulänglichkeiten umzugehen, was bedeutet, nicht zu streng zu urteilen, um eigene und fremde Erfolgserlebnisse nicht zu beeinträchtigen. Gelingende Selbstfürsorge setzt letztlich die Akzeptanz ambivalenter Gefühle voraus, die dem Bestreben, mit sich und denen, die man liebt, gut umzugehen, entgegenwirken können.

Gelingende Selbstfürsorge Aus dem Interviewmaterial sollen exemplarisch Strategien der Selbstfürsorge von Nachfolgern und Nachfolgerinnen dargestellt werden, die verschiedene Formen des Ringens um physische und psychische Integrität im Nachfolgeprozess veranschaulichen. Viele dieser Bemühungen erscheinen notwendig, um einem empfundenen Mangel an Generativität und Fürsorge der Seniorgeneration zu begegnen. Kritische Distanz zum Arbeitsstil der Eltern entwickeln Unternehmerfamilien, so wurde bereits ausgeführt, bieten Nachfolgern und Nachfolgerinnen emotionale Rahmenbedingungen, die selbstfürsorgliches Verhalten begünstigen oder hintertreiben können. Dabei mag die emotionale Verbundenheit der Eltern zum familieneigenen Unternehmen eine wichtige Rolle spielen: Haben sie selbst eine eher distanzierte Haltung gegenüber dem Unternehmen, gewähren sie ihren Kindern oftmals mehr Spielräume und üben weniger Leistungsdruck aus; sind sie hingegen emotional sehr stark mit dem Unternehmen verbunden, begeg© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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nen sie ihren Kindern oftmals weniger fürsorglich denn fordernd. Möglicherweise lässt sich folgender Zusammenhang herstellen: Hochgradig mit dem Unternehmen identifizierte Eltern haben selbst sehr viel Zeit, Energie und andere Ressourcen in das Unternehmen investiert. Diese Investitionen sind insbesondere dann gerechtfertigt, wenn ihr Lebenswerk von den Kindern mit dem gleichen Engagement fortgeführt wird, was umso wahrscheinlicher ist, je stärker deren emotionale Verbundenheit mit dem Unternehmen ausgeprägt ist. Die Ausprägung emotionaler Verbundenheit entzieht sich jedoch der Kontrolle von außen und lässt sich auch nicht nachweisen. Deshalb bleibt oftmals ein bohrender Zweifel an den Motiven der nachfolgenden Generation, der sich nur mit nahezu unmenschlichem Engagement besänftigen lässt, ohne dass sich der Zweifel letztlich ausräumen ließe. Bei der kleinsten Schwierigkeit, so die Sorge der Seniorgeneration, ist die nachfolgende Generation geneigt, das Unternehmen aufzugeben. Insofern steht die nachfolgende Generation unter stetem Rechtfertigungszwang und muss mit (übersteigertem) Einsatz unter Beweis stellen, dass sie es wirklich ernst meint: »Ich bin immer mit einem Vorsatz in dieses Unternehmen oder auch meine berufliche Laufbahn eingestiegen, mach’s nie wie deine Eltern. Und auch mit dem Vorsatz –, weil sie haben sich einfach auch kaputt gearbeitet, die haben 24 Stunden rund um die Uhr gearbeitet, sieben Tage die Woche. Und das ist was, was wir auch unsern Eltern gesagt haben, als wir eingestiegen sind, erwartet nicht von uns, dass wir die gleiche Arbeitsleistung in Zeit bringen, ja, weil wir haben Partner und wir haben Familie, und erinnert euch mal zurück, als wir klein waren, da sind wir zweimal im Jahr mindestens in Urlaub gefahren, da waren meine Eltern um halb acht zu Hause. Das machen meine Schwester und ich heute schon nicht mehr, was eigentlich schon ’n Warnsignal sein sollte für uns selbst. Und mit dieser –, dieser Einstellung, dass wir nicht jeden Abend jetzt immer noch bis um zehn Uhr sitzen, sondern zu sagen, irgendwo um halb acht, acht gehen wir jetzt auch nach Hause, und am Wochenende, wenn’s möglich ist, lassen wir auch alles liegen, dann rechne ich schon ab und zu am Montagmorgen mit ’nem Kommentar meiner

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Mutter, ich hab’ das ganze Wochenende gearbeitet und wo warst du. Aber damit können wir leben …« (Interview 24, Z. 1584 ff.).

Sich vom Arbeitsstil der Eltern zu distanzieren fällt nicht leicht, weil dem Bedürfnis nach Zeit für und mit der Familie das Gefühl, im Unternehmen gebraucht zu werden, entgegenwirkt und es schmerzhaft ist, die Mutter zu enttäuschen. Zudem hält das Gefühl, belastbar und leistungsstark zu sein, eine narzisstische Gratifikation bereit. Dauerhaft über die eigenen Belastungsgrenzen zu gehen, hat jedoch einen sehr hohen Preis, den der zitierte Nachfolger und seine Schwester kennen und deshalb zu vermeiden suchen. Dabei kann die eigene Kleinfamilie als Anker dienen: Zum einen versieht sie den Selbstschutz mit der notwendigen Legitimation, weil sie einen braucht und man für sie sorgen muss und möchte. Zum anderen ist sie die Quelle, aus der sehr viel Kraft geschöpft werden kann. Familie, so scheint es, muss dennoch mit »Restzeiten« vorliebnehmen, den Vater dann in Anspruch nehmen, wenn er eigentlich schon erschöpft ist. Wirklich abspannen und sich Zeit nehmen gelingt diesem Nachfolger auf dem Golfplatz besser, weil eine Golfpartie naturgemäß eine gewisse Zeitspanne in Anspruch nimmt, in der dann nicht gearbeitet werden kann und wirkliches Abschalten möglich wird. Diese drei Stunden mit einem Freund zu verbringen und sich nicht zu sorgen oder zu arbeiten, sind für ihn ein wahrer Luxus, der ihm sogar von seiner Frau zugestanden wird, die sicherlich auch gerne mehr Zeit mit ihm verbringen möchte. Sie scheint jedoch zu wissen, dass diese drei Stunden seiner Gesunderhaltung dienen und er, wäre er zu Hause bei seiner Familie, stärker versucht wäre, sich für die Belange des Unternehmens zu interessieren, indem er seine E-Mails bearbeitet oder sich mit dem befasst, was unter der Woche liegengeblieben ist: »Also im Moment seh’ ich’s für mich ganz persönlich, bin ich schon irgendwo an ’nem –, an ’ner Grenze kapazitätsmäßig, wo ich einfach auch mal wieder sag’, ich hab’ zwei Wochen Urlaub. Ich heb’ mir aber jetzt meinen Urlaub auf für die Geburt meines zweiten Kindes, und da will ich drei Wochen Urlaub, vielleicht auch vier, mal schauen. Woher nehm’ ich Kraft? Einmal aus dem, was ich am Wochenende © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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mit meiner Familie erleben kann, also mein Sohn ist da für mich irgendwo schon was, wo ich Energie wieder schöpfe, und ich hab’ jetzt mal angefangen Golf zu spielen [alle lachen]. Klassischer Golfspieler, aber da komm’ ich noch nicht so oft zu, also das Hobby verfolge ich nicht konsequent genug. Aber ich hab’ ’nen Freund, mit dem bin ich dann morgens am Sonntag um halb acht auf dem Golfplatz, da ist da noch niemand, und dann drei Stunden später sagen wir, also was Schöneres gibt’s eigentlich nicht als Golf spielen [alle lachen], aber das ist –, wir nehmen’s leider nicht richtig ernst. Aber man merkt in dieser Zeit, wenn man ganz weg ist und was ganz anderes macht –, weil wenn man zu Hause ist, dann ist man nicht ganz weg, da hat man den Laptop noch dabei, dann bringt man die Sachen vielleicht noch mit, und wenn man erst abends um acht, neun nach Hause kommt, um zehn, halb elf wieder ins Bett geht, dann hat man ’ne Stunde Erholung, die reicht eigentlich nicht. Aber wenn man mal drei Stunden, vier Stunden echt auf ’m Golfplatz ist, dann ist man einfach mal ganz woanders, und das, find’ ich, hilft schon. Und meine Frau hat da zu mir gesagt, mach’ das, dass du mal raus bist« (Interview 24, Z. 1731 ff.).

Erfolg belohnt und motiviert Der Nachfolger benennt ein weiteres wichtiges Element, das ihn am Unternehmertum festhalten lässt: das Gefühl der Selbstwirksamkeit, das sich mit Verkaufserfolgen einstellt: »Ich glaub’, das haben wir von unseren Eltern schon mit in die Wiege bekommen, eben die Selbständigkeit, zu sagen, selber was bewegen, was unternehmen, das ist ja auch das, was mich in dem Ganzen unheimlich motiviert, plötzlich zu sehen, da kommen aus China 20 Container und die gehen jetzt in den deutschen Markt. Und dann geh’ ich zu Freunden und seh’, ah, ihr habt auch den Türstopper gekauft [lacht], ihr habt mein Gehalt finanziert. Das sind so kleine Motivationen, funktioniert aus dem heraus« (Interview 24, Z. 1836 ff.).

Reflexion Der Nachfolger und die Nachfolgerin wirken im Interview sehr reflektiert und können sich das Interview nutzbar machen, um sich familiäre Mechanismen, mit denen sie sich täglich ausein© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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andersetzen, zu verdeutlichen. Zudem hat das Interview eine entlastende Funktion: »A: Ja, schön, dass wir uns so richtig alles von der Seele reden konnten [alle lachen], das ist ja auch schön, das ist, ja, nett. B: Das ist ja auch sozusagen eine Selbsthilfe« (Interview 24, 1920 ff.).

Ihre Situation im Familienunternehmen reflektieren sie unabhängig vom Interview immer wieder gemeinsam, weshalb sie ihren Eltern gegenüber sehr konkret ihre Wünsche und Vorstellungen äußern und für diese kämpfen können. Ihnen ist bewusst, dass sie nur gemeinsam als Geschwisterpaar ein relevantes Gegengewicht zur Seniorgeneration bilden können, weshalb sie sich niemals ohne den anderen in eine Verhandlungssituation mit den Eltern begeben würden. Reflexion vermeiden Für eine Nachfolgerin erweist sich die umgekehrte Strategie als hilfreich: Sie entlastet sich dadurch, dass sie sich mit ihrer Rolle als Geschäftsführerin, in die sie unfreiwillig durch den plötzlichen Tod des Vaters kam, nicht auseinandersetzt. Sie arrangiert sich mit den Bedingungen in der Baubranche, die sie, weil es eine von Männern dominierte und mit hohen Risiken behaftete Branche ist, als herausfordernd beschreibt. Zudem rahmt sie ihre Situation als eine, in der sie sich aufgrund eigenständig getroffener Entscheidungen befindet, was sie möglicherweise erträglicher macht. Dazu gehört auch, sich nach dem Ende des Studiums auf die Aufgabe als Geschäftsführerin zu konzentrieren und andere berufliche Optionen (vorerst) nicht mehr zu verfolgen aber offen für die Optionen zu bleiben, die ihr das Leben bietet: »Und seit ich jetzt halt den Doppeldruck nicht mehr hab’ und halt nur noch die Firma mach’, nur noch [lacht], ähm, da, ähm, merke ich jetzt auch, ich hab’ gar keine Zeit da drüber nachzudenken, was baue ich mir sonst noch auf, und das wird auch bestimmt noch ’n Jahr dauern, bis ich das soweit im Griff hab’, dass ich dann wieder so ’n bisschen mehr Zeit für mich hab’ und sagen kann, so, okay, jetzt hast du da noch, was weiß ich, 30 % Zeit, die kannst du dir rausschneiden, was © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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machst du. Und dann denke ich, würde ich lieber noch mal promovieren als jetzt –, ja, muss man sehen. Ich sag’ immer, ich mach’ keine Pläne mehr [lacht], weil es kommt eh anders« (Interview 15, Z. 181 ff.).

Auf die Frage des Interviewers, ob sie sich mit der Beendigung des Studium die Option für ein anderes Leben offen hält, antwortet sie, dass sie sich inzwischen mit ihrem neuen, nicht ganz freiwillig eingeschlagenen Lebensweg arrangiert hat und zufrieden ist: »Nee, jetzt nicht mehr, also ich bin total zufrieden mit meiner –, also wie das jetzt alles gekommen ist. Also das stand für mich an und ich –, also wie gesagt, ich hab’ da, ja, drei Jahre bestimmt damit gehadert, also nicht jetzt, dass das nach außen –, dass man gemerkt hätte, ich will nicht, aber für mich, mir war halt klar, ich will da nicht rein in diese –, ähm, in diese Rolle, aber in dem Moment, in dem ich’s dann angenommen hab’, da hat das dann sich gut angefühlt, also wird’s immer besser. Also jetzt ist es nicht mehr so, dass ich denke, uäh und es passt mir nicht oder so« (Interview 15, Z. 191 ff.).

Die Übernahme der Verantwortung, die sie nun trägt, versteht sie als notwendiges »erwachsen werden«, was sie rückblickend positiv besetzen kann: »Und mir war halt eigentlich klar, dass, wenn ich das mache, da gibt’s dann nichts anderes mehr, und das war so meine größte Sorge, dass ich dann halt –. Ich war davor viel in Afrika und bin sehr gerne gereist und einfach auch mal verschwunden [lacht] für längere Zeit, und das war mir halt klar, dass das dann nicht mehr geht, also dass ich da einfach erwachsen werden muss, und das wollte ich halt nicht [alle lachen]« (Interview 15, Z. 208 ff.).

Versuch der Feminisierung einer Männerbranche Die Männer, mit denen sie beruflich zu tun hat, empfindet sie als laut und unangenehm. Deshalb umgibt sie sich hauptsächlich mit Frauen, indem sie Architekten durch Architektinnen und Bauleiter durch Bauleiterinnen ersetzt: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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»Hm, ich schaff’ mir da grade so ’ne Insel, also ich versuch’, mich eigentlich nur noch –, nur mit Frauen zu umgeben, weil ich mit Männern –, also einfach das ist mir zu anstrengend, also mit denen jetzt –, wenn’s sein muss, dann so wie mein Bauleiter, aber ich –, also man findet ja immer dann auch, ähm, Frauen, die diese Positionen einnehmen können [lacht]. Und, ähm, das versuch’ ich, also auch bei den Banken, wenn ich mit denen verhandel’, dass ich da eben mit Frauen zusammenarbeiten kann. Dann meine Verwalterin, meine Sekretärin sind beides Frauen eben, und den Architekten hab’ ich jetzt auch ausgetauscht, das ist auch ’ne Frau. Und jetzt fang’ ich wieder an zu bauen in zwei Wochen und da versuche ich auch grade, ’ne Frau als Bauleiterin zu haben, einfach weil die Kommunikation dann für mich viel leichter ist, also weil die Männer brüllen ja auch immer rum und [lacht] das ist nicht so meins« (Interview 15, Z. 238 ff.).

Ist sie dennoch gezwungen mit Männern zu kooperieren, greift sie auf die imaginäre Unterstützung ihres Bruders als starken Mann im Hintergrund zurück, um ihrem Wort Gewicht zu verleihen: »… ja, das muss ich mit meinem Bruder besprechen oder so. Und das hat sich jetzt erst so langsam halt hinentwickelt, also dass die mich auch akzeptiert haben. Und am Anfang haben wir bewusst so ’ne Doppelspitze gelassen, einfach so weil ich mich halt immer wieder hinter ihm verstecken konnte, also auch wenn er nicht da war, dass ich so sagen konnte, nee, also von mir aus können wir’s so machen, aber ich glaub’ nicht, dass mein Bruder damit einverstanden ist, also –. Und deshalb also ist das bewusst so gelassen, dass nach außen er mit auftritt, obwohl er’s eigentlich nicht mehr tut, aber halt so, ähm, ja, er halt so da ist« (Interview 15, Z. 59 ff.).

Mit dem Bild des Spielers kokettieren Als wichtigste Strategie dieser Nachfolgerin erscheint eine eher männlich konnotierte Haltung: Als verbindendes Element zu ihrem verstorbenen Vater benennt sie, so wie er ein »Spielertyp« zu sein: »Ich hab’ nicht so viele Ängste, also das –, also ist jetzt nicht so mein Naturell, ich bin da vielleicht auch eher so ’n Spielertyp oder so, das –. (2) Ich denk’ mir immer, schwierig wird’s von alleine und –, also da muss ich jetzt keine Angst davor haben, und wenn die Situation dann © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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da ist, dann werde ich schon irgendwie damit zurechtkommen …« (Interview 15, Z. 372 ff.).

Diese Haltung wird gestützt von der eingangs genannten Strategie der Nicht-Reflexion, wie das folgende Zitat zeigt: »… dann setze ich mir natürlich auseinander, wie wär’s für mich, wenn ich jetzt da scheitern würde, also was würde das bedeuten. Und dadurch, dass ich so viele Entscheidungen die ganze Zeit fällen muss und mich das sehr hindern würde, wenn ich jetzt auch noch die ganzen –, also diese Zweifel ständig mit dazumische, dann würde ich’s mich ja gar nicht mehr trauen, habe ich jetzt für mich beschlossen, dass ich das so gut mache, wie ich kann, und dass ich, ähm, halt da alles, was ich bis jetzt gelernt hat und weiß, steck’ ich da rein, und ich entscheide bewusst und bin fleißig, und wenn das nicht klappt, dann, ähm, hab’ ich trotzdem mein Bestes gegeben und dann hat das nichts jetzt mit mir persönlich zu tun. Also es gibt einfach Dinge, die passieren oder sie passieren nicht, und meine Arbeit ist auch soviel von anderen Sachen abhängig, die ich nicht beeinflussen kann und für die ich auch nicht verantwortlich bin, dass ich da jetzt so persönlich keine Ängste hab’. Ich denk’ mir so, das ist natürlich schon –, würde an mir kratzen auch am Selbstbewusstsein, wenn das nicht funktioniert, ganz klar, aber letztendlich schütz’ ich mich schon, also und –, und sag’ einfach so, das ist eh schon toll, was ich da bis jetzt gemacht hab’, und solange ich mir selber nichts vorwerfen muss, dass ich wirklich halt Blödsinn mache« (Interview 15, Z. 432 ff.).

Die hier zitierten Nachfolger und Nachfolgerinnen gehen auf unterschiedliche Art und Weise mit den Herausforderungen um, die sich ihnen im Nachfolgeprozess stellen. Während die zuerst zitierten Geschwister sich in Aushandlungsprozesse begeben, um ihre Situation nach ihren Vorstellungen zu gestalten, neigt die anschließend zitierte Nachfolgerin dazu, sich mit ihren Bedingungen zu arrangieren oder Personen, mit denen sie den Umgang schwierig findet, auszutauschen. Zudem betont das Geschwisterpaar die Verantwortung, die sie gegenüber ihren Eltern und dem Familienunternehmen verspüren, während die andere Nachfolgerin auf ihr Spielerglück vertraut und sich selbst ein © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Scheitern zugestehen würde, sofern es äußeren Umständen und nicht eigenen Fehlern zuzurechnen wäre. Es gibt allerdings auch verbindenden Elemente: In beiden Konstellationen erscheint es als hilfreich, gemeinsam mit dem Geschwister aufzutreten, sei es real oder imaginär, um als Doppelspitze mehr Durchsetzungsvermögen gegenüber der Seniorgeneration oder gegenüber Geschäftspartnern zu entwickeln. Zudem treffen sowohl das zuerst zitierte Geschwisterpaar als auch die anschließend zitierte Nachfolgerin bewusst die Entscheidung, zu welchem Zeitpunkt eine Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Nachfolge sinnvoll und das Stellen von Forderungen erfolgversprechend ist und zu welchem Zeitpunkt Reflexion lediglich als aufreibend und kräftezehrend erscheint und deshalb darauf verzichtet werden soll. Wie erfolgreich die zitierten Nachfolger und Nachfolgerinnen in ihrer Sorge um die eigene körperliche und psychische Unversehrtheit sind, lässt sich abschließend kaum beurteilen. Die These liegt jedoch nahe, dass sie alle gut daran tun, sich nicht zu sehr auf die fürsorgliche Haltung ihrer Eltern oder anderer Personen in ihrem Umfeld zu verlassen und selbst für Bedingungen zu sorgen, die ihnen einen Nachfolgeprozess als realisierbar und erträglich erscheinen lassen.

Resümee Generationenwechsel in Familienunternehmen sind für die übergebende und übernehmende Generation emotional herausfordernd, was weniger mit den konkreten beteiligten Akteuren als vielmehr mit einer besonderen Konstellation, der Unternehmerfamilie, zusammenhängt. Mangelt es den beteiligten Akteuren zudem an Generativität, fällt es ihnen schwer, sich intergenerational wertschätzend und fürsorglich zu begegnen. In einer solchen Situation ist es hilfreich, ambivalente Gefühle, die sich destruktiv auf den Nachfolgeprozess auswirken können, als normalen Bestandteil von Generationenwechseln zu akzeptieren und nicht zu viel an fürsorglichem Verhalten von der jeweilig anderen Generation zu erwarten. Dann kann es gelingen, die im Nachfolgeprozess freigesetzten negativen Emotionen zu regu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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lieren, weil sie nicht persönlich genommen werden müssen. Auf diese Weise für emotionale Distanz zu sorgen, ist eine gute Basis, um mit allen Beteiligten in Beziehung zu bleiben, ohne das eigene Wohlbefinden aus dem Blick geraten zu lassen.

Literatur Daser, B., Haubl, R. (2008). Supervision für Steuerberater – Ein geeignetes Instrument, um Erfahrungswissen über Familiendynamik in Familienunternehmen zu vermitteln? Supervision, 3, 35 – 40. Daser, B., Haubl, R. (2009). Qualifiziert sein reicht nicht: Weibliche Nachfolge als Herausforderung für die ganze Unternehmerfamilie. In: M. W. Fröse, A. Szebel-Habig (Hrsg.), Mixed Leadership: Mit Frauen in die Führung! (S. 111 – 129). Bern: Haupt. Erikson, E. H. (1973). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. FAZ (2010). »Konstantingate« in der Verlegerdynastie«, 24. 11. 2010, 274, 16. Haubl, R. (2001). Neidisch sind immer nur die anderen. Über die Unfähigkeit, zufrieden zu sein. München: Beck. Haubl, R., Daser, B. (2006). Familiendynamik in Familienunternehmen: Warum sollten Töchter nicht erste Wahl sein? Forschungsbericht im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Haubl, R., Daser, B. (2008). Leitungscoaching: Fit machen für die Selbstausbeutung? In: B. Blättel-Mink, K. Briken, A. Drinkuth, P. Wassermann, (Hrsg.), Beratung als Reflexion (S. 137 – 157). Berlin: editionsigma. Küchenhoff, J. (1999). Die Fähigkeit zur Selbstfürsorge – die seelischen Voraussetzungen. In: J. Küchenhoff (Hrsg.), Selbstzerstörung und Selbstfürsorge (S. 147 – 164). Gießen: Psychosozial. manager magazin (2011). »Schwedenbitter«, 1, 60 – 68. Sies, C. (2003). Im Fokus psychodynamisch-systemischer Beratung: Harmonisierendes Betriebsklima, Konkurrenz bei Führungskräften, Nachfolge im Familienbetrieb. In: B. West-Leuer, C. Sies (Hrsg.), Coaching – Ein Kursbuch für die Psychodynamische Beratung (S. 44 – 60). Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta. Stern (2010). »Zank und Gloria«, 09. 12. 2010, 50, 166 – 177. Wallau, F. (2007). Struktur der Unternehmensnachfolgen in Deutschland. Vortrag anlässlich des KfW-Forums Unternehmensnachfolge. Berlin, 26. 04. 2007. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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»Da laufe ich auf einem Minenfeld« Emotionsarbeit von Frauen im Management

Wir haben uns daran gewöhnt, von Dienstleistern guten Service und Kundenorientierung zu erwarten, und dazu gehört in der Regel ein lächelndes und freundliches Gesicht. Es scheint zwar so, dass zwischen Flugbegleiterin und Fluggast eine reziproke Beziehung besteht, in der sich beide wohlfühlen. Jedoch leistet die Flugbegleiterin – neben ihren anderen Tätigkeiten – eine besondere Form der Arbeit, nämlich »Emotionsarbeit« (Hochschild, 1990/2006). Alle Last, Kundenorientierung in die Tat umzusetzen, liegt auf dieser Frontarbeiterin, deren zwischenmenschliche Fähigkeiten niemals durch Technik ersetzbar sein werden. Bislang beschäftigen sich die meisten Studien, Hochschild folgend, mit Emotionsarbeit im Dienstleistungsbereich, untersucht werden Beschäftigungsfelder wie soziale und medizinische Berufe, Vertriebs- und Beratungsberufe. In diesen Berufen herrschen organisationale Emotionsregeln, die dazu beitragen sollen, dass Kunden oder Klienten zufriedengestellt werden. Wenig ist bekannt und erforscht zur Frage von Emotionsarbeit im Management. Hierbei handelt es sich um Emotionsarbeit gegenüber Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeitern, aber auch gegenüber Geschäftspartnern oder -kunden. Auch diese Arbeit ist für die Organisation eine notwendige zwischenmenschliche Tätigkeit, die nur begrenzt durch unpersönliche Mittel zu substituieren ist. Meine These lautet, dass im Management Emotionsregeln herrschen, die erfüllt werden müssen, um erfolgreich zu sein und um geplante Ziele zu erreichen. Die Anpassung an Emotionsregeln erfolgt also im eigenen Interesse und um andere zu beeinflussen, zu beeindrucken oder in eine erwünschte Stimmung zu versetzen (vgl. Neuberger, 2006, S. 282 ff.). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

»Da laufe ich auf einem Minenfeld«

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Das Konzept der Emotionsarbeit hat innerhalb der Arbeitssoziologie und -psychologie eine Wandlung erfahren: Während Hochschild kapitalismuskritisch warnte, dass ständiges Anpassen an Normen vom eigenen emotionalen Selbst entfremde, weisen spätere Autoren auf die persönlichkeitsförderlichen Aspekte gelungener Selbstregulation hin, nämlich Steigerung der Selbstwirksamkeit und der Kontrollüberzeugung (Voswinkel, 2005; Dunkel u. Voß 2004). Dieser Aspekt könnte für den Bereich des Managements von besonderer Bedeutung sein. Es stellt sich daher die Frage, ob die Befunde zu Emotionsarbeit im Dienstleistungsbereich auf Emotionsarbeit im Management zu übertragen sind. Ein besonderer Fokus wird dabei auf geschlechtsspezifische Unterschiede gelegt, da anders als bei Dienstleistungen der Frauenanteil im Management nach wie vor gering ist. Liegt ein Grund dafür möglicherweise in der erforderlichen Emotionsarbeit? Zunächst wird Emotionsarbeit im Dienstleistungsbereich einschließlich des Genderaspekts dargestellt und daraufhin diese Form von Arbeit im Management unter besonderer Berücksichtigung von Geschlecht analysiert. Die Ergebnisse zu den Führungskräften und Nachwuchsführungskräften resultieren aus Interviews, die im Rahmen des Projekts »Mikropolitik : Aufstiegskompetenz von Frauen«1 entstanden. In den Interviews wurden 25 männliche und weibliche Führungskräfte sowie 30 weibliche Nachwuchskräfte2 zu ihren mikropolitischen Strategien befragt, unter anderem zu Emotionsregulierung. Unter Mikropolitik verstehen wir dabei nach Neuberger (2006) den Einsatz und Aufbau von Macht, um eigene Interessen durchzusetzen.

Das Projekt wird für die Dauer von drei Jahren aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) der EU gefördert. 2 Die Interviews der Nachwuchskräfte sind mit römischen Ziffern durchnummeriert. 1

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Emotionsarbeit: Arbeit an den Gefühlen Mit dem Begriff Emotionsarbeit werden in der Regel die Charakteristika personenbezogener Dienstleistungstätigkeit umschrieben: Der Beschäftigte soll sich zum Zweck der Aufgabenerfüllung seiner Gefühle bewusst annehmen und sie betrieblichen Erfordernissen unterwerfen, beispielsweise unkontrollierte Launen unterdrücken, in bestimmten Situationen Hochstimmung erzeugen, in anderen sich hingegen zurücknehmen. Ziel der Emotionsarbeit ist die Erfüllung der Kriterien Kundenzufriedenheit und Kundenbindung. Mittel dazu ist der Dienstleister aus Fleisch und Blut, der die geforderte Zugewandtheit in den täglichen Interaktionen mit Kunden realisieren muss. Beim Kunden sollen positive Gefühle geweckt werden wie Vertrauen, Zufriedenheit und Wohlbefinden. Arlie Russell Hochschild, die zeigte, wie Flugbegleiterinnen dauerlächeln und alle machbaren Wünsche der Fluggäste erfüllen sollen (1990/2006), grenzt Gefühlsarbeit im Privaten, die in der Sozialisation gelernt wird und private Beziehungen regelt, von der Gefühlsarbeit am Arbeitsplatz ab, die vom Unternehmen – manchmal sogar vertraglich – vorgeschrieben ist und marktförmige Beziehungen gestaltet. Besonders problematisch werden jene Vorschriften, die von den gesellschaftlichen Normen abweichen: Die Flugbegleiterin soll freundlich bleiben, auch wenn der Gast aufdringlich wird, was ihr im Alltag niemand zumuten würde. Und nicht nur das: Sie sollte am besten die dem geforderten Verhalten entsprechenden Gefühle erleben, also sich trotz unverschämter Kunden nicht wütend, sondern gelassen fühlen. Es gibt also nicht nur einen Verhaltenszwang, sondern sogar einen Gefühlszwang. Gefühlsarbeit im Dienstleistungsbereich steht bei personenbezogenen Tätigkeiten im Zentrum, deren Arbeitsinhalte sich als Beratung, Bildung, Behandlung, Pflege oder Verkauf kennzeichnen lassen, und sie wird immer wichtiger : Neben der Expansion des Dienstleistungssektors steigen Anteile an emotionaler Servicearbeit an der Gesamttätigkeit, da Kunden anspruchsvoller werden und verschiedene Angebote vergleichen. Im Zuge der Internationalisierung haben es Beschäftigte zudem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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häufiger mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zu tun, das heißt, interkulturelle Emotionsarbeit wird notwendig. Nicht zuletzt zieht Kundenorientierung als Wert in Bereiche ein, die bislang wenig davon betroffen sind. Sogar in Non-profit-Organisationen mutieren Patienten, Studenten und Bürger zu Kunden sowie Pflegekräfte, Lehrer, Sozialarbeiter und Polizisten zu Dienstleistern, die zu vermehrter Bürgernähe und Serviceorientierung angehalten werden. Emotionsarbeit innerhalb des Unternehmens wird ebenfalls wichtiger, da Gefühle bzw. der Ausdruck von Gefühlen zunehmend als subjektive Ressource betrachtet werden, die gewinnbringend einzusetzen sind, während Gefühle in klassischen Organisationsansätzen als unberechenbare Störgröße angesehen wurden. Nicht nur der Begriff der »internen Kundenorientierung« zeigt, dass innerbetriebliche Beziehungen ebenso geregelt und optimiert werden sollen wie Beziehungen zu Kunden. Auch Ansätze wie die »emotionale Intelligenz« oder der »Emotionsquotient« bei Führungskräften weisen auf die Integration des Themas »Emotion« in die Führungs- und Managementlehre hin (vgl. Sieben, 2007). Zudem müssen zunehmend Beziehungen zu Geschäftskunden und -partnern positiv gestaltet werden, die aus dem Ausland stammen, und immer häufiger muss oder soll eine vielfältig zusammengesetzte Belegschaft geführt werden, weshalb »Managing Diversity« zu einer beliebten personalwirtschaftlichen Strategie geworden ist.

Emotionsregulierungsfähigkeiten Die Besonderheit des Menschen, inneres Erleben und Äußeres trennen zu können, machen sich Organisationen zunutze, um ihre Ziele besser zu erreichen. Die entsprechenden Steuerungsfähigkeiten hat sich jede Person im Lauf der Sozialisation angeeignet, bei Emotionsarbeit am Arbeitsplatz muss sie diese jedoch bewusster und zielgerichteter gemäß organisationaler Normen einsetzen. Es gibt zwei Möglichkeiten der Emotionsregulation. Beim Oberflächenhandeln (surface acting) wird nur der Gefühlsausdruck, die äußere Darstellung, den (Ausdrucks© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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)Normen angepasst : Der Beschäftigte verhält sich freundlich, auch wenn er den anderen unsympathisch findet. Will man aber nicht nur so tun, als wäre man gut aufgelegt, sondern wirklich sich auch dementsprechend fühlen, ist die Einflussnahme auf das Fühlen erforderlich. Sie geht eine Stufe weiter und sichert den gewünschten Gefühlsausdruck auf verlässlichere Weise, weil er mit dem erlebten Gefühl zusammenfällt. Tiefenhandeln (deep acting) – die damit verbundene Einflussstrategie – bezieht sich auf inneres Handeln, mit dem Gefühle hervorgerufen werden. Die zentrale Strategie des Tiefenhandelns ist Imagination. Die Flugbegleiterinnen in Hochschilds Studie lernen, sich die Flugzeugkabine als gemütliches Wohnzimmer vorzustellen, in das nette Gäste eingeladen werden – sie bewirten die Gäste und freuen sich, wenn es diesen gefällt. Aus der unbekannten abweisenden Geschäftsfrau wird so idealerweise eine willkommene Freundin. Neben Imagination tragen Einfühlung und Empathie in die andere Person dazu bei, eigene Gefühle an fremde Erwartungen anzupassen. Zu den körperbezogenen Techniken zählt in erster Linie Entspannung, mit deren Hilfe Gefühle der Wut oder Angst, die mit Muskelanspannung verbunden sind, gelöst werden. In der Praxis werden beide Strategien angewandt. Man versucht, sich in die passende Stimmung zu versetzen, auch wenn man einen schlechten Tag hat, und wenn die Kunden halbwegs angenehm sind, gelingt dies auch. Wenn aber Stress oder unfreundliche Kunden hinzukommen, funktioniert deep acting nicht mehr und man agiert auf der Oberflächenebene, kann also die Regeln gerade noch einhalten. Ist die eigene Missstimmung sehr groß oder Probleme am Arbeitsplatz gravierend, gelingt selbst das nicht mehr und man wird emotional deviant. Das heißt, man verletzt die Emotionsregeln und verhält sich vielleicht authentisch, aber nicht konform – beispielsweise ein Lehrer, der plötzlich Schüler in unsachlicher beleidigender Weise anschreit. Manche mögen froh sein, sich einmal Luft gemacht zu haben, viele sind aber hinterher beschämt über ihr Verhalten, da sie es nicht geschafft haben, professionell zu handeln. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Belastungen durch Emotionsarbeit Belastungen am Arbeitsplatz scheinen neueren Studien zufolge generell zuzunehmen und sich insbesondere auf das psychische und psychosomatische Befinden auszuwirken (Haubl u. Voß, 2008). Festzustellen ist ein zunehmender Druck bezüglich Effizienz und Innovation gekoppelt mit der Erwartung an die individuelle Verantwortung, dem Druck standzuhalten. Es liegt nahe, dass steigende Anforderungen an Dienstleistende, Kunden zu gewinnen und zu halten, in diesem Bereich die Belastungen erhöhen, insbesondere wenn die Tätigkeit als wenig gesichert wahrgenommen wird, etwa weil sie befristet, in Teilzeit oder unterbezahlt durchgeführt wird. Zudem setzt die oben erwähnte Ökonomisierung von Non-profit-Organisationen Beschäftigte unter Druck, nun ebenso professionelle Emotionsarbeit zu leisten und sich daran messen zu lassen wie im Profitbereich. Für die Beschäftigten bedeuten organisationale Emotionsregeln, dass sie immer wieder am Arbeitsplatz emotionale Dissonanzen zwischen Erleben und Ausdruck aushalten müssen, das heißt, sie fühlen etwas anderes, als sie zeigen. Lösen sie Dissonanzen durch Tiefenhandeln, ist diese Strategie zwar schwieriger durchführbar als Oberflächenhandeln, da schließlich nicht nur das Verhalten, sondern auch die Gefühle verändert werden müssen, sie scheint aber letztlich die gesündere Strategie zu sein, weil keine Dissonanzen auszuhalten sind. Hochschild (1990/ 2006) wies jedoch auf die Gefahr der Entfremdung hin: Ursprüngliche Gefühle kann man nicht mehr spüren, manipulierte Gefühle werden als authentisch erlebt. Der Gefühlshaushalt gerät durcheinander. Genauer gesagt ist es eine soziale Entfremdung: eine Entfremdung des Menschen vom Menschen (Weber u. Rieder, 2004). Unter den Bedingungen einer zunehmenden Vermarktlichung werden Interaktionspartner nach dem Aufwand-ErtragsKalkül behandelt. Menschliche Fähigkeiten zu Empathie werden zur Realisierung ökonomischer Ziele eingesetzt, wodurch der Andere nicht mehr in seinen vielfältigen Eigenschaften wahrgenommen wird. Ein solcher marketingorientierter Sozialcharakter überformt die individuelle Persönlichkeit. Was die Belastungen betrifft, die aus Emotionsarbeit entste© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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hen, liegen mittlerweile genauere Ergebnisse vor. Heutzutage wird davon ausgegangen, dass Emotionsarbeit nicht per se belastend ist, sondern nur dann, wenn folgende Faktoren hinzukommen: – strikte Regeln und geringer Handlungsspielraum: Ein häufig zitiertes Beispiel ist das Call-Center (Dunkel u. Voß, 2004). – hohe Kontrolle durch den Arbeitgeber : Beispiele sind Testkunden und Testkäufe, das heißt, die permanente unkontrollierbare und unplanbare Möglichkeit, überwacht und geprüft zu werden, auch wenn dies letztlich nicht häufig geschieht. Die jüngsten Skandale um verdeckte Überwachungen von Personal zeigen, wie weit das Kontrollbedürfnis der Arbeitgeber gehen kann. – Emotionsarbeit gekoppelt mit Zeitdruck und sonstiger Arbeitsbelastung. Beispielsweise ist für Flugbegleiter die körperliche Belastung aufgrund unkonstanter Arbeitszeiten, Klimaänderungen und Jet-Lag hoch. – »Faking in bad faith«. Die Anforderungen sind umso belastender, je ungerechter und ungerechtfertigter sie erlebt werden. Das heißt, täusche ich Gefühle in guter Absicht und mit gutem Gewissen vor, kann ich mit der Täuschung besser leben, als wenn ich dabei ein schlechtes Gefühl habe, also sogenanntes »Faking in bad faith« (Rafaeli u. Sutton, 1989; Büssing u. Glaser, 2003). Eine extreme Folge von Emotionsarbeit kann Burnout sein. Es hat einige Zeit gedauert, bis das Syndrom Burnout nicht ausschließlich auf Helferberufe angewandt wurde, sondern erkannt wurde, dass es in allen personenbezogenen Dienstleistungsberufen und auch in Führungspositionen auftreten kann. Immer wenn es zu einem Ungleichgewicht des emotionalen Austausches kommt, wird das Auftreten von Burnout wahrscheinlicher. Die Menschen investieren mehr, als sie zurückbekommen.

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Emotionsarbeit: noch immer typische Frauenarbeit? Klassischerweise sind viele Emotionsarbeiterinnen Frauen, da ihnen zwischenmenschliche und emotionale Fähigkeiten eher zugesprochen werden als Männern, und zwar Frauen aus der Mittelschicht, die sowohl im Beruf als Sekretärinnen, Assistentinnen, Krankenschwestern als auch zu Hause als Ehefrauen und Mütter Beziehungsarbeit leisten und das Menschliche regeln sollen. Auch heutzutage erfordern Berufe im Flugbegleitdienst, in der Gastronomie und im Pflegedienst sogenannte »weibliche Fähigkeiten« wie kommunikativ, fürsorglich, personenorientiert. Gemacht werden die Regeln nach wie vor häufiger von Männern, im Management, bei den Vorgesetzten, in der Ausbildung. Zudem ist nicht selten eine Arbeitsteilung zu sehen, die männlichen Kollegen verrichten die organisatorischen Anteile, während sich die Frauen um die Menschen kümmern. Männliche Polizisten streben gemäß einer Untersuchung danach, den Umgang mit den Opfern zu vermeiden und ihren Kolleginnen zu überlassen (Martin, 1999). Eine Studie bei Flugbegleiterinnen ergab, dass die weiblichen Beschäftigten mehr Mühe hatten, sich bei schwierigen Kunden Respekt zu verschaffen, als die männlichen (Forseth, 2005). Steigende Anforderungen an Kundenorientierung bringen es jedoch mit sich, dass zunehmend eine Gleichberechtigung eintritt: Auch Männer müssen Emotionsarbeit leisten und den Kunden als König behandeln. Sie sind in typischen Dienstleistungsberufen wie Kellner, Hotelangestellter oder Verkäufer genauso gefordert, freundlich und zuvorkommend zu sein, wie ihre weiblichen Kolleginnen. Dabei ist zu beobachten: Je mehr sogenannte weibliche Fähigkeiten ein Beruf verlangt, desto eher versuchen die männlichen Beschäftigten dieses Berufs, sich gegen die Verweiblichung abzugrenzen (Rastetter, 2008). Bei der Genderfrage sind zwei Seiten zu betrachten. Einerseits werden emotionale Kompetenzen als sogenanntes weibliches Arbeitsvermögen unentgeltlich von Frauen auf typischen Frauenarbeitsplätzen gefordert, Beispiele sind hier Pflege- und Erziehungstätigkeiten. Folge ist eine geringe Entlohnung bei gleich© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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zeitiger hoher emotionaler Belastung am Arbeitsplatz. Andererseits bieten sich durch den Strukturwandel von Arbeit hin zu Dienstleistung erhöhte Arbeitsmarkt- und sogar Karrierechancen für Frauen, während klassische Männerarbeitsplätze in der Produktion ohne Ersatz abgebaut werden. Das Stereotyp »weiblich-emotional« wirkt sich nicht nur auf Emotionsarbeit bei frauentypischer Dienstleistungstätigkeit aus, sondern auch bei Führungstätigkeiten. Denn selbst in höheren Positionen werden Frauen aufgrund stereotyp weiblicher Merkmale bewertet und behandelt.

Emotionsarbeit bei weiblichen (Nachwuchs-)Führungskräften: zwischen maskulinen Idealen und femininen Zuschreibungen Wir gehen davon aus, dass gezielte Emotionsregulation im Führungsbereich zu notwendigen Kompetenzen gehören und dass Frauen aus zwei Gründen besonderen Bedarf an »Emotionsregulierungskompetenz« haben: Zum einen befinden sie sich, je höher sie steigen, in einer männerdominierten Kultur mit spezifischen Regeln und Normen. Diese zu erkennen und einzuhalten erfordert besondere Anstrengung und Motivation. Zum anderen werden an sie als weibliche Minderheit spezifische Erwartungen gestellt, die traditionellen Geschlechterstereotypen und Weiblichkeitsvorstellungen entstammen. Dies gilt in besonderem Maß für den Bereich der Emotionalität. Anforderungen an ihr Emotionsmanagement sind deshalb zweifach: Emotionsregeln des Managements beachten und kompetent mit geschlechtsspezifischen Erwartungen umgehen. Doch zunächst zu Emotionsarbeit im Management allgemein. Je höher die hierarchische Ebene, desto riskanter ist der spontane Ausdruck von Gefühlen. »Je höher man steigt, desto einsamer wird man und desto weniger traut man sich Emotionen zu zeigen.« (weibliche Führungskraft) Unter Einsamkeit versteht die Führungskraft ein fehlendes vertrauenswürdiges Umfeld, so dass Authentizität ein Einfallstor © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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für Reaktionen aus dem Umfeld sein kann, die sich gegen sie richten. Selbstkontrolle ist deshalb Selbstschutz. Lediglich in kleineren vertrauten Gruppen können Gefühle offen geäußert werden. Auch extreme Situationen (besondere Erfolge, Niederlagen) erlauben im Ausnahmefall das ansonsten verpönte Äußern von starken Gefühlen. In der Regel gilt: möglichst wenig negative, möglichst viele positive Gefühle äußern, und dies alles stets mit Bedacht. »Man muss auch mal den Hirschen spielen, also bewusst taffer, härter sein, als man will, weil die Mitarbeiter eine klare Ansage brauchen. Das ist dann Schauspielstunde.« (weibliche Führungskraft) Der Führungskraft ist bewusst, dass sie Gefühle vorspielt und dass sie als Vorgesetzte auf der Bühne steht und genau beobachtet wird. Sie geht davon aus, dass sie mit ihrer eigentlich gefühlten Milde und Nachsicht nicht zum Ziel kommt, nämlich die Mitarbeiter zu erwünschten Leistungen zu bringen. Oberflächenhandeln ist ihre Strategie. Für Frauen wirken Emotionsregeln in verstärktem Maß, da sie gemäß herrschender Stereotype als »emotional« gelten. Gefühlsäußerungen werden geschlechtsspezifisch gedeutet, zum Beispiel wird Aggressivität bei Frauen als – negativ konnotierte – »Zickigkeit« gewertet, bei Männern als legitimer Ausdruck von Unzufriedenheit. Die Anforderungen an Emotionsmanagement sind bei Frauen deshalb höher als bei Männern. Gilt allgemein für Führungskräfte, dass Konflikte und Kritik nicht persönlich, sondern cool und gelassen genommen werden, gilt das für Frauen in besonderem Maß, um professionell zu wirken und nicht dem weiblichen Stereotyp zu entsprechen. Dabei sind die Gefühlsnormen mit dem sogenannten männlichen Managerideal verbunden, das heißt, die typische Führungskraft wird mit als männlich bewerteten Merkmalen assoziiert: Durchsetzungsstärke, Initiative, Dominanz, und zwar trotz der neueren Ansätze zur Bedeutung von »soft skills« im Management (vgl. Rastetter, 2010). Der Ausdruck schwacher Gefühle wie Trauer oder Angst, Scham oder Verlegenheit wird als unmännlich betrachtet (Mühlen Achs, 2003, S. 153) und deshalb auch als unpassend für eine Führungskraft, weshalb man prak© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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tisch nie eine Führungskraft sagen hört, sie habe Angst, sondern höchstens, sie stünde vor großen Herausforderungen. Eine Zusatzanforderung an Frauen ist die Vermeidung von potenziell erotisch-sexuellen Situationen, das bedeutet, sie müssen klare Grenzen zwischen ihrer Person und männlichen Kollegen, Vorgesetzten, Mentoren oder Geschäftspartnern und -kunden ziehen, um den Ruf der Unprofessionalität zu vermeiden. Es ist erstaunlich, wie viel sexuelle Belästigung Frauen selbst in qualifizierten Positionen erleben, die von »dummen Sprüchen« bis zu Übergriffen reicht. In den Interviews mit weiblichen Nachwuchsführungskräften wurden uns zahlreiche Vorfälle berichtet. »Mir sind schon durchaus relativ viele Belästigungen in meinem Leben passiert, und ich glaube, ich hab sehr viel daraus gelernt.« (I) »Ja. Das ist eigentlich als Frau auf jeder, fast jeder Dienstreise oder größeren Veranstaltung […] kommt es irgendwie vor.« (XIX) »Mitten in einem Vortrag kommt dann die Aussage: ›Uh, der Ausschnitt ist aber heute ein bisschen tief‹.« (XII) »Wenn man jung ist, und dann wird man da irgendwie angemacht oder die gucken irgendwie zu lange auf die Bluse, dann fühlt man sich auf einmal unsicher oder wird rot oder irgendwie sowas, und das ist immer schlecht, weil dann grinsen die Herren und haben ja eigentlich das dann geschafft, was sie wollten, oder man weiß nicht mehr, was man sagen will oder so. Also man muss sich da schon einen Panzer zulegen.« (XXIII) »Im Notfall lächeln und darüber stehen, weil dadurch kann man den anderen am meisten ärgern.« (XXV) Die meisten Betroffenen sind aufgrund ihrer Position und ihrer Erfahrung in der Lage, mit den Belästigungen fertig zu werden. Jedoch führen diese nicht nur zu einer Einschränkung des Wohlbefindens, sondern nehmen auch Energie für andere Aufgaben. Außerdem müssen erst viele schlechte Erfahrungen gemacht werden, bis der »Panzer« gefestigt ist. In erster Linie sind Frauen in Männerdomänen von Belästigungen betroffen, wenn sie viel Kontakt mit männlichen Geschäftspartnern und -kunden haben. Manche ausländische Führungskräfte sind in ihrem Herkunftsland kaum mit Frauen in leitenden Funktionen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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vertraut und behandeln sie deshalb gewohnheitsmäßig als Untergebene. Als Beispiel wurde des Öfteren Japan genannt. Umgekehrt sehen die weiblichen Nachwuchskräfte in diesem Bereich auch Potenzial, mit Erotik zu »spielen«, etwa um eine angespannte Verhandlungssituation zu entschärfen, indem sie selbst eine sexualisierte Anspielung machen. Der Unterschied besteht darin, dass sie dann selbst die Regisseurinnen des Spiels sind und nicht die Opfer. Freilich erkennen sie die Gratwanderung dieser Strategie, die leicht ins Gegenteil kippen und gegen sie verwendet werden kann. Denn verhält sich die Frau am Arbeitsplatz zu »weiblich«, gerät sie in eine Sonderrolle, die sich im Konfliktfall negativ auswirkt. Weibliche Attribute können leicht als Abwertung verwendet werden. Die US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton wurde im Wahlkampf sofort kritisiert, als sie in einer Diskussion sehr emotional wurde und fast weinte. Das Weinen als extremer mimischer Ausdruck ist besonders geeignet, geschlechterstereotype Zuschreibungen aufzudecken. Frauen wird eine größere mimische Expressivität zugeschrieben, von Männern wird ein selbstkontrollierter Gesichtsausdruck erwartet. Diskutiert wurde in den Medien denn auch die Authentizität von Clintons emotionalem Ausdruck: Zeigt sie Emotionen aus politischem Kalkül, um menschlicher zu wirken, da sie öfters als »hart« bezeichnet wurde (Sennewald, 2010)? Oder ist sie nicht in der Lage, ihre Gefühle zu kontrollieren, und kann also keinen Staat regieren? Eine Nachwuchsführungskraft drückt ihr Verhältnis zu Emotionen am Arbeitsplatz so aus: »Ich habe das Gefühl, da laufe ich auf so einem Minenfeld. Also da habe ich auch das Gefühl, da so ein kleiner Detektor oder so, das wäre ganz nützlich.« (XII) Sie wünscht sich, rechtzeitig zu erkennen, welcher Gefühlsausdruck in der gegebenen Situation angebracht ist. Die rein sachliche Ebene, diese Erfahrung hat sie gemacht, ist für eine gelungene Kooperation zu wenig, spontane Gefühlsbezeugungen sind aber auch nicht möglich. Sie sieht Emotionen als fast schon lebensgefährlich (»Mine«), wenn diese plötzlich oder falsch explodieren. Die damit verbundene Verunsicherung führt dazu, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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dass sie stets auf der Hut ist, sich richtig zu verhalten, um nicht unpassende Gefühle zu zeigen. »… da ist es ganz wichtig, dass man sich normal verhält und dass man taff rüberkommt und kompetent und dass man dann nicht da irgendwie weint oder, also klar, lachen, das kann man schon mal machen, aber man kann da nicht irgendwie Traurigkeit oder sowas zeigen.« (XXIII) »Aber ich würde z. B. […] nie anfangen zu weinen in der Firma, das ist mein absolutes Tabu.« (XXIX) Unter »normal« verstehen die beiden Frauen taff und kompetent, niemals traurig, nicht weinen, und wenn Gefühle zeigen dann nur positive. Sie haben die – männlich stereotypisierten – Regeln internalisiert und stellen sie nicht in Frage. Generell wissen weibliche Nachwuchsführungskräfte um den riskanten Charakter von »weiblichen« Gefühlsäußerungen im Allgemeinen und Tränen im Besonderen und halten sich an die Regel »nur maskuline Emotionen zeigen«. Freilich dürfen sie nicht zu »männlich« werden. »Kollegen schreien da vielleicht in der Gegend rum, ist auch nicht wirklich viel besser, wird aber anders bewertet.« (XII) Generell sagt die Bandbreite erlaubter Gefühle innerhalb einer Norm etwas über die Strenge der Norm aus. Diese Bandbreite ist bei Männern größer, wenn auch die Normen allgemein im Unternehmen dieselben sind. Wer sich wie große Abweichungen von der Norm erlauben darf, gibt Auskunft darüber, wer mehr Macht und wer eine unangreifbarere Stellung im Unternehmen hat, die nicht mit der formalen Position identisch sein muss. Frauen als Minderheiten in leitenden Funktionen müssen immer wieder aktiv beweisen, wirklich eine Führungskraft zu sein – auch emotional. Wenn sie dem Prototypen entsprechen wollen, werden sie in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Männer als »typische Führungskräfte« dürfen sich Abweichungen – beispielsweise Wutausbrüche oder Beleidigungen – erlauben, weil sie trotzdem als Führungskraft anerkannt werden. Interessanterweise sprechen mehrere männliche Führungskräfte in den Interviews das Weinen von Frauen explizit an, wobei sie dessen manipulativen Charakter anprangern. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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»Emotionale Blockaden, also eben durch weinen oder so was, was ich eben nur von Frauen kenne.« (männliche Führungskraft) »In Stresssituationen oder in emotionalen Situationen nicht emotional zu reagieren eben, das ist sicherlich wichtig. Und schon gar nicht, Tränen einzusetzen oder so was, was Frauen ja auch gerne tun.« (männliche Führungskraft) Sie unterstellen Frauen eine Taktik, die ihnen selbst subjektiv nicht zur Verfügung steht. Damit wird die Taktik jedoch ambivalent: Wenn sie durchschaut und negativ bewertet wird, verliert sie ihre Kraft oder erreicht sogar das Gegenteil, nämlich Ablehnung. Die Vermutung liegt nahe, dass hier ein Stereotyp aktiviert wird: die hinterhältige, verführerische Frau, die mit ihren Gefühlen den Mann und dessen Gefühle manipuliert. Der Mann – zumindest der naive Mann – kann ihr nicht mit gleichen Mitteln begegnen und ist ihr ausgeliefert. Ein solcher weiblicher Prototyp wird in Filmen und in der Literatur wiederholt zitiert. Er hat einen realen Hintergrund: Lange Zeit blieb den machtlosen, über wenig Status und Ressourcen verfügenden Frauen nicht viel anderes übrig, als dort aktiv zu werden, wo ihr Hauptbetätigungsfeld war : in der Familie und Ehe. Sie entwickelten eine Expertise in Mikromanipulation, also im subtilen Einfluss auf ihre Angehörigen und Bekannten, genauer gesagt Gefühlsmanipulationen – das heißt auf die Gefühle der Anderen Einfluss nehmen –, denn Gefühle sind als Ressource und Machtmittel stets vorhanden. Im Führungsbereich bedeutet jedoch der Ausdruck von Gefühlen der Schwäche und Hilfsbedürftigkeit in einer Kultur, die sozialen Status mit Selbstkontrolle und Unabhängigkeit verknüpft, einen Statusverlust (Mühlen Achs, 2003). Die Anspielung auf das »taktische Weinen« von Frauen führt mithin zu einer zweifachen Abwertung von (potenziellen) Konkurrentinnen: Sie zeigen unprofessionelle Gefühle und sie setzen dies auch noch aus unlauteren Motiven ein. Konkurrenz durch Frauen wird allgemein gesagt mit Hilfe von Stereotypisierungen abgewehrt, die ein Teil des sogenannten internen Ausschlusses von Frauen sind (Rastetter, 2010). Interner Ausschluss heißt Ausschluss trotz Mitgliedschaft und zeigt sich neben der Emotionalisierung und Sexualisierung der Frau auch darin, dass die Kollegin beispielsweise nicht über wichtige Dinge © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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informiert wird oder nicht nach Feierabend mit in die Kneipe genommen wird, wo über geschäftliche Dinge gesprochen wird. Emotionale Machtmittel wie ein ausdrucksloses Gesicht (Pokerface), ein arroganter Blick, ein herablassendes Mundverziehen, ein Wutausbruch, werden Frauen nicht zugestanden. Das Wuttabu führt dazu, dass negative Gefühle nicht nach außen geleitet werden können, was die Belastungen steigert. Unterschiedliche soziale Emotionsnormen für Frauen und Männer tragen nicht zuletzt zu Missverständnissen und gestörter Kommunikation zwischen den Geschlechtern bei, wenn Gefühlsausdrücke falsch gedeutet werden. Haubl (2007) plädiert deshalb dafür, dass Frauen ein bejahendes Verhältnis zu ihrer Aggressivität entwickeln im Sinne eines Zulassens von Ärger und Wut angesichts von Gegnern, Widerständen und Aggressionen in ihrem Umfeld. Andernfalls drohen Frauen auf Widerstand mit Angst zu reagieren und sich zurückzuziehen.

Fazit: Emotionsarbeiterinnen im Management – gute Miene zum bösen Spiel Sowohl im Dienstleistungsbereich als auch im Management herrschen Emotionsnormen. Gefühle müssen kontrolliert werden, Authentizität ist in jedem Fall riskant. Besonders problematisch sind in beiden Bereichen negative Gefühle, da sie sowohl gegenüber Kunden als auch gegenüber Mitarbeitern zu unerwünschten Reaktionen führen können: Rückzug, Demotivation, Widerstand. Die Bandbreite erlaubter Gefühlsausdrücke sagt etwas über Macht und Status aus. Je mehr Gefühlsdarstellungen toleriert werden, desto mächtiger ist die Person. Wenn männliche Führungskräfte eher »ausrasten«, also emotional deviant sein dürfen als weibliche, selbst wenn dies nicht den Normen entspricht, zeigt dies ihre Dominanz im Management. Ihr Handlungsspielraum ist größer, die Regeln sind weniger strikt. Eine ausgeprägte Zusatzbelastung stellen für Frauen erotischsexuelle Übergriffe dar, die sensibel behandelt werden müssen, da es sich bei den Tätern meist um Kollegen, Geschäftspartner oder Kunden handelt. Je nach Situation müssen Frauen hierbei © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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nicht selten gute Miene zum bösen Spiel machen, also »faking in bad faith«, um Kunden nicht zu verprellen oder ihren eigenen Ruf nicht zu ruinieren. Einige Frauen berichteten uns, dass es für sie ein absolutes Tabu sei, sich bei sexueller Belästigung an die zuständigen Stellen im Unternehmen zu wenden, weil sie damit automatisch ihre Souveränität in Frage stellten. Während sich im Dienstleistungsbereich die Anforderungen an Männer und Frauen angleichen, weil Kundenorientierung der höchste Wert ist und das Geschlecht dabei sekundär wird, oder sogar männliche Servicebereitschaft bei weiblichen kaufkräftigen Kundinnen eine besondere Qualität annimmt, orientiert sich im Führungsbereich Emotionalität in erster Linie an alltagsweltlichen Normen, bei denen Geschlechterstereotype eine dominante Rolle spielen. Dazu ein anekdotischer Beleg: Eine männliche Führungskraft sollte im Interview Unterschiede zwischen Frauen und Männern am Arbeitsplatz bezüglich Emotionalität reflektieren. Er kam dabei immer wieder auf seine Ehefrau zu sprechen, das heißt, er trennte nicht zwischen privatem und professionellem Umfeld. Da »weibliche« Emotionen dem männlichen Managerideal widersprechen, werden Frauen im Management umso weniger anerkannt, je »weiblichere« Gefühle sie zeigen. Passen sie jedoch ihr Verhalten zu sehr an die herrschenden maskulinen Emotionsnormen an, verletzen sie Erwartungen an »weibliches« Verhalten. Daraus entstehen bei weiblichen Nachwuchskräften diffuse Geschlechtsrollenbilder und unsichere Vorstellungen vom eigenen »idealen« Verhalten. Von den oben genannten Belastungsfaktoren treffen mithin alle auf Frauen zu: Sie haben einen geringeren emotionalen Handlungsspielraum als Männer, sie haben die Zusatzbelastung der Sexualisierung – von Zusatzbelastungen durch Familienpflichten zu schweigen – und sie erleben die emotionalen Anforderungen nicht selten als ungerechtfertigt. Hohe Kontrolle durch Arbeitgeber drückt sich in diesem Bereich als hohe Sichtbarkeit in der Minderheitenposition aus, die dazu führt, dass Frauen von ihrem Umfeld genau beobachtet werden und ihre Professionalität kritisch geprüft wird. Emotionale Dissonanzen sind deshalb an der Tagesordnung, die mittels Oberflächenhandeln verborgen werden. Die in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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der Literatur zu Emotionsarbeit genannten persönlichkeitsförderlichen Aspekte gelungener Selbstregulation sind durchaus bei Frauen im Management zu finden, wenn sie Erfolg und positives Feedback erleben, sie basieren aber auf großen Anstrengungen und überlegtem strategischen Verhalten, so dass die Kosten den Nutzen nicht selten übersteigen. Viele der von uns befragten Frauen zeigen eine extreme Einsatz- und Leistungsbereitschaft und können die Belastungen durch Emotionsarbeit nur begrenzt durch Ressourcen im Privatleben auffangen. Die Gefahr der Entfremdung von den eigenen Gefühlen, die Hochschild bei Emotionsarbeiterinnen sah, dürfte für Frauen in Aufstiegspositionen besonders groß sein, da sie permanent mit Gefühlsregulierungen beschäftigt sind. Die daraus resultierenden emotionalen Belastungen könnten mit ein Grund für den sogenannten Drehtüreffekt sein, das heißt, immer mehr qualifizierte Frauen steigen in eine Karrierelaufbahn ein, bleiben aber nicht dabei. Familiengründung ist ein vordergründiger Anlass für den Ausstieg, dahinter stecken häufig eine Enttäuschung über mangelnde Anerkennung, jahrelange Selbstüberforderung durch extensive Arbeitszeiten und permanente Kämpfe um gleichwertige Chancen. Da Emotionsarbeit schwieriger greifbar ist und weniger öffentlich diskutiert wird als die Vereinbarkeitsproblematik, wird möglicherweise diese als Karrierehindernis überschätzt – auch von den Betroffenen selbst – und Emotionsarbeit unterschätzt.

Literatur Büssing, A., Glaser, J. (2003). Arbeitsbelastungen, Burnout und Interaktionsstress im Zuge der Reorganisation des Pflegesystems. In: A. Büssing, J. Glaser (Hrsg.), Dienstleistungsqualität und Qualität des Arbeitslebens im Krankenhaus (S. 101 – 130). Göttingen: Hogrefe. Dunkel, W., Voß, G. G. (Hrsg.) (2004). Dienstleistung als Interaktion. Beiträge aus einem Forschungsprojekt. München: Rainer Hampp Verlag. Forseth, U. (2005). Gendered bodies and boundary setting in the airline industry. In: D. Morgan, B. Brandth, E. Kvande (Eds.), Gender, bodies and work (S. 47 – 60). Aldershot: Ashgate. Haubl, R. (2007). Bescheidenheit ist keine Zier. Enttabuisierung weiblicher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Aggression in Organisationen. In: R. Haubl, B. Daser (Hrsg.), Macht und Psyche in Organisationen (S. 100 – 124). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Haubl, R., Voß, G. G. (2009). Psychosoziale Kosten turbulenter Veränderungen. Arbeit und Leben in Organisationen 2008. Positionen – Beiträge zur Beratung in der Arbeitswelt, Kassel: Kassel University Press. Hochschild, A. R. (1990/2006). Das gekaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt a. M.: Campus Verlag. Martin, S. E. (1999). Police force or police service? Gender and emotional labor. The Annals of the American Academy of Political and Social Science. Thousand Oaks, 561, 111 – 126. Mühlen Achs, G. (2003). Wer führt? Körpersprache und die Ordnung der Geschlechter. München: Frauenoffensive. Neuberger, O. (2006). Mikropolitik und Moral in Organisationen (2. Aufl.). Stuttgart: Lucius & Lucius. Projekt: Aufstiegskompetenz von Frauen. Zugriff am 22. 01. 2011 unter http://www.aufstiegskompetenz/mikropolitik.de/Main/HomePage Rafaeli, A., Sutton, R. I. (1989). The expression of emotion in organizational life. Research in Organizational Behavior, 11, 1 – 42. Rastetter, D. (2008). Zum Lächeln verpflichtet. Emotionsarbeit im Dienstleistungsbereich. Frankfurt a. M. u. New York: Campus Verlag. Rastetter, D. (2010). Stereotype, Macht und Mikropolitik. Strategien weiblicher Führungskräfte. In: S. Baer, S. Smykalla, K. Hildebrandt (Hrsg.), Schubladen, Schablonen, Schema F. Stereotype als Herausforderung für Gleichstellungspolitik (S. 53 – 66). München: Kleine Verlag. Sennewald, N. (2010). »Heul doch!« Geschlechterstereotype in den Medien: Das Beispiel der US-amerikanischen Präsidentschaftskandidatur. In: S. Baer, S. Smykalla, K. Hildebrandt (Hrsg.), Schubladen, Schablonen, Schema F. Stereotype als Herausforderung für Gleichstellungspolitik (S. 129 – 145). München: Kleine Verlag. Sieben, B. (2007). Management und Emotionen. Analyse einer ambivalenten Verknüpfung. Frankfurt a. M.: Campus Verlag. Voswinkel, S. (2005). Welche Kundenorientierung? Anerkennung in der Dienstleistungsarbeit. Berlin: edition sigma. Weber, W., Rieder, K. (2004). Dienstleistungsarbeit und soziale Entfremdung – theoretische Konzeptualisierung und empirische Hinweise aus einer Studie im CallCenter einer Direktbank. In: W. Dunkel, G. G. Voß (Hrsg.), Dienstleistung als Interaktion: Beiträge aus einem Forschungsprojekt (S. 181 – 210). München: Rainer Hampp Verlag.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Es gilt als erwiesen, dass Psychotherapie seelisches Leid lindern bzw. beseitigen und gleichzeitig gesamtwirtschaftlich eine Kosten senkende Wirkung haben kann (Ettl, 1991). Die Überprüfbarkeit der Qualität von Psychotherapie wird durch die zunehmende Verknappung finanzieller Mittel im Gesundheitssystem wichtiger. Gleiches muss aber auch für die Psychotherapieausbildung gelten. Psychotherapie ist in Deutschland eine Dienstleistung des Gesundheitssystems, jährlich werden ca. 700.000 Patientinnen ambulant und stationär psychotherapeutisch behandelt (BundesPsychotherapeutenKammer, 2010). Aufgrund der notwendigen Verschränkung von fachlichen und persönlichen Merkmalen in der Ausübung des Berufes stellt das psychotherapeutische Handeln eine höchst anspruchsvolle Profession dar. Aus der Psychotherapieforschung ist bekannt, dass die Person der Therapeutin1 einen bedeutsamen Wirkfaktor für den Therapieerfolg darstellt. Daher ist es verwunderlich, dass die Ausbildung zur Psychotherapeutin bislang kaum wissenschaftlich untersucht wurde, so dass kein gesichertes Wissen darüber vorliegt, wie Weiterbildungsteilnehmerinnen zu guten Therapeutinnen werden. Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich in letzter Zeit ein zunehmendes Interesse daran entwickelt, zu zeigen, »was eine Ausbildung in Psychotherapie leisten soll und wie sie zu gestalten Aufgrund der leichteren Lesbarkeit haben wir uns für die weibliche Form entschieden. Es sind selbstverständlich beide Geschlechter angesprochen. 1

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ist, um zur Entwicklung möglichst gut ausgebildeter Psychotherapeuten beizutragen« (Laireiter u. Willutzki, 2005, S. 11). Denn schlussendlich hängt die Qualität der psychotherapeutischen Versorgung auch von der Qualität der Ausbildung ab (Petzold, Hass, Jakob, Märtens u. Merten, 1999; Reinecker u. Schindler, 2000; Richter, 2005), was letztlich eine große Verantwortung der Ausbildung gegenüber den Patientinnen und ihrer seelischen Gesundheit bedeutet.

Theoretischer Hintergrund Bei 98 % der Aus- und Weiterbildungen (vgl. Gust u. Weiß, 2005) finden wir bereits Ansätze zur Evaluation, wie es die jeweiligen Bildungsträger zumeist selbst benennen. Es werden Fragebögen verteilt, die nach den Ausbildern und Ausbilderinnen und deren Didaktik fragen, die Ausbildungsstätte bewerten lassen, die Kursunterlagen gewichten, Lehrinhalte und deren Vorbereitung abfragen. Leider geschieht dies meist erst am Ende einer Ausbildungsmaßnahme. Schade, denn Zufriedenheitsabfragen bei den Teilnehmerinnen bieten dann keine Möglichkeit prozessualer Nachjustierung mehr. Oben genannte Daten zu erheben ist sicher sinnvoll und notwendig. Wir gehen jedoch davon aus, dass die Kompetenzentwicklung in der Ausbildung zur Psychotherapeutin auch auf einer »hard fact«-Ebene möglich ist. Dazu wird im DFG-Projekt »Kompetenzentwicklung von Psychotherapeutinnen« unter der Leitung von Heidi Möller und Svenja Taubner geforscht. Diesen Buchbeitrag werden wir auf das emotionale Erleben und die Emotionsregulierung fokussieren. Da Fragen der Kompetenzentwicklung nicht nur durch Outcome-Forschung beantwortet werden können, schlagen Ronnestad und Ladany (2006) folgende Konzeptualisierungsmöglichkeiten zur Messung des Fortschritts der angehenden Therapeutinnen in der Psychotherapieausbildung vor: »(a) Klientinnenergebnisse (z. B. Symptomveränderungen, Einsicht und Verhaltensänderungen), (b) Supervisionsbeziehungen (z. B. Arbeitsbündnis), (c) Konzeptkompetenz der Therapeutinnen und Theoriewissen (z. B. akademisches Wissen, diagnos© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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tische Fähigkeiten, Prozesswissen), (d) therapeutische Reflexionsfähigkeiten (z. B. interkulturelles Wissen, Reflexion der Gegenübertragung), (e) interpersonale Merkmale der Therapeutin (z. B. Selbstwirksamkeit, Angst), (f) therapeutische Fertigkeiten (z. B. Methoden und Interventionsformen) und (g) therapeutische Fähigkeiten zu einer kritischen Selbst-Bewertung« (Ronnestad u. Ladany, 2006, S. 266). Orlinsky und Ronnestad (2005) erarbeiteten ein Stufenmodell der Entwicklung von Psychotherapeutinnen und beschreiben die Stufen der Entwicklung als konventionelles Stadium, Übergang zur professionellen Ausbildung, Imitation von Experten, konditionale Autonomie, Exploration, Integration, Individuation bis zur Integrität. Gegenstand der Psychotherapieausbildungsforschung definieren Laireiter und Botermans (2005) wie folgt: »Ausbildungsforschung repräsentiert einen Teilbereich der Psychotherapieforschung. Ihr Gegenstand ist die Erforschung und Beschreibung von Ausbildungen und Ausbildungscurricula und von Ausbildungs- und Trainingselementen in Psychotherapie, vor allem im Hinblick auf ihre Effekte und unterschiedliche Outcomebereiche (Stichwort: Was ist ein guter und effektiver Therapeut? […]) Ausbildungsforschung ist aber nicht nur um die Erforschung der Effekte von Ausbildung bemüht, sondern auch mit der Frage beschäftigt, welche differentiellen Variablen auf Seiten der Ausbildungsteilnehmer, der Ausbilder und der Curricula die Ausbildungseffekte beeinflussen. Weiterhin werden Prozess-Effekt-Fragen thematisiert, d. h. welche prozessualen Komponenten (z. B. Qualität der Beziehung zwischen Ausbilder und Trainee, Vereinbarungen etc.) Einfluss auf das Ergebnis haben« (Laireiter u. Botermans, 2005, S. 55). Psychotherapieausbildungsforschung spielt allerdings in der Psychotherapieforschung nur eine untergeordnete Rolle und die Befunde werden aus unterschiedlichen Bereichen zusammengeführt (Laireiter u. Botermans, 2005), es wird aber von vielen Autoren (Cremerius, 1987; Kernberg, 1998; Richter, 2005; Wiegand-Grefe u. Schuhmacher, 2007) auf die Bedeutung hingewiesen und ein Forschungsbedarf angemahnt. Strauß und Kohl (2009, S. 420) beschreiben die Kernkompetenzen von Psychotherapeutinnen basierend auf einem Po© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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sitionspapier der Bundespsychotherapeutenkammer, diese werden in fachlich-konzeptionelle, personale und Beziehungskompetenzen aufgeteilt. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Differenzierung eigener und fremder Affekte, Kognitionen, Wünsche und Erwartungen beschreiben die Autoren explizit als geforderte Beziehungskompetenz. Wir konnten bereits zeigen, dass die Emotionserkennungsfähigkeit zu Beginn der Ausbildung höher ist als bei Laien (Pauza, Möller, Benecke, Kessler u. Traue, 2010). Das emotionale Erleben und die Emotionsregulation haben sowohl im Alltag als auch in der Psychotherapie einen zentralen Stellenwert, weil das Wohlbefinden durch das Erleben von negativen Emotionen bzw. ungünstiger Regulierungsstrategien beeinträchtigt werden kann. Es gibt gegenwärtig weder für Emotion noch für Emotionsregulierung eine allgemein anerkannte Definition. Scherer und Wallbott (1990) beschreiben fünf Hauptkomponenten, die eine Emotion kennzeichnen. Die Komponenten setzen sich zusammen aus: 1) Kognition (Bewertung des Ereignisses), 2) physiologische Reaktionen, 3) Motivation (Handlungstendenzen der Emotion), 4) Ausdrucksverhalten und 5) subjektives Erleben. Nach Gross (2001) wird unter Emotionsregulation der Einsatz aller bewussten und unbewussten Strategien, um eine oder mehrere Komponenten einer Emotion zu erhöhen, zu halten oder abzuschwächen, verstanden. Psychotherapeutinnen sind ein bedeutsamer Wirkfaktor gelingender Psychotherapien und ihr Einfluss auf das Therapieergebnis wird höher geschätzt als die angewandte Methode (Wampold, 2001). Der Grundstock im Sinne des »Könnens« (Richter, 2009) sollte in der Ausbildung gelegt werden. Die Emotionsregulierungsfähigkeit der Therapeutin sehen wir als zentral an, damit die Affekte der Patientinnen aufgenommen und in der Therapie bearbeitet werden können (Benecke, 2002). Günstige Emotionsregulierungsstrategien, zum Beispiel im Sinne von mentalisierter Affektivität (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2004), sehen wir schulenübergreifend als Basisfähigkeiten an, die ein wirksames therapeutisches Handeln ermöglichen. Bislang gibt es allerdings zum emotionalen Erleben und zur Emotionsregulierung während psychotherapeutischer Ausbildung keine © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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empirischen Befunde, daher sind wir der Frage nachgegangen, welche Emotionen Psychotherapeutinnen zu Beginn der Ausbildung am intensivsten erleben und welche Emotionsregulierungsstrategien vorherrschend sind.

Methode Es wurde der EER-Fragebogen zur Erfassung des emotionalen Erlebens und Emotionsregulation (Benecke, Vogt, Bock, Koschier u. Peham, 2008) eingesetzt. Der Fragebogen gilt als praktikabel, sehr gut differenzierend und valide. Die teststatistischen Kennwerte sind überwiegend im mittleren bis guten Bereich einzustufen. Der EER misst das emotionale Erleben auf 20 Skalen, die Emotionsregulierung bezogen auf eine als schwierig erlebte Emotion auf 15 Skalen. Die Skalen zum emotionalen Erleben beinhalten Interesse (aufmerksam, konzentriert, wach), Freude (vergnügt, erfreut, fröhlich), Überraschung (überrascht, erstaunt, verblüfft), Wut (wütend, ärgerlich, zornig), Ekel (angewidert, angeekelt, abgestoßen), Verachtung (verachtend, spöttisch, geringschätzend), Scham (verlegen, verschämt, gehemmt), Schuld (schuldig, reumütig, tadelnswert), Trauer (niedergeschlagen, traurig, entmutigt), Angst (ängstlich, furchtsam, erschreckt), Leblosigkeit (leblos, erstarrt, leer), Einsamkeit (einsam, verlassen, isoliert), Liebe und Zärtlichkeit (zärtlich, liebevoll, geborgen), Neid und Eifersucht (neidisch, eifersüchtig), Reizbarkeit (reizbar, mürrisch, übellaunig), Unbeherrschtheit (aufbrausend, unbeherrscht, auffahrend), Hemmungslosigkeit (hemmungslos, stürmisch, ungestüm), Impulsivität (sprunghaft, impulsiv, unstetig), diffuse Angst (unsicher, diffus angespannt, in ängstlicher Erwartung) und Hilflosigkeit (schutzlos, hilflos, ausgeliefert). Auf einer Skala von 0 (überhaupt nicht) bis 6 (außerordentlich) wird die Intensität angegeben. Die Skalen zur Emotionsregulierung lauten: Verwirrung (z. B. bin ich hin- und hergerissen zwischen widersprüchlichen Gedanken), Belastung / Überforderung (z. B. meine ich, mit diesem Gefühl nicht fertig werden zu können), Rückzug / Lähmung (z. B. ziehe ich mich zurück), Dissoziation (z. B. kommt es mir vor, als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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wäre ich nicht ich selbst), Körperwahrnehmung (Ausdruck) (z. B. kann ich die körperlichen Signale in Bezug auf mein Gefühl nicht verbergen), Körperwahrnehmung (Nutzung) (z. B. kann ich meine Körperempfindung als Hinweis auf meine Wünsche und Bedürfnisse nutzen), Reflexion (z. B. denke ich darüber nach, warum dieses Gefühl aufgetaucht ist), soziale Unterstützung (z. B. suche ich die Nähe einer vertrauten Person), Empathie / Perspektivenübernahme (z. B. kann ich nachvollziehen, was andere denken), Externalisierung (z. B. ist das eine Reaktion auf das Verhalten anderer), Musterreflexion (z. B. nehme ich wahr, dass ich in bestimmten Situationen immer auf diese Weise reagiere), Ablenkung (z. B. beschäftige ich mich erst einmal mit etwas anderem), Black-out (z. B. weiß ich hinterher nicht mehr, wie es dazu kam), Spontaneität (z. B. reagiere ich, ohne lange nachzudenken) und sich verlieren (z. B. lasse ich die Dinge einfach geschehen). Auf einer Skala von 0 (trifft überhaupt nicht zu) bis 6 (trifft vollständig zu) wird der Einsatz der verschiedenen Strategien geratet.

Ergebnisse Die Daten wurden im Zeitraum 2006 – 2007 erhoben. Insgesamt beteiligten sich 88 Probanden aus folgenden Richtungen: – Verhaltenstherapie (N = 15), Berliner Akademie für Psychotherapie – Psychodynamische Psychotherapie (N = 14), Berliner Akademie für Psychotherapie – Psychodynamische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (N = 14), Berliner Akademie für Psychotherapie – Integrative Psychotherapie (N = 11), Donau-Universität Krems – Klientenzentrierte Psychotherapie (N = 8), Donau-Universität Krems – Psychotherapeutische Medizin (N = 14), Donau-Universität Krems – Psychodrama (N = 12), Universität Innsbruck Die Auswertungen wurden mit Excel und SPSS durchgeführt. Die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Stichprobe besteht aus ca. 90 % Frauen und 10 % Männern mit einem Durchschnittsalter von gerundet 35 Jahren. Tabelle 1: Emotionales Erleben zu Beginn der Ausbildung Emotionales Erleben MW Interesse Freude Überraschung Wut Ekel Verachtung Scham Schuld Trauer Angst Leblosigkeit Einsamkeit Liebe Neid Reizbarkeit Unbeherrschtheit Hemmungslosigkeit Impulsivität diffuse Angst Hilflosigkeit

4,34 3,91 2,05 1,84 ,49 ,81 1,34 1,14 1,96 1,13 ,66 1,12 3,78 1,20 1,46 1,20 1,66 1,87 1,78 1,25

S ,904 1,172 1,304 1,259 ,807 ,827 ,937 1,168 1,471 1,081 1,015 1,280 1,298 1,233 ,935 1,131 1,247 1,066 1,105 1,090

N = 88 Teilnehmerinnen, MW = Mittelwert, S = Standardabweichung

Tabelle 1 zeigt die Mittelwerte und Standardabweichungen der Emotionsskalen der N = 88 Teilnehmerinnen. Die Skala reicht von 0 (überhaupt nicht) bis 6 (außerordentlich). Beim emotionalen Erleben zeigt sich, dass die Psychotherapeutinnen am intensivsten Interesse, Freude und Liebe erleben. Die geringste Intensität erleben sie bei den Emotionen Ekel, Leblosigkeit und Verachtung. Es ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Ausbildungsgruppen. Die am häufigsten genannte Emotion, die als am schwierigsten für die Teilnehmerinnen gilt und auf die sich die Regulierungsstrategien im Folgenden beziehen, war diffuse Angst. Insgesamt wird der ängstliche Bereich (diffuse Angst, Angst und Hilflosigkeit) am häufigsten genannt, gefolgt von Einsamkeit, Wut, Schuld © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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und Eifersucht. Die detaillierte Aufschlüsselung findet sich in Tabelle 2. Tabelle 2: Anzahl der Personen, die die gleiche schwierige Emotion ausgewählt haben (N = 88) Emotion Anzahl Emotion Anzahl diffuse Angst Einsamkeit Wut Angst Hilflosigkeit Schuld Eifersucht Trauer

18 12 10 8 7 6 6 4

Tabelle 3: Emotionsregulierung Emotionsregulierung Verwirrung Belastung Rückzug Dissoziation Körperwahrnehmung (Ausdruck) Körperwahrnehmung (Nutzen) Reflexion soziale Unterstützung Empathie Externalisierung Musterreflexion Ablenkung Black-out Impulsivität sich Verlieren

Ekel Unbeherrschtheit Scham Leblosigkeit Verachtung Impulsivität Fehlend Gesamt

MW 3,20 3,34 3,35 1,93 2,15 2,68 4,57 4,14 2,92 2,45 4,33 2,39 1,20 2,65 2,38

4 3 3 3 1 1 2 88

S 1,423 1,465 1,384 1,577 1,276 1,570 1,025 1,357 1,206 1,860 1,418 1,319 1,124 1,241 1,298

N = 88 Teilnehmerinnen, MW = Mittelwert, S = Standardabweichung

Tabelle 3 zeigt die Mittelwerte und Standardabweichungen der Emotionsregulierungsskalen bei N = 88 Versuchspersonen. Die Skala reicht von 0 (trifft überhaupt nicht zu) bis 6 (trifft vollständig zu). Bei der Emotionsregulierung ist die Reflexion, die Musterreflexion und die soziale Unterstützung die am meisten eingesetzte Regulierungsstrategie. Am wenigsten werden Emo© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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tionen durch Black-out, Dissoziation und Körperwahrnehmung (Ausdruck) reguliert. Es wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen den verschiedenen Ausbildungsgruppen gefunden.

Diskussion Betrachtet man das emotionale Erleben der Psychotherapeutinnen zu Beginn der Ausbildung, kann man feststellen, dass dies als gesund interpretiert werden kann, da die am intensivsten erlebten Emotionen, Interesse, Liebe und Freude, den positiven Emotionen zugordnet werden und für die therapeutische Arbeit eine heilsame Haltung ermöglichen. Die geringste Intensität bei Ekel, Leblosigkeit und Verachtung ist auf den ersten Blick auch als günstig – insbesondere für die Arbeit mit den Patientinnen – einzustufen. Hier muss die Limitation der Studie, die das emotionale Erleben als Selbstbericht der Psychotherapeutinnen misst, auch betrachtet werden. Wer möchte sich schon gerne eingestehen, seine Patientinnen eklig zu finden oder weniger geschickte Kolleginnen zu verachten, bzw. wie bewusst werden diese als negativ geltenden Emotionen zu Beginn der Ausbildung erlebt? Krause (2005) hat anhand von sehr genauen Mimikanalysen therapeutischer Gespräche zeigen können, dass die subjektiven Einschätzungen der Therapeutinnen bezogen auf das Erleben negativer Affekte weitaus geringer war, als die in den realen Gesprächen über die Mimik sichtbar gewordenen negativen Affekte. Krause (2005) spricht sich bei den politisch unkorrekten Emotionen, Verachtung, Ekel und Ärger, dafür aus, die adaptive Funktion mit zu berücksichtigen. Dies erfolgt durch das Bestimmen der protokognitiven Struktur der »bösen« Emotionen. Unserer Meinung nach ist es für Therapeutinnen günstig, die Fülle eigener Emotionen erleben und regulieren zu können, sie als Informationsquelle in der Psychotherapie im Sinne der Gegenübertragungsanalyse zu nutzen und für den Patienten hilfreich einsetzen zu lernen. Der entscheidende Schritt in der Kompetenzentwicklung der Psychotherapeutinnen stellt nicht nur die Erweiterung des affektiven Erlebensspektrums dar. Dies wird möglich, wenn es Psychotherapeutinnen in Ausbildung in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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einer Situation der psychischen Sicherheit, der Lehranalyse oder Eigentherapie gelingt, die Abwehr zu lockern. Der Einfluss der Eigentherapie auf die Qualität der Arbeit von Psychotherapeutinnen wird kontrovers diskutiert, es stehen noch klare Belege zum Beitrag gerade dieses von den Ausbildungsteilnehmerinnen so sehr geschätzten Ausbildungselements auf die Kompetenzentwicklung von Psychotherapeutinnen aus (Laireiter u. Botermans, 2005). Dennoch gehen wir davon aus, je gelungener die Eigentherapie, desto mehr »darf« erlebt werden. Der entscheidende Schritt der Professionalisierung ist jedoch das theoriegeleitete Verstehen eigener Affekte in der Behandlung. Nur durch ein konzeptuelles Verstehen kann es gelingen, die Gegenübertragungsphänomene von den eigenen Übertragungen auf die Patientinnen zu unterscheiden. Sind Gegenübertragungsgefühle erlebt und verstanden, kann auch eine angemessene Intervention formuliert werden. Es wird dabei allerdings auch deutlich, wie sehr die Arbeit mit Emotionen nicht nur die therapeutische Arbeit, sondern auch die gesamte Persönlichkeit und letztlich auch das Privatleben der Psychotherapeutin tangieren kann. Jaeggi (2004) schreibt dazu: »Was Therapeuten sich selbst und ihren Berufskollegen abverlangen, ist einer Verkennung des Berufs geschuldet, einer Idealisierung, die wiederum dem Größenwahn entspringt. Nicht nur die Berufswahlmotive sind durchtränkt von diesem Größenwahn des ›Besonderen‹, auch die vielen Bemühungen von Psychotherapeuten, sich ihre eigene Situation schönzureden, sich die Tatsache ihrer oft schlechten privaten Beziehungen irgendwie per Verleugnung und Projektion schmackhaft zu machen, zeugen davon« (Jaeggi, 2004, S. 213). Jaeggi betont an dieser Stelle den besonderen Druck, unter den sich Psychotherapeutinnen setzen, besonders glückliche oder ausgeglichene Menschen sein zu müssen, also ihr Gefühlsleben in Hinblick auf »positive« Gefühle zu manipulieren. Professionelle Kompetenzen werden gleichsam durch private Befindlichkeit fundiert. Sie spricht sich für »normal menschliche« Therapeutinnen aus und wendet sich damit gegen normative Setzungen, die in vielen Ausbildungsinstituten herrschen. Ihr Appell zielt auf

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die Senkung des Über-Ich-Drucks, der eine angemessene Emotionsregulierung vielleicht erst ermöglicht. Für den Bereich der Emotionsregulierung wurden die konstruktiven Regulierungsstrategien, Reflexion und Musterreflexion als häufig benannt, was ebenfalls als günstig zu bewerten ist. Ebenso verhält es sich bezogen auf die geringen Werte bei den Regulationsstrategien Black-out und Dissoziation, da diese Strategien als problematisch eingestuft werden. Die niedrigen Werte im Bereich Körperwahrnehmung (Ausdruck) bedeuten, dass die Therapeutinnen wenig Affekte in der zwischenmenschlichen Kommunikation zeigen. Dies deckt sich auch mit den Befunden von Krause (2005), der die Therapeutinnen als »Abstinenzkünstlerinnen« bezeichnet. Bei der als schwierig erlebten Emotion schien uns die häufige Nennung im ängstlichen Bereich plausibel und angemessen, da die Psychotherapeutinnen zu Beginn der Ausbildung leicht in überfordernde Situationen geraten können. In unseren theoretischen Vorüberlegungen war unser Fokus eher auf Neid (Haubl, 2001) und Ärger (Krause, 2005), überrascht stellten wir allerdings fest, dass Einsamkeit für 12 von 88 Teilnehmerinnen als besonders schwierig gilt. Die Postmessung ist weit vorgeschritten. Ein Prä-Post-Vergleich, der die Entwicklung während der psychotherapeutischen Ausbildung nachzeichnet, wird voraussichtlich 2013 vorliegen.

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Von langer Hand vorbereitet? Neue Organisationslogiken und die Bewältigung der universitären Zukunft

Zukunftsentwürfe bilden einen Horizont, an dem sich Erwartungen und Handlungen ausrichten. Sie strukturieren die Gegenwart nicht nur in zeitlicher Perspektive, sondern prägen und bestimmen sie auch in operativer und struktureller Hinsicht, beispielsweise indem Organisationen umgestaltet, Abläufe neu geregelt und Ziele redefiniert werden. Im Bereich der Universität wird an der Gestaltung der Zukunft seit geraumer Zeit fleißig gearbeitet. Mit dem Ziel, die »Idee der Universität« (Humboldt) zu rationalisieren, sie gestalt- und kontrollierbarer zu machen, wurde das New Public Management zum Leitmotiv der Universitätsentwicklung – in den Niederlanden und in England begann dies bereits in den 1980er-Jahren, in Deutschland setzte der Veränderungsdruck im Verlauf der 1990er-Jahre ein (Schimank, 2005; Schwarz u. Teichler, 2003; Aulenbacher u. Riegraf, 2010a, 2010b). Es wurde zu einem übergreifenden Anliegen, eine Einrichtung zu modernisieren, deren Eigenlogik, besonderer Zeitrhythmus und spezifische Organisationskultur immer häufiger kritisiert wurden. Nicht zuletzt die Organisationssoziologie attestierte der eigenen Arbeitsstätte schon früh Koordinationsmangel, Trägheit, wenig Kontrolle sowie die Unfähigkeit, Entscheidungsprozesse zu steuern (vgl. z. B. Cohen, March u. Olsen, 1972; Weick, 1976; Clark, 1998). Seither stellen die Universitäten um auf das Regulativ von wachsender Kontrolle, gegenseitiger Beobachtung und intensivem Wettbewerb. Der Katalog der Maßnahmen ist breit und auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt: »Bologna-Reform«, »Exzellenz-Initiativen«, »Rankings« und die »W-Besoldung« zielen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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gleichermaßen darauf ab, die Produktivität von Universitäten sicht- und messbar zu machen.

Der Beginn der Zukunft Die nachfolgend einsetzende Strukturreform der deutschen Universitäten nahm in den 1990er-Jahren ihren Auftakt mit der Änderung der Hochschulgesetze zum Zwecke, die universitäre Selbstverwaltung durch eine managerial gestaltete Hochschulbürokratie, manchmal auch unter Beteiligung der lokalen Wirtschaft, umzuwandeln. Damit sollten die gemäß der Humboldt’schen Idee einer programmatischen Offenheit von Universitäten etablierten Strukturen und Ausrichtungen entlang neuen, an Effizienz orientierten Kriterien umgewandelt werden. Eingeleitet wurde ein Paradigmenwechsel, der die durch Humboldt begründeten Strukturbesonderheiten deutscher Universitäten aufzulösen beabsichtigte. Humboldt hatte es zur Absicherung der wissenschaftlichen Autonomie für erforderlich gehalten, die akademische Produktion von der staatlichen Verwaltung strikt zu trennen, was erstens zum Aufbau einer parallelen Verwaltungsstruktur in Universitäten führte – eine Zentralverwaltung und eine akademische Selbstverwaltung, welche die Koordination ihrer wissenschaftsinternen Angelegenheiten selbst regelte. Zweitens mahnte er mit seinem Postulat der Autonomie der Wissenschaften eine sachbezogene, durch Vernunft und rationale Argumentation geleitete Koordination der eigenen Angelegenheit an, die vom Staat lediglich organisatorisch gestützt und begleitet werden sollte. Drittens schließlich formulierte Humboldt die Vorstellung, dass die Universität durch Werte zusammengehalten werde. Durch die Ausrichtung auf »Freiheit« und »Einsamkeit« etabliere sich, so seine Vorstellung, eine Distanz von Wissenschaft und Politik; die politische Neutralität der Wissenschaftler sollte die Freiheit der Wissenschaft bewahren (Humboldt, 1964; siehe dazu auch Mittelstraß, 1982). Seitdem nun die Orientierung der Universitäten an verbindlichen, geteilten Werten aufgekündigt und durch das Ansinnen ersetzt wird, eine Markt- und Nutzenorientierung zu realisieren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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und die Produktionsabläufe insgesamt zu rationalisieren, richtet sich das gesamte System Universität am »Prinzip der Knappheit« aus (Huber, 2008, S. 283). Mit der Einführung von »Knappheit« ist verbunden, dass nunmehr alle Akteure aufgefordert sind, »Knappheit« abzuwehren oder mit ihren Folgen umzugehen. Als Produkt dieses neuen Mechanismus entsteht eine neue Ungleichheit unter den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen. Manche haben fortan ein Interesse daran, die Ungleichheit aufrechtzuerhalten, weil sie Vorteile mit der Asymmetrie verbinden, andere erfahren buchstäblich am eigenen Leib, wie sich die neue Leitlinie auf die Alltagsebene aller Beteiligten durchschlägt, wenn beispielsweise ein Zugewinn der Forschung in einer benachbarten Fakultät aus den der eigenen Fakultät abgezogenen Lehrmitteln finanziert wird.

Maßstäbe des Zukünftigen Begleitend zum »Prinzip Knappheit« wurde die Einführung von Studiengebühren betrieben, die, auch wenn sie in mehreren Bundesländern wieder abgeschafft wurden, doch die Funktion übernahm, auch den Studierenden den politischen Willen unmissverständlich klar zu machen; das Einläuten der neuen Ära sollte vor den zukünftigen Hochschulabsolventen und -absolventinnen nicht haltmachen. Auch gehört zum »Prinzip Knappheit«, dass die für Forschung zur Verfügung gestellten Mittel zunächst erhöht und im Rahmen verschiedener von Bund und Ländern geförderter und finanzierter »Exzellenz-Initiativen« selektiv verausgabt werden. Damit werden zum einen bundesweite Unterschiede zwischen den Universitäten geschaffen und dafür gesorgt, dass die Universitäten in ihren Bestrebungen, »Exzellenz-Universitäten« zu werden, in Konkurrenz zueinander treten und das Akademische als Gemeinsames in den Hintergrund tritt. Darüber hinaus ist angesichts dieser Bemühungen vollkommen offen, was eigentlich mit der Mehrzahl der nichtexzellenten Universitäten geschehen soll. Zum Zweiten entstehen auf diese © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Weise Forschungszusammenhänge, die weder in die in den Fakultäten vorhandenen wissenschaftlichen Profile noch in die Lehre zu integrieren sind. Es sind Areale und Aktivitäten von Forschung geschaffen worden, die abgekoppelt vom universitären Alltag von Forschungsbürokratien initiiert, verwaltet und betreut werden, die jedoch für die Strukturen der Fakultäten mit langfristigen Folgen verbunden sind; beispielsweise durch die Verpflichtung der Fachbereiche, die Forschenden nach Ablauf der Verbundprojekte als Professoren zu integrieren, unabhängig von Passung dieses Personals in die fakultätsspezifischen Profile von Lehre, von disziplinären Selbstverständnissen und langjährig existierenden, universitätsinternen, eigenen Forschungskulturen und thematischen Ausrichtungen. Da nicht wirklich zu erwarten ist, dass gerade diejenigen Personen, die bislang in den als »Leuchttürmen« deklarierten Forschungsverbünden agieren und dort von der Lehre entlastet sind, sich nach Beendigung ihrer Arbeit im Forschungsverbund bereitwillig den Erfordernissen der fakultären Lehre und Administration anpassen, manifestiert sich damit auch eine strukturelle Marginalisierung universitärer Lehre. Diese wird seither überwiegend vom Personal eines neu eingerichteten Stellentypus bewältigt, den sogenannten Hochdeputats- oder Überlast-Stellen, auch »Lehrkraft für besondere Aufgaben« oder schlicht »Lehrknecht« genannt. Mit Lehrverpflichtung von bis zu 18 Semesterwochenstunden arbeiten hier Nachwuchskräfte mit befristeten Verträgen, denen es nur im glücklichen Ausnahmefall gelingt, eigene Forschung und Weiterqualifizierung zu realisieren. Wie alle anderen Mitglieder der Universität werden aber auch sie an stetiger Produktivität gemessen und mit den aus dem ökonomischen Bereich zur Verfügung stehenden Werkzeugen, wie Zielvereinbarungen, Evaluationen und Einsparungsdruck, konfrontiert. Da sie so viel unterrichten, haben sie faktisch wenig Zeit zu forschen und dies wird – durch die neuen Tools attestiert – zur neuen Evidenz, die dann nachfolgend der Rechtfertigung der Aufteilung von Universitäten in einen Forschungszweig einerseits und einen College-ähnlichen Lehrbereich andererseits dient. Dem im Zuge dieser Entwicklung erneut etablierten Gender-Bias wird dann durch verschiedene Maßnahmen der akademischen Gleichstel© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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lungspolitik zu begegnen versucht. So arbeiten heute in den einschlägigen Abteilungen manch einer Universitätsverwaltung mehr Wissenschaftlerinnen als in der Geschlechterforschung promovieren oder gar habilitieren (Dörre u. Neis, 2008; Binner, Kubicek u. Weber, 2010).

Zukunft des akademischen Personals Die neuen Unterschiede haben dazu geführt, dass es mittlerweile vier Gruppen von Wissenschaftlern in der Universität gibt. Heinz Steinert unterscheidet in: 1. die Exzellenz-Professor/-innen mit reduziertem Lehrdeputat, 2. die Normal-Professor/-innen alten Schlages, die noch unter die C-Besoldung fallen und noch 15 weitere Jahre an vergangene Zeiten erinnern werden, 3. die W-Professor/-innen, die teilweise mit befristeten Verträgen arbeiten und stetiger Evaluation ausgesetzt sind, 4. ein wissenschaftliches Prekariat, das auf befristeten Stellen den überwiegenden Teil der BA-Ausbildung und der Lehrerausbildung leistet und in der universitären Wahrnehmung als »Ausstattung« der Professuren firmiert (Steinert, 2010, S. 315). Auf der Ebene des alltäglichen Miteinanders bewirkt diese Differenzierung eher Neid und Missgunst denn Solidarität und Kollegialität und auch die Hochschulleitungen tun das ihrige, um die als dem Wettbewerb förderlich angesehenen Unterscheidungen zu stabilisieren. So werden beispielsweise die Kolleginnen und Kollegen mit W-Besoldung nach Unterzeichnung ihrer Verträge von der Hochschulleitung gebeten, das Ergebnis ihrer Berufungsverhandlungen nicht nach außen zu kommunizieren. Auf diese Weise wird sowohl die Illusion einer auf die Person bezogenen Gehaltsverhandlung in einer bürokratischen Organisation genährt als auch versucht, die neu eingeführten drastischen Gehaltsunterschiede unsichtbar zu machen. Mit demselben Wohlverhalten diesem Ansinnen der Hochschulverwaltung gegenüber erstellt das wissenschaftliche Personal dann auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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alljährlich Auflistungen ihrer Publikationen, Drittmittelprojekte und betreuten Dissertationen. Da aber trotz diverser universitätsinternen wie auch hochschulübergreifender Arbeitsgruppen zum Thema »W-Besoldung« bis heute nicht klar ist, ob diese nach dem Motto Viel zählt viel bewertet werden sollen, also ob Zitationsindizes die Bedeutung und die Qualität des Aufgelisteten abbilden können und wie eigentlich die Bandbreite von Inhalten und diversifizierten Reputationskontexten in standardisierter Form abgebildet werden sollte, wird stellvertretend auf eine Rhetorik der Bedeutsamkeit zurückgegriffen, die alle anderen Dimensionen von Qualität vom Tisch zu fegen sucht. Adjektive wie »renommiert«, »exzellent«, »peer reviewed« oder die Rede von »echten« Drittmitteln (in Unterscheidung zu staatlichen Mitteln oder der Förderung durch kleinere Stiftungen) etablieren einen Verweisungszusammenhang, der Hierarchisierungen ermöglicht, ohne auch nur eine einzige inhaltliche Begründung zu liefern; beispielsweise wies der frühere Präsident der Frankfurter Goethe-Universität einen Berufungsvorschlag Augen rollend und im Duktus der Empörung mit dem Hinweis zurück, dass die auf Platz 1 gelistete Person vor allem Veröffentlichungen in Büchern vorwies, die sie selbst herausgegeben hatte. Die hier zum Ausdruck gebrachte Abwertung von Forschungsleistungen, die nicht der neuen Kanonisierung der Orte und der Arten und Weisen des Publizierens (oder auch der von außen finanzierten Projektfinanzierung) folgen, ignoriert nicht nur disziplinenspezifische Unterschiede, sie spiegelt auch die Veränderungen des universitären Umgangs mit dem Personal und den Inhalten. Die Zeiten, in denen Forschung darin bestand, dass einzelne Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nachdenkend ihre eigene Tätigkeit reflektierten, sollen der Vergangenheit angehören und es wird zur Anekdote, dass Niklas Luhmann bei der Übernahme seiner Professur in Bielefeld angab: »Forschungsprojekt: Theorie der Gesellschaft, Laufzeit: 30 Jahre, Kosten: keine« (Steinert, 2010, S. 316).

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Bürokratisierung des Universitären Die Faustformel Ein Drittel Lehre, ein Drittel Forschung, ein Drittel Selbstverwaltung gilt nicht mehr und die Erhöhung von verwaltungsähnlichen Tätigkeiten steht nicht zuletzt im Zusammenhang mit diversen Arten von Zufriedenheits- und Qualitätsmessungen reichend von Lehrevaluationen, Akkreditierungsverfahren, Hochschulrankings bis hin zur Begutachtung von Anträgen und Beiträgen, die phasenweise mehr Zeit in Anspruch nehmen als Forschung und Lehre zusammen (siehe dazu Hirschauer, 2004; Weingart, 2005; Münch, 2007; Wissel, 2007; Matthies u. Simon, 2008; Krücken, Blümel u. Kloke, 2010). Auch diese Entwicklung nahm ihren Ausgang mit der selbstkritischen Analyse der Soziologie, die Besorgnis darüber artikulierte, dass die Sozialwissenschaften »ohne Qualitätskontrolle« expandierten (Allmendinger, 2001) und die den Anlass für intensivierte Bemühungen um eine systematische Evaluierung sozialwissenschaftlicher Tätigkeiten bildete. Die Pilotstudie »Forschungsrating« des Deutschen Wissenschaftsrats, deren Ergebnisse für die bundesdeutsche Soziologie 2008 vorgestellt wurden, erfasste insgesamt 376 Soziologie-Professorinnen und Professoren sowie 999 Personen aus dem sogenannten Mittelbau. Ziel war es nicht, Kompetenzeinschätzungen zu einzelnen Personen abzugeben, sondern die Leistung von Einrichtungen sichtbar zu machen. Zugleich wurde mit dem Pilotprojekt auch ein neues Evaluationsverfahren ausprobiert, dessen Mängel und Unausgereiftheit im Prozess seiner Anwendung zwar diskutiert und bilanziert wurden, wohl aber alles in allem der öffentlichen Wahrnehmung der soziologischen Disziplin nicht unbedingt förderlich waren. Da im Prozess der Erhebung weder sichergestellt werden konnte, dass auch alle Beteiligten einer Einrichtung an der Befragung teilnahmen, noch die Befragung auf ein institutionalisiertes Vorgehen bei der Messung von Forschungsleistungen zurückgreifen konnte, lassen sich die »Ergebnisse« der Studie gleichermaßen als Ausdruck methodischer Differenzen wie auch als festgestellte Leistungsunterschiede deuten. Beispielsweise war unklar, ob bei Messungen der Leistung von Einzelpersonen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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einer Betriebseinheit, die zwischen den Bewertungsitems »1« und »5« lagen, die Ergebnisse gemittelt werden sollten und ob auch die Personen mitgezählt werden sollten, die gar keine Angaben gemacht hatten. Auch die Bewertung der eingereichten Daten zu Drittmittelforschungen und Publikationen war, wie Friedhelm Neidhardt in seiner Bilanz der Pilotstudie berichtet, bestimmt von einem mühsamen Ringen um Kriterienbildung. Strittig war zum Beispiel, wie abweichende gutachterliche Einschätzungen der Qualität der Drittmittelforschung und der Publikationen berücksichtigt werden sollten, ob jeder eingeworbene Drittmittel-Euro gleich viel zählen oder aufgrund der Drittmittel gebenden Institution unterschiedlich gewichtet werden sollten (Neidhardt, 2008, S. 428 f.). Die Bandbreite der strittigen Themen wie auch der verschiedenen Einschätzungen lassen vermuten, dass im Ergebnis weniger eine Kontrolle der Qualität von Forschung etabliert wurde, als dass vielmehr eine Einführung von Steuerungsinstrumenten und Steuerungseffekten stattfand, die Reinhard Münch als »MatthäusPrinzip« mit der Folge einer self-fulfilling prophecy (Münch, 2008, S. 73 ff.) bezeichnet hat: Wird Ressourcenverstärkung bei denen etabliert, die in Forschungsratings gut abschneiden, und Ressourcenverknappung bei denen eingeführt, die schlecht abschneiden, dann verändern sich früher oder später auch die Motivationen der Forschenden. Notgedrungen beginnen Forscherinnen und Forscher irgendwann, ihre Forschung auf die Kriterien hin auszurichten, mit denen sie folgenreich gemessen werden. Dabei tritt dann das, was sie wirklich wissen wollen, und manchmal auch das, was sie gut können, in den Hintergrund. Es wird zunehmend schwerer, sich diesen Anforderungen zu entziehen, wenn Hochschulrankings in der Presse große Beachtung erfahren und die inneruniversitäre Anerkennungspolitik so gestaltet ist, dass diejenigen unterstützt und mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet werden, die sich als effizient in Sachen Drittmitteleinwerbung und bei der »Produktion« von Absolventinnen und Absolventen erweisen. Im Verlauf der Bologna-Reformen hat sich das Qualitätsmanagement als unhintergehbare Norm sukzessive etabliert. Dazu gehören auch Evaluationsformate, die von ihrer Inten© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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tion und Anlage her nicht auf Kontrolle, sondern auf kollegiale Selbstverständigung ausgerichtet sind. Das Evaluationsnetzwerk Wissenschaft (ENWISS) sieht beispielsweise vor, die Ergebnisse in Selbstverantwortung der Beteiligten ausschließlich für eine interne Verwendung mit dem Ziel der Verbesserung von Forschung und Lehre einzusetzen. Das hört sich gut an, hat aber zur Voraussetzung, dass die Beteiligten sich verbessern wollen und dass Einigkeit darüber besteht, worin die angestrebte Optimierung eigentlich genau bestehen sollte. In Frankfurt wurde die Beteiligung der Soziologie an ENWISS vom Präsidium angeordnet und der Bericht der Kommission verschwand in der sprichwörtlichen Schublade. Vereinzelt wurde im Zuge von Strukturplan-Debatten Bezug genommen auf die Anregung, ein Methodenzentrum zu gründen. Hin und wieder wurde angesichts der bis heute anhaltenden Blockade vakanter Professuren auf die anerkennende Würdigung der Frankfurter Sozialpsychologie durch ENWISS verwiesen, aber zur »Verbesserung« – wovon auch immer – hat dieses Unterfangen nicht beigetragen. Einzig die Kolleginnen und Kollegen, die das hochschulübergreifende Evaluationsteam bildeten, erwähnten die positive Erfahrung, sich gemeinsam Zeit genommen zu haben für eine Reflexion der verschiedenen Zustände an den beteiligten Universitäten, beklagten aber das zeitliche Ausmaß der Maßnahme und dessen Wirkungslosigkeit (Ackermann u. Blättel-Mink, 2009, S. 190 f.).

Positionen der Kritik Seit an der Realisierung der neuen Universität stetig, auf diversen Kanälen und mittels verschiedener Strategien, gearbeitet wird, fällt es zunehmend schwer, zu der beschriebenen Entwicklung in Distanz zu treten oder eine kritische Perspektive einzunehmen. Seit es zur präsidialen Strategie geworden ist, Kritik als ein Optimierungsinstrument zu integrieren, sie lediglich als einen Indikator für Schwachstellen und blinde Flecken der Maßnahmen zu benutzen und sie ansonsten ins Leere laufen zu lassen, bekommt auch der Gegenhorizont der Kritik eine instrumentelle und funktionalistische Färbung. Da darüber hinaus sich die feuille© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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tonistische Öffentlichkeit für den Zustand der Hochschulbildung nur am Rande interessiert und die Vorkommnisse, Veränderungen und Verluste der universitären Zukunft zwar kommentiert, aber es bis dato nicht vermochte, eine öffentliche Debatte über die Entwicklung der Universitäten zu initiieren, erscheint die viel bemühte Rede vom Elfenbeinturm nunmehr in der Form eines Desinteresses der politischen und kulturellen Öffentlichkeiten am Thema Universität. Es gibt nur wenige aufrechte und nicht zuletzt hartnäckig auf Reflexion und auf die gesellschaftliche Sinnhaftigkeit von herkömmlicher Hochschulbildung insistierende Nachwuchskräfte, die an den Möglichkeiten von Kritik festhalten. Sie können sich jedoch auch innerhalb der managerial agierenden Universität selbst nicht wirklich Gehör verschaffen, ihre Kritik verhallt bzw. trifft auf innerorganisationelle Resignation und Apathie, auf eine beim Personal weit verbreitete Haltung, dass es schlicht zu mühsam wäre, sich den in der Kritik enthaltenen Handlungsaufforderungen und Konsequenzen zu stellen. Vielleicht dominiert deshalb eine Variante von Kritik, die in Form von Satire, mit Zynismus und dem Mut der Verzweiflung das thematisiert, was keiner hören will und doch viele als anstrengend und unbefriedigend erleben. Beispielsweise empfiehlt der Bielefelder Wissenschaftsforscher Michael Huber, das Unbehagen an der neuen Rhetorik durch deren Verwendung als semantische Teilfelder eines »akademischen Bullshit-Bingo« zu lindern. Er beschreibt: »Bullshit-Bingo ist ein Spiel, das in allen Kommissionen, Gremien und anderen Treffen an europäischen Universitäten und Forschungszentren gespielt werden kann. Wie beim richtigen Bingo hat jeder Spieler eine Mehrfeldertafel vor sich, auf der jedoch Zahlen zufällig verteilt sind. Allerdings unterscheidet sich Bullshit-Bingo vom Bingo, da statt Zahlen Begriffe des akademischen New-Speak in den Zellen angeführt werden – Harvard, best practice, proactive, world class, win-win usw. Fällt in der Diskussion einer der Begriffe, wird die Zelle angekreuzt. Hat Spieler eine Spalte oder Reihe voll, muss er aufstehen und laut Bullshit schreien. Dann hat er gewonnen« (Huber, 2008, S. 284). Ähnlich sarkastisch bringt es ein per E-Mail zirkuliertes Pa© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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pier auf den Punkt, welches unter dem Titel »Scandal in Adorno’s City« anlässlich einer Auseinandersetzung in einer Berufungskommission anonym verfasst wurde. In der Kommission war es zu einem Bruch gekommen, als zwei professorale Mitglieder von der Kommissionsarbeit zurücktraten, nachdem die von ihnen vertretene Argumentation und Favoriten keine Mehrheit fanden. Zwar hatte sich die Kommission darauf verständigt, eine qualitative Beurteilung der Bewerberinnen und Bewerber vorzunehmen und sich nicht an der reinen Summierung von Drittmitteln sowie der Auszählung der Publikationen nach Maßstäben des Social Sciences Citation Index zu orientieren, dies wurde jedoch später von den Zurücktretenden als eine durch den Mittelbau durchgesetzte Position sowie als »Engführung der Denomination vor Qualität« bewertet. In der dem Rücktritt vorausgegangenen Auseinandersetzung war heftig gestritten worden und den Vertreterinnen des Mittelbaus wurde vorgeworfen, »stalinistische« Positionen und Verhaltensweisen einzunehmen. Die satirische Aufbereitung des Konfliktes folgte umgehend und stellte direkte Bezüge zwischen den zurückgetretenen Professoren und dem von ihnen favorisierten Bewerber her. Zumindest der Duktus der Flugschrift sei hier veranschaulicht: »In a hard-to-believe move, German communists turn into democrats, according to sources known by Globe and Mail. […] ›Currently, Stalinists again take a lead in abysmal thinking and acting at my university‹, the professor Shyer Spoof (name changed for safety reasons) told Globe and Mail yesterday. ›[…] it has always been a matter of the heart for me to cultivate breeding grounds for civil society‹, Shyer Spoof continued, ›but here, my tolerance finds its definite end. Stalinists voting, that’s too much‹. […] ›It could have been an easy move for them‹, Shyer Spoof told Globe and Mail, ›to get rid of professors they don’t like to come to Goethe University in their old-building Gulags in the basement of the university – a well-known practice of sociologists at the Goethe University in the past – today there is not a single move into this direction. During the debates that already last for more than two months, »nobody even mentioned Gulags‹. […] According to Shyer Spoof, the election move is orchestrated by younger academics, including but not limited to a thirty-something

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individual claiming to teach and doing research at the Department of Sociology. That people under 40 have a say at universities, as she explains, ›demonstrates the insidiousness of the Stalinist faction on German campuses more generally‹. ›They came as the well-known Gang of Four‹, Shyer Spoof describes the move, ›and changed into slit-eyes. The students even shouted »Ho-Ho-Ho Chi Minh« while raising their fists during the election process. It was one of the scariest experiences in my whole academic life‹, Shyer Spoof told Globe and Mail while whimpering. Continues page 5 …« (anonym versandte Rundmail).

Die Satire lebt bekanntlich von der Überzeichnung, der Verkehrung der Machtverhältnisse in ihr Gegenteil und von der Verselbständigung des Absurden. Sie hat die Kritik zur Voraussetzung und ist gewissermaßen der Insider-Gag der Wissenden. Abgesehen davon, dass es, besonders in harten Zeiten, nötig ist zu lachen, liegt jedoch die Frage nahe, ob Kritik derzeit nur noch als Untergrundaktivität Aufmerksamkeit zu erlangen in der Lage ist. Oder anders gefragt: Kann die Häme und intellektuelle Banalisierung des politischen Gegners als Ausdruck einer tiefen, nicht zu überwindenden Spaltung verstanden werden? Und: Wie schlecht ist es um die Chancen, der eigenen Position Gehör zu verschaffen oder sie zu Gestaltungszwecken einzusetzen, von denjenigen bestellt, die machtpolitisch systematisch marginalisiert werden? Und welche Möglichkeiten einer gemeinsamen Gestaltung des universitären Alltags kann es dann noch geben?

Der »emotionale Stil« der zukünftigen Universität Die beschriebenen Aktivitäten und Veränderungen untergraben das kollegiale Vertrauen. Auch wenn Hochschulen schon immer Konkurrenzunternehmen waren und Reputation und Statuswünsche spezielle Blüten hervortrieben, hat die wechselseitige Geringschätzung und Abwertung heute eine neue Qualität. Es geht nicht länger um vor allem inhaltlich begründete Differenzen, sondern um die Herstellung handfester Unterschiede hinsichtlich Gratifikationen, Anerkennung und Zugangsmöglichkeiten sowie darum, wer zukünftig welche symbolisch wie bewertete © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Aufgabe übernehmen darf, wer mitspielen darf und wer auf der Reservebank sitzen muss. Dabei droht auf der Strecke zu bleiben, dass die Substanz des produzierten Wissens neben dessen Performanz und Sichtbarmachung auch auf die gemeinsame Verständigung über die soziale und gesellschaftliche Bedeutung des universitären Wissens angewiesen ist. In Zeiten einer zunehmenden Relativierung wissenschaftlichen Wissens durch Informationstechnologie und industriefinanzierter Forschung ist es schon alleine deshalb nicht sinnvoll, die Anzahl derjenigen, die das wissenschaftliche Wissen praktizieren, rechtfertigen und in die Welt tragen, auf wenige sogenannte Exzellente zu beschränken. Da darüber hinaus das wissenschaftliche Wissen vor allem durch die Lehre, durch die auch zukünftig in großer Zahl prognostizierten Studierenden eine Breitenwirkung erfährt, braucht die Universität eine Arbeitsteilung, die weniger auf wechselseitiger Abwertung denn in dem Bezug auf gemeinsame Arbeitsweisen und Arbeitskulturen bestünde. Eine universitäre Zukunft wird es ohne Kommunikation und Dialog nicht geben, aber die Chancen dafür sind in den vergangenen zwanzig Jahren systematisch minimiert worden. Mit dem Umbau der Organisation und ihrer Strukturen haben sich auch das Personal und ihre Beziehungen zueinander und miteinander verändert. Eva Illouz hat die These aufgestellt, dass die gesellschaftlichen Möglichkeiten, über Intersubjektivität und die Chancen und Möglichkeiten von Beziehungen nachzudenken und sie in die Praxis umzusetzen, maßgeblich von einem übergreifenden »emotionalen Stil« abhängen (Illouz, 2009, S. 32 f.). Auch Universitäten haben ihren eigenen organisationellen »emotionalen Stil« entwickelt – eine Konstellation von Ideen, mittels derer Probleme und Krisen weniger über den Inhalt als über die Art und Weise ihrer Behandlung etabliert werden. Dieser Stil wird auf die beschriebene Art und Weise an verschiedenen Schauplätzen des Akademischen in Kraft gesetzt und drängt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in eine polare Gefühlskultur von selbstdarstellender Effizienz und Größe einerseits und banalisierter Zweitrangigkeit andererseits. Der spezifische »emotionale Stil« sorgt dafür, dass die Beteiligten in die gegebenen organisationellen Kontexte eingebunden werden, seine Nach© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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haltigkeit und Existenz hängen jedoch maßgeblich davon ab, ob sie den Einzelnen symbolische und praktische Handlungsmöglichkeiten für die Alltagsbewältigung zur Verfügung stellen. Worin aber liegt die pragmatische Kraft des neuen »emotionalen Stils« der Universität? Welche Versprechen sind mit diesem »emotionalen Stil« verbunden? Welche Funktionen können mit seiner Hilfe realisiert werden? Auf der allgemeinsten Ebene lässt sich zur Beantwortung dieser Fragen vermuten, dass der in den beschriebenen Maßnahmen enthaltene »emotionale Stil« die Universität an die Prinzipien der Gesellschaft anschließt und damit die Akteure von der Rechtfertigung ihres Sonderstatus befreit; sie sind jetzt wie alle anderen Arbeitnehmer auch, und die als Wissensfabrik relativierte Universität wird zu einer Organisation unter vielen. Auf der Ebene der Organisation sorgt der »emotionale Stil« für eine Kontrollierbarkeit und Planbarkeit. Damit wird das tendenziell Wildwüchsige und Chaotische der alten Universität gebändigt und die Universität erscheint kalkulierbarer ; eine Hoffnung, der Willkür raschen gesellschaftlichen Wandels, der auch die Universitäten erfasst, etwas entgegensetzen zu können. Auf der Ebene des zwischenmenschlichen Alltags schließlich verspricht der »emotionale Stil« die Wahrnehmung, Anerkennung und Wertschätzung zumindest all derjenigen, die sich als »erfolgreich« zu präsentieren vermögen. Die Funktionalität und Pragmatik dieses »Stils« kann also nicht bestritten werden. Strittig ist allerdings seine Zukunftsfähigkeit, also die Frage, ob es auf diese Weise gelingen kann, die gesellschaftliche Anerkennung der Universität zu sichern, ihre organisationellen Widersprüche zu befrieden und für die Wertschätzung des Personals zu sorgen. Es spricht so gesehen einiges dafür, sich auf die spezifischen Eigenarten und universitären Besonderheiten zu besinnen, oder um es in der Sprache des Bullshit-Bingos zu sagen: sich auf die universitären »Alleinstellungsmerkmale« zu besinnen.

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»Ich finde an unserer Klasse einfach toll, dass die so zusammengewürfelt ist« Heterogenität und Homogenisierungsbedürfnisse in schulischen Gruppen Wie verschränken sich institutionelle Strukturen von Schulen mit Dynamiken und Interaktionen in Schulklassen? Wie setzen sich Schülerinnen und Schüler mit ihren Bedürfnissen und Emotionen ins Verhältnis zu fremdbestimmten Vorgaben von Schule und wie bringen sie diese in die Gruppe ein? Am Beispiel von zwei fünften Schulklassen soll solchen Fragen mit dem Blick auf Vergemeinschaftungs- und Ausgrenzungsprozesse nachgegangen werden. Die beiden Fallbeispiele zeigen Gruppen in polar gegensätzlichen Schulformen: eine integrierte Gesamtschulklasse und eine selektierte Gymnasialklasse mit als »hochbegabt« getesteten Kindern. In ihren jeweiligen Setzungen von Selektion und Integration schaffen diese Schulen zugleich Gruppenkonstellationen und Rahmenbedingungen für die Kultur einer Schulklasse. Auch wenn das Fallmaterial schulpolitische Fragen tangiert, werden diese nicht weiter diskutiert. Der Fokus bei den zwei altersgleichen Gruppen von präadoleszenten Mädchen und Jungen liegt vielmehr auf den strukturellen und inneren Gemeinsamkeiten und Möglichkeitsräumen. Im Mittelpunkt stehen dabei entwicklungsspezifische, schulkulturelle und gruppenbezogene Dynamiken in ihrem Ineinanderwirken. Bei dem verwendeten Fallmaterial (sämtliche Namen und Angaben zu Personen wurden anonymisiert) beziehe ich mich auf Interviews eines laufenden Forschungsprojekts1, die in 1

Die Interviews sind Bestandteil des Forschungsprojekts »Zum sozioemotionalen Selbstverständnis hochbegabter Schülerinnen und Schüler. Eine Prozessanalyse von Bildungsverläufen in der Perspektive themenzentrierte qualitativer Interviews«. Beteiligte Institutionen: Pädagogische © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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mehreren gymnasialen Schulen erhoben wurden. Die Vorstudie des Forschungsprojekts bezog sich zunächst ausschließlich auf Kinder der fünften Jahrgangsstufe, die in gymnasialen Sonderklassen für Hochbegabte beschult werden. Aus diesem Fallmaterial heraus wird beispielhaft eine Schulklasse vorgestellt. Die Datenbasis, auf die ich mich im Weiteren beziehe, besteht aus insgesamt vier Fokusgruppengesprächen und sechs Einzelinterviews mit Kindern, die alle einer Schulklasse angehören. Die Interviews wurden zu Beginn und zum Ende des Schuljahres erhoben. Um eine Vergleichsfolie zu haben, greife ich auf Klassenratsgespräche2 in einer integrierten fünften Gesamtschulklasse zurück. Dabei beziehe ich mich auf eine Klassenratsstunde in der zweiten Hälfte des fünften Schuljahres, in der pubertätsspezifische Themen markiert werden. Diese entwicklungsbezogene Perspektive soll der Sicht auf die Einzel- und Gruppeninterviews zunächst vorangestellt werden.

Hochschule Karlsruhe, Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M., GoetheUniversität Frankfurt a. M. Projektleitung: Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl, Prof. Dr. Timo Hoyer, Dr. Inge Schubert, Prof. Dr. Gabriele Weigand; Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter : Erica Augello, Marizela Brkic, Simon Dechert, Lone Grießl, Sebastian Jentsch, Dr. Angela Kühner, Panja Schweder, Sara Widmann. Ziel des Projektes ist es, genauere Einblicke in die subjektiven Theorien von (Hoch-)Begabung zu gewinnen. Analysiert wird, wie als »hochbegabt« getestete Kinder und Jugendliche ihre Begabung im familiären, sozialen und schulischen Bereich wahrnehmen, wie sie ihren Sonderstatus ins Selbstbild integrieren, welche Verarbeitungsformen sie entwickeln und welche (lern-)biografischen und psychodynamischen Entwicklungen das Label »hochbegabt« hervorruft. Zudem werden begabungsförderliche und -hinderliche Faktoren im Verlauf von Kindheit und Jugend erfasst. Das Projekt läuft seit Juli 2009 und ist auf einen Zeitraum von vier Jahren angelegt. 2 Das ausgewählte Fallbeispiel in einer integrierten Gesamtschule stammt aus einem Projekt für das Institut für Gruppenanalyse Heidelberg aus den Jahren 2003 – 2005. Für das Projekt wurden insgesamt neunzig Klassenratssitzungen einer fünften und sechsten Schulklasse nach dem Leitfaden für analytische Gruppenprotokolle (Bosse u. Knauss, 1986) verschriftlicht. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Die Gruppe der integrierten Gesamtschulklasse Zu der Gruppe der Gesamtschulklasse gehören insgesamt elf Mädchen und dreizehn Jungen, die Schulform übergreifend unterrichtet werden. Kinder mit besonderen Leistungsstärken, aber auch Leistungsschwächen und so genannte Integrationskinder sind also in einer Bezugsgruppe zusammengefasst. Der integrierte Klassenverband hat eine halboffen angelegte Struktur. Die Schülerinnen und Schüler können sich in einem durchlässigen System von Auf- und Abstufung bewegen, ohne aus dem StammKlassenverband und der Jahrgangsstufe herauszufallen, ohne von der Schule abgehen zu müssen. Die Gespräche in der Klassenratsrunde geben einen kleinen Einblick in alltägliche Interaktionen von Schulklassen, wie sie zumeist auf der Hinterbühne von Unterricht stattfinden. So verschränken sich die von Kindern agierten pubertätstypischen Ausgrenzungen und Zugehörigkeitszwänge oft auch mit prekären familialen Konstellationen, mit brisanten gesellschaftlichen und bildungspolitischen Themen. Im institutionellen Kontext von Schule werden solche Ausgrenzungskämpfe innerhalb der Peergruppe zumeist in die Form individualisierender Zuschreibungen gebracht. Über die Schaffung personifizierter Negativfiguren, die dann in der Schulklasse als Gegenmodell fungieren im Sinne der Einpassung und Disziplinierung der Gruppe, werden so problematische Aushandlungsprozesse verlagert. Sie kommen auf der heimlichen Hinterbühne von Unterricht dann oft ungesehen heftig zum Ausbruch.

Die bevorstehende Klassenfahrt in der Gesamtschulklasse Zu Beginn der Klassenratsstunde verhandeln Tonio und Lenny ihren Streit mit Gerhard und Matteo um einen kaputtgegangenen Fußball, der Gerhard gehört hatte. Gerhard habe da halt Pech gehabt mit seinem Privat-Fußball, postuliert Tonio. Da Gerhard eh nur Billigsachen von Aldi kaufe, könne auch der Fußball nichts Besonderes gewesen sein. Gerhard brauche sich nicht so aufzuspielen. Er habe schließlich angefangen, ihn und Lenny zu be© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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leidigen. Gerhard habe auch sein Gehirn bei Aldi gekauft. Sie, Lenny und Tonio, würden lieber gute Anziehsachen haben. Gerhard kontert, Tonio und Lenny hätten ihr Gehirn aus der Biotonne. Jeffrey schaltet sich schließlich in die Auseinandersetzung mit ein, als die Lehrerin den Ärger von Gerhard anspricht. Dass Gerhards Wut doch auch verständlich sei, weil es schon dumm ist, wenn ein neuer Lederfußball kaputtgeht. Jeffrey erklärt, dass er zu Hause auch Ärger bekommen würde, wenn neue und teure Sachen einfach weg oder kaputt sind. Als Anne schließlich das Thema teure Markenklamotten und billige Aldisachen aufgreift und erklärt, dass sie es gar nicht einsehe, so viel Geld für teure Sachen auszugeben, kontert Tonio. Sie sehe nicht gerade gut aus mit ihrem gelben Aldi-T-Shirt. Lenny springt Tonio zur Seite, als Adis ihren Unmut über Tonios Äußerung kund tut. Tonio entgegnet daraufhin, dass Adis gar nichts zum Anziehen habe, weil sie immer mit denselben Klamotten rumlaufe. Marc korrigiert Lenny. Wenn Adis nichts zum Anziehen hätte, wäre sie ja nackt, und das sei sie jedenfalls nicht. Aber bei den Albanern sei das ja so. Adis entgegnet empört, was das denn mit den Albanern zu tun habe. Sie veralbert Tonio und bringt die Gruppe dazu, über Tonio und seine Erzählung zu lachen. Dem geschlichteten Streit über Öko-, Marken- und Billigwaren und Gerhards kaputten Fußball folgt eine weitere Auseinandersetzung. Es geht um die bevorstehende Klassenfahrt und das Problem der Zimmeraufteilung. Peters Mutter hatte im Gespräch mit der Lehrerin eine von den Jungen diskutierte Zimmeraufteilung mit Schlafstörungen ihres Sohnes in Zusammenhang gebracht. Auf die Frage der Lehrerin, ob es denn schon eine inoffizielle Zimmeraufteilung gebe, fängt die Gruppe an, lebhaft über ihre Vorstellungen zu sprechen. Die Gruppe schenkt Peter in seiner Verletzung als vorab Ausgeschlossener zunächst wenig Beachtung. Es wird über eine Zusammensetzung der Jungengruppen diskutiert, bei der Peter nicht mit eingeplant ist. Als die Lehrerin vermittelnd fragt, wen Peter sich denn wünschen würde für ein gemeinsames Zimmer, nennt er Jos und Milan. Beide Jungen schütteln jedoch den Kopf. Sie könnten Peter zwar schon leiden, wollten aber lieber mit den anderen Jungen zusammen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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sein. Lenny fragt schließlich, ob es denn auch ein 6er-Zimmer gäbe, das sie als Jungengruppe haben könnten. Sie könnten dann auch Peter mit ins Zimmer nehmen. Es kommt schließlich zu einer Lösung für Peter und die Jungengruppe, über die sich die Mädchen, die schon mit der Vorstellung vom 6er-Zimmer Gruppenkonstellationen entworfen hatten, im Nachteil sehen. Der Kompromiss der Jungen und Peters Freude sind für Audrey Auslöser, der Mädchengruppe ihre Außenseiterposition vorzuwerfen. Keines der Mädchen wolle mit ihr zusammen sein. Das sei schon in den Freizeiten der Grundschule so gewesen. Audrey erklärt schließlich, dass ihre Mutter immer sagen würde, sie sei genau wie ihr Vater, dass das auch stimmen würde. Sie sei auch anders, auch wegen ihrer dunklen Hautfarbe. Das sei der Grund, weshalb die Mädchen sie ausschließen und sich »fies« verhalten. Sie könnte sich selbst auch nur mit den Jungen verstehen und nicht mit den Mädchen. Audrey thematisiert hier ihr Anderssein als dunkelhäutiges Mädchen mit einer geschlechtlichen Selbstvorstellung, die sie mit dem Vater und den Jungen verbindet und von der Gruppe der Mädchen trennt. Als hübsches farbiges Mädchen erregt sie mit ihrer couragierten Rede die Aufmerksamkeit der Jungen. Audrey erhält in ihrem Vorwurf gegen die Mädchengruppe viel Zuspruch von Seiten der Jungen. Marc erklärt, Audrey sei faszinierend und mutig, sie sage offen ihre Meinung und nicht »fies hintenherum« wie alle übrigen Mädchen in der Klasse, die intrigieren und hinter dem Rücken Gemeinheiten austeilen. Die Empörung der Jungengruppe richtet sich schließlich gegen die Mädchen. Lenny und Tonio werfen den Mädchen vor, dass sie sich wie die Königinnen verhalten würden, die glaubten, sie seien die Bestimmerinnen. In Abgrenzung zu den Mädchen äußert Lenny, dass sie untereinander zwar heftig austeilen würden, dass sie aber ehrlich seien und sich letztlich wieder verstehen und zusammentun würden. Sie würden so einen wie Peter dann doch in ihre Gruppe aufnehmen. Gegen die Intrigen der Mädchen stellen die Jungen ein positives Jungenbild, das mit Männlichkeitsvorstellungen von Ehrlichkeit, Offenheit, Kampf, Gemeinschaft und Zusammenhalt assoziiert wird. Die Mädchen versuchen im Weiteren einen ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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söhnlichen Ausgang der Klassenratsstunde herzustellen. Sabine äußert, dass sie Audrey dafür schätze, dass sie immer ihre Meinung offen sage. Es melden sich viele Mädchen zu Wort, um Audreys Vorwürfe zu klären und sich zu rechtfertigen. Maren versucht Audrey deutlich zu machen, dass es schwer ist, mit ihr etwas zu besprechen, weil sie immer so kompromisslos sei, dass sie in einigen Punkten auch einmal nachgeben müsse. Audrey erklärt schließlich, dass sie nicht mitkommen werde auf die Klassenfahrt. Sie sucht mit einer trotzigen Verschlossenheit Schutz in der Jungengruppe. Die Gruppe redet aufgeregt durcheinander und es ist eine Zeit lang nicht möglich, einander zuzuhören. Nachdem die Lehrerin schließlich vermittelnd interveniert, als sie sieht, dass sich Catherin weinend um Audrey bemüht, stellt sich eine gemeinsame Aufmerksamkeit wieder her. Catherin äußert beschämt, dass sie zu Audrey gesagt habe, dass sie »unhygienisch« sei. Sie erklärt, dass sie Angst habe, wenn Audrey das zu Hause erzählt und Audreys Mutter bei ihrer Mutter anruft. Sie würde großen Ärger und Hausarrest bekommen. Audrey wolle ihre Entschuldigung nicht annehmen. Audrey wolle auch deswegen nicht mit auf die Klassenfahrt kommen. Sie habe eigentlich die Unordnung von Audrey gemeint. Nur deshalb wolle sie nicht mit Audrey in einem Zimmer sein. Farnasz unterstützt Audrey in ihrer Verweigerung. Sie erklärt, dass auch sie nicht mit auf die Klassenfahrt kommen werde, weil sie nämlich bald umziehen wird. Der Konflikt zwischen Catherin und Audrey, den beiden Klassenschönheiten, ist auch ein Konflikt vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Herkunftsmilieus, dem bürgerlich-etablierten Elternhaus von Catherin und den prekären Lebensverhältnissen, mit denen Audrey zurechtkommen muss. Catherins Angst und die Verweigerung von Audrey repräsentieren hier auch eine Angst der Gruppenmitglieder, die sich mit Offenheit, moralischen Werten, erlaubten und nicht erlaubten Affekten (Schubert, 2010a) und Äußerungen zueinander in Beziehung setzen. Die Weiterführung der schwierigen Aushandlungs- und Klärungsprozesse im Klassenrat scheinen sich für die Gruppe gelohnt zu haben, wenngleich einzelne Schülerinnen und Schüler © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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aus anderen Gründen an der gemeinsamen Klassenfahrt nicht teilnehmen durften. Audrey war mit auf die Klassenfahrt gekommen und von der Mädchengruppe aufgenommen worden. Audrey und Adis wurde durch eine finanzielle Unterstützung die Teilnahme an der Klassenfahrt ermöglicht. Sie brauchten den inszenierten Selbstausschluss nicht weiter fortzusetzen. In der geschilderten Gruppensitzung sind typische adoleszente Themen (Schubert, 2005) sichtbar geworden, die ich in der Zusammenschau kurz skizzieren möchte. Der Gruppenprozess zentriert sich um das adoleszente Thema des eigenen Ursprungs, um Fragen der Herkunft und um Fragen der Geschlechtsidentität (Flaake, Günther, Liebsch u. Schubert, im Druck; Schubert, 2010b). Es geht auch um Individuierungsbestrebungen, um die Übereinstimmung und Differenz zu den Eltern (Schubert, 2005) und um Fragen der eigenen Identität. Der in der Gleichgeschlechtlichengruppe der Mädchen und Jungen jeweils verhandelte Ausschluss des Anderen ist verstehbar vor dem Hintergrund der Suche nach neuer Gruppenzugehörigkeit und Identität. Es geht dabei um die Anerkennung von Differenz in der Gruppe und um die Positionierung der Gruppe selbst. Audrey wird als farbiges Mädchen einer weißen alleinerziehenden deutschen Mutter zur Protagonistin von Ausgrenzung und den damit einhergehenden Affekten. In der Gruppenszene verschränken sich die Perspektiven von erlebtem Ausschluss und aktiver Ausgrenzung. Gegen die von den Jungen ausgehende Bewunderung für Audrey stellt Catherin ihre Abneigung. Sie bringt mit ihrer Erklärung, dass Audrey »unhygienisch« sei, in der Gruppe etwas zum Ausdruck, was nicht nur Audrey verletzt, sondern zugleich als schambesetzter Normverstoß erlebt wird. Dass Catherin das Gesagte gerne rückgängig machen und neutralisieren will, dass sie Schuld und Scham erlebt und in Angst ist vor der moralischen Zurechtweisung der Erwachsenen, lässt vermuten, dass Audrey und Catherin miteinander mehr verhandeln als das befürchtete Durcheinander im gemeinsamen Schullandheim-Zimmer. Die Szene der Mädchen ist insofern auch verstehbar vor dem Hintergrund der adoleszenten Aneignung des sich verändernden eigenen Körpers von Audrey und Catherin, als Auseinandersetzung mit dem sexuell werdenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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weiblichen Körper. Die vorgestellte Intimität im gemeinsam geteilten Zimmer scheint für Catherin ekelbesetzt. Der erlebte Ekel ist in der Pubertät von heranwachsenden Mädchen und Jungen eng verknüpft mit der Auseinandersetzung mit den körpernahen eigenen Empfindungen. Die körperliche Abneigung und Anziehung in der Gruppe der Gleichaltrigen verschränken sich pubertätstypisch zumeist mit eigenen bedrohlich erlebten Erregungen und Empfindungen (Schubert, 2010b). Es wird deutlich, dass die Mädchen und Jungen sich in der Auseinandersetzung mit widersprüchlichen eigenen Gefühlen und vorgegebenen Normen zu positionieren und zu differenzieren suchen. Es geht zugleich um Vorstellungen der Gruppe, die sich mit ihren Nähewünschen, mit Distanznahme, Grenzen und Ekelvorstellungen auch vor dem Hintergrund der bevorstehenden Klassenfahrt zueinander in Beziehung setzen. Die Frage, was man offen aussprechen darf und was hinter der vorgehaltenen Hand gesagt wird, wird von der Gruppe zunächst als Geschlechterthema und als Thema des schulischen Raums verhandelt. Die Gruppe sucht vor dem Hintergrund der familialen Herkunftsgeschichte der Einzelnen zu klären, wie sie damit umgeht, wenn jemand von der Norm abweicht. Catherin entwertet als weißes, blondes Mittelschichtkind Audrey als schwarze Konkurrentin. Das vorgegebene schulische Diktum, das Verbot der Diskriminierung, wirkt dabei in den Aushandlungsprozess hinein. Es wird hier deutlich, dass der Gleichheitsgrundsatz der Schule, demnach alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft gleich behandelt werden, eine Vorgabe ist, gegen die im Aushandlungsprozess der Gruppe verstoßen wird. Im Raum der Gruppe wird die institutionell vorgegebene soziale und ethnische Egalitätsvorstellung (Bhabha, 2000) nicht eingehalten. Die erlebte Diskriminierung, gegen die Audrey sich zur Wehr setzt, ist auch ein Thema vieler anderer Gruppenmitglieder, denen gegenüber sich die Jungen und Mädchen mit ihrem jeweiligen familialen Hintergrund in Beziehung zu setzen lernen. In der Zusammenschau der weiteren Klassenratsgespräche und der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zeigt sich, dass die erlebte Verletzung in der Klassenratsstunde, die Audrey mit der eigenen Entwicklung und der Entwicklung der Gruppe © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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offenbar integrieren und bearbeiten konnte, ihr auch Möglichkeiten zur Verfügung stellte. Die Auseinandersetzung in der Gruppe und nicht das Gebot der political correctness, das auf der Hinterbühne agierte Vorbehalte und die damit verbundenen Affekte ausblendet und verbietet, ermöglichte letztlich über die unterschiedliche Perspektivenübernahme für die einzelnen Mädchen und Jungen Integrations- und neue Zugangsmöglichkeiten. Dass (prä)adoleszente Mädchen und Jungen dramatisieren, ausschließen, intrigieren und austeilen und zugleich verletzbar sind, aber auch lernen können, sich einander mitzuteilen und dabei sorgfältig und bedacht mit den in der Gruppe ausgetauschten Gedanken, Gefühlen und Fantasien umzugehen, war eine zentrale Erfahrung der die Schulklasse begleitenden psychosozialen Arbeit im Klassenrat.

Die Gruppe der Hochbegabten-Sonderklasse Die an einem Gymnasium angesiedelte Hochbegabten-Sonderklasse ist anders als die integrierte Gesamtschulklasse eine selektierte und strukturell geschlossene Gruppe. Der Klassenverband bleibt – wie auch an anderen Gymnasien – bis zum zehnten Schuljahr geschlossen. In der Sonderklasse sind elf Mädchen und elf Jungen zusammengefasst. Für die Aufnahme in die Klasse mussten sie einen Intelligenz- und Persönlichkeitstest bestehen und eine Testung ihres sozialen Gruppenverhaltens. Neben einem erreichten Intelligenzquotienten von über 130 war auch die gezeigte Teamfähigkeit in der Gruppe ein Kriterium der Aufnahme. Für die Zulassung gab es also eine Selektion auf mehreren Stufen. Die interviewten Kinder berichten, dass 20 von 300 Kindern ausgewählt worden seien. Sie betonen, dass es eher ein Zufall gewesen sei, dass sie ausgewählt worden sind, dass es viele hätten schaffen können. Jörg erläutert dazu: »Unsere Lehrerin hat uns auch mal gesagt, wir sind nichts Besonderes, denn es hätte jeder hier reinkommen können in die Klasse.« Die Kinder der gymnasialen Sonderklasse kommen zum größten Teil nicht aus dem näheren Einzugsgebiet der Schule. Einige Familien sind für den Schulbesuch an den Schulort ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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zogen. Viele müssen täglich einen weiten Schulweg zurücklegen. Die Kinder und auch ihre Eltern nehmen also große Anstrengungen und Investitionen für den Besuch der Schule in Kauf. Mit dem Schulbesuch und der Hochbegabten-Sonderklasse sind große Hoffnungen in die Zukunft der Kinder gelegt. Der Auftrag, diese Hoffnungen zu erfüllen oder die Angst diese zu enttäuschen, führt zu einem starken Druck. Hinter den erwarteten Leistungen zurückzubleiben bedeutet, aus der Klasse und damit auch aus der Schule herauszufallen. Insofern steht der Besuch der Sonderklasse unter dem Vorzeichen der Bewährung. Die Mehrzahl der Mädchen und Jungen erzählt von unglücklichen Situationen in der Grundschule, die sie mit ihrer Hochbegabung in Verbindung bringen. Sie thematisieren ignorante und abweisende Verhaltensweisen von Lehrern und Hänseleien durch Mitschüler. Christiane erklärt die von ihr erlebte quälende Langeweile in der Schule so: »Wenn man die ganze Zeit im Unterricht rum sitzt und nichts macht und der Lehrer erklärt und erklärt und erklärt.« Es sei ihr immer wieder passiert, dass sie gerade dann aufgerufen wurde, wenn sie Aufgaben vorab gerechnet hatte und schon woanders war als die übrigen Kinder der Klasse. Man habe »praktisch dafür Ärger gekriegt, weil man schneller war«. Sie sei vom Lehrer immer wieder zurückgewiesen worden. Als Beispiel beschreibt sie die Situation bei einer Klassenarbeit: »Ich fand, das waren nicht so schwierige Aufgaben. Und dann war ich vielleicht nach zwanzig Minuten fertig und dann wollte man es abgeben: Ach, schau es dir noch mal an. Dann musste man wieder auf den Platz zurück, dann saß man wieder zehn Minuten. Zehn Minuten später geht man vor. Ja, schau es dir lieber noch mal an. Dann geht man wieder zurück, wartet wieder zehn Minuten, dann geht man wieder vor: Ja, willst du es dir nicht noch mal anschauen. Dann geht man wieder zurück.« Fridolin erzählt, dass der Lehrer ihn und einen anderen Jungen vor der Klasse und auch im Flur bloßgestellt habe, weil sie im Rechnen den anderen voraus waren. Es sei dem Lehrer »scheißegal« gewesen, wie das bei ihnen und den anderen ankam. Er habe sie »angeschissen« und nicht zu Wort kommen lassem: »Ja, lass doch mal die anderen was sagen, ihr Superschlauen, und sonst was.« Die Entwertung der Grundschulzeit ist in vielerlei Hinsicht vor © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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dem Hintergrund des neuen Status in der weiterführenden Schule verstehbar und muss auch einer alterspezifischen Abgrenzung in Rechnung gestellt werden (vgl. Hoyer, 2010). Dennoch zeigt sich in der Zusammenschau der Erzählungen, dass die Kinder der gymnasialen Sonderklasse mit ihren guten bis sehr guten Noten und Leistungen in hohem Maße auffallend problematische Schulerfahrungen gemacht haben. Im Gruppengespräch wird deutlich, wie nahe den Jungen und Mädchen die vorangegangen Kränkungen und Verletzungen noch gehen. Fridolin bringt die ihm widerfahrende Ungerechtigkeit und das Lehrer-Schimpfwort »die Superschlauen« noch immer in Rage. Harry hingegen zeigt sich gegenüber Hänseleien im Flur der neuen Schule inzwischen eher immun: »Manche sagen zum Beispiel ›Hochbegabte‹, ›Hochbekloppte‹ oder so was. Aber ist eigentlich nicht so schlimm, ich merke es nicht so.« Mara berichtet: »Und dann hab ich mal versucht, mich absichtlich in den Proben schlechter zu machen, damit die nicht mehr so viel lästern konnten.« Emil erzählt: »Mich hat anscheinend auch mein Lehrer nicht gemocht, aber das lag wahrscheinlich auch da dran, weil ich habe halt schon öfter mal vorgearbeitet. Und dann sind alle anderen in der Pause mit dreckigen Schuhen reingekommen, also ich nicht, also meine Schuhe waren nur ein bisschen dreckig, und ich durfte dann putzen.« Emil thematisiert hier die erlebte kränkende Herabsetzung. Er hat wegen seines Vorsprungs an Kenntnissen und Fertigkeiten, ebenso wie andere Kinder aus der Sonderklasse, eine Grundschulklasse übersprungen. Der Wechsel in die höhere Klassenstufe hat seine unglückliche Situation in der Schulklasse verschlimmert. »Bei mir in der alten Klasse, da hatte ich zwei, drei Freunde und der Rest hat mich Scheiße gefunden, ich war der Hochbegabte, das Superhirn. Die haben gesagt, ich hätte eigentlich noch mehr –, ich hätte am besten noch eine Klasse übersprungen, dann hätten sie mich nicht ertragen müssen, also haben das alle blöd gefunden.« Als Emil in der Gruppe über die demütigende Höherstufung spricht, ist er sehr bewegt. Julia, aber auch der Gruppe fällt es schwer, die Gefühle von Harry auszuhalten. Julia trommelt im Interview mit ihrer leeren Plastikflasche und unterbricht immer wieder affektiv dichte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Gesprächssequenzen mit einem »das war eigentlich Zufall« oder einem zusammenhanglosen Satz wie »Zufall, wenn man einen Namen hat, der im Stapel Alphabet weiter vorne ist«. Mit ihrer rationalisierenden Umdeutung übernimmt sie dabei für die Gruppe die Aufgabe der Affektabwehr. Julia will sich nicht in die Verletztheiten der anderen einfühlen. Als Kind mit einer nicht bildungsbürgerlichen Herkunft hat sie mit ihrem Aufstieg in die gymnasiale Sonderklasse zu kämpfen. Das Einzelinterview mit Julia macht deutlich, dass sie in der Geschwisterreihe, als zweite von vier Mädchen, im Schatten ihrer asthmakranken ein Jahr älteren Schwester steht. Sie konkurriert mit der Schwester um die Zuwendung der Mutter und die Nähe zum Vater. Dass die Schwester sich anstrengt und in der Schule nicht so wie sie die erwarteten Leistungen erbringen kann und unter ihrem Misserfolg leidet, ist für Julia nicht verstehbar. Die Empathielosigkeit ermöglicht es Julia, ihre heftige Feindseligkeit gegenüber der Schwester auszublenden. Die Konkurrenz und die eigene emotionale Entbehrung sind für sie zugleich Antrieb für den Bildungsaufstieg, der für Julia mit hohen Kosten und Risiken verbunden ist. Julia ist eines der wenigen Kinder, die nicht über Ausgrenzungserfahrungen in der Grundschulklasse spricht. Sie kritisiert den Unterricht der Vertretungslehrer und distanziert sich vom Spiel in der Grundschule. Dass das ganze Dorf über ihren 1,0-Notendurchschnitt gesprochen hat, ist ihr wichtig mitzuteilen. Ihr Triumph, ihre Arglosigkeit gegenüber Neidszenarien und ihre Empathielosigkeit erschweren ihr Zugangsmöglichkeiten zu den Peers. Im Gruppengespräch distanzieren sich die Mädchen von Julia, die in der Klassenöffentlichkeit gegen die Regeln des guten Anstands verstößt. »Also das machen wir jetzt nicht. Aber die Sara und die Julia, die gehen jeden Tag hin und lachen sie [Carina, I. S.] aus und beschimpfen sie.« Die Jungen und Mädchen der Hochbegabtenklasse sehen sich in der Grundschule als unwillkommene und ungeliebte Kinder, die mit ihren besonderen Fähigkeiten und Leistungen den Unterricht stören. Dieser gemeinsame Hintergrund führt dazu, dass sie große Hoffnungen in die neue Klasse legen. Weil alle das Problem der Ausgrenzung und Zurückweisung kennen, verspricht die Hochbegabtenklasse, dass es in der homogenen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Gruppe der klugen Kinder keine Ausgrenzung mehr gibt. Die Vorstellung, dass die Kinder in der Sonderklasse »irgendwie schon weiter entwickelt sind« und sich nicht »ständig prügeln und rumschreien«, ist ein Idealbild, das die Wahrnehmung der neuen Klassensituation prägt. Mara erklärt: »Ja, mit Mitschülern hatte ich Probleme, die mich gehänselt haben und so was. Aber jetzt ist es eigentlich viel besser geworden. Auch wegen den anderen Schülern eben, weil die das auch, jetzt bin ich nicht mehr richtig anders als die anderen, jetzt sind wir eher alle so gleich.« Die neue Situation in der Hochbegabtenklasse erlebt Mara als Auflösung von Differenzen. Ihr Gefühl, sich in der Gruppe von den anderen nicht mehr zu unterscheiden, bringt Mara Entlastung. Was für die Mädchen und Jungen bisher als Hindernis ihrer Zugehörigkeit wahrgenommen wurde, verspricht nun in der neuen Schulklasse ein positiv besetztes Moment von Vergemeinschaftung zu sein. Die Vorstellung, sich mit der eigenen Andersheit nicht mehr in Beziehung setzen zu brauchen, in der Gruppe von Gleichen angekommen zu sein und zugehörig zu sein, die Mara mit vielen anderen Kindern teilt, macht auch ein Harmoniestreben deutlich. Gegenüber der erlebten inneren Einsamkeit in der Grundschulklasse scheinen alle Streitigkeiten und Probleme in der neuen Klasse das bessere Los zu sein. Die Idealisierung der neuen Klassengemeinschaft, hinter der sich – wie sich im Weiteren in den Gruppengesprächen zeigt – heftige Konkurrenz- und Ausgrenzungskämpfe abspielen, ist nicht nur als eine in die Gruppe der Hochbegabten gelegte Hoffnung oder als Ausblendung verstehbar. Die in den Gesprächen immer wiederkehrende irritierende Beteuerung, dass der Eintritt in die Hochbegabten-Sonderklasse einfach war, »weil die auch alle nett waren und wir eigentlich ganz gut zusammenpassen«, verweist auch auf das Ausmaß der psychischen Belastung der vorangegangenen Schulerfahrung der Jungen und Mädchen. Im Zusammenhang mit erlebter Differenz und Isoliertheit in der Grundschulklasse steht auch die Irritation, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Begabung und Besonderung herunterspielen und sich damit nicht zeigen wollen. Die vorangegangenen Erfahrungen, in der Schulklasse mit den eigenen Vorstellungen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Interessen und kognitiven Leidenschaften anzuecken, unverstanden und allein zu sein, sind vermutlich Hintergrund, der die Mädchen und Jungen wenig stolz auf ihre Potenziale und Leistungen sein lässt. Die Erklärungen zu ihrer besonderen Begabung wirken wie eingeübte Strategien, mit der die Kinder dafür sorgen, dass die Peers sie nicht ärgern. Tim äußert: »Das heißt jetzt nicht unbedingt, dass man um Welten besser ist als andere, halt ein Stück besser. Und wenn man dann mit Gleichen in eine Klasse kommt, dann ist das schon ein bisschen besser, weil der Unterricht dann schneller verläuft, alles nicht so langweilig ist.« Harry erklärt: »Hochbegabt ist ja nur, dass der was schneller versteht. Es ist nur, dass ich mir halt schneller was merken kann. Eigentlich bei uns in der Klasse ist es ja nicht Hochbegabung, nur dass wir schneller verstehen oder uns in einzelnen Bereichen interessieren.« In ihren Erklärungen haben die Jungen und Mädchen zum Teil auch einen pädagogischen Impetus übernommen. Harry hat ein Sensorium entwickelt und weiß sich mit seinen besonderen Fähigkeiten vor Ausgrenzungserfahrungen zu schützen. »Es kommt dann drauf an, wie man damit umgeht. Wenn man auch ein bisschen damit angibt, dann ist es auch ein bisschen so wie außergewöhnlich, man wird dann meistens auch zum Außenseiter.« Das Tabu, sich herauszustellen, ist also auch der Neidabwehr geschuldet und dem Wissen, dass der Stolz auf die besondere Begabung und schulischen Leistungen ihnen in sozialen Situationen mit den Peers Nachteile bringt. In besonderem Maße zeigt sich dies bei den Jungen, deren Ansehen in der schulischen Peergruppe in Zusammenhang mit guten schulischen Leistungen eher sinkt. Insofern bezieht sich Daniels Erklärung »weil wir fast nichts lernen brauchen, also fast nicht lernen müssen« nicht nur auf den Neid der Mitschülerinnen, die sich für gute Noten abmühen müssen, sondern auch auf seine Positionierung in der Peergruppe der Jungen, in der er nicht als Streber und artiger Schüler gesehen werden möchte. Das Herunterspielen der erbrachten schulischen Leistung ist zudem auch als ein pubertätsbedingtes Narrativ verstehbar, um sich von den Eltern, die die außerordentlichen Leistungen ihrer Kinder begrüßen, zu differenzie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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ren (Schubert, 2005). Die negativen Abgrenzungen und das Verdecken der besonderen eigenen Fähigkeiten weisen darauf hin, dass die diagnostizierte Hochbegabung auch ein bedrohliches Moment für die Kinder und ihre Eltern hat. Harry grenzt sich von Negativbildern und Zuschreibungen ab, die oftmals mit Phänomenen der Hochbegabung in Verbindung gebracht werden. »Richtig Hochbegabung ist eigentlich so autistisch, wenn man sich so ganz super was merken kann. Ich programmiere halt auch nicht die ganze Zeit Computerprogramme oder so was oder lese die ganze Zeit irgendwelche Erwachsenenbücher oder so was. Meine Mutter wollte das erst nicht. Weil sie wollte halt nicht, dass ich besonders bin oder anders.« Harry macht deutlich, dass seine Begabung für ihn nicht nur eine Gabe, sondern auch eine Hypothek ist, mit der er zurechtkommen muss, ob er will oder nicht. Er gibt an, seine Begabung sei »angeerbt – wahrscheinlich von meinem Vater. Aber ich fände es eigentlich, glaube ich, auch nicht so schlimm, wenn ich es nicht hätte.« Als Sohn des von der Mutter getrennt lebenden Vaters, der mit Mutter, Stiefvater und Schwester und neuen Geschwistern zusammenlebt, hat er gelernt, Konflikte mit den Erwachsenen und Peers zu vermeiden und sich im Loyalitätskonflikt zwischen Mutter, Stiefvater und Vater unauffällig zu bewegen.

Ausgrenzung in der gymnasialen Sonderklasse Von den Gruppeninterviews, die am Ende des fünften Schuljahres erhoben wurden, soll an dieser Stelle beispielhaft der thematische Verlauf eines Gruppeninterviews vorgestellt werden. Das ausgewählte Gruppengespräch zeigt anschaulich, wie sich Homogenisierungsstrebungen mit Ausgrenzungsstrebungen in der Peergruppe verschränken und gegenseitig bedingen. In der Dialektik dieser Entwicklungslogik verortet sich zum einen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das zur Isolation führt, zum anderen das Bedürfnis nach Abgrenzung, das zum Gruppendenken führt. Die interviewte Gruppe ist bemüht, entlang dieser paradoxen Logik das mit der Sonderklasse verbundene Versprechen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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der Aufhebung der Einsamkeits- und Ausgrenzungserfahrung als eingelöst festzuschreiben. So postuliert Mara für die Gruppe zu Beginn: »Wir sind eine richtig gute Klassengemeinschaft geworden, viel besser als in der Grundschule. Die haben sich da dauernd Schimpfwörter an den Kopf geworfen. Und jetzt die hier sind viel schlauer und eigentlich nicht mehr so viel mit Prügeln beschäftigt. Wir sind eigentlich richtig gute Freunde.« Emil kommentiert das harmonisierte Gruppenbild der Mädchen mit einem verhaltenen »na ja!«. Carla ist bemüht, das Narrativ der homogenen Gemeinschaft weiter zu befestigen. Sie tut dies auf widersprüchliche Weise. »Ja, ich finde an unserer Klasse einfach toll, dass die so zusammengewürfelt ist. Wir sind lauter Kinder, die eben gut in der Schule sind. Weil früher war’s bei mir so, ich stand immer als Streber da.« Die anfängliche Harmonisierung der Mädchen wird von der Gruppe der Jungen zunächst zögerlich in Frage gestellt. Aus der Dynamik heraus, dass die Mädchengruppe die kritische Anspielung der Jungengruppe an diese zurückgibt, werden die Konflikte in der Klassengemeinschaft zunächst andeutungsweise in der gegenseitigen Zuweisung der Geschlechtergruppen verhandelt. Die Mädchengruppe setzt schließlich die in der eigenen Geschlechtergruppe verhandelten Ausgrenzungen nachhaltig in Szene. Als negatives Beispiel rückt Carina, ein körperlich frühreifes Mädchen, in den Mittelpunkt. Carina und auch die im Weiteren auftauchenden Ausgrenzungsfiguren sind nicht in dieser Gruppe anwesend. Die Interviews mit der Schulklasse wurden in vier Teilgruppen erhoben. Bei der Information über die Einteilung der Interviewgruppen hat die Klasse unter der Hand die Einteilung durch die Forschergruppe unterlaufen. So kam es dazu, dass in einer Interviewgruppe die Marginalisierten der Klasse zusammenkamen. Carina ist das jüngste Mädchen in der Klasse und erregt mit ihrem sexuell werdenden Körper bei den Mädchen Anstoß. Anna äußert ihren Unmut: »Zehn geworden und am weitesten entwickelt von allen Mädchen!« Es geht dabei um ein Zuviel an Wimperntusche, Make-up, »Pickelverdecker«, »Kayalen« und diversen Nagellackfarben, um Carinas vermeintlich plumpe Bewegung, einen falsch verstandenen Songtext und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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aufgedeckte intrigante Beschimpfungen. Carina wird angekreidet, dass sie zwei Mädchen als »Schlampen« bezeichnet hat. »Dass sie sich so schminkt und immer so aufgetakelt ist und so, das kommt bei uns nicht so gut an«, erklärt Mara. Die anderen Mädchen bringen es schließlich auf den Punkt: »Wenn die ihren BH auszieht, dann tut sie das immer mit gewisser geschwellter Brust, so dass alle –. Und bei den Jungs sitzt sie immer so da, dass man ihre Brust sieht, weil die schon weiter entwickelt ist als wir.« Die Mädchen reklamieren, »die will einfach die Größte und Beste sein. Ja, weil keiner will die eigentlich mehr bei sich haben. Sie ist sozusagen das elfte Mädchen.« Anna erklärt weiter : »Und einmal ist sie da in der Pause da auf ’s Klo gerannt und hat geweint. Und sie hat ja zu irgendjemandem gesagt, ich komme jetzt die ganze Pause nicht mehr raus, außer zur Schulaufgabe, und dann geh ich da wieder rein. Ja, und das fanden wir dann auch übertrieben.« Die Jungen versuchen sich von den Streitereien der Mädchen zunächst abzuheben. Bei ihnen gebe es »eigentlich keinen, der so richtig ausgegrenzt wird.« Daniel erklärt, »eigentlich halten wir relativ alle zusammen«. Carla kontert hier : »Also ich kann euer Problem mit Mario nicht gerade als keinen Konflikt bezeichnen.« Sie erklärt dann weiter : »Wir haben einen in der Klasse, der ist etwas kräftiger, sage ich mal, und riecht nicht besonders gut. Der jagt eben dauernd Mädchen oder wirft ihnen irgendwas dran und beschimpft Mädchen mit ›desaströse Idiotin‹ und so’n Scheiß. Einmal kam er zu spät, kam rein mit geschwellter Brust und setzte sich an seinen Platz.« Über Mario als Negativfigur wird im Weiteren auch die Ausgrenzung außerhalb der Klasse sichtbar gemacht. Im Zusammenhang mit den Attacken, die außerhalb der Klasse passieren, verteidigt Anna Mario: »Eigentlich wird er ja auch ein bisschen gemobbt.« Im Flur sei ihm die Kappe runter geschlagen worden. Mario sei daraufhin auf den Jungen aus der höheren Klasse »irgendwie dann auch losgegangen«. Beide hätten sich in eine Prügelei verwickelt. Der ältere Junge habe Mario ins Gesicht geschlagen. Anna zeigt hier ein Mitgefühl: »Ich glaube, ich kann ihn ein bisschen verstehen, weil der Mario, der möchte einfach nur dazugehören, und wenn er so was die ganze Zeit ertragen muss. Dann ist er bei Frau L. explodiert, weil so was kann man nicht ertragen.« © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Auch Carla setzt gegen die Attacken der Jungen ihr Mitleid mit Mario. Im »Klassenkriegsrat« sei »das Thema ›Mario‹« schon einmal angesprochen worden. »Und da hat er mir halt schon ein bisschen leid getan, weil er auch keinen Anschluss in der Klasse gefunden hat«, erklärt Carla. Als sie sich für Mario eingesetzt hatte, wäre sie hinterher von der Klasse aufgezogen und »genervt« worden. Ähnlich wie Carina ist Mario die männliche Ausgrenzungsfigur, über die das Triebhafte und sinnlich Körperliche stigmatisiert wird. Sich mit der unkontrollierten Emotionalität und Körperlichkeit in Szene zu setzen, sich mit »geschwellter Brust« hervorzutun, auszurasten, zu schwitzen und zu riechen, entspricht nicht dem Verhaltenskodex der gymnasialen Sonderklasse. Die Mädchen nehmen Mario jedoch in Schutz, was die Nachstellungen außerhalb der Klasse betrifft. Das In-SchutzNehmen des Ausgegrenzten wird von der Klasse jedoch sanktioniert. Die Klasse wendet sich gegen Carla und macht sie in ihrer Parteinahme für Mario selbst zur Ausgegrenzten. Die Mädchen verhandeln schließlich ihre Gruppenkonstellationen um die Zimmeraufteilung im Schullandheim. Es geht dabei um die unmittelbar bevorstehe Klassenfahrt, bei der riskante Aktivitäten auf dem Programm stehen wie Wildwasserfahrten und die Herausforderung im Hochseilgarten. Die Mädchen erklären: »Wir sind eine Neunergruppe. Ja, weil die Carina nicht reinkommt und die andern genauso wenig. Die Sara kommt auch nicht rein, das haben wir aufgeteilt, die ist, seit wir wieder zusammengefunden haben, nur noch zickig.« Anna gibt als Erklärung an, Sara habe am Anfang der Klasse jedem Mädchen »eiskalt ins Gesicht gesagt, wer mich nicht mag, den mag ich auch nicht«. Manche würden Sara nicht mögen, nur weil sie Neurodermitis habe. Die Gruppe spricht weiter über die hohe Anzahl an Fehltagen in der Klasse, über Marios Fehltage und über Magnus, der die höchste Zahl von Fehltagen habe und vor kurzem die Schule verlassen hat. Die Jungengruppe distanziert sich von Magnus’ Computerleidenschaft und seinem Desinteresse an der Schule. Magnus hätte »überhaupt nichts mehr interessiert, er hatte sozusagen nur den Computer als Spielkamerad«. Er habe sich auch für die Schule nicht sonderlich angestrengt. Die Mäd© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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chen berichten schließlich über den Streit der Jungengruppe mit Magnus. Magnus sei an der Kapuze festgehalten worden, dadurch sei sein T-Shirt eingerissen. Die Gruppe der Mädchen und Jungen verbündet sich schließlich gegen den Abweichler, der die Schule verlassen hat. Sie einigt sich darauf, dass das T-Shirt von Magnus »ja eigentlich nur alt und schon ziemlich undicht war«, dass »Hans-Jörg es auch nur gemacht hat, um eine Prügelei zu verhindern«. Vor dem Hintergrund der Ausgrenzungsfiguren entwerfen sich die Jungen und Mädchen wieder im Bild der harmonischen homogenen Gruppe. Daniel postuliert: »Ich finde es auch sehr gut, dass der Magnus jetzt weg ist, dass der Klassenverband hier okay ist hier bei uns«. Mara erklärt: »Wir sind eigentlich alle relativ gut, jeder hat Freunde. Man hat ein schönes Leben, man hat Freunde und man ist in der Schule gut und hat gute Noten.« Und Anna ergänzt: »Das passt zwar nicht so gut zum Thema, aber ich finde, hier wird eigentlich keiner ausgegrenzt, nur weil er zum Beispiel nicht die modischsten Sachen trägt.« Als Emil an dieser Stelle auf die Ausgrenzung von Mario hinweist, kommt es zu einem Themenwechsel. Es geht um die Grundschule, um die guten Leistungen und um das Talent der Einzelnen. Anna erklärt am Beispiel von Mara, die in der Grundschule mit schlechteren Leistungen aus der Rolle der Streberin herauszukommen suchte, dass man sein Talent vergeudet, wenn man sich nach unten anpasst und erreichen will, »dass man wenigstens irgendwie dazugehören kann«. Die Gruppe spricht über die Gefahr der Angeberei und verteidigt ihr Nicht-Wissen über die Testung ihres IQ. »Der, der den höchsten IQ hätte, wäre dann wahrscheinlich relativ eingebildet darauf.« Daniel erklärt »Ja, ich glaube, das würde dann einfach dazu führen, dass die Klasse auseinanderbrechen würde.« Die Angst vor den ungezügelt ausbrechenden Affekten in der Klasse lässt die Gruppe an der Sehnsucht festhalten, sich nicht messen zu müssen, sich nicht in eine Hierarchie von Leistungen einordnen zu müssen. Carla und Anna betonen hier ihre Autonomie. Sie seien beide »Sandwich-Kinder« und die Selbständigsten in der Familie. Die Eltern bräuchten sich nicht um sie zu kümmern. Mara fügt dem hinzu, »also so verwöhnt sind wir jetzt wahrscheinlich alle nicht, wir sind eher härter«. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Anna erklärt dazu: »Wir sind in der Klasse, weil wir auch alleine und selbständig lernen und uns deshalb auch um uns alleine kümmern.« Die Vorstellung von Autonomie verspricht hier eine Möglichkeit, sich im Alleingang solchen Konkurrenzkämpfen entziehen zu können. Daniel zeigt sich schließlich in der Nähe zu einem sozial ausgegrenzten Schüler in der Grundschule. Die Lehrerin habe ihn gebeten, sich zu ihm zu setzen. Er habe das dann auch gemacht. Daniel erklärt, dass dieser »immer auch sehr unbeliebt war und nur Computerspiele und Videospiele gemacht habe. »Der war auch immer ziemlich unhygienisch, hat sich anscheinend nur ganz selten gewaschen oder die Zähne geputzt. Und hat auch dementsprechend öfters gerochen.« Die Ambivalenz zwischen Solidarisierung und Distanzierung gegenüber dem namenlos bleibenden ehemaligen Banknachbarn bringt schließlich erneut die durch die bevorstehende Klassenfahrt forcierten Ausgrenzungskämpfe der Mädchengruppe an die Oberfläche. Carla resümiert: »Also für die Zukunft weiß ich auch nicht, wie es mit Carina aussieht. Wir werden höchstwahrscheinlich fünf Mädchen in einem Zimmer da sein und so keine von den beiden Mädchengruppen will die Carina bei sich haben. In dem einen vier und in der anderen sechs. Und wir wollen die aber auch nicht haben und die anderen auch nicht.« Auffällig in diesem Gruppeninterview ist die Vehemenz der Ausgrenzung in und außerhalb der Schulklasse, über die die jeweilige Selbstpositionierung der Subgruppen und der Klassengruppe hergestellt wird. Die mit der Homogenisierung und Ausgrenzungsdynamik verknüpften Themen lassen anschaulich werden, wie sich Entwicklungs- und Identitätskonflikte der heranwachsenden Mädchen und Jungen als Themen der Pubertät mit der Matrix der Gruppe und dem institutionellen Kontext von Schule verknüpfen. Die Angst, rauszufallen, zeigt sich in allen Fokusgruppengesprächen als ein zentrales Thema, das in seiner Zuspitzung auch vor dem Hintergrund der mehrstufigen Testung verstehbar ist. Im Interview mit der Gruppe der Marginalisierten der Klasse wird deutlich, wie bedrohlich diese Angst für die Einzelnen sein kann. Die Fragen, wer in die Klasse kommt, wer zur Gemeinschaft gehört, wer der Nächste ist, der rausfällt, wer bleibt übrig, wirken latent in die Interaktionen der Gruppe ein. Dabei © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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muss verdeckt bleiben, dass es um Selektion und auch um Verlust geht. In den Inszenierungen der Kinder wird deutlich, dass sie ein intuitives Wissen darüber haben und diese bedrückende Seite ausblenden. Diese kommt schließlich in den Assoziationen und Bildern der marginalisierten Jungen und Mädchen zum Ausdruck, wenn diese sich mit ihrer Intelligenz und ihrem besonderen Sprachgefühl geschickt die Bälle zuwerfen. Mario, Carina, Sara und Fridolin nehmen in den Ausgrenzungskämpfen der Klasse eine durchaus aktive Rolle ein. Im Gruppengespräch setzt sich dies in der Doppelbödigkeit von kreativen und destruktiven Fantasien von Gefährdung und Selbstgefährdung in Szene. Carina: »Wir machen eine Art privates Schwimmbad.« Sara: »Ja, wie so eine Parklandschaft.« Carina: »Das ist geil.« Sara: »Aber der würde bei diesem einen Unterwasserdings, da wo die kurz unter Wasser sind, würde der stecken bleiben.« Carina: »Aha, das ist Scheiße.« Sara: »Und es gibt eine Autobahn.« Carina: »Geil, wenn man da runterfällt.« Mario: »Dann stirbt man.« Carina: »Guck mal, da fährt so ein Laster unter dir, der ist mit Decken gefüttert.« Mario: »Aber du hängst wahrscheinlich fest. Die Plane ist weg da oben. Dann stirbst du.« Carina: »Okay, ich nehme ein Messer mit.« Mario: »Ich nehme einfach ganz viele schwere Sachen mit und gucke, ob diese Sachen auch in einem Laster voller Decken landen. Wenn nicht, sind halt ein paar Leute tot – bildlich gesprochen.«

Ihre Gruppenidee, die Schule abzureißen, eine Parklandschaft und ein Schwimmbad zu bauen, entpuppt sich, wie die Gruppeninteraktion zeigt, als bedrohliche und tödliche Kulisse. Vermutlich ist die Szene auch Ängsten in Zusammenhang mit der bevorstehenden Klassenfahrt und den geplanten Risikosportarten in Rechnung zu stellen. Auffällig bei diesem Gruppengespräch der Außenseiter ist das erstaunlich gekonnte sprachliche Zusammenspiel, das jedoch mehr ein Konstrukt distanzierter individueller Äußerungen ist und weniger eine Kohäsion stiftende Grup© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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penleistung. Fridolin merkt am Ende des Interviews an: »Der Jörg hat auch mal zu mir gesagt, in der S [der Sonderklasse, I. S.] kann sich das nicht so richtig sortieren, weil immer der Neueste, bis der sich einsortiert hat, geht schon wieder einer, dann kommt wieder einer, dann geht wieder einer, dann kommt wieder einer.«

(Prä-)Adoleszenz und Gruppenperspektiven Die Schule erscheint in neueren ethnografischen Forschungen als ein Ort von Peer-Kultur, die von eigenen Normen und Verhaltensmustern geprägt ist. Diese scheinen wenig mit Schule und ihren spezifischen Anforderungen zu tun zu haben. Sie folgen vielmehr der sozialen Logik von Gruppenbildungsprozessen und Praktiken interner Vergemeinschaftung und Abgrenzungen. Gruppenkultur ist in diesem Verständnis nicht als etwas vorhanden, das sich die Einzelnen aneignen, sondern sie wird in Interaktion und Interpretation gemeinsam hervorgebracht, bestätigt und modifiziert. Im Zentrum der Peer-Gruppe steht zumeist die wechselseitige Vergewisserung über ein gemeinsam geteiltes Verständnis von Normen und Regeln. Weil diese Normen beständig verhandelt werden, sind sie in der Gruppe Gegenstand von Einigungsprozessen und auch von Spaltungen. Krappmann und Oswald (1995) gehen von der Annahme aus, dass die Interaktionen in der Gleichaltrigengruppe eine unersetzbare Funktion ausüben, sofern diese Interaktionen die Chance zu gleichberechtigter Kooperation und zur Aushandlung von Konflikten enthalten. Demgegenüber geben die Studien von Adler und Adler (2001) Einblick in die intensiven Erfahrungen und subjektiven Nöte, die mit dem alltäglichen Ringen um Akzeptanz und Einfluss in der Peer-Gruppe verbunden sein können. In einem gruppenanalytischen Verständnis sind Gruppenbeziehungen und Dynamiken in der Gruppe beweglich (Foulkes, 1992; Haubl u. Lamotte, 2007), insbesondere in Gruppen von Heranwachsenden. Sie entwickeln und verändern sich. Gerade für die Gruppe der Heranwachsenden lässt sich hervorheben, dass sich der Einzelne in seiner Individualität umso eher entwickeln kann, je mehr er in die für ihn wichtigen Gruppenbezüge © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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integriert ist, je mehr Spielraum diese Gruppen für Individualität und Abweichung bieten, je mehr Unterschiedlichkeit eine Gruppe halten und aushalten kann. Je höher der Konformitätsdruck in einer Gruppe ist, desto weniger individuelle Unterschiede vermag sie zu integrieren und desto geringer sind ihr Entwicklungspotenzial und ihr sozialer Zusammenhalt. Gruppen stellen Spielräume zur Aushandlung von Bedeutungen zur Verfügung. Sie sind zugleich an sozial verankerte Bedeutungen und Kontexte gebunden, vor dessen Hintergrund der Aushandlungsprozess über einen neuen gemeinsamen Sinnkontext stattfindet. Die Erkenntnis, dass die Gruppenmatrix in Anschluss an Foulkes (1978, 1992) durch körpernahe Sozialbeziehungen konstituiert wird (Haubl, 1988), stellt auch forschungsmethodisch Neues zur Verfügung. So machen auch die aufgezeigten Fallbeispiele mit den Präadoleszenten deutlich, wie die Einzelnen in den Gruppenbeziehungen im Verhältnis zu ihrem eigenen Körper und dem der anderen Identitäten konstruieren und sich dabei fundamentale Regulative aneignen, die den Zusammenhang von institutioneller und kultureller Ordnung sichern. Die Perspektive der Kinder zeigt zugleich, dass diese mit ihren Sichtweisen auch Gegenläufiges und nicht Passungsfähiges produzieren und konstruieren. So fungieren die Formen des sozialen Habitus, die die Gruppenmitglieder in Körperhaltungen, Mimik und der Art ihrer Kleidung beispielsweise ausdrücken und verhandeln auf der nicht sprachlichen Ebene als soziale Mittel der Kommunikation. In den Fallbeispielen zeigt sich, wie Zugehörigkeiten, die in Formen des sozialen Habitus (Bourdieu, 1987), ihren Ausdruck finden, auch Grundlage sind für Hierarchiebildungen und Machtpositionen in Gruppen und die Bildung von informellen Untergruppen. Dalal (2001) betont, dass solche habituellen Muster immer auch gesellschaftlich fixierte Machtpositionen symbolisieren und diese, festgemacht an Geschlecht und Generation sowie ethnischen und sozialstrukturellen Merkmalen, sich in der Dynamik von Gruppen mehr und weniger bewusst niederschlagen. Foulkes (1992) hat die These formuliert, dass die Gruppenmitglieder gemeinsam die Norm konstituieren, von der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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sie individuell abweichen. Diese Ambivalenz von Positionen ist ein wichtiges Moment der Entwicklung von Gruppen. Für den Gruppenkontext bedeutet dies, dass in dem Maße, wie die Gruppe und ihre Mitglieder Abweichungen von der Norm tolerieren und aushalten, sich die Spielräume für die Individualität der Teilnehmer erweitern können. Wie die Fallbeispiele zeigen, konstituiert auch die jeweilige Schulkultur das Gruppenklima und den Aushandlungsraum mit. Dies zeichnet sich ab bei den in den Schulklassen verhandelten Geschlechter- und Zugehörigkeitsvorstellungen, den Umgangsformen und Machtbeziehungen, Konkurrenz- und Leistungsvorstellungen und den jeweiligen Ausschlusshandlungen. In der Zusammenschau von Gesamtschulklasse und Hochbegabtenklasse lassen sich Gemeinsamkeiten in der Aushandlungskultur der Peergruppen entdecken. Im Fall der Sonderklasse wirken die Ziele einer gymnasialen, vom Selektionsgedanken geprägten Schule verschärfend in die Aushandlungen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung hinein. Die hohe Bewertung von Kognition, Wissen und Leistung, das Ausblenden von Konkurrenz und Differenz und die Kultur der Selbstkontrolle von Körperlichkeit und Triebhaftigkeit erschweren die individuelle Selbstfindung der Mädchen und Jungen, die als Pubertierende mit dem sich verändernden, sexuell werdenden Körper in besonderer Weise befasst sind. Insofern werfen die hinter den agierten Ausgrenzungen sichtbar werdenden Ängste der Kinder auch Fragen auf. Diese können nicht allein auf der individuellen Ebene der Einzelnen vor dem Hintergrund ihrer familialen Beziehungserfahrungen oder allein als Gruppenphänomene betrachtet werden. Sie verschränken sich auch auf der institutionellen Ebene mit gesellschaftlichen Entwicklungen: den Beschleunigungs-, Modernisierungs- und Globalisierungsprozessen und dem Wettkampf um hegemoniale Machtansprüche, in dem den kognitiv Begabten als zukünftigem »Humankapital« eine wichtige Bedeutung zukommt. Die Institution Schule, die die kognitive Begabung und Leistung zum zentralen Kriterium macht, erzeugt zugleich den paradoxen Effekt, dass schulische Lern- und Bildungsprozesse weniger an den intellektuellen Ressourcen und Begabungen der Einzelnen scheitern als vielmehr an Mechanis© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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men der sozialen Selektion. Wie das Fallbeispiel der Gesamtschulklasse zeigt, trifft das auch dort zu, wenn auch in abgemilderter Form. Das Beispiel der gymnasialen Sonderklasse veranschaulicht, wie im Kräftespiel um die intellektuellen Ressourcen der kognitiv begabten Kinder um eine Basis der Zugehörigkeit gerungen wird. Deutlich wird auch, dass heranwachsende Jungen und Mädchen vor dem Hintergrund der neuen KompetenzLeitbilder von Selbststeuerung, Individualisierung und Autonomisierung in ihrer Selbst- und Identitätsfindung andere brauchen und nutzen, wenn sie ihre kognitiven Potenziale entwickeln. In welchem Maße dabei Emotionen der individuellen Selbstkontrolle unterstellt werden können oder diese auf der Hinterbühne von Unterricht dem freien Spiel der Kräfte der Peers überlassen bleiben, hat Einfluss darauf, das zeigen die Fallbeispiele eindrücklich, wem Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet werden, wem ein Scheitern und Herausfallen droht. Welche Plätze und Perspektiven die einzelnen Jungen und Mädchen in einer zukünftigen Gesellschaft finden können und wie sie mit Niederlagen, Möglichkeiten und Risiken zurechtkommen, ist noch offen. Wie sich dabei letztlich die Verschiebung der Gewichtung von Bindung und Autonomie, Zugehörigkeit und Isolation, Individualität und Sozialität, Kognition und Emotion, Konkurrenz und Solidarität ausgestaltet und sich in die psychische Struktur der heute heranwachsenden Kinder und in ihre Beziehungen einschreibt (Dornes, 2010) – solche Fragestellungen bleiben ohne die Rückbindung an empirische Forschungen wissenschaftstheoretische Konstruktionen, der wichtige Anknüpfungen fehlen. Der Einblick in das Fallmaterial macht deutlich, dass solche Themen von weiterem Forschungsinteresse sind und weitergehende Anknüpfungen und Differenzierungen brauchen. Diese könnten, als Gegenstand einer analytischen Sozialpsychologie, im Anschluss an Diskurse der Kultur-, Gesellschafts- und Erziehungswissenschaften liegen und in deren interdisziplinären Vernetzung. Welche sozio-emotionalen Selbstbilder Kinder im Spektrum von Begabung, Lernstörung und Marginalisierung entwickeln und wie sie sich damit positionieren, ist in jedem Fall eine interessante Aufgabe der laufenden und künftigen psychosozialen Forschungsprojekte in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Schule, deren Ergebnisse die Konzepte von Bildungsinstitutionen tiefgreifend bereichern können.

Literatur Adler, P., Adler, P. (2001). Peer power. Preadolescent culture and identity. New Brunswick: Rutgers Univ. Press. Bhabha, H. K. (2000). Die Verortung der Kultur. Tübingen: edition diskord. Bosse, H., Knauss, W. (1986). Raster für analytische Gruppenprotokolle. Unveröffentlichtes Manuskript. Bourdieu, P. (1987). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Dalal, F. (2001). Macht, Identität und Konflikt – eine postfoulkessche Perspektive. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 37 (2), 113 – 127. Dornes, M. (2010). Die Modernisierung der Seele. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 64 (11), 995 – 103. Flaake, K., Günther, M., Liebsch, K., Schubert, I. (Hrsg.) (im Druck). Jugend und Pubertät – Einführung in die Jugendsoziologie. München: Oldenbourg. Foulkes, S. H. (1978). Praxis der gruppenanalytischen Psychotherapie. München u. Basel: Ernst Reinhardt. Foulkes, S. H. (1992). Gruppenanalytische Psychotherapie. München: J. Pfeiffer. Haubl, R. (1988). Kreativer Spiel-Raum und Gruppeninszenierung. In: J. Belgrad, H.-J. Busch, B. Görlich, R. Haubl, H. J. Kalck (Hrsg.), Sprache – Szene – Unbewußtes. Sozialisationstheorie in psychoanalytischer Perspektive (S. 237 – 273). Frankfurt a. M.: Nexus. Haubl, R., Lamotte, F. (2007). Handbuch Gruppenanalyse. Eschborn: Dietmar Klotz. Hoyer, T. (2010). »Anders sind wir eigentlich nicht« – oder doch? Schüler/ innen in Hochbegabtenklassen – eine Risikogruppe? Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 46, 110 – 127. Krappmann, L., Oswald, H. (1995). Alltag der Schulkinder. Beobachtungen von Interaktionen und Sozialbeziehungen. Weinheim: Juventa. Schubert, I. (2005). Die schwierige Loslösung von Eltern und Kindern. Brüche und Bindung zwischen den Generationen seit dem Krieg. Frankfurt a. M.: Campus. Schubert, I. (2010a). »Und nachts, da arbeiten die Männchen im Kopf«. Affektkontrolle und Männlichkeitsvorstellungen bei ADHS-medika© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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menierten Jungen. In: R. Haubl, K. Liebsch (Hrsg.), Mit Ritalin leben (S. 159 – 184). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schubert, I. (2010b). Die Gruppe als Möglichkeitsraum – sexuelle Entwicklung in der Pubertät. Gruppenanalyse. Zeitschrift für gruppenanalytische Psychotherapie, Beratung und Supervision, 20 (1), 23 – 52.

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Glück soll lernbar sein? Ist es aber nicht!

Noch vor ein paar Jahren konnte man guten Gewissens behaupten, das Glück werde im pädagogischen Feld vernachlässigt, übersehen, abgewertet. In den meisten erziehungswissenschaftlichen Lexika oder Handbüchern sucht man einen Eintrag »Glück« vergeblich. In der Bildungsforschung, sei es in der empirischen, historischen oder philosophischen Spielart, kam das »Glück«, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht vor. Die meisten Erziehungswissenschaftler waren sich vielmehr einig, dass mit diesem doch allzu nebulösen Begriff nichts anzufangen sei (vgl. Hoyer, 2005). Neuerdings jedoch geben sich große Teile der hiesigen Erziehungswissenschaft, so als wollte sie mit aller Macht der Erfolgsgeschichte der Positive Psychology nacheifern, ungehemmt positiv. Man wird mit einem Schlag geradezu überrollt von optimistischen Verlautbarungen, die sich die Bälle zuspielen, um einer »Pädagogik des Glücks« (Münch u. Wyrobnik, 2010) das Wort zu reden. Daran sollte es, möchte man meinen, eigentlich nichts zu nörgeln geben, denn das psychische und leibliche Wohlergehen von Schülern und Lehrerinnen, die positiven Emotionen insgesamt, sind von der leistungs- und defizitorientierten Schulpädagogik, der Bildungspolitik und nicht zuletzt im Schulalltag die längste Zeit unbestreitbar sträflich vernachlässigt worden (vgl. Hascher, 2004; Burow u. Hoyer, 2010). Und trotzdem gibt es gute Gründe, weshalb man sich von der anwachsenden pädagogischen Glücksbegeisterung nicht leichtfertig anstecken lassen sollte.

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Wellenreiter Vor einigen Jahrzehnten hatte Günther Bien (1978, S. XIV), der Grand Seigneur der deutschen Glücksphilosophie, moniert, dass das Glück »auf die Gasse geraten« sei. Der Übersetzer von Aristoteles nahm mit Schaudern zur Kenntnis, was aus dem Glück geworden war. Unter den Philosophen der Antike galt die eudaimonia als das höchste Gut, als oberstes Strebensziel der Menschen und als der Vollzug humaner Vorzüglichkeit. Daran mochte Bien mit Wehmut gedacht haben, als er in Zeiten eiskalten Krieges, atomarer und terroristischer Bedrohung erlebte, wie das Glück zu einer inflationär gebrauchten Worthülse verkam. In Gestalt von Wohlbefindlichkeitsforschung und Lebensqualitätsmessungen etablierte sich das Glück in den empirischen Wissenschaften, namentlich in der Psychologie, während die Geisteswissenschaften nach einem halbherzigen Intermezzo ihr Interesse am Glück in den 1980er-Jahren wieder abzogen. Mit wie viel mehr Recht dürfte Günther Bien heute seine Klage wiederholen. Man ist versucht, das Wort »Gasse« durch »Gosse« zu ersetzen. Wir befinden uns inmitten einer noch nie da gewesenen glückspublizistischen Welle, die beinahe alle Wissenschaftszweige ergriffen hat. Ob Theologie, Psychologie, Philosophie, Literaturwissenschaft, Ökonomie, Medizin oder Neurobiologie, überall ist man vom Glücksvirus infiziert, von den zahllosen Internetforen und Ratgeberheften ganz zu schweigen. Glück ist das Modethema unserer krisengeschüttelten Zeit. Eine Beobachtung drängt sich auf: In jenem Maße, wie psychische, soziale und globale Krisen und Katastrophen beschworen werden, steigt auch die Zahl der Glücksschweinchen in den Schaufensterauslagen und die der vierblättrigen Kleeblätter oder Marienkäfer auf den Titelbildern von Büchern und Zeitschriften – zumindest in den Wohlstandsländern. Die anspruchsvolle Glücksoder Wohlbefindlichkeitsforschung und die theoretisch differenzierten, problembewussten Studien zum Thema (vgl. z. B. Bellebaum, 2002) geraten unterdessen mehr und mehr ins Hintertreffen. Dafür wird man mit stromlinienförmigen, aufmunternden Nachrichten versorgt: Glück sei kein Zufall, Glück sei erlernbar, jeder könne, wenn er nur wolle und sich ordentlich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Mühe gebe, glücklich werden. Pessimismus und Schwermut waren gestern, Optimismus und Heiterkeit in allen Lebenslagen gehören die Zukunft. Wer mit fröhlichen Botschaften dieses Kalibers hausieren geht, reitet nicht nur auf der Glückswelle, sondern zugleich auf der neoliberalistischen, die sich in fast allen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens breit gemacht hat. Man denke nur an die sogenannte Gesundheitsreform, die den Rückzug des Staates und die Aushebelung des Solidarprinzips mit dem Etikett der Eigenverantwortung bemäntelt: Wer krank wird, ist selber schuld und soll dafür gefälligst zahlen (vgl. Hontschik, 2009, S. 26 f.). Wenn es um das Wohl und Wehe des Einzelnen geht, will sich die Politik am liebsten raushalten. Die Individualisierung sozialer Phänomene führt schnurstracks zur Entpolitisierung. Zu dieser Entwicklung passt eine Denkhaltung, die sich das Signalwort der Lebenskunst auf ihr Banner geschrieben hat. Die für eine philosophische Lehre ungewöhnlich populäre Philosophie der Lebenskunst verschaffte einer zum Teil grenzenlos überzogenen Vorstellung von Autonomie und Selbstmächtigkeit des Individuums Geltung (vgl. Kersting u. Langbehn, 2007). Kontingente Lebensumstände, soziale Widerstände, physische und psychische Unwägbarkeiten, Fremdeinflüsse aller Art werden von vielen Verfechtern der Lebenskunstlehre zu bloßem Bearbeitungsmaterial erklärt, welches dem Subjekt zur freien, quasi-künstlerischen Gestaltung zur Verfügung stehe. Der Haken dabei ist: Kein Mensch kann dem eigenen Leben, dem eigenen Selbst, so distanziert gegenübertreten wie ein Künstler seinem isolierten Werk. Das angebliche Objekt des Lebenskünstlers (sein zu gestaltendes Leben) ist vom Subjekt des Lebenskünstlers (nennen wir es: seine Persönlichkeit) ebenso untrennbar durchdrungen wie dieses, das Subjekt, von den je objektiven, sozialen Gegebenheiten. Nur wer diese Verschränkungen außer Acht lässt, kann einen Grad an absoluter Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Mündigkeit, Souveränität, oder wie die Schlagworte sonst noch heißen, vorgaukeln, der schlichtweg illusorisch ist. Es überrascht nicht, dass sich Lebenskunstphilosophen jüngst auch als Glücksphilosophen präsentieren, allen voran Wilhelm © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Schmid. Was sonst als Glück, im Sinne eines gelingenden, erfüllten Lebens, sollte Ziel und Zweck der Lebenskunst sein? Das kann man schon bei Friedrich Nietzsche, dem modernen Ahnherrn der Lebenskunst, nachlesen. Im Aphorismus »Eins ist Noth« hat er das ästhetische Selbstbildungsprogramm und das maßgebliche Kriterium einer gelungenen Selbststilisierung, »Zufriedenheit mit sich«, auf den Begriff gebracht: »Seinem Charakter ›Stil geben‹ – eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. […] Denn Eins ist Noth: dass der Mensch seine Zufriedenheit mit sich erreiche – sei es nun durch diese oder jene Dichtung und Kunst: nur dann erst ist der Mensch überhaupt erträglich anzusehen!« (Nietzsche, 1882/1988, S. 530 f.). An sich selbst schleifen, bis einem der eigene Charakter wohlgefällt, das setzt, folgt man Nietzsche, vollständige Souveränität, ein tiefes Verständnis von seinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten und einen grandiosen Überblick über die Möglichkeiten und Absichten der Selbstwerdung voraus. Kein Moral-, sondern ein Geschmacksurteil sagt am vorläufigen Ende der Selbstgestaltung »so ist es gut«, dann nämlich, wenn jede Persönlichkeitsfacette zu einem stimmigen, sinnvollen Arrangement geformt wurde. Wir würden heute vielleicht von Identität, Integrität oder Authentizität sprechen. Wohlgefallen an sich, Einigkeit, Übereinstimmung, Zufriedenheit mit sich sind Ergebnisse eines buchstäblichen Bildungs- oder Modellierungsprozesses, der sich in anhaltender Auseinandersetzung mit sich und der Welt vollzieht, und nichts, was sich naturwüchsig ergibt oder von innen heraus entfaltet. So betrachtet (die Ausdrücke mit Vorsicht verwendet), wären wir die Autoren unseres Lebens und die Schöpfer unseres Selbst, wenn es uns gelänge, in relativer Selbstbestimmung und Eigenverantwortung sinnvolle Lebensziele zu entwerfen und unsere Lebenspläne zu verwirklichen. Das sind formale Bedingungen – da wäre den Lebenskunstlehren zuzustimmen – eines guten, gelingenden Lebens. In gewisser Weise sind es auch formale Bedingungen eines © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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glücklichen Lebens. »Jemand ist also glücklich«, schreibt der Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls, »wenn seine vernünftigen Pläne gute Fortschritte machen, die wichtigsten Ziele erreicht werden und er mit gutem Grund ziemlich sicher ist, daß diese günstigen Umstände anhalten werden« (Rawls, 1979, S. 595). Dieser Jemand könnte durchaus als glücklich bezeichnet werden. Doch das wäre eine Attribution und keine Beschreibung einer emotionalen Wirklichkeit. Ob er oder sie tatsächlich glücklich ist, sich glücklich fühlt oder sich als glücklich beurteilt, steht auf einem anderen Blatt. Was ist etwa mit den Gespenstern der Vergangenheit, die ihn plagen, was mit düsteren Stimmungen, die in ihm unversehens aufsteigen, mit Kummer, Trauer, Ängsten, was ist mit chronischen Krankheiten, die ihn zwar nicht am Erreichen seiner Ziele hindern, aber seine Lebensfreude beeinträchtigen? Lauter Dinge, die in Maßen beeinflussbar, aber schwer oder gar nicht kontrollierbar sind. Glücklich wäre unsere fiktive Person erst dann, wenn sie ihr Leben trotz allem insgesamt, also einschränkungslos, euphorisch bejahen würde; zufrieden wäre sie, wenn sie es so, wie es ist, akzeptierte. Glück und Zufriedenheit sind die denkbar höchsten Maßstäbe, die uns zur Bewertung des eigenen Lebensvollzugs zur Verfügung stehen. Der Anspruch, glücklich zu werden und glücklich zu bleiben, ist groß und verständlich, aber es gibt wahrlich keine Gewähr, keine Glücksgarantie und kein einklagbares Recht darauf (höchstens das Recht, nach dem Glück zu streben, wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt). Der im Neoliberalismus blühende Machbarkeitswahn hingegen propagiert das genaue Gegenteil: Glückslehren mit Erfolgsgarantie und Lebenszufriedenheit als das Ergebnis von Trainingsmarathons, so als handelte es sich beim Glück um eine formbare Problemzone, die man nach dem Modell von Bauch-Beine-Po-Übungen in den Griff bekommen könnte. Mittlerweile hat die Glückswelle also auch die Pädagogik ergriffen, zumindest scheint die eingefleischte Reserve der Zunft deutlich im Abnehmen begriffen. Das sprechendste Indiz dafür sind das an einer Heidelberger Schule eingeführte Schulfach Glück, die überwiegend positive Resonanz darauf und die in Schwung kommenden Nachfolgeprojekte. Vieles von dem, was © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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derzeit im attraktiven Glücksgewand daherkommt, gibt sich bei näherer Betrachtung allerdings als eine windige Marketingstrategie zu erkennen. Mit dem schicken Etikett werden altbekannte Schläuche feilgeboten: gutgemeinte Versatzstücke reformpädagogischer Provenienz zumeist, die unter dem Banner des Glücks neues Gehör zu finden versuchen. Schlimmer als dieser verzeihliche Etikettenschwindel wäre freilich, wenn der neoliberalistische Zeitgeist mitsamt den überzogenen Machbarkeitserwartungen im Fahrwasser der zugkräftigen Glücksthematik das pädagogische Feld überschwemmen würde. Mit der allerorten verbreiteten Behauptung, Glück sei lernbar, scheint eine solche Gefahr in Verzug.

Bildung contra Glück? Bevor ich auf die Lernbarkeitsdoktrin eingehe, sind ein paar Worte darüber zu verlieren, weshalb zwischen der Bildung und dem Glück offenkundig eine Entzweiung eingetreten ist. Lässt man Studierende in spontaner Assoziation aufschreiben, wie sie sich einen glücklichen Tag vorstellen, dann kommen Bildungseinrichtungen in diesen Erzählungen, wer hätte das gedacht, nicht vor. Auch bei Schulanfängern lässt sich Ähnliches feststellen: Glücksmomente finden zumeist außerhalb von Schule und Unterricht statt. Was sagt uns das? Dass Lernen von Natur aus beschwerlich ist? Lernforschung und Neurobiologie bestreiten dies vehement: Menschen wollen lernen, das Gehirn will lernen (es kann ja gar nicht anders), Lernfortschritte führen das Gefühl der Befriedigung, der Freude mit sich, und wenn etwas Freude macht, wird besser gelernt: »So sind der Spaß an einer Sache und das Lernen dieser Sache unmittelbar verknüpft« (Spitzer, 2008, S. 11). Es spricht wohl einiges dafür, dass erst die Bildungsinstitutionen aus dem Lernen eine bittere Pille machen. Und es ist kein Geheimnis: Schulen stehen nicht sonderlich hoch in der Gunst der Betroffenen. Erhebungen, die nach dem Wohlbefinden von Schülerinnen fragen, ergeben erschreckende Resultate. »Über zwei Drittel der Oberstufenschüler bekunden keine Freude am Unterricht; 70 bis 85 Prozent beurteilen ihr © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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schulisches Befinden negativ« (Singer, 2000, S. 12). Man kann von Glück sagen, wenn Schulen die Schüler und Lehrerinnen nicht krank machen, was häufig genug geschieht. Das ist eine untragbare Situation, die viele Ursachen hat. Eine davon, eine mentalitätsgeschichtliche, sei hier etwas näher beleuchtet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fühlte sich eine kleine Gruppe von Pädagogen, die Philanthropen, angesichts des verheerenden Zustands des Bildungssystems veranlasst, umfassende Reformen theoretischer und praktischer Natur anzustrengen. Sie ließen sich dabei von der Idee der Glückseligkeit leiten (vgl. Hoyer, 2005). Weil für Trapp, Basedow, Villaume, Bahrdt und den anderen Philanthropen außer Frage stand, dass das Glück des Menschens schönstes Lebensziel sei, erklärten sie es konsequenterweise zum »Zwek der Erziehung« (Bahrdt, 1785/ 1980, S. 49). Was verstanden sie unter Glückseligkeit? Subjektiv äußert sie sich in einer positiven Grundstimmung: in Erfüllung. Und objektiv in einer ausgezeichneten personalen Beschaffenheit: in Vollkommenheit. Auf die Zusammengehörigkeit der zwei Phänomene legten die Philanthropen Wert. Vollkommenheit (oder als Prozess gedacht: Vervollkommnung) galt ihnen nur dann als Kriterium gelingender Praxis, wenn es von positiver Emotionalität begleitet wurde. Wohlgefühl oder Glückseligkeit wiederum, wenn es aus beliebigen oder gar verwerflichen Quellen resultierte, lehnten sie aus ethischen Gründen ab. Glückseligkeit und Vollkommenheit, diese beiden Bestimmungsmerkmale des Humanen, wurden so definiert, dass sie sittliche Reife, Tugendhaftigkeit, Rechtschaffenheit, gesellschaftliche Verträglichkeit einschlossen. Doch das Glück der Menschen ruht nicht allein auf den Pfeilern der Sittlichkeit, das war den Philanthropen sonnenklar. Deshalb dürfe sich die Erziehung auch nicht vorrangig auf die moralische Bildung oder Charakterbildung einstellen. Vielmehr komme es auf die ebenmäßige Ausbildung aller emotionalen und kognitiven Fähigkeiten und Begabungen an: »Du bist nicht Seele allein, du hast auch einen Körper ; und deine Seele ist nicht bloß Verstand, sie ist auch Herz, nicht bloß Erkenntniskraft, sondern auch Empfindungsvermögen. Dies bedenke, mein Sohn, und wisse, daß die Summe deiner Vollkommenheiten, und also auch die Summe deiner Glückseligkeit, in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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eben dem Maße verringert wird, in welchem die Uebungen deiner Kräfte einseitig sind, in welchem du den einen Theil von dir, mit Vernachlässigung der übrigen, zu verbessern und zu stärken suchst. So fest und innig ist der Zusammenhang, welcher alle mit einander verknüpft!« (Campe, 1832, S. 151). Immanuel Kant, Zeitgenosse der Philanthropen, setzte bekanntlich alles daran, die Moralität felsenfest auf Rationalität zu gründen. Die Glückseligkeit, die, wie er meinte, aus der Befriedigung schwankender Neigungen entspringe, dünkte ihm eine äußerst unzuverlässige Triebfeder moralischen Handelns (vgl. Pleines, 1984). Der kategorische Imperativ war deshalb ausdrücklich gegen Glücksbedürfnisse und sonstige Eventualitäten immunisiert. Als des Glückes würdig erwiesen sich nach Kants Anschauung Personen, die ihre Neigungen zugunsten einer strikt moralischen, pflichtbewussten Lebensführung zurückstellten. Damit war der Bedingungszusammenhang von Emotionalität, Moralität und Glückseligkeit zerrissen. Die Einwände der Philanthropen ließen nicht auf sich warten: Vernunftgründe allein reichten nicht zur Motivation moralischen Handelns, entgegneten sie, die moralische Pflicht müsse zur Neigung werden, sonst befolge sie niemand, und das »Prinzip der Glückseligkeit« sei als der absolute Zweck allen Handelns nicht durch Moralität zu ersetzen. Vergeblich! Die Einwände blieben wirkungsgeschichtlich betrachtet folgenlos. Das moralphilosophische Primat der Sittlichkeit verdrängte strebensethische und glücksorientierte Ansätze. Das geschah in der philosophischen Ethik ebenso wie in der Pädagogik, die sich auf Vorgaben der praktischen Philosophie stützte. Die große Zahl der pädagogischen Kantianer (Schwarz, Niemeyer, Stephani, Herbart und andere), die zugleich die Meinungsführer der deutschsprachigen Pädagogik waren, folgten Kants Gedankenbahnen insofern, als sie das Glück aus dem Kreis der Erziehungsziele exkommunizierten. Für die angestrengt um wissenschaftliche Reputation ringende Pädagogik war das mit subjektivistisch-hedonistischem Flair behaftete Glück ein unseriöser Gegenstand, von dem sie sich bereitwillig distanzierte. Bundesgenossen in der Abwertung des Glücks fanden die Sittlichkeitstheoretiker des 19. Jahrhunderts in den Bildungstheoretikern. Es ist keine begriffsgeschichtliche Zufälligkeit, dass © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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im selben Zeitraum »Bildung« zum Leitbegriff der deutschen Pädagogik avancierte, in dem die Zielvorstellung des Glücks daraus verschwand. Manche historisch angelegten Bildungstheorien erwecken heutzutage ja den Eindruck, als wäre »Bildung« der unverzichtbare Kernbegriff, um den im deutschsprachigen Raum seit je das pädagogische Denken kreise. Aber das ist ein Irrtum. Noch die Philanthropen verwenden den Ausdruck eher beiläufig, sie sprechen überwiegend von Erziehung und meinen auch dann, wenn sie expressis verbis das Wort Bildung gebrauchen, meistens nichts anderes als Erziehung: nämlich Anleitung, Unterweisung, Einwirkung auf die individuellen Persönlichkeitsstrukturen. Für den Siegeszug der »Bildung« sorgten hauptsächlich die Neuhumanisten (Humboldt, Niethammer, Goethe usw.), und zwar in ausdrücklicher und bisweilen verblendeter Frontstellung gegen die angeblich utilitaristischen Erziehungslehren der Philanthropen. Mit idealistischem Eifer begründeten die neuhumanistisch gesonnenen Autoren den Allgemeinheitsanspruch auf Bildung, indem sie auf die allen Menschen zuteil gewordene Geisteskraft als ein bildungsbedürftiges Potenzial verwiesen. Zweckfrei sollte die Bildung und auf die Kultivierung der »Sinnesart« zugeschnitten sein. Vor allem die intellektuelle Welt bot sich als Medium der harmonischen Selbstveredelung an. Der, wenn man so sagen darf, »ganzheitliche« Bildungsansatz der Philanthropen geriet in Vergessenheit. Auch das Glück, das temporäre wie das Lebensglück, verlor dauerhaft an pädagogischer Wertschätzung. Die Entkoppelung der Bildung von Fragen des gelingenden Lebens nahm ihren Lauf. Und die Gleichgültigkeit oder gar Geringschätzung gegenüber dem Wohlbefinden der zu bildenden Subjekte ebenfalls.

Erlernbares Glück? Und nun also, endlich, soll alles wieder anders werden! Ernst Fritz-Schubert (2008), der pfiffige Initiator des erwähnten Schulfachs Glück, hat erkannt, woran es den hiesigen Schulen mangelt: an Angeboten, die auf die existenziellen Bedürfnisse der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Schülerinnen eingehen, an Raum und Zeit für ästhetische und körpernahe Ausdrucksformen, an Freude am Lernen und an der Leistung, an Unterrichtsgegenständen, die Werte- und Sinnproblematiken erfahrbar machen, an einem Curriculum, das zur Klärung und Förderung von Lebensführungskompetenzen beiträgt. Ähnliche Mängellisten haben im 20. Jahrhundert mehr oder weniger alle Schulreformer aufgestellt. Neu und originell ist lediglich, dass Fritz-Schubert sein Anliegen mit dem verheißungsvollen Oberbegriff »Glück« versieht. Dieser charmante Einfall hat dem Projekt enorme Publizität eingebracht. Ungewöhnlich ist ferner, dass das gesamte Reformpaket in die engen Grenzen eines Schulfachs gepackt wird. Auch dies ist ein raffinierter Schachzug. Schulpolitiker und Lehrerinnen verstopfen sich mittlerweile die Ohren, wenn sie zum x-ten Male erzählt bekommen, die Schule müsse sich von Grund auf verändern. Ein einzelnes Fach hingegen, das scheint eine machbare Größe. Aber es dürfte wohl einleuchten, dass die aufgezählten Mängel unserer Schulen unmöglich im Rahmen einer Unterrichtseinheit zu beheben sind. Ebenso klar dürfte sein, dass die anspruchsvolle Zielsetzung des Fachs, die Schülerinnen und Schüler nachhaltig glücklich zu machen, keinen stundenplanförmigen Zuschnitt verträgt. Es gibt also, bei aller Sympathie für das Vorhaben, Grund, auf die Euphoriebremse zu treten – obenan was das deklarierte Lernziel betrifft. Lebensglück, wollen uns die Glückspropheten dieser Tage (Fritz-Schubert, Eckart von Hirschhausen u. a.) glauben machen, sei lernbar. Freilich wird diese forsche Behauptung nur sehr schwach begründet und nirgends von einer ausformulierten Bildungs- oder Lerntheorie gestützt. Das nährt den Verdacht, hinter dem starken Postulat von der Erlernbarkeit des Glücks steckt entweder ein Missverständnis oder pure Vermessenheit. Was bedeutet Lernen? Im Allgemeinen verstehen wir darunter die Aneignung von Wissen, Verhaltensformen und Fertigkeiten. Robert Mills Gagn etwa, ein »zeitgemäßer Klassiker« der Lernforschung (vgl. Kiel, 2010), unterteilt die Lernergebnisse in fünf Kategorien: verbale Informationen, intellektuelle Fertigkeiten, kognitive Strategien, Einstellungen und motorische Fertigkeiten. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Diese outcomes sind die Resultate von formalisierten und informellen Lernprozessen, learning outcomes. Das abendländische Bildungssystem ist entwickelt worden, um solche Prozesse zu systematisieren und zu institutionalisieren. Lehr- oder neuerdings Bildungspläne legen fest, was in der Schule unter methodischer Anleitung idealerweise gelernt werden soll: bestimmte Inhalte, erwünschte Kompetenzen. Die jeweiligen Lernergebnisse sind zumindest einigermaßen verlässlich erkennbar ; das Gelernte ist bei Bedarf abrufbar, anwendbar, in Handlung umsetzbar, es kann verbessert und vertieft werden, aber auch wieder verloren gehen. In dieser Erwartung werden Schulen besucht. Man belegt einen Kursus in der Tanzschule, weil außer Frage steht, dass mehr oder weniger alle Menschen sich die Schrittfolgen durch Übung unmittelbar aneignen können. Wer schließlich Rumba tanzen gelernt hat, müsste auf der Tanzfläche tatsächlich Rumba tanzen können, es sei denn, er oder sie wäre aus der Übung gekommen. Ähnliches gilt für alle curricularen Lerngegenstände, aber auch fürs Fahrradfahren, für Gesprächsführungstechniken, fürs Klarinettespielen, für Umgangs- und Ausdrucksformen. Es gibt interessante Grenzfälle, bei denen strittig ist, ob sie dem Bereich der Lehr- und Lernbarkeit angehören, weil sie weder ein spezifisches Wissen noch eine isolierbare Fertigkeit darstellen. Solch ein Grenzfall ist die Moral. Seit Menschengedenken sucht die Pädagogik nach geeigneten Verfahren der Moral-, Werte- oder Tugenderziehung, aber es gelingt ihr nicht recht, den Nachweis zu erbringen, das A zuverlässig zu B führt, also bestimmte Lernbedingungen ein vorhersagbares, überprüfbares moralisches Urteils- und Handlungsprofil zeitigen. Deshalb gibt es für Mitleid, Solidarität, Großherzigkeit, Weltoffenheit, Nächstenliebe und dergleichen keine Schulfächer und keine Zertifikate. Wer nicht als Sophist gelten will, hütet sich, die Lernbarkeit der Moral zu postulieren. Außer man kann, wie Georg Lind (2002) und andere Vertreter der entwicklungspsychologischen Schule Piagets und Kohlbergs, Längsschnittstudien vorweisen, die zu belegen scheinen, das gewisse pädagogische Voraussetzungen dauerhafte moralische Lerneffekte begünstigen. Studien, die sich auf einer vergleichbaren Datenbasis und mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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einem ähnlich aufwendigen Projektdesign um den Nachweis der Erlernbarkeit des Glücks bemühen, sind nicht in Sicht. Es lohnt auch nicht, darauf zu warten. Denn der emotionale Zustand des Glücks und die anspruchsvolle, schwer zu fassende Kategorie des glücklichen Lebens gehören nicht einmal zu den besagten Grenzfällen. Und sie gehören schon gar nicht zur Rubrik der unmittelbar erwerbbaren Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen oder Strategien. Glück ist nicht einzustudieren, nicht abrufbar, nicht anwendbar, mit einem Wort: Glück ist kein learning outcome. Nicht nur das Zufallsglück, auch das Lebensglück entzieht sich des funktionalen Zugriffs und der Beherrschbarkeit. Mit dem Unverfügbaren, jenen Faktoren, auf die wir handelnd keinen Einfluss ausüben können, muss jederzeit gerechnet werden. Einwirken können wir lediglich auf die mutmaßlichen und sehr kontrovers diskutierten Voraussetzungen des Glücks: materielle und immaterielle Güter, Tugenden, psychische Verfassungen, Einstellungen, Haltungen, intellektuelle Kompetenzen, motorische Fertigkeiten etc. Aber nur wer ernsthaft annimmt, dass wir über sämtliche Koordinaten eines glücklichen Lebens Bescheid wüssten und uns alle notwendigen Glücksgüter zur freien Verfügung stünden, dürfte überhaupt davon reden, dass das Glück als solches zu lernen sei. Und nicht einmal dann würden wir es direkt erlernen, so wie wir Mathematik, sprachliche Ausdrucksfähigkeit, politisches Verständnis oder Bewegungsabläufe erlernen. Wie auch? Denn es gibt ja keine isolierbare und generalisierbare Lebenszufriedenheitskompetenz. Lebenszufriedenheit oder Glück sind das störanfällige Ergebnis intuitiver, emotionaler und reflektierter Resonanzen auf wechselnde, kontingente Gegebenheiten. Natürlich ist es sinnvoll, sich mit diesen Gegebenheiten auseinanderzusetzen, so wie es sinnvoll ist, sich mit den eigenen Einstellungen, Reaktionsweisen und Emotionen zu befassen, um sie gegebenenfalls verändern zu können. Vielleicht kommt man dadurch dem ersehnten Lebensglück näher – vielleicht. Und was ist mit den Bildungsinstitutionen? Diverse Untersuchungen kommen zu dem nicht unerwarteten Schluss, dass sich die Schulkultur auf das Wohlbefinden von Schülerinnen und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Schülern in nachweisbarer Form auswirkt. »Allgemein kann man sagen, dass Wohlbefinden in der Klasse auf einem positiven Vertrauensklima beruht, das entsteht, wenn die SchülerInnen Mitbestimmungs- und Beteiligungsmöglichkeiten bekommen, wenn sie merken, dass die Lehrperson an sie glaubt und ihnen mit Wohlwollen begegnet« (Fend u. Sandmeier, 2004, S. 181). Eine andere Studie ergab ähnliche Ergebnisse: »Demnach fühlen sich SchülerInnen umso wohler in der Schule, je mehr sich die Lehrkräfte um ihre Motivierung bemühen, sich schülerorientiert verhalten, eine entwickelte Aufgabenkultur pflegen und durch eine effiziente Klassenführung günstige Rahmenbedingungen für die Qualität und Quantität des Unterrichts setzen« (Hosenfeld u. Helmke, 2004, S. 129 f.). Es bedarf also keiner Hexerei, um in der Schule ein Klima zu schaffen, das den positiven Emotionen aller Akteure günstig ist. Und wenn die Bildungseinrichtungen überdies noch Lernprozesse unterstützen würden, die, mit Hans Krämer (1995, S. 163) gesprochen, zum »Aufbau des guten Lebens« hilfreich erscheinen, dann wäre schon sehr viel erreicht (vgl. Hoyer, 2007). Aber ob die Schülerinnen und Schüler mit diesen in der Schule erworbenen Kenntnissen, Fertigkeiten und Erfahrungen langfristig glücklich werden, bleibt besser ihnen überlassen. Vor übertrieben hohen Erwartungen auf ein glückliches Leben ist jedenfalls zu warnen. Rolf Haubl hat einmal mit einem raffinierten Argument zu einer vorsichtigen Gangart geraten: »Der moderne Mensch müsste ewig leben, um alle Möglichkeiten für ein glückliches Leben auszuprobieren, die es gegenwärtig gibt und in Zukunft geben wird. Jede der noch nicht gewählten (oder noch nicht wählbaren, weil noch nicht entdeckten oder erfundenen) Möglichkeiten könnte ihn glücklicher machen. So betrachtet, muss ihn sein tatsächlich gelebtes Leben enttäuschen. Und es enttäuscht ihn umso mehr, je größer seine Erwartungen an ein glückliches Leben sind. Folglich ist es nicht nur vernünftig, sondern auch für Glücksgefühle günstig, solche Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben oder gar darauf zu bestehen, dass es einen Anspruch auf ein glückliches Leben gibt« (Haubl, 2007, S. 182). Neben den Marktschreiern des Glücks mögen diese leisen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Töne kleinlaut klingen, aber dahinter verbirgt sich keine falsche Bescheidenheit, sondern die unaufgeregte Einsicht eines erfahrenen Sozialpsychologen, Gruppenanalytikers und Supervisors – und sicherlich auch die eines leidenschaftlichen Melancholikers. Melancholiker ist auch der Dichter Peter Handke. Dieser hat in einem lesenswerten Traktat die verstörende Frage aufgeworfen: »Wer hat schon einen geglückten Tag erlebt?« (Handke, 1991, S. 36). 24 gelungene Stunden sind offensichtlich nichts Selbstverständliches, vielmehr etwas Kostbares, das schwer und selten zustande kommt, mehr Geschenk als Kunst, mehr Zufall als Leistung und ganz sicher keine Technik.

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Jenseits und diesseits des Individuums: Der gesellschaftliche Charakter von Emotionen

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Burkard Sievers

Kapitalistische Gier Einige sozioanalytische Überlegungen »Sehen wir nicht, wie Ökonomen unbewusste Gier außer Acht lassen?« (Winnicott et al., 1984, S. 113)

Auf den ersten Blick scheint es, als habe sich die Bedeutung von Gier in der Wirtschaft im öffentlichen Diskurs während der Finanzkrise 2008 – 2010 deutlich verändert. Während Gier im Sinne narzisstischen Selbstinteresses über Jahrzehnte hinweg als die eigentlich treibende Kraft kapitalistischer Wirtschaft galt und zunehmend als Inbegriff von Kapitalismus verstanden wurde, wurden in den drei vergangenen Jahren vor allem die Banken und die Banker immer wieder schamloser Gier bezichtigt. Die Überzeugung, dass die Wirtschaft nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie – frei von staatlicher Einflussnahme – auf dem Eigeninteresse der Unternehmen und ihrem Gewinnstreben beruht, wurde vor allem von Milton Friedman und der Chicago School des Neoliberalismus propagiert und wissenschaftlich untermauert. In seinem Buch »Kapitalismus und Freiheit« legte Friedman (1962) bereits die Grundlagen einer auf freien Märkten und der Freiheit des Einzelnen beruhenden politischen Ökonomie, einer Philosophie, die für nahezu ein halbes Jahrhundert die Wirtschaftspolitik vieler westlicher Staaten, allen voran der USA und Großbritanniens, nachhaltig geprägt hat. »Die soziale Verantwortung eines Unternehmens« beschränkt sich für Friedman »einzig und allein darauf, seine Ressourcen zu nutzen und solche Aktivitäten zu unternehmen, die darauf abzielen, den Gewinn im Rahmen der geltenden Spielregeln zu steigern« (Friedman, 1962, S. 133, zit. nach Wang u. Murnighan, 2009). Die damit einhergehende Legitimation von Gier scheint ihre theoretische Begründung nicht zuletzt in den von Adam Smith (1776/2006) in »Wohlstand der Nationen« dargestellten wirtschaftsphilosophischen Überlegungen und insbesondere seinen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Begriffen der unsichtbaren Hand und des Selbstinteresses zu finden. Wenngleich die Annahme, dass Adam Smith einer skrupel- und verantwortungslosen Anhäufung von Reichtümern das Wort rede und Selbstinteresse mit Gier und Selbstsucht gleichsetze (Wight, 2005, S. 1), inzwischen auch von einer Reihe von Autoren als verzerrt und falsch widerlegt worden ist (z. B. Brown, 1997; Fleischacker, 2004; Goldschmidt, 2010, S. 294 f.; Rowland, 2005; Wang u. Murnighan, 2009), so hat dies der Propagierung von Gier zumindest bis zum Platzen der Finanzblase vor der jüngsten Krise jedoch keinerlei Abbruch getan. Wie sehr Gier als höchstes Gut betrachtet wurde, wird geradezu programmatisch in dem Film »Wall Street« von 1987 deutlich, in dem Gordon Gekko, der Hauptdarsteller, seine Überzeugung »Gier ist gut« zum Ausdruck bringt. Während Gier im Bereich der Wirtschaft jahrzehntelang als gutes Objekt galt, so wandelte sich die öffentliche Meinung mit Beginn der Finanzkrise doch geradezu schlagartig. Wie sehr Gier zum schlechten Objekt wurde, spiegelte sich nicht zuletzt nachhaltig in den Medien wider. Viele Topmanager der Finanzdienstleistungsindustrie, allen voran Richard Fuld, der CEO von Lehman Brothers, wurden exzessiver Gier bezichtigt. Und es schien weithin Einverständnis darüber zu herrschen, dass Gier »die Gier der anderen [ist]. Die Banker sind die Wölfe, und wir sind die Schafe, und die Gier der Banker hat uns alle in die Krise getrieben« (Ganssmann, 2008, S. 1). Wenn man jedoch mit Stiglitz (2010, S. 151) davon ausgeht, dass »die meisten Banker von Geburt an nicht gieriger als andere Menschen sind«, dann erweist sich nicht zuletzt auch die Annahme, dass individueller Gier eine ausschlaggebende Bedeutung bei der Entstehung und dem Verlauf der Finanzkrise zukommt, als falsch; sie ist ebenso ein bloßer Mythos (Hansen u. Movahedi, 2010) wie die Vorstellung, dass Gier erst eine Ausgeburt des Kapitalismus sei. Wie etwa Max Weber (1904–05/2010) und Georg Simmel (1900/1907) bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gezeigt haben, hat es »keine Zeit gegeben […], in der die Individuen nicht gierig nach Geld gewesen wären« (S. 239). Auch historische Forschungen (z. B. Balot, 2001; Coblentz, 1965; Newhauser, 2000, 2007; Robertson, 2001) machen am Beispiel der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Weltgeschichte, des klassischen Athens sowie des frühen und späteren Mittelalters deutlich, dass Gier und vor allem die Gier nach Gold und Geld nicht nur nahezu so alt ist wie die Menschheit selbst, sondern – im Gegensatz zu dem derzeit vorherrschenden Verständnis von Gier als Charaktereigenschaft von Individuen – immer auch eine soziale Kategorie war, die sich in ihren dysfunktionalen und zerstörerischen Auswirkungen vor allem auf soziale Systeme, das heißt beispielsweise auf die griechische Polis, frühchristliche Mönchsgemeinschaften, mittelalterliche Städte ebenso wie auf das Expansionsstreben von Staaten bezieht. Und wenngleich das Böse ebenso wie der Begriff der Sünde in der gegenwärtigen Gesellschaft und vor allem in der heutigen Geschäftswelt auch weithin an Bedeutung verloren haben, so galt Gier im Mittelalter doch als die wichtigste Quelle von allem Bösen. Wenn Phyllis A. Tickle (2006, S. 23; vgl. Long, 2008, S. 68 ff., 2011) uns daran erinnert, dass Gier »the most social and by extension the most political of the sins« ist, sieht sie darin sicherlich nicht in erster Linie eine Reminiszenz an längst vergangene Zeiten, sondern macht uns gewahr, dass Gier Teil unserer Kultur und nicht zuletzt einer politischen Ökonomie ist, die sich von der von Friedman (1962) dargestellten, deutlich unterscheidet. Mit den folgenden sozioanalytischen Überlegungen zur kapitalistischen Gier möchte ich einige der unbewussten Dynamiken aufzeigen, die der »Gier-Kultur« (Wachtel, 2003) im gegenwärtigen Kapitalismus zugrunde liegen. Ausgehend von dem psychoanalytischen Verständnis von Gier, das Melanie Klein aus ihrer Arbeit mit Kindern entwickelt hat, verstehe ich Gier als eine psychotische Dynamik, durch die die Fähigkeit zu denken reduziert und die Realität auf das beschränkt wird, was erträglich und wünschenswert ist. Dabei gehe ich davon aus, dass Gier in der Wirtschaft nicht erst mit der Finanzkrise oder gar durch den Kapitalismus entstanden, sondern diesem inhärent ist und in der Krise auf extreme Weise deutlich wurde. Ich werde darstellen, inwiefern Konkurrenz häufig von extremer Gier begleitet und darauf gerichtet ist, den Mitbewerbern zu schaden oder sie gar zu vernichten; eine solche Gier ist zugleich die Quelle von Korruption und / oder Betrug. Das in der Ökonomie seit fast einem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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halben Jahrhundert als vorrangiges, wenn nicht gar ausschließliches Unternehmensziel propagierte Streben nach Gewinn hat dazu geführt, dass Gier in der gegenwärtigen (westlichen) Wirtschaft allgemein und insbesondere in der Finanzdienstleistungsindustrie zu einer vorherrschenden Dynamik geworden ist. Abschließend werde ich, ausgehend von Wilfred R. Bions (1970) Begriff der »negativen Fähigkeit«, einige Überlegungen dazu darstellen, wie die für Gier typische psychotische Dynamik individuell wie sozial mehr mit einem nichtpsychotischen Denken in Einklang gebracht werden kann, das es erlaubt, eine umfassendere Wirklichkeit in Betracht zu ziehen.

Zu einer Sozioanalyse der Gier In der Psychoanalyse bleibt das Verständnis von Gier weitgehend auf das Individuum beschränkt, wobei ihr Ursprung vorwiegend in der (frühen) Kindheit gesehen wird. Wenngleich dieser individuelle Fokus auch beschränkt ist, so kann die psychoanalytische Sicht meines Erachtens doch sehr wohl dazu beitragen, ein besseres Verständnis von Gier in der Welt der Finanzen und der Wirtschaft zu entwickeln. Trotz des beispielsweise von Wachtel (2003, S. 105) erhobenen Einwands, dass der Fokus auf frühkindliche destruktive Fantasien zu eng sei, um Verbindungen zwischen psychologischer Erfahrung und sozialen Dynamiken zu ermöglichen, können die frühen Arbeiten von Melanie Klein (1931/1975, 1937/1975, 1975a, 1975b) aus der hier gewählten sozioanalytischen Sicht dennoch wichtige Anregungen geben. Für Klein beruht die Gier des Säuglings auf aggressiver Introjektion und geht mit dem primitiven Wunsch einher, Objekte in das Selbst zu inkorporieren. Die aggressive, gewalttätige Einverleibung führt zu der Fantasie, das Objekt zu zerstören. Dadurch wird das Objekt wertlos oder zu einem vergeltenden, das Subjekt bedrohenden Verfolger. Diese Dynamik dominiert in der paranoid-schizoiden Position, einem frühen Zustand, in dem paranoide Ängste sowie die Spaltung in gut und böse die frühe Entwicklung des Säuglings bestimmen (Klein, 1946; vgl. Hinshelwood, 2005) (und der beim Erwachsenen weithin unbewusst © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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fortbesteht – Klein, 1959). Die Einverleibung schlechter Objekte und ihre Dominanz lassen einen Hunger nach guten Objekten entstehen. In dem Maße, wie dieser Hunger aufgrund der Fantasie, dass die guten Objekte durch destruktive Introjektion zerstört und zu schlechten Objekten werden, nicht gestillt werden kann, wird der Hunger unersättlich und letztlich zu Gier, dem verzweifelten Versuch, die innere Leere zu füllen. Insofern als Gier mit der Zerstörung inkorporierter guter Objekte einhergeht, kann sie keine Befriedigung gewähren und nährt die Fantasie eines unüberwindlichen Verlustes, eines Verlustes, der weder wahrgenommen noch betrauert werden kann und den Wunsch endloser Einverleibung guter Objekte in das Selbst weiter verstärkt (Akhtar, 2009, S. 125; Auchter u. Strauss, 1999; Hinshelwood, 1989, S. 313; vgl. Levine, 2010, S. 50 ff.; Long, 2008, S. 68 ff.). Im Extremfall, wenn das Individuum von seiner Gier besetzt ist, verstrickt es sich in einen Teufelskreis, in dem der Verlust inkorporierter guter Objekte die Gier weiter verstärkt. In solchen Fällen ist es nicht allzu überraschend, dass die Gier schließlich selbst zum guten Objekt wird: »Gier ist gut«. So lange wie die gierige Person es anderen gegenüber verbergen kann, dass die angehäuften Objekte oder Reichtümer eigentlich wertlos sind, kann der Neid der anderen als perverser Ersatz für Wertschätzung und Bewunderung und dem Stolz der gierigen Person dienen (vgl. Long, 2008, S. 44 ff.). »Gier und Geiz [werden dann] in Gefühle von Liebe und Generosität [übersetzt]« (Bion, 1984, S. 31). Ausgehend von Kleins Verständnis von Gier, das hier nur skizziert werden kann, kann die Sozioanalyse zu einem besseren Verständnis der sozialen Bedeutung von Gier und ihrer Auswirkungen im Rahmen der kapitalistischen Finanzindustrie und Wirtschaft beitragen. Kapitalistische Gier ist die vorherrschende Illusion, »die für die Leere und den Mangel an Sinn kompensiert, die eine vom Markt bestimmte Gesellschaft zu füllen verspricht« (Nikelly, 2006, S. 68). Gier kann so als eine weithin unbewusste Dynamik einer Organisation (oder anderer sozialer Systeme) verstanden werden, die von dem Wunsch und dem Verlangen geleitet ist, gute Objekte aus der Umwelt auf aggressive Weise zu inkorporieren, um so die innere Leere zu füllen und die Außenwahrnehmung, die Repu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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tation und die Stellung auf dem Markt in Hinblick auf ihre Kunden und / oder Mitbewerber zu verbessern – oder zumindest deren Neid zu wecken. Aufgrund der damit einhergehenden hohen Aggressivität verliert das gute Objekt seinen Wert, wird zerstört und schließlich zu einem schlechten Objekt. Wenn das inkorporierte Objekt – sei es ein Marktanteil, ein Konkurrent oder Geld – nicht die innere Leere zu füllen vermag, verstärkt sich der Hunger nach immer neuen guten Objekten, um so das Verlangen, von anderen geliebt zu werden, zu erfüllen. Insofern als diese Gier nie befriedigt wird, wird extreme Gier zu einer Art sozialer Besessenheit und einem Perpetuum mobile. In dem Maße, wie aggressive Gier das Denken in einer Organisation dominiert, ist es nicht allzu überraschend, dass viele ihrer Manager und andere Rolleninhaber sich veranlasst sehen, ihre persönliche Neigung zu Gier in einem sehr viel höheren Maße zu mobilisieren als in anderen Rollen und systemischen Kontexten; Gier hat in dem Denken, das die Organisation bestimmt, eine hohe Wertigkeit.

Kapitalistische Gier, Konkurrenz und Korruption Bei meinem Versuch, kapitalistische Gier aus einer sozioanalytischen Sicht zu verstehen, greife ich auf meine Überlegungen zur psychotischen Organisation zurück (Sievers, 2008). Mit diesem Begriff beziehe ich mich auf den Teil einer Organisation, der durch Angstabwehrmechanismen gegenüber Verfolgung, Strafe und Vernichtung geprägt ist. Die Mobilisierung dieser Abwehr führt zu einer Verringerung der Kapazität des Denkens, die selbst wieder Ausdruck der für die psychotische Position typischen Abwehrmechanismen ist: Verleugnung, Spaltung, extreme Formen der Projektion und Introjektion, Identifikation, Rigidität und Kontrolle sowie Allmacht, Aggression, Destruktivität und Sadismus. In dem Maße wie der psychotische Teil einer Organisation gegenüber dem nichtpsychotischen Teil dominiert, wird das psychotische Denken (und Verhalten) zu einer Abwehr der von Seiten der Systeme der Umwelt wahrgenommenen (bzw. fantasierten) Bedrohung und Verfolgung, während die Organisation selbst diese Systeme zu dominieren, beherrschen oder gar © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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zu vernichten sucht (vgl. Lawrence, 2000, S. 4 f.). Eine solche Dynamik gewährt keinen Raum für die Erfahrung von Schuld, den Wunsch nach Liebe, Trauer oder Wiedergutmachung. Insofern als die äußere Welt durch psychotische Angst und entsprechende Abwehrmechanismen auf ein verfolgendes Objekt reduziert wird, wird die der Organisation eigene Destruktivität häufig hinter einer Maske von Gesundheit verborgen (Hinshelwood, 1989, S. 385). Psychotisches Denken in Organisationen stärkt den Glauben an den Kapitalismus und in die Kräfte des Marktes, der »Manager zu der Annahme veranlasst […], dass ihre Institutionen ausschließlich dem Zweck dienen, Geld zu machen oder zu sparen« (Lawrence, 1998, S. 68). Dieser Glaube führt – vor allem bei gleichzeitiger Idealisierung von Profitmaximierung – zu Korruption, wodurch in der Organisation die Steigerung von Gewinn an die Stelle der Erledigung der mit der (Primär-)Aufgabe verbundenen Arbeit tritt.

Kapitalistische Gier Kapitalistische Gier kann aus sozioanalytischer Sicht beispielsweise durch die Forderung der Aktionäre nach ständig steigenden Renditen induziert werden – einem Postulat, das in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt durch den Shareholder-Value Ansatz propagiert wurde (Rappaport, 1986; vgl. Sievers 2003). Während kapitalistische Gier anfangs nur in einem Subsystem der Organisation vorherrschen mag, beispielsweise in der Investmentabteilung einer Bank, kann sie sich schließlich auf das gesamte Unternehmen ausweiten und macht so andere Abteilungen und deren Rolleninhaber zu Komplicen. »Perverse Gier« (Long, 2008, S. 68 ff.) fördert eine psychotische Dynamik, durch die Realität und Vernunft auf bloße Mittel verkürzt werden und ausschließlich dem Ziel dienen, Gewinn zu machen. Perverse Gier findet ihren Ausdruck in der Finanzdienstleistungsindustrie beispielsweise nicht nur in exorbitanten Boni von (Top-)Managern, sondern unterminiert zugleich das Risikomanagement, fördert eine Kasino-Mentalität und ermutigt zur Entwicklung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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innovativer Finanzinstrumente, die weder der Verkäufer noch der Käufer versteht (vgl. Tett, 2009). Levine (2010, S. 58; vgl. Haubl, 2010, S. 49) weist darauf hin, dass die Unternehmung selbst nicht die primäre Quelle von Gier ist, »sondern vielmehr darin begründet ist, wie die Gesellschaft Gier zu einem legitimen Verlangen werden lässt, das nicht nur nicht sanktioniert, sondern allgemein als moralischer Wert verstanden wird«. Die Überzeugung, dass Gier gut ist, gilt nicht länger als Ausdruck einer Perversion oder der Extravaganz bestimmter Charaktere, sondern wird weithin als Marktstärke, wenn nicht gar als Tugend deklariert. Diese Perversion führt dazu, dass Gier zu »einer treuhänderischen Verantwortung [wird], die es den Managern, Eigentümern oder Beschäftigten erlaubt, sich mit dem eigenen gierigen Selbst zu identifizieren, ohne dabei die Schuld zu empfinden, die normaler Weise damit einhergeht« (Haubl, 2010, S. 49). Indem ein Unternehmen Gewinnmaximierung zu seinem vorrangigen, wenn nicht gar einzigen Ziel erklärt, induziert es auf Seiten seiner Rolleninhaber das narzisstische Selbstinteresse, so viel Geld wie möglich zu machen (vgl. Haubl, 2010). Das Streben nach Reichtum wird nicht nur zum Ich-Ideal (Fenichel, 1938, S. 78), sondern zum Organisations-Ideal (Schwartz, 1990). Indem Geld und Gier im Unternehmen verdinglicht werden, werden die Beschäftigten zu bloßen moneymakers, zu Geldverdienern reifiziert. Dadurch verlieren andere Teile der Unternehmensrealität – allen voran die sozialen – an Bedeutung; sie werden negiert, wenn nicht gar total verleugnet. Stattdessen wird die Unternehmung zu einem a-sozialen System, das durch individuellen und kollektiven Narzissmus geprägt ist (Lawrence, 2003), und, wie bereits erwähnt, keine andere Verantwortung hat, als die eigenen Ressourcen zu nutzen und solchen Aktivitäten nachzugehen, die dazu dienen, den Gewinn zu steigern (Friedman, 1962, S. 133). In der kapitalistischen Unternehmung sehen Rolleninhaber sich tendenziell dazu veranlasst, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Belange zum Profit beizutragen (Rowland, 2005, S. 201 f.). Wie in vielen der vorangegangenen Finanzkrisen (z. B. Kirsner, 1990; Sievers, 2010; Tuckett u. Taffler, 2009) war auch das Denken der meisten Finanzinstitute – ebenso wie das der Märkte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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– während der jüngsten Krise weithin durch manische Abwehr bestimmt. Manische Abwehr umfasst, wie Donald W. Winnicott (1935/1975, S. 132, zit. nach Kirsner, 1990, S. 42) betont, »omnipotente Manipulation oder Kontrolle und verächtliche Abwertung«. Manische Abwehr ist unter anderem durch »Leugnung der inneren Realität, eine Flucht aus der inneren in die äußere Realität, das Bemühen, die Menschen der inneren Welt für ›scheintot‹ zu erklären und die Tendenz gekennzeichnet, depressiven Gefühlen […] durch entgegengesetzte Gefühle zu begegnen« (Winnicott, S. 132). Rycroft (1972, S. 86) ergänzt dies durch die Tendenz zur »Identifizierung mit Objekten, von denen eine gewisse Macht geliehen werden kann«. Manische Abwehr gegenüber dem, was unter normalen Bedingungen zumindest ein gewisses Wissen und eine Kenntnis der Spielregeln der Finanzwelt voraussetzt, ermöglichte es vor der Finanzkrise beispielsweise Hauskäufern, Hypotheken- und Investmentbanken sowie Ratingagenturen, das äußerst hohe Risiko zu ignorieren, auf denen ihr Denken und ihre Transaktionen beruhten. Einer der zentralen Faktoren, der zur Eskalation der Finanzkrise führte, liegt in der Tatsache, dass viele der großen Finanzinstitute »ihr eigenes Geschäftsmodell der Schuldverschreibungen verwarfen und stattdessen das Kreditrisiko nicht an andere Investoren weiterreichten« (Acharya u. Richardson, 2009, S. 196). Diese exzessive und verantwortungslose Risikoübernahme war jedoch nicht in erster Linie Ausdruck der Dummheit von Bankern, sondern vielmehr von dem Ziel getrieben, den Gewinn der Banken zu maximieren (und – wie sich vermuten lässt – nicht zuletzt die Boni der Banker); die Entscheidung, das Risiko nicht weiterzureichen bzw. zu verteilen, war vor allem von einer Gier getrieben, die als manische Abwehr gegen die bereits beschriebenen Ängste verstanden werden kann.

Konkurrenz Gier ist eine inhärente, weithin unbewusste Dynamik von Konkurrenz als Eckpfeiler kapitalistischer Ökonomie. Konkurrenz kann nicht allein als »natürliche Spielwiese für Neid« (Levine, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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2010, S. 50) von Individuen oder als ein Programm verstanden werden, »das es uns durch Projektion ermöglicht, dem eigenen Selbstinteresse auf eine Weise nachzugehen, die es uns erspart, uns selbst der eigenen Identifikation mit unserem inneren schlechten Objekt gewahr zu werden« (S. 54); Konkurrenz ist in erster Linie die Modalität, mit der Groß- und andere Unternehmen bewusst und / oder unbewusst ihre Existenz auf den Märkten legitimieren und versuchen, ihr Überleben zu sichern. »Je mehr die Organisation in den Konkurrenzkampf verstrickt ist, desto mehr kann man davon ausgehen, dass sie zu einem Vehikel der Kanalisierung von Gier« (S. 54) geworden ist. Kapitalistische Konkurrenz beruht auf der sozial legitimierten Konstruktion, dass »die Erfüllung von Wünschen auf eine bestimmte Weise und durch bestimmte Gründe – und gerade nicht aufgrund natürlicher Gegebenheiten – beschränkt wird« (S. 51). Das führt unter anderem dazu, dass Konkurrenz – vor allem im Fall gesättigter Märkte – von dem Wunsch geprägt ist, sich Teile des Umsatzes, Gewinns oder Marktanteile der Konkurrenten gewaltsam anzueignen, einem Wunsch, der von der mehr oder weniger unbewussten Fantasie geleitet ist, Mitbewerber entweder durch Fusion bzw. Akquisition zu vereinnahmen, ihnen Schaden zuzufügen oder sie zu vernichten. Wenngleich die Übernahme von Marktanteilen oder gar des gesamten Marktes von Konkurrenten auch von dem gierigen Wunsch geleitet ist, das gute Objekt einzuverleiben, so kann es doch aufgrund der fantasierten Vernichtung des Wunschobjektes keine Befriedigung bieten. Deshalb ist es auch nicht allzu überraschend, dass derartige Konkurrenzkämpfe oft fehlschlagen, sich als illusorisch erweisen oder als Desaster enden. Unternehmensfusionen beispielsweise, die von extremer Gier geleitet sind, enden nicht selten in Mord (De Gooijer, 2009). »Fusionen, Akquisitionen, fremdkapitalfinanzierte Unternehmensübernahmen, die damit erhofften Beiträge zum wirtschaftlichen Erfolg und zur Marktwertsteigerung sowie die Belastung durch die damit verbundenen Kreditaufnahmen« gehen, wie John Kenneth Galbraith (1987, S. 65) schon vor vielen Jahren feststellte, mit einer Illusion einher, »dem Trugschluss nämlich, dass gewaltige Summen an Geld ein Indiz persönlicher Intelligenz sind«. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Wie bereits bei früherer Gelegenheit ausführlicher dargestellt (Sievers, 2001), kann Konkurrenz zu Krieg werden. Der häufig metaphorische Bezug auf Krieg in der Unternehmenswelt kann aus sozioanalytischer Sicht als Euphemismus verstanden werden, der dazu dient, die tatsächliche Erfahrung und die unbewusste Fantasie von Brutalität zu leugnen, mit denen die Schlachten um Leben und Tod im wirtschaftlichen Wettbewerb allzu oft geschlagen werden. Da (Groß-)Unternehmen nicht in der Lage sind, ihre eigene interne Destruktivität sowie die ihren Konkurrenten gegenüber anzuerkennen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als diese Destruktivität durch endlose Kriege gegen solche Feinde zu perpetuieren, die sie selbst geschaffen haben und am Leben erhalten. Auf diese Weise bestätigen sie, dass Gier immer schon eine wichtige Rolle als Motiv für Kriege gespielt hat (Mentzos, 2002, S. 193).

Korruption Der Begriff Korruption ist von dem lateinischen corruptio abgeleitet, was zerstören, in die Luft sprengen oder auseinandertreiben bzw. als Adjektiv ungesund, verfault, verderbt oder bestechlich bedeutet (Hoad, 1986, S. 99); als Substantiv bezieht corruptio sich auf moralische Perversion, Verderbtheit, Perversion der Integrität und Bestechung. In dem Versuch Korruption aus sozioanalytischer Sicht zu bestimmen, folge ich Jane Chapman (2003), für die Korruption in Organisationen aus einem Hass gegenüber der Aufgabe entsteht. Dabei erscheint mir die Form der Korruption, die Chapman als »Korruption der Aufgabe durch Vortäuschung« beschreibt, hier besonders wichtig zu sein. Vortäuschung der Aufgabe findet dann statt, »wenn das System oder das Individuum gerade deshalb den Anschein einer Arbeit an der Aufgabe erweckt, um die Aufgabe selbst zu vermeiden. […] Die Korruption entsteht aus der zerstörerischen Absicht: nicht nur wird die wirkliche Aufgabe vernichtet und die Energie des Systems darauf gerichtet, den Eindruck zu erwecken, dass die Aufgabe erfüllt wird, sondern zugleich werden die mit der Aufgabe verbundenen Werte unter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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graben und die der Aufgabe inhärente Macht wird missbraucht. Vortäuschende Organisationen, d. h. solche, die sich so verhalten, als wären sie ein System, das der Primäraufgabe verpflichtet ist, um so zu vermeiden, ein System zu werden, dass seine Primäraufgabe verfolgt, sind gekennzeichnet durch niedrige Moral, geringe Systemenergie, einen hohen Grad an Politisierung, fragwürdige Ethik und häufige Konflikte« (Chapman, 2003, S. 46 f.). Die von Chapman beschriebene »Aufgabenkorruption durch Vortäuschung« zeigt sich besonders im Zusammenhang mit den großen Veränderungen der Banken während des Booms vor der Finanzkrise. Während Geschäftsbanken sich bis vor nicht allzu langer Zeit ihrer Rolle als monetärer Vermittler gegenüber ihren Kunden verpflichtet sahen, indem sie es ihnen durch Einlagen und Kredite ermöglichten, ihre jeweiligen Interessen als Konsumenten oder Produzenten zu realisieren (vgl. Acharya u. Richardson, 2009, S. 197), und so als »Brücke zwischen Kapitalangebot und Realwirtschaft« dienten (Plickert, 2010) – wobei die Banken selbst mit diesem Service einen mehr oder weniger angemessenen Gewinn erzielten –, erwecken inzwischen viele, wenn nicht gar die meisten der Geschäftsbanken nur noch den Anschein, ihrer ursprünglichen Aufgabe nachzugehen. In einem gewissen Sinne ist das Ziel der Banken zur Primäraufgabe geworden, das heißt, so viel Geld wie möglich zu machen und es zu besitzen, um als Finanzinstitut auf den Weltmärkten vor allem größenwahnsinniges Prestige und Macht zu erwerben – und die Konkurrenz zu übertrumpfen. In dem Maße, wie die Geschäftsbanken damit begannen im internationalen Finanzkasino zu spielen, haben sie nicht nur ihre Kunden, sondern zugleich auch ihre ursprüngliche Primäraufgabe verraten und liefen so Gefahr, zu korrupten Organisationen zu werden. Auch gibt es deutliche Hinweise dafür, dass US-Ratingagenturen – die keine unabhängigen staatlichen Einrichtungen sind, sondern von ihren Kunden bezahlt werden und gewinnorientiert arbeiten – ihre ursprüngliche Aufgabe, verlässliche Expertisen über die Kreditwürdigkeit von Banken und ihrer Produkte zu erstellen, durch die Steigerung ihrer Gewinne ersetzt haben. In hohem Umfang zertifizierten sie undurchschaubar strukturierte Hypothekenverbriefungen routinemäßig als AAA (Acharya u. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Richardson, 2009, S. 196), das heißt: »dreifach-B-eingestufte subprime [minderwertige] Hypothekenverbriefungen wurden zu dreifach-A-eingestuften CDOs neu verpackt« (Lewis, 2010, S. 8). In dem Maße wie die Banken und die Agenturen in erster Linie darauf abzielten, so viel Gewinn wie möglich zu machen, zerstörten sie nicht nur ihre ursprüngliche Aufgabe, sondern betrogen auch ihre Kunden – und damit letztlich sich selbst. Dies war sozusagen ein doppelter (wenn nicht gar dreifacher) Betrug: So wie die Banken unwissentlich von den Ratingagenturen betrogen wurden – oder ihr Wissen auf perverse Weise verleugneten – (und sich selbst betrogen, indem sie ihr eigenes Geschäftsmodell der Schuldverschreibungen verwarfen), wurden auch die Bankkunden von ihren Banken betrogen. Gewinnmaximierung und die ihr inhärente Hybris der Gier werden beispielsweise durch Korruption durch Vortäuschung insofern gestützt und aufrechterhalten, als vor allem Großunternehmen häufig vorgeben, attraktive Beschäftigungsverhältnisse anzubieten, und der Überzeugung Ausdruck verleihen, dass allein die Tatsache, dass sie Gewinne machen, ein Beitrag zum »Wohlstand der Nationen«, wenn nicht gar zum Wohle der Menschheit darstellt. Das trägt dazu bei, dass Rolleninhaber sich fortlaufend selbst korrumpieren und sich selbst sowie ihre eigenen Werte dadurch verraten (vgl. Freyd, 1996), dass sie zumindest den Eindruck erwecken, voranging, wenn nicht gar ausschließlich dafür zu arbeiten, um zum Unternehmensgewinn beizutragen. Indem sie vortäuschen, dass ihr eigenes Selbstinteresse mit dem des Unternehmens deckungsgleich ist, werden sie zu Komplizen der Korruption im Unternehmen. Insofern jedoch als das Streben nach Unternehmensgewinn keinen anderen Sinn zulässt als das Akkumulieren einer monetären Größe, »die das Zweckbewusstsein nur in illusionärer und nicht haltbarer Weise erfüllt« (Simmel, 1900/1907, S. 249; vgl. Haubl, 2010, S. 54 f.), sieht sich der Rolleninhaber in seinem Versuch, der vorgetäuschten Primäraufgabe Genüge zu leisten, fortlaufend dazu veranlasst, seine eigenen Verluste sowie seine Erfahrung von Entbehrung, Verletzung, Schmerz und Untergrabung zu verleugnen (vgl. Rowland, 2005, S. 130). Die Maximierung des Profits ist oft, wenn nicht gar überwie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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gend der ausschlaggebende Faktor für den Bestand eines Unternehmens und sein Überleben. Dabei scheint es, dass Korruption, mangelnde Verantwortung und Gier so lange bedeutungslos sind, als sie diesem Zweck selbst dann dienen, wenn er anderen – Mitarbeitern, Kunden, Mitbewerbern, dem Staat, der Umwelt etc. – erheblichen oder nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügt. Insofern als Profitmaximierung mehr oder weniger unendlich ist, eröffnet sie Möglichkeiten einer unbeschränkten Zukunft und nährt die Illusion von Grenzenlosigkeit und Unsterblichkeit, die, wie Herman Melville (1851/2004, S. 257) einst in »Moby Dick« schrieb, »nichts anderes [ist] als Allgegenwart in der Zeit«. Diese Unendlichkeit ist, wie Georg Simmel (1900/1907, S. 255 f.) in seiner »Philosophie des Geldes« betont, die Illusion, auf der Habsucht, die Gier nach Geld, letztlich basiert. In dem oft verzweifelten Versuch, die Unterstützung der Mitarbeiter für die Maximierung des Gewinns zu erzielen, versucht das Management nicht selten, von ihnen Vertrauen zu gewinnen. Und nur allzu oft sind diese Versuche unbewusst von der verächtlichen Fantasie geleitet, dass die Mitarbeiter deshalb nicht vertrauenswürdig sind, weil man ihnen nicht vertrauen kann. Eine solche Fantasie ist oft ein Ausdruck von Selbstverachtung auf Seiten des Managements und beruht auf dem unbewussten Wissen, dass das Management aufgrund seiner Verpflichtung gegenüber der Profitmaximierung als Primäraufgabe der Unternehmung weder sich selbst als vertrauenswürdig betrachtet, noch sich selbst vertraut. Insofern als ein Zweifel an dieser Aufgabe und der damit einhergehenden Gier keinen Raum finden kann, werden diese Zweifel auf die Mitarbeiter projiziert und als deren Mangel an Vertrauen rationalisiert (vgl. Sievers, 2004). Im gegenwärtigen Kapitalismus wird die Gier der Unternehmung sowohl als Verdinglichung (Wang u. Murnighan, 2009) wie als Vergöttlichung objektiviert, wobei erstere im öffentlichen Diskurs oft darin zum Ausdruck kommt, dass Gier eine gute Sache ist – »Gier ist gut«. In einer Ökonomie, in der Adam Smiths unsichtbare Hand jeden Bezug auf Gott verloren hat, wird die Unternehmung – im US-amerikanischen Kontext insbesondere die Corporation – als die »höchste Verkörperung von Allmacht« © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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vergöttlicht. Das führt, wie Rowland (2005, S. 172) deutlich macht, allerdings zu der logischen Folge, dass, während die Anhäufung von Reichtum vor allem in der protestantisch-calvinistischen Theologie und Ethik als Zeichen göttlichen Auserwähltseins verstanden wurde, das unbeschränkte Streben nach Reichtum von Unternehmen einzig und allein einen Himmel auf Erden zu gewähren vermag und somit jeden Sinn einer über den Tod hinaus gehenden Unendlichkeit eingebüßt hat. Was einzig und allein noch zählt, ist das Los der Menschen als moneymaker und / oder als Konsument. In dem Maße wie die mit Profitmaximierung einhergehende Gier überhandnimmt und zu einer Art Besessenheit wird, tendiert ein Unternehmen dazu, die innere wie die äußere Welt zu objektivieren, wodurch sowohl das Denken selbst wie die Mitarbeiter zu verdinglichten Objekten werden. Wenn Menschen zu bloßen Dingen (und Waren) werden, erübrigt Gier soziale Verantwortung ebenso wie die Berücksichtigung sozialer Werte. Dabei kann der Prozess, durch den Menschen im Unternehmen wie in seiner Umwelt ihrer Menschlichkeit beraubt werden, als Spaltung verstanden werden. Im Gegensatz zur Deifizierung des Unternehmens kann dieser Prozess als Diabolisierung nicht nur im wörtlichen Sinn von Trennung, Spaltung und Fragmentierung, sondern als Diabolisierung von Sterblichkeit und Tod verstanden werden, wie sie mit der für die westliche Welt grundlegenden Spaltung zwischen Leben und Tod einhergeht (Sievers, 1990). Während die Unternehmung, nicht zuletzt aufgrund ihrer Deifizierung, für göttliche Unsterblichkeit steht, werden die Menschen durch Diabolisierung ihrer Sterblichkeit beraubt und zu nicht sterblichen Zombies. Die Unsterblichkeit des Unternehmens und die Nicht-Sterblichkeit ihrer Mitarbeiter sind Ausdruck eines perverse state of mind, einer perversen Geisteshaltung in Organisationen, wie sie von Susan Long (2008, S. 34) beschrieben wird: Die perverse Geisteshaltung ist »nicht bloß eine Abweichung von der geltenden Moral; sie geht mit individueller Lust auf Kosten eines allgemeineren Gutes einher und spiegelt einen Zustand primären Narzissmus wider. [… Sie] herrscht dann vor, wenn instrumentelle Beziehungen in einer Gesellschaft überwiegen, […] Instrumentalität läßt die Mög© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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lichkeit von Missbrauch außer Acht«. Wie Gier ganz allgemein, so beruht die perverse Gier der Unternehmung »auf einer Art von Selbstinteresse, das die Rechte und Interessen anderer missachtet (es sei denn, aus ihrer Anerkennung ließe sich ein Vorteil gewinnen)« (Wight, 2005, S. 4).

Abschließende Bemerkungen Ich möchte meine Ausführungen zu Gier mit einigen Überlegungen darüber beenden, wie wir dem Einfluss, den die gegenwärtige »Gier-Kultur« (Wachtel, 2003) auf unser Denken und Leben hat, möglicherweise mit einem weniger psychotischen Denken begegnen können. Bei meiner Arbeit zur Gier wurde mir zunehmend die Faszination deutlich, welche Horizonte und Tiefe die Beschäftigung mit diesem Thema eröffnet. Manchmal hatte ich gar den Eindruck, dass allein die Tatsache, darüber zu schreiben, mich gierig machte. Die Einsicht, welch enorm destruktive Auswirkungen kapitalistische Gier bislang auf die Finanzdienstleistungsindustrie, die gesamte Wirtschaft, die zunehmende Globalisierung und die Zukunft der Demokratie gehabt hat, haben bei mir ernste Zweifel daran, wenn nicht gar Verzweiflung darüber geweckt, inwieweit wir uns individuell wie kollektiv die innere Leere, die nur die Gier (vermeintlich) zu füllen vermag, einzugestehen und damit auf andere Weise umzugehen vermögen. Oder anders ausgedrückt, wie ist es möglich, sich der für den gegenwärtigen Kapitalismus wie für unsere innere wie äußere Welt so charakteristischen psychotischen Dynamik auf eine reifere Weise gewahr zu werden und sie womöglich zu verringern? Wenngleich es mir hoffentlich auch gelungen ist, aufzuzeigen, in welchem Maße Gier »als Ersatz für die Leere und den Mangel an Sinn dient, den eine vom Markt getriebene Gesellschaft verheißt« (Nikelly, 2006, S. 68), so lässt diese Einsicht doch die Frage offen, wohin sie uns zu führen vermag. Wenngleich der Verzicht auf Reichtum und die damit einhergehende Askese auch unsere einzige Möglichkeit sein mögen, die Gier zu bändigen (z. B. Safranski, 2010, S. 173), so © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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lässt eine solche Forderung doch die Frage unbeantwortet, wie Verzicht und Askese individuell und kollektiv künftig unser Verhalten beeinflussen können. Wilfred R. Bion, der britische Psychoanalytiker, eröffnet mit seinem Begriff der »negativen Fähigkeit« (negative capability) eine andere und meines Erachtens weiterführende Perspektive. Bion hat diesen Begriff von John Keats (1795 – 1821), dem englischen Dichter der Romantik, übernommen. Keats spricht von negative capability, »wenn ein Mensch dazu fähig ist, Unsicherheit, Unerklärlichkeit und Zweifel zuzulassen, ohne sich dabei in einer emsigen Suche nach Tatsachen und Gründen zu verlieren« (Keats, zit. nach Bion, 1970, S. 215). Anstatt den Mangel an Wissen und die Erfahrung von Frustration als Fehler oder Unzulänglichkeit zu betrachten, erinnert uns Bion daran, dass die Fähigkeit, Nichtzu-Wissen und Frustration zu ertragen, vielmehr eine Tugend ist; ihr kommt eine wichtige Bedeutung für die Entwicklung von Gedanken und die Fähigkeit zu denken zu: Sie »ermöglicht es der Psyche, Gedanken als das ›Mittel‹ zu sehen, durch die die ertragene Frustration selbst erträglicher wird« (Bion, 1967/ 1990, S. 112). Diese Fähigkeit des Ertragenkönnens ermöglicht es dem Individuum nicht nur, normal zu denken, sie trägt auch dazu bei, »die soziale Fähigkeit des Individuums« zu entwickeln und den Konflikt zwischen Narzissmus und Sozialismus zu lösen (Bion, S. 118; vgl. Lawrence, 2003). Im Unterschied zur Verleugnung der Realität durch psychotisches Denken ist das Ertragen von Frustration grundlegend und ausschlaggebend für die Fähigkeit, die Realität als solche wahrzunehmen (Klein, 1975b, S. 11 f.). Wenngleich der Schwerpunkt dieses Beitrags auch auf der Destruktivität psychotischen Denkens liegt, so sei doch daran erinnert, dass die psychotischen Teile der Persönlichkeit wie der Organisation gleichwohl eine Quelle für Kreativität bedeuten können. Die negative Fähigkeit erlaubt es dem Denker, für psychotische Gedanken empfänglich zu sein, das heißt für Gedanken, die bislang unbekannt sind und zunächst als verwirrend, verrückt, unheimlich, unaussprechbar, verheerend oder trügerisch erscheinen. Die Fähigkeit, solche Gedanken zu ertragen und sie schließlich durch Denken in die nichtpsychotischen Teile des © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Denkers sowie das System zu integrieren, entsteht aus dem, was Melanie Klein die depressive Position nennt (Hinshelwood, o. J.; 1989, S. 271 – 277), das heißt aus der Fähigkeit, die Schmerzen und die Ängste zu erleben, anzuerkennen und zu ertragen, die mit der Erfahrung von Schuld, Trauer und dem Wunsch nach Wiedergutmachung einhergehen. Robert French und Peter Simpson (2009, S. 197) betrachten die Integration zweier, für negative Fähigkeiten ausschlaggebende Kompetenzen als Voraussetzung kreativer Führung, nämlich die positive Fähigkeit im Sinne »bestimmter, auf Wissen und Kenntnissen basierender Handlungsweisen« mit der Fähigkeit zu verbinden, »einer voreiligen Flucht in inadäquates Wissen und Handlungen zu widerstehen« (French u. Simpson, S. 197). Was French und Simpson als Voraussetzung kreativer Führung betrachten, kann zugleich einen Hinweis dafür geben, was im Kontext des gegenwärtigen Kapitalismus notwendig erscheint, nämlich Antworten auf die Frage zu finden, wie es möglich ist, individuell wie sozial negative und positive Fähigkeiten auf eine Weise zu integrieren, die eine angemessenere Balance zwischen unseren gierigen und nichtgierigen Teilen und damit unserem psychotischen und nichtpsychotischen Denken ermöglicht.

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Hans-Joachim Busch

Aggression und politische Sozialisation Überlegungen zu einer politischen Psychologie des Subjekts

Freud hat in seiner epochalen Schrift »Das Unbehagen in der Kultur« das Schicksal der Menschheit an den historischen Ausgang des Grundkonflikts zwischen Eros und Destruktionstrieb geknüpft. Wie dieser Ausgang günstig zu gestalten ist, die Vernichtung und der Untergang der menschlichen Gattung verhindert werden kann, ist eine Aufgabe, die seither im Mittelpunkt der Bemühungen einer psychoanalytischen Sozialpsychologie zu stehen hat. Diese Bemühungen sind sicher zahlreich gewesen und gewiss nicht fruchtlos geblieben. Durch verschiedene theoretische Entwicklungen in der Psychoanalyse mitbedingt, haben sich aber in der Einschätzung der Triebe und Kultur schicksalhaft miteinander verknüpfenden Grundsatzfrage Freuds Differenzen ergeben. Es herrscht eine Tendenz, den positiven, Bindungen und Beziehungen knüpfenden, erotischen Kräften mehr Aufmerksamkeit zu widmen und den ihnen entgegenwirkenden Strebungen weniger Beachtung zu schenken. Sie hängt sicher mit der Überlegung zusammen, Freuds Triebkonzept sei grundsätzlich wenig haltbar und sei daher zugunsten ich-psychologischer, entwicklungspsychologischer oder objektbeziehungspsychologischer Ansätze in den Hintergrund zu stellen oder ganz aufzugeben. Der Gewinn, den diese nachfreudschen Ansätze erbracht haben, soll nicht in Abrede gestellt werden. Gleichwohl denke ich, dass die theoretischen Vorteile, die sie mit sich bringen, unnötigerweise mit Einbußen an gegenwartsdiagnostischer Triftigkeit erkauft sind. Die theoretischen Neuerungen gehen mit einer konzeptuellen Abschwächung des Einflusses von Aggression auf Sozialisation, Interaktion und gesellschaftliche Beziehungen einher. Die offensichtlich andauernde Gewaltförmigkeit in der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

Aggression und politische Sozialisation

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heutigen Welt der Spätmoderne kann in diesem revidierten Format psychoanalytischer Sozialpsychologie nicht hinreichend erfasst werden. Über Motive solcher – was die zivilisatorische Bewältigung von Destruktivität betrifft – psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zuversichtlichkeit kann man sicher nur spekulieren. Mein Eindruck von den mit der Rezeption der Psychoanalyse in Deutschland ab den 1960er-Jahren gemachten (natürlich auch eigenen) Erfahrungen war, dass sie auch der Beruhigung geschichtlich geprägter Zukunftssorgen diente. Die destruktive, menschenfeindliche Vergangenheit der Vätergeneration wurde durch die 1968er-Generation gleichsam eingekapselt. So musste sie sich nicht mit der bedrohlichen Möglichkeit, dass etwas davon von den Vätern auf sie übergegangen sei, auseinandersetzen. Vaterlosigkeit, in einem anderen Sinn als bei Mitscherlich (als Sich-von-den-Vätern-Lossagen), konnte dann willkommen geheißen bzw. gesucht werden: als Hort von aggressionsfreier, friedfertig-fortschrittlicher Praxis. Die Aggression, die dabei selber mobilisiert wurde, hatte ihrerseits etwas Sprachloses, war schwer thematisierbar ; sie wurde, anders als es eine wirklich kritische Praxis erfordern würde, nicht reflexiv. Psychoanalyse wurde in einer antiautoritären Bewegung aufgenommen, um das geschichtlich Böse, den Nationalsozialismus, zu bannen und einer Bewegung für bessere Sozialisation (mündige Subjekte) und freiheitlich-fortschrittliche Politik eine psychologische Grundlage zu geben. Es wurde gewissermaßen auf Eros gesetzt und vertraut, aber die triebstrukturellen Bedrohungen, die weiterwirkten, wurden unterschätzt. Diese Lesart blieb fortan bestimmend und führte ja auch zu der mehr oder weniger offen vertretenen Einschätzung, das Unbehagen in der Kultur habe sich seit Freuds Zeiten nicht nur gewandelt, sondern habe an gegenwartsdiagnostischer Bedeutung verloren.1 Jedoch waren in den letzten Dekaden des vergangenen JahrDass dies auch aus einem irrigen Verständnis des Unbehagens in der Kultur erwuchs, das in Freuds Konzeption gerade von den Schwierigkeiten der Kulturmenschen mit ihrer eigenen Aggression herrührte, habe ich an anderer Stelle (Busch, 1993; Busch, 2001, Kap. IV.1) gezeigt. 1

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hunderts die Tendenzen, die weiterhin oder neu Risiken heraufbeschworen (Umweltkatastrophen, Klimawandel, Terrorismus …) und den fortdauernden Einfluss destruktiver Kräfte bezeugten, nicht mehr zu übersehen. Sie waren in der Lage, den Optimismus eines schon erreichten Stadiums des Post-Unbehagens zu dämpfen. Infolge der Ernüchterung ob der uneingelösten Hoffnungen in ein psychoanalytisch-sozialpsychologisch mitbegründetes gesellschaftliches Zukunftsprojekt konnte zuweilen auch eine entgegengesetzte Lesart der Freud’schen Befunde Plausibilität gewinnen. Die Lektüre von Freuds »Unbehagen in der Kultur« konnte einem ab den 1980er-Jahren gewissermaßen einen Spiegel vorhalten, in dem die Enttäuschungen und destruktiven Entwicklungen, die das fortschreitende 20. Jahrhundert mit sich gebracht hatte, ungeschminkt hervortraten. Diese Auffassung der unverminderten Gültigkeit und Aktualität der Freud’schen Kulturpsychologie blieb aber singulär und zog wenig Aufmerksamkeit auf sich. Immerhin gab es jedoch vor knapp zehn Jahren einen akademischen Streit, in dem die eine Seite das Negative, das so maßgeblich für das Denken Freuds war, argumentativ wieder in seine angestammte Position zu bringen versuchte. Dieser Streit war meines Erachtens kennzeichnend (und aufschlussreich) für das theoretische Dilemma, in das die sozialwissenschaftliche Psychoanalyse-Rezeption geraten war. Auf der anderen Seite agierte ein prominenter Sozialphilosoph, der dritten Generation der Frankfurter Schule zuzurechnen, Axel Honneth (2001a, 2001b). Dieser vertrat eine intersubjektivistische Auffassung, der es um die Bestimmung von Anerkennungsverhältnissen ging, die den Sozialisationsprozessen einen moralisch guten Verlauf verschaffen sollten. Mögliche triebhafte Hindernisse solcher Bestrebungen wurden kaum gesehen bzw. vor allem in der Perspektive dem intersubjektivistischen Ansatz eher unterlegener Gegner. Die Hoffnung auf genügend gute Anerkennungsverhältnisse überwog die Bedenken angesichts mächtiger, ihnen widerstrebender Triebkräfte. Dieser Sicht gegenüber war der Kontrahent in dieser Debatte, der amerikanische Psychoanalytiker und Philosoph Joel Whitebook (2001, 2006), skeptisch. Er sah darin keine Rechtfertigung, von Freuds trieb© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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dualistischen Vorstellungen abzurücken. Vielmehr legte er meines Erachtens überzeugend dar, wie sehr das Negative nach wie vor seine tragende Rolle im Menschenbild der Psychoanalyse und der daran anschließenden Sozialwissenschaften haben musste. Diese Debatte, in die sich auf Einladung der gastgebenden Zeitschrift »Psyche« eine Reihe weiterer Autoren – unter ihnen auch der Verfasser (Busch, 2003) – einschaltete, versandete und blieb folgenlos. Der Versuch, in einem daran anschließenden Diskurs eine theoretisch auf den heutigen Stand gebrachte psychoanalytisch-sozialpsychologische Konzeption pro- und disbzw. antisozialer menschlicher Strebungen zu entwickeln, unterblieb. Auch das Fortdauern alter und das Aufkommen immer neuer Ausprägungen von Krieg und Gewalt (11. September, School Shootings usw.) wurde nicht zum Anlass genommen, sich auf ein solches Projekt zu besinnen. Statt zu einer gemeinsamen Anstrengung, jedenfalls die Bestimmung der aggressiven Seite menschlichen Verhaltens voranzutreiben, führte es lediglich zu immer neuen Proben der Überlegenheit bestimmter psychoanalytisch orientierter Ansätze bzw. Schulrichtungen (so etwa bei Martin Altmeyer, 2010). Angesichts des Ernsts und der Dringlichkeit der diesbezüglichen Probleme umso erfreulicher war es, dass vor wenigen Jahren der psychoanalytische Sozialpsychologe und Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, Rolf Haubl, sich zu einem wissenschaftlichen Dialog mit dem mit ihm befreundeten Philosophen Volker Caysa entschloss, der sich um das Thema Hass und Gewaltbereitschaft drehte und in Buchform (Haubl u. Caysa, 2007a) publiziert wurde. Dieser Vorstoß führte zu einer intensiven, teilweise kontroversen, vor allem unvoreingenommenen und immer anregenden Behandlung wichtiger Aspekte von menschlicher Aggression. Er war für mich Anlass und Ermutigung, in Auseinandersetzung mit den dort vorgetragenen Argumenten einige Gedanken zum Zusammenhang von Aggression und Sozialisation zu formulieren, die auch der Weiterentwicklung einer politischen Psychologie des Subjekts dienen sollen.

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Aggression – emotionaler Rohstoff von Sozialisation Meine Problemstellung bringt es mit sich, mich bevorzugt an der Perspektive Haubls zu orientieren. Seine Einschätzung der aktuellen Aufgaben psychoanalytischer Sozialpsychologie wird gleich zu Beginn, als er seine Problemstellung umreißt, klar : »Eine der größten Herausforderungen für eine intelligente Emotionsregulation ist die Kontrolle aggressiver Emotionen, da die Frage der Gewalt, zu deren Entstehungsbedingungen aggressive Emotionen gehören, als eine Schicksalsfrage der menschlichen Gattung gilt« (Haubl, 2007a, S. 8). So selbstverständlich dies klingt, möchte ich doch die Akzentsetzung hervorheben, die hier vorgenommen wird. Es geht um die Regulation, ja Kontrolle von Emotionen, womit – unvermeidlich – das Thema Sozialisation aufgeworfen ist. Sozialisation wird hier jedoch nicht so sehr von der Seite bindender erotischer Triebkräfte her betrachtet, sondern es wird in erster Linie der Seite der Aggression Beachtung geschenkt. Denn die Schicksalsfrage der menschlichen Gattung sei, wie Haubl herausstellt, damit verknüpft, ob und wie die soziale Kontrolle der Aggression und daraus resultierender Gewalt gelingen könne, um ein friedfertiges Zusammenleben der Menschen in der Kultur zu ermöglichen. Mit Absicht greift Haubl (2007a, S. 8 f.) die berühmten Überlegungen von Freuds Schlussabschnitt in »Das Unbehagen in der Kultur« auf. Noch 80 Jahre später, so lässt sich seine Begründung für diese Einschätzung verstehen, wird die Herausforderung, die diese gefahrvolle Kräftekonstellation bedeutet, humanwissenschaftlich nicht genügend ernst genommen. Es sei, wie unsere gesellschaftliche Wirklichkeit uns immer wieder zeige, offensichtlich schwer, auf Gewalt zu verzichten. Haubl versucht, das Thema emotionstheoretisch einzugrenzen, und stellt in leichter Akzentverschiebung zu Freud Liebe und Hass einander gegenüber. Der Hass verkörpere das Böse und sei, so Haubl unmissverständlich, unser Gattungsschicksal. Hierin ist er auch mit seinem Dialogpartner Volker Caysa einig, der den Hass als Existenzial (Caysa, 2007, S. 71 ff.) begreift und ihn durchweg als eine philosophisch-anthropologische Konstante behandelt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Im Weiteren verfolgt Haubl die Linie einer begrifflichen Klärung in seinem interdisziplinären Gegenstandsfeld, indem er sich einer Phänomenologie des Hasses zuwendet und dessen verschiedene Facetten ausleuchtet. Darauf will ich jedoch nicht so sehr mein Augenmerk richten. Ich will vielmehr den zwischen Haubl und Caysa geführten Gewalt-Dialog daraufhin untersuchen, inwiefern die darin enthaltenen Argumente zur Fortführung der zuvor abgebrochenen Debatte dienen und sie befruchten können. Um dies zu bewerkstelligen, muss zunächst eine gewisse begriffliche Übersetzungsarbeit geleistet werden. Denn Haubl bedient sich nicht einer eigentlich psychoanalytisch-sozialpsychologischen Sprache; sein Bemühen richtet sich darauf, deren substantielle Aussagen mit den Ansätzen der Emotionspsychologie zu vermitteln und damit wissenschaftlich zu aktualisieren und anschlussfähig zu machen. Ich werde daher seine Argumentation hier so aufzunehmen versuchen, dass sie auf die innerhalb der psychoanalytischen Sozialpsychologie zu führende Auseinandersetzung, die bei Haubl nicht im Mittelpunkt steht, zurückführbar wird. Folgendes argumentative Gerüst lässt sich herauslesen (vgl. dazu insbesondere Haubl u. Caysa, 2007b, S. 110). Es gibt phylogenetische Basis-Emotionen, die relativ undifferenziert sind. Sie liefern eine Art Rohstoff (womit sie – im Vorgriff auf meine weitere Argumentation – zur inneren Natur des Menschen zählen).2 Unter den Oberbegriff Emotion lassen sich verschiedene Spielarten subsumieren: Affekte (von kurzer Dauer, mit unkontrollierter Dynamik), Gefühle (reflektierte, zu Bewusstsein gekommene Emotionen), Leidenschaften (als deren verstetigte Form). Basis-Emotionen, so verstehe ich Haubl, teilen sich, womit wir zur grundsätzlicheren freudianischen Begriffsebene zurückgelangen, in Gut und Böse. Es gebe eine Vielzahl aggressiver Emotionen, stellt er zu Beginn seiner Ausführungen fest. Zu ihnen zählen Wut, Ärger, Zorn und eben Hass. Sie alle gründen in einem angeborenen Repertoire wie etwa Freude, Trauer, Ekel, 2

An anderer Stelle formuliert Haubl (2007b) geradezu im Sinne einer politökonomischen Psychologie: »Emotionen – der Stoff, aus dem die Profite sind«. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Angst (Haubl, 2007a, S. 9), erwachsen aus einem menschlichen Aggressionspotenzial (S. 12). Und die Gewaltbereitschaft habe »ihre Wurzeln« »in der menschlichen Triebstruktur, wie sie sich im affektiven Leben manifestiert« (S. 9). Hass und Gewaltbereitschaft, so formuliert er an späterer Stelle, seien »ein konstitutiver Bestandteil der menschlichen ›Natur‹« (S. 66). Offensichtlich legt Haubl also das dualistische Triebkonzept Freuds zugrunde, auch wenn er die daraus später abgeleitete affekttheoretische Variante favorisiert. Und er betont, dass dieses Potenzial (das bei Caysa ein Existenzial ist) nur soziokulturell spezifisch, also in geschichtlich konkreter, sozialisierter Form verwirklicht wird (S. 13). Das Negative, das von Whitebook als psychoanalytische Grundposition gegen intersubjektivistische Beschwichtigungen verteidigt wird, wird hier als Grundschicht der menschlichen Triebnatur begriffen und in seinem immer schon bzw. immer nur soziokulturellen Triebschicksal betrachtet. In diese je-individuellen Aneignungsweisen persönlicher Triebschicksale geht das Negative ein, ohne in ihnen aufzugehen. Und die unterschiedlichen emotionalen Rohstoffe gehen überdies sozialisatorischbiografisch Verbindungen untereinander ein. Es kann daher nicht mit einer dualistischen Gegenüberstellung von Liebe und Hass sein Bewenden haben. So vertritt Haubl auch die Ansicht einer schicksalhaften dialektischen Beziehung beider Gefühlsstrebungen (Haubl, 2007a, S. 38), wobei er sich (wiederum unausgesprochen) auf die psychoanalytische Auffassung der Legierung, der Mischung von Eros und Aggressionstrieb stützen kann. Dabei gilt: »Wer nicht lieben kann, muss hassen« ebenso wie umgekehrt »Wer nicht hassen kann, muss lieben« (Haubl u. Caysa, 2007b, S. 117). Ob man hasst, entscheidet sich offenbar geschichtlich-biografisch-konkret daran, ob Raum und Möglichkeiten zu lieben eröffnet werden und ob die Fähigkeit zu lieben statt zu hassen erworben wurde/werden konnte. Und wenn man lieben muss, also (beispielsweise durch stark narzisstische Eltern eingeengt) dazu gezwungen ist, liegt das daran, dass Hass, der angebracht wäre, nicht erworben werden konnte oder sich nicht Luft machen kann, also erstickt wird.

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Die Konzeption von Aggression als Herausforderung für eine kritische Theorie des Subjekts Ehe ich diesen, so noch sehr dunklen Zusammenhang wieder aufgreife und erläutere, kommt es mir auf die Feststellung an, dass mit den Überlegungen Haubls (und Caysas) das Terrain des Intersubjektivismus verlassen (oder doch zumindest erweitert) ist und wir uns in die Tiefen des widerständigen, mit seinen Emotionen ringenden Subjekts begeben haben. Hier liegt gewissermaßen sein anderer Kampf-Schauplatz – neben dem um Anerkennung. Nur in der Verschränkung dieser beiden Perspektiven, so behaupte ich (Busch, 1985, 2001, 2003), kommen wir zu einer genügend komplexen, sowohl subjekttheoretischen wie intersubjektivitätstheoretischen Betrachtung. Hinsichtlich der Seite des Subjekts enthält Haubls und Caysas dialogische Schrift wichtige Argumente, die zur Fortentwicklung einer Kritischen Theorie des Subjekts, die sich in der von Horn und Lorenzer begründeten Denktradition versteht (Busch, 2006), beitragen können. Von Alfred Lorenzer (1972, 1980) war mit innerer Natur ein Pol von Subjektivität bestimmt worden, durch den das von Whitebook zu Recht reklamierte Negative der Kritischen Theorie material konkretisiert werden kann. In dieses Bestimmungsmerkmal von Subjektivität kann – es zugleich erläuternd und veranschaulichend – all das zuvor Diskutierte, was als phylogenetische bzw. anthropologische Basis, als emotionale Grundausstattung, als Potenzial beschrieben worden war, aufgenommen werden. Innere Natur heißt es bei Lorenzer, weil es als Gegenstand menschlich-gesellschaftlicher Aneignungsbemühungen (Regulation, s. o.) zu bestimmen ist, denen es jedoch auch nicht vollständig zugänglich oder gar zu unterwerfen ist. Zugleich können wir der inneren Natur nie rein begegnen, sondern immer nur in spezifisch angeeigneter Form. So hatte ja auch Haubl den Zusammenhang von emotionaler Basisausstattung und den situativ-interaktiv sich verwirklichenden konkreten Emotionen dargelegt. In seinem im Unterschied zu Lorenzer an Aggression orientierten Erkenntnisinteresse korrespondiert

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dieser jedoch eher mit Klaus Horn. Von Klaus Horn (1972/1998, 1975/1998, 1988) war nämlich immer wieder der Versuch unternommen worden, von dieser subjekttheoretischen Position aus das Thema Aggression ins Visier zu nehmen. »Das phylogenetische Erbe: polymorph-perverse Sexualität und diffuse Aggressivität« schrieb er vor fast 40 Jahren, sei »zu kultivieren« (Horn, 1972/1998, S. 98). In seiner politisch-psychologischen Arbeit behandelte er durchweg Fragen von Krieg und Gewalt und käme damit als einer der Ersten als virtueller Teilnehmer am mehr als 20 Jahre nach seinem Tod geführten Dialog infrage. Gleichwohl krankte die bisherige Kritische Theorie des Subjekts aber, so denke ich – was ihre Konzeptualisierung von Sozialisation und Subjektivität betrifft –, an einer Unterschätzung bzw. Unterbestimmung von Aggression und Destruktion. So sehr sich insbesondere Klaus Horn darum bemühte und so instruktiv seine diesbezüglichen Aufsätze auch sind, so verlagerte sich auch bei ihm der Akzent fast unmerklich auf das Geschichtliche, die Seite gesellschaftlicher Aneignung. In einer bis in die 1970erJahre stark von der Auseinandersetzung mit Konrad Lorenz’ verhaltensbiologischer Position geprägten Diskussion des Aggressionsthemas war das sicherlich nachvollziehbar. Die damalige Psychoanalyse-Rezeption konzentrierte sich im Sinne einer Psychoanalyse als Sozialwissenschaft überdies generell auf die konsequente Kritik jedweden Triebbiologismus. Aber wenn an dessen Stelle ein Konzept innerer Natur tritt, so muss dies auch ein bestimmbares Substrat haben und kann eben nicht nur in den Formen seiner Aneignung aufgehen. Dass es nur in diesen vorkommt, einzig soziokulturell vermittelt auftritt, heißt ja nicht, dass es das »phylogenetische Erbe diffuse Aggressivität«, von dem Klaus Horn zutreffend spricht, nicht gibt. Dass dies in seiner Argumentation zusammengehört und zusammenzuführen ist, macht er sich meines Erachtens nicht genügend klar. Mir scheint dies damit zusammenzuhängen, dass die Kritische Theorie des Subjekts insgeheim einen, wie ich es nennen würde, optimistischen Naturalismus pflegt. Das heißt, innere Natur und deren Bearbeitung werden als ein begrifflicher Zusammenhang verstanden, der »der Befreiung dienen« soll (Horn, 1975/1998, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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S. 112). Wenn aber innere Natur ganz ohne Bestimmung (bzw. bloße gute Antisozialität) bleiben soll, dann kann es auch riskant sein, Gewähr dafür zu übernehmen, was da alles so befreit werden kann. Es sollte eben sozialisatorisch genauso auf der Tagesordnung stehen, was besser nicht freigelassen, sondern reguliert werden sollte. Das ist für mich die entscheidende, von Haubl überzeugend vertretene Korrektur. Dass das »Böse«, wie Horn (1975/1998, S. 120) gegen eine hobbesianische Auffassung ins Feld führt, keine feste Größe, sondern veränderlich ist, heißt ja auch im Sinne seiner Auffassung nicht, dass es sozialisatorisch zum Verschwinden gebracht werden kann. Allerhöchstens kann es, und das konnte ja auch Freud sich immerhin vorstellen, besiegt, aber nicht aus der Welt geschafft werden. Und schließlich müsste ja die Kritische Theorie des Subjekts, insofern sie gerade auf das widerständige Moment innerer Natur setzt, sich nicht der Einsicht widersetzen, dass das diffus-aggressive phylogenetische Erbe hierfür eine große Rolle spielt. Wenn sie dagegen innere Natur zur bloßen Leerstelle der Negativität, einer Art Tabula rasa, werden lässt, verliert dieser Begriff meines Erachtens an Plausibilität. Lorenzer hatte sich mit diesen Schwierigkeiten des Aggressionsthemas von vornherein gar nicht herumgeschlagen. Seine Absicht war es in erster Linie, die Freud’sche Triebmythologie zu überwinden und Psychoanalyse als Sozialwissenschaft zu etablieren. Innere Natur stand (unausgesprochen) eher für ein Reservoir, eine Quelle von emanzipatorischem Widerstand oder auch von Leiden der Subjekte an Kultur und Gesellschaft. Es ging darin etwas abstrakt um das, was sich gesellschaftlichem Zugriff widersetzt und was die Organisation des dagegen sich wendenden Bedürfnisses bewirkt. Gemeint war damit in etwa das, was der Begriff des »Negativen« bei Whitebook anzielt. Aber anders als dort war damit eher ein sozialisationstheoretischer Optimismus angesprochen, demzufolge die Stimme der inneren Natur sich nur Gehör verschaffen und zu ihrem Recht gelangen müsse, um die autonomen Subjekte hervorzubringen, von deren solidarischer Aktion dann die besseren gesellschaftlichen Verhältnisse geschaffen werden könnten. In dieser sozialisationstheoretischen Stimmung kommt dieser Ansatz auf der anderen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Seite dem eher freundlichen Intersubjektivismus der Anerkennungstheorie Honneths doch wieder sehr nahe. Ich denke, das Problem dieser Argumentation liegt in einem vorschnellen freudomarxistischen Geschichtsoptimismus, wie ich ihn zu Beginn flüchtig skizziert habe. Wenn man dagegen, geschichtlich ernüchtert, zum Triebdualismus des Freud’schen Unbehagens in der Kultur zurückkehrt, wie das bei Haubl unverkennbar der Fall ist und wie ich es meinerseits (Busch, 1993, 2001) vorgeschlagen habe, so muss sich damit nicht jede fortschrittliche Zukunftsperspektive zerschlagen. »Eingedenken von Natur« (Schmid Noerr, 1988) muss vielmehr differenziert werden und auch heißen, sich ihren negativen, antisozialen Seiten zu stellen. Sozialisationstheorie muss daher auch wieder mehr den Akzent der besonders der Auseinandersetzung mit Aggression gewidmeten »Affektbildung« (Mitscherlich, 1963) setzen, wie er in der von Haubl betonten Herausforderung einer intelligenten Regulation aggressiver Emotionen hervorklingt. Wie diese Regulation herzustellen ist, ist eine Frage, die Haubl nicht behandelt und die sicher sozialisationstheoretisch beantwortet werden muss. Auch ich werde dies hier nicht leisten können. Aber ich gestatte mir den Hinweis, dass die Theorie der Interaktionsformen, mit der Lorenzer die Bildung des Subjekts psychoanalytisch-sozialwissenschaftlich neu zu fassen sucht, an dieser Frage nicht scheitern muss und eine Lösung erlaubt. Ich sehe vielmehr ihre gegenwärtige Aufgabe gerade darin, sich diesem Problem verstärkt zu stellen. Die Einigung auf Interaktionsformen und ihre geglückte Symbolisierung, wesentliche Punkte des Lorenzer’schen Programms der Subjektbildung, müssen meines Erachtens stets auch darauf hin untersucht werden, wie darin das Schicksal sich der Einigung widersetzender, mit den Symbolbildungen nicht einverstandener Kräfte bzw. Tendenzen weiter verläuft. Es gilt also, den Zusammenhang aggressiver Emotionen mit der Bildung von Interaktionsformen und deren Symbolisierung nüchtern-kritisch aufzuklären. Unfreundlich gesagt, zielt das auf Kontrolle von Aggression, freundlicher eben auf Regulation, Einbindung. Wenn der Mensch, worin inzwischen verschiedene Disziplinen und Autoren übereinstimmen, in seiner Grundausstattung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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eine gewisse Bandbreite basaler emotionaler Reaktionsbereitschaften mit auf die Welt bringt, so hat dies auch ein Begriff innerer Natur zu registrieren. Er öffnet sich damit weder etwaigen dunklen archaischen Erbschaften noch fällt er zurück in Triebmythologie. In einer Art aufgeklärtem Dualismus von Eros und Aggression gewinnt ein solcher Ansatz vielmehr Klarheit über innere Natur und kann deren Stellenwert für die Bildung der Subjektstruktur genauer bestimmen. Die Frage der Aggression bekommt damit das ihr angemessene Gewicht. Vielleicht hören das manche nicht gern (Freud, 1930, S. 247 f.), doch kann dies kein Grund sein, diese Frage auszublenden. Die Frage der Aggression wird also ernster genommen, muss von Beginn an ins Blickfeld der Sozialisationstheorie rücken. Mit Aggression ist nicht erst zu rechnen, wenn etwas in der Sozialisation schiefläuft. Zwar ist dies sehr häufig der Fall, doch lässt sich Aggression als innere Natur (als Existenzial) darauf nicht reduzieren. Sie schießt auch bei augenscheinlich konsistent verlaufener Sozialisation unvorhergesehen quer. Anders beleuchtet ist sie, sofern sie unserer Natur eigen ist, auch unvoreingenommen so zu behandeln. Sie ist nichts Fremdes, ein innerer Feind, der zu bekämpfen ist. Ihre Impulse gehören zu uns, mehr noch, wir brauchen sie auch. Eine entschlossene, kritische diskursiv- oder sinnlich-symbolische Artikulation, Stellungnahme bedarf ihrer wie schließlich und endlich das autonom handlungsfähige Subjekt, das Ich sagen kann und auch Ich sagt.

Gekonnter Umgang mit Aggression als Bestandteil demokratischer Sozialisation Fasst also Sozialisationstheorie das Problem der Bearbeitung innerer Natur auch ernsthaft unter dem Aspekt der Bearbeitung aggressiver Naturanteile ins Auge, würde das meines Erachtens zu vorteilhaften Differenzierungen führen. Dies gilt insbesondere für eine Unterscheidung hinsichtlich deren schädlich-destruktiver und förderlich-konstruktiver Seite. Um dies schlüssiger und weiter zu durchdenken, können wir erneut auf den zwischen Haubl und Caysa geführten Dialog zurück© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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greifen. Dort wird, vorwiegend bei Caysa, gegen Schluss seines Textes auch bei Haubl, die Aufmerksamkeit auf diese andere, subjektdienliche Seite der Aggression gelenkt. Caysa spricht sich für eine Enttabuisierung des Hasses aus. Hass und Aggression seien wieder entsprechend ihrem Rang als Daseinsstimmung zu würdigen, die ihren Platz im Basisrepertoire menschlicher Gefühlsbereitschaften beanspruche. Dies mag etwas stürmisch argumentiert sein und als Feier des Hasses (so auch das Bedenken Haubls ; Haubl u. Caysa, 2007b, S. 118) (miss-) zu verstehen sein. Lässt man sich nicht dazu verleiten, kann es im Sinne meiner Argumentation als Anregung zu einer erneuten nüchternen und unerschrockenen psychoanalytischsozialpsychologischen Bestandsaufnahme genommen werden. Der Mensch ist, wie auch Freud argumentiert, nur in dem Gegenüber und Zusammen von Eros und Aggression zu begreifen. Die Liebe muss, um zu sich selbst zu kommen, durch den Hass hindurch und umgekehrt. Außerhalb dieser Konstellation, »nördlich der Liebe und südlich des Hasses« (Vesper, 1979), endet das Menschsein, versiegt es in der Hölle vollkommener Gefühllosigkeit. Sich verselbständigende zügellose Gewalt wird möglich durch den vollständigen Verlust des Selbstwertempfindens, wie bei Eduard, einer von Vesper (1979, S. 178 ff.) beschriebenen Figur, die gleichsam aus der Welt fällt und schließlich – »ganz entwurzelt« – zum Serienmörder wird : »Ohne Haß, ohne Liebe, war er ein umherstolpernder Automat, den man einmal aufgezogen hatte, der ablaufen musste, der nur nach Befriedigung seiner Bedürfnisse einfachster Art verlangte und […] immer nur die gleiche Antwort geben, die gleiche Reaktion hervorbringen konnte. Die Tat. Die Tat« (S. 214). In ähnlicher Weise scheint auch der Erfurter Schüler Robert seine gesellschaftliche Bindung gekappt zu haben. Haubl schreibt zu dessen Tatmotiven : »Beruht der Amoklauf auf der lebensgeschichtlichen Erfahrung, permanent um Anerkennung kämpfen zu müssen, ohne jemals Anerkennung zu finden, weil die Suche von vornherein vergeblich erscheint, dann erfolgt der Selbstmord gar nicht aus Selbsthass, sondern aus Gefühllosigkeit: Der Amokläufer klinkt sich – indifferent gegen das eigene Leben – aus dem vergeblichen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Kampf um Anerkennung aus. Im ›Einverständnis‹ damit ›wertloses Leben […]‹ zu sein, liquidiert er sich selbst« (Haubl, 2007a, S. 56). In partialisierter Form sind uns solche Gefühlsausfälle in geschichtlich fataler Verbreitung bekannt aus den Studien Liftons und Markusens (1990) zu Nazi-Ärzten und in Diensten des USamerikanischen Militärs stehenden Nuklearwissenschaftlern. Dort konnte ein abgespaltenes, destruktives Selbst festgestellt werden, neben dem gespenstisch unverbunden ein normales Familienselbst weiterexistierte. Solche Einblicke führen uns die generelle Anfälligkeit für den Aufbau derartiger dissoziativer Strukturen vor Augen, in denen sich unser Selbst ohne ersichtliches Schuldgefühl Betätigungsfelder ungebremster Aggression eröffnet oder genehmigen lässt. Es besteht also Anlass zu hoher sozialpsychologischer Wachsamkeit. Wir haben leider stets gewärtig zu sein, dass das Verhältnis von Liebe und Aggression, wenn wir uns lediglich auf sein Gelingen verlassen, aus den Fugen geraten kann. Deswegen kann Enttabuisierung von Aggression nur der erste Schritt sein. So sehr wir sie evolutionär-gattungsgeschichtlich brauchen, so sehr müssen wir doch zivilisatorisch darum bemüht sein, dass Aggression nicht in falsche Kanäle geleitet wird. Als Erstes muss der bloße, gefährliche Kurzschluss von Hass und Gewaltbereitschaft gekappt werden (vgl. Haubl, 2007a, S. 65). Die destruktiven Risiken der Aggression müssen eingedämmt werden. Und immerhin haben ja die Erfahrungen der beiden Weltkriege und des Nationalsozialismus zu neuen normativen Grenzziehungen3 geführt, die einen geeigneten Rahmen zur zivilisationstauglichen Zügelung der Aggression abgeben. Hierzu gehören die Etablierung der Menschenrechte sowie die unübersehbare Aufwertung der Friedfertigkeit zu einer Art Leitnorm (vgl. Haubl, 2007a, S. 8, S. 59). Die Frage wäre nun, welches Schicksal menschlicher Aggression in diesem Prozess zuteil würde, welche Rolle sie zu Dabei dürfen wir ja auch einbeziehen, dass Normativität psychostrukturell durch Angst und Aggression im Über-Ich herbeigeführt wird. Auch hier brauchen wir Aggression – um auf das Böse oder nur das allgemein Triebhafte in uns böse zu sein … 3

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spielen hätte. Sie kann ja, unserer bisherigen Argumentation zufolge, nicht abgeschafft werden. Und nicht nur das – sie wird sogar gebraucht. Und es besteht eine eigentümliche Verbindung zwischen Eros und Aggression, die den Schluss zulässt, dass selbst Liebe nicht ohne Aggression auskommt (s. auch Haubl u. Caysa, 2007b, S. 122). Vielleicht lässt dies ja auch neues Licht auf Freuds so zutreffend gestellte »Schicksalsfrage der Menschenart« fallen. Freuds Sicht der Beziehung von Eros und »Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb« (Freud, 1930, S. 270) ist meines Erachtens zu einseitig von der Metaphorik des Kampfs geprägt. Himmlische Mächte ringen miteinander – und uns bleibt die Rolle der Mitspieler in diesem großen Drama. Aber hat jemand die Regie oder kann wer sie übernehmen? Sicher ist, dass wir mit dieser psychohistorischen Dauerspannung politisch-psychologisch stets zu rechnen haben. Drei Jahre nach Erscheinen dieser denkwürdigen Sätze ging Freud einen Schritt weiter. In seinem Briefwechsel mit Einstein (einer Frühform späterer Gewalt-Dialoge …) deutete er vorsichtig eine Entwicklung an, die möglicherweise in der Lage wäre, den Kampf der Giganten zu entschärfen. Auch ihm sind die damals sich bereits regenden Haltungen der Friedfertigkeit aufgefallen, die heute zuversichtlicher als breite normative Orientierungen unterstellt werden können. Freud spricht die berechtigte Hoffnung aus, dass die Menschenart auch den die Gewaltbereitschaft und Kriegslust bewirkenden inneren Naturkräften nicht lediglich schicksalhaft ausgesetzt ist. Sie ist vielmehr in der Lage, Erfahrungen zu machen, aus geschichtlichem Schaden klug zu werden. Freud (1933, S. 285) nennt die neue psychische Eigenschaft, die sich hier ausprägt, »konstitutionelle Intoleranz«. Damit räumt er auch implizit ein, dass geschichtliche Bearbeitung auf ihren Gegenstand, innere Natur, einwirken und ihn verändern kann. Indem sie sich, wie er argumentiert, organisch festsetzt, zur Anlage wird, setzt sie dem, nach wie vor unausweichlichen, »Gattungsschicksal Hass« etwas Neues, Wirksames entgegen. In einer eigentümlichen Inversion werden die eigenen destruktiven Auswüchse aggressiv ins Visier genommen. Das nämlich meint Intoleranz. Bloße Liebe könnte hier nichts ausrichten, bliebe © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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machtlos. Dazu lässt sich einiges aus der Auseinandersetzung mit Caysas an Nietzsche angelehnte Überlegungen lernen, auch wenn ich mich der dort stellenweise zu verzeichnenden Parteinahme für den Hass nicht anschließen würde. Liebe bedarf der Entschlossenheit, Unerschütterlichkeit, Wehrhaftigkeit, um sich durchsetzen zu können. Um den Kampf siegreich zu bestreiten, muss Eros sich auf einen Impetus der (Selbst-)Steigerung, des Willens zur Macht beziehen. Dazu muss er sich eines geschickten Manövers, gar einer List, bedienen und sich den Hass für seine Zwecke zu eigen machen. Die unzivilisierte, barbarisch-dionysische muss er zur kalkuliert-inszenierten, apollinischen, »gekonnten Aggression« (Mitscherlich, 1977/1983, S. 222) umwandeln. Haubl denkt das im psychoanalytischen Sinn der Sublimierung, wenn er an früherer Stelle gutartige und unzuträgliche, schädigende Formen von Neid unterscheidet. Neid ist ein enger Verwandter des Hasses, beide »wohnen«, wie Haubl ein Sprichwort in Erinnerung ruft, »im selben Fass« (2000, S. 63). Eine dieser Neidformen, die uns eine friedliche Nutzung aggressiver Energien ermöglichen, ist der ehrgeizig-stimulierende Neid. Über ihn schreibt Haubl: »Wir nehmen uns dann einen anderen zu einem aufrichtig bewunderten Vorbild, dem wir nacheifern. Unter diesen Umständen werden Ärger, Wut und Hass zwar auch gegen die beneidete Person gerichtet, aber in sublimierter Form. Diese milde Feindseligkeit verletzt keine soziale Norm. Dass die beneidete Person das begehrte Gut rechtmäßig besitzt, wird anerkannt und als Herausforderung genommen, sich selbst zu verbessern. Dies schließt die Möglichkeit ein, sich mit dem anderen zu messen, mit ihm zu wetteifern und besser zu werden als er. Damit ist die Feindseligkeit gegen ihn zu einer konstruktiven Aggression ermäßigt, die der eigenen Entwicklung dient« (Haubl, 2000, S. 68 f.). Besonders aufschlussreich für die politisch-psychologische Dimension unseres Themas ist aber eine weitere Form neidischer gekonnter Aggression: »Schließlich gehört in diesen Katalog der Neid-Formen auch die Feindseligkeit gegen einen anderen, dessen Güterbesitz soziale Normen verletzt, weil er ihn sich mit illegalen oder illegitimen Mitteln angeeignet hat. Unter diesen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Umständen sind Ärger, Wut und Hass gerechtfertigt. Solche Personen trifft empört-rechtender Neid. Wir glauben dann aus guten Gründen, dass die beneidete Person das begehrte Gut unrechtmäßig besitzt. Unter Berufung auf anerkannte Gerechtigkeitsvorstellungen verwandeln wir Ärger, Wut und Hass in Streitbarkeit für eine gerechte(re) Güterverteilung, wobei allerdings von uns erwartet wird, dass wir dabei nicht selbst zu illegalen oder illegitimen Mitteln greifen« (Haubl, 2000, S. 70). Wenn wir uns also heute darauf besinnen, welche motivationalen Haltungen zivilisierte Verhältnisse herbeiführen und diese sichern können, wie ein dazu taugliches demokratischen Subjekt ausgestattet sein könnte/zu sein hätte, so wäre es ganz falsch, unsere aggressiven Anteile davon auszunehmen. Denn auch die Verfolgung friedlicher, gerechter, emanzipatorischer Ziele kann ohne sie nicht auskommen (vgl. etwa Haubl, 2007a, S. 37 f.). Die Aufgabe der Regulierung von Aggression besteht also auch und gerade darin, sie im passenden und richtigen Maß einzusetzen, sie gekonnt anzuwenden. Sie wird dann zur Intoleranz gegen Krieg und Gewalt, zur Streiterin gegen Ungerechtigkeit. Die Aggression verleiht uns »Menschen die Kraft zur Abscheu gegen Unmenschlichkeit« (Einstein zit. nach Richter, 2010), ohne die die Welt untergehen würde. Auch Marcuses (1969, S. 24 ff.) Begriff der libidinösen Moral hätte sich einzugestehen, dass er auf diese Kraft nicht verzichten kann. Denn worauf sonst könnte sich die tiefe, körperliche und geistige »Unfähigkeit mitzumachen« (Marcuse, 1979, S. 25), die dem Protest gegen Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Destruktivität, der großen Weigerung, zugrunde liegen soll, stützen? Würde Aggression hier nicht sinnvoll untergebracht, wäre die Möglichkeit, konstruktiv und fortschrittlich eingreifend zu handeln, vertan. An die Stelle solchen Handelns träte etwa »Indifferenz, die sich als Toleranz ausgibt« (Haubl, 2007a, S. 38, sich auf ein Argument von G. Anders beziehend), aber sich durch Untätigkeit an der Ausbreitung infamer Aggressivität schuldig macht. Der Beitrag psychoanalytischer Sozialpsychologie wird verkannt, wenn er einseitig in der Förderung der Fähigkeit zur Toleranz gesehen wird. Dies ist eine typische Verkürzung seitens der intersubjektivistischen Sozialphilosophie. Sie zeigt sich etwa in Honneths Würdigung der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Bedeutung Mitscherlichs für ein kritisches Konzept von Demokratie (Honneth, 2006). Sie wird in der Betonung der Toleranz ausgemacht, dem psychischen Freiheitsgewinn, der sich aus der Anerkennung der Triebinnenwelt ergibt. So wichtig diese Punkte für Mitscherlichs Denken sind, so hat doch kaum einer so sehr wie er dafür plädiert, Aggression in streitbares demokratisches Handeln umzuwandeln, das sich unnachsichtig gegen jede Verletzung demokratischer Gepflogenheiten zeigt. Diese Anregung bekäme auch dem im Rahmen der intersubjektivistischen Richtung der Kritischen Theorie von Habermas entwickelten Theorem des »Verfassungspatriotismus« gut, das seltsam blutleer daherkommt (Busch, 2007). Denn die motivationale Basis, ohne die kein Patriotismus zu denken ist, bleibt dort im Dunklen. Offensichtlich fällt Emotion als Politik mittragendes Element seit der Erfahrung des Nationalsozialismus auch in kritischen Ansätzen unters Tabu. (Dass dies zu einer nachteiligen konzeptuellen Verengung führt, zeigt schon die Tatsache des ohne eine große emotionale Kraft nicht zu denkenden Widerstands gegen das NS-Regime.) Es bedürfte der politisch-psychologischen Unterstützung verfassungspatriotischer Ambitionen in Gestalt eines Begriffs demokratischer Leidenschaft, für den die bisherige Argumentation, so hoffe ich, einige Andeutungen enthielt. Eine weitere würde ich noch gern hinzufügen. Sie bezieht sich auf die zwischen Haubl und Caysa aufgeworfene Frage der Melancholie. Ich denke, dass Melancholie sich meiner eben versuchten demokratiepsychologischen Skizze einfügen lässt. Sie erschöpft sich nicht zwingend in Handlungshemmung (Haubl u. Caysa, 2007b, S. 122). Im intellektuellen Durchdenken und Stellung nehmen lassen sich immerhin sublimiert-aggressive Handlungsentwürfe ausmachen, ja solche intellektuelle Beschäftigung kann zur Leidenschaft der Selbstreflexion der Aggression werden, wenn ich Caysas schönen Schlusssatz des schriftlichen Gedankenaustauschs richtig verstehe. »Aber«, so lautet er, »die positive Seite der Melancholie ist: Die äußere Aggressivität wird nach innen gewendet und so zur Reflexion und zu einer intellektuellen Leidenschaft, die uns lehren könnte, vernünftig mit dem zu unserem Leben nun einmal gehörenden Hass umzugehen« (Haubl u. Caysa, 2007b, S. 129). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Wenn wir hier den Kreis unserer Argumentation schließen, so wäre der Kampf um Anerkennung neu zu beurteilen. Er kann nur die eine Seite unserer intersubjektiven Praxis umfassen. Der Kampf um Anerkennung hat sehr erheblich damit zu tun, dass er die Bereitschaften zur Nicht-Anerkennung anderer, die sich in Hass, Neid, Gewalt, dem Bestreben, »anderen Menschen ihren Status als Subjekt zu nehmen« (Haubl, 2007a, S. 9), artikulieren, zu zügeln und intelligent zu regulieren vermag. Und sofern er selbst Kampf ist, hat er sich die gefährlichen aggressiven Kräfte zu unterwerfen und sich ihrer listig selbst zu bedienen. Sonst blieben seine Waffen – denn solche braucht er im Kampf – stumpf.

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Lorenzer, A. (1980). Die Sozialität der Natur und die Natürlichkeit des Sozialen. Ein Gespräch mit Bernard Görlich. In: B. Görlich, A. Lorenzer, A. Schmidt (Hrsg.), Der Stachel Freud. Beiträge und Dokumente zur Kulturismus-Kritik (S. 297 – 349). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcuse, H. (1969). Versuch über die Befreiung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Marcuse, H. (1979). Kinder des Prometheus. 25 Thesen zur Technik und Gesellschaft. Tüte (1989) (Sonderheft), Politik und Ästhetik am Ende der Industriegesellschaft: Zur Aktualität von Herbert Marcuse (S. 23 – 25). Tübingen. Mitscherlich, A. (1963/1983): Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. In: A. Mitscherlich, Gesammelte Schriften, Bd. III: Sozialpsychologie, 1 (S. 7 – 369). Frankfurt a. M., Suhrkamp. Mitscherlich, A. (1977/1983). Aggression und Anpassung. In: A. Mitscherlich, Gesammelte Schriften, Bd. V: Sozialpsychologie, 3 (S. 215 – 252). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Richter, H.-E. (2010). »Fragt doch das Volk«, Interview. Frankfurter Rundschau, 30. 09. 2010. Schmid Noerr, G. (1988). Das Eingedenken der Natur im Subjekt: Jenseits der Aufklärung? Zu Horkheimers und Adornos »Dialektik der Aufklärung«. In: G. Schmid Noerr (Hrsg.), Metamorphosen der Aufklärung. Vernunftkritik heute (S. 68 – 98). Tübingen: edition diskord. Vesper, G. (1979). Nördlich der Liebe und südlich des Hasses. München u. a.: Hanser. Whitebook, J. (2001). Wechselseitige Anerkennung und die Arbeit des Negativen. Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 55 (8), 755 – 789. Whitebook, J. (2006). Die Arbeit des Negativen und die Grenzen des intersubjective turn. Eine Erwiderung auf Axel Honneth. In: M. Altmeyer, H. Thomä (Hrsg.), Die vernetzte Seele (S. 334 – 352). Stuttgart: Klett-Cotta.

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Chinesische Schatten der Kulturrevolution (1966 – 1976) Transmissionen psychischer Traumata zwischen den Generationen Die von Mao Zedong (1893 – 1976) initiierte »Große Proletarische Kulturrevolution« sollte in ihrer offiziellen Begründung dem Kampf gegen die Feinde des Sozialismus im Innern Chinas dienen. Kritisch verwies man auf den sogenannten Revisionismus in der damaligen Sowjetunion und propagierte den Kampf gegen »Reaktionäre bourgeoise Autoritäten«. Um die Macht des Volkes zu sichern, waren nun angeblich dessen Feinde in der Kommunistischen Partei selber sowie im gesamten Volk zu bekämpfen, insbesondere unter Intellektuellen und Gebildeten. Eine derartige Verfolgungsbewegung war aus der Sowjetunion der Stalinzeit bekannt: Auch damals hielt der Vorwurf die revolutionäre Sache zu verraten dafür her, politisch Missliebige in der Partei zu entmachten und die Herrschaft des Parteiführers zu sichern. Auch in China kam es zu Beginn der Bewegung zu dieser Säuberungsbewegung, die aber bald auf alle Bevölkerungsschichten im ganzen Land übersprang. Die Prozesse gewannen zunehmend eine eigene Dynamik, die von den politisch verantwortlichen zeitweise nicht mehr gelenkt werden konnte. Ab 1966 wurden zunächst in den Universitäten und Schulen, auf Wandzeitungen und großen Versammlungen öffentliche Anklagen gegen Professoren und anderes Lehrpersonal erhoben, was bald auf andere gesellschaftliche Institutionen, auf den Parteiapparat, die Armee sowie die gesamte Wirtschaft übergriff und rasch einen Zustand permanenter Verfolgung herstellte. Bekannt geworden sind die Bilder der physischen Gewalt mit der beispielsweise Professoren gefesselt, mit Anklageschildern um den Hals und spitzen Schandhüten auf dem Kopf durch die Straßen geführt, geschlagen, gefoltert und ermordet wurden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Nicht wenige verübten Selbstmord. Es gab Plünderungen und willkürliche Verhaftungen. So wurden in einem Pekinger Randbezirk im Sommer 1966 über 300 Menschen von Rotgardisten zu Tode gequält. Tausende von Wohnungen wurden von den Roten Garden durchsucht, zerstört und geplündert. Politisch und persönlich Missliebige wurden gefoltert und ermordet. Offiziell führten die Gruppen einen Kampf gegen die sogenannten vier alten Übel: alte Ideen, alte Kultur, alte Bräuche und alte Gewohnheiten. Diese abstrakten Worthülsen wurden de facto als Deckmantel für den Kampf um persönliche Vorteile, um Einfluss und Macht sowie zur Begleichung so mancher »alter Rechnungen« benutzt. Die gewaltsamen und blutigen Auseinandersetzungen verschiedener Gruppen wurden teilweise auch militärisch durchgeführt mit Tausenden von Todesopfern. Dabei wechselten zunehmend die Gruppen der Verfolger und der Verfolgten. Die politische und institutionelle Macht verschob sich mehr und mehr von den offiziellen Organen der Partei und des Staates auf die örtlich jeweils dominierende Gruppe von Roten Garden, Rebellen, Militärgruppen oder Revolutionskomitees, bis es zum Zusammenbruch der Funktionen von Staatsund Parteiinstitutionen kam. Rivalisierende Gruppen, die ihre Konflikte zunehmend gewaltsam austrugen, schufen bürgerkriegsähnliche Verhältnisse. Die Roten Garden betrieben zeitweise eine eigenständige Justiz mit eigenen Gefängnissen. Landesweit kam es zur Schließung von Universitäten, Schulen und Fabriken. Bis Ende 1968 trieb die gesamte Gesellschaft in einen anomischen Zustand hinein, der dann durch die sogenannten Landverschickungen von ca. 12 bis 17 Millionen städtischen Jugendlichen und ehemaligen Roten Garden beruhigt wurde. Aber auch in den folgenden Jahren kam es durch ständige Kampagnen der verschiedensten Gruppen zu weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen und Verfolgungen. Die Gesamtzahl der Menschen, die in der Kulturrevolution ihr Leben verloren, ist letztlich unbekannt und die Schätzungen schwanken zwischen einigen Hunderttausend bis zu mehreren Millionen. Die gesamte Schicht der Intellektuellen wurde weitgehend eliminiert. Es gab einen regelrechten Vernichtungsfeldzug gegen Zeugnisse der traditionellen Kultur Chinas. Auch in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Tibet wurden die meisten religiösen Institutionen zerstört und deren Vertreter hingerichtet sowie große Teile der Bevölkerung in Umerziehungslagern eingesperrt und teilweise gefoltert. Nach Schätzungen kamen in dieser Zeit dort allein über eine Million Menschen ums Leben. Nach dem Tod Maos 1976 entwickelte sich in den 1980erJahren eine gewisse kritische Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution, es entstand unter anderem die sogenannte Wunden- oder Narbenliteratur, öffentliche Zeugnisse von Opfern der Kulturrevolution. Als dies jedoch in die Demokratiebewegung mündete, wurde dem mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 ein blutiges Ende gesetzt. Seitdem gibt es in China keine öffentliche Auseinandersetzung mehr über diese Zeit.

Das Projekt »Biografische Verarbeitungsformen traumatischer sozialer Umbrüche. Eine psychoanalytische und sinologische Untersuchung am Beispiel der sog. Kulturrevolution in China« In einem am Sigmund-Freud-Institut durchgeführten Forschungsprojekt zu den psychischen Folgen der Kulturrevolution versuchten wir durch sehr ausführliche, halbstrukturierte und analytisch orientierte Interviews mit Zeitzeugen und ihren Kindern Hypothesen zur psychischen Verarbeitung der oft traumatischen Erfahrungen und deren Weitergabe an die nächste Generation zu gewinnen. An die Interviews und Fragebögen knüpften wir Fragestellungen aus psychoanalytischer, sinologischer und sozialpsychologischer Perspektive, wobei ich im Folgenden lediglich auf die psychodynamischen Fragestellungen eingehen will (die Darstellung des sinologischen und sozialpsychologischen Untersuchungsteils findet sich in Gentz, 2010, und Haubl, 2010). Wir erhofften uns Aufschluss über folgende Fragen: – In welcher Weise haben die Ereignisse der Kulturrevolution das Leben des Interviewten beeinflusst? Lassen sich Hinweise auf eine psychische Traumatisierung finden? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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– Wie sehen die psychischen Verarbeitungsmechanismen dieser Erfahrungen aus? – Welche Einstellung zur Kulturrevolution hat der Interviewte heute? – Lässt sich eine Weitergabe dieser Erfahrungen an die nächste Generation erkennen? (»Telescoping«: Faimberg, 1987, 2005). – Wie sehen die betreffenden Symptom- und Charakterbildungen (Identifizierungen, Abwehrstruktur) aus?

Zum Begriff des psychischen Traumas In der Medizin verstehen wir unter Trauma eine Verletzung oder Wunde infolge einer gewaltsamen Einwirkung. Im Bereich der psychischen Erkrankungen sind Verletzungen oder Wunden des Ich seit langem bekannt, haben aber erst in den letzten 30 Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit gefunden und damit eine weit gefächerte Forschung und vielfältige Publikationen hervorgerufen. Wir unterscheiden heute in der Psychoanalyse grundsätzlich zwei verschiedene Traumamodelle (vgl. Bohleber, 2006). Sigmund Freud entwickelte zunächst ein triebökonomisches Modell: Er sah die traumtische Verletzung des Ich in einem Durchbruch seines Reizschutzes durch eine nicht mehr zu bindende seelische Erregung (Freud, 1920g). Im Kontrast dazu fokussieren die später entwickelten, sogenannten objektbeziehungstheoretischen Trauma-Modelle den Verlust der haltgebenden Ichfunktionen, das heißt das Containment. Der Begriff Containment geht auf Wilfred R. Bion (1962) zurück, der die Stärke und Stabilität des Ich in Verbindung brachte mit seiner Fähigkeit, sinnhafte Strukturen aus zunächst unverstandenen Sinneseindrücken aufzubauen. Psychisch unverdautes in sinnhafte Strukturen zu überführen hat er als Containment bezeichnet. Damit sind die Gefährdungen für das Ich bei Bion anders gedacht als bei Freud. Bei Freud sind es zu große Triebpotenziale, unbewusste Konflikte sowie plötzliche und starke Umwelteinflüsse, die eine Reizüberflutung des Ich auslösen können. Mit Bion rückt dagegen das misslingende Containment in den Mittelpunkt. Neuere Begriffe, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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die Bions Idee des Containment aufgreifen, sind die der Symbolisierung, der Psychisierung und der Mentalisierung. Grundgedanke ist dabei stets, dass die Unmöglichkeit die emotionalen und kognitiven Erfahrungen sinnhaft zu integrieren zu einem partiellen oder totalen Zusammenbruch der Ichstrukturen führt. Fischer und Riedesser (1998) definieren zum Beispiel psychische Traumatisierung »als vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt« (Fischer u. Riedesser, 1998, S. 351). Die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten wiederum hängen entscheidend von der Verfassung und vom Entwicklungsstand des Ich, also seinen Fähigkeiten zur Mentalisierung, ab. Die Symptome traumatisierter Menschen können in Reaktion auf das oder die traumatisierenden Ereignisse unmittelbar oder auch mit (z. T. mehrjähriger) Verzögerung (late-onset PTSD: Post Traumatic Stress Disorder) auftreten. Häufig findet man dann eines oder mehrere der folgenden Symptome: 1. sich immer wieder aufdrängende, belastende Gedanken und Erinnerungen an das Trauma (Bilder, Alpträume, Flash-backs) oder Erinnerungslücken (partielle Amnesie), 2. Übererregungssymptome (Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, vermehrte Reizbarkeit, Affektintoleranz, Konzentrationsstörungen), 3. Vermeidungsverhalten (Vermeidung traumaassoziierter Stimuli) und 4. emotionale Taubheit (allgemeiner Rückzug, Interesseverlust, innere Teilnahmslosigkeit). Folgende Traumakonzepte sind für unser Forschungsprojekt von Bedeutung: – Theorie des kumulativen Traumas (Khan, 1963), – Theorie des Deprivationstraumas (Bowlby, 1973), – Theorie dissoziativer Zustände (Davies u. Frawley, 1994), das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Konzept des Überlebenden-Syndroms (Niederland, 1968, 1980, 1981), Theorie des »robot-state« (Krystal, 1968, 1988, 1991), Konzept der Weitergabe des Traumas an die nächste Generation (»Telecoping«: Faimberg, 1987; Bergmann, Jucovy u. Kestenberg, 1982), Konzept eines »Lochs im Psychischen« (Kinston u. Cohen, 1987; Hopper, 1991; Grubrich-Simitis, 1984), Theorien der fehlenden bzw. zerstörten Mentalisierung (Laub u. Auerhahn, 1991; Laub u. Podell, 1995; Laub, 1998; Fonagy 2008), Theorie der sequentiellen Traumatisierung (Keilson, 1979).

Obwohl die meisten dieser Arbeiten in Bezug auf die traumatisierenden Auswirkungen des Holocaust in der ersten und zweiten Generation verfasst sind, geben sie auch einen bedeutsamen konzeptuellen Hintergrund zur Erfassung von Traumafolgen der Kulturrevolution in China ab. Dadurch, dass ein Trauma etablierte Abwehrformen überwältigt, ist der Betroffene äußeren Bedrohungen, aber eben auch den abgewehrten inneren Ängsten schutzlos ausgeliefert. Die traumatische Erfahrung überwältigt nicht nur das Abwehrsystem, sondern bestätigt zugleich die abgewehrten frühen Fantasien, Ängste und Impulse. Insbesondere aktiviert sie biografisch früher erworbene Traumata im Sinne einer kumulativen, sequentiellen Traumatisierung (Khan, 1963; Keilson, 1979). Traumatische Erfahrungen sind selten singulär, sondern oft Bestandteil einer biografischen Reihe. Das Vertrauen in das, was wir das gute Objekt und seine schützende Funktion nennen, und zwar auch wieder außen und innen, ist nachhaltig gestört und sehr frühe Ängste, Impulse und Fantasien werden aktiviert. Dadurch kann eine paranoide Wahrnehmung der Objekte ebenso in den Vordergrund treten wie nachhaltige Depressionen. Die traumatische Erfahrung wird also übersetzt in eine spezifische Form innerer Objektbeziehungen, in der die sogenannten schlechten inneren Objekte dominieren. Das zunehmende Verständnis für die genetische und strukturelle Vulnerabilität des Ich brachte zugleich eine vertiefte Erfassung derjenigen sozialen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Umstände in Familie und Gesellschaft mit sich, welche sich traumatogen auswirken. Es folgen biografische Ausschnitte aus den in unserem Projekt durchgeführten Interviews mit einem Vater und seiner Tochter, anhand derer ich auch Probleme der interkulturellen Interpretation diskutieren möchte.

Der Vater Das erste Interview mit Herrn A. fand während unserer PretestPhase (PI7A)1 statt. Da es sich als sehr informativ erwies, beschlossen wir, ihn im Rahmen unserer Hauptinterviews noch einmal zu interviewen (MI6A), um einige ergänzende Informationen zu bekommen. Ich habe im Folgenden die mir wesentlich erscheinenden Inhalte beider Interviews zusammengefasst. Der 86-jährige Herr A. betont gleich zu Beginn des Gespräches kein normaler Mensch mehr zu sein, sein Kopf würde nicht richtig funktionieren. Und er meint: »Was mich betrifft: Mein Leben, es ist sehr unglücklich« (PI7A, Z. 86). Zur Begründung verweist er auf seine Gefangenschaft bei den »japanischen Imperialisten«.2 Dann macht er einen thematischen Sprung und kommt auf seine Kindheit zu sprechen: Herr A. hat insgesamt sieben Geschwister (Brüder +6, +4, +2, –2, –4, zwei Zwillingsschwestern –3). Er ist der viert älteste. Ein Bruder (–4) starb, als Herr A. zehn Jahre alt war. Ein anderer Bruder (–2) ging nach Taiwan, er lebt noch, es gibt jedoch keinen Kontakt; der Bruder liege nach einem Unfall dort im Koma. Seine Familie muss extrem arm gewesen sein: »Unsere Familie besaß nichts, kein Haus und kein Ackerland, nichts, womit man leben konnte« (PI7A, Z. 104 f.). »Wir wohnten mit Schweinen, Rindern und Eseln zusammen. Es gab oft für die ganze Familie nur eine einzige Bettdecke und eine einzige Hose. Nur derjenige, der ausging, kriegte die Hose« (MI6A, Z. 197 ff.). »Dreimal am Tag essen, daran war nicht zu denken. Ein kleines Kind, auf sich alleine gestellt. Niemand in der Familie kümmerte sich um mich, auch nicht die Eltern.« Er beschreibt dann, wie er und seine Geschwister ans Meer gingen und sich von dem ernährten, was die Flut am Strand an Essbarem zurückgelassen hatte. Aufgrund der Armut seiner Familie 1 2

Im Folgenden bedeuten PI = Pretest Interview, MI = Main Interview. Während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges 1937 – 1945. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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konnte er keine Schule besuchen, ging aber zeitweise heimlich zur Schule und lernte so über eine Zeit von fünf Jahren doch etwas (MI6A, Z. 55). Ein Großonkel, von Beruf Richter, sorgte dafür, dass er mit 16 Jahren eine Handelsschule besuchen konnte. Dort blieb er aber nur fünfundvierzig Tage – diese Zahl erinnert er ganz genau –, weil Kriegsereignisse den weiteren Besuch der Schule unmöglich machten (MI6A, S. 2). Seine Mutter beschreibt er als eine sehr gütige Frau (MI6A, S. 13), eine Analphabetin, die sich stets große Sorgen um ihn machte. Überhaupt hegt er keinen Groll gegen seine Eltern, vielmehr entschuldigt er ihr Verhalten durch ihre Armut. Auch als er später in die Armee ging, hätte das niemanden in der Familie gekümmert. Es ist auch auffällig, dass Herr A. im Gespräch kein einziges Mitglied seiner Familie mit Namen nennt oder näher beschreibt. Eine Ausnahme bildet lediglich ein jüngerer Bruder, der sich der Guomingdang anschloss und mit ihr später nach Taiwan ging. Alle Familienmitglieder werden – wie in China üblich – nur mit ihrer Familienposition eingeführt, nicht mit Namen, so dass für westliche Interpreten leicht der Eindruck entsteht, Herr A. steht gegenüber seiner Familie allein und beziehungslos. Im März 1939 trat er der Kommunistischen Partei bei und war von Anfang an in einer Guerillagruppe tätig, die gegen die Japaner im Untergrund kämpfte. Die Partei schickte ihn dann zur Lu-Xun-KunstAkademie (PI7A, Z. 235). Er betont, dort innerhalb eines Jahres zu seiner Weltanschauung und Lebenseinstellung gekommen zu sein. »Ich hatte nicht viel im Kopf und dachte nur Gutes über die Kommunistische Partei. Woran erkannte ich das Gute an der Partei? Die Parteimitglieder schlugen niemanden und beschimpften niemanden, in der Partei kriegte man etwas zu Essen« (PI7A, Z. 263 ff.). Dort fühlte er sich fürsorglich behandelt (MI6A, Z. 110). Schließlich wurde er 1942 von den Japanern gefangen genommen. Kollaborateure hatten ihn denunziert, sodass die Japaner das von ihm versorgte Lazarett entdeckten, die Verwundeten mit Flammenwerfern umbrachten und ihn gefangen nahmen. Dies alles hat Herr A. mit eigenen Augen erlebt, aber er scheint es auch gut verdrängt zu haben: »ich denke nicht an solche Szenen« (MI6A, Z. 161). Ergänzend und zugleich bagatellisierend sagt er, dass Krieg nun einmal grausam sei, er könne tagelang davon erzählen. In der Gefangenschaft erlebte er eine strenge und brutale Überwachung sowie die Arbeit in einem Kohle-Bergwerk. Es gelang ihm aber, zusammen mit einem anderen Parteimitglied zu fliehen. Seine erfolgreiche Flucht aber weckte bei der Kommunistischen

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Partei den Verdacht, er könnte ein Spion sein. Deshalb wurde er nächtelang verhört und aufgefordert, ein Geständnis abzulegen. Gewehre wurden geladen, es knallten Schüsse, er fürchtete um sein Leben (MI6A, S. 8). Er wurde schwer depressiv, wollte sterben und litt unter extremer Schlaflosigkeit. »Ich wollte einfach an die Front gehen und sterben« (PI7A, Z. 473). Sein Zustand besserte sich dann in dem Maße, wie die Partei wieder Vertrauen in ihn hatte, nachdem es nicht gelungen war, ihm irgendetwas nachzuweisen. Seine Parteimitgliedschaft, die ihm vorher aberkannt worden war, wurde nun wieder anerkannt (PI7A, Z. 502). »Ich war so erleichtert und fühlte mich befreit.« Im Nordosten Chinas nahm er an verschiedenen Truppenbewegungen teil, die ihn auch nach Korea und in die Sowjetunion führten. In der Armee entdeckte er Offiziere, die mit Opium und anderem Beutegut handelten. Herr A. zeigte diese Leute an, was ihm in der Folge erheblichen Ärger mit einem Personalchef seiner Abteilung einbrachte. Dieser verhinderte über Jahre eine Höherstufung seiner Gehaltsgruppe. Herr A. wurde innerhalb der Armee nicht mehr befördert, sein Gehalt nicht mehr erhöht. »Sie sehen, in unserer Partei wurde man von solchen Leuten bestraft, wenn man gerecht bleiben wollte« (PI7A, Z. 625). Herr A. berichtet sehr erregt und immer wiederholend über längere Zeit im Interview über die Schikanen dieses Personalchefs. Wieder stellten sich damals seine massiven Schlafstörungen ein (Z. 667). Auch nach der Gründung der Volksrepublik China 1949 war Herr A. Opfer der verschiedenen politischen Bewegungen: Ihm wurde vorgeworfen ein Rechtsabweichler zu sein, ein Veruntreuer. Er legte in Folge dessen sein Amt als Polit-Kommissar nieder und wurde Dozent für Philosophie an der Akademie für nationale Verteidigung (1954). 1961 kam er zur Akademie der Luftwaffe nach Peking. Inzwischen war er mit einer Ärztin beim Generalstab verheiratet. Aber auch dort wurde er immer wieder wegen seines in Taiwan lebenden Bruders verdächtigt: Man fürchtete, er könnte insgeheim ein Mitglied der Guomingdang sein (Z. 728). Wieder hatte er schwere Depressionen, litt an Schlaflosigkeit und Selbstmordgedanken. »Vor der Kulturrevolution [also, T. P.] war mein Kopf schon nicht in Ordnung« (Z. 772). Damals begann er Schlaftabletten zu nehmen. Als dann die Kulturrevolution 1966 begann, wurde er noch heftiger verfolgt : Er war insgesamt sieben Jahre inhaftiert, davon dreieinhalb Jahre in einer Hundezelle in einer Klinik der Luftwaffe. Im Interview beschreibt er die Isolationsfolter in einem fensterlosen Raum : Immer wieder wurde er aufgefordert, ein Geständnis

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abzulegen. Auch wurde er mit einem Schandhut durch die Straßen geführt und auf öffentlichen Bezichtigungsversammlungen angeklagt (S. 16). Wiederholt wurde er heftig geschlagen. »Ich hatte Erfahrungen in der Gefangenschaft bei den Japanern, dort war ich gefoltert worden, aber nicht so schlimm« (Z. 896). Er wurde in das Abwasser der Toilette getreten, man drückte Zigarettenkippen in Wunden seines Körpers, er durfte nicht zum Arzt gehen (S. 17). Schließlich wurde er in einer Dachstube inhaftiert, und man forderte ihn auf, von dort oben herunterzuspringen. Voller Bewegung schildert er diese anarchischen und traumatisierenden Verhältnisse. »Wenn man sterben konnte, hatte man Glück« (Z. 912). Bei den Verhören wurde er auch immer wieder gezwungen, die Stellung eines »Düsenflugzeuges« einzunehmen (S. 19). Dadurch wurden seine Arme sehr in Mitleidenschaft gezogen : »Meine Arme sind stark beschädigt worden, die Muskeln wie gelähmt. Ich habe keine Empfindungen mehr, sie sind wie zwei Stöcke« (Z. 1046 ff.). Im Anschluss an diese Zeit wurde er für dreieinhalb Jahre aufs Land zur »Umerziehung durch körperliche Arbeit« geschickt (S. 20). Seine Frau und eines seiner drei Kinder waren mit ihm dort. Als seine Familie von seiner Verfolgung während der Kulturrevolution erfuhr, verübte sein älterer Bruder (+2) Selbstmord durch Erhängen (MI6A, S. 19). Auch sein Vater sei so schockiert gewesen, dass er 1970 starb (S. 19). Der Bruder hinterließ vier Kinder und eine Frau, um die sich Herr A. in den Folgejahren kümmerte. Seine Mutter starb kurz nach dem Vater. Auf all diese Ereignisse bezieht sich Herr A., wenn er sagt, dass die Kulturrevolution seine Familie zerstört habe. Nach der Kulturrevolution zog er sich sozial völlig zurück und sprach nicht mehr über das Erlebte. Vielmehr lebt er in der Welt der Bücher und liest viel : philosophische und politische Werke, aber auch religiöse Bücher von Buddhisten und Christen. So beschäftigen ihn beispielsweise Nelson Mandela und dessen gegen jede Rache gerichtetes Denken (S. 14). Sein großes Vorbild ist Deng Xiaoping, der sich seiner Meinung nach nicht an seinen Verfolgern gerächt, sondern darüber geschwiegen hatte. »Ich habe auch nichts Schlechtes über diejenigen gesagt, die mich geschlagen und verfolgt haben. Ich räche mich an ihnen nicht. Manche wollten sich bei mir entschuldigen. Ich habe das nicht zugelassen« (PI7A, Z. 1219 ff.). Und das, obwohl er bis heute an schweren Depressionen leidet, sein Leben als sinnlos betrachtet

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und manchmal nicht mehr weiterleben will. Er betont, total entmutigt zu sein. Den einzigen sozialen Bezug hat er noch zu seiner Frau, mit der er jetzt in einem Veteranenheim lebt. Aufgrund seiner schweren depressiven Symptomatik muss er viele Medikamente nehmen : »Mein Gehalt und das meiner Frau geben wir fast nur für Medikamente aus« (Z. 1469 f.). Außerdem leidet er jetzt an Parkinson. Für die Zukunft sieht er schwarz : »Ich werde mich nicht mehr erholen« (Z. 1529). Die sicherlich traumatischen Erfahrungen in der Zeit vor und während der Kulturrevolution hat Herr A. in einer Weise verarbeitet, die seinen Glauben an den Sozialismus und die Ziele der Partei nicht erschüttert haben: Er betrachtet seine persönlichen Erlebnisse als »eine Episode im großen Strom der Revolution« (MI6A, Z.466) und meint »das alles war in der historischen Entwicklung unvermeidbar« (Z. 721). Er denkt, dass die Ursache seines Leidens darin liegt, dass die Vorstellung des privaten Eigentums nicht vollständig im Verlauf der Revolution ausgerottet worden sei. Nicht die Partei habe ihn verfolgt, sondern nur niveaulose Menschen (S. 16). Über seine Verfolger sagt er: »Sie waren selbst auch Opfer« (Z. 875). Er betrachtet sie mit Lenin als Kleinbürger, die gegen die Revolution gehandelt haben. Sie hätten nicht das richtige Bewusstsein gehabt. »Sie verstanden nichts von der Partei. Sie hatten keinen edlen Charakter« (Z. 888 f.). Diese ganzen Überlegungen bemüht er, um zu verdeutlichen, weshalb er nicht nachtragend ist und seinen Glauben an die Sache der Partei nicht verloren hat. Vereinfacht gesagt liegt seine Argumentation auf der Linie: Nicht die Idee des Sozialismus ist schlecht, sondern nur die Menschen, die noch nicht das richtige Bewusstsein haben.

Die Tochter Frau K. ist die zweite Tochter des Herrn A. (Schwester +1, Schwester –3). Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 54 Jahre alt und wurde 1953 geboren. Ihr Vater war bei ihrer Geburt 32 Jahre, die Mutter 29 Jahre alt. Sie war offenbar sehr an dem Gespräch interessiert und sagte dem Interviewer bei seiner Anfrage sofort und freudig zu. Das Interview fand in ihrer Wohnung statt. Der Interviewer berichtet, dass er sie sehr offen erlebt hat, zeitweise habe er sich wie ein Therapeut einer Patientin gegenüber gefühlt. Das Interview dauerte zwei Stunden und zehn Minuten. Aufgefordert, über ihr Leben zu berichten, beginnt sie mit der Zeit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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der Kulturrevolution. Sie war bei deren Beginn 1966 dreizehn Jahre alt. Die Kulturrevolution brachte für sie in besonderer Weise massive Trennungserfahrungen mit sich: So war ihre Mutter bereits vor der Kulturrevolution bei der Bewegung der vier Säuberungen3 (1965) aktiv: »… aber dann war meine Mutter auf einmal weg und kehrte lange Zeit nicht zurück« (Z. 54). Frau K. und die ein Jahr ältere Schwester wurden von einem Kindermädchen versorgt, da auch der Vater beruflich als Beauftragter eines Krankenhauses keine Zeit für die Kinder hatte. Als die Kulturrevolution begann wurde das Kindermädchen entlassen, und die Kinder waren auf sich gestellt. Hier wie auch sonst im Interview erwähnt Frau K. kein einziges Mal ihre jüngere Schwester (–3). Später im Interview (S. 10) berichtet Frau K., dass die Mutter als Ärztin schon immer sehr aktiv war und sich kaum um die Kinder gekümmert habe. Dafür waren Kindermädchen angestellt, später gab es auch eine Großmutter, die sich um die Kinder kümmerte. Frau K. ging sehr ungern in den Kindergarten, ein Internatskindergarten, in dem die Kinder wochenweise untergebracht waren: »Ich war sehr ängstlich, litt sehr darunter und fühlte mich ganz unsicher, jeden Tag dachte ich nur daran, am Samstag nach Hause zu gehen« (Z. 470). Noch heute meint Frau K. mit »ängstlichen Vorstellungen« (Z. 510) zu reagieren, wenn sie an den Kindergarten denke. Zu Beginn der Kulturrevolution denunzierte die ältere Schwester den Vater in der Schule, indem sie einen Notizzettel des Vaters, der an die Mutter gerichtet war, weitergab. Auf diesem Zettel schrieb der Vater etwas von der »schlechten Familienherkunft« (Z. 82) der Mutter. Es kam zu einer Wohnungsdurchsuchung durch die Roten Garden, bei der sehr viele Bücher, Kleidung und andere Haushaltsgegenstände beschlagnahmt wurden. Dies war für Frau K. besonders dramatisch, da die Familie viele Bücher besaß, mit denen sie sich oft in eine Fantasiewelt zurückziehen konnte (Z. 749 ff.). Schon beim Bericht über diese ersten Erlebnisse zu Beginn der Kulturrevolution spricht Frau K. von ihrem Hass auf die Kulturrevolution bzw. die sie verkörpernden Personen (S. 2). Immer wieder kommt sie im Verlauf des Interviews darauf zu sprechen: »Damals war ich von sehr tiefem Hass erfüllt. Später habe ich meiner Mutter Die Bewegung der vier Säuberungen zielte auf die Verbesserung von Buchhaltung, Versorgungslage, Finanzlage und Entlohnung. Sie richtete sich zugleich gegen Großgrundbesitzer, Kapitalisten, Konterrevolutionäre und sogenannte üble Elemente. Sie war von der Idee kontinuierlichen Klassenkampfes getragen. 3

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gesagt, hätte ich damals eine Maschinenpistole gehabt, hätte ich sie alle mit Sicherheit nieder geschossen« (Z. 124). Sie betont bis heute eine starke Abneigung gegen Massenbewegungen zu haben und »stets von einem Gefühl des Hasses erfüllt« (Z. 141) zu sein. Sehr konkret richtete sie den Hass gegen die ältere Schwester, die für die Hausdurchsuchung mit ihren Folgen verantwortlich war. Dies hat offenbar jahrelang das Verhältnis zu der älteren Schwester belastet, mit der sie heute allerdings meint, sich gut zu verstehen (Z. 1059). Weiterhin spricht sie von ihrem Hass gegen »jene, die damals meinen Vater geschlagen hatten« (Z. 101). Die Wohnungsdurchsuchung zu Beginn der Kulturrevolution bedeutete für die Familie offenbar den Beginn eines massiven sozialen Abstiegs: Aufgrund des bisherigen Einkommens galt die Familie als »reich«, musste aber dann mit sehr wenig Geld auskommen. Der Vater wurde sehr bald inhaftiert und in der schon erwähnten »Hundehütte« festgehalten. Frau K. wurde nicht nur Zeuge der Inhaftierung des Vaters, sondern auch seiner Verfolgung: »Damals sah man überall im Hof Parolen gegen meinen Vater: mit Artillerie beschießen oder einen Fuß darauf setzen, damit er sich nie wieder aufrichten kann. An den Wänden, auf dem Boden, überall im Hof wurden solche Parolen hingeschrieben« (Z. 1029). Die erwähnten Beschlagnahmungen führten zu weitgehendem Verlust von Hab und Gut der Familie. Diese massiven Einwirkungen der Kulturrevolution wurden noch verstärkt, als Ende der 1960er-Jahre die Familienmitglieder aufs Land verschickt wurden an jeweils weit von einander entfernte Orte. Nur mit der älteren Schwester konnte sie zusammen in ein Arbeitslager im Norden gehen. 1972 kam sie wieder nach Peking zurück und arbeitete ab 1974 zunächst als Krankenschwester. 1977 begann sie ihr Medizinstudium. Zeitweise arbeitete sie in einer Autofabrik (S. 7, S. 21). 1973 wurde bei ihr eine Tumorerkrankung an der Lunge festgestellt, die aber durch eine Behandlung im Rahmen der traditionellen chinesischen Medizin offenbar erfolgreich behoben wurde: Der Tumor wurde bei einer späteren Untersuchung nicht mehr festgestellt. 1977 lernte sie ihren jetzigen Mann kennen, den sie als einen sehr guten Menschen, als anständig und als intellektuell beschreibt. Ein zentraler Dissens zwischen den beiden Ehepartnern bezieht sich auf die Erziehung der einzigen Tochter: Frau K. berichtet, dass die Tochter offenbar gewisse Behinderungen aufweist: einen Augenfehler, durch den sie schielt, ein verlangsamtes Reaktionsvermögen, eine schwache Konstitution, Lernschwierigkeiten. Dies alles hat

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während der Kindheit der Tochter zu vielen Anstrengungen seitens der Eltern geführt, von denen Frau K. rückblickend meint, dass sie zu autoritär vorgegangen sei (Z. 359) und es nicht vermochte, den Standpunkt des Kindes einzunehmen, sich in das Kind einzufühlen. »Wir waren halt zu ungeduldig und zu sehr auf schnellen Erfolg bedacht« (Z. 364). Insbesondere an ihrem Mann kritisiert Frau K. dessen autoritäres Verhalten: Konnte das Kind beispielsweise eine Mathematikaufgabe nicht richtig lösen, musste es zur Strafe weitere hundert Aufgaben machen. Es gab heftige Auseinandersetzungen über dieses Verhalten des Mannes und erst durch eine Intervention der Schwiegermutter ließ der Mann davon ab. Die Folge war aber, dass »das Kind zitterte, wenn sie ihn sah« (Z. 388). Im Interview fällt auch auf, dass Frau K. zwar alle diese Details über ihr Kind berichtet, jedoch jede affektive Äußerung dazu vermissen lässt. Allerdings führt sie auf die Erfahrungen mit ihrer Tochter zurück, dass sie sich dann später entschloss, Psychologie zu studieren. Sie habe durch das Studium herausgefunden, dass sie selber unter Problemen mit ihrer Mutter leide, ja, dass die ganze Familie eigentlich sehr problematisch sei. Sie meint unter »Angst, Unsicherheit und Argwohn« zu leiden, unter einer, »einseitigen Sichtweise der Dinge, entweder schwarz oder weiß, und die Menschen entweder gut oder schlecht« und unter ihrer Unfähigkeit, eine Sache objektiv zu betrachten und sich »in die Lage eines anderen zu versetzen und von seinem Standpunkt heraus die Sache zu beurteilen« (S. 9). Sie führt dies alles auf ihren Vater zurück, der stets in Angst lebte: » … deswegen müssen sein Verhalten und seine Worte sicher einen Einfluss auf uns gehabt haben« (Z. 460). Sie meint auch heute noch bei Erinnerungen an die Zeit der Kulturrevolution sehr traurig zu werden (Z. 532). Als weitere psychische Folge ihrer Erfahrungen während der Kulturrevolution benennt sie Schlafstörungen (Z. 829). Sie ordnet dies in ihre allgemeine Ängstlichkeit ein. Ihrem Medizinstudium steht Frau K. sehr kritisch gegenüber. Der Arztberuf sei damals einer der wenigen Berufe gewesen, die sie nach der Kulturrevolution überhaupt hätte ergreifen können. Später entdeckte sie ihr Interesse an Modedesign, da sie sehr gut zeichnen kann (S. 14). Sie meint, dass der in der Kulturrevolution entwickelte Hass ihren Charakter bestimmt habe. Als sie später als Krankenschwester arbeitete, wurde ihr zwar eine professionelle Qualität bescheinigt, aber man kritisierte an ihr, dass sie unfreundlich sei (Z. 298). Mit diesem sie bestimmenden Hass erklärt sie auch ihre Depressionen,

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die sie bekam, als sie 1999 eine Zeitlang in den Ruhestand versetzt wurde (Z. 549). Als sie dann anschließend in einer Ambulanz für ausländische Patienten arbeitete, wurde für sie auch offensichtlich, dass sie eine besondere Anstrengung unternehmen musste, um mit diesen Patienten freundlich umzugehen (Z. 590). Erst ihr späteres Psychologiestudium – in ihrem ersten Beruf war sie Internistin – habe ihr geholfen, von den »negativen Emotionen« (Z. 596) Abstand zu bekommen. Unter unseren Interviewpartnern ist Frau K. eine der sehr wenigen, die direkte Kritik an der Kommunistischen Partei und ihrem damaligen Vorsitzenden Mao Zedong übt (S. 19). Sie hält ihm vor, viele Menschen in den Tod getrieben zu haben. Lachend erinnert sie die Freude einer Freundin, die 1976 den nahenden Tod Maos als gute Nachricht ankündigte. Auch kritisiert sie die Geschichte vom langen Marsch: Mao habe sich damals meistens »auf so einer Bahre tragen« (Z. 982) lassen. Auch ist sie nicht Mitglied der Kommunistischen Partei. Im Rückblick auf ihre Kindheit benennt Frau K. zum einen die oben genannten massiven und offenbar kaum zu verarbeitenden Trennungserfahrungen, spricht aber auch positive Erfahrungen mit ihren Eltern an: Die Mutter, die selber auf ein Studium verzichtet hatte (später aber dennoch als Kinderärztin arbeitete), habe sie sehr zum Lesen angeleitet. Darauf führt Frau K. es zurück, dass sie heute eine große Hochachtung vor dem Beruf des Intellektuellen habe. Und vom Vater berichtet sie, dass er in seiner Freizeit gern mit den Kindern gespielt habe (Z. 603 ff.). Während des Interviews deutet der Interviewer ihren Lebensweg als Wandlung einer Prinzessin zum Aschenputtel. Dem stimmt Frau K. zu: »Ich bin eigentlich ein eitler Mensch gewesen« (Z. 855). Sie meint dann aber doch, so etwas wie einen guten Grund für ihr Leben gefunden zu haben und insgesamt lebenszugewandt zu sein. Rückblickend meint sie, durch ihren Charakter ihrem Kind geschadet zu haben: »Mein Charakter, meine Ängstlichkeit, mein Attitüde, meine Feindseligkeit, ich kann andere Menschen nicht leiden, das alles habe ich auf mein Kind übertragen« (Z. 1169). Sie stimmt dem Interviewer zu, als der davon spricht, dass die Erfahrung der Kulturrevolution sich auch auf diese dritte Generation ausgewirkt habe (Z. 1182).

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Interpretationsprobleme4 Die beiden Interviews von Vater und Tochter zeigen sicherlich nur einen Ausschnitt aus einer insgesamt komplexen chinesischen Familiengeschichte. Mit unserem westlich-psychoanalytischen Blick können wir bei dem Vater eine entbehrungsreiche Kindheit mit wenig emotionalem Rückhalt bzw. wenig familiärer Sicherheit und Geborgenheit feststellen. Er wuchs offenbar wie ein Straßenkind in bitterster Armut auf und litt oft Hunger. In der Kommunistischen Partei fand er dann später eine Ersatzfamilie mit guten, förderlichen Objekten. Herr A. erfuhr eine jahrzehntelange Kette von Traumatisierungen durch Erlebnisse in frühester Kindheit, im JapanischChinesischem Krieg, durch die Gefangenschaft bei den Japanern mit Zwangsarbeit, massiven Entbehrungen, Todesgefahr und die Erfahrung von Gräueltaten, durch den Vertrauensverlust seiner kommunistischen Ersatzfamilie, in der Kulturrevolution durch öffentliche Demütigungen und Misshandlungen, durch jahrlange Haft mit Folterungen, Todesdrohungen und weiteren Misshandlungen, ferner durch den Verlust von Familienmitgliedern und die Zerstörung des familiären Zusammenlebens. Alle in unserem Projekt beurteilenden Analytiker stimmen überein in der Feststellung von Symptomen einer PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) mit sich aufdrängenden Gedanken an die traumatischen Erfahrungen, Übererregungssymptomen, Vermeidungsverhalten und emotionaler Taubheit. Zum Zeitpunkt des Interviews bietet Herr A. das Bild einer schweren chronischen, suizidalen Depression verbunden mit einer massiven Beschädigung seines Selbstwertgefühls. Durch Rationalisierungen, Umdeutungen und Verleugnungen versucht er seine kommunistischen Ideale aufrechtzuerhalten. Auch die Tochter litt offenbar in Ihrer Kindheit unter dem 4

Ich danke der Kollegin Gertrud Reerink M.A., den Kollegen Dipl.Psych. Ulrich Ertel, Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl, Dr. Friedrich Markert und Dr. Hermann Schultz, welche die Beurteilung der beiden Interviews erarbeitet haben. Der Kommentar stellt hier lediglich einen kurzen Ausschnitt aus der wesentlich umfang- und detailreicheren Beurteilung dar. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Verlust emotionaler Zuwendung durch frühe, traumatisierende Trennungs- und Verlassenheitserfahrungen. Sie erscheint unsicher gebunden und erfuhr während der Kulturrevolution massive Ängste, Unsicherheiten, sowie eine Zerstörung des Familienlebens. Bücher ermöglichten ihr eine Flucht in eine Fantasiewelt, welche den Verlust der idealisierten Bildungswelt, aber auch die frühen Trennungstraumata kompensieren half. Die Kulturrevolution rief in ihr einen massiven Hass hervor, verbunden mit einer Ablehnung der älteren Schwester, die sie als die Verursacherin des damals erfahrenen familiären Leids sieht. In ihrer Herkunftsfamilie war offenbar keine Kommunikation über diese Erfahrungen möglich. Auch heute noch erlebt sie sich durch eine latente Feindseligkeit bestimmt. Ihre defizitäre Einfühlungsfähigkeit und geringe emotionale Wärme bewirkte eine belastete Beziehung zu ihrer Tochter.5 Die beurteilenden Analytiker finden bei ihr keine PTBS im engeren Sinne, sondern eher Merkmale einer posttraumatischen Persönlichkeitsstörung (im Sinn von ICD-10, F62.0) mit mangelnder Wärme, ständiger Gereiztheit und Unfreundlichkeit, Hartherzigkeit, Mitleidlosigkeit (Z. 809 – 811, Z. 894 – 902), Desillusionierung (Z. 1001 – 1005), »Angst, Unsicherheit und Argwohn« sowie Schwarz-Weiß-Denken (Z. 446 – 448), Eitelkeit (Z. 855 – 858) sowie der Orientierung an narzisstischen Werten und Kriterien wie Rang, Status,6 Macht (Z. 808), körperlicher und geistiger Intaktheit und Stärke. Setzen wir die Erfahrungen der beiden Generationen miteinander in Beziehung, so fällt die Wiederholung der frühen Trennungstraumata bzw. der belasteten Bindungen an die Primärobjekte ins Auge. Der wie ein Straßenkind aufgewachsene Vater ist zwar in der frühen Kindheit seiner Tochter ein für chinesische Verhältnisse relativ wohlhabender Mann, aber er ist mit einer beruflich sehr engagierten Frau verheiratet, so dass die Tochter durch unterschiedliche Personen betreut und durch einen Wo»Meine Art, Menschen zu behandeln, genügt nicht […] viel von den negativen Emotionen habe ich an dem Kind abreagiert« (Z. 292 – 313, 590 – 596). 6 Z. 789 – 799: Heiratskandidaten, Z. 866 – 874: Klassenkameraden in der Kaderschule. 5

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chenkindergarten traumatisiert wurde. Diese Traumatisierung liegt noch vor dem Beginn der Kulturrevolution, die später für die Tochter erneute Traumatisierungen mit sich brachte. Sie ist in dieser Abfolge ähnlich wie ihr Vater kumulativ traumatisiert. Aber im Unterschied zu ihrem Vater hat sie offenbar doch mehr psychische Verarbeitungsmöglichkeiten erworben, so dass sie in der Kommunistischen Partei keine Ersatzfamilie suchen muss und deren Aktionen in der Kulturrevolution als das erlebt, was sie sind: als brutale Fremdbestimmung, als Raub und Zerstörung. Sie kann sich deshalb Hassgefühle gegen diese Eindringlinge erlauben, wobei es eine offene Frage bleibt, inwieweit sie auf diese Angreifer zugleich einen Hass lenkt, der den traumatisierenden Objekten der frühen Kindheit galt. Ihr Hass, und dies erscheint mir in transgenerationaler Perspektive bedeutsam, bringt stellvertretend für ihren Vater einen Affekt zur Geltung, den dieser sich bis heute nicht erlaubt und der offenbar in der Familie kein aufnehmendes Verständnis (i. S. eines Containments) erfahren hat. Interpretieren wir auf diese Weise, wenden wir psychoanalytische Konzepte, die wiederum auf den in Europa entwickelten psychoanalytischen Theorien basieren, auf Chinesen und damit auf einen uns fremden kulturellen Kontext an. Dabei ergibt sich grundsätzlich ein Konflikt zwischen der Wahrnehmungs- und Verständnisstruktur des Beobachters, aus der dieser nicht so ohne weiteres herauskann, und der des Beobachteten. Dieser Konflikt erscheint einerseits nicht harmonisch auflösbar, andererseits bildet er für Psychoanalytiker nicht nur in der Begegnung mit Chinesen ein tägliches Arbeitsfeld: Denn jeder Patient konfrontiert uns insofern mit einer fremden »Ethnie«, als seine Innenwelt uns fremd ist. In jeder Psychoanalyse versuchen wir einen methodisch geleiteten Zugang zum Verständnis des Fremden zu finden, ein Unternehmen, das bei der Begegnung mit Chinesen aufgrund der anderen Kultur und Sprache um ein vielfaches in seiner Problematik gesteigert ist. Es bedarf daher zusätzlichen Wissens um die chinesische Geschichte, Kultur und die wesentlichen, die dortige Sozialisation leitenden Prinzipien, um zumindest im Ansatz angemessen verstehen und beurteilen zu können. Einige Gesichtspunkte dazu möchte ich kurz andeuten: © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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In den Traditionen des Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus spielt das Ertragen beziehungsweise Erdulden von Leid eine zentrale Rolle. Das chinesische Schriftzeichen Ren, (gesprochen: schen, geschrieben: ) symbolisiert beispielsweise als zusammengesetztes Zeichen in seinem oberen Teil ein Messer, im unteren ein Herz. Gemeint ist, dass man das Messer im Herz belassen soll: Würde man es herausziehen, müsste man sterben. Das Leiden zu erdulden, sich nicht darüber aufzuregen, zu empören oder dagegen aufzulehnen, gehört zu den Vorstellungen psychischer Reife in China. Man nimmt die Unbill des Lebens hin wie Naturereignisse, so dass auch die Kulturrevolution als »Schicksal« vom Charakter eines Naturereignisses verstanden werden kann: etwas, das schlimm und bedauerlich, aber eben nicht zu vermeiden war, das hinzunehmen ist. Im anthropologischen Sinn geht es so verstanden um eine Kontingenzerfahrung, eine nicht zu beeinflussende und deshalb nur zu erleidende Fügung. Insofern zeigt sich das traditionelle China von uns aus gesehen als eine prämoderne Gesellschaft, jenseits dessen, was wir infolge der europäischen Aufklärung mit dem Begriff des Individuums und seiner Stellung in der Gesellschaft verbinden. Diese Sichtweise betont die Autarkie des Einzelnen, der sein eigenes Denken, seine Vernunft zur obersten Richtschnur macht (Kant, 1784/1999). So bildet der Begriff des »Bürgers«, als eines Gesellschaftsmitgliedes, das seine persönlichen Interessen und Ziele, worin er sich von den anderen unterscheidet, verfolgt, den aufgeklärten Gegenpol eines chinesischen Selbstverständnisses, das den Einzelnen als angepassten Teil einer Gesellschaftsfamilie definiert. Das konfuzianische Denken versucht gerade die gesellschaftliche Ordnung durch Einbindung des Einzelnen in die Familie und die sie umgebenden Gruppen zu erreichen. Die Rückstellung persönlicher Wünsche, die Etablierung eines WirBewusstseins und das Streben nach Abhängigkeit definieren die Gegenpole zu unserem abendländischen Menschenbild mit dem Streben nach Glück, Ich-Bewusstsein und dem Ziel persönlicher Unabhängigkeit. Dies müssen wir uns vergegenwärtigen, wenn wir – um auf die beiden Interviewausschnitte zurückzukommen – verstehen wollen, wie für Chinesen eine Traumaerfahrung erlebt, verar© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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beitet und an die nächste Generation weitergegeben wird. Bezogen auf die obigen Interviews müssen wir fragen, was ein »strenges Über-Ich« bzw. ein »hohes Ich-Ideal« in einem kulturellen Kontext bedeutet, der konfuzianisch dem Respekt vor Autoritäten seit über 2000 Jahren einen zentralen Wert einräumt und der in jeder Kommunikation versucht das direkte »Nein« zu vermeiden. Oder : Was heißt eine »depressiv-resignative Grundstimmung« in einer Gesellschaft, die als ReifeIdeal das Erdulden des Leids so hoch besetzt ? Oder : Wie definiert sich »persönliches Wachstum« in einem sozialen Raum, der den Einzelnen im Wesentlichen von seiner Übereinstimmung mit der ihn umgebenden Gruppe her definiert? Oder : Welchen Raum darf der Einzelne der Wahrnehmung seines Leidens, seinen traumatischen Erfahrungen in einer Kultur geben, die psychische Reife mit einem hohen Maß an Leidensbereitschaft verbindet ?

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Chinesische Schatten der Kulturrevolution (1966 – 1976)

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Tomas Plänkers

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Tilmann Habermas

Moralische Emotionen Ärger in Alltagserzählungen

Als Prototyp einer emotionsauslösenden Situation wird gerne die Begegnung mit einer Schlange präsentiert. Doch untypischer könnte die Situation kaum gewählt sein, da Emotionen doch wesentlich eine soziale Reaktionsweise sind. Ihrem sozialen Charakter widersprechen weder ihre Unwillkürlichkeit und noch ihre oft auch körperlichen Qualitäten. Hier soll der soziale Charakter, ja der besonders normative Charakter von Ärgeremotionen anhand von Erzählungen alltäglicher Ärgernisse exploriert werden. Dabei werden drei Beobachtungen berichtet: Ärger wird zwar auch durch Frustrationen hervorgerufen, vor allem aber durch ungerechtfertigte Schädigungen, für die jemand verantwortlich zu machen ist, wobei diese Schädigungen durch Missachtung zustande kommen. Es deutet sich zudem an, dass sich Frauen häufiger über Missachtung, Männer über Frustrationen ärgern. Schließlich werden formale Besonderheiten von Ärgererzählungen auf die Notwendigkeit zurückgeführt, diese Emotion mehr als andere zu rechtfertigen; einige der dazu eingesetzten erzählerischen und rhetorischen Mittel werden in drei Beispielerzählungen identifiziert.

Der soziale Charakter von Emotionen Rolf Haubl hat die Sozialität von Emotionen an den Beispielen des Neides (Haubl, 2001) und des Hasses (Haubl, 2007) systematisch wie historisch aufgefächert: – Emotionen werden in der Regel durch andere Menschen her© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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vorgerufen und richten sich auf sie: Beneidens- und hassenswert können nur andere Menschen sein; – die auslösenden Situationen bedürfen zumeist einer kulturell informierten Deutung und Wertung: Um beneidet zu werden, muss die Habe des Anderen als wertvoll geschätzt und begehrenswert gedeutet werden sowie mit dem eigenen NichtHaben verglichen werden, und um gehasst zu werden, sind die charakterlichen Eigenschaften Anderer als bedrohlich und zutiefst verurteilenswert zu deuten; – die Antizipation der Emotion durch ein Gegenüber lenkt dessen Handlungen: Antizipierter Neid mag zu bescheidenem Auftreten, Verbergen von Wohlstand und auch symbolischen Abwehrhandlungen, beispielsweise gegen den neidischen bösen Blick, motivieren. Darüber hinaus können Emotionen auch von mehreren Personen geteilt werden und ebenso auf Gruppen gerichtet sein. Kollektive Emotionen, die sich auf Kollektive richten, sind ein Kernthema der Sozialpsychologie der kollektiven Identitäten und Gruppenbeziehungen, die Phänomene behandelt wie kollektiven Neid und Neidvorwurf (»Sozialneid«), kollektive Neidkontrolle und umgekehrt auch soziale Kontrolle durch Neid. Emotionen unterliegen auch ihrerseits kollektiven Wertungen. Emotionen werden zu manchen Zeiten geschätzt, zu anderen verpönt. So erfuhr die Melancholie in der frühen Neuzeit eine Wertschätzung als der Besinnung naher emotionaler Zustand, während die Depression heute als Zustand der Untätigkeit negativ bewertet wird. Zwei weitere wesentliche Aspekte von Emotionen tragen zu ihrem intrinsisch sozialen Charakter bei, nämlich ihr kommunikativer und ihr normativer Charakter.

Kommunikation und Erzählung Emotionen involvieren neben einer Situationsdeutung als persönlich bedeutsame Abweichung vom Normalzustand, die nicht ohne weiteres behoben werden kann, eine prompte emotionale Reaktion mit bis zu drei Aspekten: körperlichen Veränderungen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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der Handlungsbereitschaft, expressiven Veränderungen der Mimik, der Stimme und der Körperhaltung sowie subjektiven Veränderungen der Gefühlslage. Diese Reaktionen werden als Handlungsbereitschaft gedeutet, deren Umsetzung in Handlungen unreflektiert vonstatten gehen oder auch reflektiert werden kann (Frijda, 1986). Der wesentlich kommunikative Charakter von Emotionen setzt an der expressiven Emotionskomponente an, die dem Gegenüber, dem die emotionale Reaktion gilt, aber auch unbeteiligten Beobachtern signalisiert, welche Handlungsbereitschaft im Entstehen begriffen ist, auf die wiederum, dem angedeuteten Handeln zuvorkommend, das Gegenüber reagieren kann (Darwin, 1872). Emotionen motivieren zu über die ursprünglich emotionsauslösende Situation hinausgehender Kommunikationen, indem sie das Bedürfnis schaffen, anderen das Erlebnis mitzuteilen (Rim, 2009). Das wesentliche kommunikative Format einer solchen Mitteilung ist die Erzählung, die eine vergangene Ereignisfolge in der ursprünglichen Reihenfolge wiedergibt und bewertet. Umgekehrt können emotionalisierende Situationen geradezu aufgesucht werden, nicht um die Situationen wie einem Wiederholungszwang folgend tatsächlich zu reinszenieren, sondern gerade, um die Emotionen ohne die entsprechenden Situationen zu erleben: Dafür eignen sich wiederum Erzählungen, die gezielt gehört, gelesen und gesehen werden. Deshalb gehören Erzählungen zu den wichtigsten emotionsauslösenden Situationen (Ekman, 2003). Erzählungen verfügen also über emotionsexpressive und -kommunikative Funktionen auf der Sprecherseite wie über emotionsevokative Funktionen auf der Hörerseite. Für den Sprecher kann das Erzählen kathartische, kognitive wie soziale Funktionen haben. Zu letzteren gehört die Bestätigung der Richtigkeit des eigenen Handelns und der eigenen Reaktionen, die Hörer durch eine mitfühlende, bestätigende Reaktion signalisieren (Fiehler, 1990). Zuhörer sind je nach Beziehung zum Sprecher durch Reziprozitätsnormen zum solidarischen Zuhören verpflichtet.

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Emotionsnormen Emotionen unterliegen mehrfach einer normativen Regulierung. Eine erste Normierung erfahren sie durch die Beziehung zwischen prototypischem Auslöser und emotionaler Reaktion, die ich als Emotionsregel bezeichnen möchte: Gewisse Situationen legen bestimmte emotionale Reaktionen nahe. Reagiert jemand nicht mit der durch die Situation erforderten, naheliegenden Emotion, fragt sich der Beobachter, was nicht stimmt, beispielsweise ob der Betroffene die Situation anders verstanden hat oder er seine Emotionen unterdrückt oder unbewusst abwehrt. Diese normative Beziehung zwischen Situationsbedeutung und Emotion ist emotionskonstitutiv. Weitere Normen sind emotionsregulativ, insofern sie den situativ und personal angemessenen Emotionsausdruck (display rules – Ekman, 2003) und die angemessenen Gefühle (feeling rules – Hochschild, 1983) definieren, nach deren Maßgabe die sich unreflektiert einstellende emotionale Regung zu modulieren bzw. langfristig zu erziehen ist. Regulative Normen können sowohl erfordern, Emotionen zu unterdrücken wie sie zu einer anderen Emotion zu verändern oder gar erst zu produzieren. Die regulativen Normen unterliegen stärker kulturellen und situativen Variationen. Zu den wesentlichen situativen Faktoren gehören die Rollenidentitäten der beteiligten Personen, aus denen sich spezielle Verpflichtungen und Rechte ergeben. Das Befolgen von Darbietungs- und Gefühlsnormen ist einklagbar, und zwar auch von Erzählern. Werden sie verletzt, führt es zu Vorwürfen und einer negativen Bewertung der Person. In einer Studie von Leserreaktionen auf autobiografische Verlusterzählungen zeigte sich das darin, dass sie auf eine zu wenig emotionale Erzählung mit Vorwürfen gegenüber dem Erzähler reagierten, unaufrichtig und psychisch gestört zu sein. Verletzen also Erzähler persönlicher Erlebnisse Emotionsnormen, dann können Zuhörer die geforderte Solidarität und das Mitgefühl verweigern (Habermas u. Diel, 2010).

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Moralische Emotionen

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Normen in Ärgeremotionen Meist sind Darbietungs- und Gefühlsnormen mit Konventionen begründet, wie man leben und wie man respektvoll miteinander umgehen sollte. Moralische Emotionen in etwas engerem Sinne sind Schuldgefühle und Dankbarkeit, wenn ich den Anderen ungerechtfertigterweise geschädigt habe oder der Andere mir über seine Pflichten hinausgehend etwas Gutes getan hat. Umgekehrt kann jemand, der mir oder einem Dritten ungerechtfertigterweise schadet, Ärger bzw. Empörung hervorrufen. Ärgeremotionen setzen nicht immer, aber typischerweise Urteile mit einer moralischen Dimension voraus: Nur dann wird Ärger als gerechtfertigt beurteilt, wenn jemand ungerechtfertigterweise geschädigt wird, wofür jemand verantwortlich gemacht werden kann. Zwar kann man sich auch zu Recht über einen unverantworteten Schaden wie beispielsweise unglückliche Zufälle ärgern, doch sind diese nicht moralisierbaren Ärgeranlässe in der Minderzahl (Weber, 1994). Ontogenetisch entwickelt sich Ärger von dem einfachen Ärger über eine Behinderung hin zu einem gezielten Ärger über Missetäter, die eine ungerechtfertigte Behinderung oder Schaden verantworten (Mascolo u. Griffin, 1998).

Ärger in Erzählungen alltäglicher Erlebnisse Die Besonderheit von Normen in Ärger und Ärgererzählungen soll nun weiter exploriert werden. Dazu werde ich einmal Geschlechtsunterschiede in der Benennung von Emotionen in autobiografischen Erzählungen untersuchen. Dann werde ich die relative Häufigkeit moralisierbarer und nicht moralisierbarer Auslöser für Ärger in Ärgererzählungen explorieren. Schließlich sollen exemplarisch an einigen Ärgererzählungen narrative Mittel der Anklage und Rechtfertigung herausgearbeitet werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Benennen von Ärger in autobiografischen Erzählungen – Geschlechtsunterschiede Männer gelten als aggressiver als Frauen (Maccoby u. Jacklin, 1974). Die Darbietungsregeln sind allerdings differenzierter, da sie Frauen zwar weniger Ärger im öffentlichen Kontext zugestehen, aber mehr im Privatbereich (Hutson-Comeaux u. Kelly, 2002), wie sich im tatsächlich stärkeren Ärgerausdruck von Frauen im Privatbereich und oft stärkeren Ärgerausdruck von Männern im beruflichen Bereich bestätigt (Bongard, Martin, Seip u. al’Absi, 2011). Beim autobiografischen Erzählen sprechen Frauen, falls sich Geschlechtsunterschiede zeigen, insgesamt häufiger über Emotionen als Männer (Fivush u. Buckner, 2003). Das bestätigt sich in einer Studie an 15 bis 40 Minuten langen Lebenserzählungen von 22 Frauen und 18 Männern zwischen 33 und 75 Jahren, von denen je die Hälfte klinisch depressiv war (Habermas, Ott, Schubert, Schneider u. Pate, 2008), in der Frauen mehr positive und mehr negative Emotionen benannten. Das galt aber nicht für jede einzelne Emotion: So benannten Frauen zwar mehr Traurigkeit, aber weniger Angst, während die Häufigkeit von Ärgerbenennungen nicht von der der Männer abwich. In einer weiteren Studie an 10- bis 15-minütigen Lebenserzählungen von insgesamt 102 Acht- bis Zwanzigjährigen beiderlei Geschlechts allerdings benannten Frauen nur mehr negative, aber nicht mehr positive Emotionen. Vor allem aber benannten sie nicht nur erneut weniger Angst- und mehr traurige Gefühle, sondern diesmal auch mehr Ärger.

Erzählte Ärgernisse – Frustration, Normverletzung oder Missachtung? Nach klassischer motivationspsychologischer Auffassung wird Ärger durch Frustration von Zielerreichungshandlungen ausgelöst. Kognitive Emotionstheorien hingegen sehen ungerechtfertigte Schädigungen, die einem Handelnden als intendiert oder zumindest verantwortet zugeschrieben werden können, als Kern © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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der Ärgerauslösungen (Averill, 1982; Mees, 1992; Ortony, Clore, u. Collins, 1988). Zwei Klassen von Ärgeranlässen passen jedoch nicht dazu, nämlich Ärger über hinderliche Gegenstände sowie Gewohnheiten, Aussehen oder Charaktereigenschaften anderer (Weber, 1994), die vielleicht am ehesten dadurch verärgern, dass sie gegen die ästhetische Empfindsamkeit und bevorzugten Lebensweisen verstoßen. Verlangt Ärger das Vorliegen unmoralischer Handlungen in dem engen Sinn von moralisch falschen, das Prinzip der Gerechtigkeit verletzenden Handlungen? Die Bestimmung der ungerechtfertigten Schädigung legt eher nahe, dass Ärger Verletzungen des moralischen Prinzips des Wohlwollens voraussetzt. Das entspricht den ontogenetisch frühen Auslösern von Schuldgefühlen auf der Täterseite (Klein, 1962; Zahn-Waxler, Kochanska, Krupnick u. McKnew, 1990). Allerdings legen die detaillierten Analysen von Transkripten psychoanalytischer Behandlungen Erwachsener durch Helen Lewis (1971) und die Arbeiten Thomas Scheffs (z. B. Scheff u. Retzinger, 1991) eine Präzisierung der Auslösesituationen von Ärger nahe. Denn diese Autoren beschreiben eine sehr spezifische Sequenz von zwei Emotionen, wobei die spätere die frühere Emotion temporal ablöst, dynamisch abwehrt. Sie beschreiben, wie auf unmerkliche Beschämungen sehr häufig Ärgerreaktionen folgen, die, da aktiver, besser zu ertragen sind als passive Scham. Und Kohut (1971) beschreibt, wie Kränkung nicht nur durch Rückzug oder Kompensation, sondern auch durch Wut, also intensiven Ärger, abgewehrt werden kann. Diese Theorien legen nahe, dass eine wesentliche Quelle für Ärger nicht primär moralische Vergehen, sondern Kränkungen sind. Kränkungen setzen die Person in ihrem Wert öffentlich herab. Im Folgenden möchte ich untersuchen, ob nicht eine wichtige Gruppe ärgerauslösender Ereignisse beschämende und kränkende Ereignisse sind. Diese Vermutung wird indirekt gestützt durch eine Studie von Gerold Mikula und Kollegen (Mikula, Petri u. Tanzer, 1990), die Studierende nach Ereignissen befragten, in denen sie sich ungerecht behandelt gefühlt hatten. Nur bei einem kleineren Teil der Nennungen ging es um moralische Fragen im engeren Sinne beispielsweise der prozeduralen oder distributi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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ven Gerechtigkeit. Meist handelte es sich um Situationen, in denen die Befragten sich respektlos behandelt fühlten oder in denen Nahestehende sich illoyal verhielten (s. a. Miller, 2000). Diese Situationen bergen ein Schampotenzial, insofern sie die Betroffenen entwerten und bloßstellen. Zugleich werden diese Situationen der Bedingung gerecht, die kognitive Emotionstheorien für ärgerauslösende Situationen benannt haben, nämlich ungerechtfertigte Schädigungen zu sein. Respektloser oder illoyaler Umgang schädigen das Gesicht, das Ansehen, die Wertschätzung einer Person und sind ungerechtfertigt. Es handelt sich allerdings nicht um moralische Verfehlungen im engeren Sinne, aber doch um Verletzungen der grundlegenden Reziprozitätsnorm sozialer Interaktion, derzufolge jeder Mensch zu achten sei. Die normativ erwartbare Achtung allerdings folgt nicht universellen Gerechtigkeitsnormen, sondern lokalen, rollenspezifischen, ja beziehungsspezifischen Erwartungen (Habermas, 1999). Um den Charakter von alltäglichen Auslösesituationen für Ärger zu explorieren, nutze ich 120 Ärgererzählungen, die Michaela Meier und Nadine Berger für ihre Diplomarbeiten erhoben. Sie baten dreißig junge Frauen unter anderem um vier Erzählungen ärgerlicher Erlebnisse von vor einer Woche und von vor drei Monaten (Habermas, Meier u. Mukhtar, 2009; Habermas u. Berger, 2011). In einer nachträglichen Klassifizierung habe ich die Identität des Ärgernden (Frau, Mann, selbst, geschlechtlich unbestimmte Andere, anonyme Andere bzw. niemand) kodiert, den Lebensbereich, in dem sich das Ereignis abspielte (privat, Beruf, Studium, Alltag), sowie die Art des Ärgernisses. Dabei unterschied ich Frustrationen zielgerichteter Handlungen (z. B. eine Klausur nicht schaffen), ungerechte Handlungen oder Behandlung (z. B. Terrorangriff, Benotung), gezielte persönliche Angriffe und Beleidigungen (z. B. Streit, ausgespielt werden), unhöfliche und missachtende Behandlung durch andere (z. B. zu spät kommen, vergessen werden), Gewohnheiten und Lebensweise anderer (z. B. Freund will nicht zum Arzt gehen, verbohrte Überzeugungen) sowie Missgeschicke und Pech (z. B. Schlüssel verlieren; s. Tab. 1). Die Kategorie der Angriffe und Beleidigungen erfasst unter anderem moralisch falsche Handlungen, während die Kategorie der unhöflichen und missachtenden Erleb© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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nisse sich auf im engeren Sinne nichtmoralische, aber doch Reziprozitätsnormen verletzende, kränkende Handlungen und vor allem Unterlassungen bezieht. Tabelle 1: Prozentuale Anteile von Ärgerauslösern und deren personale Identität in 120 Erzählungen alltäglicher Ärgererlebnisse Insgesamt Frau Mann Selbst Andere Niemand Anzahl Erzählungen Frustration Ungerechtigkeit Angriff, Beleidigung Missachtung Gewohnheiten Anderer Missgeschick, Pech Summe

120

31

50

10

9

20

25,0 5,8 14,2

12,9 — 19,4

8,0 4,0 22,0

70,0 — —

33,3 11,1 —

60,0 20,0 —

35,0 11,7

41,9 25,0

52,0 8,0

— —

33,3 22,2

— —

8,3



6,0

30,0



20,0

100

100

100

100

100

100

Insgesamt bezogen sich ein Viertel der ärgerlichen Situationen auf Frustrationen eigener zielgerichteter Handlungen, aber über die Hälfte auf ungerechtfertigte Schädigungen durch Andere. Von diesen entfielen ein gutes Drittel aller Erlebnisse auf kränkende Erfahrungen des Missachtet-Werdens, ein Siebtel auf Angriffe und einige wenige auf ungerechte Behandlung. Schließlich wurden auch einige unverantwortete Missgeschicke sowie immerhin in einem guten Zehntel aller Fälle die ärgerlichen Lebensweisen Anderer genannt. Damit bestätigt sich zum einen, dass Frustrationen seltener der Anlass für Ärger sind als durch andere verursachte Schädigungen. Zum anderen bestätigt sich die Erwartung, dass jedenfalls in dieser Gruppe junger Frauen ein wesentlicher Anteil der Ärgernisse in kränkenden Erfahrungen der Missachtung und mangelnden Respekts bestehen, wobei auch die direkten Angriffe oft einen solchen kränkenden Charakter haben können. Die Ärgernisse stammten zur Hälfte aus dem Privatbereich der Erzählerinnen und je zu einem Viertel aus Studium oder Beruf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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sowie aus dem Alltag. Zwar haben wir nur Erzählungen von Frauen erhoben, so dass hier keine Geschlechtsunterschiede im Erzählen untersucht werden können. Mascolo und Griffin (1998) berichten allerdings, dass Männer sich häufiger über Frustrationen und Angriffe ärgerten, Frauen häufiger über Missachtungen und Verletzungen beziehungsspezifischer Erwartungen und häufiger über Ungerechtigkeiten. Tabelle 1 zeigt, dass die Frauen sich etwas häufiger über Männer als über Frauen ärgerten, aber auch über nicht einem personalen Verursacher zuordenbare Ärgernisse sowie über sich selbst. Insbesondere fällt auf, dass sie sich etwas häufiger über Missachtungen, Angriffe und Ungerechtigkeiten von Männern als von Frauen ärgerten, aber sehr viel häufiger über den Lebensstil anderer Frauen. Für Frustrationen hingegen war meist entweder niemand oder man selbst schuld. Die Exploration der ärgerauslösenden Erlebnisse in Ärgererzählungen junger Frauen scheint zu bestätigen, dass es vor allem Erfahrungen des Missachtet-Werdens sind, die einen ärgern. Das trifft zwar auch auf die Interaktion mit Fremden zu: In Jack Katz’ (1999) Studie von Ärger im Straßenverkehr macht die Achtlosigkeit und Selbstzentriertheit der anderen Fahrer den Kern des Ärgers von Autofahrern aus. Dennoch wiegt Missachtung offensichtlich am schwersten, wenn Achtung einklagbar ist, nämlich in speziellen Beziehungen, insbesondere Liebesbeziehungen. Das prototypische Ärgernis dieser jungen Frauen ist ihr Freund oder Mann, der zu spät kommt und sie warten lässt.

Narrative Rechtfertigung von Ärger – Schadensgröße, Normverletzung und Verantwortlichkeit Emotionen müssen sich rechtfertigen. Wird ein Erlebnis erzählt, erwartet der Erzähler Mitgefühl und Solidarität. Dafür muss er seine Handlungen und Emotionen als gerechtfertigt darstellen. Bei ängstigenden Erlebnissen genügt es, die Gefahr und ihre Brisanz plausibel zu machen, bei traurigen Erlebnissen, den Verlust und seine Bedeutung herauszustreichen – es bedarf also keiner Urteile über die Richtigkeit und Zuschreibbarkeit von © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Handlungen. Schuld- und Ärgergefühle hingegen erfordern eine moralische Beurteilung der Situation. Ärgererzählungen sollten sich also vor Erzählungen von Erlebnissen, die andere Emotionen auslösen, durch vermehrte Rechtfertigungen auszeichnen. Dieser zusätzliche Rechtfertigungszwang fiel uns zuerst bei einem Vergleich von Ärgererzählungen mit Erzählungen von ängstigenden, traurigen, stolz machenden und freudigen alltäglichen Erlebnissen auf (Habermas, Meier u. Mukhtar, 2009). Die Erzählungen ärgerlicher Erlebnisse waren die längsten. Das lag vor allem an zwei Komponenten. Sie enthielten den höchsten Anteil narrativer Sätze (die eine Ereignisfolge erzählen, typischerweise in der Form von »und dann …, und dann …«), und sie wiesen zusammen mit den Erzählungen ängstigender Erlebnisse den höchsten Anteil an Redewiedergabe auf. Das passt zu den konversationsanalytischen Beobachtungen, dass rechtfertigende Erzählungen sich häufig eines defensiven Detaillierens bedienen (Jefferson, 1985) und besonders viel direkte Rede enthalten (Drews, 1998). Allerdings enthielten in unserem Korpus die Angsterzählungen vor allem in direkter Rede wiedergegebene innere Monologe, Ärgererzählungen hingegen häufiger indirekte Rede. Unterteilt man die Erzählungen in die Erzählabschnitte Erzählankündigung, Orientierung, Komplikation, Lösungsversuche, Resultat und Erzählausleitung, dann nahmen bei den Ärgererzählungen die Lösungsversuche und Resultate vergleichsweise mehr Raum ein. Scheinbar ergaben sich alle diese Besonderheiten von Ärgererzählungen dadurch, dass sie in den Abschnitten über Lösungsversuche und Resultat mehr in indirekter Rede wiedergaben, was Einzelne gesagt hatten, um die eigene ärgerliche Reaktion zu rechtfertigen. Indirekte Rede weist den Vorteil vor direkter Rede auf, eine explizite Qualifizierung der berichteten Äußerung durch den Erzähler mittels der verba dicendi (z. B. »er behauptete …«, »sie gab vor …«) zu ermöglichen. Rechtfertigende Argumentationen sind zusammen mit Entschuldigungen als accounts untersucht worden (Schönbach, 1990; Scott u. Lyman, 1968). Sie werden von Erzählern verwendet, die eine Handlung als gerechtfertigt, zumindest entschuldbar oder als gar nicht erst problematisch (meta-account) darstellen, also dem Tätervorwurf entgehen möchten. Um Ärger zu recht© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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fertigen, muss sich der Erzähler hingegen als Opfer eines verantwortlichen Täters darstellen. Geringeren Anforderungen unterliegt er, wenn er sich über Frustrationen, Missgeschicke und Lebensweisen Dritter ärgert. Im Folgenden ziehe ich drei Erzählungen heran (ein unpersönliches Missgeschick und zwei Erlebnisse des MissachtetWerdens), um die Formen zu untersuchen, die in Ärgererzählungen zur Rechtfertigung von Ärger eingesetzt werden. Alexandra Sadtler, Dilara Yüksel, Magdalena Kuhn und ich sind damit befasst, in Ärgererzählungen typische Rechtfertigungsstrategien zu identifizieren mit dem Ziel, sie in einem neuen Korpus von Ärger- und Angsterzählungen systematisch zu erfassen. Hier geht es vorerst darum, exemplarisch einige solcher Rechtfertigungsstrategien zu beschreiben. Orientieren wir uns an den genannten Komponenten der Bewertung einer Situation als Ärgernis, dann muss belegt werden: – die Schädigung und ihre Erheblichkeit, – die Verletzung von Normen durch die Schädigung, – die Identifizierung eines ursächlich und absichtlich bzw. fahrlässig oder durch Unterlassung Verantwortlichen, – dass die Ärgeräußerung bzw. durch den Ärger motivierte Handlungen gerechtfertigt sind. Erhebliche Schädigung: Emotionen sind nur gerechtfertigt, wenn die Auslösesituation tatsächlich eine gravierende Beeinträchtigung der persönlichen Interessen bedeutet. Für Ärger ist es wesentlich, dass der entstandene Schaden beträchtlich genug ist, um eine aggressiv-ärgerliche Äußerung zu rechtfertigen, die ihrerseits starken Gefühls- und Darbietungsregeln unterliegt. In dieser Erzählung eines Missgeschicks wird ein erheblicher Aufwand betrieben, um die Höhe des Schadens zu verdeutlichen, die dadurch zustande kommt, dass der PC die Erzählerin frustriert:

»PC streikt« Das ist meine Semesterarbeit natürlich, weil ich da total überfordert bin, und ich sitz da also und dann einen Tag saß ich da und hab das – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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ich muss des jetzt früher abgeben, weil ich nach Hause fahre und bin nicht zu dem Abgabetermin hier, und ich saß da, und ich kam nicht vorwärts, und irgendwann ist mir diese ganze Formatierung im PC flöten gegangen, ich hab gedacht, ich heule, also ich war so sauer über diesen ganzen Stress und irgendwie so, wenn man sich da so hilflos eigentlich fühlt, dass man da sitzt und sich nicht helfen kann, und ich kann ja auch jetzt nicht jemanden anrufen, »Komm und hilf mir«, also ich hab ne sehr nette Kommilitonin, die mir dann immer halt mit so Sachen hilft oder mir die Sachen korrigiert, natürlich auch die Grammatik, aber da war irgendwie, da war der Punkt, wo ich mir gedacht hab, jetzt schmeiß ich das Studium hin, jetzt ist mir das alles zu viel, und also über diese Semesterarbeit sowieso, also ich find, ich bin damit völlig überfordert, und an dem Tag war ich auch total sauer, also da, da hat’s mich schon geärgert, also ich weiß, ich hab den ganzen Tag geschrieben, weil ich damit fertig werden wollte, also oder zumindest den Teil, den ich mir da vorgenommen hatte, und ich kam einfach nicht vorwärts ja, und ich find des, also für mich ist des ne katastrophale Situation, also ich nehm’ das dann richtig persönlich, also ich fühl mich dann von meinem PC persönlich angegriffen, dass er nicht so macht, wie ich das will, und das das fand ich ganz schlimm, ja.

Um zu rechtfertigen, dass ein Verrutschen der Formatierung einer Semesterarbeit sie derart aus der Fassung bringen kann, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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konstruiert sie eine Kaskade sich steigernder Einschränkungen ihrer Handlungsmöglichkeiten: Sie ist total überfordert, sie muss das Referat früher abgeben (unverschuldet, denn sie kann nichts dafür, dass sie zurück in ihre ferne Heimat muss), und sie kommt an dem Tag ohnehin nicht recht voran, bis dann der PC sie in die Verzweiflung treibt (10). Dieser Höhepunkt, der zugleich die Komplikation darstellt, wird mittels einer idiomatischen Ausdrucksweise (»flöten gegangen«) markiert, was typisch für die Markierung des Ärgernisses ist (Drew u. Holt, 1988). Die verbleibende Erzählung ist der Bewertung dieser Komplikation gewidmet, Lösungsversuche werden nicht berichtet. Der Schaden ist so groß, da sie völlig hilflos ist und sich nicht helfen kann, die Semesterarbeit doch noch abzuschließen. Auch der Ausweg, jemanden um Hilfe zu bitten, wie sie das sonst tut, scheint verbaut. Es ist so schlimm, dass sie heulen könnte und nahe dran ist, das ganze Studium aufzugeben. Sie wiederholt ihre Überforderung, und in Zeilen 31 bis 36 schildert sie erneut, wie angespannt ihre Lage vorher schon gewesen war, weshalb dieses relativ kleine Unglück einen derart großen Schaden anrichten konnte. Das Ausmaß des Schadens kann durch den Einsatz eines weiteren Mittels unterstrichen werden, das Pomerantz (1986) als Extremfallformulierung bezeichnet: »die ganze Formatierung« und »den ganzen Tag« (32) beschreibt die Mengen als maximal, »total überfordert« (2) das Ausmaß als maximal, »jetzt schmeiß ich das Studium hin« (24) die maximale Zielaufgabe. Ein weiteres Mittel, die Größe des Schadens zu unterstreichen, ist der Vergleich mit anderen möglichen Ereignisverläufen (Labov u. Waletzky, 1967; Labov, 1997), so wie die Erzählerin durch den Vergleich mit dem tut, was normal gewesen wäre, nämlich nicht früher abgeben zu müssen (5), und mit dem Vergleich, was sie hätte erreichen wollen ohne das Unglück, nämlich fertig werden (31 – 33). Normverletzung: In der obigen Erzählung wird lediglich eine funktionale Norm verletzt, da ein Gerät nicht so funktioniert, wie es sollte. Die Normverletzung wird nicht expliziert im Unterschied zu der folgenden Erzählung, in der es um eine Missachtung durch den Freund geht:

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»Verpasstes Inlineskaten« Also das war, da hab ich mit meinem Freund gestritten, weil wir eigentlich abgemacht hatten, dass wir am Abend zusammen Inlineskaten und da hatten wir abgemacht, dass das um halb acht sein wird, weil es auch eigentlich schon recht schlechtes Wetter war und das eigentlich ausgesehen hatte, als würd’ es noch mal regnen, und dann wollt’ er halt vorher alleine Fahrradfahren in den Wald. Und dann ist er eine ganze Stunde zu spät gekommen. Und dann hat er halt gesagt, dass er keine Uhr da hatte, und ich bin aber der Meinung, dass man eine Stunde Verspätung merkt, selbst also – Das war dann schon blöd, weil dann war’s mir auch zu spät, und dann hatt’ ich keine Lust mehr, und dann hab ich mich geärgert, und dann hab ich, um ihn halt zu strafen, hab ich halt beschlossen, dass wir halt joggen gehen, weil ich weiß, dass er das nicht gerne macht, und dann sind wir halt nur noch ne halbe Stunde joggen gegangen statt inlinezuskaten.

Die Erzählerin führt die Norm an, Verabredungen einzuhalten, und begründet im Einzelnen, weshalb diese Verabredung nicht nur vereinbart (3 – 6), sondern auch überhaupt vernünftig getroffen war (7 – 8). Der Normbruch wird mit der Formulierung »zu spät« markiert (11). Er wird dann noch gesteigert durch den Bruch der beziehungsspezifisch besonders wichtigen Norm der Aufrichtigkeit, den sie in indirekter Rede berichtet (12 – 13). So demonstriert sie, dass der Freund wirklich eine unglaubwürdige Ausrede benutzte, was sie dann durch das Kontrastieren mit Selbstverständlichkeit unterstreicht (14 – 15). Zu dem Schaden des Vertrauensbruchs fügt sie den Schaden hinzu, dass die richtige Zeit für Inlineskaten und ihre Lust dazu vergangen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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waren (17 – 18). In dieser Erzählung wird eine allgemeine Norm, die des Sprechakts des Versprechens, gebrochen sowie die beziehungsspezifische Norm der Aufrichtigkeit – in anderen Beziehungen hingegen würde man eher eine höfliche Lüge für angemessen halten. In Ärgererzählungen werden häufig solche beziehungsspezifischen Normen gegen den Missetäter ins Feld geführt (Schegloff, 2005). Verantwortlichkeit: Wesentlich dafür, sich zu Recht über jemanden zu ärgern, ist die moralische Zurechenbarkeit des Schadens. Diese ist gegeben, wenn ursächliche Verantwortung und Absicht oder zumindest Fahrlässigkeit des Verursachers belegt wird. Verantwortung kann allerdings auch inaktiven Zuschauern, indirekt Ermöglichenden und passiven, eigentlich für eine Sanktionierung Zuständigen zugeschrieben werden (Laucken u. Mees, 1987). In Ärgererzählungen nimmt die Zuschreibung von Verantwortung oft den größten Raum ein. In der Erzählung des streikenden PCs verwendet die Erzählerin erheblichen Aufwand dafür, sich selbst als unschuldig zu schildern, indem sie entschuldigende Behauptungen und Umstände anführt, dass sie überfordert sei (2, 27 – 28), weniger Zeit habe als andere (5 – 7), hilflos sei und alle Hilfe schon genutzt habe (15 – 21) und sich sehr angestrengt hat (31 – 35). Obwohl sie sich über ein unverantwortetes Unglück ärgert, fühlt sie sich bemüßigt, ihren Ärger damit zu erklären, dass sie das Versagen der Maschine doch als absichtlichen Angriff auf sich erlebt hat (38 – 41), als ob ein verantwortlicher Täter eine überzeugendere Rechtfertigung liefere. Der versetzten Inlineskaterin genügen wenige Sätze, um den Freund als verantwortlich zu charakterisieren. Vorbereitend schildert sie, dass er kurz vor der Verabredung noch alleine eine andere sportliche Aktivität unternimmt. Das »halt« deutet an, dass es dafür keinen guten Grund gab (10). Als absichtlichen Lügner entlarvt sie ihn, indem sie seine indirekt wiedergegebene Rede durch ein quantifiziertes Detail (»eine Stunde«) konterkariert und als unglaubwürdig expliziert (14 – 15). In der folgenden Erzählung steht die Rechtfertigung des eigenen Handelns erneut im Vordergrund, was nötig ist, um dem Anderen die Schuld geben zu können und sich legitim zu ärgern, zumal die Erzählerin, die selbst Anwältin ist, juristisch schuld ist. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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»Blechschaden« Ich hatte einen Unfall auf dem Parkplatz vor’m Mediamarkt, und war ganz ruhig und gelassen beim Einparken, und hintendran zappelte einer in seinem Auto rum, und hupte ständig, und war also superungeduldig. Und ich konnte nun mal nicht schneller, weil der vor mir noch nicht ausgeparkt war. Und dann war ich beim Einparken und Einrangieren, und der will sich hinter mir vorbeiknäulen, und wir knallen voll zusammen. Am meisten ärgert mich dabei, dass der eben die ganze Zeit schon ungeduldig war, und ich jetzt sozusagen schuld bin, weil es wä-, bei, während des Rückwärtsfahrens war. Und ich hatte zwar schon geguckt, aber der hat zur gleichen Zeit Gas gegeben, und ja! (lacht) Die Versicherung zahlt’s aber. Mich hat einfach diese Art geärgert, mich zu drängeln. Und dann ja faktisch laut rechtlichen Regeln bin ich eben schuld. Das fand ich sauscheiße.

Ihr Verhalten schildert sie als normal (2), das des Anderen als höchst ungewöhnlich und irrational (3 – 5), ja man meint erst, der Andere sei völlig aus dem Häuschen oder unzurechnungsfähig (»zappelte einer im Auto herum«). Der Andere hupt unverschämt und zu Unrecht, da die Erzählerin schuldlos, ja aus Rücksicht stehen bleibt (6 – 7). Auf diesem Hintergrund, dass der Andere bereits gegen Normen des guten Umgangs im Straßenverkehr und gesitteten Im-Auto-Sitzens verstoßen hat, passiert dann der Unfall (10). Sie konstruiert ihn erst so, dass sie ruhig mit einer Tätigkeit beschäftigt ist (8), während er die Absicht hat, sich an ihr vorbeizudrängeln (9). Die Erzählerin benennt die Absichtlichkeit seiner Handlung und impliziert durch die idiosynkratische metaphorische Wortwahl »vorbeiknäulen«, dass es sich um eine nicht vorgesehene, unordentliche, ja illegitime Handlung handelt. Um seine Schuld plausibel zu machen, verweist sie erneut auf seine Ungeduld (12). Wieder konstruiert sie ihr eigenes Handeln als etwas Andauerndes (14, zuvor 8), das sie mit Vorsicht durch© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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führt (15), und das vom Anderen unterbrochen wird, indem er gleichzeitig Gas gibt (16). Damit stellt sie die Normverletzung (er lässt sie nicht in Ruhe einparken) und die Absichtlichkeit seiner Handlung dar. Der Zuhörer soll verstehen, dass eine erste Unverschämtheit des Anderen zu einem Unglück führt, für das ihr auch noch die Schuld gegeben wird. Damit wird nicht nur das erste Unrecht nicht anerkannt, sondern auch noch die Schuldverhältnisse umgekehrt – wenn das nicht empörend ist! Ärgerausdruck und Handlungen: Nachdem die ärgerlichen Ereignisse erzählt sind, werden sie als ärgerlich bewertet (»PC streikt«: 11 – 13, 23 – 26, 42; »Inlineskaten«: 16; »Blechschaden«: 11, 18, 21). Wird das Ausmaß des Ärgers hervorgehoben, verdeutlicht dies zusätzlich das Ausmaß des subjektiven Schadens. Die zweite Erzählung bleibt nicht bei der Komplikation und ihrer Bewertung stehen, sondern enthält auch einen Lösungsversuch, der die Beziehung durch eine Rachehandlung wieder ins Gleichgewicht und den Ärger beschwichtigen soll. Die Rache wird nicht mehr eigens gerechtfertigt. In anderen Erzählungen hingegen kann es notwendig sein, den Ausdruck von Ärger und durch ihn motivierte Handlungen eigens zu rechtfertigen.

Schlussbemerkung Am Beispiel alltäglichen Ärgers, einer scheinbar einfachen Basisemotion, habe ich dargelegt, wie intrinsisch nicht nur sozial, sondern auch normativ gerade diese Emotionsfamilie ist. Das liegt vermutlich daran, dass Ärger zu Handlungen motiviert, die anderen schaden, was moralisch zumindest problematisierbar und deshalb zu rechtfertigen ist. Dabei habe ich mich an die sprachliche Oberfläche von Erzählungen gehalten, die auf die Aufforderung hin produziert wurden, ein ärgerliches Erlebnis aus dem eigenen Leben zu erzählen. Die Exploration ergab drei Beobachtungen. Die motivationspsychologische Frustrations-Ärger-These und die emotionspsychologische These vom verantwortlichen Schädiger konnte durch den Befund ergänzt bzw. spezifiziert werden, dass zumindest diese jungen Frauen am häufigsten är© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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gert, missachtet und respektlos behandelt zu werden, seltener hingegen Frustrationen oder andere ungerechte Behandlungen. Sodann könnte man spekulieren, dass Frauen sich häufiger über Missachtungen ärgern als Männer. Wenn das zuträfe, könnte dies allerdings an einer ganzen Reihe von Faktoren liegen, wie der größeren Rücksichtslosigkeit von Männern, der schwächeren Position von Frauen, der größeren Bedeutung persönlicher Beziehungen für Frauen im Vergleich zu Männern, die sich mehr auf das instrumentelle Erreichen von Zielen konzentrieren. Schließlich scheinen Ärgererzählungen mehr Rechtfertigungen zu enthalten als Erzählungen mit anderen emotionalen Tönungen. Eine Reihe von narrativen und rhetorischen Mittel konnten identifiziert werden, mittels derer Ärger durch die Größe des Schadens, den Bruch einer Norm und persönliche Verantwortung gerechtfertigt wird. Wenn Ärger in besonderem Maße Rechtfertigungen evoziert, dann ist es wahrscheinlich, dass Ärger besonders häufig Konflikte hervorruft und Abwehrmechanismen aktiviert. Es zeigte sich bereits, dass selektive Präsentation und Auslassung, zeitliches Arrangement, Wortwahl und explizite Behauptungen und Bewertungen dazu dienen, mögliche Rechtfertigungslücken zu schließen. Hier habe ich mich auf die Konstruktion der Ärgersituation konzentriert. Noch deutlicher werden Abwehrmechanismen, betrachtet man die Beziehung zwischen Ärgernis und Ärgerreaktion, also welche Folgen für ein ärgerliches Ereignis erzählt werden, wie der Erzähler also mit der Situation und dem Gefühl umgegangen ist und beim Erzählen umgeht. Rolf Haubl (2001) hat an dem Beispiel des zur Ärgeremotionsfamilie gehörenden Neids gezeigt, dass es typische Bewältigungs- und Abwehrmuster für spezifische Emotionen gibt. Neben dem zerstörerischen Raub des Geneideten finden sich Transformationen in einen Ansporn, selbst die geneideten Güter zu erwerben, in Empörung über eine ungerechte Güterverteilung, in eine verleugnende Aufgabe des Wunsches nach den geneideten Gütern, und in eine aufgebende Depression. Ebenso aufschlussreich kann eine unplausible Beziehung zwischen auslösender Situation und Ärger sein, die nicht den Emotionsregeln folgt. Dann mag der Ärger eine andere Emotion © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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abwehren. Im ersten Erzählbeispiel des streikenden PC könnte der Ärger beispielsweise ein Schamgefühl dafür abwehren, mit einem Referat Schwierigkeiten zu haben, oder die Angst zu versagen. In der Skatinggeschichte könnte der Ärger Traurigkeit darüber abwehren, dass der Freund sie nicht wirklich liebt. Und in der Unfallgeschichte könnte ein Schuldgefühl abgewehrt werden, das vom Vater nur ausgeliehene Auto leichtfertig beschädigt zu haben. Ärgererzählungen können wie hier analysiert werden, wenn der Leser zu derselben Kultur gehört und somit die lokalen Normen kennt, die in Ärgererzählungen manchmal explizit, oft aber auch implizit angeführt werden. Welche Umgangsformen für bestimmte Beziehungsformen gelten, wie Respekt zu zollen und Gesicht zu wahren sind, ist normalerweise geteiltes Wissen zwischen Erzähler und Zuhörer. Wie sehr subkulturell, kulturell und historisch spezifisch die Normen sind, die bestimmen, welche Verhaltensweisen vorwerfbar sind und als legitimes Ärgernis reklamiert werden können, zeigt erst der Vergleich zwischen verschiedenen Rollen, Kulturen und historischen Epochen.

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Uwe Timm

Einige Überlegungen über das Feuchte1

Meine sehr verehrten Damen und Herren, will man über den Humor reden, müsste man wissen, was das ist, Humor. Eine gängige Antwort wäre: Humor ist, wenn man lachen oder doch wenigstens schmunzeln kann. Im Duden lesen wir zu Humor, dass er von männlichem Geschlecht ist, dass es einen Plural gibt, also die Humore, was mit dem Hinweis »selten« versehen ist. Als Herkunft wird (engl.) angegeben, also englisch und die Bedeutung heitere Gelassenheit, fröhliche Wesensart, (gute) Laune, wobei »gute« in Klammern steht. Da meine Frage nicht auf den alltäglichen Humor zielt, sondern auf das, was in der Literatur unter Humor verstanden wird, habe ich in dem »dtv-Atlas Deutsche Literatur« nachgesehen. Möglicherweise, sagte ich mir, gibt es in der landschaftlichen Zuordnung Unterschiede in Qualität und Quantität der humorvollen Literatur. Das Stichwort »humoristische Literatur« verzeichnet drei Hinweise, einer mit einem f., also folgende. Dagegen finden sich über Lehrdichtung schon fünf Hinweise, alle mit einem f. versehen, was ja Ausführlichkeit verspricht. Die Gewichtung sagt schon einiges über die deutsche Literatur, wobei, wenn man bei den drei Hinweisen unter Humor nachschlägt, feststellt, dass einer sich gar nicht mit humoristischer Literatur, sondern mit historistischer Novellistik und dem ProfessorenroWir danken Uwe Timm für die Genehmigung des Wiederabdrucks seines Vortrags »Einige Überlegungen über das Feuchte« aus dem UweTimm-Lesebuch: Die Stimme beim Schreiben. Hg. v. Martin Hielscher. München: dtv, 2005, S. 299 – 310. 1

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man beschäftigt, was vielleicht auf den versteckten Humor des Herausgebers deutet. Ich habe dann in dem »Verzeichnis Lieferbarer Bücher« (Koch / Neff) nachgesehen, was unter dem Stichwort Humor an neueren Veröffentlichungen aufgeführt ist. Dreieinhalb dichtbedruckte DIN-A4-Seiten mit Titeln wie diesem : »Die Axt im Haus. Tapezieren? Installieren? Reparieren? Ein nagelneuer Ratgeber für alle Heimwerker, die sich in ihrer Freizeit lieber auf den Daumen als übers Ohr hauen wollen.« 79 Seiten. 16,80 DM. Wir ahnen, ohne es kaufen zu müssen, dass es hier weniger um Humor als um Klamauk geht. Für uns interessant aber ist, dass dieser Titel doch einen literarischen Anspruch hat, schließlich zitiert er einen Klassiker, Schiller : Die Axt im Haus ersetzt den Zimmermann, aus dem »Wilhelm Tell«, inzwischen ein geflügeltes Wort in unserem Sprachschatz. Wobei dieses Zitat sich längst von seiner ursprünglich ernstgemeinten Bedeutung abgelöst hat – Schiller war von einem gnadenlosen Ernst – und in eine komische umgebogen wurde. Die Axt im Haus ersetzt die Ehescheidung und dergleichen mehr. Bei den deutschen Klassikern, bei Goethe, Schiller, Herder, Hölderlin gibt es so gut wie nichts zu lachen. Übrigens nicht nur bei den Klassikern, die Tradition reicht über George, Rilke, Rudolf Borchardt, Jünger bis heute, wenn wir beispielsweise an Peter Handke denken. Über die Humorlosigkeit der deutschen Literatur wird schon seit langem geredet, und sie ist, wie ich höre, nun auch Gegenstand von Seminararbeiten und Dissertationen geworden. Auch das wird von vergleichenden Literaturhistorikern immer wieder hervorgehoben: Komödien sind im Deutschen selten: »Minna von Barnhelm«, »Der zerbrochene Krug«, und dann muss man lange auf Nestroy warten, dann versiegt der Quell der Freude wieder, sprudelt bescheiden erst bei Dürrenmatt und Hacks erneut. Dagegen viele Trauerspiele, viele ernste Romane und bedeutungsvolle Erzählungen. Woher kommt er also, dieser gnadenlose Ernst, diese niederdrückende Gedankenschwere? Wie gesagt, selbst in einem Atlas zur deutschen Literatur finden wir fünf Hinweise auf Lehrdichtung, alle mit Fortsetzung und alle © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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ausführlich, richtig, den Professorenroman nicht einmal mitgezählt. Ich will eines gleich vorweg sagen: Ich glaube nicht, dass die Humorlosigkeit in der Literatur auf einen genetischen Defekt der Deutschen zurückzuführen ist. Um diesen vorherrschenden Ernst in der Literatur zu verstehen, müssen wir die Geschichte bemühen. Norbert Elias hat einmal gesagt, wie unglücklich ein Volk sein muss, das eine Trinkgewohnheit hervorbrachte, bei der man sich mit Haltung besinnungslos betrinken muss, wie es in den deutschen Burschenschaften der Kommers vorschreibt. Die Deutschen hatten in ihrer Geschichte nicht viel zu lachen, und dort, wo sie hinkamen, ist auch ihren Nachbarn das Lachen vergangen. Und die jüngste deutsche Geschichte ist von einem Grauen begleitet, das jeden Anflug von Humor unmöglich macht. Norbert Elias hat in seinem Buch »Studien über die Deutschen« eben das herausgearbeitet, das singuläre Ereignis des Dreißigjährigen Krieges als ein historisches Schlüsselerlebnis für die Deutschen, von dem her die deutsche Mentalität und die weitere Geschichte erklärt werden muss. Die damals reichste Kultur in Europa wurde in jenem Krieg zerstört, das Land in eine Wüste verwandelt, zwei Drittel seiner Bevölkerung wurden getötet, prozentual weit mehr als in den beiden Weltkriegen. Das Erlebnis dieser Katastrophe, die durch die staatlich-territoriale Zersplitterung erst möglich geworden war, hat, so Norbert Elias, über Generationen die Mentalität der Deutschen geprägt. Eine tiefe Verängstigung, verbunden mit dem Wunsch nach einer starken geeinten Staatsmacht, dem Deutschen Reich, einer Staatsmacht, die eine ähnliche Katastrophe verhindern sollte. Das erklärt zum Teil auch, warum es bis 1918 keine geglückte Revolution gegeben hat, etwas, was die feudale Obrigkeit ausgehebelt, deren Normen radikaldemokratisch in Frage gestellt hätte. Für diesen politischen Verzicht entschädigte sich das wirtschaftlich bestimmende Bürgertum mit dem Rückzug ins Reich der Freiheit, in das Schöne, Gute, Wahre, das in Musik, Wissenschaft und Kunst gesucht wurde. Stellt man die herrschende Macht nicht in Frage, wird man sich auch nicht den Ersatz für eine Nichtbeteiligung an der po© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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litischen Macht in Frage stellen lassen. Vielmehr muss dieser Ersatz die tiefere Bedeutung der eigenen Lebensweise gewährleisten. Diese Gedankenschwere, dieser angestrengte Ernst zieht sich durch die Dichtung. Ausnahmen wie Heise, Wieland, Heine, um die bekanntesten zu nennen, wurden denn auch immer wieder – insbesondere von Literaturhistorikern des Wilhelmismus und Faschismus – als undeutsch, als zu welsch bezeichnet. Und in dem tiefen Ernst, mit dem das Schöne als das Eigene und Wahre in der Klassik betrachtet wurde, also sehr früh, liegt auch die ehrpusselige Unterscheidung von U- und E-Literatur begründet, die in Deutschland zu einer Trennung führt, die so in anderen Ländern unbekannt ist und sich nicht anregend auf die eine oder andere Richtung ausgewirkt hat, sondern beide nur um so schärfer in ihrer Entwicklung voneinander abgetrennt hat. Hier der bittere Ernst, die Lesefrohn, dort der seichte Unsinn, das Lesefutter. Eine diese Extreme verbindende literarische Form, die der guten literarischen Unterhaltung, wie wir sie aus den USA kennen, passt nicht in das Schema deutscher Literaturkritik. Ein Roman wie »Fegefeuer der Eitelkeiten« von Tom Wolfe, in dem sehr viel Humor steckt, wäre in Deutschland unter das Verdikt des Trivialromans gefallen und damit aus der literarischen Diskussion ausgeschieden. Lediglich seine amerikanische Herkunft ermöglichte eine positive ausführliche Besprechung durch die Literaturkritik, wobei gesagt werden muss, dass Spannung und Lesevergnügen, kommen sie denn aus der Fremde, beispielsweise aus Lateinamerika, erlaubt sind, das sind die exotischen Lüste, die man sich zu Hause verbietet. Die erpresste Gedankenschwere, die niederdrückende Ernsthaftigkeit drängt immer wieder ins verquast Mythische, in ein dunkles Geraune, und schließlich in eine böse Dumpfheit. Wer nur einen Blick in »Das dritte Reich des Paracelsus« von Kolbenheyer geworfen hat, weiß, wovon ich spreche. Natürlich ist eine Literatur, die sich um Unterhaltung, um Witz bemüht, immer in der Gefahr, nur zu witzeln, oder noch schlimmer, zu blödeln: Das Eigentümliche aber ist, dass man sich um Ernsthaftigkeit bemühen kann, auch um Witz, nicht aber um © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Humor, das ist nicht durch eine bestimmte Technik erlernbar, sondern der Humor entsteht aus einer bestimmten Haltung zur Wirklichkeit, einer Haltung, die sich durch eine besondere sprachliche Wahrnehmung ausdrückt. Als ein Beispiel möchte ich aus Arno Schmidt, »Das steinerne Herz«, zitieren: »›Darf ich ma Nachrichten mit hören?‹: Sicher!: Er führte mich sofort in die Küche. – Europa-Friedländer hielt wieder seine übliche oratio pro domo. (Jeder Politiker will königen! Ihr könnt mir viel erzählen, wie leid’s Euch tut, daß Ihr ›wiederaufrüsten müßt‹!). Verkehrsunfälle und Sport, im Gemisch von dämonischer Banalität. Beromünster verordnete ›bundesrätlich‹ noch dieses: ›Jeder Ausländer, der sich ohne Unterbruch im Lande aufhält …‹, und wir platzten nickend raus: muß also scheinbar Jeder da n Leistenbruch haben. – (Aber von Büchern war bis jetzt noch nichts zu sehen: schlechtes Zeichen: s waren keine da! Gutes Zeichen: sie lagen unbeachtet auf ’m Boden? – Mir sagt Keiner was!).« Was zunächst auffällt, ist die an der Umgangssprache ausgerichtete Diktion, bis hin zur Lautwiedergabe »Darf ich ma … auf ’m Boden?« Das Spiel mit dem schweizerischen Gebrauch von Unterbruch und dem Hochdeutschen Leistenbruch. Das ist im Tonfall, in der Wortwahl (Boden) lokalisierbar, zeitlich, wie räumlich, man hört, das ist in Norddeutschland angesiedelt. »Jeder Politiker will königen!« Dieses Königen ist veraltet, im Grimmschen Wörterbuch verzeichnet, königen heißt König werden, also an die Macht kommen. Das ist sprachlich sehr schön gebrochen mit dem zeitgemäßen Wort »Politiker«, wie auch »Europa-Friedländer« und dieses lateinische »oratio pro domo«. Das Besondere, Zeitliche ist in diesem Text eingelagert, füllt den Text mit vielen Informationsdetails auf, und das aus einer Perspektive von unten, wenn man will, aus einer Küchenperspektive. Das Große wird heruntergestutzt, die Künstlichkeit, die Verlogenheit der öffentlichen Rede wird entlarvt. Diese Brechung geschieht auch in der Sprache, jedes Pathos, ja die Hochsprache selbst wird umgangssprachlich gebrochen. Wobei der Humor an der Stelle Leistenbruch / Unterbruch schon fast in die Satire übergeht, die ja durch scharfen Spott gekennzeichnet ist. Humor ist weniger eine Schreibtechnik als © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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vielmehr eine Sichtweise auf die Menschen, auf die Gesellschaft, eine weit mehr um Verstehen als auf Veränderung zielende Haltung, die sich durch Gelassenheit auszeichnet. Damit, eben mit dem Moment der Distanz in der Betrachtung und der Reflexion auf die eigene Wahrnehmung, ist der Humor im ursprünglichen Sinn eine ästhetische Form. Eine ästhetische Form, die es durchaus auch im Alltag gibt, im alltäglichen Erzählen also, wenn die kleinen alltäglichen Begebenheiten erzählt werden. Dort, wo das unter einem ideologischen Blick geschieht, also die Begebenheiten eingeordnet werden, um eine bestimmte Interpretation zu belegen, werden sie zur Meinung. Und das findet sich auch in jener Literatur, die versucht, Erfahrungen, Handlungen zu Belegen einer bestimmten Weltsicht wiederzugeben. Das gilt übrigens nicht nur für eine Literatur, die mit Blick auf Politbüros oder Kurien geschrieben wird, sondern, was viele nicht einsehen mögen, auch für die, die ernsthaft von sich behauptet, ganz und gar unideologisch zu sein, allein dem Höheren, Geistigen, nichts und niemandem als der reinen Ästhetik verpflichtet zu sein. Diese Literatur ist, wenn auch getarnt, ein besonderes Schwergewicht unter der Meinungsliteratur. Sie ist oft in einer hohen Sprache gehalten, also in einem extrem elaborierten Deutsch. Ich zitiere eine Stelle aus Peter Handkes »Versuch über die Müdigkeit«, die ich durch Seitenstechen gefunden habe. Ich will damit sagen, ich habe nicht krampfhaft nach einem Beleg gesucht. »Was also ist, über deine Anekdoten und Bruchstücke hinaus, das Eine, das Wesen, der letzten Müdigkeit? Wie wirkt sie sich aus? Was läßt sich mit ihr anfangen? Ermöglicht sie dem Müden ein Handeln? Aber sie ist doch schon selber die bestmögliche Handlung, es braucht mit ihr nicht eigens etwas anzufangen zu sein, weil sie für sich schon ein Anfangen, ein Machen – ›den Anfang machen‹, sagt die Umgangssprache – ist. Ihr Den-AnfangMachen ist ein Lehren. Die Müdigkeit gibt Lehren – ist anwendbar. Ein Lehren wessen? fragst du.« Auffällig für mich ist, dieser Sprachduktus ahmt Heidegger nach, was sonderbarerweise kein Kritiker bemerkt hat. Ein zweites Beispiel, ebenfalls durch Seitenstechen gefunden. Die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Methode kann jeder weiter erproben, um festzustellen, ob meine Aussagen stimmen. »Jenes Bild hatte ich vor mir, als nun in mir die Bedrängnis der Müdigkeit Platz machte. Diese Müdigkeit hatte etwas von einem Gesundwerden.« Was in beiden Beispielen auffällt, ist die Substantivierung von Adjektiven, Zahlwörtern, »das Eine« zum Beispiel wirkt im Deutschen, weil dem alltäglichen Sprechen entfernt, extrem feierlich, wenn es sich gar um substantivierte Verben handelt, die auch noch mit dem unbestimmten Artikel verbunden werden, stehen sie wie auf einem Kothurn da: ein Anfangen, ein Machen, ein Handeln, ein Lehren, ein Den-Anfang-Machen. Die Verben sind ja die Proleten unter den Wörtern, sie rackern sich für Subjekte und Substantive im Satzgewerk ab. Substantiviert erstarren sie zu einer Handlungsbedeutung. Wer beispielsweise statt Gesundwerden – einmal abgesehen von dem geheimniskrämerischen »etwas« – »ich wurde gesund« schriebe, hätte sofort eine Menge profaner Fragen am Hals, nämlich wodurch gesund, warum, wann und wie. Welche Krankheit hatte das Ich zuvor? Verben heißen nicht umsonst Tätigkeitswörter, sie bringen nicht nur die Bewegung in den Satz, die Handlung, sondern damit auch die Zeit, genauer die Zeitlichkeit, und die fragt notwendig, woher und wohin. Tätigkeitswörter tragen immer in sich eine kausale Dynamik. In dem Wort Gesundwerden hingegen ist das »Gemeinte« wie erstarrt eingeschlossen. Ein metaphysisches Raunen begleitet das Wort. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass es andere Bücher von Handke gibt, deren Sprache ich bewundere, und um nicht missverstanden zu werden, ein verbaler Stil ist keine Garantie für Humor, umgekehrt garantieren Substantivierungen aber einen steif-feierlichen Ton, also gerade keinen Humor. Jedenfalls ist mir kein Beispiel eingefallen, wenn man von der Satire oder der Ironie, dem uneigentlichen Sprechen, absieht. Wer hingegen etwas verbalisiert, hat sogleich ein Subjekt, also auch den Einzelfall im Blick, das heißt, geht es um eine Person, um einen konkreten Menschen, dann auch um seine Geschichte, und seine Geschichte schließt die der Gesellschaft ein, also wie Menschen handeln, denken, fühlen und miteinander umgehen. Plötzlich sind wir da, wo der Humor hinwill, bzw. von wo er seinen Aus© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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gang nimmt: dem Alltag, wie Menschen essen, wohnen, arbeiten, aber auch all die widersprüchlichen, dunklen, verworrenen Gefühle, Wünsche, Obsessionen, Ängste und wie darüber geredet und erzählt wird. Dieses Erzählen ist notwendig von sehr konkreten alltäglichen Erfahrungen geprägt. In seinen Poetikvorlesungen hat Böll den Humor im Essen und Wohnen verortet, also in jenem Umfeld, das ein humanes Erzählen möglich macht. Böll schreibt: »Mir scheint, es gibt nur eine humane Möglichkeit des Humors: das von der Gesellschaft für Abfall Erklärte, für abfällig Gehaltene in seiner Erhabenheit zu bestimmen.« Das heißt natürlich auch, dass das Abfällige als darstellenswert erkannt wird. Ich habe das ganz wörtlich verstanden und mich gefragt, in welchen literarischen Werken findet sich beispielsweise die Beschreibung einer Toilette. Vielleicht gibt es solche Beschreibungen auch in der ernsten, in der idealistischen, in der Meinungsliteratur. Noch einmal Arno Schmidt: »Das Klo (und er zeigte es leicht beklommen: durchaus mit Recht): finstere Symbole hingen an allen stinkenden Wänden, aus Besen, Faßreifen, alten Schürzen, erwarteter Kleinwirrwarr : was weiß ich von Zuganschlüssen auf Tasmanien?! (Links spotten, über mich selbst. Und nochmal anzüglich schnuppern).« Das ist nicht humoristisch und schon gar keine Humoreske, beides sind Techniken, die das Komische hervorheben wollen, als Ziel das Lachen haben. Humor als eine Haltung bedeutet nicht, dass die so geschriebene Literatur zum Lachen sei, obwohl es nichts schaden kann, wenn man hin und wieder lachen kann, sondern auch zum Weinen, ohne in Rührseligkeit zu versinken, es ist diese lustvolle kleine Distanz in der Wahrnehmung, die sich selbst mitreflektiert. Die sich allenfalls über aufgeworfene Größe lustig macht, niemals über die Schwächen, also die Schwachen. Es ist ja doch immer auch die Frage, worüber man lacht. Zunächst muss hervorgehoben werden, dass, wer mit Humor schreibt, selbst keineswegs humorvoll sein muss. Arno Schmidt, der so gut wie keinen Spaß verstand, ist dafür ein Beispiel. Darüber hinaus gibt es unterschiedliche Formen des Lachens, ein hämisches, ein schadenfrohes Lachen. Ein Lachen, das in Deutschland leider eine Tradition hat. Adorno und Böll haben auf einen der Mitverantwortlichen hingewiesen: Wilhelm Busch. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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Böll schreibt: »Leider sind die deutschen Vorstellungen von Humor bis auf den heutigen Tag von Busch bestimmt gewesen: nicht von Jean Paul, nicht von der ironischen Position der Romantiker. Es ist der Humor des Hämischen, der Schadenfreude, der nicht das Erhabene lächerlich macht, sondern dem Menschen gar keine Erhabenheit zuspricht. Es ist der Humor der Abfälligkeit, nicht der Humor des Betroffenen, der für die Position des Satirikers charakteristisch ist.« Diesem Humor entspricht auch der grausame Humor, der für einige Kindergenerationen bereitgehalten wurde: Der Struwwelpeter, 1847, von Heinrich Hoffmann. Der Peter, der sich nicht die Haare schneidet, nicht die Nägel, und dem zur Strafe der Daumen abgeschnitten wird. Humorvolles im Dienst einer durch drakonische Strafen domestizierenden Erziehung. Nun kann man sicherlich nicht Wilhelm Busch oder Heinrich Hoffmann für diese grausame strafende Form des Humors haftbar machen. Sie haben dem Zeitgeist Ausdruck verliehen, ihn damit allerdings auch weiter ausgebildet, meinetwegen auch verstärkt, bis hin zu diesem durch Verbrennen abgestraften Spielen mit den Streichhölzern. Humor zeigt sich also auf recht unterschiedliche Weise, Engländern wird der schwarze Humor nachgesagt, und aus England soll der Begriff zu uns nach Deutschland gekommen sein. Humor bezeichnete seit dem 16. Jahrhundert in England Stimmung, Laune, Gemütszustand. Humor, lese ich im Grimmschen Wörterbuch, war zunächst ein Gelehrtenbegriff. Humor kommt aus dem Lateinischen, bedeutet Flüssigkeit, Feuchtigkeit. Im Mittelalter war der Begriff in der Natur- und Heilkundelehre als »humor naturalis« in Gebrauch und bezeichnete die Beschaffenheit der menschlichen Körpersäfte. Es gab vier verschiedene humoren, die in ihrer unterschiedlichen Mischung das Gemüt des Menschen bestimmten. Mit der Zeit wurde diese Beschaffenheit allgemein auf den Gemütszustand übertragen, im 18. Jahrhundert wurde Humor zum Begriff für die Stimmung im positiven, heiteren Sinn. Mit dem Beginn der Aufklärung – Aufklärung als Makrobegriff verstanden –, also seit der Renaissance, bildet sich das autonome Indi© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

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viduum heraus, allein auf sich gestellt, sein Schicksal nicht als göttliche Fügung begreifend, sondern dem eigenen Willen und dem blinden Zufall zuweisend, das Subjekt bekommt Distanz zu Gott und der Welt und damit auch zu sich selbst, kritisch, und den Sinn seiner Existenz nur in sich selbst suchend. Das Individuum gewinnt so seine existenzielle Freiheit. Es ist die Erfahrung seiner Einmaligkeit, aber auch der Vereinzelung, und eben diese Sichtweise ist die Voraussetzung für den Humor, den es in dieser Form in der Antike nicht gab. Es ist ein selbstkritischer Blick, ein relativierender Blick. Er hat etwas Subversives. Richtet sich gegen Selbstgewissheit und Präpotenz, erkennt voller Lust das Un-Normale, das Eigensinnige, das Verhalten, das sich gegen Normen, Vorschriften, Ideologien richtet. Überall wo Ideologien mit der Gewissheitshantel arbeiten, stellt der Humor sogleich den Spiegel der Abweichung, des Einzelnen entgegen. Der Humor impliziert eine ausgesprochen demokratische Sicht, denn demokratisch bedeutet nicht Gleichmacherei, sondern die Akzeptanz der Unterschiede bei gleichem Anspruch, weil er das Einmalige, Besondere bis zum Kauzigen schätzt und die Entwürdigten; von Natur oder Gesellschaft Benachteiligten in ihrer Bedeutung ins rechte Licht rückt. Humor ist die ästhetische Relativitätstheorie, wobei die einzige Konstante, sozusagen die Lichtgeschwindigkeit, der Genuss an der Widersprüchlichkeit ist, oder wie Milan Kundera es ausgedrückt hat: Humor ist das merkwürdige Vergnügen, das der Gewissheit entspringt, dass es keine Gewissheit gibt.

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Die Autorinnen und Autoren

Ullrich Beumer, Dipl.-Pädagoge, Supervisor (DGSv), Coach, Organisationsberater, Geschäftsführer des Fortbildungs- und Beratungsinstituts inscape-international, Köln und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a. M. Hans-Joachim Busch, Dr. phil. habil., apl. Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialpsychologie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M., Wissenschaftlicher Angestellter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a. M., Dipl.-Supervisor (DGSv). Bettina Daser, Dr. phil., Supervisorin (DGSv), Coach, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut und an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Tilmann Habermas, Dr. phil. habil., Professor für Psychoanalyse an der Goethe-Universität Frankfurt a. M., Psychoanalytiker (DGPT, DPV, IPA). Timo Hoyer, Dr. phil. habil., apl. Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Kassel, Akademischer Rat für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, von 2005 bis 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt a. M. Angela Kühner, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Soziologie und Psychoanalytische Sozialpsychologie der GoetheUniversität Frankfurt a. M., Gastwissenschaftlerin am Sigmund-FreudInstitut in Frankfurt a. M. Marianne Leuzinger-Bohleber, Dr. phil. habil., Professorin für Psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel, Mitdirektorin des Sig-

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Die Autorinnen und Autoren

mund-Freud-Instituts in Frankfurt a. M., Psychoanalytikerin (DPV, SGP), Lehranalytikerin, eigene Praxis. Katharina Liebsch, Dr. phil. habil., Professorin für Soziologie an der Helmut Schmidt Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg. Wolfgang Mertens, Dr. phil. habil., Professor für Psychoanalyse und psychodynamische Forschung am Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München, Psychoanalytiker (DGPT), Lehranalytiker und Supervisor an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München. Heidi Möller, Dr. phil. habil., Professorin für Theorie und Methodik der Beratung an der Universität Kassel, Psychoanalytikerin, Organisationsberaterin, Coach. Oswald A. Neuberger, Dr. phil. habil., Professor em. für Psychologie an der Universität Augsburg. Elisabeth Pauza, Mag. rer. nat., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psychologie der Universität Kassel, Psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung. Tomas Plänkers, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter des SigmundFreud-Instituts in Frankfurt a. M., Psychoanalytiker (DPV, IPA), niedergelassen in eigener Praxis, Lehranalytiker am Frankfurter Psychoanalytischen Institut. Daniela Rastetter, Dr. rer. pol. habil., Professorin für Personal, Organisation und Gender Studies an der Universität Hamburg. Inge Schubert, Dr. phil., pädagogische Mitarbeiterin der Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Familien- und Jugendsoziologie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M., Gruppenanalytikerin, Gastwissenschaftlerin am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt a. M. Ulrich Schultz-Venrath, Dr. med., ao. Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten / Herdecke, Arzt für Nervenheilkunde und Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DPV, IPA), Leiter der Sektion Analytische Gruppenpsychotherapie im DAGG, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des EVK Bergisch Gladbach.

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Die Autorinnen und Autoren

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Burkard Sievers, Dr. soz.-wiss., Professor em. für Wirtschaftswissenschaften mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung (Organisationsentwicklung) in der Schumpeter School of Business and Economics der Bergischen Universität Wuppertal. Uwe Timm, Dr. phil., Schriftsteller.

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Wenn Sie weiterlesen möchten ... Rolf Haubl / Volker Caysa Hass und Gewaltbereitschaft Philosophie und Psychologie im Dialog, Band 3.

Hass ist ein facettenreiches Gefühl absoluter und tiefer Antipathie. Es führt zu Benachteiligung, Verachtung, Diskriminierung, Misshandlungen bis hin zu Völkermorden und Kriegen. Es gibt ihn in vielfältigsten Formen – Selbsthass, Frauenhass, Fremdenhass – und aus verschiedensten Gründen – Neid, Angst, Unsicherheit. Zwar ist viel über den Hass geschrieben worden, über diese dunkle Seite der menschlichen Natur, die in ihrer Stärke und Unbeirrbarkeit oft der Liebe entgegengesetzt wird. Richtig zu erklären ist er jedoch bis heute nicht. Der Psychologe Rolf Haubl und der Philosoph Volker Caysa begeben sich in diesem Band in das Reich des Hasses und durchstreifen es bis in den letzten Winkel. Dabei wird deutlich: Wer für ein friedfertiges Zusammenleben – von Einzelnen, Gruppen und Nationen – eintritt, muss um die Notwendigkeit des Hasses wissen und die physische und psychische Not verstehen lernen, die Hassende mitunter gewaltbereit werden lässt.

Rolf Haubl / G. Günter Voß (Hg.) Riskante Arbeitswelt im Spiegel der Supervision Eine Studie zu den psychosozialen Auswirkungen spätmoderner Erwerbsarbeit Kölner Reihe – Materialien zu Supervision und Beratung, Band 1.

Supervisoren und Supervisorinnen haben einen spezifischen, durchaus privilegierten Zugang zur Wirklichkeit von Beschäftigten und deren beruflichem Handeln in Organisationen. Das in diesem Band vorgestellte Projekt »Arbeit und Leben in Organisationen 2008« hat die Expertise von Supervisoren der Deutschen Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv) zur Sondierung genutzt. Ziel ist es gewesen, ein empirisch fundiertes Gutachten über die psychosoziale Situation von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu erstellen. In Anbetracht des Strukturwandels der Arbeitswelt, den die Transformation der modernen Gesellschaft betreibt, erscheint es als ein dringliches Anliegen, Belastungen festzustellen und Belastungsgrenzen auszuloten. Dieser Band fasst die qualitativen und quantitativen Ergebnisse einer ersten Erhebungswelle zusammen, bettet sie theoretisch ein und bereitet die zweite Erhebungswelle vor.

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Wenn Sie weiterlesen möchten ... Rolf Haubl / Brigitte Hausinger (Hg.) Supervisionsforschung: Einblicke und Ausblicke Interdisziplinäre Beratungsforschung, Band 1.

Supervision hat in den letzten Jahrzehnten eine beachtliche Entwicklung vollzogen. Sie etablierte sich in vielen arbeitsweltlichen Handlungsfeldern. Die sehr praxis- und anwendungsbezogene Supervision ist gefordert, ihre Wissens- und Kenntnisstände zu überprüfen, zu aktualisieren und zu erweitern sowie eine wissenschaftliche Fundierung ihrer Praxis zu erreichen. Die Notwendigkeit und Attraktivität einer forschungsgestützten Weiterentwicklung von Theorie und Praxis der Supervision wird sowohl von der Community als auch von Wissenschaftler ohne eigene Supervisionsausbildung gesehen. Die häufige Klage, dass keine Supervisionsforschung stattfindet, kann relativiert werden. Beklagen kann man aktuell vielmehr die mangelnde Vernetzung, die fehlende Kenntnisnahme von Forschungsarbeiten und die seltene Diskussion über Erkenntnisse und Ergebnisse. Der vorliegende Band begegnet diesen Umständen und trägt zu einer Bekanntmachung, Vernetzung und einer forschungsfreundlichen Kultur bei. Er präsentiert eine Sammlung von Forschungsergebnissen und Forschungsüberlegungen von Autoren und Autorinnen unterschiedlichster Disziplinen. Dadurch spiegelt sich ein differenziertes Forschungs- und Wissenschaftsverständnis wider. Das Buch richtet sich nicht nur an Wissenschaftler/innen und Forschende, sondern der inhaltliche Aufbau und die Perspektiven sind so gewählt, dass ebenso Praktiker/innen vielfältig davon profitieren können.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

Schriften des Sigmund-FreudInstituts – Rolf Haubl beim SFI Rolf Haubl / Katharina Liebsch (Hg.) Mit Ritalin® leben ADHS-Kindern eine Stimme geben 2010. 211 Seiten mit 11 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45186-1

Die Behandlung von Kindern mit Ritalin® ist hart umstritten. Doch die Betroffenen selbst haben dazu praktisch nichts zu sagen. Dieses Buch gibt Jungen mit ADHS die Möglichkeit, sich selbst dazu zu äußern.

Rolf Haubl / Frank Dammasch / Heinz Krebs (Hg.) Riskante Kindheit Psychoanalyse und Bildungsprozesse 2009. 283 Seiten mit 5 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45414-5

»Kindheit« verschwindet auf breiter Front. Soll Kinderfreundlichkeit mehr als ein Lippenbekenntnis sein, sind professionelles Handeln und kritische Selbstreflexion der pädagogischen und sozialen Institutionen gefragt.

Organisationen leichter identifizierbar zu machen, ist mit dieser Veröffentlichung in den besten Händen – absolut empfehlenswert für Supervisorinnen und Supervisoren.« Forum Supervision

Marianne Leuzinger-Bohleber / Rolf Haubl / Micha Brumlik (Hg.) Bindung, Trauma und soziale Gewalt Psychoanalyse, Sozial- und Neurowissenschaften im Dialog 2006. 295 Seiten mit 5 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45177-9

Nur durch das Zusammenarbeiten von Experten unterschiedlicher Fachgebiete kann das Phänomen zunehmender Aggressivität und Gewaltbereitschaft bei Kindern in seinen komplexen Ursachen analysiert werden und Prävention erfolgreich sein.

Rolf Haubl / Tilmann Habermas (Hg.) Freud neu entdecken

Rolf Haubl / Bettina Daser (Hg.) Macht und Psyche in Organisationen

Ausgewählte Lektüren 2008. 231 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-45167-0

2007. 336 Seiten mit 2 Abb. und 2 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45166-3

Vieles an Freuds Denken ist auch über seinen 150. Geburtstag hinaus aktuell. Der Band stellt selten rezipierte Texte in heutige Zusammenhänge.

»Wer sich auf den Weg begeben möchte, Machtbeziehungen in

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0

Schriften des Sigmund-FreudInstituts – eine Auswahl Gisela Greve Leben in Bildern Psychoanalytisch-biographische Kunstinterpretationen Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 12. 2010. 234 Seiten mit 38 farb. und 15 s/w-Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45185-4

Die Psychoanalytikerin Gisela Greve legt mit ihrer biographischen Deutungsmethode neue Dimensionen von Schöpfungen sechs berühmter Künstler frei, indem sie Zusammenhänge mit deren jeweiligen Leben untersucht.

Marianne Leuzinger-Bohleber / Paul-Gerhard Klumbies (Hg.) Religion und Fanatismus Psychoanalytische und theologische Zugänge Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 11. 2010. 340 Seiten mit 2 Abb. und 1 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45184-7

Die unheilvolle Dynamik unbewusster Konflikte und religiösen Fundamentalismus, die sich zunehmend in mörderischer Gewalt manifestiert, ist Thema dieses interdisziplinären Dialogs zwischen Psychoanalyse und Theologie.

Klaus Röckerath / Laura Viviana Strauss / Marianne Leuzinger-Bohleber (Hg.) Verletztes Gehirn – Verletztes Ich Treffpunkte zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften Mit einem Vorwort von Mark Solms. Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 2: Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog, Band 10. 2009. 269 Seiten mit 32 Abb. und 3 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-45183-0

Psychoanalytische Konzepte verhelfen zu einem vertieften Verständnis von neurologischen Krankheitsbildern und sind der klinischen Arbeit mit hirngeschädigten Patienten dienlich.

Tomas Plänkers (Hg.) Chinesische Seelenlandschaften Die Gegenwart der Kulturrevolution (1966–1976) Schriften des Sigmund-Freud-Instituts. Reihe 3: Psychoanalytische Sozialpsychologie, Band 7. 2010. 258 Seiten mit 11 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-45415-2

Die chinesische Kulturrevolution hat im Volk weitgreifende traumatisierende Folgen verursacht. Was 1976 politisch beendet wurde, lebt psychisch in den Menschen bis heute weiter.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-45416-9 — ISBN E-Book: 978-3-647-45416-0